Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zur Fortsetzung der Aussprache zur
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und rufe
Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
mit anschließender Aussprache
Ich darf Sie daran erinnern, dass wir gestern für die
heutige Aussprache zehneinviertel Stunden beschlossen
haben - mit einer Vereinbarung über die Reihenfolge der
Fachbereiche, die ich als bekannt voraussetze. Wir beginnen mit dem Bereich Wirtschaft und Technologie.
Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, dem Kollegen Brüderle.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wahlkampf und Regierungsbildung liegen hinter uns.
({0})
Schauen wir nach vorn, machen wir uns an die Arbeit.
Ein Weiter-so darf es nicht geben.
An die neuen Aufgaben können wir mit Optimismus
und Zuversicht gehen; dazu gibt es allen Grund. Die
Auftragsbücher der Industrieunternehmen füllen sich
wieder. Auch die Exporte legen zu. Die Weltwirtschaft
wird nach Aussagen des IWF im nächsten Jahr um mehr
als 3 Prozent wachsen. Davon wird Deutschland profitieren. Zugleich hat sich der Arbeitsmarkt als widerstandsfähiger erwiesen, als es zu befürchten war.
Aber ich kann keine Entwarnung geben. Die schwerste
Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Nachkriegszeit ist
noch nicht überwunden. Deshalb geht es jetzt darum, dass
die Weichen von der Politik neu gestellt werden - weg
von der Krisenbewältigung der letzten Zeit mit ihren notwendigen Feuerwehreinsätzen hin zu einer Politik, die
das Wachstum nachhaltig stärkt. Wir müssen die Wachstumskräfte fördern.
Schlüssel dafür ist die Steuerpolitik. Mit ihr können
wir die Motivation und Leistungsbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger stärken und zusätzliche Nachfrageimpulse auf den Weg bringen. Das ist unerlässlich, um
Wohlstand und Arbeitsplätze zu erhalten und neu zu
schaffen. Deshalb ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz so wichtig. Es heißt nicht nur so, es wirkt auch so.
Es beschleunigt das Wachstum.
({1})
Für mich ist der zentrale Punkt: Das Gesetz entlastet
die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen.
({2})
Es hilft Familien mit Kindern, und es trägt zur Stärkung
der Konjunktur bei. Es ist sozial sensibel und konjunkturpolitisch absolut richtig.
({3})
Wir beseitigen die gröbsten Schnitzer der letzten Unternehmensteuerreform; ich nenne die Stichworte: Zinsschranke bzw. Hinzurechnungen bei der Gewerbesteuer.
Das ist eine Kehrtwende. Die Besteuerung der Unternehmenssubstanz wird deutlich entschärft. Eine Besteuerung
von Gewinnen versteht man. Aber eine Besteuerung der
Unternehmenssubstanz ohne Gewinn kann keiner nachvollziehen.
({4})
Die Erbschaftsteuer wird mittelstandsfreundlich verändert. Außerdem werden Geschwister steuerrechtlich
nicht mehr wie Fremde behandelt. Das ist notwendig zur
Erhaltung der Betriebe, insbesondere bei Personengesellschaften, und eine Frage nicht nur des mittelstandsfreundlichen Klimas, sondern auch der Achtung des Vermögens und Eigentums.
Alles in allem entlasten wir die Bürger und Unternehmen um rund 21 Milliarden Euro.
({5})
Redetext
Das sind 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts; das ist
eine konjunkturwirksame Größe.
({6})
Die Deutsche Bank hat gestern eine Berechnung vorgelegt, dass dies einen zusätzlichen Wachstumsimpuls von
einem halben Prozent bringen kann.
({7})
Wir rücken den Mittelstand in den Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik. Wir stärken ihn, wir entlasten ihn.
Vordringlich ist die Verbesserung der Finanzierungsbedingungen für die Unternehmen. Sie brauchen Kredite
für Investitionen und Innovationen sowie zur Sicherung
von Arbeitsplätzen. Dabei sind zunächst die Banken gefragt. Etliche Banken haben nach dem Staat gerufen, um
Konsolidierungshilfen einzufordern. Für mich ist völlig
klar: Wer Steuergelder zur Bilanzbereinigung entgegennimmt, muss auch seiner Verantwortung bei der Kreditvergabe nachkommen.
({8})
Die Bundeskanzlerin hat gestern zu Recht von der
Gefahr einer Kreditklemme gesprochen.
({9})
Wir haben im Koalitionsvertrag Maßnahmen gegen eine
solche gefährliche Entwicklung vereinbart, damit die
Konjunkturpflänzchen sich entwickeln und entfalten
können. Wir werden einen Kreditmediator einrichten.
Frankreich hat mit einer solchen Institution die gute Erfahrung gemacht, dass konkrete Probleme im Dialog mit
den Banken bereinigt werden.
({10})
Der Deutschlandfonds muss noch stärker auf den Mittelstand zugeschnitten werden. Ein Weg kann sein, sich
das Zusageverhalten der beteiligten Banken genauer anzuschauen. Unternehmen mit vertretbaren Risiken müssen auch Zugang zu den Finanzierungen durch den
Fonds bekommen. Wir werden die Kreditanstalt für Wiederaufbau in ihrer Funktion als Mittelstandsbank stärken. Aber eines muss auch klar sein, meine Damen und
Herren: Die Krise bewältigen können nur die Unternehmen selbst.
({11})
Wir treten für eine Wiederbelebung, eine Renaissance
der sozialen Marktwirtschaft ein.
({12})
Nur die Wirtschaftskrise hat die massiven Beteiligungen
und Unterstützungen des Staates bei Banken und Unternehmen gerechtfertigt. Nun muss die Wirtschaft wieder
in die geordneten Bahnen der sozialen Marktwirtschaft
zurückgeführt werden. Freiheit und Verantwortung müssen wieder stärker gelten. Wer die Gewinne macht, muss
auch die Verluste tragen. Der Staat muss sich Zug um
Zug aus der fiskalpolitischen Konjunkturstützung zurückziehen, und die verstärkte Haushaltskonsolidierung
muss dann wieder greifen.
({13})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich möchte meine Gedanken im Zusammenhang ausdrücken.
Die Hängepartie bei Opel ist dabei eine Warnung.
Viel zu lange wurden nötige Entscheidungen hinausgezögert.
({0})
Viel zu lange ist bereits Geld verbrannt worden. Der Ball
liegt jetzt bei General Motors und nicht in Berlin.
({1})
Als Bundeswirtschaftsminister geht es mir um eine
volkswirtschaftliche Gesamtschau. Die Automobilindustrie, diese Kernbranche Deutschlands, zeigt ihr Potenzial an vielen Standorten, zum Beispiel in Ingolstadt,
Wolfsburg, Leipzig und Sindelfingen und nicht nur an
den aktuell diskutierten Standorten in Deutschland.
({2})
Die Automobilindustrie in Deutschland braucht Perspektiven für eine gute Zukunft. Das geht nur mit Innovationen. Ich nenne den Bereich neue Antriebe: Elektromobilität kann das Megathema des nächsten Jahrzehnts
werden.
({3})
Elektromobilität ist die Chance für Klimaschutz und
Fahrkomfort. Hier liegt ein weites Feld für Innovationen,
Investitionen und neue Arbeitsplätze.
({4})
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, mit den
aufgezeigten Instrumenten und entschlossenem Handeln
werden wir es schaffen, Deutschland erfolgreich in das
neue Jahrzehnt zu führen. Dazu brauchen wir Energiepolitik aus einem Guss. Es geht um eine sichere VersorBundesminister Rainer Brüderle
gung für unser Industrieland. Zudem brauchen wir wettbewerbsfähige Energiepreise. Vor uns steht - last, but
not least - die große Menschheitsaufgabe des Klimaschutzes. An diesen wichtigen Herausforderungen werden wir arbeiten, und dafür bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Brüderle!
({0})
- Ganz locker bleiben.
({1})
- Ich bin wirklich etwas überrascht davon, dass das die
Rede des Bundeswirtschaftsministers gewesen sein soll.
({2})
Herr Brüderle, es ist wohl nicht ganz leicht, von Dampfplauderei in der Opposition auf eine staatstragende Rede
umzuschalten.
({3})
Es war eine Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen.
({4})
Gleichwohl möchte ich Ihnen, Herr Brüderle, auch im
Namen meiner Fraktion zur Ernennung herzlich gratulieren. Ich wünsche Ihnen im Interesse unseres Landes,
dass Sie eine glückliche Hand haben. Ich sage es ganz
offen: Die wirtschaftliche Lage in diesem Land ist viel
zu ernst, als dass man Ihnen das nicht wünschen sollte.
Gleichwohl sind Zweifel berechtigt. Ich komme gleich
darauf zu sprechen.
Vorweg muss man sich vergegenwärtigen, wo wir in
Deutschland volkswirtschaftlich stehen. Deutschland
steht in der derzeit größten Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland besser da als andere europäische Länder. Das ist auch ein Verdienst der
Großen Koalition, die dieses Land erfolgreich durch turbulente Zeiten geführt hat. Es ist auch der Verdienst einer Vorgängerregierung, nämlich der rot-grünen Koalition. Man stelle sich einmal vor, wir wären ohne die
Reformpolitik der rot-grünen Koalition in die Weltwirtschaftskrise geschlittert. Deutschland stünde schlechter
da.
({5})
Meine Damen und Herren von der Union, Sie glauben
doch nicht ernsthaft, dass die Erfolge der Jahre 2005 bis
2008 irgendetwas mit dem segensreichen Wirken von
Michael Glos zu tun haben und nichts mit der Arbeit von
Gerhard Schröder und Franz Müntefering.
({6})
Es war die Politik der Großen Koalition, die durch
richtiges Handeln in der Krise dafür gesorgt hat, dass die
Kreditversorgung der deutschen Wirtschaft nicht zusammengebrochen ist. Es war die Politik, die mitgeholfen
hat, die Konjunktur zu stabilisieren, Anreize für Investitionen zu geben und Arbeitsplätze zu sichern. Für meine
Fraktion stelle ich voller Stolz fest: Es waren Sozialdemokraten, die die Konjunkturpakete maßgeblich entwickelt und durchgesetzt haben.
({7})
Unsere erfolgreichen Konjunkturmaßnahmen werden weltweit kopiert: von der Abwrackprämie beispielsweise in den USA bis hin zu den Regelungen zur Kurzarbeit. Ich sage, es ist gut - wir haben es gefordert -,
dass der neue Arbeitsminister die Regelung zur Kurzarbeit verlängert. Erfunden hat sie Olaf Scholz. Sie hilft
Hunderttausenden von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland, in Beschäftigung zu bleiben.
Es hilft den Unternehmen, durch die Krise zu kommen.
Das ist unsere Politik. Wenn Sie die fortsetzen, dann haben Sie unsere Unterstützung.
({8})
Unsere Politik hat dazu geführt, dass die Binnennachfrage trotz der Weltwirtschaftskrise außerordentlich stabil
geblieben ist und dass die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt trotz der Einbrüche, die wir als Exportweltmeister
zu erleben hatten, weniger massiv sind als bei anderen.
Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass das die
Handschrift von Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück
und Olaf Scholz ist.
Aber ich sage auch, Herr Brüderle: Die Aufgabe der
neuen Bundesregierung ist es, das einzulösen, was gestern von Frau Bundeskanzlerin Merkel und heute auch
von Ihnen in pathetischen Sätzen formuliert wurde:
Deutschland gestärkt aus dieser Krise zu führen.
Meine guten Wünsche haben Sie bekommen. Aber
ich stelle fest: Es gibt berechtigten Zweifel. Übrigens
glaubt auch die Mehrheit Ihrer Anhänger nicht, dass Sie
als Bundeswirtschaftsminister in der Lage sind, dazu einen vernünftigen Beitrag zu leisten. Wenn ich mir die
Koalitionsvereinbarung durchlese oder Ihre Rede heute
Hubertus Heil ({9})
höre, dann kann ich nur sagen: Der Zweifel an dieser
Stelle ist berechtigt.
({10})
Wenn wir uns den Koalitionsvertrag genauer anschauen,
wird eines klar - übrigens auch durch Ihre Rede, Herr
Brüderle -: Schwarz-Gelb fehlt ein klares Konzept für
die Wirtschaftspolitik in Deutschland. Sie sind nicht in
der Lage, die zentralen Fragen unserer Volkswirtschaft
konzeptionell hinreichend zu beantworten.
({11})
Die erste Frage ist: Wie schaffen wir nachhaltiges
Wachstum und gute Arbeit? Dazu kann ich nur sagen:
Fehlanzeige. Die zweite Frage lautet: Wie erneuern wir
unsere industrielle Basis und erschließen neue Potenziale für Dienstleistungen in Deutschland? Auch dazu
nur Allgemeinplätzchen. Wie nutzen wir die Chancen
neuer Technologien? Auch dazu Fehlanzeige. Wie sieht
ein Energiekonzept der Zukunft aus? Dazu haben Sie
keinen Satz gesagt. Vor ein paar Tagen haben Sie noch
gesagt, Sie seien Energieminister. Das habe ich in der
FAZ gelesen. Sie haben hier keinen Satz zur Energiepolitik gesagt. Die entscheidende Frage aber ist: Wie gestalten wir die Wirtschaftspolitik in der Konsequenz der
Wirtschaftskrise? Investitionen müssen Vorrang vor
kurzfristigen Spekulationen haben, um Deutschland
langfristig erfolgreich zu halten. Kein Satz dazu.
({12})
Herr Brüderle, die Süddeutsche Zeitung hat über Ihren
Koalitionsvertrag geschrieben, das Werk sei eine Art
Roman mit Fehldruck. Immer wenn es spannend wird,
fehlt eine Seite. An diesen Stellen befinden sich Leerseiten. So liest sich auch der Teil über die Wirtschaftspolitik im Koalitionsvertrag. Statt einer klaren Konzeption
finden sich auch da Prüfaufträge. Ich habe einmal gezählt: 23 Prüfaufträge allein im Bereich Wirtschaft. Herr
Brüderle, heute bekommen Sie einen 24. dazu: Wir werden prüfen, ob der Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie seinem Amt gewachsen ist. Das ist unser
Prüfauftrag, den Sie heute hören.
({13})
Herr Brüderle, Sie haben Ihr sogenanntes Wachstumsbeschleunigungsgesetz angesprochen. Ich will
einmal die Aussage des DIW-Präsidenten, Klaus
Zimmermann, zum Koalitionsvertrag zitieren. Er hat gesagt:
Insgesamt wirkt der Vertrag
- und damit auch diese Maßnahmen so, als sei es gegen alle ökonomische Realität vor
allem darum gegangen, Wahlversprechen zu halten.
Das ist keine Strategie für Wachstum. Das ist keine Konjunkturpolitik. Was soll das denn sein? Ein drittes Konjunkturpaket? Das ist es nicht. Das ist Klientelpolitik
ohne nachhaltige Wachstumsimpulse für dieses Land,
die jetzt notwendig wären.
({14})
Wir können uns das gerne einmal anschauen: Ihr einfaches Credo „Steuern runter macht Deutschland munter“ ist eine Form von Voodoo-Ökonomie, die mit den
volkswirtschaftlichen Bedürfnissen dieses Landes nichts
zu tun hat und mit den Notwendigkeiten auch nicht.
({15})
Wir können uns die Maßnahmen ja einmal im Einzelnen anschauen: Ich räume ein, dass Steuersenkungen,
wenn sie richtig gemacht werden, per se die Binnennachfrage stärken können. Aber die Frage ist, ob die
Steuersenkungen, die Sie vorschlagen, tatsächlich diesen
Effekt haben. Die Erhöhung des Kindergeldes kann
möglicherweise einen schwachen Wachstumsimpuls mit
sich bringen. Das Geld wird dann allerdings für andere
gesellschaftliche Aufgaben fehlen, beispielsweise für
den Ausbau der Kinderbetreuung. Die Erhöhung der
Kinderfreibeträge allerdings wird aufgrund der Progressionsabhängigkeit nicht die Nachfrage stärken, sondern
die Sparquote in Deutschland erhöhen. Das ist kein Beitrag zu nachhaltigem Wachstum.
({16})
Ich finde, das schönste Beispiel für Klientelpolitik in
diesem Wachstumsbeschleunigungsgesetzentwurf ist die
Reduzierung des Umsatzsteuersatzes für Hotelübernachtungen. Eine niedrige Mehrwertsteuer führt nicht zu geringeren Preisen und damit zu mehr Nachfrage. Der Versuch, mithilfe der Mehrwertsteuer die wirtschaftlichen
Probleme einzelner Branchen zu lösen, muss scheitern;
denn die Mehrwertsteuer ist nicht die Ursache struktureller Probleme der Branchen. Ich sage es einmal anders:
Herr Brüderle, glauben Sie ernsthaft, dass wir aufgrund
dieser Maßnahme einen Boom bei den Übernachtungen
in Deutschland haben werden, dass die Tourismusbranche aufgrund dieser Maßnahme boomen wird?
({17})
Das ist Klientelpolitik. Mit konzeptioneller Wirtschaftspolitik, mit Ordnungspolitik in der Tradition von Ludwig
Erhard und Karl Schiller hat das nichts zu tun.
({18})
Sie haben die Maßnahmen im Bereich der Unternehmensbesteuerung angesprochen. Diese bedeuten vor allen Dingen für den Mittelstand keinen Wachstumseffekt.
Das sind eher Steuerschlupflöcher für Großkonzerne.
Man kann sagen: Sie machen bei den Steuerschlupflöchern die Scheunentore wieder auf, die die Große Koalition gerade mit großer Mühe geschlossen hat. Das
sollte die Finanzpolitiker in der Union umtreiben. Der
arme Herr Kampeter, der neue Staatssekretär im FinanzHubertus Heil ({19})
ministerium, der so sehr gegen Steuerschlupflöcher gekämpft hat, tut mir schon jetzt leid. Diese Steuergeschenke für Klientelgruppen sind nicht zielgerichtet, sie
leisten keinen Beitrag zur Stabilisierung des Konsums,
aber sie haben einen Effekt, der uns wirtschaftspolitisch
in die Knie zwingen wird: Sie schwächen die Nachfrage
der öffentlichen Hand von Bund, Ländern und Kommunen; sie wird nachlassen. Es konterkariert die Effekte
des von der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD
gemeinsam beschlossenen kommunalen Investitionsprogramms. Was ist denn das für eine Politik, dass wir denen in der Krise zu Recht Investitionsmittel an die Hand
geben und dann im Jahr danach und für Jahre danach
durch Ihre Steuerpolitik die Mittel für Investitionen in
die Infrastruktur seitens der öffentlichen Hand wieder
gekürzt werden? Das ist widersinnig und unsinnig.
({20})
Herr Brüderle, Ihr Lieblingswort in der letzten Legislaturperiode - oder sollte ich sagen: in gefühlten Tausend Jahren Opposition? - war „Mittelstand“. Nachdem
ich den Koalitionsvertrag gelesen habe und mir Ihre
Rede angehört habe, kann ich nur sagen: Allgemeinplätzchen. Die kleinen und mittleren Unternehmen, die
für unsere Volkswirtschaft so wichtig und das Rückgrat
unserer Wirtschaft sind, haben von Ihren Sprüchen konkret nichts.
({21})
Ich will Ihnen drei praktische Beispiele nennen, wo
Sie an das anknüpfen können, was die Große Koalition
getan hat. Das betrifft zum Beispiel den Bürokratieabbau, den wir in vielen Bereichen vorangebracht haben.
({22})
- Hören Sie einmal zu.
Bei einem werden wir gut aufpassen: Wenn Sie unter
der Chiffre des Bürokratieabbaus den Abbau von Arbeitnehmerrechten, Umweltstandards und Verbraucherstandards verstehen, dann werden Sie zu Recht auf harte Opposition in diesem Hause treffen; denn das ist kein
Bürokratieabbau.
({23})
Das betrifft auch das Vergaberecht, um es deutlich zu sagen.
Bei einem bin ich wirklich enttäuscht, Herr Brüderle;
da hatte ich - sogar auf die FDP - eine gewisse Hoffnung.
Sie haben im Bereich der Kreditklemme einiges aus dem
Deutschlandplan von Frank-Walter Steinmeier abgekupfert. Stichwort Kreditmediator: Die Formulierungen, die
Sie gebracht haben, sind dort wörtlich abgeschrieben. Dies
betrifft auch den Verweis auf Frankreich. An einer Stelle
hätte ich mir gewünscht, dass Sie auch da abschreiben:
beim Mittelstand und dem Thema der Tax Credits, der
steuerlichen Forschungsförderung. Wenn Sie für den
Erfolg von Investitionen und Innovationen bei kleinen und
mittleren Unternehmen etwas tun wollen, dann wäre neben der Projektförderung bei Forschung und Entwicklung
ein konkretes Konzept für steuerliche Förderung bei kleinen und mittleren Unternehmen ein konkreter Schritt gewesen. Aber was steht dazu in Ihrem Programm? Prüfauftrag. Hier ist wieder einmal im Ergebnis Fehlanzeige. Das
ist keine Politik für den Mittelstand in Deutschland.
({24})
Vor allen Dingen - auch das finde ich an Ihrer Rede
bemerkenswert - wenn es um die industrielle Basis unseres Landes geht, findet sich im Koalitionsvertrag außer
einem allgemeine Bekenntnis zum Industriestandort
Deutschland nicht einmal ansatzweise so etwas wie ein
industriepolitisches Konzept. Wir haben darauf gewartet. Herr zu Guttenberg - er ist gerade nicht da - hat ja
vor der Wahl munter ein großes industriepolitisches
Konzept angekündigt, auf das man bis heute wartet.
({25})
In Ihrem Koalitionsvertrag steht nichts zu diesem Bereich. Damit verspielen Sie die Chancen Deutschlands,
auf den Leitmärkten der Zukunft erfolgreich zu sein.
Wenn man industriepolitisch keine Ahnung hat und
die Weichen nicht richtig stellt, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einem Strang ziehen, damit die
deutsche Volkswirtschaft mit modernen Produkten, Verfahren und Dienstleistungen auf den Märkten der Welt
erfolgreich sein kann, dann verspielt man die Chancen
unserer Volkswirtschaft. Ihr Fehler ist folgender: Sie sehen die Zukunft der Arbeit in Deutschland vor allen Dingen bei Billigjobs und nicht bei den besten Produkten,
Verfahren und Dienstleistungen.
({26})
Wer dies so sieht, hat weder von Wirtschaft noch von
den Bedürfnissen der Menschen in Deutschland Ahnung.
({27})
Wo sind denn Ihre Konzepte für die Leitmärkte der
Zukunft, für den Bereich der erneuerbaren Energien, für
effiziente Energieproduktion, für neue Werkstoffe, für
den Bereich der Elektromobilität, für den Gesundheitsmarkt oder die Kreativwirtschaft? Nur warme Worte.
Die Kreativwirtschaft kam in Ihrer Rede nicht einmal
vor, obwohl sie wichtig ist. Im Bereich der Digitalisierung ergeben sich neue Chancen. In Ihrer Rede gab es
keinen Ansatz dazu. Zum Ausbau der Breitbandinfrastruktur sagten Sie eben in Ihrer Rede keinen Satz; gestern sagte Herr Kauder zwei, drei Sätze dazu. Sie haben
kein Konzept, wie man es wirklich schaffen kann, in dieser Branche Arbeitsplätze zu schaffen und einen Beitrag
zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft insgesamt
zu leisten.
Dass eine moderne Industriepolitik Chancen bietet,
bestätigen Institute - das können Sie nicht bestreiten -,
die Vorschläge gemacht haben, wie wir im Bereich der
Hubertus Heil ({28})
erneuerbaren Energien - das, was Rot-Grün damals eingeleitet hat - und im Bereich der Effizienztechnologien
tatsächlich vorankommen können.
Es geht darum, auf der Angebotsseite das zu tun, was
notwendig ist, damit Unternehmen und Wissenschaft zu
den entsprechenden Technologiesprüngen kommen, und
es geht darum, auf der Nachfrageseite mitzuhelfen, dass
innovative und junge Technologien flächendeckend
markteingeführt werden können. Sie haben in diesem
Bereich keinen Ansatz. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die im Moment anfangen, deutsche Konzepte aus
rot-grüner Zeit zu kopieren,
({29})
haben Sie in diesem Bereich keinen vernünftigen Ansatz. Meine Damen und Herren, Sie werden nicht bestreiten, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz, gegen
das Sie früher waren, weltweit zu einem Schlager geworden ist und Arbeitsplätze in Deutschland schafft.
({30})
Zur Energiepolitik, zu der Sie so beredt geschwiegen
haben, erlaube ich mir schon jetzt den Hinweis: Das, was
Credo Ihrer Koalition ist, nämlich die Verlängerung von
Restlaufzeiten alter, finanziell abgeschriebener Atommeiler, wird genau das verhindern, was wir in Deutschland in Sachen Energiestandort am dringendsten brauchen: Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik und
auch in erneuerbare Energien. Das, was Sie machen, ist
eine Politik, die gegen die Zukunft gerichtet ist. Sie ist
ökologisch unsinnig, aber auch wirtschaftspolitisch fatal,
weil wir in Deutschland dringend Investitionen in moderne Kraftwerkstechnik und nicht längere Restlaufzeiten alter Atommeiler brauchen.
({31})
Meine Damen und Herren, es ist, wie gesagt, schwierig, sich mit den Leerstellen in Ihrem Koalitionsvertrag
auseinanderzusetzen, weil er so viele Prüfaufträge enthält. Wir sind gespannt. Ich sage es ganz offen: Wir bieten auch unsere Unterstützung an. Ich werde Ihnen gerne
unseren Deutschland-Plan zuschicken. Er enthält nämlich eine Fülle von guten Ideen für die Wirtschaftspolitik
in diesem Lande.
({32})
Ich sage Ihnen: Die Zeiten sind ernst. Die Wirtschaftskrise ist noch nicht vorbei. Wir sind bisher besser
durch die Krise gekommen als andere Volkswirtschaften.
Aber weiterhin gilt: Wir müssen handeln und dürfen
nicht nur zugucken.
Herr Brüderle, in einem Bereich bieten wir Ihnen
konkrete Unterstützung an. Wenn das, was Sie, auch in
Interviews, zum Thema KfW angedeutet haben, notwendig ist, werden wir Sie unterstützen, wenn es darum
geht, die Kreditversorgung der deutschen Wirtschaft
zu stärken, im Zweifelsfall auch mit harten Maßnahmen
gegenüber den Banken. Reine Appelle, wie wir sie heute
wieder von Ihnen gehört haben, reichen auf diesem Weg
möglicherweise nicht aus. Hier bieten wir Ihnen unsere
Mitarbeit an.
Was aber nicht geht, Herr Brüderle, ist, dass Sie,
wenn wirtschaftspolitische Probleme in Deutschland
auftauchen, immer nur mit dem Finger auf andere zeigen. Jetzt sind Sie in der Verantwortung. An dieser Stelle
muss ich sagen: Ich finde das, was Sie eben zum Thema
Opel vom Stapel gelassen haben, eines Bundeswirtschaftsministers unwürdig.
({33})
Sie haben von den guten, hervorragenden Automobilstandorten in Deutschland gesprochen. Als jemand, der
aus der Nähe von Wolfsburg kommt, kann ich davon ein
Lied singen. Die deutschen Automobilstandorte sind
sehr erfolgreich. Sie dürfen aber nicht nur die anderen
Standorte nennen und so tun, als seien die Opel-Standorte Schrott.
({34}))
Das, was zum Beispiel in Eisenach, Rüsselsheim, Kaiserslautern und Bochum geleistet wird, haben Sie verschwiegen. Sie haben nur gesagt: Wir haben hervorragende andere Standorte. - Was heißt das denn am Ende
des Tages? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren,
dass viele in der FDP, auch einige in CDU und CSU,
klammheimliche Freude darüber verspüren, dass die
Übernahme durch Magna geplatzt ist.
({35})
Den Beschäftigten und dem Industriestandort Deutschland hilft das aber nicht. Herr Brüderle, jetzt sind Sie gefragt. Sie müssen aktiv handeln und dürfen sich nicht nur
beklagen.
({36})
Die Übernahme durch Magna war ein tragfähiger
Weg, der durch aktives Handeln der Politik ermöglicht
wurde. Es wäre kein einfacher Weg gewesen. Aber es
gab einen Weg. Ich frage mich: Wo ist jetzt Ihr Weg in
dieser ganzen Geschichte? Einfach nur zu sagen: „Das
ist nicht unser Problem, das ist ein amerikanisches Problem“, hilft bei der Sicherung der Arbeitsplätze in
Deutschland nicht. Ich fordere Sie auf: Sie müssen unverzüglich, und zwar persönlich, in Verhandlungen mit
GM eintreten, um im Interesse der Arbeitsplätze in
Deutschland eine Lösung zu finden.
({37})
Herr Brüderle, ich kann mich noch erinnern, dass Sie
vor einigen Jahren von diesem Pult aus den damaligen
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos gewarnt haben,
dass er der „Problembär“ der Regierung werden könnte.
Hubertus Heil ({38})
Ich kann nur sagen: Jetzt müssen Sie in dieser Hinsicht
aufpassen.
({39})
Ich habe den Eindruck - das kann ich Ihnen nicht ersparen -, dass Sie in sehr große Fußstapfen treten und nicht
etwa die Nachfolge von Ludwig Erhard, Karl Schiller
oder Helmut Schmidt antreten, sondern dass das, was Sie
hier geboten haben, eher nach der legitimen Nachfolge
von Michael Glos klingt.
({40})
Ich sage Ihnen: Von einem Bundeswirtschaftsminister
wird mehr erwartet als launige Reden und Grußworte.
Wir erwarten von Ihnen Konzepte für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Wenn sie gut sind, werden wir sie
unterstützen; darauf können Sie sich verlassen. Bisher
haben Sie, jedenfalls was Ihre heutige Rede angeht,
nichts geboten. Ich sage Ihnen: Die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in Deutschland, die tüchtigen Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland, die deutsche Wirtschaft, sprich: Deutschland insgesamt, eine
führende Wirtschaftsnation der Welt, der Exportweltmeister, hat eine bessere Wirtschaftspolitik verdient, als
Sie sie heute geboten haben. Wir werden Sie treiben, damit Sie zu einer guten Wirtschaftspolitik kommen. Das
ist unsere Aufgabe als Opposition.
({41})
Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Das,
was Sie heute geboten haben, war nicht dünne Suppe,
das war ganz dünne Suppe. Das ist kein guter Anfang.
Ich kann nur sagen: Das ist keine Form von moderner
Wirtschaftspolitik, das ist Grußwortepolitik. Aber
Deutschland verdient mehr.
({42})
Dr. Michael Fuchs ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Herr Heil, ich weiß nicht, ob jemand, der als
Generalsekretär der SPD das zweitschlechteste Ergebnis
der Partei bei einer Wahl zu verantworten hat und damit
der zweitschlechteste Generalsekretär der Sozialdemokratie im vereinten Deutschland ist - nur Egon Krenz
war schlechter -,
({0})
das Recht hat, so mit dem Bundeswirtschaftsminister
umzugehen.
Ihre Rede stand unter dem Motto „Vorwärts, Genossen, zurück in die Vergangenheit!“. Damit können wir
nichts anfangen. Wir werden dieses Land in die richtige
Richtung führen. Was Sie hier aufgeführt haben, war
Theater.
({1})
Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will
das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein
Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du,
Staat, dafür, daß ich dazu in der Lage bin.
Diese Worte stammen von Ludwig Erhard, und sie
werden in den kommenden vier Jahren die Richtschnur
für die Union sein. Kein Politiker vor oder nach Ludwig
Erhard hat treffender beschrieben, was den Kern einer
freiheitlichen und dennoch sozialen Politik ausmacht.
Ich spreche von einer Politik, die auf die Kraft jedes Einzelnen vertraut, auf die Leistungsbereitschaft, auf den
Mut, auf die Kreativität von 81 Millionen Bundesbürgern. Ich spreche von einer Politik, die dort unterstützt,
wo dem Einzelnen die Kraft fehlt. Markt, Wirtschaft und
soziale Verantwortung sind für die CDU/CSU immer etwas Zusammengehöriges gewesen, und das muss auch
so bleiben.
({2})
Wir waren es, die erkannt haben, dass eine Nation beides
braucht: Freiheit und Verantwortung. Die Bundeskanzlerin hat das gestern sehr deutlich gemacht.
Wie wurden wir wegen der Diffamierungskampagnen, die Sie im Wahlkampf gemacht haben, von den
Menschen teilweise wahrgenommen: als „Koalition der
Kälte“ etc. Lesen Sie bitte unseren Koalitionsvertrag! Da
ist von Kälte nichts zu spüren.
({3})
Lassen Sie mich heute an einigen Punkten erläutern,
wie wir Deutschland aus der Krise herausführen wollen:
Freiheit in Verantwortung und Wachstum durch Leistungsbereitschaft. Wir werden Deutschland in Bildung,
Wissenschaft und Forschung zurück an die Weltspitze
führen, um gerade den kommenden Generationen ein
Leben in Wohlstand, Gerechtigkeit und Sicherheit zu ermöglichen.
Das heißt insbesondere, einen freiheitlichen Ansatz
zu verfolgen, statt mit ideologischen Scheuklappen
Chancen zu verhindern. Das gilt insbesondere für die
Zukunftsthemen, nämlich für Forschung, für Bildung,
für Energie- und für Technologiepolitik. Hier ideologische Scheuklappen zu haben, das verhindert Zukunft
und verhindert Wachstum in Deutschland.
({4})
Wir werden die Arbeitnehmer, insbesondere Familien
und Geringverdiener, steuerlich entlasten durch ein einfacheres, niedrigeres und gerechtes Steuersystem. Die
kalte Progression ist ein Mühlstein am Hals der Leis134
tungsträger unserer Gesellschaft. Ich meine damit diejenigen, die jeden Morgen aufstehen, früh zur Arbeit
gehen, spät zurückkommen, die Krankenschwester, den
Polizisten, den Handwerker, den Facharbeiter; das sind
die Leistungsträger. Sie werden durch unser Steuerrecht
für ihren Einsatz bestraft. Das muss aufhören, und dafür
werden wir gemeinsam sorgen.
({5})
Ich bin der Bundeskanzlerin dafür dankbar, dass sie dies
in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich zum Ausdruck gebracht hat.
Zwar erforderte die globale Wirtschaftskrise eine vorübergehende stärkere Rolle des Staates, doch für uns ist
klar, dass der Staat weder der bessere Banker noch der
bessere Unternehmer ist. Liebe Kollegen von der SPD,
er ist auch nicht der bessere Autobauer.
({6})
Daher haben wir im Koalitionsvertrag klargemacht,
dass wir eine klare Exit-Strategie brauchen, dass wir aus
staatlichen Hilfen möglichst schnell aussteigen wollen
und aus Staatsbeteiligungen herauswollen. Das gilt besonders für den Bankenbereich. Ich empfehle nebenbei
auch den Ländern, hinsichtlich ihrer Hausbanken darüber einmal nachzudenken.
({7})
Wir werden es auch sein, die aus Deutschland ein
Gründerland machen werden. Wir werden deshalb eine
Gründerkampagne starten und dafür sorgen, dass
Jungunternehmer bessere Finanzierungsbedingungen erhalten. Dazu werden wir die Angebote im Bereich der
Mikrokredite, der Business Angels und des Wagniskapitals verbessern. Hier müssen noch Strukturverbesserungen vorgenommen werden, die wir mit Ihnen in der letzten Legislaturperiode leider nicht erreichen konnten,
weil Sie sich da verweigert haben.
Wir wollen mehr Freiräume für unternehmerische Betätigung und für Selbstständigkeit schaffen; denn das
schafft Arbeitsplätze in unserem Land.
({8})
Getreu Erhards Motto „Je freier die Wirtschaft, umso
sozialer ist sie auch“ werden wir den Abbau bürokratischer Hemmnisse vorantreiben. Auch wenn wir hier in
den letzten Jahren ein Stück vorangekommen sind - das
will ich nicht verleugnen -, dürfen wir uns mit dem bis
jetzt Erreichten nicht zufriedengeben. Nach wie vor entstehen der Wirtschaft durch Statistik- und Informationspflichten jährliche Bürokratiekosten in Höhe von
40 Milliarden Euro. Deshalb werden wir die Kosten aus
Statistik- und Informationspflichten bis 2011 um 25 Prozent reduzieren. Und zwar netto! Dem haben Sie sich in
der letzten Legislaturperiode immer verweigert. Ich
kenne ein oder zwei Ausnahmen, die sich da nicht verweigert haben, aber Sie als ganze Fraktion haben sich
dem verweigert. Jetzt können wir das machen; mit der
FDP werden wir das machen.
({9})
Wir werden uns auch um die materiellen Kosten der
Bürokratiebelastung kümmern. Wir werden den Normenkontrollrat bitten, uns jeweils auch die materiellen
Kosten aufzuzeigen; denn auch hier ist Kontrolle notwendig.
Freiheit heißt für mich auch, dass sich der Staat aus
der Lohnfindung herauszuhalten hat. Sie ist zuallererst
Aufgabe von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Die Tarifautonomie gehört für uns zum Ordnungsrahmen der sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrang
vor staatlicher Lohnfestsetzung. Das hat sich in 60 Jahren Bundesrepublik Deutschland bewährt, und das wollen wir auch nicht verändern.
({10})
Freiheit heißt auch, dass Unternehmen nicht nur umsatzsteuerrechtlich gleich behandelt werden müssen.
Dies gilt sowohl für die Post als auch für die kommunalen Versorgungsunternehmen. Wettbewerbsgleichheit ist
unsere Maxime. Regeln dafür zu setzen, ist die Aufgabe
des Staates, und mehr nicht.
Freiheit ist aber nicht grenzenlos. Daher werden wir
sittenwidrige Löhne eindeutig verbieten, um Lohndumping zu unterbinden. Wir setzen uns in unserer Koalitionsvereinbarung für eine faire Verantwortungskultur in
Unternehmen ein. Unternehmer, Vorstände und Aufsichtsräte stehen selbstverständlich in Verantwortung zu
ihren Unternehmen und zur Gesellschaft.
Freiheit bedeutet auch, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein. Wer dieses Bewusstsein nicht hat, dem
muss man helfen, es zu entwickeln.
({11})
Gerade der Mittelstand macht dies aber vor, und die Bürgerinnen und Bürger nehmen das auch wahr. Freiheit
und Verantwortung schaffen Vertrauen, gerade im Mittelstand.
Laut einer aktuellen Stern-Umfrage haben über
70 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Vertrauen zu ihrem direkten, eigenen Arbeitgeber, zu
den Gewerkschaften haben 30 Prozent Vertrauen, und
die Manager liegen dabei an letzter Stelle, was mich
nicht wundert.
({12})
Freies Unternehmertum beinhaltet Gewinnchancen,
aber selbstverständlich ebenso Risikohaftung für Fehlentscheidungen. Deshalb werden wir die jüngsten Gesetzesanpassungen zur Haftung und Vergütung weiterentwickeln. Die Vergütungssysteme müssen sich stärker als
bisher am langfristigen Erfolg eines Unternehmens
orientieren. Wo es Bonuszahlungen gibt, muss es auch
Malusregelungen geben.
({13})
Es sollte überall freiwillige Selbstverpflichtungen von
Entscheidern geben, um Fehlverhalten zulasten Dritter
vorzubeugen. Deshalb fordern wir auch für Betriebsräte
einen Ehrenkodex. Damit hätte man manche Eskapade
zwischen Wolfsburg und München verhindern können.
({14})
Die Verantwortung der Politik ist es nicht, Marktteilnehmer zu sein, sondern Spielregeln für den Markt zu
setzen. Deswegen werden wir in Anlehnung an die
Ministererlaubnis beim Fusionsrecht auch eine umgekehrte Regelung durchsetzen. Wenn Konzerne so groß
werden, dass sie Schaden für die Volkswirtschaft anrichten können, so kann ich mir als Ultima Ratio oder, wie es
der frühere Wirtschaftsminister einmal genannt hat, als
„Ultissima Ratio“ vorstellen, dass beispielsweise in
netzgebundenen Branchen ein Entflechtungsinstrument zur Anwendung kommt. Dieses werden wir entwickeln.
Politik ist aber nicht nur dafür da, faire Spielregeln
aufzustellen, sondern auch richtige Anreize zu setzen
und einen guten Nährboden für Wachstum zu bereiten.
Die Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise hat tiefe Spuren hinterlassen. Der Koalitionsvertrag
stellt die Weichen für nachhaltiges Wachstum. Er setzt
auf nachhaltiges Wirtschaften für Wohlstand, neue Zukunftschancen durch Bildung, Innovation und sozialen
Zusammenhalt. Deswegen werden wir bereits morgen
als erste Maßnahme ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen.
Neben den steuerlichen Entlastungen für Familien
und Kinder werden wir vor allen Dingen die krisenverschärfenden Elemente der Unternehmensteuerreform
und der Erbschaftsteuerreform korrigieren, Dinge, auf
die wir Sie während der letzten Legislaturperiode aufmerksam gemacht haben, die Sie aber mit uns nicht machen wollten. Wir machen das jetzt. Wir reagieren sofort
und schnell; denn wir dürfen Unternehmen in dieser Krisensituation nicht in eine Existenzkrise bringen.
({15})
Zusammen mit dem Sofortprogramm und den bereits beschlossenen Maßnahmen werden wir Familien, Beschäftigte und Unternehmen zum 1. Januar 2010 um rund
22 Milliarden Euro entlasten. Das wird einen Schub geben. Das wird dazu führen, dass es in Deutschland vorangeht. Das ist unser Ziel.
Auch wenn die jüngsten Arbeitsmarktzahlen belegen,
dass Deutschland im internationalen Vergleich in der
Krise besser als andere dasteht, so sind wir dennoch in
diesem Winter von den Folgen des Konjunktureinbruchs
ganz sicher betroffen. Umso wichtiger ist es, zusätzliche
Brücken zu bauen und zusätzliche Belastungen zu vermeiden. Union und FDP werden dafür eine Stabilisierung der Lohnzusatzkosten bewirken. Wir wollen sie
langfristig unter 40 Prozent halten. Wir werden auch das
Instrument der Kurzarbeit länger nutzbar machen. Wir
kommen nur mit den Unternehmern und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch diese Krise und
nicht ohne sie.
({16})
Unser wichtigstes Ziel bleibt: Deutschland muss so
schnell wie möglich auf einen stabilen und nachhaltigen
Wachstumspfad zurückgebracht werden. Ohne Wachstum ist ein Schuldenabbau nicht möglich.
({17})
Neben einer Politik für Wachstum müssen wir uns aber
auch mit dem Thema Sparen beschäftigen.
({18})
Was heißt denn eigentlich Sparen? Sparen heißt, Geld,
das man hat, nicht auszugeben. Sparen in der Politik
heißt leider, allenfalls weniger Schulden zu machen.
({19})
Deswegen müssen wir uns mit allen Ausgaben und mit
allen Förder- und Subventionsprogrammen beschäftigen
und sie vorbehaltlos auf den Prüfstand stellen.
({20})
Das sind wir kommenden und zukünftigen Generationen
schuldig.
({21})
Eine Kürzung von Ausgaben ist möglich. Das sollten
wir hinbekommen. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten.
({22})
Das gilt nebenbei nicht nur für den Bund. Das gilt auch
für die Länder. Das kann man am Beispiel meines Heimatlandes, Stichwort Nürburgring, ganz wunderbar betrachten.
({23})
- Sie wissen genau, dass es dort zu erheblichen Verschwendungen gekommen ist, Herr Heil. Darüber sollten
Sie sich informieren. Ansonsten schicke ich Ihnen entsprechende Presseartikel aus Rheinland-Pfalz zu.
({24})
Meine Damen und Herren, es ist möglich, diese Krise
zu bewältigen.
({25})
Es ist möglich, aus ihr herauszukommen. Das müssen
wir gemeinsam tun. Es zeigt sich, dass es Licht am Ende
des Tunnels gibt. Ich weiß zwar, dass die Opposition den
Tunnel am liebsten verlängern würde. Aber wir werden
das nicht mitmachen. Wir sind die soziale und die wirt136
schaftliche Kraft in diesem Lande. Wir werden das gemeinsam schaffen.
({26})
Das Wort erhält nun die Kollegin Sahra Wagenknecht,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die britische BBC hat dieser Tage eine sehr interessante Studie
veröffentlicht. Im Rahmen dieser Studie wurden Menschen aus 27 Ländern befragt. Ich denke, die Ergebnisse
dieser Studie sind außerordentlich bemerkenswert. Sie
besagen nämlich, dass noch ganze 11 Prozent der Bevölkerung in diesen Ländern den Kapitalismus in der
Form, wie wir ihn heute haben, für eine funktionierende
Wirtschaftsordnung halten. 51 Prozent der Befragten
fordern eine stärkere Regulierung der Märkte.
({0})
Immerhin 23 Prozent meinen sogar, dass eine vollkommen neue Wirtschaftsordnung geschaffen werden muss.
Wenn man sich im Gegensatz dazu anhört, was Herr
Brüderle hier vorgetragen hat, dann muss man sich
schon fragen: Wo leben Sie denn eigentlich?
({1})
Irren mag ja menschlich sein. Aber wer an einer Politik
festhält, die ihre Unfähigkeit zur Lösung der ökonomischen Probleme in den letzten Jahren eindeutig unter Beweis gestellt hat, der ist meines Erachtens kein Irrender.
({2})
Er ist entweder komplett lernunfähig oder von bestimmten Interessen gekauft.
({3})
Was wir seit 2008 erleben, ist die schwerste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Wer glaubt, es ginge irgendwann einfach so
weiter wie vor 2008, der hat, denke ich, die Dimension
dieser Krise überhaupt nicht begriffen. Deutschland hat
in den Jahren 2002 bis 2008 insgesamt Exportüberschüsse in einer Größenordnung von 900 Milliarden
Euro aufgehäuft. Dieser Exportirrsinn und die Hyperverschuldung der amerikanischen Konsumenten sind zwei
Seiten einer Medaille gewesen. Die vielzitierten Schrottpapiere in den Bankbilanzen, über die wir seit zwei Jahren reden, sind ein Ergebnis dieses Zusammenspiels.
Das muss man doch begreifen.
({4})
Wer im Ernst glaubt, er könne einfach so weitermachen wie bisher, der möge uns doch schon einmal vorsorglich erklären, wer die Verluste des nächsten Millionencrashs übernehmen soll: wieder der Steuerzahler auf
Kosten der Staatsverschuldung oder wer sonst?
Was der deutschen Wirtschaft fehlt, sind, denke ich,
nicht neue Exporterfolge, sondern das ist Nachfrage
hier im Land, in der Bundesrepublik Deutschland. Diese
Nachfrage fehlt nicht, weil die Menschen etwa keine
Lust zum Konsumieren hätten, sondern diese Nachfrage
fehlt, weil immer mehr Menschen nicht genug Geld im
Portemonnaie haben, um sich die Dinge leisten zu können, die sie brauchen und die sie sich leisten können
möchten.
Das ist das Ergebnis einer jahrelangen Politik des
Lohndumpings, einer jahrelangen Politik der Deregulierung, einer jahrelangen Politik der Privatisierung und
des Sozialraubs. Das ist das Ergebnis dieser Politik, die
schon unter Rot-Grün gemacht und unter der Großen
Koalition fortgesetzt wurde. Genau diese wahnwitzige
Politik wollen Sie jetzt weitermachen. Das ist eine Politik, die Mehrheiten in diesem Lande ärmer gemacht hat,
und es ist eine Politik, die die oberen Zehntausend in
beispielloser Weise bereichert hat.
({5})
Deutschland ist dank der Reformen der letzten Jahre
schon längst ein Steuer-Eldorado für große Konzerne
und Multimillionäre. Das Aufkommen aus der Erbschaftsteuer ist lächerlich im internationalen Vergleich,
und da erzählen Sie uns, weitere Steuergeschenke für
Unternehmer und Reiche würden die Konjunktur ankurbeln. Wenn das so stimmen würde, dann hätten wir in
der Bundesrepublik seit der Jahrtausendwende den grandiosesten Wirtschaftsboom der deutschen Nachkriegsgeschichte erleben müssen. Denn genau das, was Sie jetzt
vertreten, ist doch schon die ganze Zeit gemacht worden.
({6})
Also hören Sie bitte auf, solche Phrasen zu dreschen!
Sie wollen die Regierung der Mitte sein, und Sie setzen
nahtlos eine Politik fort, in deren Folge die Mittelschichten in der Bundesrepublik Jahr für Jahr geschrumpft sind. Sie wollen eine Koalition des Mittelstands sein. Sie schauen aber zu, wie die Banken kleinen
und mittleren Unternehmen den Kredithahn zudrehen.
Alles, was Ihnen dazu einfällt, sind moralische Appelle moralische Appelle wohlgemerkt genau an die Banken,
bei denen Sie schon Milliarden an Steuergeld versenkt
haben. Warum haben Sie sich für das verdammt viele
Geld nicht wenigstens ein Mindestmaß an Mitsprache
und Einfluss gesichert?
({7})
Das betrifft durchaus nicht nur die Banken, die direkt
vom SoFFin gestützt werden. Auch die Deutsche Bank
wäre doch längst bankrott, wenn der Steuerzahler in diesem Land nicht mit Milliarden und Abermilliarden für
die Rettung der IKB und vor allem für die Rettung der
Hypo Real Estate bluten würde und noch bluten wird. Es
ist doch unser aller Geld, mit dem diese Banker längst
wieder auf internationalem Parkett zocken gehen. Es ist
unser aller Geld, mit dem Herr Ackermann schon wieder
Dividenden verteilt, statt sich um die Kreditversorgung
der Wirtschaft zu kümmern.
Repräsentanten eines Staates, die sich von Bankvorständen oder vom Management gewisser Automobilkonzerne wie dumme Tanzbären am Nasenring durch die
Manege ziehen lassen, entwürdigen die Demokratie.
Dann dürfen Sie sich auch nicht wundern, wenn sich immer mehr Menschen von dieser Art von Politik angewidert abwenden.
({8})
Wir brauchen kein Weiter-so! Wir brauchen einen politischen Neuanfang und perspektivisch eine andere
Wirtschaftsordnung. Wir brauchen eine andere Wirtschaftsordnung, weil dieser entfesselte Kapitalismus, der
mit den Ideen der sozialen Marktwirtschaft längst nicht
mehr das Geringste zu tun hat, eine kleine Schicht von
Leuten, nämlich die Besitzer großer Kapitalvermögen, in
beispielloser Weise gegenüber allen anderen Gruppen
der Gesellschaft privilegiert und zu einer Einkommensverteilung führt, die die Einkommen genau bei denjenigen konzentriert, die sowieso schon viel zu viel haben.
Das ist doch die eigentliche Ursache der bestehenden
Ungleichgewichte, die eigentliche Ursache der Krisen
und die eigentliche Ursache des wirtschaftlichen Niedergangs.
Frau Kollegin!
Deswegen brauchen wir andere Formen wirtschaftlichen Eigentums. Wir brauchen eine radikale Umverteilung der Einkommen und Vermögen von oben nach unten. Nur wenn wir eine solche Einkommensverteilung
hinbekommen, werden wir perspektivisch aus dieser
Krise herauskommen.
({0})
Frau Kollegin Wagenknecht, das war Ihre erste Rede
im Deutschen Bundestag, zu der Ihnen das Präsidium
gleich einen Zuschlag auf die von der Fraktion gewährte
Redezeit eingeräumt hat. Ich wünsche Ihnen eine gute
Zeit und Zusammenarbeit hier im Deutschen Bundestag.
Wir wollen schauen, ob es bei künftigen eng bewirtschafteten Redezeiten ähnlich großzügig weitergeht.
({0})
Nun hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Wirtschaftsminister Brüderle, als ich Ihre
Rede gehört habe, fiel mir ein: So viel gestern war noch
nie.
({0})
Wir erwarten von einem Wirtschaftsminister Schwung,
Ideen, ein Leitbild und eine Vision. Wir brauchen Mut
und Modernität. Nichts von alledem habe ich in Ihrer
Redezeit von knapp 9 Minuten gehört.
({1})
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag und Ihre Rede
vor Augen führe, dann bleibt mir nur zu sagen: Sie haben aus der Krise nichts gelernt. Sie vergeben die
Chance zum Umsteuern. Es gibt keinen Aufbruch. Es
gibt keine strukturelle Modernisierung. Wo stehen wir
denn heute? Es gibt eine Wirtschafts- und eine Klimakrise. Das alles spielt sich vor dem Hintergrund der
Krise der öffentlichen Haushalte ab. Das heißt, kluge
Wirtschaftspolitik muss diese drei Krisen im Zusammenhang sehen und sich Gedanken machen, wie man
aus der Wirtschaftskrise herauskommt. Wirtschafts- und
Klimakrise lassen sich nur gemeinsam lösen, Herr Wirtschaftsminister.
({2})
Das heißt, ich muss mir Gedanken machen: Wo liegen
die Märkte der Zukunft? Wohin geht es? Was braucht die
Wirtschaft, um neue Produkte und neue Produktionsprozesse zu entwickeln? Das sind die Energietechnologie,
die Speichertechnik, die erneuerbaren Energien, die
Netze, die Mobilität, neue Mobilitätskonzepte. All dies
muss doch einmal in einem wirtschaftspolitischen Konzept von Ihnen entwickelt werden im Sinne von „Da
geht es lang, da ist die Zukunft für unsere Wirtschaft und
für den Wirtschaftsstandort Deutschland“.
({3})
Ich will, dass Sie in der Lage sind, zu sagen: Wir nutzen diese Umweltwirtschaft, wir rufen ein neues Gründerzeitalter aus, wir rufen ein solares Zeitalter aus, wir
erkennen, dass die Chance für unsere Wirtschaft im Bereich der Umwelt- und der Effizienztechnologien liegt,
wir rufen eine CO2-arme Wirtschaftsweise aus, wir legen
Förderprogramme zur Wärmedämmung bei Altbauten
auf, entwickeln neue Mobilitätskonzepte, stellen Wagniskapital für innovative Unternehmen zur Verfügung.
All dies muss ein Wirtschaftsminister bei seinem ersten
Auftritt zu der Frage, wohin es die nächsten vier Jahre
geht, skizzieren.
({4})
Sie sagen, Klimaschutz sei Ihnen wichtig. Auch in
den Überschriften des Koalitionsvertrags taucht das auf.
Wenn ich mir die Maßnahmen aber anschaue, dann muss
ich sagen: Das sind reine Lippenbekenntnisse. Das Erste,
was Sie machen, ist, dass Sie das EEG stutzen.
70 000 Arbeitsplätze hängen von der Solarwirtschaft ab.
Das ist der Mittelstand, und es ist mittelstandsfeindliche
Politik, wenn Sie hier anfangen, zu stutzen, und diesem
Wirtschaftsbereich derartig das Wasser abgraben.
({5})
Stattdessen fordern Sie längere Laufzeiten für Atomkraftwerke. Die Monopolkommission selber hat Ihnen
gesagt: Wenn Sie die Laufzeiten für die AKWs verlängern, behindern Sie den Wettbewerb auf dem Energiemarkt. - Das sagte die Monopolkommission, die Sie,
Herr Brüderle, in den letzten Jahren immer wieder zitiert
haben. Das müssen Sie sich anhören, das müssen Sie lesen, das müssen Sie verstehen.
({6})
- Lesen und Verstehen scheint ein Problem zu sein.
Es gibt noch ein anderes Problem beim Lesen und
Verstehen. Sie haben hier sehr vehement für Ihr neues
Wachstumsbeschleunigungsgesetz geworben und haben ernsthaft die Deutsche Bank zitiert, die Ihnen sagt
- Sie loben auch noch Ihre eigene Politik -,
({7})
dieses Gesetz bringt 0,5 Prozent Wachstum. Was heißt
das? Sie nehmen 23 Milliarden Euro in die Hand, um
0,5 Prozent Wachstum zu erzielen, wobei wir wissen,
dass das ungefähr 3 Milliarden Euro Einnahmen generiert. Wo bleiben die restlichen 20 Milliarden Euro? Das
ist unseriöse Politik, ungerechte Politik, es ist unverschämt, uns hier so etwas zu verkaufen.
({8})
Herr Brüderle hat gesagt, die durch die Wirtschaftskrise sinkenden Steuereinnahmen dürften kein Argument gegen Steuererleichterungen sein. Das sei haushaltspolitisch zu verantworten. Ich bin sehr gespannt auf
die Diskussion zwischen Ihnen und Ihren Haushaltspolitikern und darauf, wie Sie dies haushaltspolitisch verantworten wollen, ohne neue Schulden zu machen. Es wird
Ihnen nichts anderes übrig bleiben, als neue Schulden zu
machen. Das ist eine hochgradig generationenungerechte Politik. Sie denken überhaupt nicht mehr an zukünftige Generationen. Das sind Lippenbekenntnisse
von gestern. Wenn es um Steuersenkungen und Klientelpolitik geht, ist der FDP jedes Argument recht.
({9})
Was ist die Folge von diesen Steuersenkungen? Die
Folge wird vor allem die Kommunen treffen, die Städte
und Gemeinden. Die schlagen schon jetzt Alarm. Die
Städte und Gemeinden müssen nämlich Folgendes machen: Sie müssen die Gebühren für ihre Einrichtungen
erhöhen. Es wird ihnen gar nichts anderes übrig bleiben.
Sie müssen Gebühren für die Kindergärten erhöhen, sie
werden Schwimmbäder und Kultureinrichtungen teilweise schließen müssen. Da bleibt nichts mehr von
„mehr Netto vom Brutto“. Das ist „rechte Tasche, linke
Tasche“, das ist schlicht ein Verschiebebahnhof zulasten
von denen, die auf diese Infrastruktur angewiesen sind.
Das ist wirklich unseriöse Politik.
({10})
Sie sprechen von Wettbewerb, und Sie sprechen davon, dass man wieder Ordnungspolitik im Land betreiben müsse. Im Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist die
Umverteilung bei den Kindern vorgesehen: Erhöhung
des Kindergelds um 20 Euro, den Kinderfreibetrag setzen Sie ebenfalls hoch, Hartz-IV-Empfänger erhalten gar
nichts. Warum sollen wir hier in diesem Hohen Haus, die
wir Kinder haben und kindergeldberechtigt sind, in den
Genuss von mehr Geld für unsere Kinder kommen, nicht
aber die Hartz-IV-Empfänger? Ich bin gespannt, wie Sie
das in Ihrer nächsten Bürgersprechstunde erklären wollen. Das ist ungerecht.
({11})
Diese Politik müssen Sie ändern. Sie müssen das Geld
denen geben, die es wirklich brauchen, und nicht denen,
die es nicht brauchen.
({12})
Ein besonderes Schmankerl ist die Sache mit den
Hotelübernachtungen. Herr Thiele - er steht jetzt gerade auf - und Herr Wissing, Sie beide saßen mit uns
zusammen in den Beratungen über die Mehrwertsteuerregelungen im Rahmen des Steuervergünstigungsabbaugesetzes. Sie haben immer gesagt: Das muss jetzt einfacher, gerechter und nachvollziehbarer werden. Jetzt
wollen Sie allen Ernstes, dass auf Hotelübernachtungen
ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gezahlt wird. Soll
man sich das Frühstück mitbringen, oder zahlt man für
das Frühstück dann den vollen Mehrwertsteuersatz?
Dies ist ein ordnungspolitischer Sündenfall. Das ist reine
Klientelpolitik, nichts anderes.
({13})
Wenn wir schon bei Klientelpolitik sind: Der Versandhandel bei Apotheken wird eingeschränkt; das
Mehrbesitzverbot wird aufrechterhalten; Steuerberaterkosten sind wieder absetzbar. Bei den Dienstwagen legen Sie noch eins drauf. Das ist reine Klientelpolitik.
Lobbyinteressen haben hier Vorrang. Teilweise wurden
Forderungen der jeweiligen Verbände eins zu eins in den
Koalitionsvertrag hineingeschrieben. Das ist peinlich.
({14})
Was ich von einem Wirtschaftsminister fordere und
was dieses Land braucht, sind eine Vision, sind Mut und
Ideen. Wir brauchen Innovationen. Der Gründergeist
muss geweckt werden; Potenziale müssen ausgeschöpft
werden. Die Forschungsförderung - sie ist angesprochen
worden - wird nur vage benannt. Jetzt hätte doch die
Möglichkeit bestanden, in die Vollen zu gehen. Hier
müssen Sie ansetzen, hier müssen Sie Geld ausgeben;
denn das - nicht Steuergeschenke für alle - wirft Zukunftsrendite ab.
Da wir gerade bei Innovationen sind, Stichwort
„Frauen in Führungspositionen“: In Ihrem Koalitionsvertrag steht Folgendes:
Die Ziele des Bundesgleichstellungsgesetzes und
des Bundesgremienbesetzungsgesetzes werden mit
Nachdruck verfolgt. Wir werden prüfen,
({15})
- der wievielte Prüfauftrag? ob und inwieweit die Gesetze geändert und effektiver gestaltet werden müssen. Der Anteil von Frauen
in Führungspositionen in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst soll maßgeblich erhöht werden.
({16})
Wenn ich mir die Ministerriege - die Ministerinnenriege - und wenn ich mir vor allem die Bereiche Wirtschaft, Finanzen und Haushalt anschaue, dann scheint es
so zu sein, dass die Kompetenz von Frauen überhaupt
keine Rolle mehr spielt.
({17})
Es gibt in der ersten und in der zweiten Führungsebene
dieser Bereiche keine einzige Frau. Für Sie ist Gleichstellung hier ein reines Lippenbekenntnis.
({18})
Das müssen Sie anerkennen. Wäre es nicht so, hätten Sie
es anders gemacht.
Der Wirtschaftsminister stellt sich in der Glos’schen
Tradition hierhin und sagt: Das ist alles gar nicht so
schlimm; es wird gerade wieder besser; die Anzeichen
dafür mehren sich. Ich möchte Ihnen wirklich mit auf
den Weg geben, sich sehr genau anzuschauen, welche
Anzeichen sich gerade mehren. Die Anzeichen, dass die
Krise vorbei ist, mehren sich nämlich nicht. Hingegen
mehren sich die Anzeichen, dass die Erholungssignale
überschätzt werden. Wir wissen, dass vieles von dem,
was wir jetzt spüren, teuer erkauft ist und uns am Ende
noch teurer zu stehen kommen wird.
Wir legen demnächst einen Vorschlag vor; ihn können
Sie sofort umsetzen. Wir haben ein großes Problem bei
den kleinen und mittleren Unternehmen. Ihnen droht
teilweise die Insolvenz, weil sie in eine Liquiditätsklemme geraten sind. Wir sagen Ihnen: Helfen Sie den
kleinen und mittleren Unternehmen. Wir schlagen vor,
dass der Staat die Sozialversicherungsbeiträge für drei
Monate vorfinanziert, günstig, unbürokratisch, um über
diese Lücke hinwegzuspringen. Dann kommen Sie aus
der augenblicklichen Konzernlastigkeit des Staatsfonds
heraus. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung
gestern gesagt, sie wolle das einmal prüfen. Ich wiederhole: Wir müssen von der Konzernlastigkeit des Staatsfonds wegkommen. Wir müssen verstärkt kleine und
mittlere Unternehmen unterstützen. Dadurch kann
1,5 Millionen Unternehmen tatsächlich etwas Gutes getan werden. Diesen Vorschlag sollten Sie auf jeden Fall
aufnehmen.
({19})
Ich komme zum Schluss. Ich muss wirklich sagen:
Ich hätte mir von Ihnen viel mehr erwartet. Ich bin wirklich davon ausgegangen, dass hier heute Morgen ein
Szenario für die nächsten vier Jahre entwickelt wird.
({20})
Wir werden ein Konzept für einen wirtschaftspolitischen
Aufbruch entwickeln. Nichts von alldem, was wir erwartet haben, haben wir erfahren: keinen Mut, keine Modernität, keine Visionen, keine Ideen. Ich befürchte: Uns
stehen vier verlorene Jahre bevor.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir stecken
noch in der Krise, und die Bundeskanzlerin hat gestern
in ihrer Regierungserklärung darauf hingewiesen: Jetzt
kommt es darauf an, alle Anstrengungen zu unternehmen, um aus dieser Krise herauszukommen. Das ist gegenwärtig die zentrale Aufgabe.
Die Frage ist: Mit welcher Politik, mit welchen Instrumenten können wir die Krisenbewältigung beschleunigen? Da gibt es im Prinzip nur drei Alternativen:
Entweder sparen Sie sich aus der Krise. Das war noch
nie ein erfolgreiches Konzept. Das ist ja seinerzeit unter
Brüning versucht worden und hat die Weltwirtschaftskrise erst richtig beschleunigt.
Oder Sie versuchen, die Staatshaushalte über Abgaben- und Steuererhöhungen zu sanieren. Dann belasten
Sie genau die Menschen, auf die es ankommt, um aus
der Krise herauszukommen.
Dann gibt es die dritte Strategie, die wir verfolgen,
nämlich die Leistungsträger in der Gesellschaft, die Arbeitnehmer, die kleinen und mittleren Unternehmen, zu
entlasten, um ihre Leistungskraft anzuspornen, und dadurch Wachstumsimpulse auszulösen und aufgrund dieses Wachstums mehr Beschäftigung zu erzielen. Mehr
Beschäftigung führt auch nachhaltig wieder zu einer
Stabilisierung der Staatseinnahmen. Nur so kann eine erfolgreiche Strategie aussehen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die neue Koalition
hat in absoluter Rekordzeit, nämlich sechs Wochen nach
der Bundestagswahl - so kurze Zeit ist das ja erst her -,
ein Gesetz vorgelegt, das morgen in diesem Hause beraten wird, nämlich ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das
({1})
genau diese Strategie umsetzt. Es wird noch in diesem
Jahr realisiert und zum 1. Januar des nächsten Jahres in
Kraft gesetzt. Schneller geht es ja überhaupt nicht.
({2})
Damit werden Steuerentlastungen in Höhe von weit über
20 Milliarden Euro freigegeben, damit die Bürger mehr
konsumieren, mehr investieren, mehr forschen und entwickeln und mehr auf neue Technologien setzen. Wir geben ihnen also mehr finanzielle Freiheiten, um Wachstum zu finanzieren.
({3})
Das geht nur mit den Bürgern, nicht gegen die Bürger.
({4})
Sie müssen immer den Menschen in den Mittelpunkt der
Politik stellen, nicht den Staat, nicht den Haushalt. Auf
die Menschen kommt es an. Das vergessen Sie immer.
({5})
Dann wird von Ihnen ja immer bestritten, dass diese
Politik funktionieren könnte. Die Laffer-Kurve funktioniert.
({6})
Wenn Sie es schon anderen nicht glauben und der Wissenschaft nicht glauben, möchte ich Sie doch fragen:
Warum haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigene
Politik? Erinnern Sie sich: In der ersten Hälfte des Jahrzehnts haben Sie von Rot-Grün eine Steuerreform durchgeführt,
({7})
der auch der jetzige Bundeswirtschaftsminister Rainer
Brüderle als Vertreter von Rheinland-Pfalz im Bundesrat
zugestimmt hat und die damit eine Mehrheit bekommen
hat.
({8})
Diese Steuerreform - Hans Eichel war damals Finanzminister - hat zwei Jahre später zu einer enormen
Wachstumsbeschleunigung und zu einer deutlichen Steigerung der Staatseinnahmen geführt.
({9})
Hier in Deutschland hat vor wenigen Jahren genau dieses Konzept funktioniert. Warum soll es heute nicht
funktionieren? Erinnern Sie sich an Ihre eigene Politik,
anstatt uns Vorwürfe zu machen!
({10})
Meine Damen und Herren, ich habe leider so wenig
Zeit, dass ich jetzt keine Grundsatzrede halten kann.
({11})
Ich will nur sagen: Bei der Wirtschaftspolitik der neuen
Koalition und der neuen Regierung wird es darauf ankommen, dass wir das Verhältnis von Staat zu Markt und
von Markt zu Staat, also zwischen Privat und Staat, wieder ordentlich regeln. Der Staat hat zwar die Aufgabe,
Regeln zu setzen, die Einhaltung der Regeln zu überwachen, für fairen Wettbewerb zu sorgen und Machtmissbrauch auf den Märkten zu verhindern, darf aber nicht
selbst in den Markt eingreifen. Der Staat ist nicht Mitspieler, er ist Schiedsrichter. Er hat die Aufgabe der Regelsetzung. Der freie Wettbewerb muss dafür sorgen,
dass bessere Leistungen entstehen.
Dafür, dass sich die Wirtschaftssubjekte entfalten
können und ihre Kreativität einsetzen können, um mehr
Leistung und bessere Ergebnisse zu erzielen, ist es aber
notwendig, dass sie auf dem Markt die entsprechende
Freiheit haben. Dies müssen wir beherzigen und beispielsweise die Fehlregulierung der Finanzmärkte korrigieren. Wenn wir schon früher die Finanzmärkte besser
kontrolliert, die Finanzaufsicht bei der Bundesbank konzentriert und für höhere Professionalisierung bei der
Finanz- und Bankenaufsicht gesorgt hätten - ich erinnere
daran: Das haben wir, der verstorbene Kollege Günter
Rexrodt und ich, schon im Jahr 2000 angemahnt -,
({12})
dann wäre es jedenfalls nicht in dem Ausmaß, in dem
wir es nun erleben, zu diesem Schlamassel gekommen.
Aufgabe ist jetzt, diese Regulierung nachzuholen und
dafür zu sorgen, dass sich die Moral beim Management
ändert. Wir haben immer gesagt: Wer an Erfolgen teilhaben will, muss auch für die Misserfolge mithaften. Wenn
wir nach diesem Prinzip handeln würden, indem wir
zum Beispiel Malusregelungen in den Verträgen des Managements einführen würden, dann würden solche Probleme nicht entstehen; dann würden die Manager ein
solches Risiko nicht eingehen.
({13})
Vor liegt uns liegt eine große Aufgabe. Wir wollen
schnell aus der Krise herauskommen. Wir sind entschlossen, das kompetent und vernünftig anzugehen. Ich
bin zuversichtlich, dass es in vier Jahren in Deutschland
sehr viel besser aussehen wird.
Vielen Dank.
({14})
Die Kollegin Ulla Lötzer ist die nächste Rednerin für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Herr Brüderle! Kolleginnen und Kollegen! Auch Ihre Vereinbarung zur Außenwirtschaftspolitik macht nur eines deutlich: Sie haben nichts, aber
auch gar nichts aus dieser Krise gelernt. Erklärtes Ziel
sind lediglich die Sicherung des Zugangs deutscher Unternehmen zu ausländischen Märkten, die Verdrängung
ausländischer Unternehmen und die Sicherung der Rohstoffe. Wie im Hamsterrad treiben Sie die Konkurrenz
der Regierungen um den Abbau sozialer und ökologischer Standards sowie um Steuererleichterungen für Investoren und große Konzerne voran.
Skandalös sind die Exportförderung für Atomkraftwerke durch Hermesbürgschaften und die Erleichterung
von Rüstungsexporten.
({0})
Auch Ihre Außenwirtschaftspolitik ist Marktradikalismus statt sozialer Marktwirtschaft. Sie bedeutet Militarisierung von Außenwirtschaftspolitik statt friedlicher
Außenwirtschaftspolitik. Wir brauchen ein Verbot von
Rüstungsexporten.
({1})
Wir brauchen fairen Handel statt marktradikalen Freihandel. Wir müssen verbindliche soziale und ökologische Standards für weltweit agierende Konzerne schaffen, statt ihnen die Welt zu Füßen zu legen.
Herr Brüderle, Sie haben bei Ihrem Amtsantritt gescherzt, Sie wünschten sich, Ihr Vorgänger hätte Opel
schon abgewickelt. Die Beschäftigten und ihre Familien
konnten über diesen Scherz nicht lachen.
({2})
Ihre Rede zeigt: Sie machen ernst damit. Die Abwicklung ist die Maxime Ihrer Regierungspolitik, nicht die
Sicherung der Standorte und der Arbeitsplätze. Das haben die Opel-Beschäftigten und ihre Familien sowie die
Zulieferer von Opel nicht verdient.
({3})
Sie setzen den Fehler fort, sich nicht mit den europäischen Partnern abzustimmen. Wir haben früh eine europäische Lösung gefordert. Die Bundesregierung hielt es
für besser, in Wildwestmanier vorzupreschen. Jetzt fällt
die Standortkonkurrenz auf Deutschland zurück. GM
spielt die europäischen Regierungen gegeneinander aus.
Verlierer sind alle außer GM. Deshalb wird es Zeit, endlich ein europäisch abgestimmtes Vorgehen zu realisieren.
({4})
Ihr zentraler Fehler ist, dass Sie sich als Gegenleistung für die Staatshilfen keine Beteiligung und Mitspracherechte sichern. Wer freiwillig auf Mitspracherechte
verzichtet, darf sich nicht beschweren, wenn er am Ende
nicht gefragt wird. Jetzt zu klagen, der böse Kapitalist
GM habe die Regierung an der Nase herumgeführt, ist
albern. Damit kaschieren Sie nur Ihr eigenes Versagen.
({5})
Frau Merkel hat gestern signalisiert, es könne weitere
Staatshilfen für GM geben. Aber auch in diesem Punkt
haben Sie nicht gelernt. Nach wie vor wollen Sie auf Gegenleistungen völlig verzichten. Wir fordern Sie auf,
endlich Konsequenzen zu ziehen und sich für eine Beteiligung des Bundes und der Länder sowie für Mitspracherechte einzusetzen.
({6})
Das würde übrigens auch Frau Kroes, der EU-Wettbewerbskommissarin, den Wind aus den Segeln nehmen.
Als Eigentümerin kann die öffentliche Hand die Unternehmensstrategie mitbestimmen. Die Beteiligung muss
dazu genutzt werden, den Erhalt aller Standorte und den
Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen durchzusetzen. Die Zukunft der Arbeitsplätze hängt an zukunftsfähigen Konzepten für Technologie und Mobilität. Sie haben zwar davon geredet, aber nur in Form einer
Luftblase. Sie müssen industriepolitisch handeln - nicht
nur GM. Aber das wollen Sie nicht; das verweigern Sie
nach wie vor wie Ihr Vorgänger Baron zu Guttenberg.
Legen Sie doch endlich die ideologischen Scheuklappen
ab, und machen Sie Wirtschaftspolitik statt Ideologiepolitik!
Das Mutterland des Turbokapitalismus, die USA, ist
Mehrheitseigner an GM. Warum lernen Sie nicht endlich
daraus? Dann können Sie auch mit der amerikanischen
Regierung endlich auf Augenhöhe Verhandlungen über
die Zukunft der Arbeitsplätze beginnen.
({7})
Ich fordere Sie hier noch einmal eindringlich auf: Reden Sie mit den europäischen Regierungen! Holen Sie
die Betriebsräte und die Gewerkschaften der europäischen Standorte mit den betreffenden Regierungen an einen Tisch, und beginnen Sie selber unverzüglich Verhandlungen mit GM über den Erhalt der Arbeitsplätze
für die Standorte in ganz Europa und auch in Deutschland! Sichern Sie Arbeitsplätze, statt Lohnverzicht und
Massenentlassungen in diesem Bereich zu betreiben!
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen
heute darüber, wie man Wachstum erreichen und beschleunigen kann und wie wir Deutschland schnell und
gestärkt aus der Krise herausbringen können.
Die Union, die neue Bundesregierung und die Koalition der Mitte haben hier einen klaren ordnungspolitischen Kompass und ein Koordinatensystem, in dem wir
agieren und in dem wir klare Prioritäten setzen. Es gilt,
die Kraft der Freiheit zu aktivieren und zu nutzen. Leistung muss sich wieder lohnen. Es geht nicht darum, umzuverteilen
({0})
und Neiddiskussionen auf das Tapet zu bringen. Wir haben schon heute die Situation, dass 10 Prozent der Einkommensteuerzahler mehr als 50 Prozent der Einnahmen aus dieser Steuer aufbringen. Wohin eine reine
Umverteilung führt, können wir an 40 Jahren DDR sehen. Dahin wollen wir mit Sicherheit nicht zurück. Wir
wollen das Gegenteil.
({1})
Wir wollen die Weichen auf Wachstum stellen und die
richtigen Anreize setzen, damit der Motivationsmotor
bei Arbeitnehmern und bei Unternehmen gleichermaßen
angekurbelt wird. Dafür brauchen wir das Rad nicht neu
zu erfinden. Wir brauchen dafür auch keine Revolution.
Wir müssen an vielen kleinen Stellschrauben drehen, damit sie sich in ihrer Wirkung addieren und die Wachstumsbremsen dadurch gelöst werden. Dann geht es in die
richtige Richtung voran.
Wir werden zum 1. Januar nächsten Jahres Entlastungen in einem Volumen von 22 Milliarden Euro auf
den Weg bringen. Schon die Große Koalition hatte mit
dem Bürgerentlastungsprogramm und den Konjunkturpaketen Entlastungen in Höhe von 14 Milliarden Euro
beschlossen. Das war richtig, und das ist auch heute
noch richtig. Wir legen zum 1. Januar aber noch zusätzlich 8,5 Milliarden Euro drauf, wodurch das Wachstum
weiter beschleunigt wird.
Neben dem Lösen der Wachstumsbremsen gilt es aber
auch, die Lehren aus der Krise zu ziehen. Was da passiert ist, darf sich weder weltweit noch hier in Deutschland wiederholen.
({2})
Wir werden - das hat die Bundeskanzlerin gestern angesprochen - hart dafür arbeiten, dass international die Regelungen getroffen werden, die dafür sorgen, dass Finanzmärkte und Finanzprodukte so reguliert werden,
dass sich diese Krise nicht wiederholen kann.
({3})
Es wird ein schwerer Weg. Aber wir werden diesen Weg
konsequent gehen. Wir sind sicher, dass wir im Endergebnis Erfolg haben werden.
Aber nicht nur international, sondern auch national
müssen wir die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen. Hier gibt es ein Auseinanderklaffen von Möglichkeiten und Verantwortung, von Gewinnchancen und
Risiko. Persönliche Haftung und Gewinn müssen zusammenpassen. Für mittelständische Unternehmen, eigentümergeführte Unternehmen und Handwerker war
und ist dies nie ein Thema. Die Balance ist dort gegeben.
Diese Balance ist der Kern der sozialen Marktwirtschaft,
wie sie Ludwig Erhard beschrieben hat und die das Erfolgsmodell der Bundesrepublik Deutschland war und
ist.
Dort, wo es Schwierigkeiten und Fehlsteuerungen
gibt, wo diese Dinge auseinanderklaffen, wo Vergütungssysteme bzw. Boni ins Uferlose wachsen und
keine persönliche Haftung mehr vorhanden ist, nämlich
bei Kapitalgesellschaften, erwarten wir Änderungen. Zunächst erwarten wir, dass die Wirtschaft selbst handelt
und ihre Lehren aus den Ereignissen zieht. Der Vorschlag, den beispielsweise BMW in den letzten Wochen
gemacht hat - es soll eine neue Gehaltsregelung eingeführt werden; Gehälter des Topmanagements sollen
nicht stärker steigen als die von Bandmitarbeitern -, geht
in die richtige Richtung und ist ein richtiges Signal.
Wir von der Union setzen darauf, dass die Wirtschaft
ihre Hausaufgaben erledigt. Wir sagen klar: Mit Aussitzen wird man nicht durchkommen. Wenn diese Hausaufgaben nicht erledigt werden, dann wird die Politik handeln müssen.
({4})
Die neue Regierung wird die Wachstumsbremsen lösen, damit die Konjunktur wieder Fahrt aufnimmt und
wir gestärkt aus der Krise hervorgehen. Herr Heil, Sie
haben vorhin viele Dinge angesprochen, die in diesem
Zusammenhang notwendig sind. Wir waren in den letzten vier Jahren leider nicht in der Lage, die Dinge, die
notwendig waren, gemeinsam mit Ihnen anzugehen.
Dies betrifft den Mittelstandsbereich, den Bürokratieabbau, den Steuerbereich - ich nenne einmal die GWG-Sofortabschreibung - und das Potenzial, Haushalte als Arbeitgeber zu erschließen. Hier gäbe es viele neue
Möglichkeiten. Dem haben Sie sich verweigert. Auch im
Bereich der Gründungsfinanzierungen war eine Totalverweigerung festzustellen.
Deshalb werden und müssen wir jetzt all die Dinge,
die mit Ihnen nicht möglich waren, zusammen mit der
FDP in den nächsten vier Jahren - wir beginnen mit dem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz - umsetzen. Ich muss
sagen: Sie vergießen heute reichlich Krokodilstränen,
wenn Sie Dinge anmahnen, die Sie vor drei Monaten
noch selber abgelehnt haben.
({5})
Wir werden den Mittelstand stärken. Wir werden den
Innovationsmotor durch zusätzliche Impulse für kleine
und mittelständische Unternehmen anwerfen, indem wir
beispielsweise die steuerliche Förderung von Forschung
und Entwicklung einführen werden. Wir werden den
Wettbewerb weiter stärken. Es gilt, das Kartellamt im
Gesetzgebungsverfahren weiter zu stärken. Wir werden
das GWB erneut überprüfen. Wir werden bestehende
Ungleichbehandlungen - ich nenne den Postbereich schleunigst beseitigen, damit auch hier Wachstumsbremsen gelöst werden und neue Arbeitsplätze entstehen können.
Wir werden Wettbewerbsgleichheit auch dort herstellen, wo sie heute noch nicht besteht, beispielsweise im
Wettstreit zwischen Kommunen und privaten Anbietern,
was die Umsatzsteuer anbelangt. Nur dadurch, dass wir
den Wettbewerb fördern, werden wir Wachstumsbremsen lösen und die Dinge nach vorne bringen.
Wir werden Genehmigungsverfahren weiter beschleunigen und Bürokratie abbauen. Wir werden - auch dies
war mit der SPD nicht möglich - Planungs- und Investitionssicherheit herstellen. Es ist das höchste Gut in der
Republik, dass die Menschen und die Unternehmen darauf vertrauen können, dass Investitionen, die sie nach
geltender Gesetzeslage tätigen, auch sicher sind. Dies
haben Sie verhindert, indem wir den Anlagenbegriff bei
Biogasanlagen nachträglich geändert haben.
({6})
- Genau Sie waren es, Herr Kelber, der das verhindert
hat. Wir werden dies jetzt korrigieren und Planungs- und
Investitionssicherheit wiederherstellen.
({7})
Die Leute sollen sich, wenn sie Investitionen tätigen,
wieder darauf verlassen können, dass das, was heute gilt,
auch noch in vier Jahren gilt.
Wir werden - das ist auch angesprochen worden jetzt eine Energiepolitik aus einem Guss machen, wie
es Herr Brüderle angekündigt hat, eine technologieoffene, markorientierte und ideologiefreie Energiepolitik.
({8})
Eine solche Politik habe ich vermisst, Frau Andreae. In
sieben Jahren Rot-Grün gab es kein Energieprogramm;
auch in den letzten vier Jahren ist es nicht gelungen, ein
Energieprogramm auf den Weg zu bringen.
({9})
Wir haben dies mit dem Energiegipfelprozess eingeleitet.
({10})
- In der Tat. Aber da war es dann so: Als die Fakten auf
dem Tisch lagen, verweigerte man sich und war nicht bereit, die notwendigen Schlüsse zu ziehen.
({11})
Wir werden jetzt ein Energieprogramm vorlegen, das
deutlich macht, wie wir die internationalen Herausforderungen angehen werden. Wir sind viele Verpflichtungen
im europäischen und weltweiten Kontext eingegangen;
dies zeigen jetzt auch die Verhandlungen über das KiotoNachfolgeabkommen in Kopenhagen. Die internationalen Verpflichtungen, die wir eingehen, und die nationalen Ziele, die wir uns gesetzt haben, um das Abkommen
umzusetzen, das Integrierte Klima- und Energiepaket,
der Ausbau der erneuerbaren Energien, die Verdoppelung der Energieeffizienz und andere Dinge mehr, müssen in unser Programm einfließen.
Daraus werden wir rational, an den Zahlen und Fakten orientiert, ableiten, wie sich der Energiemix entwickeln wird, und dann werden wir langfristig erreichen,
dass die erneuerbaren Energien in einem dynamischen
Energiemix den Hauptanteil übernehmen. Wir haben das
Ziel, im Strombereich 30 Prozent bis 2020 zu erreichen;
daran halten wir fest. Vielleicht werden wir sogar mehr
erreichen. Aber 30 Prozent sind eben 30 Prozent;
70 Prozent müssen auch noch irgendwo anders herkommen.
Da diese 70 Prozent nicht vom Himmel fallen, sagen
wir ganz klar: Dieses Energiekonzept wird dann den
Weg weisen, wie lange wir die Kernkraft als Brückentechnologie brauchen. Dieses Energiekonzept wird den
Weg weisen, wie lange wir moderne, effiziente Kohlekraftwerke in Deutschland brauchen. Dies wird uns dann
auch den Weg bei der Laufzeitverlängerung weisen. Die
Laufzeitverlängerung ist kein Wert an sich, sondern
muss in das energiepolitische Gesamtkonzept eingebettet sein. Wir werden dafür sorgen, dass die höchsten Sicherheitsstandards, die es in Deutschland und weltweit
gibt, zur Anwendung kommen. Anhand dieser Sicherheitsstandards werden die Laufzeiten der Anlagen dann
verlängert werden.
Wir werden dafür sorgen, dass der volkswirtschaftliche Nutzen, den diese Laufzeitverlängerung bringt, nicht
nur als ein betriebswirtschaftlicher Nutzen bei den vier
großen Energieunternehmen bleiben wird. Wir werden
die damit volkswirtschaftlich frei werdenden Mittel für
die Verbesserung der Energieeffizienz, für Forschung
und Entwicklung im Energiebereich, für die Speichertechnologie, für die Netzintegration und andere Dinge
einsetzen, wodurch wir die Dynamik des Energiemixes
stärker entfalten werden, als es heute möglich ist. So
wird ein Schuh daraus: Erneuerbare Energien und Kernenergie sind kein Widerspruch; sie sind zwei Seiten derselben Medaille.
({12})
Wir werden auch dafür sorgen, dass diese Laufzeitverlängerung oder die Rücknahme der willkürlich verkürzten Laufzeiten
({13})
die Wettbewerbsverhältnisse nicht weiter zementiert
oder gar den Wettbewerb weiter stört. Wir werden dafür
sorgen, dass dies mindestens wettbewerbsneutral stattfinden oder der Wettbewerb dadurch verstärkt werden
wird. Dafür gibt es Mittel und Instrumente.
({14})
Außerdem werden wir dafür sorgen, dass diese Laufzeitverlängerung dazu führt, dass der Verbraucher, der
Industriestandort Deutschland, die energieintensiven
Unternehmen und auch der Haushalt etwas davon haben.
Es geht also nicht nur um einen zukunftsfähigen Energiemix, sondern auch um Entlastung und Erleichterung,
wodurch Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen werden wird.
Wenn wir die Wachstumsbremsen in allen Bereichen lösen, dann wird ein Schuh daraus. Dann haben wir
die Möglichkeit, dass diese Maßnahmen wirken. Wir
lassen sie uns auch nicht zerreden. Wir werden hier an
einem Strang ziehen, und dann wird sich das Wachstum
in Deutschland
({15})
mit ordnungspolitisch klaren Linien beschleunigen. Wir
werden dann so gut unterwegs sein, dass wir die Chance
haben, nicht nur aus der Krise gestärkt hervorzugehen,
sondern in vier Jahren, am Ende dieser Wahlperiode,
auch wieder vor dieses Haus treten und sagen zu können,
dass unsere Maßnahmen gewirkt haben und dass es
Deutschland nach vier Jahren einer Koalition der Mitte
aus Union und FDP besser geht, als es 2009 der Fall war.
In diesem Sinne werden wir arbeiten, und dann werden
die Fakten für uns sprechen.
Vielen Dank.
({16})
Letzter Redner zu diesem Themenkomplex ist der
Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Als
letzter Redner in einer solchen Debatte hat man die Gelegenheit, ein Resümee zu ziehen. Ich finde es bemerkenswert, dass der einzige Redner der SPD alle Instrumente zur Krisenbewältigung für seine Partei reklamiert
und gesagt hat: Wir sind die Einzigen, die es können.
({0})
- Herr Heil, abgesehen davon, dass ich das für ausgesprochen gefährlich halte - ganz so lapidar ist diese
Krise und ihre Bewältigung nicht -: Die Wählerinnen
und Wähler haben das in einer klaren Mehrheit ganz anders gesehen und gesagt: Diejenigen, die uns aus dieser
Krise führen können, sitzen auf der rechten Seite des
Hauses. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({1})
Zu Ihrem Beitrag zu diesem Wahlergebnis wurde das
Notwendige vom Vorredner bereits gesagt.
Ich will nichts zu dem sagen, was uns hier von der
Linken wieder einmal präsentiert wurde. Ich glaube, das,
was wir im Wahlkampf gesehen haben, war selbstredend. Vorne am Baum hing ein Plakat mit der Aufschrift
„Reichtum für alle“, hinten am Baum ein Plakat mit der
Aufschrift „Reichtum besteuern“. Ja, was denn nun, wie
hätten Sie es denn gerne?
({2})
Ich glaube, dass ein Teil Deutschlands 40 Jahre Ihres
sogenannten Reichtums, nämlich den in der DDR, erlebt
hat und dass er jetzt genug davon hat.
Frau Andreae, die Grünen sprechen von Visionen. Ich
gebe Ihnen Recht: Visionen sind wichtig. Aber wenn
man nur Visionen hat, dann wird es grenzwertig.
({3})
Ich sage Ihnen auch: Sie sind in der Umsetzung unglaublich schwach. Ich werde diese Aussage gleich unterlegen. Sie hätten uns gerne erzählen können, wie es mit
den Mitteln für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm zu Ihrer Regierungszeit bestellt war, wie das
Marktanreizprogramm zu Ihrer Regierungszeit finanziell
ausgestattet war.
({4})
Wenn Sie das mit dem vergleichen, was wir in der letzten Legislaturperiode gemeinsam mit der SPD gemacht
haben und was wir in dieser Legislaturperiode im Hinblick auf die Finanzkrise in diesem Bereich tun werden,
dann werden Sie feststellen, dass Sie nur einen ganz
kleinen Beitrag geleistet haben.
({5})
Bei dem, was wir zum Thema Energiepolitik im Rahmen dieser Debatte gehört haben, fand ich eine Einlassung bemerkenswert, die zwar ehrlich, aber auch bedenklich ist. Vonseiten der Kernenergiegegner heißt es:
Wir müssen konventionelle Energieformen - sprich
Kohle und Kernenergie - verhindern, sie müssen weg,
damit Platz für die erneuerbaren Energien geschaffen
werden kann.
Wir sehen das anders. Wir haben sehr viel Vertrauen
in das, was sich im Bereich der erneuerbaren Energien
entwickelt.
({6})
Wir wissen, dass sie sich am Markt entwickeln können.
Wir sind - wie es der Kollege Pfeiffer vorhin formuliert
hat - aber überzeugt, dass Kernenergie und erneuerbare
Energie zwei Seiten einer Medaille sind.
({7})
Ich weiß, dass es Sie ärgert, dass es Ihnen nicht gelingen wird, uns in die Richtung der Kernenergielobby zu
drängen.
({8})
Sie tun so, als ob wir diejenigen wären, die glauben, allein mit Kernenergie könnte man das Energieproblem lösen.
({9})
Das wird Ihnen nicht gelingen, weil wir im Koalitionsvertrag klar definiert haben, dass wir einen dynamischen
Energiemix wollen,
({10})
bei dem die erneuerbaren Energien aufwachsen und die
konventionellen Energien auch im Hinblick auf das
Thema Klimaschutz sukzessive ersetzen.
({11})
Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich klar unterstreichen, weil hier fälschlicherweise behauptet wurde, wir
würden an der Förderung der erneuerbaren Energien
Gravierendes ändern: Wir stehen zum ErneuerbareEnergien-Gesetz, das übrigens nicht Rot-Grün erfunden
hat, sondern das auf dem Stromeinspeisegesetz von
Helmut Kohl basiert. Das muss man doch einmal deutlich sagen.
({12})
- Wir haben nicht dagegen gestimmt. Wir haben gegen
Ihre Ausgestaltungsmaßnahmen gestimmt, weil sie Unschärfen und Unklarheiten enthalten haben.
Wir stehen ganz klar dafür, die erneuerbaren Energien
auszubauen. Wir werden im Bereich der Energieforschung dafür sorgen, dass alternative Energien und in
diesem Zusammenhang auch die Speichermöglichkeiten
im Zentrum stehen. Wenn Sie sich den Entwurf des
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes angeschaut haben,
wissen Sie, dass die erneuerbaren Energien in diesem
ersten Gesetz der neuen Koalition eine Rolle spielen.
Wir werden uns damit beschäftigen, was man im Bereich der Kraftstoffe tun kann. Man muss sicher darüber
diskutieren, ob das, was wir uns in steuerlicher Hinsicht
vorstellen, letztendlich wirklich zum Ziel führt. Darüber
werden wir im Rahmen der Beratungen dieses Gesetzentwurfs sicher sprechen.
({13})
Außerdem beseitigen wir einen klaren Verstoß gegen
das Rückwirkungsverbot im Bereich modular aufgebauter Biogasanlagen. Warum tun wir das? Weil wir wissen, dass wir im Bereich der erneuerbaren Energien Investoren brauchen. Darum muss man seitens des Staates
Verlässlichkeit bieten. Das ist ganz entscheidend.
({14})
Wir werden das, was damals ein Herzensanliegen der
SPD war, beseitigen, damit deutlich wird: Wir, die neue
Koalition, stehen für Verlässlichkeit auch im Bereich der
Förderung erneuerbarer Energien.
({15})
Nun habe ich wieder die üblichen Ressentiments gegenüber der Kohle vernommen. Ich bin der Auffassung,
dass die Kohlevorkommen dieser Welt energetisch verwertet werden sollten. Die Frage wird sein, mit welcher
Technologie und in welchem Zeitraum. Entscheidend ist,
dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass dies mit hoher
Effizienz geschieht. Deshalb werden wir uns vorrangig
mit dem Thema CCS beschäftigen müssen, aber auch
mit der Frage, was im Bereich des internationalen Emissionshandels geschieht.
Herr Kollege Nüßlein, ich möchte Sie fragen, ob Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Kelber gestatten.
Gerne.
({0})
Das ist eine andere Debatte.
Vielen Dank für die Möglichkeit, Herr Kollege
Nüßlein. - Sie und der Kollege Pfeiffer haben gerade die
gleiche Behauptung aufgestellt. Dazu habe ich eine
Frage: Können Sie mir, dem Plenum und der Öffentlichkeit, natürlich in umgekehrter Reihenfolge, bestätigen,
dass das Thema Biogasanlagen, das Sie beide herausge146
stellt haben, auf einen Wunsch des Bundesrates zurückgeht - genauer gesagt: der CSU-geführten Landesregierung Bayern und der CDU-geführten Landesregierung
Baden-Württemberg - und mit den Stimmen von Herrn
Dr. Pfeiffer und Ihnen beschlossen wurde, dass Sie in
der Debatte über das Erneuerbare-Energien-Gesetz keinen Wunsch zur Änderung dieser Regelung formuliert
haben, dass es danach ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben hat, nach dem es keine rückwirkende
Änderung ist, und dass das, was Sie machen, kein Schutz
von Investoren ist, sondern der Schutz von zwei großen
Finanzfonds, an die Bürgerinnen und Bürger ansonsten
Rückforderungsansprüche stellen könnten?
({0})
Lieber Herr Kollege Kelber, ich weiß nicht, in welcher Reihenfolge ich Ihnen das nun bestätigen soll: erst
Ihnen und dann der Öffentlichkeit?
({0})
Wie auch immer, ich kann Ihnen an dieser Stelle eines
sagen: Sie wissen genau, wie die Verhandlungen damals
gelaufen sind, wo unsere Interessen beim Thema „Förderung der erneuerbaren Energien“ lagen und dass wir in
der Koalition letztendlich gesagt haben: Wir hätten es
gerne, dass das Thema Fotovoltaik mit etwas mehr Vorsicht und Marktbezug geregelt wird.
({1})
- Lassen Sie mich die Frage so beantworten, wie ich sie
beantworten möchte, Herr Trittin.
({2})
Dann wären wir im Bereich der Fotovoltaik jetzt nicht in
einer so schwierigen Situation, wie es im Moment der
Fall ist. Ich weiß, dass das an Dingen wie der Finanzkrise liegt, die man vielleicht nicht hat vorhersehen können. Jeder hat seine Anliegen in diese Diskussion eingebracht. Ich erinnere mich daran, dass die SPD ein
Interesse daran hatte, bezüglich Penkun so zu entscheiden.
Letztendlich kann man lange über die juristische
Frage, ob das eine echte oder unechte Rückwirkung ist,
diskutieren. Ich habe schon damals gesagt: Das, was wir
da gemacht haben, erscheint im Nachhinein ausgesprochen fragwürdig.
({3})
Ich gebe zu, dass wir das gemeinsam gemacht haben.
Sonst hätten Sie wieder gesagt, wir stimmten dem EEG,
das richtungsweisend sei, nicht zu. Ich habe nur einen
kleinen Teil herausgegriffen, um deutlich zu machen:
Wir stehen für Verlässlichkeit im Bereich der erneuerbaren Energien und auch für Investorenschutz.
({4})
Da ist eine, wenn auch kleine, Maßnahme; aber wir werden das entsprechend fortsetzen.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle unsere Position zum
Thema Kernenergie noch einmal ganz klar herausarbeiten.
({6})
- Ich bin kein Kernenergiefan, aber ich sage Ihnen deutlich: Wir brauchen die Kernenergie als Brücke in einen
Energiemix, den wir heute noch nicht kennen.
({7})
Den kennen auch Sie noch nicht. Wer weiß denn, ob das,
was wir uns im Bereich der alternativen Energien vorstellen, der Weisheit letzter Schluss ist? Frau Andreae
spricht von Visionen; aber offenkundig haben Sie dann
doch keine.
({8})
Das scheint doch so zu sein. Denn ich kann mir durchaus
vorstellen, dass wir irgendwann einmal ganz andere
Energiegewinnungsformen haben
({9})
und sagen: Damals hat man über Biomasse und Windkraft diskutiert, heute gibt es ganz andere Ansatzpunkte.
Lassen Sie uns in diesem Bereich doch zumindest forschen. Wir werden in Verhandlungen mit den Betreibern
von Kernkraftwerken dafür sorgen, dass insbesondere
der Vorteilsausgleich auch den erneuerbaren Energien
zugutekommt, sodass uns auch da niemand vorhalten
kann, das eine spiele man gegen das andere aus. Die Einzigen, die das tun, die das eine gegen das andere ausspielen, sind immer Sie.
({10})
Ich weiß, dass das der emotionalste Bereich der Energiepolitik ist. Wenn ich mir dann immer von Kolleginnen und Kollegen insbesondere von der grünen Seite anhören muss, wie unverantwortlich und nicht tragbar das
ist, dann muss ich Sie, Herr Trittin - Sie sitzen ganz
vorne -, fragen: Wie konnten Sie eine Laufzeitverlängerung von 20 Jahren einfach so hinnehmen? Denn die
Kernenergie war aus Ihrer Sicht auch schon vor 20 Jahren unverantwortlich und nicht tragbar, und angeblich
sind damals schon mehr Kinder an Krebs erkrankt etc.
Diese Frage sollte einmal jemand von Ihnen beantworten.
({11})
Das ist eine spannende energiepolitische Frage. Eine
Laufzeitverlängerung von 20 Jahren war unter Rot-Grün
machbar, und jetzt ist eine Laufzeitverlängerung untragbar und ein Unding. Das ist eine Doppelzüngigkeit, die
ich so nicht unterstützen kann.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Wir kommen nun zum Themenbereich Umwelt.
Ich erteile das Wort zunächst dem Bundesminister
Dr. Norbert Röttgen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Finanzmarktkrise war das Thema, das uns in diesem
Haus im vergangenen Jahr am meisten beschäftigt hat.
Der damalige Bundesfinanzminister hat in den ersten
Wochen davon gesprochen: „Wir haben in den Abgrund
geschaut.“ Wir haben hier im Haus innerhalb von einer
Woche ein Schutzpaket in Höhe von 500 Milliarden
Euro beraten und verabschiedet. Gestern in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin war der erste Punkt
die Notwendigkeit, konsequent, grundlegend und zügig
umzusteuern.
Ich betone diese Debatte und die Auseinandersetzung,
die wir geführt haben, weil ich glaube, dass die Erfahrung der Krise - es war ja nicht Theorie, sondern war
und ist Erfahrung - für die Einordnung, den Anspruch
und den Ernst der Umweltpolitik im Allgemeinen und
der Klimaschutzpolitik im Besonderen fruchtbar gemacht werden kann. Ich glaube, dass wir beide Krisen
miteinander vergleichen können und sollten: die Finanzmarktkrise und die Ökokrise, die kommt, wenn wir auf
diesem Gebiet nicht ebenso grundlegend, zügig, systematisch und entschlossen umsteuern.
({0})
Was sind die Vergleiche, was sind die Bezüge? Ich
will vier herstellen.
Erstens. Die Finanzmarktkrise war und ist mehr als
eine Bankenkrise. Sie hat sich zur Wirtschaftskrise
weitergefressen und barg und birgt weiterhin die Gefahr,
zum gesellschaftlichen Kollaps zu führen. Die Klimakrise, die Ökokrise, die kommt, wenn wir uns nicht ändern,
({1})
hat existenzielle Dimension. Ein Gesellschaftskollaps
wäre schon fundamental. Die Ökokrise aber ist eine
Überlebensfrage für Hunderte von Millionen Menschen.
({2})
Zweitens. Bei der Finanzmarktkrise konnten die Retter noch sagen: Wir haben in den Abgrund geschaut, sind
einen Schritt zurückgegangen und konnten uns retten. Wenn wir es bei der Klimakrise, bei der Ökokrise so
weit kommen lassen, dann können wir nicht mehr einen
Schritt zurückgehen; denn die Ökosysteme sind zu träge,
als dass man sie per Kommando stoppen könnte. Dann
sind wir verloren. Wir müssen vorher umschalten und
umsteuern.
({3})
Drittens. Ich habe an dieser Stelle in Anlehnung an
den Jesuitenpater Professor Friedhelm Hengsbach vor
ungefähr einem Jahr davon gesprochen, dass die Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte ein öffentliches Gut darstellt. Die Bundeskanzlerin hat gestern völlig zu Recht
gesagt: Das öffentliche Gut liegt in dem dienenden Charakter der Finanzmärkte für Wirtschaft und Gesellschaft. Ich stehe dazu und halte das nach wie vor für richtig.
Das war die Legitimation dafür, dass wir sozusagen in
einem Akt kollektiver Selbstverteidigung zu diesen
Maßnahmen gegriffen haben.
Das Gut, das wir mit Klimapolitik, mit Umweltpolitik
verteidigen, unsere natürlichen Lebensgrundlagen, ist
ein Menschheitsgut. Es hat für die Menschen nicht nur
dienenden Charakter, sondern es ist Selbstwert. Für
Christen ist es Schöpfung, und der Schöpfungscharakter
ist in unsere Traditionen und unsere Kultur eingegangen.
Wir verteidigen den Eigenwert, den Selbstwert, das
Menschheitsgut Schöpfung, wenn wir Klimapolitik machen. Das geht über das, was wir in der Finanzmarktkrise verteidigt haben und verteidigen, noch weit hinaus.
({4})
Viertens. Die Finanzmarktkrise ist nicht - das hat
Hans-Peter Friedrich gestern richtig ausgeführt - durch
die Marktwirtschaft entstanden, sondern wir haben uns
diese Krise durch die Verletzung marktwirtschaftlicher
Prinzipien eingehandelt. Diese Krise ist geradezu marktwirtschaftswidrig entstanden,
({5})
durch Verletzung der Grundsätze marktwirtschaftlichen
Ordnungsdenkens.
Unsere Auffassung ist, dass wir Klimaschutz und
Umweltschutz nicht gegen die Marktwirtschaft betreiben
dürfen, sondern dass wir dies innerhalb des marktwirtschaftlichen Ordnungsrahmens versuchen müssen. In
der Vergangenheit hat sich jede Planwirtschaft wie keine
andere Ordnung an der Umwelt versündigt, an den
Menschen, aber auch an der Umwelt. Wir halten das
marktwirtschaftliche System für überlegen.
Daraus ziehen wir allerdings die Lehre: Markt
braucht Ordnung. Auch der Markt, der Umweltziele erreichen will, braucht Ordnung. Es gibt ein überragendes,
übergreifendes Ordnungsprinzip des Marktes, und das
heißt Nachhaltigkeit. Wir brauchen eine nachhaltige
Wirtschaftsordnung. Die Schäden von Kurzfristigkeit
konnten wir auf den Finanzmärkten beobachten. Wir
werden sie auch in der Umwelt sehen, wenn wir kurzfristig denken. Darum müssen wir das Leitprinzip der
Nachhaltigkeit durchsetzen.
({6})
Es gehört zur inneren Logik marktwirtschaftlichen
Denkens, dass wir die Grundlagen unserer wirtschaftlichen Tätigkeit, dass wir die Grundlagen unseres Lebens
erhalten und nicht an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.
Wir machen ökologische Politik, weil sie die Grundlage
unseres Lebens und auch unseres Wirtschaftens ist. Wir
wollen dabei marktwirtschaftliche Instrumente anwenden, weil wir die Effizienz, die Überlegenheit, das Entdeckungsverfahren, die wettbewerblichen Potenziale
nutzen wollen, um ökologische Ziele zu erreichen. Genauso richtig ist aber auch, dass die ökologische Zielsetzung Klimaschutz nicht nur instrumentellen Charakter
haben darf, sondern dass Ökologie und Umweltschutz
Märkte produzieren. Umweltschutzpolitik zu machen, ist
auch eine Innovations- und Wirtschaftsstrategie.
({7})
Heute ist in der FAZ unter der Schlagzeile „Ökogeschäft stabilisiert Siemens“ zu lesen:
Der Siemens-Konzern hat im Geschäftsjahr 2009
schon 23 Milliarden Euro Umsatz mit Umweltprodukten generiert. Das ist gegenüber dem … Vorjahreswert … ein Plus von 11 Prozent. Dadurch wurden die Einbußen im übrigen Geschäft als Folge der
Wirtschaftskrise von rund 4 Prozent aufgefangen.
Wir hatten einmal eine Phase, in der galt: Ökonomie
und Ökologie sind Gegner. Dann kam eine Phase, in der
es hieß: Wir müssen beides miteinander versöhnen. Ich
glaube, inzwischen haben wir die Phase erreicht, dass
wir erkennen: Das eine ist ohne das andere nicht machbar und nicht denkbar. Ökonomie und Ökologie sind
zwei Seiten einer Medaille.
({8})
Die Aufgabe ist, aus dieser grundlegenden ethischen
und ordnungspolitischen Einschätzung von Umwelt- und
Klimaschutz eine politische Strategie und konkrete Politik abzuleiten. Das muss die Konsequenz aus dieser Einordnung sein. Das ist nicht Lyrik, sondern das sind die
Fundamente, auf denen wir Politik machen.
({9})
Ich glaube, die drei wichtigsten Felder der Umweltpolitik sind erstens der Klimaschutz - ich denke auch an
Kopenhagen -, zweitens die Energiepolitik und drittens
der Schutz der biologischen Vielfalt. Ich will zu diesen
drei Feldern jeweils einige Anmerkungen machen.
Zum ersten Punkt - Klimaschutz - will ich ganz
knapp sagen: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es zu
einem Erfolg der Klimakonferenz von Kopenhagen
keine Alternative gibt. Es gibt keine zweite Option, es
gibt keinen Plan B. Bei der Rettung, bei der Verteidigung des Menschheitsgutes natürliche Lebensgrundlagen haben wir keine Wahl. Aus der Sache heraus ist klar:
Die Konferenz von Kopenhagen muss ein Erfolg werden.
({10})
Wir haben in diesem Prozess eine Vorreiterrolle. Die
Stimme unseres Landes - das zählt zu den Erfahrungen,
die man innerhalb von Tagen machen kann - hat Gewicht. Dass wir diese Vorreiterrolle haben, dass die
Stimme unseres Landes mehr Gewicht hat, als es sozusagen proportional wäre, ist nicht die Leistung dieser Regierung, es ist die Leistung der Vorgängerregierungen:
meines Amtsvorgängers, seines Amtsvorgängers, dessen
Amtsvorgängerin. Dank des Beitrages von vielen in diesem Parlament, in dieser Gesellschaft ist der Klimaschutz vom Rand ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, ist Klimaschutz kein Nebenthema mehr. Unser
Land ist international glaubwürdig, weil wir national gehandelt haben und nicht nur anderen Vorschläge gemacht haben. Ich möchte meine erste Rede als Bundesumweltminister nutzen, die Leistungen der früheren
Regierungen, der Minister anderer Fraktionen und Parteien ausdrücklich anzuerkennen.
({11})
Ich will definieren, was Erfolg bedeutet. Ein taktischer Ratschlag könnte sein: Definier das nicht zu konkret, sonst wird die Opposition dir deine Definition vorhalten, wenn es nicht so herauskommt! - Ich bekenne
mich zur Notwendigkeit des Erfolges. Darum will ich
definieren, was Erfolg heißt: Erfolg heißt erstens klare
Ziele zur Reduzierung der CO2-Emissionen, Ziele, die
sich ableiten aus der Erkenntnis, dass die globale Erwärmung auf höchstens 2 Grad Celsius zu begrenzen ist.
2 Grad Celsius sind das Äußerste, was tolerierbar ist.
Wenn wir dieses Ziel erreichen, dann können wir einigermaßen sicher sein, dass für über 1 Milliarde Menschen in Asien die Wasserversorgung nicht gefährdet ist;
dann können wir einigermaßen sicher sein, dass nicht
weitere zig Millionen Menschen in Afrika auf der Suche
nach Wasser und Weideland vertrocknen, verdursten,
sterben. Diese existenzielle Dimension - die Gesichter
von Menschen, die kein Wasser mehr finden und sterben müssen wir uns vor Augen halten. Darum brauchen wir
den Erfolg.
Wir müssen das Ziel erreichen, die Emissionen bis
2050 weltweit um 50 Prozent zu reduzieren. Die Industrieländer haben hierbei eine Vorreiterrolle: historisch
begründet, wegen ihres Anteils an den Emissionen, aber
auch aufgrund ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit.
Darum war es ein Erfolg, dass sich die Staats- und Regierungschefs beim letzten Europäischen Rat dafür ausgesprochen haben, dass die Industrieländer ihre Emissionen um 80 bis 95 Prozent reduzieren, und sich dem Ziel
verpflichtet haben, den Beitrag zu leisten, der nötig ist,
um weitgehend treibhausgasneutrale Gesellschaften zu
werden.
Bis 2020 gilt es, die Emissionen in der Größenordnung von 30 Prozent zu reduzieren. Wir brauchen diesen
schrittweisen Prozess. Wir können nicht 30 Jahre weitermachen wie bisher und darauf verweisen, wir müssten
das Reduzierungsziel ja erst 2050 erreichen. Wir müssen
jetzt anfangen; sonst haben wir keine Chance, das Ziel
bis 2050 zu erreichen. Diese Koalition hat sich vorgenommen und im Koalitionsvertrag begründet, dass
Deutschland die CO2-Emissionen bis 2020 sogar um
40 Prozent reduziert. Viele andere Industrieländer sagen
- ein bisschen konditioniert - 30 Prozent. Wir sagen:
Unter dieser Regierung wird Deutschland seine Emissionen unkonditioniert um 40 Prozent reduzieren. Wir sind
auf diesem Gebiet ambitionierter als die Vorgängerregierung.
({12})
Sie sollten uns auf dem guten Weg folgen.
Ich bin noch bei der Zieldefinition. Kennzeichen dieser Ziele ist, dass wir sie im Rahmen eines verbindlichen
rechtlichen Abkommens, das alle umfasst - „alle“ heißt:
China, USA, Europa, Schwellenländer und Entwicklungsländer -, festlegen wollen.
Zweites Ziel: Wir brauchen rechtlich und finanziell
wirkungsvolle Instrumente. Das Instrument internationale Überprüfung und auch die finanziellen Beiträge liegen vor. In Entwicklungsländern wird es - bei bis 2020
wachsenden Finanzierungsbedarfen und aufbauend auf
einen Schnelleinstieg - ab 2020 100 Milliarden Euro pro
Jahr bedürfen, die aus unterschiedlichen Strängen finanziert werden. Manche sagen jetzt: Klimaschutz ist teuer. Klimaschutz ist teuer, Handeln ist teuer. Nichthandeln
wäre sehr viel teurer.
({13})
Darum brauchen wir auch die Innovationen und die Modernisierung der Wirtschaft, die damit anstehen.
Es ist ein Prozess der ökologischen Veränderung, der
Veränderung der Lebensweise und der Art, zu wirtschaften. Am allermeisten ist es aber auch ein Prozess der
wirtschaftlichen Modernisierung unseres Landes. Das
muss uns klar sein. Wenn man es wirtschaftlich betrachtet, dann wird klar, dass es um die Alternative geht, ob
wir Rückständigkeit verteidigen und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit subventionieren oder ob wir die Ambition, die Entschlossenheit haben, auch hier wieder eine
weltweite wirtschaftliche, innovative Führerschaft zu erringen. Wir wollen das. Gerade durch ökologische Modernisierung wollen wir die modernste Volkswirtschaft
werden. Damit werden wir führend sein, damit sichern
wir Arbeitsplätze, damit generieren wir Innovationen.
({14})
Zweiter Punkt. Die Energiepolitik. Nirgendwo ist es
so deutlich wie hier, dass wir die Energiepolitik grundlegend neu denken und gestalten müssen. Wir werden ein
in sich schlüssiges energiepolitisches Konzept vorlegen
- es fehlt seit knapp 20 Jahren -, mit dem wir Antworten
darauf geben, wie Energiepolitik grundlegend neu gemacht wird. Wir werden die Angebotsseite betrachten
- Klimaverträglichkeit, Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit für Verbraucher und Industrie -, und wir
werden die Nachfrageseite betrachten. In der Diskussion
fehlen bislang eigentlich die Nachfrageorientierung, die
Verbraucherorientierung und die Intelligenz und Bereitschaft - gerade auch aus Sicht der industriellen Nachfrager -, sich auf eine neue Energiepolitik um- und einzustellen. Die Energieeffizienz beinhaltet das größte
Kosteneinsparpotenzial, das wir anbieten können. Ich
weiß nicht, ob eine Unternehmensteuerreform eine so
große Kostenentlastung bringt wie die Nutzung von
Energieeffizienzpotenzialen in unserem Land.
({15})
Ich komme zum Schluss und will noch einen dritten
Punkt ansprechen. Neben dem Klimawandel ist das
Stoppen des Verlustes der biologischen Vielfalt die
zweite globale Herausforderung. Es geht darum, zu erkennen, dass die Ökosysteme die Grundlage allen Lebens und die Leistungen der Ökosysteme für die Menschen unverzichtbar sind. Saubere Luft, Ernährung,
sauberes Wasser, gesunde Böden: Das ist unsere Lebensgrundlage. Darum ist der Schutz der Ökosysteme eine
Aufgabe, um die Schöpfung in unserer Zeit zu bewahren.
Wir wollen das nicht mit einem Verkündungston machen, sondern Naturschutz kann man nur mit den Menschen und für die Menschen in Kooperation machen.
Wir werden ein Bundesprogramm zur Umsetzung der
Strategie zur biologischen Vielfalt auflegen, und wir
werden unsere internationale Führungsrolle auch hier
aufrechterhalten. Alle Zusagen - auch finanzielle Zusagen -, insbesondere im Bereich des internationalen
Waldschutzes, werden wir einhalten und weiter ausbauen.
Eine allerletzte Bemerkung. Ich bin - heute ist Mittwoch - seit zwei Wochen Bundesumweltminister und
seit 15 Jahren Parlamentarier.
({16})
Darum möchte ich Ihnen ausdrücklich sagen, dass es
meinem Verständnis als Parlamentarier, der ich ja immer
noch bin, entspricht, dass wir gut zusammenarbeiten,
dass es eine vertrauensvolle Kooperation gibt und dass
wir dort, wo wir wirklich einen Konsens haben - es ist
eine unserer gesellschaftspolitischen Leistungen, auch
einen Konsens erarbeitet zu haben -, an einem Strang
ziehen. Im Übrigen freue ich mich auf eine sachorientierte, kontroverse Auseinandersetzung, über gelegentliche Unterstützung natürlich auch, vor allem aber auf
eine erfolgreiche Zeit in der Umweltpolitik in den nächsten vier Jahren.
Besten Dank.
({17})
Bevor ich dem Kollegen Kelber das Wort erteile, erlaube ich mir eine knappe Bemerkung. Es ist im wörtlichen wie im übertragenen Sinne gut, zu sehen, und vielleicht auch ein internationales Signal, dass es wenige
Wochen vor der Konferenz in Kopenhagen mit Blick auf
die Erwartungen und Zielsetzungen im Deutschen Bundestag ganz offenkundig eine große fraktionsübergreifende Mehrheit gibt. Das sollte vielleicht in dieser Debatte mit Blick auf die internationalen Implikationen der
Vorbereitungen dieser Konferenz noch einmal deutlich
werden.
({0})
Herr Kollege Kelber, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Röttgen! Lieber Wahlkreisnachbar! Erst einmal auch vonseiten der SPD alles
Gute für Ihr neues Amt! Ich habe mit Freude gelesen, dass
es Ihr Wunschressort war, man Sie also nicht gezwungen
hat. Die strategischen Aspekte waren bei diesem Wunsch
sicherlich nicht zu unterschätzen. Aus allen Vorgängern
ist etwas geworden: Ministerpräsident, UN-Beauftragter,
Bundeskanzlerin, Fraktionsvorsitzender und, wie ich
hoffe, ab diesem Wochenende auch Parteivorsitzender.
Ich hoffe natürlich auch, dass das inhaltliche Engagement
hinzukommt und dann das, was heute relativ abstrakt war
und wahrscheinlich sein musste, noch mit Inhalt gefüllt
wird.
In der Tat ist dies keine Nebendebatte. Gut gemachte
Umweltpolitik schützt die Lebensgrundlagen, sichert
Lebensqualität und schafft Jobs mit Zukunftsgarantie.
Diesem Anspruch wird zumindest der schwarz-schwarzgelbe Koalitionsvertrag nicht gerecht. Wir warten natürlich in den vier Jahren auf die konkrete Politik. Ich
nenne dafür ein paar Beispiele.
Das erste Beispiel ist: Bei aller Übereinstimmung in
Sachen Klimaschutz als Ziel gibt es eine gewisse Zurückhaltung gegenüber einigen Instrumenten. Der Wahrheit zuliebe: Dass wir jetzt ohne Vorbehalt eine Senkung
der CO2-Emissionen um 40 Prozent zwischen 1990 und
2020 zugesagt haben, freut uns. Diesen Vorschlag hatte
die SPD in der Großen Koalition mehrfach gemacht. Auf
Arbeitsebene waren wir uns einig. Leider hat dieser Vorschlag den Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder nie
erreicht, weil er vom Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion zurückgehalten
wurde. Dieser hieß in der letzten Legislaturperiode nicht
Altmaier, sondern Norbert Röttgen. An dieser Stelle
danke ich Ihnen, dass Sie Ihren eigenen Widerstand jetzt
gebrochen haben, Herr Röttgen. Das war wahrscheinlich
ein hartes inneres Ringen.
({0})
Im Koalitionsvertrag steht auch, dass Sie einen Ablasshandel einführen wollen, um unser Land weiter zu versiegeln. Sie wollen den Schutz vor Umweltbelastungen auf
die Geschwindigkeit des langsamsten europäischen Landes reduzieren. Nichts anderes heißt die sogenannte Einszu-eins-Umsetzung von europäischen Kompromissen.
Sie gefährden die Jobs und die Technologieführerschaft
Deutschlands durch Ihren geschraubten Rückwärtssalto
in der Energiepolitik.
Noch etwas fällt auf: Neben jeden Absatz in der schwarzschwarz-gelben Koalitionsvereinbarung kann man den Namen des Unternehmens oder des Verbandes schreiben,
das oder der mit diesem Absatz bedient werden soll. So etwas habe ich in Deutschland noch nicht erlebt. Vor allem
habe ich noch nicht erlebt, dass sogar noch das Produkt eines Unternehmens in einem Koalitionsvertrag genannt
wird. Dort steht, dass der Anbau der Amflora-Kartoffel in
Deutschland unterstützt werden soll, obwohl es für diese
Gentechnikkartoffel von BASF noch nicht einmal in Europa eine Zulassung gibt. Auch das hat es in einem Koalitionsvertrag in Deutschland noch nicht gegeben.
({1})
Besonders gefährlich ist diese Bedienung in der
Energiepolitik. Wenn Sie schon nicht auf die Opposition hören wollen, dann hören Sie doch auf Ihren eigenen neuen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium,
Herrn Heitzer, der zuvor Präsident des Bundeskartellamts war. Er hat noch vor wenigen Wochen gesagt: Wer
die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert, verlängert vor allem das Monopol auf den Energiemärkten, mit
dem den Menschen und auch den Firmen in Deutschland
seit Jahren Milliarden Euro unnütz aus den Taschen gezogen werden. Hören Sie auf Ihre eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Sie in führenden Positionen installieren!
Die vier Energiekonzerne, die Atomkraftwerke betreiben, sollen zu diesen Milliardengewinnen von Ihnen
jetzt weitere Milliarden geschenkt bekommen, und das,
obwohl RWE und Eon im ersten Halbjahr 2009 mehr
Gewinn gemacht haben als alle anderen börsennotierten
Unternehmen Deutschlands zusammen. Diese Unternehmen wollen Sie weiter entlasten.
Es ist ein Fehler, zu sagen, das sei dieselbe Seite einer
Medaille; die längere Laufzeit betreffe eine Brückentechnologie. In technischer Hinsicht kann man schnell
erkennen: Das Gegenteil ist der Fall. Die Atomkraftwerke verstopfen die Energienetze. Immer häufiger müssen erneuerbare Energieträger abgeschaltet werden, weil
die Atomkraftwerke zu Zeiten geringen StromverUlrich Kelber
brauchs bereits das gesamte Netz auslasten. Wir werden
Ihnen die Zahlen liefern, Herr Kauch. Sie kennen sie
selbstverständlich, die anderen vielleicht nicht.
Damit gefährden Sie die 280 000 Jobs, die schon jetzt
im Bereich der erneuerbaren Energien entstanden
sind, und Sie setzen die deutsche Technologieführerschaft aufs Spiel. Andere Länder - die USA und China,
aber auch andere europäische Länder - investieren zusätzlich, schaffen mehr Anreize für erneuerbare Energien und bauen rechtliche Blockaden ab. In Deutschland
dagegen gibt es die Ankündigung, sie im Zusammenspiel der Energiearten schlechter zu stellen. Sie gefährden damit den Vorsprung, den wir auch gemeinsam als
Parlament in den letzten Jahren erarbeitet haben.
Diese Liebedienerei an einer Lobby wird schon durch
ihre Ankündigung Deutschland schaden. Wir haben bereits jetzt durch die Ankündigung, 2012 die Bedingungen völlig neu zu formulieren, eine Zurückhaltung in
den Investitionen in erneuerbare Energien zu verzeichnen. Diejenigen, die die Monopole ins Wackeln gebracht
haben - die Stadtwerke und die Erneuerbaren -, müssen
bei ihren Investitionen neu rechnen, weil ihre Konkurrenten Milliarden geschenkt bekommen sollen. Sprechen
Sie doch mit den Aufsichtsräten der neuen Wettbewerber
und der Stadtwerke! Jede Investition muss jetzt mit
schlechteren Renditen neu gerechnet werden, weil der
große Konkurrent bessere Bedingungen bekommt.
Diese Steuereinnahmen und diese Jobs fehlen schon
jetzt, unmittelbar nach Ihrer Koalitionsvereinbarung.
Das ist klar: Noch nie hat ein Koalitionsvertrag so ungehemmt und schamlos Klientelinteressen bedient.
({2})
Noch nie wurde eine Technologieführerschaft so leichtfertig aufgegeben. Noch nie hat sich ein wohlhabendes
Land beim Schutz seiner Menschen und seiner Umwelt
mit der Geschwindigkeit des ärmsten Landes zufriedengegeben. Diese Politik werden wir bekämpfen. Wir stehen für die Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien, in Lebensqualität und internationale
Verantwortung im Klimaschutz. Das ist ein klares Kontrastprogramm zu dem, was Schwarz-Schwarz-Gelb abgeliefert hat.
Vielen Dank.
({3})
Nun erteile ich Kollegen Michael Kauch für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich glaube, Herr Kelber
hat gezeigt, wie ratlos die Opposition angesichts dieses
Koalitionsvertrages ist.
({0})
Denn wenn Sie diesen Vertrag lesen und dem deutschen
Volk nicht irgendwelchen Unsinn erzählen würden,
würde Ihnen nicht mehr viel dazu einfallen, warum beispielsweise weiter die These vertreten wird, die Atomkraftwerke würden die erneuerbaren Energien in ihrer
Entwicklung hemmen. Wir haben das Gegenteil in den
Koalitionsvertrag hineingeschrieben.
({1})
Es ist eine bewusste Entscheidung dieser Koalition gewesen, dass der Einspeisevorrang für erneuerbare
Energien unbegrenzt und ungedeckelt fortgeführt wird.
Mit dem Einspeisevorrang für erneuerbare Energien
kann jeder Anbieter erneuerbarer Energien auch künftig
seinen Angebotsmöglichkeiten entsprechend den Strom
ins Netz einspeisen. Dann konkurrieren die Erneuerbaren eben nicht mit den Kernkraftwerken, sondern die
Kernkraftwerke konkurrieren mit den Kohle- und Gaskraftwerken. Das kann man ja möglicherweise ökologisch richtig finden, Herr Kelber.
({2})
Diese Koalition hat sich dazu bekannt, dass wir das
Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen wollen.
Das bedeutet auf lange Sicht eine 100-prozentige Versorgung mit erneuerbaren Energien. Das ist eine Innovationsstrategie für dieses Land, die ein Wettbewerbsmotor für unsere Wirtschaft sein wird.
({3})
Wir wissen aber auch, dass das nicht von heute auf
morgen geht; denn wir müssen auch die Realitäten anerkennen. Energie aus Wind und Sonne ist heute noch
nicht so in das Netz integriert und speicherbar, wie wir
uns das wünschen. Es geht nicht nur um die Strommengen, sondern auch um die Stetigkeit der Einspeisung.
Deshalb brauchen wir Brückentechnologien. Wir sind
der Auffassung, dass wir auf der einen Seite die erneuerbaren Energien ausbauen und auf der anderen Seite die
Laufzeiten der Kernkraftwerke verlängern müssen,
damit es grundlastfähigen, die Versorgung sichernden
Strom gibt. Das liegt im Interesse unserer Industrie;
denn bei einem Aluminiumwerk beispielsweise kann,
wenn einmal der Wind nicht weht, der Strom nicht eine
Stunde abgeschaltet werden. Dann wäre das Werk kaputt.
({4})
Deshalb brauchen wir günstigen, aber auch sicheren und
klimafreundlichen Strom.
({5})
Diese Koalition hat im Übrigen auch klargemacht,
dass die Laufzeitverlängerung nicht pauschal für alle
Anlagen gilt. Das sage ich auch mit Blick auf die EVUs.
Sie werfen uns vor, wir bedienten deren Interessen. Das
tun wir hier ganz klar nicht. Im Koalitionsvertrag steht:
Wir sind zu einer Laufzeitverlängerung bereit, garantieren aber keine Laufzeitverlängerung. Dazu müssen nämlich bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Wir
werden also keine pauschale Laufzeitverlängerung für
alle Kraftwerke vornehmen. Es war gerade die FDP, die
dafür gesorgt hat, dass im Koalitionsvertrag steht, dass
die Laufzeiten deutscher Kraftwerke, aber nicht aller
deutschen Kraftwerke verlängert werden.
({6})
Diese Koalition nimmt ihre Verantwortung gegenüber
kommenden Generationen wahr, auch beim Endlager.
Sie, Herr Trittin, und Ihr Nachfolger haben zehn Jahre
lang die Hände in den Schoß gelegt. Es wurde verboten,
ein Endlager zu erkunden. Sie haben sich an den Interessen kommender Generationen versündigt.
({7})
Diese Koalition wird dagegen die bestehenden Probleme
angehen. Wir alle haben gemeinsam 50 Jahre lang
Atommüll produziert.
({8})
Unabhängig von einer Laufzeitverlängerung sind wir
alle gefordert, die Probleme zu lösen, die mit diesem
Müll verbunden sind.
({9})
Wir werden eine Lösung finden. Die Kollegin Brunkhorst
wird für unsere Fraktion diese Politik auf den Weg bringen.
Beim Erneuerbare-Energien-Gesetz wollen wir Investitionssicherheit für die Anlagenbetreiber. Herr Kelber,
es war unredlich, als Sie vorhin zu den Biogasanlagen gesagt haben, hier gehe es nur um zwei Finanzfonds. Ihre
Änderungen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, mit denen Sie rückwirkend in die Investitionsbedingungen eingegriffen haben, haben die Glaubwürdigkeit des EEG beschädigt. Jeder, der in erneuerbare Energien investiert,
erlebt heutzutage, dass manche Banken nicht mehr glauben, dass das EEG in seiner jetzigen Form bestehen
bleibt. Diese Ihre Änderungen nehmen wir zurück. Wir
schaffen Investionssicherheit für erneuerbare Energien.
({10})
Wir werden darüber hinaus beim Erneuerbare-Energien-Gesetz die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher, die schließlich alles bezahlen, berücksichtigen. Deshalb haben wir durchgesetzt, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz regelmäßig, nämlich alle drei
Jahre, auf Überförderung überprüft wird. Das ist ein fairer Schritt. Wir werden das auch im Bereich der Fotovoltaik im Dialog mit der Solarbranche und den Verbraucherorganisationen machen. Wir werden nicht mit der
Axt kommen, sondern darauf achten, dass die Interessen
der Branche und die Interessen der Verbraucher unter einen Hut gebracht werden.
Zum Schluss möchte ich die biologische Vielfalt ansprechen. Dieses Thema wird immer gerne in Sonntagsreden angesprochen. Wir müssen aber konstatieren: Das
Ergebnis der letzten Jahrzehnte in diesem Bereich ist
trotz Bemühungen aller Regierungen nicht überzeugend.
Wir haben es nicht geschafft, die Zielsetzung zu erreichen und den Verlust an Artenvielfalt zu stoppen. Wir
setzen aber im Koalitionsvertrag beispielsweise ein wesentliches Zeichen zugunsten der tropischen Regenwälder. Wir haben verabredet, dass nicht nur für die Kraftstoff- oder die Stromproduktion die Nachhaltigkeit von
Palmöl nachgewiesen werden muss, sondern für alle
Agrarrohstoffe. Das ist ein Meilenstein, den wir hier erreicht haben, damit nicht das gute Palmöl in den Tank
kommt und das schlechte in die Margarine. Nein, wir
wollen, dass die Regenwälder nirgendwo und für nichts
abgeholzt werden, auch nicht für Palmöl, und dieser Koalitionsvertrag macht den ersten Schritt.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Minister! Herr Parlamentspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kioto-Protokoll läuft 2012
aus. In vier Wochen sollte die UN-Klimakonferenz in
Kopenhagen eigentlich das Nachfolgeabkommen beschließen. Vor kurzem hat eine Gruppe von Nobelpreisträgern diesen Gipfel als wichtigste Konferenz der
Menschheit bezeichnet, und ich sage: Die Männer und
Frauen haben recht. Wir haben Angst, dass dieser Gipfel
scheitert, und nicht nur wir, sondern viele Menschen auf
dieser Welt; denn auch die letzte UN-Vorbereitungskonferenz letzte Woche in Barcelona ging aus wie das Hornberger Schießen. Weder zu Minderungszielen wurden
Einigungen erzielt noch zur Frage der Finanzierung von
Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im globalen
Süden. Dem Chef des UN-Klimasekretariats, Yvo de
Boer, wird die Aussage zugeschrieben, er wundere sich
bei solchen Ergebnissen, dass die Zivilgesellschaft nicht
die Scheiben des Verhandlungsortes einwirft. Ich denke,
das spricht Bände bei diesem Herrn.
({0})
In Kopenhagen wird nun ein Verhandlungstext auf
den Tisch gelegt, der mit seinen vielen Klammern und
Optionen so gut wie nicht verhandlungsfähig ist, und
das, obwohl uns allen die Zeit davonläuft. Das wissen
wir. Schließlich ist der weltweite Ausstoß von Klimakillern trotz des Kioto-Abkommens seit der Jahrtausendwende dreimal so schnell angestiegen wie in den 90erJahren.
Frau Merkel hat sich hier gestern einmal mehr als
Vorkämpferin für den Klimaschutz präsentiert. Das ist
irgendwie merkwürdig; denn schließlich war sie hauptverantwortlich dafür, dass beim Europäischen Rat
vorvorletzte Woche keine Beschlüsse zu konkreten Klimaschutzfinanzhilfen für die Entwicklungsländer gefasst wurden.
({1})
Damit hat die Bundeskanzlerin die Blockade verfestigt,
die ohnehin zwischen den Industriestaaten auf der einen
Seite und den Schwellen- und Entwicklungsländern auf
der anderen Seite besteht.
({2})
Frau Merkel hat sich also in Brüssel an die Spitze derjenigen in der EU gesetzt, die meinen, mit den Entwicklungs- und Schwellenländern pokern zu können.
({3})
So sollen die Preise gedrückt werden, die der Norden an
den globalen Süden, den großen Verlierer des Klimawandels, für Technologietransfer und Anpassungsmaßnahmen zu zahlen hat. Diese arrogante Haltung droht
nun den Kopenhagen-Prozess zum Scheitern zu bringen.
Ich meine, die Bundeskanzlerin wird dies wesentlich
mitzuverantworten haben.
({4})
Aber auch zu Hause in Deutschland liegt einiges im
Argen. Ich behaupte, mit den längeren Laufzeiten für
Atomkraftwerke wird der Ausbau der erneuerbaren
Energien blockiert und nicht die Verstromung von klimaschädlicher Kohle. Atomkraft und Kohle eint nämlich, dass sie einen steigenden Anteil erneuerbarer Energien im Netz überhaupt nicht gebrauchen können. Dazu
gibt es Aussagen, auch wenn Sie immer wieder Nein
dazu sagen. Bei Atomkraftwerken ist es sicherheitstechnisch kaum möglich - das wissen Sie -, die Anlagen
bei schwankenden Windkrafteinspeisungen herauf- und
herunterzuregeln. Das ist einfach so. Kohlekraftwerke
rechnen sich eben nicht, wenn sie nicht permanent in der
Nähe der Volllast gefahren werden. Dies ist der Grund
dafür, warum weder Kohle noch Atomkraft Brückentechnologien ins solare Zeitalter sind. Im Gegenteil: Ihr
Schutz ist ein Schritt ins Gestern.
({5})
Wissen Sie eigentlich, dass die CO2-Emissionen in der
Energiewirtschaft von 1990 bis 2007 nur um lächerliche
7 Prozent zurückgegangen sind? Und diese 7 Prozent hat
uns auch noch größtenteils der Osten geschenkt. Wir haben zwar mittlerweile 14 Prozent erneuerbare Energien
im Netz, dafür wurde aber offensichtlich Kohlestrom exportiert. Ich frage Sie: Ist das nun Klimaschutz?
Laut Koalitionsvertrag möchte Schwarz-Gelb für
RWE und Co die Hintertüren im Klimaschutz noch weiter öffnen, beispielsweise indem die Anrechnung von
vermeintlichen Klimaschutzinvestitionen im Ausland,
Stichwort CDM, ausgeweitet werden soll, obwohl wir
heute schon wissen, dass hier in großem Maßstab betrogen wird, um an preiswerte Zertifikate zu kommen.
Was den Emissionshandel betrifft, haben Sie bereits
in der Vergangenheit in Brüssel ganze Arbeit geleistet:
Nicht nur, dass wir bis 2012 damit leben müssen, dass
die wertvollen Zertifikate vom Staat verschenkt werden,
was den Versorgern Extraprofite in Milliardenhöhe einbringt und dem Klimaschutz schadet, nein, auch nach
2012 erhält ausgerechnet die energieintensive Industrie
kostenlose Emissionsrechte.
Zusammenfassend möchte ich der neuen Koalition
ins Stammbuch schreiben: Die Klima- und Energiepolitik, die Sie anstreben, ist nicht nur widersprüchlich; sie
nutzt vor allem den großen Konzernen.
({6})
Das ist angesichts der Herausforderungen, vor denen wir
stehen, nichts anderes als Klientelpolitik auf Kosten der
Umwelt und der Menschen.
({7})
Das Wort hat nun Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister Röttgen, ich habe mir ganz in Ruhe Ihre
Rede angehört. Ich muss sagen: Sie war sehr nachdenklich. Von den Zielen her hat sie mir gut gefallen. 2-GradZiel, Nachhaltigkeit, Erhalt der Artenvielfalt, das sind
Ziele, die wir unterstützen werden. Ich mache jetzt etwas, was vielleicht ungewöhnlich ist: Ich wünsche Ihnen
für die Erreichung dieser Ziele viel Erfolg. Wenn Sie das
anstreben, werden wir Sie dabei unterstützen.
({0})
In der Tat geht es um ganz viel. Es geht um die
Lebensgrundlagen von uns, von unseren Kindern und
von unseren Enkelkindern. Wir wissen, dass diese Zeit
ganz wichtig ist: Uns bleiben wenige Jahre, um zum Beispiel den Klimawandel noch aufhalten zu können. Das
heißt, Sie sind in einer sehr entscheidenden Phase Minister geworden. Aber der entscheidende Punkt ist: Was
machen wir jetzt? Widersprechen die vorgesehenen Projekte vielleicht dem, was Sie hier sehr nachdenklich formuliert haben?
Sie haben eben die Kanzlerin angesprochen. Sie hat
gestern fünf Punkte genannt. Der erste Punkt war die
Überwindung der Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie haben zu Recht gesagt: 500 Milliarden Euro sind auf den
Tisch gelegt worden, um diese Krise in den Griff zu bekommen. Was die Prävention der Klimakrise angeht:
Auf dem Finanzgipfel der EU ging es um die Verteilung
von 5 bis 7 Milliarden Euro, und die EU-Staaten waren
nicht in der Lage, diese Verteilung zustande zu bringen.
Deutschland hat dabei eine unrühmliche Rolle gespielt.
Ich muss sagen: Das steht im Widerspruch zu den Zielen, die Sie hier benannt haben.
({1})
Die Wissenschaftler sagen: Uns bleiben wenige Jahre,
um das 2-Grad-Ziel zu erreichen - wenn wir es denn
überhaupt schaffen. Aber selbst wenn das 2-Grad-Ziel
erreicht wird, kommt es zu dramatischen Überflutungen,
zu Dürren, zu Toten, zu Hungernden und zu Flüchtlingsströmen. Wir müssen die mit dem Klimawandel, dem
Artensterben, der Ressourcenkrise, dem Wassermangel,
dem Hunger verbundenen Fragen zusammen beantworten. Das alles ist miteinander verknüpft und darf nicht
isoliert betrachtet werden.
({2})
Jeden Tag verschwinden 120 Arten; jeden Tag verschwindet ein Stück Natur. Sie haben zu Recht auf die
Bewahrung der Schöpfung verwiesen. Folgen Sie aber
dem, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, wird Ihnen
die Bewahrung der Schöpfung schwergemacht. Der Natur wird in diesem Koalitionsvertrag kein hoher Wert
beigemessen. Es ist neu, dass in Zukunft ein Eingriff in
die Natur ohne einen Ausgleich an anderer Stelle vollzogen werden kann. Wenn das umgesetzt wird, was in Ihrem Koalitionsvertrag steht, kann man sich mit Ersatzgeld von der Bestrafung für einen Eingriff in die Natur
freikaufen. Das ist schlecht. Das ist gegen die Natur.
Deshalb sagen wir: Das werden wir nicht mitmachen.
({3})
- Das ist ein Ablasshandel zur Naturzerstörung.
Wie wollen Sie eigentlich Ländern wie Brasilien und
Indonesien erklären, dass sie ihren Regenwald schützen
sollen, wenn wir in Deutschland das bisschen Natur, das
noch übrig geblieben ist, für alle möglichen Projekte
wieder infrage stellen? Dazu muss ich sagen: Wir müssen Vorbild sein. Wir müssen zeigen, dass wir die Natur,
die wir noch haben, erhalten wollen, und wir dürfen
nicht zulassen, dass sie zerstört wird, wenn nur entsprechendes Geld gezahlt wird. Anders werden wir andere
Länder nicht überzeugen, ihren Regenwald zu erhalten.
({4})
Die Kanzlerin hat gestern über die vielen Schulden
gesprochen, die gemacht werden. Sie hat hierfür eine
Lösung präsentiert. Diese Lösung lautete: Wachstum,
Wachstum, Wachstum, also Wachstum gleichsam als
Zauberformel. Ich finde, auch das muss man ein Stück
weit hinterfragen. Ist Wachstum eigentlich per se gut?
Um welches Wachstum handelt es sich überhaupt? Was
soll da überhaupt finanziert werden? In der letzten Regierung war das Konjunkturprogramm die Abwrackprämie. Jetzt sagt der neue Verkehrsminister: Es soll der
Autobahnbau finanziert werden, und zwar vor allen Dingen im Westen.
({5})
- Ja, vor allen Dingen in Bayern. - Hierzu sage ich ganz
ehrlich: Wir müssen mit dieser Klientelpolitik aufhören.
Wir müssen das Ganze im Auge haben und dürfen nicht
immer nur für einzelne Bereiche Politik machen. Damit
muss endlich Schluss sein.
({6})
Wir müssen auch dafür sorgen, dass Folgendes nicht
mehr möglich ist: Mit dem von der letzten Bundesregierung aufgelegten Konjunkturprogramm wurde in meiner
hochverschuldeten Heimatstadt ein Kreisverkehr gebaut.
So ist es jetzt noch komplizierter, über die entsprechende
Kreuzung zu fahren. Warum wurde der Kreisverkehr gebaut? Weil man für seine Finanzierung zusätzlich Schulden aufnehmen konnte. Für Investitionen in Beton kann
man Schulden aufnehmen, für Investitionen in Jugendarbeit, in Kinderbetreuung, das sind konsumtive Aufgaben, darf man keine Schulden aufnehmen. Das muss sich
endlich ändern. Wir müssen in die Köpfe unserer Kinder
investieren, nicht in Beton. Hier liegt unsere Zukunft.
Das wäre nachhaltig.
({7})
Sie, Herr Röttgen, sprachen ja auch von Nachhaltigkeit. Ja, das ist richtig. Aber von Nachhaltigkeit kann
mit Blick auf den Koalitionsvertrag nicht die Rede sein.
Darin nimmt man nämlich noch mehr Atommüll und
neue Schulden in Kauf. Das ist aber das Gegenteil von
Nachhaltigkeit. Sie müssen, wenn Sie davon sprechen,
bei den Fakten bleiben. Noch besser wäre es allerdings,
wenn Sie das umsetzen würden, wovon Sie sprechen.
({8})
Eben wurden schon die erneuerbaren Energien angesprochen. Es ist in der Tat so, dass Atomkraftwerke
und Kohlekraftwerke den Ausbau erneuerbarer Energien
verhindern. Warum sollten die großen Energiekonzerne,
wenn sie in neue Kohlekraftwerke investieren oder ihre
Atomkraftwerke länger in Betrieb lassen können, eigentlich große Windparks in der Nordsee bauen? Das heißt,
indem Sie denen jetzt Spielräume geben, verhindern Sie
den Bau von Windkraftanlagen in der Nordsee, und genau auf diese Weise verhindern Sie den Ausbau erneuerbarer Energien.
({9})
Sie sprechen von Atomkraft als Brückentechnologie, de
facto wirkt diese aber wie eine Mauer. Sie errichten eine
Mauer gegen die erneuerbaren Energien, die sozusagen
mit Vollgas gegen diese Mauer fahren.
({10})
Anstatt neue Kohlekraftwerke zuzulassen, sollten Sie
lieber in Energie- und Ressourceneffizienz investieren.
Damit würde man auch sehr viele Arbeitsplätze schaffen. Das Weltmarktvolumen von energieeffizienten
Technologien und nachhaltiger Wasserwirtschaft beträgt
nämlich 640 Milliarden Euro. Der Marktanteil deutscher
Unternehmen beträgt dabei gerade einmal 5 bis 10 Prozent. Doch gerade auf diesem Markt sind kleine und mittelständische Unternehmen und nicht die großen Energiekonzerne aktiv. Wir müssen endlich aufhören, immer
nur Lobbyarbeit für die großen Energiekonzerne zu machen. Wir müssen wirklich einmal den Mittelstand unterstützen; das geht über den Ausbau von erneuerbaren
Energien und von Energieeffizienz. Damit schaffen wir
Arbeitsplätze.
({11})
- Mit Schröder habe ich nichts zu tun.
In dreieinhalb Wochen wird die Klimakonferenz in
Kopenhagen stattfinden. Sie haben zu Recht gesagt, es
wäre fatal, wenn diese scheitert. Wir verfolgen bei dieser
Klimakonferenz ehrgeizige Emissionsminderungsziele:
Eine Reduktion um 40 Prozent ist ehrgeizig. Aber im
Koalitionsvertrag zu schreiben, man werde für diese
CO2-Reduktion sorgen, indem man vermehrt CDM-Projekte in China oder Indien unterstützt, ist fatal. Denn Indien und China werden kommen und sagen: Macht doch
selber eure Hausaufgaben. Hier in Deutschland muss
eine Reduktion der CO2-Emissionen um 40 Prozent erreicht werden; nur so werden wir die anderen Länder mit
ins Boot bekommen.
({12})
Für die oben genannten Ziele - ich komme zum
Schluss - wünschen wir Ihnen viel Erfolg in Kopenhagen. Ich fand es bisher immer toll, Mitglied der deutschen Delegation zu sein. Aber in Poznan habe ich zum
ersten Mal erlebt, dass Deutschland und Europa gebremst haben. Das möchte ich in Kopenhagen nicht noch
einmal erleben. Deutschland muss Vorreiter in der EU
sein. Deshalb wünsche ich Ihnen viel Erfolg in Kopenhagen. Ich hoffe, dass Sie Ihrer Verantwortung gerecht
werden. Aber halten Sie dort Pohl und fallen Sie nicht
um! Seien Sie nicht am Ende der Bremser; sonst haben
wir hier danach eine ganz andere Debatte.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Marie-Luise Dött für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Auch in der vor uns liegenden Legislaturperiode werden Umwelt- und Klimaschutz im
Zentrum der politischen Arbeit stehen; Sie haben das gerade von allen Rednern gehört. Der Koalitionsvertrag
zeigt das mehr als deutlich. Das umwelt- und klimapolitische Programm dieser Regierung ist Garant dafür, dass
Deutschland beim Klima- und Umweltschutz auch in
Zukunft internationaler Schrittmacher bleibt.
({0})
Union und FDP werden dafür sorgen, dass das hohe Umweltschutzniveau in Deutschland ausgebaut wird, dass
wir in Europa der umweltpolitische Treiber bleiben und
dass von Deutschland auch künftig wichtige Impulse für
den internationalen Umwelt- und Klimaschutz ausgehen.
Wir alle beobachten die Vorbereitungen zum Weltklimagipfel in Kopenhagen sehr genau. Die Vorzeichen
für den von uns gewünschten Durchbruch bei den Verhandlungen stimmen nicht gerade hoffnungsvoll. Umso
wichtiger ist es, dass wir die verbleibende Zeit nutzen
und weiter Überzeugungsarbeit leisten. Globaler Klimaschutz darf nicht zum Feld für politische Profilierung
oder vermeintlich wirtschaftliche Vorteilsschöpfung im
globalen Wettbewerb werden.
({1})
Augenscheinlich haben noch nicht alle verstanden,
dass derjenige, der Klimaschutz als Weg aus der kohlenstoffbasierten Energieerzeugung begreift, sich auch wirtschaftlich fit für die Zukunft macht. Der Wettbewerbsvorteil von morgen entsteht nicht, wenn man möglichst
wenig Klimaschutz betreibt. Nicht derjenige verliert, der
sich zuerst bewegt; verlieren wird derjenige, der sich zu
spät bewegt.
({2})
Die Übernahme globaler Verantwortung für das
Klima und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit widersprechen sich nicht. Wer heute den
politischen Rahmen schafft, um erneuerbare Energien
voranzubringen und die Entwicklung von Effizienztechnologien voranzutreiben, der macht die Wirtschaft fit für
den globalen Wettbewerb von morgen. Derjenige, der
heute handelt, sorgt für eine auch in Zukunft bezahlbare
und damit sozial gerechte Energieerzeugung.
Deutschland steht zu seinen anspruchsvollen Klimazielen. Wir sind auf einem guten Weg, unsere Verpflichtungen zu erfüllen. Es ist aber an der Zeit, dass andere
Staaten sich ihrer Verantwortung stellen und mit konkreten Zusagen und nachprüfbaren nationalen Zielen mitziehen. Kopenhagen braucht keine Schaufensterreden.
Es ist höchste Zeit für konkrete nationale Treibhausgasminderungszusagen aller Industrienationen sowie Zusagen für finanzielle und technologische Unterstützung für
die Entwicklungsländer.
({3})
Meine Damen und Herren, der Koalitionsvertrag ist
ein klares Bekenntnis zu einer anspruchsvollen, modernen Umweltpolitik. Er ist Ausdruck umwelt- und klimapolitischer Kontinuität. Beim Klimaschutz, bei den
erneuerbaren Energien, bei Abfall, Wasser und Naturschutz werden wir den für Bürger und Unternehmen verlässlichen rechtlichen Rahmen weiterentwickeln. Dabei
gibt es aus meiner Sicht vor allem einen zentralen Ansatz, ein zentrales Kriterium, das wir stärker beachten
werden: Wir brauchen im Umwelt- und Klimaschutz
mehr Effizienz. Wir müssen stärker als bisher das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Maßnahmen im Auge behalten. Das ist in wirtschaftlich normalen Zeiten schon ein
Gebot; in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise muss
die Effizienz des Mitteleinsatzes ein ganz entscheidendes Beurteilungskriterium sein. Der Einsatz eines jeden
Euros, den wir für Umwelt- und Ressourcenschutz ausgeben - ob aus Haushaltsmitteln, von Unternehmen oder
von Bürgern -, muss unter Effizienzgesichtspunkten gerechtfertigt sein.
Hier gibt es auch im Bereich der Umweltpolitik Prüfungsbedarf. Nehmen Sie das Beispiel der Förderung der
erneuerbaren Energien. Wir werden bei der Förderung
der erneuerbaren Energien am bewährten Erneuerbare-Energien-Gesetz festhalten, weil wir wissen, dass
nur mit einer verlässlichen Förderung unsere anspruchsvollen Ziele in diesem Bereich erreichbar sind. Wir werden daran festhalten, weil wir wissen, dass inzwischen
Hunderttausende Arbeitsplätze an der erneuerbaren
Energie hängen, und weil wir wissen, dass Öl und Gas
mittelfristig weiter im Preis steigen werden.
Richtig ist aber auch, dass wir die erneuerbaren Energien mit erheblichen finanziellen Mitteln über die Einspeisevergütung fördern. Es ist für die Politik nicht nur
legitim, sondern es ist die Pflicht, die Effizienz solcher
Förderung im Auge zu behalten. Ich sage das sehr deutlich. Hier geht es um Über-, aber genauso auch um Unterförderung. Es geht um die Effizienz des Umgangs mit
dem Geld der Bürger.
({4})
Nicht bei maximaler, sondern bei optimaler Mittelallokation erhalten wir die erforderliche Innovationsdynamik, die am Ende der Umwelt am meisten nutzt.
Umweltpolitik muss deshalb immer auch als wirtschaftliche Optimierungsaufgabe verstanden werden. Das erhöht nicht nur die Wirkung von Umweltpolitik, sondern
auch ihre Akzeptanz beim Bürger.
Wenn es um Effizienz geht, dann gehören dazu auch
faire Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter von
Umweltdienstleistungen. Es reicht nicht, den Mittelstand
regelmäßig für seine Leistungsfähigkeit zu loben. Gerade der Mittelstand braucht fairen Wettbewerb.
({5})
Ein fairer Wettbewerb ist das sicherste Instrument, um
Effizienzreserven zu heben.
Eine effiziente Umweltpolitik ist von neuen, zukunftsweisenden Technologien abhängig. Sie schaffen
Arbeitsplätze in Deutschland sowie Technologien,
Werkstoffe und Produkte für die Märkte von morgen.
Wenn wir die globalen „grünen Zukunftsmärkte“ besetzen wollen, müssen wir heute dafür sorgen, dass Forschung und Entwicklung im hohen Maße technologieoffen erfolgen kann.
Natürlich müssen die Bedenken bei modernen Technologien ernst genommen werden. Natürlich brauchen
wir begleitende Sicherheitsforschung. Es ist aber der falsche Weg, stetig Ängste zu schüren und jede neue Technologie zunächst einmal zu stigmatisieren. Forschung
und technologischer Fortschritt sind auch im Umweltund Klimaschutz der Schlüssel zur Zukunft.
({6})
Diesen Schlüssel dürfen wir nicht aus der Hand geben,
weder bei der Elektromobilität noch bei den Nanotechnologien oder den Biotechnologien. Moderne Technologien sind keine Bedrohung, sondern eine Chance - auch
für den Umwelt- und Klimaschutz.
({7})
Derzeit steht völlig zu Recht die Klimakonferenz in
Kopenhagen im Mittelpunkt des politischen Interesses.
Es ist mir wichtig, hier auch daran zu erinnern, dass im
Oktober nächsten Jahres in Japan die 10. Vertragsstaatenkonferenz zum Übereinkommen über die biologische
Vielfalt stattfindet. Wir haben im Koalitionsvertrag eine
ganze Reihe von wichtigen Maßnahmen verankert, die
auch mit Blick auf diese Konferenz von Bedeutung sind.
Dazu gehören: die Entwicklung eines Bundesprogramms
zur Umsetzung der Biodiversitätsstrategie, die Erarbeitung eines „Bundesprogramms Wiedervernetzung“, die
endgültige Sicherung des Nationalen Naturerbes und
- das freut mich angesichts des 20-jährigen Jubiläums
des Mauerfalls besonders - die Sicherung des Grünen
Bandes Deutschland entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze als Naturmonument.
({8})
Dabei werden wir die Maßnahmen in Zusammenarbeit
mit allen Verantwortlichen und den Betroffenen planen
und umsetzen. Kooperation statt Konfrontation - auch
das ist ein Prinzip einer innovativen und effizienten Umweltpolitik.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Marco Bülow für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Herr Minister, die Energiepolitik von Union und FDP
sollte der große Wurf werden. Doch schauen wir uns einmal an, was im Koalitionsvertrag zur Energiepolitik
festgelegt wurde. Da wurde vorher ein umfangreiches
Energiekonzept versprochen. Herausgekommen sind
vage Andeutungen. Nichts Genaues weiß man nicht. Es
ist eher ein Flickwerk, über das wir heute sprechen.
Die FDP hat in Oppositionszeiten immer wieder kritisiert - teilweise zu Recht -, dass die Energieeffizienz in
der Regierung eine zu kleine Rolle spielt. In der Tat hat
sich die SPD, was die Energieeffizienz angeht, häufig
die Zähne an den jeweiligen Ministern für Wirtschaft
und Technologie ausgebissen. Doch schauen wir uns an,
was heute im Koalitionsvertrag zur Energieeffizienz
steht. Es sind nur elf Zeilen, in denen eigentlich nichts
steht - außer dass die EU-Vorlagen eins zu eins umgesetzt werden müssen. Die EU-Vorlagen eins zu eins umzusetzen heißt - das hat Herr Kelber schon gesagt -, sich
an dem Land zu orientieren, das in Europa alles blockiert. Das bedeutet höchstens Mittelmaß bei der Energieeffizienz.
({0})
Kommen wir zu den erneuerbaren Energien. Ich bin
wie wahrscheinlich viele in diesem Haus froh darüber,
dass sich endlich auch die FDP und die Union insgesamt
für die erneuerbaren Energien einsetzen. Sie werden
auch weiterhin gefördert - Gott sei Dank. Trotzdem, so
ganz sicher sind Sie sich anscheinend nicht. Noch im
Wahlkampf sagte zum Beispiel der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Meister, dass die Vorrangregelung nicht
weiter gelten soll. Gott sei Dank haben sich die Fortschrittlichen in beiden Parteien durchgesetzt; die Vorrangregelung wird bestehen bleiben.
({1})
Eine erste Maßnahme ist jedoch die Kürzung der Fördersätze. Darüber hinaus ist die Diskussion über die Erneuerbaren nicht zielgerichtet. Wenn man diese wirklich
fördern will, dann muss man schauen, wohin die Reise
geht. Hierbei geht es um die Netzintegration und vor allen Dingen um die Förderung von Kombikraftwerken.
Ich glaube, dass wir zielgerichtet darüber diskutieren
müssen - da werden Sie uns an Ihrer Seite haben -, wie
man die Erneuerbaren fördert.
Ich fordere Sie auf - das ist wichtig; Sie haben ja nicht
nur hier, sondern auch in den Ländern die Mehrheit -, mit
Ihren Kolleginnen und Kollegen in den Ländern zu sprechen. Eine Behinderung der Erneuerbaren stellt zum
Beispiel die Höhenbegrenzung von Windkraftanlagen
dar. Wenn man die Erneuerbaren ausbauen will, dann
muss man die Hemmnisse, die es gerade auf Länderebene gibt, endlich beseitigen. Die Mehrheiten dazu haben Sie. Gehen Sie dort also voran!
({2})
Schauen wir uns einen weiteren Punkt an. Auch da
gibt es eine große Ankündigung, aus der nichts geworden ist. Zur Entflechtung der Oligopole der großen Energieunternehmen ist nichts mehr in der Koalitionsvereinbarung zu lesen. Aber es gibt ja die Wunderwaffe von
Schwarz-Gelb, die in der Energiepolitik alles rettet: Das
ist die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke. Dies ist eine antiquierte und nicht zukunftsfähige
Energie, die man jetzt doch noch einmal aus der Mottenkiste herausholen will. Bei den großen Energieunternehmen haben die Sektkorken geknallt, als das Wahlergebnis bekannt geworden ist; denn sie wussten, sie werden
zusätzliche hohe Milliardengewinne einfahren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kauch?
Ja, natürlich.
Lieber Kollege Bülow, Sie haben im Zusammenhang
mit dem Koalitionsvertrag zwei Behauptungen aufgestellt, zu denen ich Sie bitte, noch einmal im Vertrag
nachzuschauen: Erstens bitte ich Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass wir bezüglich der Kombikraftwerke die
Vereinbarung getroffen haben, dass es in der nächsten
EEG-Novelle einen Stetigkeitsbonus geben wird. Zweitens bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen - dies ist Bestandteil des Koalitionsvertrages -, dass wir genau das,
was Sie gefordert haben, nämlich für diesen Bereich ein
Entflechtungsinstrument in das Kartellrecht, in das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen aufzunehmen,
auf Initiative der FDP vereinbart haben.
Dass für Kombikraftwerke ein Stetigkeitsbonus eingeführt werden soll, ist zwar ein Ansatz, geht mir aber
nicht weit genug. Ich habe nicht gesagt, dass im Koalitionsvertrag nichts steht. Ich habe gesagt, dass wir eine
zielgerichtete Diskussion führen müssen. Insgesamt
glaube ich aber, dass im Koalitionsvertrag im Hinblick
auf die Erneuerbaren nicht viel Neues enthalten ist.
Was die Entflechtung angeht, kann ich Ihnen nur sagen: Mit dem, was Sie dort festgeschrieben haben, wird
es keine Entflechtung geben. Das wissen Sie genauso
gut wie ich. Mit der Verlängerung der Laufzeiten der
Atomkraftwerke wird eigentlich erst recht alles verstetigt, wie es ist. Ich glaube also, dass es am Ende dieser
vier Jahre eher eine Verstetigung der Monopolstrukturen
geben wird und wir keinen Schritt vorwärts gekommen
sein werden.
({0})
Als Nächstes komme ich darauf zu sprechen, was der
Bürger davon hat. Vielleicht haben ja auch die Bürgerinnen und Bürger etwas davon, dass die Laufzeiten der
Kernkraftwerke verlängert werden. Es wird immer viel
davon geredet, dass dann zum Beispiel die Energiepreise
sinken werden. Alle wissen aber mittlerweile, dass der
Energiepreis an der Börse festgelegt wird und dass Länder, die einen sehr hohen Anteil an Atomenergie haben,
keine niedrigen Energiepreise haben. Der Bürger wird
davon also nichts haben. Aber ich sage Ihnen, was der
Bürger von der Verlängerung der Restlaufzeiten haben
wird:
Erstens wird er - das habe ich gerade schon angedeutet davon haben, dass sich die Monopolstrukturen verstetigen
und die vier großen Energieversorger weiterhin die Preise
diktieren.
Zweitens wird er davon haben, dass bei einer Verlängerung der Laufzeiten in zehn Jahren 4 500 Tonnen
hochradioaktiver Atommüll zusätzlich gelagert werden
müssen.
Drittens wird er davon haben, dass er in der Unsicherheit leben muss, dass einer der Pannenreaktoren, die
weiterhin am Netz bleiben, vielleicht doch einmal explodiert, oder zumindest mit Zwischenfällen leben muss.
Viertens wird er davon haben, dass die Versorgungssicherheit zurückgeht. Es kann sich ja bei diesen Reaktoren nicht nur ein großer Unfall ereignen; vielmehr sind
fast immer ein, zwei oder drei dieser Reaktoren gar nicht
am Netz und bringen also nicht die Energie ins Netz, die
eingeplant ist. Dadurch wird auch die Versorgungssicherheit geschwächt. Hier haben wir ein großes Trauerspiel zu beklagen.
Fünftens wird er davon haben - das ist der wichtigste
Punkt, der schon ein paar Mal angesprochen wurde -,
dass die Investitionen in die Erneuerbaren, der Ausbau
der erneuerbaren Energien, gebremst werden. Eines ist
doch klar: Die Gewissheit, dass solche Großkraftwerke
noch zehn oder wie viele Jahre auch immer länger laufen
werden, wird dazu führen, dass der Druck, weiterhin in
die Erneuerbaren zu investieren, aus dem Kessel entweicht. Diese Investitionen werden zurückgehen.
Deswegen nenne ich dieses Gesetz oder dieses Programm das größte Mittelstandshemmnisprogramm der
letzten 20 Jahre. Eines ist klar: Gerade im Bereich der
erneuerbaren Energien wurden sehr viele Arbeitsplätze
beim Mittelstand und beim Handwerk geschaffen, was
bei der Atomwirtschaft eben nicht der Fall ist. Diese
Maßnahme wird also eindeutig den Mittelstand schädigen; auch dies werden die Bürgerinnen und Bürger in
Kauf nehmen müssen.
Richtig ist, dass Ihnen selber bei der ganzen Geschichte nicht wohl ist. Deswegen wird von Ihnen immer
häufiger von der Brückentechnologie Atomenergie gesprochen. Brückentechnologie ist aber nur ein anderes
Wort dafür, dass es sich um eine alte Technologie handelt, die Sie eigentlich selber nicht mehr wollen, aber
jetzt noch ein bisschen in Kauf nehmen. Am besten wäre
es daher, beim alten Beschluss zu bleiben und die Atomenergie auslaufen zu lassen. Das wäre der ehrlichste
Umgang.
Herr Minister, ich wünsche Ihnen bei Ihrer Arbeit alles Gute, vor allen Dingen bei der Klimakonferenz, aber
auch beim Ausbau der erneuerbaren Energien und vielen
anderen Projekten, die Sie vor sich haben. Vor allem
aber wünsche ich Ihnen ein besseres Händchen - ich
weiß, dass Sie teilweise gar nicht dabei waren - als bei
dem Ergebnis, das im Koalitionsvertrag steht. Dann werden Sie uns konstruktiv an Ihrer Seite haben. Ansonsten
werden Sie natürlich mit Kritik zu rechnen haben. In diesem Sinne alles Gute!
({1})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Meierhofer
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man hat das Gefühl, die Kollegen aus der Opposition haben ihre Reden vorher geschrieben und können es eigentlich gar nicht fassen, dass die FDP und die Union
sich im Hinblick auf die erneuerbaren Energien wesentlich positiver aussprechen, als sie es jemals erwartet
hätten.
({0})
Deswegen sind sie jetzt nicht in der Lage, auf das zu reagieren, worum es wirklich geht, und stellen hier irgendwelche schrecklichen Märchen und Albträume in den
Raum, von denen sie glauben, dass sie wahr würden, obwohl nichts, aber auch gar nichts davon wahr ist. Die gesamte Branche der erneuerbaren Energien hat dies kapiert. Ich bitte daher auch Sie, es endlich zur Kenntnis zu
nehmen.
({1})
Es ist köstlich, wenn ich hier höre, wir seien die größten Lobbyisten der Großkonzerne. Die beiden bekanntesten, die mir in diesem Zusammenhang einfallen, sind
die beiden Gasleute Gerhard Schröder und Joschka
Fischer.
({2})
Insofern scheinen die großen Lobbyisten bei Ihnen und
nicht bei uns zu sitzen. Auch hier sollten wir einmal daHorst Meierhofer
rauf achten, wie weit Wirklichkeit und Anspruch auseinander liegen.
Sie haben hier so getan, als garantierten wir den
Großkonzernen irgendwelche Gewinne, indem wir sagten, ein großes Unternehmen müsse weiterhin die ganze
Zeit am Netz sein, weil es sich ansonsten nicht lohne. Es
ist doch nicht die Entscheidung der Politik, ob sich ein
Atomkraftwerk oder ein Kohlekraftwerk lohnt. Es ist die
Entscheidung eines jeden Unternehmers, ob es sich lohnt
oder nicht. Solange es den Einspeisevorgang gibt - dafür
haben wir uns verpflichtet -, sind all Ihre ganzen Befürchtungen obsolet, Sie können sie vergessen.
({3})
Ich würde gerne zu zwei oder drei anderen Themen
noch etwas sagen. Zum einen geht es um den Bereich
der Rohstoffpolitik. Wir hatten früher - gerade in den
90er-Jahren - Probleme mit Müllbergen, mit der Entsorgungspolitik im Allgemeinen. Das ist Gott sei Dank vorbei. Wir sind mittlerweile auf einem Weg - den haben
wir hier auch eingeschlagen -, Rohstoffe und Ressourcen als Wertstoffe anzusehen. Dieser Bereich ist mir
ganz wichtig. Wir können es uns ökologisch und ökonomisch einfach nicht mehr leisten, alles nur noch als Abfall zu betrachten. Meist sind es Wertstoffe.
({4})
Dafür müssen wir den Weg freimachen. Wir müssen uns
von alten Denkweisen verabschieden und Verpackung
definieren. Wir müssen uns überlegen, welches Material
welche Eigenschaften hat. Danach müssen wir entscheiden. Ich hoffe - in der letzten Legislaturperiode hatte ich
den Eindruck -, dass wir mit der Opposition einen breiten Konsens erreichen können.
Wir müssen die Verpackungsverordnung neu konstruieren. Das ist wichtig. Wir brauchen einen echten
Neuanfang und dürfen nicht weiter im alten System bleiben. Wir brauchen effizientere und verbraucherfreundlichere Abfall- und Ressourcenpolitik. Wir müssen weg
von der alten Symbolpolitik, in der wir die Menschen als
dressierte Äffchen betrachteten. Vielmehr müssen wir
darauf achten, dass wir beste Ergebnisse erzielen und
den Menschen möglichst wenig Umstände zumuten,
wenn sie ökologisch nicht sinnvoll sind.
({5})
Ich möchte einen kritischen Punkt ansprechen: die
steuerliche Gleichstellung im Abfallbereich. Es gab
einen großen Aufschrei in der Bevölkerung und in der
Opposition. Uns wurde vorgeworfen, dass wir die Menschen abkassieren wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Ich
will Ihnen das erklären.
Es geht darum, dass wir die Privilegien abschaffen,
die vor allem die öffentlich-rechtlichen Unternehmen
haben. Es ist natürlich schwer, die Abschaffung von Privilegien zu akzeptieren, wenn man sie über Jahrzehnte
gehabt hat. Aber eins möchte ich Ihnen sagen: Wenn jemand bereit ist, privat Geld zu investieren, und das Risiko des Unternehmertums eingeht und dabei in einem
Wettbewerb mit der öffentlichen Hand steht, in dem die
öffentliche Hand 0 Prozent Mehrwertsteuer zahlt und der
private Unternehmer 19 Prozent, dann halte ich das, ehrlich gesagt, für einen Skandal.
({6})
Wir müssen zu fairen Wettbewerbsbedingungen kommen. Das bedeutet nicht, dass es teurer wird bzw. dass
die Daseinsfürsorge geschmälert wird. Ganz im Gegenteil. Beim Trinkwasser - ein sehr sensibler Bereich - war
es sicher genauso. Wir haben es geschafft, einen fairen
Wettbewerb durch einen ermäßigten Steuersatz zwischen
öffentlich-rechtlichen und privaten Unternehmen zu gewährleisten. Da es uns dort gelungen ist, wird es uns
auch im Bereich Abfall gelingen.
({7})
Es geht darum, dass wir keine Abzocke wollen. Wir
wollen genau das Gegenteil. Wir haben festgestellt, dass
auch schon jetzt Unternehmen, die den vollen Mehrwertsteuersatz zahlen, mit den öffentlich-rechtlichen, die
keine Mehrwertsteuer zahlen, zum Teil mithalten können. Man sieht, dass es bei der Einsparung große Potenziale gibt. Wir müssen es schaffen, die Unternehmen in
einen fairen Wettbewerb zu bringen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir eine große Chance auf Erfolg.
({8})
Lassen Sie mich etwas zum Thema Durchgängigkeit
von Fließgewässern sagen. Mir persönlich war es ein
Anliegen, dass wir uns darauf geeinigt haben, den hohen
Wert der frei fließenden Gewässer anzuerkennen. Wir
wollen die Durchgängigkeit nicht nur halten, sondern sogar noch ausbauen. Das ist wichtig, weil es auch die Europäische Wasserrahmenrichtlinie vorschreibt. Wir erkennen fließende Gewässer als echten Wert und nicht
nur als Wasserstraße an. Wir müssen die Menschen,
Tiere und Pflanzen in den Fokus stellen, statt nur die zu
transportierenden Frachten.
({9})
Auch das haben wir in diesem Koalitionsvertrag vereinbart.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass wir uns an einer Stelle nicht geeinigt haben, nämlich in der Frage, wie
es mit der Donau zwischen Straubing und Vilshofen weitergeht. Das finde ich schade, aber auch das muss man
offen diskutieren.
Mein letzter Punkt, über den ich gerne sprechen
würde, ist der Lärmschutz. Wir haben uns für mehr Infrastruktur ausgesprochen. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass die Menschen frei in ihren Entscheidungen
sind, weil sie sich auch frei entfalten wollen. Es ist aber
auch wichtig, dass wir den Menschen den Schutz geben,
den sie benötigen. Einen Schutz geben wir ihnen dadurch, dass wir Lärmschutz ermöglichen, dass wir die
Lärmschutzwerte verschärfen, dass wir den Schienenbo160
nus abschaffen, dass wir lärmabhängige Trassenpreise
bei der Bahn einführen. Sie sehen, es gibt viele konkrete
Punkte, die zu einer Verbesserung dessen führen, was die
Menschen erwarten können, zu einem echten Natur- und
Umweltschutz für die Menschen und mit den Menschen.
({10})
Es ist keine Frage von links oder rechts, wie man mit
Ökologie umgeht. Es geht auch nicht darum, was aus Ihrer Sicht ideologisch richtig oder falsch ist. Es geht um
die Frage, ob etwas grundsätzlich richtig oder falsch ist.
Es geht um den Unterschied zwischen gut gemeint und
gut gemacht. Wir entscheiden uns für gut gemacht.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Herr Minister! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das zentrale Projekt der Koalition im Bereich Energie und Klimapolitik ist die Aufkündigung
des Atomausstiegs. Das ist ein Rollback und eine Verhöhnung der Menschen, die sich seit Jahren und Jahrzehnten für ihre Sicherheit, für die Sicherheit ihrer Kinder und für die Sicherheit der Umwelt engagieren, der
Menschen, die sagen: Ein sofortiger Atomausstieg ist
nötig.
Die Kapitalanleger haben das sehr schnell realisiert.
Die Entwicklung des Aktienkurses der großen Stromkonzerne in den letzten Wochen macht das deutlich. Die
Anleger wissen: Längere Laufzeiten längst abgeschriebener AKWs sind eine Lizenz zum Gelddrucken.
({0})
Laufzeitverlängerungen - das ist hier schon mehrfach
gesagt worden - sind keine Brücke für erneuerbare Energien, sondern eher eine Weichenstellung dagegen. Der
Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung bringt es auf den Punkt, wenn er sagt, es gebe einen
grundlegenden Systemkonflikt zwischen Atom- und
Kohlekraftwerken auf der einen und erneuerbaren Energien auf der anderen Seite. Ich halte es für sehr sinnvoll,
wenn sich die Politik von Sachverständigen beraten
lässt. Man sollte sie aber nicht nur reden lassen, und man
sollte nicht beratungsresistent sein. Das, was ich in diesem Koalitionsvertrag lese, lässt allerdings einen anderen Schluss zu.
Zum Hauptpunkt meiner heutigen Rede, zur atomaren Endlagerung: Dabei haben wir einen grundlegenden Dissens, der sich nicht einfach auflösen lässt. Der
dürre Satz im Koalitionsvertrag „Die Endlager Asse II
und Morsleben sind in einem zügigen und transparenten
Verfahren zu schließen“ macht deutlich, was die Koalition plant: Deckel drauf, Augen zu.
({1})
Es mag Sie ja wenig beeindrucken, wenn wir als
Linke sagen, dass das mit uns nicht zu machen ist. Aber
ich versichere Ihnen: Auch die Menschen in der Region,
die Menschen in Niedersachsen werden das nicht mit
sich machen lassen. Das machen sie seit 30 Jahren immer wieder deutlich. Ich erinnere alle, die das vielleicht
nicht mehr im Kopf haben, an die Lichterkette im Februar, die von Braunschweig über Schacht Konrad zur
Asse führte, oder an den Treck aus dem Wendland nach
Berlin im September.
({2})
Der Widerstand lebt seit 30 Jahren. Er ist vital und wird
auch weiterhin vielfach sichtbar werden. Die Menschen
in Niedersachsen und anderswo lassen sich nicht verschaukeln, und sie lassen sich auch nicht belügen. Davor
haben Sie Angst.
Dass eine Gefahr besteht, haben Sie gestern - ich vermute, unfreiwillig - dokumentiert. Gestern erhielten wir
die Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Kollegen
Petra Pau zu den Kosten für Asse II. Sie fragte, was die
Konzerne, die eingelagert haben, für die Einlagerung in
der Asse II bezahlt haben. Aus der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Heinen-Esser geht hervor, dass die Konzerne genau 16 548 553,68 DM gezahlt
haben, also rund 16,5 Millionen DM. Weiterhin teilt das
Ministerium mit - ich zitiere -:
Eine rechtlich verpflichtende Beteiligung der Energieversorgungsunternehmen an den Stilllegungskosten der Asse hätte vor der Ablieferung der Abfälle mit den Erzeugern vereinbart werden müssen.
Dies ist jedoch nicht geschehen.
Und dann schreiben Sie im Koalitionsvertrag, dass
Sie es anstreben, die Unternehmen, die Erzeuger an den
Kosten der Erschließung zu beteiligen. Das klingt in den
Ohren der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wie
Hohn. Sie müssen für die Milliarden einstehen, die bei
der Schließung der Asse - das ist absehbar - auf uns alle
zukommen werden.
({3})
Beides werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, dass danach gehandelt wird, was opportun und politisch gewollt
ist. Es wird darum gehen müssen, ein transparentes und
optimal sicheres Verfahren zu finden. Man muss sicherstellen, dass die Gefahren für die Menschen heute und in
der Zukunft möglichst gering sind. Dafür stehen wir.
Diese Auseinandersetzung werden wir in den nächsten
Jahren auch von dieser Stelle aus führen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat nun Kollege Josef Göppel für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Verhalten der Deutschen in der Umweltpolitik richten sich
viele andere aus. Wenn sich die Deutschen in einer Sache zurückhalten, dann bleiben auch viele andere in der
Deckung. Das merken die Teilnehmer an internationalen
Umweltkonferenzen immer wieder. Deshalb brauchen
wir in der jetzigen Phase einer gewissen Stagnation in
der internationalen Klimapolitik einen neuen Anschub.
Herr Bundesminister Röttgen, wir wünschen Ihnen
Glück im neuen Amt. Ich darf Ihnen die volle Unterstützung der Umweltpolitiker und Umweltpolitikerinnen der
Union zusagen. Wir erwarten allerdings viel von Ihnen.
Die erste große Herausforderung liegt jetzt in Kopenhagen. Dort muss der gordische Knoten der gegenseitigen
Zurückhaltung durchschlagen und es müssen konkrete
Angebote für den internationalen Waldschutz und für die
Entwicklung klimaverträglicher Technologien in den
Entwicklungsländern auf den Tisch gelegt werden.
Ich möchte Ihnen sehr danken, dass Sie sich, was die
Ziele für Kopenhagen angeht, so klar positioniert haben.
Wir haben es auf innereuropäischer Ebene mit demselben Sachverhalt zu tun. Ich nenne das Gezerre um die
sogenannten Nullenergiehäuser bei Neubauten ab 2019,
die das Europäische Parlament vorschreiben will, oder
auch um die verpflichtenden Anreize in der europäischen Gebäudeeffizienzrichtlinie für die energetische
Sanierung von Altbauten. Der Europäische Rat ist nach
wie vor dagegen. Wir in Deutschland haben solche Anreize mit den KfW-Programmen, mit dem Marktanreizprogramm des Umweltministeriums, und ich hoffe, es
wird eines Tages auch steuerliche Anreize geben, weil
da viel Geld sinnvoll lockergemacht werden kann für
den Klimaschutz, für Energieeinsparung und für Arbeitsplätze in Handwerk und Mittelstand.
({0})
Der Wandel von einer zentralen zu einer dezentralen
Stromerzeugung, die Abwärme vermeidet, wo Abwärme also nicht ungenutzt bleibt, sondern zusammen
mit der Stromerzeugung sinnvoll genutzt werden kann,
ist ein Schlüssel für unsere technologische Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten der Zukunft und natürlich
auch für den Klimaschutz.
({1})
Deswegen möchte ich an dieser Stelle auf die Verlängerung von Laufzeiten eingehen. Herr Kollege Kauch
hat völlig recht. Im Vertrag steht: Wir sind bereit, Laufzeiten zu verlängern. - Aber ich sage hier auch ganz
deutlich: Wenn die Begrenzung der Laufzeiten fällt,
dann müssen auch die Gegenleistungen im Ausstiegsvertrag der damaligen rot-grünen Koalition vom Juni 2000
fallen, nämlich die steuerliche Begünstigung der Rücklagen, die Begrenzung der Versicherungspflicht für Reaktoren, die bis zu zehn Jahre langen Prüfungsintervalle
und die Begünstigung - es ist da von „ungestörtem Betrieb“ die Rede - im Wettbewerb mit anderen Formen
der Stromerzeugung. Das zusammen schafft ein Klima,
das man entweder für Innovationen nutzen kann oder für
die Zementierung von Zuständen. Unser Nachbarland
Belgien macht übrigens im Moment vor, wie ein solcher
Energievertrag für ein ganzes Land aussehen kann.
Die Internationale Energieagentur hat gestern bekanntgegeben, dass die Investitionen im Energiesektor
wegen der Finanzkrise um 20 Prozent eingebrochen
sind. Die Umweltpolitik hat ein elementares Interesse an
einer wirkungsvollen Regulierung des Finanzsektors.
Das Geld, das zur Rettung von Banken ausgegeben werden muss, steht nicht mehr für technische Innovationen
und für den Klimaschutz zur Verfügung.
Ich denke, dass an der Stelle eine neue kulturell-geistige Diskussion angebracht ist, die das Überstülpen von
ökonomischen Kategorien auf alle Lebensvorgänge
überwindet. Da möchte ich Sie, Herr Minister Röttgen,
zitieren und unterstützen. Sie haben die ethische Verankerung der Umweltpolitik angemahnt. Die aktuelle Situation hat niemand besser beschrieben als Roger de Weck
in der FAZ vom vergangenen Sonntag. In einem Artikel
hat er geschrieben:
Die derzeitige Krise … ist eine Folge … jener
Denkweise, die alles nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt und nur wirtschaftliche Kategorien anerkennt …
({2})
Heute beherrscht der Markt die Gesellschaft, statt
ihr zu dienen.
Die Umweltpolitik der nächsten vier Jahre steht deshalb,
so denke ich, auch unter einem starken Werteanspruch.
Gehen wir an unsere Aufgaben heran im Bewusstsein
der Fülle des Lebens!
({3})
Das Wort hat nun Kollege Frank Schwabe für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist nicht ganz leicht, seiner Oppositionsrolle gerecht zu
werden, wenn gerade vorher der Kollege Göppel geredet
hat.
({0})
Ich finde, dass auch der Herr Bundesminister viele richtige Worte gefunden hat. In einigen Tagen findet die Klimakonferenz in Kopenhagen statt. Einige von uns werden in Kopenhagen vor Ort sein. Wir brauchen in der Tat
ein substanzielles Abkommen; ich fand die Worte dazu
durchaus richtig. Das ist eine historische Aufgabe. Jedes
weitere Jahr ohne ein solches Abkommen wird ein in
mehrfacher Hinsicht verlorenes Jahr sein. Ich finde auch
richtig - das will ich an dieser Stelle ausdrücklich
sagen -, dass die Kanzlerin gestern gesagt hat, dass auch
sie in Kopenhagen vor Ort sein wird und, so hoffe ich,
zum Gelingen dieses Abkommens beitragen kann. Herr
Röttgen, hier haben Sie unsere Unterstützung.
Das waren dann aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Es geht nämlich um Grundsatzfragen der deutschen
Klima- und Energiepolitik in den nächsten Jahren. Die
zentrale Frage ist, ob man jenseits von Rhetorik und Lyrik - auch das ist natürlich notwendig - versteht, welche
Auseinandersetzungen es eigentlich gibt und welche
zentrale Herausforderung der Klimawandel an die Veränderungsbereitschaft von Volkswirtschaften und im
Hinblick auf die Veränderungsnotwendigkeiten in der
Energieversorgung stellt.
All das, was Sie dazu gesagt haben, hat sich gut angehört. Ich bin gespannt, wie Sie sich in den nächsten Jahren mit Ihrer Fraktion und mit der FDP-Fraktion verständigen werden. Ich kann Ihnen sagen: Das ist, zumindest
was die Unionsfraktion angeht, nicht ganz leicht. Diese
Erfahrung haben wir in den letzten Jahren gemacht.
Es geht um die Frage: Will man eine neue, zukunftsfähige Energiepolitik betreiben, oder will man das, was
ist, konservieren, den Umbau verhindern und - es tut mir
leid, das sagen zu müssen - das Werk von Lobbyisten
betreiben? Im Koalitionsvertrag steht das eine oder andere Gute - das will ich Ihnen durchaus zugestehen; es
gab in den letzten Jahren manche Lerneffekte -, aber an
vielen Stellen habe ich den Eindruck: Das ist eins zu eins
von Lobbyisten übernommen worden. Ich bin mir im
Übrigen sicher: Die Wahrheit werden wir erst nach der
NRW-Wahl zu hören bekommen.
Wir führen in der SPD gerade eine interne Diskussion
darüber, was in den letzten elf Jahren unserer Regierungsbeteiligung gut war und was nicht so gut war. Das
ist notwendig, und wir machen das sehr selbstbewusst
und sehr eigenständig.
({1})
- Ja, das ist vernünftig.
Was die Klima- und Energiepolitik angeht, will ich
Ihnen sagen: Wir sind alle gemeinsam sehr stolz auf das,
was in den letzten Jahren erreicht wurde. Wir haben uns
eine internationale Führungsrolle erkämpft - sie ist unter
anderem mit den Namen Hermann Scheer, Michael
Müller und sicherlich auch Sigmar Gabriel verbunden -,
und wir haben es geschafft, eine nationale Strategie zum
Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben. Ich sage
Ihnen: Das geht nicht ohne Weiteres, sondern das ist gegen massive Widerstände erkämpft worden, gegen massive Widerstände der FDP, der CDU, der CSU und von
Teilen der Gesellschaft. Jetzt wollen Sie, Herr Röttgen,
für eine neue Politik stehen. Ich wünsche Ihnen dabei
viel Erfolg. Aber ich sage Ihnen: Das wird nicht ganz
leicht werden.
Zum Atomausstieg und zu den erneuerbaren Energien.
Sie versuchen, die Kernenergie als Brückentechnologie
darzustellen und den Menschen möglichst viel Sand in
die Augen zu streuen. Die Börsen haben es verstanden.
Einen Tag nach der Wahl konnte man beobachten, wie
sich die Aktienkurse der entsprechenden Unternehmen
entwickeln. Atomkraft und der Ausbau erneuerbarer
Energien passen nicht zusammen. Das hört sich immer
schön an. Wenn man sich das aber unter technischen Gesichtspunkten ansieht, stellt man fest: Auf Dauer wird das
nicht funktionieren. Die Lobbygruppen werden in den
nächsten Jahren entsprechend wirken.
Meine Sorgen sind, dass die Fliehkräfte in Ihrer Koalition größer werden und dass auch der Druck, der ausgeübt wird, um die Rücknahme von Maßnahmen beim
Klimaschutz zu erreichen, zunehmen wird. Bereits in
den letzten Jahren haben wir eine Politik erlebt, in deren
Rahmen Europa seiner Führungsrolle nur noch bedingt
gerecht geworden ist; das will ich an dieser Stelle deutlich sagen.
Frau Dött hat vorhin gesagt: Kopenhagen braucht
keine Schaufensterreden. Herr Röttgen, Sie haben gesagt: Es gibt keinen Plan B. Wenn das so ist, muss man
die Ziele, die man vor Ort erreichen will, zum Beispiel
die 40-prozentige Reduzierung des CO2-Ausstoßes, mit
entsprechenden Maßnahmen unterlegen. Wir können
einmal beim Kaffee darüber reden, wie das Ziel, die
Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren, zustande gekommen ist bzw. an wem es, jedenfalls eine Zeit lang,
gescheitert ist. Ich jedenfalls weiß das ziemlich genau.
Man muss das Ziel, das man hat, wie gesagt, durch
Maßnahmen glaubwürdig unterlegen. In dieser Hinsicht
fehlt mir im Koalitionsvertrag einiges. Wie will man
diese 40 Prozent erreichen? Wir haben in Meseberg Programme auf den Tisch gelegt; allerdings reicht das nicht
aus. Da muss nachgelegt werden, und man muss zu
neuen Maßnahmen kommen.
Ich glaube in der Tat, man beschädigt die Glaubwürdigkeit der deutschen Klimaschutzpolitik, wenn man den
Eindruck erweckt, dass man das Allermeiste über flexible Mechanismen, über CDM, erreichen will.
({2})
CDM ist wichtig; aber CDM kann nur ein zusätzliches
Instrument sein. Der Hauptbeitrag zum Klimaschutz
muss vor Ort, in Deutschland, in Europa, geleistet werden.
Wenn der Minister die historische Aufgabe der Konferenz in Kopenhagen beschreibt, ist darauf hinzuweisen, dass es notwendig ist, zu schauen, was noch getan
werden muss. Die Entwicklungsländer brauchen Finanzzusagen. Sie werden ein internationales Abkommen
nicht mittragen, wenn man ihnen keine Finanzzusagen
macht, wie man die Schäden, die durch den KlimawanFrank Schwabe
del entstehen und die es schon heute gibt, eingrenzen,
wie man sie ausgleichen, wie man für Technologietransfer sorgen, wie man den Wald schützen will. Solange
man diese Fragen nicht beantwortet, wird ein solches
Abkommen nicht funktionieren. Da hat die Bundesregierung beim Europäischen Rat und beim Finanzministertreffen der G 20 gefehlt.
Es gibt einen Vorschlag der Europäischen Kommission, für die Entwicklungsländer jedes Jahr 15 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen. Es gibt einen Vorschlag des Umweltausschusses des Europäischen Parlaments, jedes Jahr Transferleistungen in Höhe von
30 Milliarden Euro bereitzustellen. Irgendwo in diesem
Bereich muss sich das Angebot bewegen. Wenn man
will, dass die Konferenz von Kopenhagen Erfolg hat,
muss die Bundesregierung massiv dazu beitragen, dass
die Europäische Union ein solches Angebot macht.
Ich will zum Ende noch einmal sagen: Von dem, was
Sie gesagt haben, war vieles richtig. An Vorschlägen zur
Umsetzung und an Visionen mangelt es im Koalitionsvertrag jedoch. Insofern freue ich mich auf die Auseinandersetzung in den nächsten Jahren; sie wird spannend.
({3})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Themenbereich Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung.
Das Wort dazu hat Bundesminister Peter Ramsauer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Nach vielen parlamentarischen Funktionen in den
19 Jahren meiner Mitgliedschaft in diesem Hohen Hause
stehe ich heute das erste Mal im Amt des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung am Rednerpult.
Ich möchte gleich zu Beginn meiner Rede zusammenfassend klarmachen, worum es mir geht. In meinem Ressort befassen wir uns mit elementaren Grundbedürfnissen aller Menschen. Alle Menschen in Deutschland
wohnen, fahren, sind mobil. Oder es wird für sie gebaut,
bzw. sie bauen selbst. Mein Ziel ist es, mit meinem Ministerium diesen Grundbedürfnissen der Menschen auf
das Bestmögliche gerecht zu werden. So klar und eindeutig und einfach ist die Zielsetzung.
({0})
Ich habe meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
bei der Vorstellung an den beiden Dienstorten - hier in
Berlin ebenso wie an dem großartigen Dienstort Bonn erklärt:
({1})
Die Menschen in Deutschland müssen spüren, dass wir
in diesem Ministerium täglich für sie da sind.
({2})
Dazu sind wir gut ausgestattet: Wir haben den größten
Investitionshaushalt aller Bundesministerien.
({3})
Mein Ministerium ist in den letzten elf Jahren mehrmals umbenannt worden. Ich war knapp davor, dies noch
einmal zu tun; aber nicht immer sind aller guten Dinge
drei. So habe ich es bei der Bezeichnung belassen.
Eines muss aber natürlich klar sein: Obwohl es in der
Amtsbezeichnung „und Stadtentwicklung“ heißt und es
natürlich um die Stadtentwicklung und die Entwicklung
städtischer Monopolregionen geht, muss es uns - das
sage ich ebenso klar und deutlich - genauso darum gehen, die ländlichen Räume gut und bestmöglich zu entwickeln.
({4})
Ich kündige hier an, dass ich als zuständiger Minister in
diesem Bereich neue Akzente setzen werde.
({5})
Wir können uns in Deutschland darüber freuen, dass
wir großartige Kulturlandschaften und große, tolle ländliche Räume vom Wattenmeer bis zu den Alpen, von der
Sächsischen Schweiz bis in die Eifel haben. Das sind
auch hervorragende Wirtschaftsstandorte.
Ich bringe es einmal auf den Punkt: Metropolregionen
können ohne funktionierende ländliche Räume nicht
sein, und gute, funktionierende ländliche Räume können
ohne gut entwickelte, urbane Zentren nicht sein. Beides
gehört zusammen, und deswegen geht es mir in meinem
Haus nicht nur um Stadtentwicklung, sondern ebenso
auch um die ländlichen Räume.
({6})
- Darauf komme ich gleich noch. Wenn Sie meine Interviews aufmerksam lesen würden, dann kämen Sie auf
solche Zwischenrufe gar nicht.
Damit sind wir aber auch schon bei der Infrastrukturpolitik. Hier mache ich gleich eines klar: Ich werde mit
der ideologisch motivierten Bevorzugung einzelner
Verkehrsträger Schluss machen.
({7})
Ich werde keinen einzelnen Verkehrsträger gegenüber
anderen Verkehrsträgern irgendwie benachteiligen.
({8})
- Das heißt, dass wir selbstverständlich versuchen werden, den Frachtverkehr und natürlich auch den Personenverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern.
Zur Politik gehört aber auch Realismus.
({9})
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Nach der Delle, die wir zurzeit durch die Wirtschaftskrise erleben, wird es wieder
zu den entsprechenden Wachstumsraten im Frachtbereich kommen. Wir können schon froh sein, wenn wir
die gesamte zusätzliche Fracht auf die Schiene verlagern
können, sodass sie nicht auch noch auf der Straße transportiert wird; denn eines ist auch klar - das lehrt die jahrelange politische Erfahrung -: Wenn Sie Schienen
bauen oder ausbauen wollen - und seien die Immissionen noch so günstig -, dann stoßen Sie überall auf den
gleichen erbitterten Widerstand der anliegenden Bevölkerung wie dann, wenn Sie Straßen neu oder ausbauen
wollen.
({10})
- Aber es lohnt sich, und deswegen werden wir uns diesen Herausforderungen stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stehen wir
bei den Infrastrukturmaßnahmen in einer gesamtstaatlichen Verantwortung. Mein Ziel ist es, dass die Infrastruktur im Norden so gut ist wie im Süden und im Osten
so gut ist wie im Westen.
({11})
In den neuen Bundesländern haben wir inzwischen einen hervorragenden Ausbauzustand erreicht. Wir sind
stolz darauf, dass alle 17 Verkehrsprojekte „Deutsche
Einheit“ im Bau oder bereits fertiggestellt sind, dass wir
bis Ende 2008 28,5 Milliarden Euro in die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ investiert haben, dass wir
1 800 Kilometer Straßen neu oder ausgebaut haben und
dass 95 Prozent der Straßenprojekte realisiert sind oder
umgesetzt werden.
Wir werden dem weiter bestehenden Bedarf in den
neuen Ländern ohne Abstriche nachkommen und die
noch offenen Projekte mit allem Nachdruck verwirklichen. Ich nenne dazu auch einige Beispiele: die A 72
von Leipzig nach Chemnitz, die A-14-Nordverlängerung
Magdeburg-Schwerin,
({12})
das wichtige Schienenprojekt Nürnberg-Berlin und die
Schienenausbaustrecke Berlin-Dresden-Prag. An all dem
werden wir hart arbeiten.
({13})
Natürlich müssen wir auch die Balance wahren, wenn
wir eine gleiche Entwicklung in den alten und neuen
Bundesländern wollen und wenn wir es hier nicht zu
neuen Brüchen kommen lassen wollen. Alle, die sich in
der Debatte der letzten Tage zu Wort gemeldet haben,
nicht nur aus den Reihen meiner Partei, sondern auch
aus denen der Oppositionsparteien, haben klipp und klar
gesagt: Es war richtig, dass wir für die Investitionen in
den neuen Ländern vieles zurückgestellt haben, was ansonsten in den alten Bundesländern investiert und gebaut
worden wäre. - Aber alle geben auch zu, dass jetzt ein
Nachholbedarf entstanden ist. Ich sage Ihnen klipp und
klar: Ich bekenne mich ausdrücklich zu diesem Nachholbedarf, denn wir können es uns in Deutschland nicht
leisten, auf Dauer in der Fläche Substanz auf Verschleiß
zu fahren.
({14})
Ich bedanke mich deshalb ausdrücklich bei meinem
Kollegen Arnold Vaatz, der gesagt hat: Ich bin voll davon überzeugt, dass Peter Ramsauer damit mit keinem
Wort gesagt hat, dass auch nur ein Projekt infrage steht,
das uns in Ostdeutschland zugesichert wurde. - Lieber
Arnold Vaatz, genau so ist es. So viel dazu.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will in diesem
Amt echte operative Energie- und Umweltpolitik betreiben. Dies passt sehr gut zu den Debatten, die wir am
heutigen Vormittag in den letzten Stunden geführt haben.
Wir wissen, dass wir rund ein Drittel der Energie in
Deutschland für Heizen und Warmwasser verwenden.
Ich setze große Hoffnungen darauf, dass wir im Bereich
Bauen und energetische Gebäudesanierung zu gewaltigen Energieeinsparungen kommen können.
({16})
Wir hätten es uns vor 20 Jahren nicht träumen lassen,
dass wir eines Tages mit einer Entwicklung, die inzwischen Standard ist - ich meine das sogenannte Passivhaus -, den Energieverbrauch beim Heizen auf rund
15 Kilowattstunden pro Quadratmeter Wohnraum im
Jahr herunterschrauben könnten. Das sind großartige
Perspektiven, die ich aus meinem Haus heraus mit allen
Kräften fördern werde.
({17})
Ein weiterer Bereich: Ich werde alles dafür tun, dass
wir alle Potenziale der Elektromobilität ausschöpfen;
auch darüber ist heute gesprochen worden. Wir bauen
heute in Deutschland die besten Autos der Welt. Mein
Ziel ist es, dass wir in Zukunft auch die besten Elektroautos der Welt bauen.
({18})
Ich möchte in diesem Ministerium auch in der
Außenwirtschaftspolitik neue Akzente setzen. Wir wissen, dass Deutschland ein besonders exportorientiertes
Land ist. Dem werde ich aus meinem Haus heraus wesentlich stärker Rechnung tragen, als dies in der VerganBundesminister Dr. Peter Ramsauer
genheit der Fall war. Ich nenne einige Beispiele: Innovative Verkehrstechnologie, Elektromobilität, unser Knowhow in der Logistik und Energieeffizienz, all das bietet
hervorragende Chancen, neue Märkte in aller Welt zu erschließen. Ich jedenfalls werde die deutschen Exportinteressen in diesem Bereich mit allem Nachdruck in der
Welt vertreten.
({19})
Im Übrigen gilt es auch, deutschen Unternehmen auf
den europäischen Märkten durch wirklichen Wettbewerb
Chancengleichheit zu ermöglichen. Ich habe in der letzten Woche das Thema aufgegriffen - da gilt es, nachzuarbeiten -, dass der Wettbewerb, beispielsweise auf der
Schiene, keine Einbahnstraße sein darf, sondern dass
deutsche Unternehmen in der gleichen Weise wie andere
europäische Anbieter bei uns die Netze in anderen Ländern nutzen können. Dies muss auch etwa für die Deutsche Bahn AG auf den Netzen der französischen Bahn
im Bereich der Personenbeförderung möglich sein. Wettbewerb findet immer zweiseitig statt. Die Reziprozität
muss gewahrt werden.
({20})
Weil wir bei der Bahn sind: Eines muss auch klar
sein: Netz und Infrastruktur der Bahn müssen dauerhaft
in der Hand des Bundes bleiben. Ich sage klipp und klar:
Privatisierung ist für mich kein Allheilmittel. Ich sage
ebenfalls klipp und klar: Die Bahn ist in Deutschland
kein x-beliebiges Wirtschaftsgut des Bundes, mit dem
man wie mit einer x-beliebigen Bundesbeteiligung verfahren kann.
({21})
- Ich bedanke mich, dass auch Sie das so sehen. - Die
Bahn hat im Bewusstsein von uns Deutschen eine ganz
besondere, herausragende Bedeutung, der ich auch gerecht werde. Einen Börsengang der Transport- und Logistiksparte werden wir unter strengster Berücksichtigung der Lage auf den Kapitalmärkten prüfen.
({22})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen, der
mir als jemandem, der ein neues Ministeramt übernommen hat, auch sehr wichtig ist. Ich habe in meinem
beruflichen Leben weiß Gott schon sehr viel mit öffentlichen Verwaltungen, öffentlichen Betrieben und öffentlicher Wirtschaft zu tun gehabt. Daher weiß ich, dass kein
öffentlicher Betrieb und keine öffentliche Verwaltung
so gut organisiert ist, als dass man sie nicht noch effektiver und effizienter machen könnte.
Ich greife einen Gedanken des Kollegen Finanzminister Schäuble auf: Bei allem wirtschaftlichen und sparsamen Handeln des Bundes müssen wir uns an vielen Stellen die Bundesverwaltung mit all ihren Gliederungen
sehr genau ansehen. Ich werde mit meinem Haus ein
Beispiel dafür geben, wie man die Strukturen sowohl im
Verwaltungsbereich als auch in den öffentlichen Betrieben effektiver und effizienter gestalten kann.
({23})
Mein Doktorvater, Professor Karl Oettle - er ist letzte
Woche verstorben; Gott hab’ ihn selig -, hat immer
schon mit aller Klarheit auf all diese Dinge hingewiesen.
Ich freue mich, dass ich das anpacken kann. Bei über
60 Unterbehörden gibt es zwar feste Strukturen. Ich bin
aber der Meinung, die Strukturen haben den Menschen
zu dienen statt die Menschen den Strukturen.
({24})
Jeden Euro, den wir nicht in die Verwaltungskosten
hineinpumpen, können wir investieren. Ich sehe mich in
meinem Amt weniger als Verwalter denn als Investierer
in eine gute Zukunft unseres Landes.
Vielen herzlichen Dank.
({25})
Das Wort hat nun Kollege Florian Pronold für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrter Herr Bundesminister, ich gratuliere Ihnen, dass Sie nach 19 Jahren Tätigkeit im Deutschen Bundestag jetzt dieses neue Amt innehaben. Ich
habe mich gerade an ein Buch mit dem Titel Das PeterPrinzip erinnert. Die These dieses Buches ist: Jeder
kommt in seiner beruflichen Entwicklung bis zu der
Stelle, für die er ungeeignet ist, und dort bleibt er dann.
({0})
Ich hoffe, dass das, was in Ihrer Rede angelegt war,
nicht der Beleg dafür ist, was in dem Buch steht. Denn
Sie haben sich hier nur mit Taten gebrüstet, die sozialdemokratische Verkehrsminister zum Beispiel im Aufbau Ost vollbracht haben.
({1})
Sie haben über Zukunftstechnologien gesprochen, die
Sozialdemokraten oder die wir unter Rot-Grün auf den
Weg gebracht haben. Sie haben auch etwas geschafft,
das Sie von allen neu gewählten Bundesministern unterscheidet: Sie haben es geschafft, in den ersten zwei Wochen kein einziges Fettnäpfchen auszulassen.
({2})
Sie haben zum Tag der Deutschen Einheit eine Neiddebatte gegenüber Ostdeutschland vom Zaun gebrochen.
Sie haben die Autobahnmaut für Pkws, deren Einführung angeblich nicht im Koalitionsvertrag steht, wieder
zum Thema gemacht und sind gleich wieder zurückgerudert. Sie haben den Prozess, der - auch unter der Großen
Koalition - beim Donau-Ausbau eingeleitet wurde,
durch Ihre Aussagen konterkariert. Der kürzeste Abstand von einem Fettnäpfchen zum nächsten wird in Zukunft wohl ein Ramsauer sein.
({3})
Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen und
Ihre Fähigkeit des Zuhörens weiterhin unterentwickelt
bleibt, dann entsprechen Sie genau dem, was in dem
Buch Das Peter-Prinzip beschrieben wird.
({4})
Wir müssen uns das Ost-West-Verhältnis genau anschauen. Ich finde, hier darf man die Solidarität auf beiden Seiten nicht durch eine vom Zaun gebrochene Neiddebatte gegeneinander ausspielen.
({5})
Es ist richtig - das hat schon Wolfgang Tiefensee gesagt -,
dass sich die Infrastrukturpolitik danach richten muss,
wo der größte Bedarf besteht. Das ist nichts Neues.
Wenn Sie sich anschauen, wie die Mittel in den beiden
Konjunkturpaketen verteilt werden, dann werden Sie
feststellen, dass der Süden im Verhältnis zum Osten über
die Maße profitiert.
({6})
Sie müssen die Fakten zur Kenntnis nehmen und sollten
nicht versuchen, anhand von Geglaubtem und Gefühltem Zwiespalt in der Gesellschaft zu säen.
({7})
Die entscheidende Frage wird sein: Was machen Sie
denn, wenn nicht genügend Geld im Investitionshaushalt
zur Verfügung steht? Wenn die Decke zu kurz ist, ist es
egal, in welche Richtung man sie zieht. Es wird immer
jemand frieren. Wenn man Steuersenkungen zugunsten
der Besserverdienenden vornimmt, dann wird weniger
Geld für den Straßen- und Schienenausbau und andere
Verkehrsträger sowie den wichtigen Bereich Bau und
Stadtentwicklung zur Verfügung stehen.
({8})
- Das ist so.
Es gibt noch eine weitere spannende Frage. Jedes
Jahr, zumindest in jedem Sommerloch, wurde die PkwMaut vonseiten der CDU/CSU zum Thema gemacht.
Herr Scheuer, der nun auf der Regierungsbank sitzt, hat
in den letzten Jahren verdienstvollerweise fast jede Ausgabe der Passauer Neuen Presse mit dem Thema Autobahnmaut gefüllt. Nun stellt sich die spannende Frage:
Was machen Sie? Die Kanzlerin sagt Nein. Aus Baden-Württemberg hört man Ja. Im Koalitionsvertrag
steht sicherheitshalber nichts dazu, auch nicht, dass man
eine Arbeitsgruppe einsetzen will. Aber nun soll es doch
eine Arbeitsgruppe geben. Was wollen Sie denn? Sie von
der CSU, die Sie die Ersten waren, die die Pendlerpauschale kürzen wollten, haben doch erlebt, welche Ergebnisse es zeitigt, wenn man als Raubritter Ramsauer unterwegs ist und denen, die lange Wege zur Arbeit haben,
in die Tasche langen will. Nichts anderes stellt die Autobahnmaut für Pkws dar, über deren Einführung Sie diskutieren.
({9})
Es wäre schön, wenn Sie nun klar sagten, ob Sie eine
Pkw-Maut einführen wollen oder nicht. Das ist eine
wirklich spannende Frage. Hier wird deutlich, dass Geld,
das man durch Steuersenkungen woanders hingibt, für
einen vernünftigen Ausbau der Infrastruktur - auch im
Straßenbereich - fehlt.
Schauen Sie sich an, wie unter sozialdemokratischer
Regierungsbeteiligung die Investitionen im Bereich
Straße gerade im Süden und insbesondere in Bayern im
Vergleich zu dem, was vorher war, angewachsen sind.
Sie sagen: Obwohl der Süden wesentlich mehr bekommt, wird dem Osten nichts weggenommen. Daran
werden wir Sie messen. Ich bin gespannt, wie Sie das
machen. Ich würde mich freuen, wenn Sie Ihre eigene
Messlatte erreichten. Wenn tatsächlich überall mehr gemacht würde, wäre das schön. Aber ich glaube, hier verhält es sich wie mit Ihrer Rede: nur heiße Luft.
({10})
Es ist spannend, wenn man ab und zu einmal Lokalzeitungen liest. Das Trostberger Tagblatt schrieb am
26. Oktober dieses Jahres: „Voller Einsatz für Region“.
Dazu gibt es ein hübsches Bild von dem neuen Bundesverkehrsminister. Ich habe durchaus Verständnis für die
Probleme - ich habe schon viele bildungspolitische Debatten verfolgt -, die es in der frühkindlichen Erziehung
gibt. Ich habe gesehen, dass Stoiber und Huber als Kinder offensichtlich nie eine Eisenbahn hatten. Deswegen
kamen sie auf den Gedanken mit dem Transrapid. Jetzt
haben wir festgestellt, dass es dafür in Deutschland
keine vernünftige Strecke gibt und dass der Transrapid
nicht finanzierbar ist, obwohl die Technologie gut ist.
Nun lese ich am 26. Oktober 2009 von Peter Ramsauer:
Ich habe vor zwei Jahren bei der Beerdigung der
Transrapid-Pläne schon gesagt, dass hier das letzte
Wort noch nicht gesprochen ist …
({11})
Ich frage mich, wie man aus diesem Haushalt auch
noch Mittel für den Transrapid bekommen soll. Herr
Ramsauer, ich bin wirklich überrascht, auf welche Gedanken Sie insgesamt kommen.
({12})
- Aber das heißt noch nichts. Das ist ein guter Zwischenruf, aber ich befürchte, wenn ich mir den Koalitionsvertrag anschaue, ist darin nichts aufgeschrieben, was wirklich gemacht werden soll. Das ist ein Beispiel von
Ideenlosigkeit und hat nichts mit dem Mut zu tun, den
man braucht und den Sie hier angesprochen haben, um
wirklich etwas nach vorne zu bringen.
In dem Kanzlerduell wurde die schwarz-gelbe Koalition als Tigerentenkoalition bezeichnet. Mir ist jetzt,
auch wieder nach dieser Rede heute, klar geworden: Da
sind welche als Tiger gestartet und als lahme Ente gelandet.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat nun Kollege Patrick Döring für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Geschätzter Herr Bundesminister Ramsauer, zunächst einmal neben den Gratulationen zu dem neuen Amt nicht
nur allerbeste Wünsche, sondern auch die Unterstützung
der FDP-Fraktion, des Koalitionspartners. Ich persönlich
und wir alle freuen uns auf die Zusammenarbeit.
({0})
Sehr geehrter, geschätzter Kollege Pronold, vielleicht
war es in Ihren Koalitionen so, dass man das, was man
tun wollte, nicht in Koalitionsverträge geschrieben hat.
Für uns als FDP gilt: Wir tun, was wir sagen, und wir sagen, was wir tun. Das gilt für den Koalitionsvertrag, und
das gilt auch für die nächsten vier Jahre.
({1})
Sie haben sich bemüht, das Prinzip von Laurence Peter
und Raymond Hull hier richtig darzustellen. Wenn Sie
das Buch zu Ende gelesen hätten,
({2})
dann wüssten Sie, dass es eine Fortentwicklung des
Peter-Prinzips gibt, nämlich das Dilbert-Prinzip. Das bedeutet, dass der ineffizienteste Facharbeiter einer Organisationseinheit immer ins Management versetzt werden
muss, weil er da am wenigsten Schaden für die Produktion anrichtet. Das ist übrigens in der DDR vorzüglich
praktiziert worden. Ganz offenbar werden so auch die
stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD ausgewählt.
({3})
Deshalb gehe ich ganz gelassen, ganz ruhig und entspannt zurück zu dem, was uns bei der Infrastruktur-, Investitions- und Verkehrspolitik der nächsten vier Jahre
bewegt.
Wir wollen - das hat Herr Ramsauer angesprochen,
und das ist der ausdrückliche Wunsch auch der Freien
Demokraten - ordnungspolitisch klare, saubere und eindeutige Strukturen neu in die Verkehrspolitik einziehen.
Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, dass wir,
nachdem wir seinerzeit mit einer rot-grünen Regierung
und auch mit Unterstützung von Christdemokraten und
Freien Demokraten im Bundesrat eine Maut für den
schweren Lkw eingeführt haben, nun endlich dazu kommen, dass die Mittel, die von diesem Gewerbe aufgebracht werden, auch eins zu eins für die Straßeninfrastruktur zur Verfügung stehen. Das ist eine Frage der
Fairness, eine Frage der Klarheit.
({4})
Wir haben dieses Prinzip, geschätzter Herr
Beckmeyer, genauso auf das System Schiene übertragen
und wollen, dass auch hier die Trassenentgelte und
Bundesmittel eindeutig und ausschließlich für die Finanzierung der Infrastruktur zur Verfügung stehen und es
nicht mehr dazu kommt, dass staatliche Mittel zum Erwerb von Transportunternehmen in Rotchina zweckentfremdet werden.
({5})
Deshalb, glaube ich, kann man, wenn man sich dem
Thema sachlich und unemotional zuwendet, überhaupt
nichts dagegen haben, dass wir als Haushaltsgesetzgeber
und die Bundesrepublik Deutschland als Eigentümer des
Unternehmens Wert darauf legen, dass transparent nachgewiesen wird, dass die Mittel, die der Haushaltsgesetzgeber zur Verfügung stellt, dafür ausgegeben werden,
wofür wir als deutsche Verkehrspolitiker und als Eigentümer diese Mittel bewilligt haben. Wer etwas dagegen
hat, der geht doch davon aus, dass die Mittel anders verwendet werden, als wir es wollen.
({6})
Diese Strukturfragen stehen im Mittelpunkt der Verkehrspolitik, die wir machen wollen. Am Ende bekommen wir damit Strukturen, die klar und transparent sind,
übrigens für diejenigen, für die wir das alles machen,
nämlich die Nutzerinnen und Nutzer unserer Verkehrsmittel.
Lassen Sie mich sagen, dass wir natürlich nicht nur
den Infrastrukturteil intensiv beraten haben. Darüber hinaus haben wir mit diesem Koalitionsvertrag - das
werde ich hier bei anderer Gelegenheit ausführlicher
darstellen können - für den Lärmschutz an der Schiene
und an der Straße mehr erreicht als Sie seit 1998 in Regierungsverantwortung.
({7})
Wir wollen den Schienenbonus reduzieren. Wir wollen
andere Lärmschutzgrenzen an der Straße. Das ist
schwarz-gelbe Politik. Dergleichen hat weder Rot-Grün
noch die Große Koalition je vertreten.
({8})
Das muss man anerkennen. Ich sage Ihnen: Damit bekommen wir auch Akzeptanz für mehr Verkehr auf den
Verkehrswegen.
Wir haben an diesem Punkt bewiesen, dass es uns gemeinsam möglich ist, mehr Investitionen in die Infrastruktur zu realisieren und gleichzeitig den Bedürfnissen
der Bürgerinnen und Bürger, die den Belastungen an diesen Verkehrswegen ausgesetzt sind, gerecht zu werden.
Das ist uns gelungen. Gemeinsam mit dem Ministerium
werden wir in diesem Bereich hart arbeiten.
({9})
- Sehr geschätzter Kollege Hermann, ich bedanke mich
sehr für den Zwischenruf. Sie selbst haben Koalitionsverhandlungen schon einmal mitmachen dürfen. Koalitionsverhandlungen mit den Grünen werden nicht mehr
so oft stattfinden, aber gut. Es macht doch Sinn, dazu ein
parlamentarisches Verfahren, etwa Anhörungen, durchzuführen, um zu erfahren, wie wir Entlastungen bei den
Bürgerinnen und Bürgern realisieren können.
({10})
Wir haben uns dazu bekannt, dass wir das machen wollen. Sie werden sehen: Die entsprechenden Initiativen
werden kommen.
Lassen Sie mich ausdrücklich die anderen Verkehrsträger ansprechen, die ebenfalls wichtig sind: der Luftverkehr und der gesamte Bereich Wasserstraße. Wir haben beim Luftverkehr endlich deutlich gemacht - das
war uns als Freien Demokraten in dieser Koalition wichtig -, dass die Belange des Lärmschutzes gleichgewichtig sind mit den Belangen der wirtschaftlichen Interessen
der Unternehmen. Wir brauchen ein Bekenntnis zu Betriebszeiten in der Nacht an deutschen Flughäfen. Wir
sind eine exportorientierte Volkswirtschaft, und wir werden es nicht schaffen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu meistern, wenn die deutschen Flughäfen ab
22 Uhr schließen. Deshalb halte ich es für richtig, dass
wir im Koalitionsvertrag klar zum Ausdruck gebracht
haben, dass wir das Gesetz an dieser Stelle ändern wollen. So geht der von Ihnen eben erhobene Vorwurf ins
Leere, wir versuchten, die Leute hinters Licht zu führen.
Wir haben gesagt: Wir wollen das, und wir werden das
tun. Dafür kann man uns an einigen Punkten seriöserweise kritisieren. Ich halte es aber volkswirtschaftlich
und verkehrspolitisch für sinnvoll, dass wir diesen
Schritt gehen.
({11})
Zum Thema Wasserstraße - da sind wir wieder bei
der Exportorientierung - sage ich Ihnen eindeutig: Wir
wollen auf dem Gebiet Hafenhinterlandverkehre die Effizienzen im Güterverkehr steigern. Die Container, die in
Hamburg, Bremen, Bremerhaven und alsbald auch in
Wilhelmshaven ankommen, sollen verstärkt über die
Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße weiterbefördert werden. Wir haben mittlerweile ein Konzept entwickelt, auch die nichtbundeseigene Schieneninfrastruktur so zu stärken, dass wir dort zusätzliche
Güterverkehre abwickeln können. Auch das ist etwas,
was wir und nicht Sie, geschätzte Kolleginnen und Kollegen von Rot und Grün, auf den Weg bringen.
({12})
Geschätzter Herr Bundesminister, ich will für die
Freien Demokraten ganz ausdrücklich festhalten: Wir
halten es nach wie vor für lohnenswert, darüber zu diskutieren, ob es ordnungspolitisch und volkswirtschaftlich vernünftig ist, dass das bundeseigene Unternehmen
DB AG der größte Spediteur auf der Straße und das
größte Busunternehmen in Deutschland ist.
({13})
Diese Diskussion werden wir weiter führen.
({14})
Ich sage Ihnen voraus: Für den Fall, dass Eigenkapitalbedarf im Unternehmen ist, wird wahrscheinlich nicht
die Schatulle des Bundesfinanzministers aufgehen, sondern dann wird man darüber diskutieren müssen, wie
man Unternehmensteile ertragsoptimiert im Markt platziert, um die Eigenkapitalbasis des Unternehmens zu
stärken. Wir wollen eine starke Eisenbahn in Deutschland. Aber dafür brauchen wir keine Busverkehre und
keine Güterverkehre in anderen Ländern der Welt.
({15})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor Sie
sich ereifern und vor Ihrem geistigen Auge schon die roten Fahnen am Potsdamer Platz sehen, lassen Sie mich
sagen: Wir haben uns zum Konzernverbund und zum
konzerninternen Arbeitsmarkt bekannt. Wir als Freie
Demokraten haben an der Stelle einen großen Schritt auf
die Union zu gemacht; denn wir bleiben dabei, dass Netz
und Betrieb eigentlich getrennt sein müssten. Das Vertragsverletzungsverfahren, das die Europäische Union in
dieser Frage zurzeit gegen die Bundesrepublik Deutschland anstrengt, stellt für uns eine Herausforderung dar.
Wir werden im Zuge dessen zu Entherrschungen kommen müssen. Ich sage Ihnen voraus: All das wird so passieren, dass den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dadurch keine Nachteile entstehen werden. So einfach ist
das.
({16})
Lassen Sie mich zu den Bereichen Immobilienwirtschaft, Wohnen und Stadtentwicklung kommen. Auch
hier werden wir einige Akzentverschiebungen vornehmen müssen. Ich glaube, es ist sehr vernünftig, dass wir
beim Thema energetische Sanierung - das war ja auch
in der Debatte zuvor Thema - gemeinsam mit unseren
Kollegen aus dem Rechtsausschuss die Investitionshemmnisse, die es in diesem Bereich insbesondere aufgrund der Regelungen im Mietrecht gibt, beseitigen, damit die Bürgerinnen und Bürger, die Immobilien haben,
es leichter haben, im Sinne ihrer Mieter die Investitionen
zu tätigen, die nötig sind, um gute bis exzellente Emissionswerte der Wohnungen herzustellen. Das ist etwas,
was auch keine Haushaltsmittel verschlingt. Hier müssen wir zunächst einmal unser Recht so anpassen, dass
auch die Immobilienwirtschaft ihren Herausforderungen
im Klimaschutz gerecht werden kann. Das wollen wir
tun. Da muss auch kein Mieter in Deutschland Sorge haben, dass er benachteiligt wird. Im Gegenteil; denn am
Ende kommen die geringeren Heizkosten ausschließlich
den Mietern zugute. Deshalb müssen entsprechende Investitionen schnell und zügig auf den Weg gebracht werden. Dazu brauchen wir Änderungen im Mietrecht. Auch
das werden wir schnellstmöglich anpacken.
({17})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich will verstärken, was der Bundesverkehrsminister angesprochen
hat: Wir haben sehr wohl den Plan, bei der Luftverkehrsverwaltung, aber zum Beispiel auch bei der Liegenschaftsverwaltung des Bundes stärkere marktwirtschaftliche Strukturen einzuziehen. Es gibt überhaupt
keinen Grund, dass der Bund sein großes Immobilienvermögen immer noch in althergebrachten Verwaltungsstrukturen verwaltet. Kein Eigentümer geht so schlecht
mit seinem Eigentum um wie die Bundesrepublik
Deutschland mit ihrem Immobilienvermögen. Deshalb
halte ich es für richtig, hier marktwirtschaftliche Strukturen einzuziehen.
({18})
So können wir einerseits Immobilien schnell sanieren,
andererseits aber Immobilien, die wir nicht mehr benötigen, zugunsten des Bundeshaushaltes, am besten zugunsten des Einzelplans 12, verwerten. Auch das ist ein
wichtiges Vorhaben, das wir auf den Weg bringen wollen.
({19})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich freue
mich auf die gemeinsame Arbeit im Ausschuss. Ich
freue mich auf die spannenden Diskussionen mit den
Kolleginnen und Kollegen auch der Opposition. Die
Verkehrspolitik ist - das ist ja das Schöne - überwiegend
unideologisch, wie wir gerade an der Debatte gemerkt
haben.
({20})
Ich glaube, dass die wenigen Abgeordneten der Opposition, die noch ein Direktmandat gewonnen haben, großes
Interesse daran haben, dass auch in ihren Wahlkreisen
weiterhin investiert wird.
Vielen Dank.
({21})
Das Wort hat nun Kollegin Heidrun Bluhm für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Gäste! Vorbei sind also die Zeiten, als mehr
als zwei Drittel aller Abgeordneten den Worten der
Kanzlerin reglos bis halbschlafend folgten - so sagte es
zumindest gestern Abend der Kommentator der Tagesthemen, Rainald Becker. Und in der Tat, es ist heute, wie
wir merken, anders. Die Regierung muss sich warm anziehen;
({0})
denn sie hat es jetzt nicht nur mit einer stärkeren Opposition zu tun, die ihr auf die Finger schaut, sondern wir
- und damit meine ich nicht weniger als die Fraktion Die
Linke - werden ihre schwarz-gelbe Politik mit Argusaugen verfolgen. Wir werden vor allem immer dann laut
werden, wenn es um den Schutz der Interessen der
Mehrheit der Menschen in diesem Lande geht,
({1})
zum Beispiel wenn es um den Schutz der Interessen von
Mieterinnen und Mietern geht - das ist eine Kampfansage an Herrn Döring und seinen Vortrag von eben -,
wenn es um den Einsatz von Investitionen in Straße und
Schiene geht
({2})
- ich weiß, das hält er aus; das muss er auch aushalten -,
wenn es um den Stadtumbau geht, und vor allen Dingen
dann - zu diesem Thema ist bisher noch gar nichts
gesagt worden -, wenn es um das Thema Altschuldenproblematik geht.
Zum Bundesverkehrswegeplan. Ja, auch die Linke
will schon seit langem die Überarbeitung dieses Planes.
Im Ausschuss haben wir in der vergangenen Legislatur
immer wieder vorgeschlagen, Änderungen vorzunehmen, aber nicht der Art, wie sie der Herr Minister heute
hier vorschlägt. Natürlich sind die Investitionen falsch
verteilt, aber nicht falsch verteilt zwischen den neuen
und den alten Bundesländern, sondern falsch verteilt
zwischen Neubau und Instandhaltung.
Um es ganz klar und deutlich zu sagen: Das Ungleichgewicht liegt darin begründet, dass viel zu viele Straßenbauprojekte Natur, Umwelt und die an den Straßen
wohnenden Menschen belasten. Die Wegebeziehungen
müssen sinnvoll genutzt werden, und vor allem müssen
wir ausreichende Lärmschutzmaßnahmen realisieren.
({3})
Der richtige Weg in die Zukunft wäre es, endlich den
Personen- und Güterverkehr auf der Schiene zu bevorzugen als den Straßenneubau. Die Schiene muss Vorrang
vor der Straße haben.
({4})
Zum Thema „Wohnen und Miete“. Der Koalitionsvertrag ist nicht einfach eine politische Absichtserklärung, sondern in Wahrheit eine Kampfansage an die
Mieterinnen und Mieter. Einseitig sollen die Rechte der
Vermieter gegenüber den Rechten der Mieter ausgebaut
werden. Daraus resultiert eine zunehmende Konfrontation auf dem Wohnungsmarkt, und zwar nicht nur zwischen Mietern und Vermietern, sondern auch innerhalb
der Gruppe der Vermieter, nämlich zwischen den kleineren Vermietern und denjenigen, die als Investitions- und
Immobiliengesellschaften auf dem Markt agieren. Diese
Gesellschaften stehen ihren Mietern nur sehr entfernt
und unpersönlich gegenüber und freuen sich über jede
verbesserte Möglichkeit, Mieter schneller loszuwerden
als bisher. Das wollen Sie unterstützen.
({5})
Beweis der sich verschärfenden Auseinandersetzungen
ist zum Beispiel die zunehmende Zahl der Petitionen von
betroffenen Mieterinnen und Mietern an den Deutschen
Bundestag, die dezidiert das Verhalten unpersönlicher
Vermieter erläutern.
({6})
- Genau! Herzlichen Dank, Herr Kauder, für dieses
Stichwort. Sie wollen mit Mietnomaden den gesamten
Mietmarkt bereinigen und ihn auf Ihre Weise entsprechend reduzieren.
({7})
38 Millionen Mietwohnungen stehen 0,02 Prozent Mietnomaden gegenüber. Das ist doch keine Verhältnismäßigkeit, Herr Kauder.
({8})
Aber zu den 250 000 Wohnungslosen sagen dieser
Koalitionsvertrag und die Regierung gar nichts.
({9})
Ich glaube, auch hier sind die Prioritäten völlig falsch
gesetzt.
({10})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die notwendige
energetische Sanierung nicht mit den Mietern erfolgt,
sondern gegen sie. Nur wenn es uns gelingt, mit den
Mietern gemeinsam die notwendigen Sanierungsmaßnahmen zu organisieren, und zwar nicht durch eine Veränderung des Mietrechts, sondern durch Zusammenarbeit, wird hier ein Erfolg zu erzielen sein. Nur dann
können wir unsere klimapolitischen Ziele umsetzen.
({11})
Die Linke fordert, statt das Mietrecht einzuschränken,
das Wohnrecht als ein Menschenrecht anzusehen
({12})
und die Wohnung als das zu betrachten, was sie im Zentrum sozialer Sicherheit und Menschenwürde ist, nämlich kein Wirtschaftsgut, sondern ein soziales Gut. So
sieht es jedenfalls die Linke. Das werden wir mit unserer
Politik weiter befördern.
({13})
Zum Stadtumbau Ost noch eine kurze Bemerkung.
Der Stadtumbau Ost soll selbstverständlich fortgesetzt
werden. Auch Herr Ramsauer hat das heute hier angekündigt. Allerdings hängt der Gesamterfolg dieses Programms ganz entscheidend von einer klugen Lösung der
Altschuldenproblematik ab.
({14})
Ich würde mir wünschen, dass uns gemeinsam etwas
einfällt, um die ostdeutsche Wohnungswirtschaft zu unterstützen.
Lieber Herr Minister, wenn Sie die Stärkung der ländlichen Räume ankündigen, dann sind wir ganz an Ihrer
Seite, aber nach dem Motto: Stadt und Land Hand in
Hand.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat nun Kollege Winfried Hermann, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Herr Minister hat in einem Interview ganz
stolz gesagt, dass er sich freue, dass er das größte Investitionsministerium in dieser Regierung habe. In der Tat
werden in diesem Ministerium große Milliardensummen
ausgegeben. Hier wird entschieden, wo und wie
Deutschland Zukunft gewinnt. Hier wird entschieden, ob
wir eine zukunftsfähige Infrastruktur bekommen oder ob
wir in Vergangenheit, in Asphalt und Beton, investieren.
Das ist die entscheidende Frage.
Herr Kollege Ramsauer, wenn Sie in Ihrem Ministerium mit Ihren feschen jungen Staatssekretären
({0})
als Kompass die Zukunftsfähigkeit im Auge haben und
entsprechende Politik machen, dann haben Sie unsere
Unterstützung. Wenn Sie allerdings den tollkühnen Mut
zur Rolle rückwärts in die 90er-Jahre haben, von ideologiefreier Politik sprechen und eigentlich die Ideologie
des Straßenbaus meinen, dann werden wir Sie ordentlich
auf Trab bringen und jung und frisch halten.
({1})
Man kann mit diesem Ministerium Zukunft gewinnen
oder sie verbauen. Die Bundeskanzlerin hat gestern, wie
ich finde, in größerer Klarheit als im Koalitionsvertrag
selbst gesagt, es gebe fünf große Aufgaben, die die neue
Regierung bewältigen muss. Unter anderem sind das die
Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Bewältigung des demografischen Wandels sowie die Bewältigung der Herausforderungen beim Ressourcen- und
Klimaschutz. Diese drei von den fünf Punkten sind für
das Verkehrsministerium relevant. In diesen Bereichen
hat das Ministerium große Verantwortung und große
Möglichkeiten. Deswegen ist es angemessen, dass man
sich einmal anschaut, was der Minister dazu gesagt hat
und was dazu im Koalitionsvertrag steht.
Nehmen wir die Herausforderung „Klimaschutz und
Ressourcenschutz“. Im einleitenden Abschnitt des
Koalitionsvertrags beim Kapitel „Bauen und Wohnen“
wird erwähnt, wie wichtig Integration, sozialer Zusammenhalt und Ressourcenschutz sind. Wir haben heute
gehört, dass der Minister ganz entzückt ist, was alles
möglich ist an Energiesparmaßnahmen im Bereich
Hausbau. Wir haben gehört, dass er große Hoffnung hat,
dass der Energieverbrauch hier deutlich reduziert wird.
Aber Herr Minister, Hoffen und Freuen werden nicht reichen. Man braucht eine Strategie für den Klimaschutz
wie Bausanierung und entsprechende Maßnahmen im
Bereich des Städtebaus. Das fehlt in diesem Koalitionsvertrag komplett.
({2})
In diesem Koalitionsvertrag steht viel Klein-Klein. Es
beginnt mit Klimaschutz und geht gleich weiter mit
Denkmalschutz, Bauplanungsrecht, Wohnungseigentum
und Bauvertragsrecht. Aber es ist keine Linie erkennbar,
wie man in diesem Bereich, in dem man für den Klimaschutz wirklich viel tun kann, weiter vorankommen will.
Es handelt sich um unverbindliche Zielvorgaben. Aber
Instrumente werden nicht genannt. Wo ist das Energieeffizienzgesetz, um Energie zu sparen? Wo ist das Gesetz für die Weiterentwicklung der Nutzung erneuerbarer
Energien im Wärmebereich mit Blick auf den Gebäudebestand? Damit könnte man den hohen Energieverbrauch senken. Wo ist eine ambitionierte Wärmeschutzverordnung, um auch im Altbaubereich in den nächsten
Jahren Energie einzusparen? Überall Fehlanzeige!
({3})
Man kann viel über Zukunft reden, aber sie gleichzeitig verspielen. Nehmen wir zum Beispiel den Bereich
Verkehr. Ein Viertel bis ein Fünftel der Treibhausgasemissionen hat ihre Ursache in diesem Bereich. Er
kommt daher direkt nach dem Energiesektor. Wenn man
also etwas für den Klimaschutz tun will, dann muss man
eine Strategie haben, wie der Energieverbrauch im Verkehrssektor gesenkt werden kann, wie man die Energie
effizienter nutzen kann und wie man zu einer besseren
Vernetzung der Verkehrsträger kommen kann. Die Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger ist unglaublich wichtig. Ich frage daher: Wo wird vernetzt? Wo sind
die Vorschläge und Konzepte für eine bessere Vernetzung?
Ich nenne in diesem Zusammenhang den kombinierten Verkehr, also die bessere Vernetzung von Straße und
Schiene. Dazu gehört die Verlagerung des Verkehrs von
der Straße auf die Schiene. Da ist bei Ihnen Fehlanzeige!
Ich nenne ein weiteres Beispiel. Die Bundeskanzlerin
hat gesagt, es sei ganz wichtig, dass man auch im Verkehrsbereich die Ressourcen schützt. Aber warum steht
in Ihrem Koalitionsvertrag für den Verkehrsbereich
nichts zum Thema Klimaschutz mit Ausnahme der Nutzfahrzeughersteller? Da heißt es, dass Sie dafür sorgen
wollen, dass die ohnehin schon gebeutelten Nutzfahrzeughersteller durch Klimaschutzforderungen nicht
überfordert werden.
({4})
Wenn Sie überhaupt an Klimaschutz denken, dann
denken Sie an den Schutz der Wirtschaft vor der Klimaschutzpolitik, an den Schutz der Autos vor den großen
Maßnahmen, die Sie vor sich herschieben. So werden
Sie die Zukunft nicht gewinnen.
({5})
Wenn man ambitioniert die Ressourcen schützen will,
dann muss man an die Grenzwerte heran. Man muss sie
absenken, damit eine effiziente Motortechnologie gefördert wird. Davor schrecken Sie zurück, da Sie zu nah an
Ihrer Klientel, der Wirtschaft, sind.
({6})
Wenn man keine zukunftsfähigen Perspektiven hat, dann
muss man so handeln wie Sie.
Herr Kauder, Arbeitnehmer und Arbeitsplätze. Damit
bin ich beim Leitmarkt Elektromobilität. Den bezeichnen Sie als Zukunftsprojekt. Da haben Sie voll und ganz
unsere Unterstützung.
({7})
Aber auch hier muss man sagen: Der Leitmarkt Elektromobilität entwickelt sich im Moment in Japan und in
Frankreich. Es ist wahr, dass die Deutschen die schnellsten Autos bauen, aber nicht mehr die besten. Wir hinken
in Sachen Elektromobilität schon hinterher. Wenn wir
wollen, dass dort ein Leitmarkt entsteht, dass dort Arbeitsplätze erhalten oder sogar neue geschaffen werden,
dann muss man dafür ein Förderprogramm, ein Marktanreizprogramm auflegen, damit es überhaupt vorangeht.
Ansonsten hinken wir hinterher. Es sind nur große Floskeln, wenn wir hier im Bundestag hören, dass dies ein
Leitmarkt ist. Wir werden ziemlich schnell nur noch hinterhertraben, wenn wir da nicht mehr tun.
({8})
Wir vermissen eine Gesamtkonzeption im Verkehrsbereich. Es ist nicht damit getan, dass man ideologisch
gegen die Bahn schimpft nach dem Motto: immer überfordert. Dieser umwelt- und klimafreundliche Verkehrsträger ist vielmehr seit Jahrzehnten vernachlässigt worden. Man hat nicht richtig investiert. Man hat das Geld
für Großprojekte verschwendet.
({9})
Man macht damit weiter. Dies nützt dem Schienenverkehr im ländlichen Raum nichts.
({10})
Zu den Zuwächsen auf der Schiene im Bereich des
Güterverkehrs. Wir haben uns im Infrastrukturausschuss
darüber verständigt, dass es in den nächsten Jahren absolut notwendig ist, den Hafenhinterlandverkehr zu entwickeln, im Hinblick auf das Netz auf kleinere Projekte zu
setzen und den Güterverkehr auf die Schiene zu verlagern.
({11})
Wo steht in Ihrem Koalitionsvertrag und wo kommt in
Ihren Reden ein Konzept dazu vor? Da ist nichts, aber
auch gar nichts vorhanden - Fehlanzeige.
({12})
Stattdessen versucht sich der neue Minister mit
Schlagzeilen. Jetzt hat er die Kompetenz für den Aufbau
Ost verloren. Aber, Herr Minister, es ist nicht so, dass Ihr
Ministerium „Aufbau Südost“ heißt. Sie sind kein Aufbau-Südost-Minister, kein Aufbau-West-Minister und
auch kein Straßenbauminister, sondern Sie sind für alle
Verkehrsträger, für ein Gesamtkonzept für ganz Deutschland zuständig.
({13})
Das ist die Leitlinie; daran werden wir Sie messen. Das
ist Ihre Aufgabe; das müssen Sie leisten.
({14})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich muss
zum Schluss kommen. Herr Minister und Kollegen
Staatssekretäre, Sie werden uns auf Ihrer Seite finden,
wenn Sie wirklich um eine zukunftsfähige Infrastruktur
kämpfen. Wenn Sie für den Klimaschutz und für die Anpassung der Infrastrukturinvestitionen an den demografischen Wandel sind, dann haben Sie uns auf Ihrer Seite.
Wenn Sie aber meinen, Sie müssten in die 90er-, 80erund 70er-Jahre zurück, in denen man geglaubt hat, mehr
Infrastruktur und mehr Straßen würden die Verkehrsprobleme lösen, dann sind Sie als Minister fehl am Platze.
Wir werden alles tun, eine solche Politik zu bekämpfen,
und werden dies zu verhindern wissen.
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Leistungsfähige Infrastruktur und Mobilität sind
Grundlage für unsere persönliche Freiheit und Voraussetzung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft. Die neue Regierungskoalition will
sich diesen Zielen mit einer effizienten Verkehrspolitik
für heute und morgen zuwenden und dies sichern. Aber
wir wissen auch, dass Mobilität für unsere Menschen im
Lande bezahlbar bleiben muss.
Investitionsentscheidungen sollten eigentlich nach
vorrangigem Bedarf, ermittelt aus einem Nutzen-KostenVerhältnis nachvollziehbarerer Kriterien, getroffen werden. Aber selbstverständlich war es auch richtig, dass die
deutsche Einheit und die Osterweiterung der EU zu veränderten Schwerpunkten im Infrastrukturausbau geführt haben. Dies muss - das hat der Bundesminister
deutlich gesagt - zu einem guten Ende geführt werden.
Deswegen steht in der Koalitionsvereinbarung, dass wir
uns bemühen wollen, die VDE-Projekte Straße bis 2010
und die VDE-Projekte Schiene bis 2017 fertigzustellen.
({0})
Wenn diese vorrangigen Projekte abgeschlossen sind,
müssen wieder normale Verhältnisse einkehren und müssen diejenigen, die haben zurückstehen müssen, sowohl
bei Neu- und Ausbau als auch bei Unterhalt und Erneuerung der Infrastruktur wieder besser berücksichtigt werden.
Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sind vorangekommen, aber noch immer hinter dem vom Gesetzgeber festgelegten Bedarf zurückgeblieben. Das
kann auf Dauer natürlich nicht befriedigen. Wir haben
keine Probleme bei der Feststellung des prioritären Bedarfs; aber wir haben erhebliche Probleme bei der Finanzierung und Umsetzung dessen, was der Gesetzgeber beschlossen hat. Wir müssen uns schrittweise einer Lösung
nähern, und wir wollen dazu auch die Verkehrsinfrastrukturgesellschaft weiterentwickeln. Wir wollen die
Haushaltsabhängigkeit von Verkehrsinvestitionen reduzieren, und wir wollen eine mehrjährige Planungs- und
Finanzierungssicherheit für Investitionsprojekte.
({1})
Herr Kollege Döring hat ja dazu das Notwendige gesagt. Wir sind davon überzeugt, dass nur verkehrsträgerbezogene Finanzierungskreisläufe die notwendige
Transparenz im Hinblick auf die einzelnen Kostendeckungsgrade und damit auch die Glaubwürdigkeit einer
Nutzerfinanzierung schaffen. Machten wir dies nicht,
Dirk Fischer ({2})
nähme die Glaubwürdigkeit schweren Schaden. Deswegen müssen wir uns dort verstärkt bemühen.
Wir haben klar entschieden, dass es in dieser Legislaturperiode eine Erhöhung der Lkw-Maut nicht geben
wird. Dies ist ein Belastungsmoratorium für das Gewerbe, das in diesem Jahr durch die Finanz- und Wirtschaftskrise hart gebeutelt ist und sich erst einmal wieder
freikämpfen muss, zumal es dort viele bedauerliche Insolvenzfälle gibt. Da das Transportgewerbe erst einmal
die Mauterhöhung verkraften muss, die zum 1. Januar
2009 in Kraft trat, ist es, glaube ich, richtig, dass wir an
der Lkw-Maut-Front jetzt Ruhe eintreten lassen.
({3})
Eine Pkw-Maut ist im Koalitionsvertrag nicht vereinbart worden und steht daher nicht auf der Agenda dieser Koalition. Also halte ich fest: Alle öffentliche Aufregung darum war völlig umsonst.
({4})
- Da der Minister nicht nur eben in der Debatte, sondern
auch öffentlich in der Presse mehrfach das Gleiche gesagt hat, gibt es hier eine völlige Identität der Aussagen
des Bundesministers, des Kollegen Döring und von mir.
Nehmen Sie dies zur Kenntnis. Shakespeare würde
„Much ado about nothing“ sagen, viel Lärm um nichts.
({5})
Zu einem effizienten Gesamtverkehrssystem gehört
ein moderner und leistungsfähiger Schienenverkehrsträger, ohne den eine erfolgreiche Verkehrspolitik völlig
undenkbar wäre. Deutschland braucht eine effiziente
Schieneninfrastruktur und starke Unternehmen für den
Wettbewerb auf der Schiene. Dazu gehört natürlich ganz
besonders das Bundesunternehmen, die Deutsche Bahn
Aktiengesellschaft, die sich nicht nur dem Wettbewerb
in Deutschland stellen muss, sondern auch die Chancen
im europäischen Markt nutzen soll. Dieser europäische
Markt im Schienenverkehr beruht nach unserer Überzeugung auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Deswegen
darf die EU-Kommission nicht weiter hinnehmen, dass
Deutschland seine Schieneninfrastruktur für den europäischen Wettbewerb öffnet und deutsche Unternehmen
in anderen Märkten auf verschlossene Türen stoßen.
Hier besteht Handlungsbedarf für die Kommission.
({6})
Die 1994 begonnene Bahnreform muss weitergeführt werden. Das heißt konkret: Wir wollen die DB AG
in ihrer positiven Entwicklung begleiten. Sobald es der
Kapitalmarkt zulässt, werden wir eine schrittweise ertragsoptimierte Privatisierung der Transport- und Logistiksparten einleiten. Die Infrastruktursparten Netz,
Bahnhöfe und Energie werden nicht privatisiert; denn
ordnungspolitisch ist es von entscheidender Bedeutung,
dass der Staat seine Infrastrukturverantwortung selbst
wahrnimmt.
Die Rechte des Bundes bei der Umsetzung von Eisenbahninfrastrukturprojekten sollen gestärkt werden, damit
der Wille des Gesetzgebers aus dem Bundesschienenwegeausbaugesetz und dem anhängenden Bedarfsplan zügig zur Ausführung gelangt. Der konzernweite Arbeitsmarkt - auch wir erklären dies in aller Deutlichkeit bleibt erhalten.
Die Koalition will dafür sorgen, dass die Finanzbeziehungen im Unternehmen und zwischen Bund und
DB AG transparenter strukturiert werden. Wir wollen sicherstellen, dass die Erlöse aus der Infrastruktursparte
auch dorthin zurückfließen.
({7})
Die gesamte Infrastruktursparte muss im Sinne der
EU-Richtlinie unabhängiger werden, um den Forderungen der EU aus dem laufenden Vertragsverletzungsverfahren entsprechen zu können. Mit der stärkeren Unabhängigkeit des Netzes verbessern wir auch den
Wettbewerb auf der Schiene. Dazu soll das Regulierungsrecht im Allgemeinen Eisenbahngesetz überarbeitet werden, um zum Beispiel die Trassen- und Stationspreise einer Anreizregulierung zu unterwerfen.
({8})
Auch viele Jahre nach der Schaffung eines offenen
EU-Binnenmarktes für den Güterverkehr ist unser Gewerbe noch erheblichen Wettbewerbsverzerrungen im
europäischen Markt ausgesetzt. Das wollen wir nicht
dauerhaft hinnehmen, sondern mit einer offensiveren
EU-Strategie angehen.
Der Luftverkehr ist ein weiterer wichtiger Pfeiler unserer Verkehrswirtschaft. In den vergangenen 20 Jahren
hat sich die Zahl der Flüge in Deutschland verdoppelt.
Die Prognose für 2025 geht noch einmal von einer Verdoppelung der Anzahl der Flüge und des Passagieraufkommens aus. Rund 850 000 Arbeitsplätze in Deutschland hängen direkt oder indirekt vom Luftverkehr ab,
Tendenz steigend. Das ist eine Jobmaschine. Das sehen
wir sehr positiv. Wir müssen das unterstützen.
({9})
Die Koalition erkennt die große Bedeutung des Luftverkehrs. Sie will dabei folgende Ziele erreichen: ein
koordinierter Ausbau der Flughafeninfrastruktur, international wettbewerbsfähige Betriebszeiten, die zügige
Realisierung des Single European Sky auf europäischer
Ebene, die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Deutschen Flugsicherung GmbH, insbesondere durch eine Befreiung von den Restriktionen des
§ 65 Abs. 3 der Bundeshaushaltsordnung.
Die neue Regierungskoalition will die wirtschaftlichen Chancen, die sich aus der geografischen Lage
Deutschlands in der Mitte Europas ergeben, verkehrspolitisch gezielt nutzen, dazu den Logistikstandort ausbauen und eine mit den Ländern abgestimmte Vermarktungsoffensive starten, um so noch stärker an der
Wertschöpfung in Handel und Logistik teilzuhaben.
Dirk Fischer ({10})
Der Bürger erwartet von uns ein aktives, zielgerichtetes Handeln, aber seine Akzeptanz für den Verkehr hängt
auch von unserem erfolgreichen Bemühen ab, den Verkehr so sicher und umweltgerecht wie nur irgend möglich abzuwickeln. In diesem Sinne will die CDU/CSUBundestagsfraktion mit dem neuen Verkehrsminister
Dr. Ramsauer und dem Bundesministerium produktiv
zusammenarbeiten und mit den Kollegen im Ausschuss
lebhaft, aber sachlich um den besten Weg streiten.
In diesem Sinne freuen wir uns alle in unseren Fraktionen auf eine neue Legislaturperiode.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Uwe Beckmeyer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, ich gratuliere Ihnen und auch Ihren Parlamentarischen Staatssekretären zum Amt. Wir als Sozialdemokraten werden uns mit Ihnen im Stil konstruktiv, im
Umgang fair, aber hart in der Sache auseinandersetzen.
Damit wollen wir heute auch beginnen.
Sie wollen Mobilität und Verkehrsinfrastruktur sichern. Das ist gut so. Die Frage ist nur: Wie? Wir haben
gestern von der Frau Bundeskanzlerin den denk- und
merkwürdigen Satz gehört: Wir wollen Wachstum, das
an morgen denkt. Sie selbst sagen: Verkehrspolitik hat
etwas mit Wirtschaftspolitik zu tun. Das ist auch richtig.
Die Frage ist aber: In welchem Umfang spiegelt sich das
eigentlich in ihrem Koalitionsvertrag wider? In welchem
Umfang hat sich das in Ihrer Erklärung als Fachminister
zu diesem Koalitionsvertrag widergespiegelt?
Nehmen wir zum Beispiel die Finanzausstattung Ihres Hauses in den vor uns liegenden Jahren. Mit circa
12 Milliarden Euro haben wir zurzeit eine gute Finanzausstattung. Außerdem haben wir zwei Konjunkturprogramme, die sich wesentlich in Ihrem Haushalt niederschlagen. Die Jahre 2009 und 2010 laufen gut, aber das
Jahr 2011 wird nicht gut laufen, weil die Konjunkturprogramme auslaufen werden und im Bereich der Finanzplanung ein Absinken der Linie vorgesehen ist. In einer
solchen Situation wollen Sie die Verkehrsinfrastruktur
ausbauen. Das ist die erste große Schwachstelle. Von Ihnen habe ich heute kein einziges Wort gehört, im Koalitionsvertrag steht ebenfalls nichts dazu, in welcher
Weise Sie dieser Aufgabe, den Wachstumsmotor in der
Verkehrs- und Baupolitik ins Laufen zu bringen, überhaupt gerecht werden wollen.
({0})
Wir haben zu verzeichnen, dass im Bereich des Wohnungsbaus aus Ihrem Programm zurzeit keine Impulse
kommen. Im Bereich des Wirtschaftsbaus erleben wir
zurzeit einen dramatischen Rückgang. Im Bereich des
öffentlichen Baus droht - nach dem, was da steht - ebenfalls eine Reduktion der Aktivitäten. Das bedeutet, dass
in der prognostizierten Aufschwungphase der Bereich,
der das mittragen müsste, nämlich die Binnenkonjunktur, eklatant geschwächt wird. Der Bundesminister sagt
dazu nichts, im Koalitionsvertrag steht dazu nichts geschrieben. Das führt zumindest bei mir zu der Feststellung, dass das, was dort geschrieben steht, armselig ist.
Es zeugt von Antriebslosigkeit. Ihrem Koalitionsvertrag
fehlt es an Geist, an Fantasie und klaren Zielen. Das
muss man als Erstes festhalten.
Das Zweite sind die Herausforderungen im Bereich
natürliche Lebensgrundlagen und Lebensqualität
kommender Generationen. Im Koalitionsvertrag steht
kein einziges Wort darüber, wie man eine nachhaltige
Politik der Entkopplung von Wirtschaftswachstum und
Verkehrszuwachs organisieren will. Kein Wort! Auch
hierzu findet man im Koalitionsvertrag eine Leerstelle.
Ich kann nur sagen: Das ist schwach; denn die Frage,
wie wir das organisieren, ist das zentrale Thema der Verkehrspolitik, auch in der Zukunft.
Wir erleben eine Abkehr vom integrierten Verkehrssystem, was sich in Ihrer verkehrsträgerorientierten
Finanzierung ausdrückt. Das ist eigentlich ein Zurück
in die 60er-Jahre.
({1})
Das ist etwas, was diese Republik nicht aushalten kann.
Wenn Sie sagen: „Wir machen jetzt verkehrsträgerorientierte Finanzierungskreisläufe“, dann frage ich mich: Wo
bleibt die Wasserstraße? Die Wasserstraßen werden zurzeit zu 50 Prozent über die Maut bezahlt. Wie sieht das
zukünftig aus? Wird es keinen Wasserstraßenausbau
mehr geben?
({2})
Stoppen Sie den Ausbau des Nord-Ostsee-Kanals? Stoppen Sie all diese Projekte? Ist es damit vorbei?
({3})
Ich frage Sie, Herr Döring: Was wollen Sie in dieser Angelegenheit eigentlich? Welche Signale schicken Sie
nach Norddeutschland? Welche Signale schicken Sie damit in die Republik hinsichtlich der Finanzierung so
wichtiger Infrastrukturprojekte?
({4})
Das ist nicht zu Ende gedacht. Auch hier merkt man:
Ihr Programm ist ein Lückentext. Man kann das so oder
so und relativ vage ausfüllen. Mal interpretiert der Minister, mal Herr Döring und mal Herr Fischer. Es geht
immer munter drauf los, aber keiner sagt, wie es wirklich
geht.
Etwas zur Bahn: In Ihrem Text steht, dass Sie „Gewinnabführungen der Infrastruktursparten an die Holding“ ausgeschlossen haben möchten. Wissen Sie eigentlich, was in den Jahren nach 1994 passiert ist? Nicht
die Infrastruktur hat die Mobilität finanziert, sondern
umgekehrt: Die Mobilität hat die Infrastruktur mit
2 Milliarden Euro finanziert. Das muss man einfach wissen.
({5})
Sie formulieren ein Beispiel, das völlig daneben ist.
Ich kann Ihnen nur sagen: Machen Sie weiter so. Wenn
Sie diese Gedanken, die Sie aufgeschrieben haben, in die
Tat umsetzen, schwächen Sie die Bahn. Sie reflektieren
die Steuerproblematik innerhalb der Bahn im Grunde
überhaupt nicht. Sie schädigen die Bahn, weil das einen
Steuerausfall in Höhe von ungefähr 1 Milliarde Euro bedeutet. Dann haben Sie ein weiteres Riesenproblem.
({6})
Am Ende des Tages haben Sie sich aufgerappelt und das
Ganze unter einen Prüfvorbehalt gestellt. Das, was dort
stand, war abgrundtief falsch. Sie wollten sich wahrscheinlich nicht selbst blamieren. Der eigentliche Punkt
ist: Denken Sie künftig eine Sache zu Ende, ehe Sie sie
aufschreiben.
({7})
Herr Minister, ein Allerletztes zu Ihnen: Sie haben gemerkt, welches Dilemma Dementis bedeuten.
Herr Kollege, Sie denken bitte an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss, ja. - Ein Dementi ist immer
eine schwierige Sache. Man sagt, das sei so, als würde
man Zahnpasta in die Tube zurückdrücken wollen. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir Ihnen die hundert Tage
geben. Wir Sozialdemokraten geben sie Ihnen. Aber
meine Bitte ist: Geben Sie sich auch selbst hundert Tage.
Denken Sie lieber einmal öfter nach, bevor Sie etwas
verkünden, was am Ende des Tages durch Dementis wieder eingeholt werden muss. Die Verkehrspolitik verträgt
einen solchen Zickzackkurs nicht. Wir haben es mit dem
größten Investitionshaushalt der Republik zu tun. Da
sind auch in Zukunft Souveränität, Klarheit, Perspektive
und Zielsetzung Maßstäbe für das politische Handeln.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Götz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Entgegen der
Kritik aus der Opposition hat die Fachwelt der Immobilienwirtschaft die bau- und stadtentwicklungspolitischen Vorhaben der neuen Bundesregierung mit Lob und
Vorschusslorbeeren begleitet. So erklärt der Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen ich zitiere -:
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und
FDP enthält einige gute Nachrichten für Immobilieneigentümer und Investoren.
Die Pressemitteilung des Bundesverbandes deutscher
Wohnungs- und Immobilienunternehmen, also des GdW,
liest sich so:
Koalitionsvertrag enthält überwiegend gute Perspektiven für die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft.
Die Überschrift von Haus & Grund lautet:
Schwarz-Gelb hat die Weichen richtig gestellt.
Das zeigt, dass die neue Koalition die Bedeutung der
Immobilienwirtschaft erkennt, die Probleme ernst nimmt
und aufgreift. Selbst der Deutsche Mieterbund sieht in
seiner sicher kritischen Stellungnahme neben Schatten
auch Licht. Derartige Bewertungen sind Ansporn, die im
Koalitionsvertrag beschriebenen Vorhaben zügig anzupacken und nach besten Kräften umzusetzen.
Wir wissen: Die Erwartungen sind hoch. Wir wissen
auch: Die finanziellen Spielräume sind sehr begrenzt
und bleiben auch auf lange Sicht begrenzt. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft für eine solide, nachhaltige
Stadt- und Dorfentwicklungspolitik, für ein bedarfsgerechtes Wohnungsangebot und für die Erhaltung von
Baudenkmälern. Wir brauchen Freiraum für gute neue
Architektur und für eine gelebte Baukultur.
In den letzten zehn Jahren hat die Bau- und Wohnungspolitik einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Wir
haben regional differenzierte Wohnungsmärkte in einer
Bandbreite zwischen Leerstand auf der einen Seite und
Wohnungsmangel auf der anderen Seite. Der soziale
Wohnungsbau wurde daher zu Recht in den Zuständigkeitsbereich der Länder übertragen. Bei uns ist das Bauund Planungsrecht geblieben, das wir mit besonderer
Sorgfalt und möglichst auch im breiten Konsens wahren
und schrittweise weiterentwickeln werden. Wir wollen
das Baugesetzbuch an veränderte Entwicklungen anpassen, den Klimaschutz dort verankern und Genehmigungsverfahren weiter straffen.
Zu den großen baupolitischen Herausforderungen der
nächsten Jahre gehört zweifelsohne die Entwicklung
der Städte und Gemeinden. Wir brauchen konkrete Lösungen als Antworten auf den demografischen Wandel
und auf die Fragen des sozialen Zusammenhalts in
Wohnquartieren einschließlich der besseren Integration
von Menschen mit Migrationshintergrund und für den
Schutz bestehender Ressourcen. Der Erhalt von historischer Bausubstanz und von Stadtstrukturen gehört ge176
nauso dazu wie die Schaffung eines barrierefreien
Wohnumfeldes. Bei alldem muss der Mensch im Mittelpunkt stehen.
Wir müssen uns um die Wieder- und Umnutzung innerstädtischer Industrie- und Militärbrachen kümmern.
Dazu gehört ein offensiveres Immobilienmanagement
beim Verkauf bundeseigener Liegenschaften.
({0})
Das liegt im Interesse vieler Kommunen, und das sollte
auch im fiskalischen Interesse des Bundes liegen.
Wir wollen die Fortführung der Städtebauförderung
auf bisherigem Niveau. Die Geschichte der Städtebauförderung in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte,
die international hohe Anerkennung erfährt. Wir wollen
sie im Sinne der Städte und Gemeinden ganz gezielt weiterentwickeln. Ich sage aber auch: Um dies umzusetzen,
brauchen wir starke Städte und Gemeinden. Die neue
Koalition will deshalb ausdrücklich die Leistungskraft
und Leistungsfähigkeit der Kommunen stärken. Das gehört genauso dazu.
({1})
- Schauen Sie nach, dann wissen Sie es.
Beim Klimaschutz ist der Bau in besonderer Weise
gefragt. Der Herr Minister ist in seiner Rede vorhin kurz
darauf eingegangen. Vom Gebäudesektor wird ein wichtiger Beitrag zur Senkung des CO2-Ausstoßes erwartet.
Die riesigen Potenziale, die es durch intelligente Entscheidungen zu wecken gilt, schlummern im Altbestand.
Dafür müssen wir die Gebäudeeigentümer gewinnen und
dürfen sie nicht beschimpfen. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm hilft uns dabei.
Wenn wir mehr Klimaschutz im Gebäudebereich wollen, müssen wir auch das Mietrecht anschauen. Wir werden deshalb das Mietrecht auf seine Ausgewogenheit
überprüfen und umwelt- und klimafreundliche Sanierungen von Wohngebäuden erleichtern. Denn dort liegt die
Zukunftschance. Mietrecht und finanzielle Anreize sind
die Schlüssel, wenn wir den Gebäudebestand für eine
bessere Energieeffizienz öffnen wollen.
({2})
Lassen Sie mich noch einen Aspekt ansprechen, der
mir wichtig ist. Trotz aller finanziellen Schwierigkeiten
sollten wir darauf achten, dass der Bund bei seinen eigenen Bauvorhaben hinsichtlich der Baukultur und der Architektur eine Vorbildfunktion hat. Der Bund muss als
Bauherr mit gutem Beispiel vorangehen und das leisten,
was er von privaten Hauseigentümern und Investoren erwartet.
({3})
Die Vorbildfunktion des Bundes kann so noch stärker in
das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Das öffentliche Bewusstsein ist übrigens nicht auf Deutschland beschränkt. Gerade mit seinen Auslandsbauten kann
Deutschland beim Klimaschutz beispielgebend wirken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt viel zu tun.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit im Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Die Herausforderungen sind groß, die Erwartungshaltung ist riesig. Ich
lade Sie alle ein, daran mitzuwirken und gemeinsam mit
uns zu arbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Nun hat das Wort die Kollegin Sabine Leidig für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich spreche zum Verkehrsbereich. Ich
schicke vorweg, dass ich bei der Rede des Umweltministers Röttgen von den warmen Worten, die ich gehört
habe, beeindruckt war. Mit Blick auf den Bereich Verkehrspolitik erscheinen sie mir aber extrem hohl.
({0})
Die FAZ überschreibt ihr Porträt von Verkehrsminister
Ramsauer mit „Der Mann der Straße“. Ein paar Zeilen
weiter ist zu lesen:
Das Echo auf seine Ernennung ist … nicht unfreundlich. Am größten ist die Freude in der Autolobby.
({1})
Nach dem Studium des Koalitionsvertrages muss man
sagen: Die FAZ hat leider recht. Herr Ramsauer, es stellt
sich die Frage, wessen Bedürfnisse bei Ihrem Politikansatz tatsächlich im Mittelpunkt stehen. Mein Eindruck
ist: Es sind die Bedürfnisse der Fahrer großer Dienstwagen. Dem will ich angesichts der Kürze der Zeit nicht
weiter nachgehen.
Ich möchte Ihren Blick auf eine andere Seite der Verkehrsmedaille lenken. Die Regierung plant einen mehrfachen Angriff auf den öffentlichen Schienenverkehr.
Erstens sollen private Unternehmen im Nahverkehr Vorrang vor kommunalen Eigenbetrieben bekommen.
({2})
Zweitens wird die unbegrenzte Zulassung von Busfernlinien geplant.
({3})
Drittens heißt es im Koalitionsvertrag:
Sobald der Kapitalmarkt dies zulässt, werden wir
eine schrittweise, ertragsoptimierte Privatisierung
der Transport- und Logistiksparten
- der Deutschen Bahn einleiten.
({4})
Was das alles bedeutet, kann man in unseren Nachbarländern, zum Beispiel in Großbritannien, ganz konkret beobachten. Dort konkurrieren Busfernverkehre mit
privatisierten Eisenbahngesellschaften und Billigfliegern, sie liefern sich einen Dumpingwettbewerb, die
Löhne sinken, Qualität, Fahrkomfort und Sicherheit werden spürbar schlechter, schließlich steigen die Preise,
und das Schienennetz schrumpft. Das ist die Realität, die
man dort beobachten kann.
({5})
Die Richtung, die in Ihrem Koalitionsvertrag angedeutet wird und eingeschlagen werden soll, wird zu
mehr verkehrtem Verkehr führen, zu noch mehr Umwelt- und Klimabelastungen und die Tendenz, die bereits
für die Jahre 1990 bis 2007 so zu bewerten ist, weiterführen. Das „Menschheitsgut“, von dem der Herr Umweltminister gesprochen hat, wird mutwillig weiter zerstört.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Linke fordert: Wir müssen anders, wir müssen besser verkehren!
({6})
Notwendig und übrigens auch volkswirtschaftlich sinnvoll - an dieser Stelle bitte ich die Kollegen von der
FDP, ein Ohr zu öffnen - wäre ein langfristiges, umfangreiches öffentliches Programm zum Ausbau und zur
Weiterentwicklung des öffentlichen Schienenverkehrs
für Menschen und für Güter.
Damit könnten wir mehrere Fliegen mit einer Klappe
schlagen.
Erstens. Es wäre ein wesentlicher Beitrag zur CO2Reduktion. Denn der Verkehrsbereich ist der einzige
Wirtschaftsbereich, in dem die CO2-Ausstöße steigen.
Auch dies sollte in Kopenhagen in den Mittelpunkt gerückt werden.
Zweitens. Wir könnten wirklich gute Beschäftigungsperspektiven für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Automobil- und Flugzeugindustrie schaffen.
In diesen Industrien gibt es weltweit Überkapazitäten.
Sie glauben ja selbst nicht, dass man alle Arbeitsplätze
in der Automobilindustrie erhalten kann.
Übrigens macht uns unser Nachbarland Österreich
vor, wie man mit solchen Investitionsprogrammen
volkswirtschaftlich sinnvoll umgeht. In Österreich wird
genau gerechnet: 1 Milliarde Euro Einsatz bringt 17 000
neue Arbeitsplätze, und mit 1 Euro Einsatz wird eine
Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 2 Euro erreicht. Es macht also Sinn.
({7})
Drittens brauchen wir ein europäisches Konzept.
Wir brauchen bei den Verkehrskonzepten Kooperation.
Wir brauchen weder auf der Schiene noch sonst irgendwo Wettbewerb, sondern wir brauchen gemeinsame
Lösungen für sinnvolle Transporte weltweit.
({8})
Der Verkehrsbereich ist ein Bereich, in dem es um die
Lebensqualität der Menschen geht. Die Art und Weise,
wie man von Ort zu Ort kommen kann, ist entscheidend
dafür, wie sich die Menschen bewegen. Wir brauchen einen besseren öffentlichen Nahverkehr. Wir brauchen
Bahnhöfe, an denen man sich aufhalten kann,
({9})
in denen man sich nicht beängstigt fühlen muss, in denen
man auch einmal Zuflucht findet. Wir brauchen vor allen
Dingen weniger Autos und weniger Lkws in den Städten
und Gemeinden. Das würde die Lebensqualität unheimlich vieler Menschen enorm verbessern.
({10})
Schließlich ist auch der Verkehrsbereich ein Bereich,
in dem es um Demokratie geht. Es geht darum, den
Druck, die Macht der Automobil- und Öllobby zurückzudrängen und die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen an Mobilität in den Mittelpunkt zu stellen. Wir
müssen da mehr Demokratie wagen. Es gibt übrigens
kaum ein politisches Projekt, bei dem die Mehrheit der
Bevölkerung so klar positioniert ist wie bei der Privatisierung der Bahn.
({11})
78 Prozent - mehr als eine Dreiviertelmehrheit - lehnen
eine Privatisierung der Bahn ab und wünschen sich eine
gute Bahn in öffentlicher Hand. Wenn man die Meinung
der Leute ernst nimmt, schaffen wir vielleicht, was sich
die Frau Bundeskanzlerin gewünscht hat: dass die Bürgerinnen und Bürger den Staat besser finden.
Es geht auch darum, den Schienenbereich weiterzuentwickeln und ihn besser zu gestalten. Dafür brauchen
wir aber keinen grünen Tisch und keine Gespräche mit
Lobbyistenvereinigungen, wir müssen nur zuhören, was
die Leute wollen. Die Bürgerinnen und Bürger, die die
Verkehrsmittel benutzen, wissen genau, wie die Verkehrsmittel sein müssen, damit sie ihren Bedürfnissen
entsprechen. Auch die in den Verkehrsbetrieben Beschäftigten wissen ganz genau, was man verbessern
kann. Das ist der Ansatzpunkt für eine demokratische
und menschengerechte Entwicklung des Verkehrssektors.
Vielen Dank.
({12})
Frau Kollegin Leidig, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Die Großzügigkeit, die wir bei der Redezeit
an den Tag gelegt haben, werden wir künftig nicht in
gleicher Weise an den Tag legen können.
({0})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich gratuliere Ihnen herzlich und wünsche Ihnen für die
weitere Arbeit eine glückliche Hand.
({1})
Der nächste Redner ist der Kollege Sören Bartol für
die SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mobilität, Stadt- und Raumentwicklung sind wichtige
Zukunftsfragen. Lieber Herr Minister Ramsauer, Sie erweisen diesem Anliegen gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit
einen Bärendienst. Ich hoffe wirklich, dass Sie an dieser
Stelle noch dazulernen.
Nicht nur personell, auch inhaltlich ist der Bereich
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung im Koalitionsvertrag
schlecht weggekommen. Am Koalitionsvertrag ist nicht
bemerkenswert, was in ihm steht, sondern - viel interessanter - was fehlt. Integrierte Verkehrspolitik? Fehlanzeige. Im Gegenteil: ein Minister, der ideologisch in die
Mottenkiste greift und nicht begriffen hat, welche Bedeutung eine moderne, angepasste Verkehrspolitik hat.
Verkehrsmittelübergreifende Konzepte sucht man im
Koalitionsvertrag vergeblich, geschweige denn einen
Ansatz für eine integrierte Verkehrs- und Raumentwicklungspolitik. Intelligente Stadtverkehrskonzepte? Fehlanzeige! Anstatt klarer Prioritäten für den Umweltverbund, also ÖPNV, Radfahren und Zufußgehen, und einer
intelligenten Verknüpfung mit neuen Formen der Autonutzung, wie zum Beispiel Carsharing, steht auf der Koalitionsagenda die Beschneidung der Umweltzonen.
Diese Liste ließe sich immer weiter fortführen. Einfallslosigkeit und der Verzicht auf politische Steuerungsmöglichkeiten kennzeichnen diesen Koalitionsvertrag,
vor allen Dingen was die Zukunftsfragen im Bereich der
Mobilität anbelangt. Das ist schade für die Menschen,
die unter den Verkehrsbelastungen leiden, aber das ist
vor allen Dingen auch schade für die Umwelt und das
Klima.
({0})
Auch in der Verkehrspolitik regiert nun das Prinzip
Privat statt Staat. Was uns ins Haus steht, zeigt sich ganz
besonders deutlich beim öffentlichen Nahverkehr.
CDU und CSU haben die notwendige Novelle des Personenbeförderungsgesetzes in der letzten Legislaturperiode leider blockiert, und jetzt beeilen sie sich, den Vorrang kommerzieller Verkehre mal eben ganz locker
flockig in den Koalitionsvertrag zu schreiben.
({1})
Die in der europäischen Verordnung angelegte Möglichkeit der Direktvergabe wird damit vollkommen konterkariert, und der Handlungsspielraum, lieber Kollege
Götz, der Kommunen als Aufgabenträger wird vollkommen ausgehöhlt. Wenn Sie das so umsetzen, dann droht
Ihnen wirklich die Rosinenpickerei privater Unternehmen.
({2})
Wir haben in Brüssel doch gemeinsam dafür gekämpft, dass diese deutsche Struktur mit der Vielzahl öffentlicher und auch privater Unternehmen und vor allen
Dingen die kommunale Verantwortung für diese Aufgabe der Daseinsvorsorge erhalten bleiben. Das setzen
Sie nun aufs Spiel. Lieber Kollege Döring, ich weiß, Sie
haben nicht so viele FDP-Bürgermeister, die Sie fragen
könnten,
({3})
aber Sie von der CDU/CSU könnten Ihre CDU- und
CSU-Bürgermeister, in deren Gemeinden es kommunale
Unternehmen gibt, einmal fragen, was sie denn dazu sagen.
Was verheißt denn der Koalitionsvertrag hinsichtlich
der Wohnungspolitik? Überhaupt nichts Gutes! Wenn
man sich die Reihe der jungen Staatssekretäre anschaut,
dann sieht man: Alle sind ausgewiesene Verkehrspolitiker. Daran wird klar, wohin die Reise in dieser Koalition
geht. Mit der sozialen Verantwortung ist es nicht weit
her. Das erkennt man, wenn man das Kleingedruckte
liest.
({4})
Sie lassen sich dafür feiern, dass Sie das Schonvermögen für Arbeitslosengeld-II-Bezieher erhöhen. Das ist ja
richtig.
({5})
Durch die Hintertür wollen Sie aber die Kosten der Unterkunft pauschalieren. Das bedeutet doch: Beziehern
von Arbeitslosengeld II droht, dass sie ihre Mieten bald
nicht mehr zahlen können. Was hat das mit einer sozialen Politik zu tun?
({6})
Auch das Bekenntnis zum sozialen Charakter des
Mietrechts ist das Papier nicht wert, auf dem es steht,
wenn Sie gleichzeitig die Kündigungsfristen verkürzen
wollen. Langjährigen Mietern kann dann mit einer
Dreimonatsfrist gekündigt werden. Ich glaube, gerade
für ältere Mieter, die schon lange in ihren Wohnungen
leben, ist das eine Zumutung. Ich hoffe, dagegen kommt
es in diesem Land bald zum Aufstand.
({7})
Auch die Abschaffung des Mietminderungsrechts
bei der energetischen Sanierung bedeutet einfach nur,
dass die Ausgewogenheit zwischen Mieterinteressen und
Vermieterinteressen in dieser Koalition vollkommen auf
der Strecke bleibt.
Den Stellenwert, den diese Koalition der Städtebauförderung insgesamt zuerkennt, erkennt man daran,
dass sie in der Rede des Ministers eigentlich überhaupt
nicht vorgekommen ist. Herr Minister, die Zukunft unserer Städte ist für die gesamte Gesellschaft von überraSören Bartol
gender Bedeutung. In den Städten konzentrieren sich soziale und wirtschaftliche Probleme, hier liegen aber auch
die großen Chancen. Die Städte sind die Motoren für die
wirtschaftliche Entwicklung, die Beschäftigung und die
Innovationen, aber auch die Kultur. Herr Minister, es
geht eben nicht darum, den städtischen Raum gegen den
ländlichen Raum auszuspielen, sondern darum, die
Dinge intelligent miteinander zu verknüpfen. Das bekommen Sie nicht hin, und da wird mir angst und bange.
({8})
Herr Minister, ich befürchte, die Stadtentwicklung steht
am Ende des Tages leider nur noch auf Ihrem Türschild.
Das wird uns nicht reichen.
Herr Minister, ich glaube, kein Minister in dieser Regierung hat es geschafft, öffentlich so schnell in Ungnade zu fallen wie Sie, und das gleichzeitig bei den von
Ihnen angeblich vertretenen Autofahrern, den Umweltverbänden und auch noch bei den Menschen in den
neuen Bundesländern.
Ich glaube, ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Woche reicht; das sollte man einmal neutral tun:
„Ramsauer braucht Pannenhilfe“, sorgt sich die Frankfurter Rundschau. „Auf der falschen Spur“ sieht die Financial Times Deutschland den Minister. Die taz tauft
ihn - wunderbar - „Ramses - der König der Westautobahnen“.
({9})
Kollege Fischer, nachdem die Kanzlerin - das muss man
vielleicht auch einmal dazusagen - ihren Minister zurückgepfiffen hatte, sagte er: Ach, das alles wird man
doch wohl einmal sagen dürfen. - Dann schrieb die BildZeitung: „Erst denken, dann reden!“
Herr Minister, ich glaube, dem kann man sich nur anschließen. Das sollten Sie beherzigen. Viel Glück für
Ihre weitere Amtszeit!
({10})
Zu den Bereichen Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
liegen nun keine weiteren Wortmeldungen mehr vor.
Wir kommen damit zu den Themenbereichen Arbeit
und Soziales. Dazu rufe ich die Zusatzpunkte 2 bis 4
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen
- Drucksache 17/21 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer abmildern - ALG I befristet auf
24 Monate verlängern
- Drucksache 17/22 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung
der Kinderregelsätze
- Drucksache 17/23 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Als erstem Redner zu diesem Themenbereich erteile
ich für die Bundesregierung Herrn Bundesminister
Dr. Franz Josef Jung das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Chancen
für Arbeit schaffen und den Zusammenhalt in Deutschland stärken, das sind die Ziele der Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik dieser neuen Bundesregierung.
({0})
Der soziale Frieden, die Partnerschaft von Arbeitgebern
und Arbeitnehmern sind mit die tragenden Säulen unserer sozialen Marktwirtschaft. Dazu gehört auch die Tarifautonomie. Wir brauchen in Zukunft noch mehr die
gesellschaftliche Verantwortung unserer Unternehmen,
auch im Interesse der Arbeitsplätze in Deutschland.
({1})
Für mehr Arbeit in Deutschland müssen wir Hürden
für Beschäftigung abbauen, muss sich der Staat auf die
Bereiche beschränken, in denen er Verantwortung übernehmen muss. Wir brauchen einen Arbeitsmarkt, der
nicht Fesseln anlegt, sondern Freiraum für Arbeit
schafft. Deshalb werden wir mit dem Abbau von Bürokratie einen Aufbau von Beschäftigung bewirken.
Sozial ist, was Arbeit schafft.
({2})
Mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit, das
stärkt zugleich die Grundlage für die soziale Sicherung
aller. Ein Blick auf die Zahlen macht deutlich: 100 000
Arbeitslose weniger bedeuten eine Entlastung von rund
2 Milliarden Euro im Haushalt und in den Sozialkassen.
Ein Arbeitsmarkt, der Impulse für mehr Beschäftigung
setzt, ist ein Pfeiler der solidarischen Leistungsgesellschaft, in der sich jeder nach seinen Fähigkeiten entfalten können muss.
Gerade in der größten Wirtschaftskrise, die wir seit dem
Zweiten Weltkrieg durchleben, sind Wachstumsimpulse
und Entlastungen für die Bürgerinnen und Bürger die richtigen Signale für mehr Beschäftigung. Deshalb leisten das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz und die Entlastungen
von circa 22 Milliarden Euro, die am 1. Januar 2010 in
Kraft treten, einen entscheidenden Beitrag zu mehr Arbeit
und Beschäftigung.
({3})
Wir haben in der letzten Woche am Arbeitsmarkt durchaus positive Zahlen im Vergleich zu den Prognosen von
Anfang dieses Jahres zur Kenntnis nehmen können.
({4})
Die Zahlen machen Mut, aber sie stellen noch keine
Trendwende dar.
Die Entscheidung, die die Bundesregierung bei der
Kurzarbeit getroffen hat, ist eine richtige Entscheidung
gewesen und hat dem Arbeitsmarkt geholfen. Deshalb
ist es auch aus meiner Sicht notwendig, dass wir Regelungen zur Kurzarbeit noch in diesem Jahr verlängern,
um hier eine Perspektive für Arbeit in Deutschland zu
schaffen.
({5})
Wir wollen für die Unternehmen mit einem Mehr an
Möglichkeiten zu befristeten Beschäftigungsverhältnissen die Voraussetzungen schaffen, flexibel zu reagieren
und damit ebenfalls Arbeitsplätze zu generieren.
({6})
Ferner wollen wir die neuen elektronischen Möglichkeiten nutzen, um einen Beitrag zur Entbürokratisierung
zu leisten und die Betriebe bei den Pflichten aus der Sozialversicherung zu entlasten. Auch im Hinblick auf die
Frage der Partnerschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ist es ein richtiges Signal, wenn wir beabsichtigen, die Mitarbeiterbeteiligung in den Unternehmen
auszuweiten.
({7})
Auch wollen wir dafür sorgen, dass Lohndumping verhindert wird. Deshalb wollen wir die Rechtsprechung
zum Verbot sittenwidrig niedriger Löhne gesetzlich festschreiben.
({8})
In der Krise hat die Bundesagentur für Arbeit durchaus ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Ich
möchte deshalb dem Chef der Agentur, Herrn Weise,
und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern herzlich für
ihren Beitrag danken, den sie zur Vermittlung in Arbeit
in Deutschland geleistet haben.
({9})
Wir wollen die Agentur im Interesse der arbeitsuchenden Menschen in Zukunft noch effektiver gestalten.
({10})
Auch werden wir das durch die Krise entstehende Defizit
für 2010 aus Mitteln des Bundes ausgleichen, damit der
Beitragssatz in der Perspektive grundsätzlich stabil bleiben
kann. Dies ist auch ein wichtiges Momentum, wenn ich
über Arbeitsplätze in Deutschland spreche.
({11})
Auch bei der Betreuung und Vermittlung von längere
Zeit Arbeit Suchenden werden wir nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Handlungsfähigkeit herstellen.
({12})
Wir wollen die Erfahrungen der Kommunen und der
Agentur in getrennter Verantwortung - so schreibt es das
Gericht vor - auf der Basis der freiwilligen Zusammenarbeit nutzen und die Optionskommunen entfristen.
Diesbezüglich werden wir einen Mustervertrag vorlegen.
({13})
Wir werden im Rahmen von Hartz IV, also dem
Sozialgesetzbuch II, Regelungen beseitigen, die die Bürgerinnen und Bürger zu Recht als ungerecht empfinden.
Wir werden deshalb das erarbeitete Vermögen bis zu
750 Euro pro Lebensjahr vor dem Zugriff verschonen.
Bisher waren es 250 Euro. Dies ist auch im Interesse der
privaten Altersvorsorge richtig. Deshalb werden wir dies
im Interesse der Bürger umsetzen.
({14})
In diesem Zusammenhang werden wir auch die selbstgenutzte Immobilie umfassend schützen.
({15})
Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht
arbeitet.
({16})
Deshalb werden wir auch die Hinzuverdienstregelungen entsprechend fortentwickeln, um zusätzliche Anreize für die Arbeitsaufnahme zu schaffen.
({17})
Dazu gehören auch Komponenten, die im Zusammenhang mit der Weiterbildung bzw. einer Weiterbildungsallianz erforderlich sind. Deshalb halte ich es für richtig,
dass wir die Förderung berufsbezogener Sprachkenntnisse in die Weiterbildung miteinbeziehen, weil dies
auch eine Chance für zukünftige Arbeit bedeutet.
({18})
Ich will ein Wort auch zu der aktuellen Debatte über
die Rentensituation sagen. Ich denke, eines ist eindeutig:
Konkrete Aussagen über die Rentensituation ab 1. Juli
nächsten Jahres werden erst im März des nächsten Jahres
möglich sein, wenn nämlich die konkreten Zahlen vorliegen.
({19})
Es muss aber auch klar sein: Die Rente ist Alterslohn für
Lebensleistung. Sie ist grundsätzlich an die Lohnentwicklung angepasst.
({20})
Man kann heute aber auch sagen: Auch bei einer negativen Lohnentwicklung werden die Renten nicht sinken.
Dies haben wir mit der Rentengarantie so beschlossen.
Dies ist, wie ich finde, eine richtige und wichtige Botschaft für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland.
({21})
Außerdem weise ich darauf hin, dass in Zukunft der Beitragssatz in der Rentenversicherung stabil bleiben soll.
Das ist ebenfalls ein wichtiger Tatbestand, der dazu beiträgt, dass die Lohnnebenkosten nicht weiter steigen und
damit zu einer zusätzlichen Belastung für die Arbeitssituation in Deutschland führen würden.
({22})
In dieser Legislaturperiode wollen wir ein einheitliches Rentensystem in Ost und West schaffen. Ich lade
alle Fraktionen dazu ein, sich intensiv an der Diskussion
und der Entscheidung darüber zu beteiligen; denn es ist
eine Herausforderung, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer
ein einheitliches Rentensystem im Osten und Westen
Deutschlands zu schaffen.
({23})
Im Hinblick auf mehr Arbeit wollen wir zudem die
Anreize zur Frühverrentung beseitigen und die Beteiligung am Erwerbsleben erhöhen. Auch dies gehört zu unserem Programm, wenn es darum geht, in Zukunft mehr
Menschen in Arbeit zu bringen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zu einem anderen
Themenbereich aus meinem Aufgabenfeld sagen. Dabei
geht es um das Thema Menschen mit Behinderung. Eines muss klar sein: Menschen mit Behinderung haben
unsere menschliche Unterstützung verdient. Wir wollen
die Rahmenbedingungen für diese Menschen positiv gestalten und einen Aktionsplan zur Umsetzung der UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung entwickeln. Hilfe zur Selbsthilfe, das ist auch in
diesem Zusammenhang die richtige Politik.
({24})
Deutschlands Stärke gründet auf dem Fleiß und der
Verantwortungsbereitschaft der Menschen. Sie gründet
auf der Leistungsbereitschaft der Unternehmer und der
Arbeitnehmer. Sie gründet auf dem sozialen Frieden.
Diesem Fleiß und dieser Verantwortungsbereitschaft
mehr Raum zum Wachsen zu geben, fördert Arbeit und
den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Der Mensch
ist uns wichtiger als die Sache. In diesem Sinn machen
wir eine wertorientierte Politik für die Menschen in
Deutschland, für Arbeit und für den sozialen Frieden.
Besten Dank.
({25})
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort der Kollege
Hubertus Heil.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach gutem parlamentarischen Brauch möchte
ich Ihnen, Herr Minister Jung, zur Ernennung in dieses
Amt ganz herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.
Sie übernehmen mit diesem Bundesministerium ein geordnetes, ein gutes Haus.
({0})
Sie müssen aber auch in große Fußstapfen treten. Sie treten die Nachfolge von Franz Müntefering und Olaf
Scholz an. Ich will an dieser Stelle sagen: Wir Sozialdemokraten sind stolz auf die Arbeit dieser Minister, vor
allen Dingen auf die Arbeit von Olaf Scholz in den letzten Monaten, der in der Krise mit aktiver Arbeitsmarktpolitik, insbesondere mit den geänderten Regeln zur
Kurzarbeit, mitgeholfen hat, dass Hunderttausende Menschen in Deutschland an Bord, in Beschäftigung, bleiben
konnten. Das haben wir gemacht. Es ist gut, wenn Sie
zumindest daran anknüpfen.
({1})
Herr Minister, wenn ich mir allerdings den Koalitionsvertrag anschaue und mir Ihre Rede vor Augen führe,
dann vermisse ich im Wesentlichen die Beantwortung folgender großer Fragen: Wo sieht eigentlich der Bundesminister für Arbeit und Soziales die Zukunft der Arbeit in
unserem Land? Was tut diese Bundesregierung konkret,
damit Arbeit in diesem Land eine gute Zukunft hat? Dann
höre ich mir Ihre Rede an und höre diesen alten, aber nicht
besonders intelligenten Satz, diese Formel: Sozial ist, was
Arbeit schafft. - Herr Minister, ich will Sie zumindest
nachdenklich machen und es zuspitzen: „Sozial ist, was
Arbeit schafft.“
({2})
Hubertus Heil ({3})
Heißt dieser Satz eigentlich auch, dass Sklavenarbeit sozial ist? Überspitzt gesagt, wäre das die Tatsache.
({4})
Wir sagen: Sozial ist, was anständige Arbeit schafft, von
der Menschen auch leben können. - Das ist der Unterschied zu Ihnen.
({5})
Wenn ich mir den Koalitionsvertrag und das, was Sie
eben gesagt haben, anschaue, dann muss ich feststellen,
dass sich das, was Sie vorhaben - atypische Arbeit, unsichere Arbeit, prekäre Arbeit - in diesem Land ausbreiten
wird. Das betrifft vor allen Dingen den Einstieg in die
Aushöhlung des Kündigungsschutzes. Sie sagen zwar
im Koalitionsvertrag - eben war das nicht so sehr zu hören, aber gestern von Frau Merkel -, Sie stünden zum
Kündigungsschutz, um dann nonchalant die sachgrundlose Befristung auszuweiten. Das ist nichts anderes als
eine Aushöhlung des Kündigungsschutzes in Deutschland, und das wird auf unseren massiven Widerstand
treffen.
({6})
Vor allen Dingen wollen und werden Sie den Niedriglohnsektor in diesem Land nicht zurückdrängen, sondern ausweiten. Da hilft es überhaupt nichts, die Menschen mit irgendwelchen Placebos ruhigstellen zu wollen. Bei dem Verbot sittenwidriger Löhne - das ist jetzt
das neue, große Konzept und Projekt der schwarz-gelben
Bundesregierung - muss man sich, ganz unabhängig davon, dass das schon in diesem Lande Rechtsprechung ist,
eines vor Augen halten. Was heißt das eigentlich, Herr
Minister, ganz konkret für die betroffenen Menschen im
Niedriglohnsektor? Es heißt nichts anderes, als dass Sie
verfestigen, dass zukünftig bis zu einem Drittel nicht nur
vom Tarifvertrag abgewichen werden kann, sondern
auch von ortüblichen Löhnen, also - auf Deutsch Löhne von 3 Euro, 4 Euro um ein Drittel unterschritten
werden können. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wer die
Zukunft der Arbeit in Deutschland vor allem im Niedriglohnsektor sieht, der hat weder von Wirtschaftspolitik
noch von sozialer Marktwirtschaft oder von den Bedürfnissen der Menschen in diesem Land irgendeine Vorstellung.
({7})
Sie sagen: Leistung muss sich wieder lohnen. - Was sagen Sie eigentlich den Menschen in den Branchen, in denen Sie Mindestlöhne verhindert haben, wie sich Leistung wieder lohnen soll? Wenn es nach Ihnen geht, dann
sollen die zukünftig alle zum Amt gehen und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II abholen, also Aufstocker
sein.
({8})
Das hat mit Ordnungspolitik nichts zu tun, das ist nichts
anderes als ein staatlich subventionierter Billigjobsektor,
und Sie verfestigen den.
({9})
Übrigens, zu dem lauten Herrn Kolb von der FDP:
({10})
Herr Kolb, mit den Zuverdienstmöglichkeiten, die Sie
erweitern, machen Sie nichts anderes, als das Geld der
Steuerzahler zu nehmen, um die Löhne in Billigjobs im
Interesse der Arbeitgeber, die nicht bereit sind, einen anständigen Lohn zu zahlen, aufzustocken. Nichts anderes
ist das. Mit sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zu
tun.
({11})
- Herr Kolb, Sie sind nachher noch dran.
Ich will Ihnen an dieser Stelle deutlich sagen, dass wir
dem ein Gegenkonzept entgegenstellen werden. Ich
glaube, es ist wichtig, dass wir über gute, über ordentliche Arbeit in diesem Land reden. Wenn Sie, Herr Minister, mit den Gewerkschaften in Deutschland sprechen, ist
es wichtig, dass Sie das nicht in Form warmer Grußworte tun. Die Gewerkschaften werden darauf schauen,
ob Sie konkret handeln. Sie sollten auf Ihrem Weg umkehren und dafür sorgen, dass wir in diesem Land ordentliche Arbeitsplätze haben, damit sich Leistung für
die Menschen wirklich lohnt, die morgens aufstehen, in
die Fabriken und in die Verwaltung gehen oder als Friseurin arbeiten. Alle die sprechen Sie mit Ihren warmen
Worten an, aber Sie tun nichts Konkretes. Im Gegenteil:
Sie nehmen diesen Menschen nicht nur einen anständigen Lohn, indem Sie Mindestlöhne verweigern, Sie nehmen ihnen auch ein Stück der Würde ihrer Arbeit. Das
ist etwas, was wir in diesem Land nicht durchgehen lassen dürfen.
({12})
Wir wollen Sie, was die Arbeitsmarktpolitik betrifft,
unterstützen, wenn Sie die Zeit der Kurzarbeit verlängern wollen. Auch da haben Sie ein gut bestelltes Haus
übernommen. Ich stelle mir das so vor: Olaf Scholz, fleißig, wie er ist, hat den Entwurf einer Verordnung vorbereitet, und Sie mussten nur noch unterschreiben.
({13})
Wie gesagt, in der Sache ist das richtig. Wir unterstützen
das, es hilft der Wirtschaft, es hilft den Unternehmen,
aber es hilft auch den Beschäftigten, an Bord zu bleiben.
Ich würde mir nur eines wünschen, nämlich dass Sie an
dieser Stelle noch einen draufsetzen und mithelfen, dass
auch die geförderte Altersteilzeit nicht zum 1. Januar
nächsten Jahres ausläuft. Auch das ist wichtig für die
Betriebe und für die Beschäftigten.
({14})
Hubertus Heil ({15})
Da geht es nicht um Frühverrentung; da geht es um Beschäftigungsbrücken.
({16})
Denn in dieser Krise sind viele Menschen in Arbeit geblieben. Es gibt zwei Gruppen, die besonders betroffen
sind: die über 50-Jährigen und die unter 25-Jährigen.
Wer Angst hat, dass das zur Frühverrentung führt und
nicht zur Beschäftigungsbrücke werden kann, der sollte
sich das bei der Salzgitter AG in meiner Heimat einmal
anschauen: Dort hat man dieses Instrument genutzt und
jungen Menschen nach der Ausbildung konsequent einen Einstieg ins Erwerbsleben ermöglicht. Hinzu kamen
flexible Übergänge in den Ruhestand. Mir geht es vor allem um dieses arbeitsmarktpolitische Instrument. Wir
werden nicht zulassen, dass Sie die Geltungsdauer dieses
Instrumentes tatenlos auslaufen lassen. Deshalb werden
wir nicht nur einen Antrag, sondern einen Gesetzentwurf
in diesen Deutschen Bundestag einbringen. Dann werden wir sehen, wie Sie sich an dieser Stelle verhalten.
({17})
Sie haben etwas zum Thema Arbeitsverwaltung gesagt, Herr Jung. Dazu kann ich nur sagen:
({18})
Die Art und Weise, wie Sie in einer Phase, in der die Arbeitslosigkeit zu steigen droht, die Arbeitsverwaltung in
diesem Land chaotisieren, geht nicht nur zulasten der
Kommunen, der Arbeitsverwaltung und der Beschäftigten in der Arbeitsverwaltung; vor allen Dingen ist das
Politik auf dem Buckel der arbeitslosen Menschen in
diesem Land, und das ist etwas, wofür man sich wirklich
schämen muss.
({19})
Die alte Bundesregierung, der auch Sie angehörten,
hatte einen Konsens mit 16 Bundesländern. Er ist von
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion torpediert und kaputtgemacht worden. Jetzt verwenden Sie den schönen
Begriff der getrennten Aufgabenwahrnehmung und behaupten, das sei eine Konsequenz des Urteils, was rechtlicher Quatsch ist; das ist Blödsinn an dieser Stelle. Es
führt vor allen Dingen dazu, dass mit den Arbeitslosen
wieder Pingpong zwischen zwei Verwaltungen gespielt
wird. Es wird mehr Bürokratie geben. Es wird mehr
Menschen geben, die dafür arbeiten müssen, und es wird
weniger geben, die sich um die Vermittlung der Menschen in Arbeit tatsächlich kümmern können. Das ist das
Ergebnis dieser undurchdachten Politik, für die Sie hier
antreten.
({20})
Herr Minister, Sie werden es mit der sozialdemokratischen Opposition zu tun bekommen, wenn es um das
wichtigste Thema in diesem Land geht, nämlich um die
Arbeit der Menschen. Es wird die Frage zu beantworten
sein: Wer hat eigentlich einen Draht zu Menschen, die
hart arbeiten und von ihrer Arbeit auch leben können
wollen? Ich sage sehr deutlich: Manchmal habe ich den
Eindruck, dass einige bei Schwarz-Gelb ein gebrochenes
Verhältnis zu anständiger Erwerbsarbeit haben.
({21})
Wenn ich mir die Vorschläge anschaue, für die Sie
hier stehen, dann muss ich an dieser Stelle sagen: Gehen
Sie in Ihre Wahlkreise! Reden Sie mit Menschen, vor allen Dingen in den Dienstleistungsberufen, die jeden Tag
mehrere Jobs ausüben müssen, um über die Runden
kommen zu können! Diesen Menschen verweigern Sie
die Mindestlöhne. Für diese Menschen haben Sie weder
Herz noch Verstand. Sie haben den Draht zu diesen
Menschen verloren.
({22})
Ich will Ihnen zum Schluss eines sagen, Herr Minister:
Sich Art. 20 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland zu vergegenwärtigen, müsste eigentlich alle
verbinden, gerade im 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland. Deutschland soll ein sozialer und demokratischer Bundesstaat sein. Es geht um den sozialen Rechtsstaat. Sie wollen in der Sozialpolitik einen Paradigmenwechsel, weg vom
sozialen Rechtsstaat, weg von sozialen Bürgerrechten, hin
zu Almosen.
({23})
Das ist nicht in Ordnung. Es widerspricht dem Geist unserer Verfassung. Es wäre eigentlich vernünftig, sich daranzumachen, den Geist der Verfassung mit neuem Leben zu erwecken.
({24})
Gerade in einer Situation, in der sich die Arbeitswelt ändert, dürfen Sie kein gestörtes Verhältnis zur Arbeit in
Deutschland bekommen. Wir werden Alternativen aufzeigen.
Herzlichen Dank.
({25})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Heil, ich habe heute schon Ihre zweite
Rede gehört,
({0})
und ich stelle fest, dass Sie nichts, aber auch wirklich
überhaupt nichts aus Ihrer Wahlniederlage gelernt haben.
({1})
Sie haben den Versuch einer Gleichsetzung von SchwarzGelb und sozialer Kälte mitzuverantworten. Das war die
entscheidende Fehlkalkulation in der Schlussphase des
Wahlkampfs. Sie haben geglaubt, Sie könnten die Menschen verunsichern, und Sie haben gehofft, Sie könnten
von dieser Verunsicherung profitieren. Aber die Menschen haben sich mehrheitlich für Schwarz-Gelb entschieden,
({2})
weil sie uns zugetraut haben, besser mit den Folgen der
Krise fertigzuwerden. Laut sprechen allein, Herr Heil,
genügt hier nicht.
({3})
Sie sollten die Menschen nicht unterschätzen. Die
Menschen ahnen sehr wohl, dass die schwierigen Zeiten,
in denen wir leben, nicht mit den Rezepten von gestern
zu bewältigen sind.
({4})
Das Rezept von Olaf Scholz, zum Beispiel zur Bewältigung der Rentenprobleme, war, mit Geld, das er nicht
hatte - bildlich gesprochen: mit einem Wechsel auf die
Zukunft -, Zeit bis zum Wahltag zu gewinnen, sich über
den Wahltermin zu retten. Seriös, Herr Heil, war das aus
meiner Sicht nicht.
({5})
Wenn dieses Wechselgeschäft jetzt platzen sollte, werden wir nicht zögern, den Verantwortlichen zu benennen.
Das gilt besonders für die Rentenpolitik, die am heutigen
Tag ja wieder einmal die Schlagzeilen bestimmt.
({6})
Ich kenne Karl Valentin: Das Schwierige an der Prognose ist die Vorhersage des Künftigen. - Das bestreite
ich nicht. Deswegen rate ich wie der Minister dazu - das
war auch guter Brauch in der Vergangenheit -, abzuwarten, bis die maßgeblichen Zahlen vorliegen. Das wird im
März kommenden Jahres der Fall sein.
({7})
Aber dass die Rahmenbedingungen für positive Rentenanpassungen in den nächsten Jahren eher schwieriger
geworden sind, das, Herr Heil, kann man heute schon
feststellen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
müssen und können wir aus der Krise auch lernen:
({8})
Rentner und Erwerbstätige sitzen in einem Boot.
({9})
- Ja, da lachen Sie. Das ist eigentlich beschämend für
Sie.
({10})
Die Renten können sich in einem umlagefinanzierten
System auf Dauer nur im Gleichklang mit den Löhnen
und Gehältern entwickeln. Jeder Versuch, diesen Zusammenhang aufzuheben, ist eine schwere Belastung für die
Nachhaltigkeit der Rentenfinanzierung. Deswegen war
und bleibt - ich sage das nach der Wahl so deutlich wie
vorher - die Rentengarantie der Großen Koalition ein
Akt des Populismus. Das muss man hier sehr deutlich so
benennen.
({11})
Damals wurde diese Garantie, Herr Heil, noch mit dem
beschwichtigenden Hinweis verbunden, sie werde ja nie
greifen.
({12})
Wenn es nun anders kommen sollte und die Garantie
greift, gilt das, worauf wir immer hingewiesen haben,
dass nämlich die Rentengarantie der Großen Koalition
ein vergiftetes Geschenk gewesen ist, ein Geschenk, das
die Beschenkten am Ende selber bezahlen müssen. Die
Rentner, da bin ich mir sicher, werden sich am Ende bei
denen zu bedanken wissen, die ihnen genau das eingebrockt haben.
({13})
Aber nicht nur Erwerbstätige und Rentner sitzen in einem Boot, auch Schülerinnen und Schüler, Studenten,
Arbeitslose, Langzeitarbeitslose, Kinder und behinderte
Menschen. Letztlich sind alle Gruppen unserer Gesellschaft auf eine starke Wirtschaft angewiesen, weil nur
verteilt werden kann, was zuvor erwirtschaftet wurde.
({14})
Deswegen ist nach meiner festen Überzeugung ein
strikter Wachstumskurs ohne jede Alternative. Wir müssen versuchen, die Lücke, die durch den stärksten Rückgang des Buttoinlandsproduktes in der Geschichte der
Bundesrepublik entstanden ist, möglichst schnell wieder
zu schließen und darüber hinaus zu gehen.
({15})
Wir haben in den letzten Jahren gesehen: Die Finanzierung der gesellschaftlichen Aufgaben und die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme gelingt am besten, wenn wir ein hohes Maß an Beschäftigung haben,
wenn möglichst viele Menschen Steuern zahlen und Sozialversicherungsbeiträge leisten.
({16})
Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen,
damit in der Krise möglichst viele Arbeitsplätze erhalten bleiben und nach der Krise - das ist entscheidend,
Frau Pothmer - der Aufbau neuer Beschäftigung möglichst früh einsetzt und sich auch möglichst stark entwickeln kann.
({17})
Ein erster Baustein dazu ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das in dieser Woche im Deutschen Bundestag eingebracht wurde. Weitere Schritte werden folgen.
({18})
Einige davon sind im Koalitionsvertrag bereits benannt;
aber auch manches, was keine Aufnahme in den Koalitionsvertrag gefunden hat, wird uns in den nächsten Jahren beschäftigen, beschäftigen müssen.
({19})
Alles, was die Koalition unternimmt, muss sich an der
Zielsetzung einer möglichst hohen Beschäftigung ausrichten. Das gilt umso mehr, als ich die Einschätzung der
Bundeskanzlerin teile, dass am Arbeitsmarkt der schwierige Teil der Wegstrecke noch vor uns liegt. Wir dürfen
uns dabei nichts vormachen, Herr Heil. Sicher, die
Kurzarbeit hatte und hat eine stabilisierende Wirkung.
Wunder vollbringen kann sie nicht.
({20})
Denn die Kurzarbeit kostet ja nicht nur die Bundesagentur viel Geld, sie belastet eben auch die Finanzen und die
Eigenkapitaldecke der Unternehmen. Die Entlastung der
Unternehmen bei den Lohnkosten im Wege der Kurzarbeit ist ja nur ein Teil der gesamten Sicht.
({21})
Wir dürfen uns außerdem nicht darüber täuschen, dass
die Unternehmen auch weiterhin Leasingraten, Pachtzinsen, Abschreibungen und andere Dinge für die Bereithaltung von Kapazitäten zu bilanzieren haben, was sich
rapide und nachhaltig auf die Erträge der Unternehmen
auswirkt.
({22})
Deswegen wird es im gewissen Umfang auch unvermeidlich sein, dass Anpassungsmaßnahmen erfolgen.
Aber gerade, weil das auf uns zukommt, ist es wichtig,
dass wir jetzt in der Krise den Druck zur Beschäftigungsanpassung nicht noch durch prozyklische Maßnahmen erhöhen, wozu sicherlich Beitragserhöhungen gehören
würden. Deswegen habe ich Verständnis für Überlegungen, wie sie der Minister hier auch vorgetragen hat, die
krisenbedingten Kosten der Sozialversicherung mit Steuermitteln zu finanzieren.
({23})
Ich glaube aber auch, dass in den Fällen, in denen sich
die Inanspruchnahme von Beitragsmitteln nicht rechtfertigen lässt, jetzt ein klarer Strich gezogen werden muss.
Deswegen begrüße ich das im Koalitionsvertrag vereinbarte Auslaufen der staatlich geförderten Altersteilzeit.
Altersteilzeit war und bleibt ein Irrweg.
({24})
Dadurch sind in vielen Fällen Ältere mit mehr oder weniger sanftem Druck aus dem Erwerbsleben und aus den
Betrieben hinausgedrängt worden. Es ist höchste Zeit,
dass der Beitragszahler aus der Haftung entlassen wird.
Es kann auch künftig Altersteilzeit geben, aber dann
bitte auf Kosten der Firmen, die diese wollen.
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass es in diesem Zusammenhang auch aus meiner Sicht ein neues
Angebot an die Versicherten für die Gestaltung des
Übergangs vom Erwerbsleben in den Ruhestand geben
muss. Die FDP hat ihren Vorschlag dazu schon eingebracht. Ich würde mir wünschen, dass sich, nachdem die
Bundeskanzlerin hier gestern gefordert hat, es müsse
Schluss sein mit reflexhaften Reaktionen, alle Fraktionen dieses Hauses, gerne auch unser Koalitionspartner,
diesen Vorschlag einmal unvoreingenommen ansehen.
Es geht darum, Entscheidungsfreiheit zu schaffen und
die Verantwortung des Einzelnen zu stärken - nicht
mehr, aber auch nicht weniger. Für mich ist klar: Gibt es
ein solches Angebot nicht, wird der Druck auf die Erwerbsminderungsrente dramatisch zunehmen.
({25})
Das ist eine Entwicklung, die angesichts der bereits jetzt
angespannten Rentenfinanzen niemand wirklich wollen
kann.
({26})
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente müssen gestrafft werden. Das hatte die Große Koalition angekündigt, aber nicht wirklich in Angriff genommen. Die Zahl
der Instrumente kann und muss verringert und die Effizienz gesteigert werden. Letztendlich geht es darum, die
Chancen für Arbeitslose und Langzeitarbeitslose auf
eine Rückkehr in das Erwerbsleben möglichst optimal
auszugestalten.
Zum Schluss: Ich begrüße es, dass im Koalitionsvertrag eine Verständigung darüber herbeigeführt worden
ist, dass es keinen gesetzlichen Mindestlohn geben
wird,
({27})
und dass die Möglichkeit, branchenbezogene Mindestlöhne einzuführen, eingedämmt wurde.
({28})
Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze. Das wird - da
bin ich mir sicher - auch die Evaluation zeigen.
({29})
Mindestlöhne schaden dem Wettbewerb. Sie vernichten
auch Wohlstand in einer Volkswirtschaft, Herr Heil.
({30})
Wir sollten sehen: Der Normalfall ist immer noch, dass
derjenige, der Arbeit hat, auch davon leben kann. Wenn
der Verdienst nicht in jedem Fall reicht, bedeutet das aus
meiner Sicht keine Bankrotterklärung unseres Sozialstaates, sondern ist gerade Nachweis seiner Leistungsfähigkeit, da wir den nicht ausreichenden Verdienst aufstocken.
({31})
Meine Damen und Herren, ich bin am Ende meiner
Redezeit. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Herr Jung, mit Ihren Mitarbeitern und mit den alten
und neuen Kollegen im Ausschuss. Ich bin gespannt auf
den neuen Vorsitz, den erstmals die Linke stellen wird.
Wir werden in der kommenden Legislaturperiode wichtige Aufgaben zu lösen haben, und ich bin sicher: Bei
Offenheit und gegenseitigem Verständnis werden wir
gute Lösungen erarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({32})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Ernst für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Minister, ich habe ja Verständnis dafür,
dass Sie sich noch einarbeiten müssen. Aber Sie müssen
deshalb nicht jeden unsinnigen Satz wiederholen: Sozial
ist, was Arbeit schafft. Was heißt das? Auch im alten
Rom, bei den Ägyptern und bei den Griechen gab es Arbeit. Das war Sklavenarbeit. Wenn der Satz „Sozial ist,
was Arbeit schafft“ stimmen würde, dann wäre das alte
Rom ein Sozialstaat gewesen. Das werden Sie aber doch
nicht behaupten wollen.
({0})
Wenn Sie nicht begreifen, dass Sie nicht nur für die
Menge an Arbeit, sondern auch für die Qualität der Arbeit verantwortlich sind, dann verstehen Sie Ihren Job
falsch.
({1})
Sittenwidrige Löhne stehen im Widerspruch zu dem
Satz „Wohlstand für alle“ in Ihrer Koalitionsvereinbarung und zu der Aussage „Leistung muss sich lohnen“.
Eine Floristin in Sachsen-Anhalt verdient 4,35 Euro in
der Stunde. Ist das gerecht? Lohnt sich deren Leistung?
({2})
Ein Kfz-Handwerker in Schleswig-Holstein verdient
7,01 Euro in der Stunde. Lohnt sich dessen Arbeit? Ist
dessen Leistung vernünftig bezahlt? Ein im Wachdienst
Beschäftigter in Thüringen verdient 4,15 Euro in der
Stunde. Ist das gerecht?
({3})
Sie haben einen Eid geschworen, dass Sie jedermann
Gerechtigkeit widerfahren lassen. Auch die Niedriglöhner müssen in diesen Eid einbezogen sein, Herr Minister.
({4})
- Sie, Herr Kolb, wissen ganz genau - so schlau sind
Sie; Sie können aber gerne eine Zwischenfrage stellen,
um meine Redezeit zu verlängern -, dass es Bereiche
gibt, in denen Gewerkschaften nicht die Möglichkeit haben, einen vernünftigen Lohn auszuhandeln. Wenn Sie
das nicht begreifen, informiere ich Sie gerne über die
Bereiche, in denen das der Fall ist.
({5})
Jetzt sage ich noch etwas zur Sittenwidrigkeit. Sittenwidrig ist es, dass Sie akzeptieren, dass die Floristin statt
4,35 nur 2,90 Euro, der Kfz-Handwerker statt 7,01 nur
4,68 Euro und der Beschäftigte im Separatwachdienst
statt 4,19 letztendlich 2,77 Euro in der Stunde verdient.
Das ist Ihre Gerechtigkeit, Herr Jung. Ich halte es für einen Skandal, dass diese Regierung dazu beiträgt, das
Niedriglohnniveau in diesem Land weiter zu senken.
({6})
Zu Ihrem Vorschlag zum Kündigungsschutz.
({7})
Es ist schon bemerkenswert: Da sagte die Kanzlerin in
ihrer gestrigen Regierungserklärung:
Wir werden auch die Schutzwirkung des Kündigungsschutzes nicht mindern. Das schafft Vertrauen
und hat auch etwas damit zu tun, das Verhältnis der
Bürger zu ihrem Staat zu verbessern.
({8})
Richtig! Aber ein paar Sätze zuvor sagte sie:
Ebenso werden wir befristete Beschäftigungsverhältnisse erleichtern.
Glauben Sie, die Leute sind doof und merken nicht,
was Sie da machen? Wenn Sie das umsetzen, was Sie
vorhaben, dann kommen die Leute noch nicht einmal in
den Genuss des bestehenden Kündigungsschutzes. Den
brauchen Sie also gar nicht zu verschlechtern. Herr Jung,
ein befristet Beschäftigter muss nicht entlassen werden.
Er fliegt einfach raus. Es sind im Übrigen diejenigen betroffen, die schon in der Krise rausgeflogen sind. Daher
gibt es trotz der Kurzarbeit eine Steigerung der Arbeitslosenzahl. Ich sage Ihnen: Wenn Sie bei Ihrer Haltung
bleiben, die Befristung weiter zu öffnen, dann erhöhen
Sie die Arbeitslosigkeit. Auch das ist denkbar ungerecht.
Zur Leiharbeit lese ich in Ihrer Regierungserklärung
überhaupt nichts, Herr Jung. Leiharbeit ist ungerecht.
Bei gleicher Arbeit weniger Geld zu verdienen, ist ein
Skandal.
({9})
Sie unternehmen aber nichts dagegen. Der neue Arbeitsminister schweigt zu diesem Thema.
({10})
- Sie können gerne weiter grölen! Ich bin trotzdem irgendwann einmal fertig.
Ich möchte noch eine Bemerkung zur Rente machen.
Es ist ja lustig: Da weiß die rechte Hand nicht, was die
linke macht. Wie ist es denn mit der Rente mit 60, Herr
Kolb? Darüber habe ich nichts gehört.
({11})
Ich habe gedacht, Sie wollen jetzt eine Rente mit 60 einführen. Sie verschweigen, dass die von Ihnen angestrebte Rente mit 60 dazu führt, dass die Betroffenen
letztendlich 25 Prozent Abschläge in Kauf nehmen müssen, wenn sie die Rente mit 60 in Anspruch nehmen.
({12})
Selbst die eigenen Leute in der Koalition sagen, dass
dies Unfug ist. Herr Dobrindt von der CSU sagt: Was die
FDP hier als flexible Frühverrentung tarnt, ist in Wahrheit ein gigantisches Entlassungsprogramm auf Kosten
der Steuerzahler. - Ich habe mir nicht träumen lassen,
dass ich einmal den Kollegen Dobrindt zitieren muss.
Aber mir bleibt gar nichts anderes übrig.
({13})
Was Sie hier verbreiten, ist soziale Kälte. Ich hätte
von dem Minister gern eine klare Antwort auf die Frage:
Gilt nun in Bezug auf die Rentengarantie das, was der
Koalitionspartner sagt, oder gilt das, was Sie vereinbart
haben?
({14})
- Herr Kolb, Sie laufen bei dieser Frage rückwärts
schneller, als Sie vorwärts gucken können. Das ist doch
Ihr Problem.
({15})
Ich würde trotzdem gerne erleben, dass der Minister diesen Punkt klarstellt.
({16})
Zum Schluss. Sie sagen: Leistung muss sich lohnen.
Wenn Sie für diese Koalitionsvereinbarung nach Leistung bezahlt werden würden, dann müssten Sie ein Jahresgehalt abgeben. So ist die Realität.
Ich danke fürs Zuhören.
({17})
Das Wort hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In
Deutschland fehlen 5 Millionen Arbeitsplätze. Das Defizit der Bundesagentur für Arbeit ist riesig. 20 Jahre nach
dem Mauerfall ist die Arbeitslosenquote im Osten immer
noch doppelt so hoch wie im Westen. Die Lohnschere
geht immer weiter auseinander.
({0})
Geringverdiener bekommen inzwischen nur noch
53 Prozent eines Durchschnittsgehalts. Schlechter, was
diese Lohnschere angeht, sind inzwischen nur noch
Polen und Südkorea.
Immer mehr Menschen, vor allem Kinder, leiden unter Armut in all ihren Erscheinungsformen. Mit anderen
Worten: Die Herausforderungen in der Arbeitsmarktund Sozialpolitik sind wirklich gigantisch. Wenn ich in
Ihren Koalitionsvertrag schaue und mir Ihre Rede heute
anhöre, Herr Jung, dann kann ich nur sagen: Ihre Antworten sind mickrig, völlig ohne Ehrgeiz, völlig ohne
Anspruch.
({1})
Ich muss wirklich sagen: Ich fürchte, dass das Schicksal der Ausgegrenzten, der Arbeitslosen und der Geringverdiener bei Schwarz-Gelb in schlechten Händen ist.
Sie handeln nicht nach dem Sozialstaatsprinzip, das da
heißt: Starke Schultern sollen mehr tragen, wie es Frau
Merkel noch gestern in ihrer Regierungserklärung betont
hat. Sie handeln nach dem Prinzip: Wer hat, dem wird
gegeben. Das ist unchristlich.
({2})
Die Arbeitsmarktpolitik ist ganz offensichtlich das Stiefkind dieser Regierung.
Schaut man sich einmal an, wie Sie, Herr Jung, zu Ihrem Posten gekommen sind, zu dem wir Ihnen nichtsdestotrotz herzlich gratulieren, dann kann man dazu nur
sagen: Das war der Titel, der noch auf der Resterampe zu
haben war.
({3})
Alle anderen waren schon weg. Da gab es dann noch
dieses Ressort. Das war der Restposten. Das haben die
Arbeitslosen und diejenigen, die Unterstützung brauchen, wirklich nicht verdient.
({4})
Herr Jung, Sie selber werden es wahrscheinlich nicht
bestreiten: Bisher hatten Sie mit diesem Themenbereich
nichts, aber auch gar nichts am Hut. Aber ich wäre eine
schlechte Sozialpolitikerin, wenn ich Ihnen nicht sagen
würde: Jeder bekommt eine Chance. Ich will Ihnen aber
auch sagen: Nutzen Sie diese Chance; ansonsten geht es
Ihnen nicht gut.
({5})
Weiterhin sage ich Ihnen: Ein bisschen mehr Engagement, als Sie heute in Ihrer Rede an den Tag gelegt haben, müssen Sie schon zeigen, damit Sie in dieser Frage
bestehen. Ich wünsche Ihnen im Sinne der Arbeitslosen
und derjenigen, die soziale Unterstützung brauchen, viel
Erfolg. Die Herausforderungen sind groß. Sie brauchen
da mehr Engagement, als Sie bis jetzt gezeigt haben.
({6})
- Mühe geben ist das Gegenteil von Kunst. Genau, das
reicht nicht.
Ich komme zum Koalitionsvertrag. Als ich den Titel
gelesen habe, habe ich gedacht: Immerhin kommt der
Begriff „Zusammenhalt“ vor. Ich muss ganz ehrlich sagen: Das hat mich hoffnungsfroh gestimmt; denn wir haben es mit einer immer tieferen Spaltung in der Gesellschaft zu tun. Als ich den Vertrag aber gelesen habe, hat
sich bei mir - es wird Sie nicht wundern - Ernüchterung
breitgemacht. Denn wenn ich mir allein Ihre Steuer- und
Kindergeldpläne anschaue, komme ich zu dem Ergebnis:
Sie marschieren haargenau in die entgegengesetzte Richtung von dem, was für mehr Zusammenhalt nötig gewesen wäre.
({7})
Sie zementieren mit Ihren Plänen eine Dreiklassengesellschaft in der Kinderpolitik. Die Kinder von Besserverdienenden sind Ihnen 443 Euro pro Jahr wert. Kinder
von Eltern mit geringen und mittleren Einkommen sind
Ihnen nur noch 240 Euro wert. Aber diejenigen, die es
am allerdringendsten brauchen, bekommen null, zero,
Herr Jung. Das können Sie uns nicht als gerecht verkaufen. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit. Das ist
nach dem Motto: Wer hat, dem wird gegeben.
({8})
Wenn Sie wirklich etwas gegen die soziale Spaltung
tun wollen, dann müssen Sie als Erstes die Regelsätze
für Erwachsene anheben. Zudem müssen Regelsätze errechnet werden, die dem tatsächlichen Bedarf von Kindern und Jugendlichen entsprechen.
({9})
Unterhalb von 420 Euro für Erwachsene und unterhalb
von 280 Euro für Kinder und 330 Euro für Jugendliche
wird es nicht gehen. Zu dieser Frage ist in Ihrem Koalitionsvertrag nichts zu finden. Da bewegen Sie sich keinen einzigen Millimeter.
({10})
Bei dieser Regierung, Herr Kolb, ist es doch so: Sie
müssen zur sozialen Politik regelrecht verurteilt werden.
({11})
Ich kann Ihnen nur sagen: Von Ihnen haben die Betroffenen nichts, aber auch gar nichts zu erwarten. Die einzige
Chance, die sie bei dieser Regierung haben, ist das Bundesverfassungsgericht. Das ist doch ein Armutszeugnis,
Herr Kolb.
({12})
- Jetzt kommen Sie mir nicht mit Ihren Wählerinnen und
Wählern. 3 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die Sie
gewählt haben, bereuen das doch schon heute schmerzlich.
({13})
Herr Jung, der Lackmustest im Kampf gegen Armut
und für Gerechtigkeit ist nicht das Schonvermögen. Der
Lackmustest ist die Anhebung der Regelsätze.
({14})
Noch nicht einmal 1 Prozent aller Betroffenen profitiert
überhaupt vom Schonvermögen. Das ist doch reine
Symbolpolitik, und damit kommen Sie bei uns und bei
den Betroffenen nicht durch.
({15})
Wenn Sie wirklich etwas gegen die soziale Spaltung
bei den Einkommen tun wollen, dann müssen Sie endlich flächendeckende Mindestlöhne einführen.
({16})
6,5 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für geringe Löhne, und von ihnen verdienen 2 Millionen weniger als 5 Euro pro Stunde, Herr Jung. Ihre Antwort
darauf, jetzt sittenwidrige Löhne einzuführen, ist doch
ein Hohn.
({17})
Wissen Sie, dass Ihre sittenwidrigen Löhne zum Beispiel
erst bei Leuten in Sachsen-Anhalt greifen, die 4 Euro pro
Stunde verdienen? Bei 2,80 Euro greifen Ihre sittenwidrigen Löhne. Was hat das eigentlich damit zu tun, wenn
Sie sagen: „Arbeit soll sich wieder lohnen“? Diese Menschen jedenfalls haben Sie nicht gemeint.
({18})
Wenn Sie dann noch sagen: „Sozial ist, was Arbeit
schafft“,
({19})
Herr Jung, betrifft das dann auch diese Menschen?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth?
Ja.
Bitte sehr.
Ich stelle den eigenen Kolleginnen und Kollegen üblicherweise keine Zwischenfrage. Aber da Sie, Kollegin
Pothmer, sich danach erkundigt haben, was „Leistung
soll sich wieder lohnen“ heißen solle, frage ich Sie: Halten Sie es für möglich, dass die FDP diese Worte so versteht, dass diejenigen, die etwas leisten, und diejenigen,
für die es sich lohnen soll, womöglich nicht dieselben
Leute sind?
({0})
Dass die FDP zu Leistung und zu Löhnen ein gespaltenes Verhältnis hat, kann ich an dieser Stelle nur bestätigen. Daher kann ich Ihrer Interpretation folgen. - Danke.
({0})
Herr Jung, bei den Jobcentern handeln Sie nach dem
Motto „Vorwärts, Kameraden, wir marschieren zurück“.
Mitten in der tiefsten Krise der Geschichte der Bundesrepublik, im Jahr 2010, in dem wir alle ein extremes Anwachsen der Arbeitslosigkeit zu erwarten haben, machen
Sie die Jobcenter zu Großbaustellen. Im nächsten Jahr
werden sich die Beschäftigten mit der Umstrukturierung
ihrer eigenen Einrichtung und nicht etwa mit denjenigen
beschäftigen, die Arbeit und Unterstützung brauchen.
({1})
- Wir hätten eine Verfassungsänderung durchführen
können. Aber Sie haben dagegen gestimmt. Sie werden
auch dafür verantwortlich gemacht, wenn in dieser
Situation die Unterstützung für Arbeitslose nicht erfolgen kann.
({2})
Es ist doch ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass
gerade die FDP, die die Bundesagentur für Arbeit wie
Exorzisten verfolgt hat, und die CDU, die immer gesagt
hat, die einzig Kompetenten in diesem Bereich seien die
Kommunen, dafür sorgen, dass die Kommunen an den
Katzentisch kommen und die Bundesagentur für Arbeit
so stark wird, wie sie nie war. Das wird bei Ihrer Politik
herauskommen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss.
({0})
Das ist auch notwendig.
Wir brauchen einen Aufbruch in Deutschland für Arbeit und Gerechtigkeit. Das, was Sie hier vorgestellt haben, Herr Jung, ist es wahrlich nicht. Ich kann Ihnen nur
eins versprechen: Wir werden dafür sorgen, dass Sie in
die Strümpfe kommen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Karl Schiewerling
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! „Wachstum - Bildung - Zusammenhalt“, der Koalitionsvertrag von Union und FDP
zeigt schon im Titel, dass sich die neue Koalition der
großen Herausforderungen auch und gerade im Bereich
der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik verantwortungsvoll annimmt.
Programmatisch konzipiert und pragmatisch umgesetzt, so wird unser Handeln sein - für mehr Arbeit, für
mehr und sichere Arbeitsplätze, für mehr Krisenfestig190
keit durch Förderung und Qualifizierung und - das ist
zentral - auch für den nötigen Zusammenhalt, für das
gegenseitige solidarische Einstehen durch unsere Sozialsysteme für diejenigen, die der Hilfe und der Unterstützung bedürfen.
Vor vier Jahren hatten wir eine andere Situation. Gott
sei Dank haben wir in dieser schwersten Wirtschaftskrise nicht mehr 5 Millionen Arbeitslose, sondern - leider - etwas mehr als 3 Millionen. Die Zahl der Arbeitslosen lag schon einmal unter 3 Millionen. Wir wissen,
dass jeder Arbeitslose ein Arbeitsloser zu viel ist; aber
die Ausgangslage ist für die Menschen heute ungleich
besser als die, die wir noch vor 2005 hatten.
({0})
Ich nenne Ihnen einen zweiten wichtigen Unterschied: Der Unterschied ist der, dass in der Zeit vor 2005
viele Unternehmen Mitarbeiter entlassen wollten, weil
sie ihre Struktur in Ordnung bringen wollten. Derzeit haben wir die Situation, dass viele Unternehmen ihre Mitarbeiter halten wollen, weil sie genau wissen, sie sind
auf die Facharbeiter angewiesen, wenn der Aufschwung
kommt. Genau dafür haben wir das Kurzarbeitergeld
eingeführt.
({1})
Deswegen führen wir das Kurzarbeitergeld fort. Olaf
Scholz war damals der verantwortliche Minister. Aber er
hätte ohne die CDU/CSU nichts machen können.
({2})
Die Menschen brauchen Sicherheit. Wir müssen Arbeitsplätze sichern und neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Natürlich schafft nicht der Staat die Arbeitsplätze, sondern die Wirtschaft, aber die Politik muss
für die richtigen Rahmenbedingungen sorgen. Wir müssen uns auch den Fragen stellen: Was passiert mit den
Menschen, deren Qualifikation am Arbeitsmarkt nicht
gefragt ist? Was passiert mit den Menschen, die gesundheitliche Einschränkungen haben, aber dennoch ihren
Anteil am Arbeitsleben einbringen wollen und auch einbringen können?
Diesen Herausforderungen werden wir uns stellen,
denn sie sind wichtig für eine solidarische Gesellschaft.
Die Menschen brauchen Sicherheit, und zwar echte und
keine falsche Sicherheit. Mich treibt die Frage um: Was
nutzt den Menschen bei Quelle der Kündigungsschutz,
wenn die Firma in die Insolvenz geht?
({3})
Daher stellt sich für uns die Frage der Sicherheit neu und
auch anders. Kündigungsschutz und Mitbestimmung
sind nicht nur ein Wesenskern von Arbeitnehmerrechten,
sie sind auch Strukturen betrieblicher Partnerschaft. Aus
diesem Grunde stehen sie für unsere Fraktion nicht zur
Disposition; die Bundeskanzlerin hat dies eindrucksvoll
unterstrichen.
({4})
Was bringen uns flächendeckende Mindestlöhne,
wenn als deren Folge andere Jobs vernichtet werden?
({5})
Ich weiß, über die Auswirkungen streiten die Volkswirtschaftler und die Wissenschaftler kräftig; sie fragen sich,
ob das so kommt.
({6})
Deswegen bleibe ich bei den Grundprinzipien unseres
Staates. In unserem Lande werden Löhne ausgehandelt
und nicht verordnet.
({7})
Die Tarifautonomie der Tarifpartner ist ein wichtiger
Teil der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Landes.
Herr Kollege Schiewerling, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege, ich habe Ihrer Biografie entnommen,
dass Sie, genau wie ich, ein Christenmensch sind. Sie
haben, glaube ich, sogar einen beruflichen Hintergrund
in diesem Bereich. Wir sind nur unterschiedlicher Konfession; ich bin evangelischer Christ.
Was sagen Sie eigentlich dazu, dass auch Seine Heiligkeit der Papst für Mindestlöhne ist? Hat er keinen
ökonomischen Sachverstand?
({0})
Das wäre eine Frage, die mich interessiert.
Im Übrigen gibt es in 20 Ländern in Europa einen gesetzlichen Mindestlohn. Ich weiß nicht, wie es im Vatikanstaat ist.
({1})
Es ist nicht bekannt, dass er Arbeitsplätze vernichtet
hätte. - Können Sie mir das beantworten?
Gerne. - Der Heilige Vater, Papst Benedikt XVI., hat
sich deutlich für Mindestlöhne ausgesprochen, aber er
hat nicht gesagt, in welcher Form die Mindestlöhne zustande kommen.
({0})
Er hat nichts von gesetzlichen Mindestlöhnen gesagt.
Vielmehr hat er gesagt, Menschen brauchen ein Mindesteinkommen.
({1})
Da hat der Heilige Vater völlig recht. Das deckt sich voll
mit den Positionen unserer Fraktion.
({2})
- Nein, Frau Kollegin Ferner, das hat mit Zynismus
überhaupt nichts zu tun. Man muss sich mit den Texten
der katholischen Soziallehre auskennen, übrigens auch
mit der letzten Sozialenzyklika. Wenn man die Enzyklika bis zum Ende liest, erkennt man die Zusammenhänge, und die sind etwas weiter als der Blickwinkel von
Herrn Heil.
({3})
Die Tarifautonomie der Tarifpartner ist ein wichtiger
Teil unserer demokratischen Grundordnung; das habe
ich gerade gesagt. Wir brauchen, um sie umsetzen zu
können, starke Gewerkschaften und starke Arbeitgeberverbände. Sie sind zentral für das Funktionieren der sozialen Marktwirtschaft.
Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit sind
die beiden Faktoren, die die Menschen in unserer Gesellschaft insgesamt und nicht zuletzt unsere Wirtschaft
nach vorne bringen und zukunftssicher machen. Gerade
als Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker sage ich: Ja, wir
brauchen eine prosperierende Wirtschaft. Ohne prosperierende Wirtschaft haben wir keine Perspektiven.
({4})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer erwirtschaften gemeinsam das, was Voraussetzung für die Gewährleistung
sozialer Sicherheit ist, auch für die Menschen, die
selbst nicht oder nicht mehr im Erwerbsprozess stehen.
Ich füge an dieser Stelle hinzu: Die Wirtschaft, der Staat
und auch die Sozialsysteme leben von Voraussetzungen,
die sie selbst nicht schaffen können. Eine ist, dass genügend Kinder geboren und so erzogen werden, dass sie
tüchtig und lebensfähig sind und voller Begeisterung
und Zukunftsmut unsere Gesellschaft mittragen.
({5})
Das, was wir auf den Tisch gelegt haben, ist kein Ausdruck von sozialer Kälte, sondern von verantwortungsbewusstem Handeln für die Menschen. Mit dem Schlagwort „soziale Kälte“ haben die Oppositionsparteien
versucht, die Wähler zu verunsichern. Das hat nicht
funktioniert. Herr Heil, ich erlaube mir den Hinweis: In
Nordrhein-Westfalen haben mehr Arbeitnehmer die
CDU gewählt als die SPD.
({6})
Wenn Sie jetzt gemeinsam mit Ihren Oppositionskollegen im Deutschen Bundestag glauben, diese Koalition
als einen Popanz darstellen zu können, auf den Sie ein
Scheibenschießen veranstalten können, dann werden Sie
sich wundern. Das hat mit der Wirklichkeit, mit dem,
was im Koalitionsvertrag steht, nichts, aber auch gar
nichts zu tun.
({7})
Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit stehen eben nicht für unsoziale Härte, sondern sind Maßstäbe für soziale Gerechtigkeit auf der Basis christlicher
Wertvorstellungen. Auf diesen Maßstäben und Werten
baut unsere Gesellschaft auf. Das sind Werte, für die die
Menschen in den neuen Ländern vor 20 Jahren auf die
Straße gegangen sind.
({8})
Teilhabegerechtigkeit und Chancengerechtigkeit zu
verwirklichen sowie die Verantwortung eines jeden, zunächst nach seinen Möglichkeiten für sich selbst zu sorgen, das steht bei uns im Vordergrund. Erst dann, wenn
der Einzelne nicht in der Lage ist, für sich selbst und
seine Familie zu sorgen, stehen ihm unsere Sozialsysteme solidarisch zur Seite. Dann allerdings müssen die
sozialen Netze auch tragfähig sein.
({9})
Die unserer Verfassung zugrunde liegenden Prinzipien der christlichen Soziallehre, nämlich Personalität,
Solidarität und Subsidiarität, sichern die Entfaltung der
Eigenverantwortung und die Freiheit. Das gehört zur
Würde der Menschen. In der Sozialversicherung werden
Freiheit und Verantwortung unter anderem dadurch deutlich, dass wir dort eine Selbstverwaltung haben. Ich sage
das, weil im Jahr 2011 die Sozialwahlen anstehen, und
mit Blick auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der Berufsgenossenschaften, die gerade dabei sind, die Dinge
selbst zu regeln. Die soziale Selbstverwaltung ist ein Teil
unserer freiheitlichen Ordnung. Diktaturen haben sie abgeschafft, Konrad Adenauer hat sie folgerichtig wieder
eingeführt.
({10})
Wachstum, mehr und sichere Jobs, soziale Sicherheit,
Teilhabe- und Chancengerechtigkeit sowie - lassen Sie
mich das hinzufügen - Generationengerechtigkeit, zum
Beispiel hinsichtlich der Verlässlichkeit unseres Rentensystems, das sind die großen Herausforderungen, vor denen die Union und die Koalition unter Leitung unserer
Bundeskanzlerin Angela Merkel stehen und für die sie
einen klaren Kurs haben. Uns alle treibt um, dass wir es
spätestens ab dem Jahr 2020 oder 2022 in massiver
Weise mit Altersarmut zu tun haben werden. Ich halte
es für notwendig, dass wir in dieser Koalition in den
kommenden Jahren gemeinsam die Weichen dafür stellen, dass dies so nicht eintritt.
({11})
Einige Sätze zur Neuorganisation des SGB II: Die
Koalitionspartner haben sich darauf verständigt, die
Aufgabenwahrnehmung im Bereich des SGB II ohne
Änderung des Grundgesetzes neu zu regeln. Wir wollen
dabei dem Ziel, Hilfe aus einer Hand zu geben, möglichst nahekommen. Die 69 Optionskommunen sollen
weiterbestehen; hier ist Hilfe aus einer Hand eindeutig
geregelt. Wir werden das mit allen Beteiligten, Ländern,
Kommunen, Arbeitnehmervertretern und Bundesagentur
für Arbeit, klären, um eine sachgerechte Lösung zu finden.
({12})
Dabei muss das Prinzip des Förderns und Forderns unbedingt Bestand haben.
({13})
Dieses Prinzip hat sich bewährt und wird im Übrigen
von vielen Menschen gelebt, und zwar auch von denjenigen, die es geschafft haben, aus der Langzeitarbeitslosigkeit herauszukommen und für sich selbst und ihre Familien zu sorgen.
Es ist gut, dass die arbeitsmarktpolitischen Instrumente flexibilisiert und konzentriert werden, regionale
Entscheidungen erleichtert und mit einem neuen Controllingverfahren effizienter gemacht werden. Ich freue
mich auf die kommenden Jahre. Ich wünsche dem neuen
Bundesarbeitsminister Dr. Franz Josef Jung viel Erfolg
und eine gute Hand bei seiner Arbeit. Wir freuen uns auf
die Zusammenarbeit. Uns allen hier im Hohen Haus in
der jeweils unterschiedlichen Rolle wünsche ich, dass
wir gut zusammenarbeiten - zum Wohle der Menschen.
Herzlichen Dank.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Sehr geehrter Herr Minister, auch von meiner Seite noch
einmal alles Gute für Ihr Amt, auch wenn ich angesichts
Ihres Koalitionsvertrages nicht die Hoffnung habe, dass
am Ende etwas Gutes herauskommt. Herr Schiewerling
hat eben vollmundig verschiedene Dinge erklärt, die zumindest ich im Koalitionsvertrag nicht gefunden habe.
Ich glaube, man kann sich den Koalitionsvertrag auch
gesundbeten; aber das wird Ihnen nicht helfen.
Wir haben es jetzt, 20 Jahre nach dem Mauerfall, wieder mit einer Regierung zu tun, die 1998 abgewählt worden ist und die Sozialversicherungsbeiträge durch die
falsche Finanzierung der Deutschen Einheit in nie wieder erreichte Höhen getrieben hatte.
({0})
Sie sagen, Sie nähmen sich vor, die paritätisch finanzierten Lohnzusatzkosten unter 40 Prozent zu halten. Da
muss man einmal schauen, welche Lohnzusatzkosten
das betrifft, und auf das Wörtchen „paritätisch“ achten.
Das bedeutet - das sehen wir in der Gesundheits- und in
der Pflegepolitik -, dass die nichtparitätisch finanzierten
Bestandteile durchaus in die Höhe gehen können, wenn
es nach Ihnen geht. Das heißt, Sie versuchen, die Lohnzusatzkosten für die Arbeitgeber zu begrenzen, und bei
den Versicherten ist es egal; da wird auch noch politisch
draufgepackt.
({1})
Wir haben auch im Bereich Soziales eine ganze Reihe
von Prüfaufträgen und, wie könnte es anders sein, eine
Regierungskommission. Ich komme nachher noch darauf zu sprechen. Sie haben außer diesem einen Satz, mit
dem Sie die Regierungskommission beauftragen, keine
einzige Silbe im Koalitionsvertrag zum Thema Altersarmut. Sie haben nichts dazu geschrieben, dass Altersarmut am besten dann verhindert wird, wenn die Beschäftigten in der Erwerbsphase für gute Arbeit auch
faire Löhne bekommen.
({2})
Im Gegenteil: Sie lehnen Mindestlöhne sogar ab.
({3})
In Ihrem Vertrag steht nichts dazu, dass Altersarmut am
besten verhindert wird, wenn Frauen genauso wie Männer einer existenzsichernden sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgehen können, gleiche Aufstiegschancen
und auch eine möglichst ununterbrochene Erwerbsbiografie haben. Im Vertrag steht nichts dazu, dass Altersarmut am besten verhindert wird, wenn Eltern und insbesondere Alleinerziehende die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf wirklich leben können. Nein, im Gegenteil:
Mit einer Herdprämie wollen Sie die tradierten Rollenmuster verfestigen und die Kinder auch noch aus den
Bildungseinrichtungen heraushalten.
({4})
Ich finde in Ihrem Koalitionsvertrag nichts dazu, dass
angesichts vielfältiger werdender Erwerbsverläufe eine
andere Alterssicherung betrieben werden muss, nämlich
am besten in einem Sozialversicherungssystem und nicht
in vielen, die zudem auch nicht zueinander passen. Auch
zum Thema Erwerbstätigenversicherung, über das von
Herrn Laumann vor der Wahl diskutiert worden ist, findet man null. Ursachenbekämpfung ist bei Ihnen Fehlanzeige. Sie setzen lieber darauf, dass alles durch
Niedrigstlöhne gerichtet wird.
Eben hat jemand - ich glaube, es war sogar Herr
Kolb - gesagt: Die Rente ist das Spiegelbild dessen, was
im Arbeitsleben an Einkommen erzielt worden ist. - Das
ist richtig. Wenn das so ist, muss man aber dafür sorgen,
dass die Menschen heute so viel verdienen, dass sie in
Zukunft eine armutsfeste Rente bekommen.
({5})
Dann darf man doch nicht Niedrigstlöhnen das Wort reden, und dann darf man auch nicht sittenwidrige Löhne
salonfähig machen. Das ist aber genau das, was Sie mit
Ihrer Maßnahme machen.
({6})
- Nein, das ist nicht wahr.
({7})
Wenn man ein knappes Drittel unterhalb dessen bleibt,
was ortsüblich ist, dann wäre das, wenn es nach Ihnen
ginge, auch noch sozusagen gesetzlich sanktioniert.
({8})
Die Politik, die Sie hier machen, ist absolut falsch.
({9})
Sie leisten der Lohndrückerei Vorschub, und Sie bringen auch die Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, die ordentliche Löhne zahlen, in Bedrängnis. Denn auch sie
werden in diese Abwärtsspirale mit hineingezogen, genauso wie die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
({10})
Ich finde in Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort zu den
Langzeitarbeitslosen, die zum großen Teil ebenfalls
lange Erwerbszeiten hinter sich haben, und kein Wort zu
einer möglichen Verbesserung der Regelungen zur Anrechnung von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit.
({11})
- Unsere Vorschläge sind in unserem Regierungsprogramm enthalten; das können Sie gerne nachlesen.
({12})
Im Übrigen, Herr Kolb, können Sie mir auch gerne eine
Zwischenfrage stellen, wenn Sie Näheres wissen möchten. - Ich wiederhole: Zu der Gruppe der Langzeitarbeitslosen mit langen Beschäftigungszeiten findet man
in Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort. Wir haben dazu
Vorschläge gemacht.
Nichts zu lesen ist auch vom Instrument der Rente
nach Mindesteinkommen, von dem die MöchtegernArbeiterführer Rüttgers und Laumann vor der Wahl immer gerne gesprochen haben. Jetzt schweigen sie. Dieses
Thema wird vor der NRW-Wahl wahrscheinlich wieder
hochkommen. Dass sich die beiden Herren ab und zu
gerne ein soziales Tarnmäntelchen umhängen, wird sich
auf die konkrete Regierungsarbeit sicherlich nicht auswirken.
Sie haben es versäumt, Wege aus dem Niedriglohn
aufzuzeigen. Im Gegenteil, durch die Erhöhung der Zuverdienstgrenzen wird sich die Zahl derer, die auf zusätzliche Transferleistungen angewiesen sind, erhöhen.
({13})
Ich frage mich wirklich: Wenn der Spruch „Leistung soll
sich wieder lohnen“ stimmt, was ist dann mit der Hotelangestellten, deren Chef von seinen Gästen jetzt nur
noch 7 Prozent Mehrwertsteuer zu erheben braucht, der
seiner Reinigungskraft, die die Zimmer saubermacht,
aber nicht einmal 1 Cent mehr auf ihren ohnehin niedrigen Lohn draufpacken muss?
({14})
Was ist mit der Verkäuferin? Was ist mit der Friseurin?
Lohnen sich deren Leistungen nicht, nur weil sie zu geringe Stundenlöhne bekommen? Dieses Leistungsverständnis ist menschenverachtend.
({15})
Auch was das Thema Alterssicherung betrifft, ist Abtauchen Ihr Motto; denn außer blumigen Prüfaufträgen
steht dazu in Ihrem Koalitionsvertrag nicht viel. Ich
hätte mit Ihnen gerne auch über konkrete Vorschläge der
SPD diskutiert; aber Sie sind nicht sprachfähig.
({16})
Wenn ich Sie frage: „Was ist mit der Fortführung der geförderten Altersteilzeit?“,
({17})
dann sagen Sie gemeinsam Nein.
({18})
Das ist ein Fehler.
({19})
Wenn ich Sie frage: „Was ist mit einer Verbesserung der
Möglichkeiten bei der Teilrente?“, dann funkt es aus Ihrer Richtung allerdings schon unterschiedlich. An dieser
Stelle muss ich Ihnen sagen: Dass der Vorschlag der
FDP, der Abschläge in Höhe von 25,2 Prozent vorsieht,
wenn man mit 60 Jahren in Rente geht, umgesetzt wird,
können sich selbst die meisten FDP-Wähler nicht leisten.
({20})
Was wird - diese Frage sollte uns eigentlich alle beschäftigen - aus den Menschen, die älter und leistungsgemindert sind? Wie können wir diesen Menschen zu
einer Arbeit verhelfen, die es ihnen ermöglicht, im Arbeitsprozess zu bleiben und die Regelaltersgrenze nicht
aus der Arbeitslosigkeit heraus zu erreichen? Dazu findet man in Ihrem Koalitionsvertrag kein Wort.
Ich muss sagen: Die Prüfaufträge, die Sie formuliert
haben, sind wirklich „klasse“. Als Beispiel nenne ich das
Thema Erwerbsminderungsschutz.
({21})
- Nein, das ist kein Klein-Klein, sondern das zeigt, wes
Geistes Kind Sie sind, Herr Kolb.
({22})
Bei der Erwerbsminderungsrente soll geprüft werden,
ob der Kreis ein Quadrat ist: Das Erwerbsminderungsrisiko soll kostenneutral in der privaten Altersvorsorge
abgesichert werden. Jeder weiß: Wenn man mehr Risiko
absichern will, muss man entweder den Input vorne erhöhen oder das, was hinten herauskommt, kleiner machen; anders geht das nicht. Dazu trauen Sie sich nichts
zu sagen.
({23})
Sie haben keine Lösungen, auch nicht für Menschen
mit Behinderungen. Sie erklären zwar, Sie wollen einen
Aktionsplan machen; aber wie ich Sie kenne, wird er außer lauen Absichtserklärungen, unverbindlichen Empfehlungen und billigen Appellen an wen auch immer
nichts beinhalten. Ich hätte mich gefreut, wenn im Koalitionsvertrag Konkretes gestanden hätte.
({24})
Ihre Sozialpolitik kann man nicht mehr als vorausschauend und aktiv bezeichnen. Sie haben sich von einer
vorausschauenden und aktiven Sozialpolitik verabschiedet. Sie spalten unsere Gesellschaft, anstatt sie zusammenzuführen. Von Zusammenhalt kann bei Ihrer Sozialpolitik keine Rede sein. Sie legen die Axt an ein
Sozialsystem, um das uns viele auf der Welt beneiden.
({25})
Wenn Sie nicht in letzter Minute zur Vernunft kommen
- bei Ihnen, Herr Kolb, habe ich wenig Hoffnung -, wird
eine sozialpolitische Eiszeit in unserem Land Einzug
halten.
({26})
Wir werden kritisch sein. Sie können versichert sein,
dass wir unsere Alternativen deutlich machen werden.
Viele werden noch vor dem ersten Gesetzgebungsverfahren der Koalition bereuen, eine dieser drei Parteien
gewählt zu haben.
({27})
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Bundeskanzlerin hat gestern gesagt: Wir
müssen zunächst analysieren; erst dann können wir einen Lösungsweg aufzeigen.
({0})
Das ist natürlich grundsätzlich richtig.
Schauen wir uns an, was das für den Bereich Arbeit
und Soziales heißt. Wir stehen vor drei Herausforderungen: Erstens ist da die Wirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen, zweitens sind da die Belastungen, die durch
den demografischen Wandel auf die Sozialsysteme zukommen, und drittens ist festzuhalten, dass der Sozialstaat heute oft unfair zu den Betroffenen ist. Allen drei
Herausforderungen wird sich diese Regierung stellen.
({1})
Schauen wir uns an, was die Koalition vorhat. Wir
wollen Wachstum durch Steuererleichterungen. Einen Schwerpunkt wollen wir auf Bildung setzen. Das
schafft Arbeitsplätze und wird den Menschen wieder
Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt geben.
({2})
Wir müssen die sozialen Sicherungssysteme modernisieren und sie zukunftsfähig machen, indem wir den
Weg der Kapitaldeckung, der bei der Rente eingeschlaJohannes Vogel ({3})
gen worden ist, fortsetzen und endlich auch bei der
Pflege damit beginnen, auf Kapitaldeckung umzustellen
und damit einen historischen Irrtum zu korrigieren. Im
Bereich der Krankenversicherung wollen wir endlich
Wettbewerb schaffen, damit die Menschen auch in Zukunft gegen die sozialen Risiken abgesichert sind.
({4})
Beides - das sage ich als Vertreter der jüngeren Generation - ist auch für die Jüngeren in unserem Land genau
das Richtige. Denn wir, die Jungen, sind diejenigen, die
die Unternehmen in der Wirtschaftskrise als Erste entlassen. Darüber hinaus sind die Jungen besonders darauf
angewiesen, dass die sozialen Sicherungssysteme auch
in den nächsten Jahrzehnten noch funktionieren. Genau
darauf gibt diese Regierung eine Antwort.
({5})
Schauen wir uns nun an, was wir im Bereich der Gerechtigkeit tun wollen. Es geht um Gerechtigkeit für diejenigen, die auf die Solidargemeinschaft angewiesen
sind. Eben wurde gesagt, die Erhöhung des Schonvermögens von Hartz-IV-Empfängern betreffe nur einige
wenige.
({6})
Man muss aber auch einmal sehen, welche Ethik dahintersteht: Es geht darum, dass in Deutschland derjenige,
der eigenverantwortlich für das Alter vorgesorgt hat,
endlich nicht mehr bestraft, sondern belohnt wird. Das
ist eine der zentralen Fragen im Bereich der sozialen Sicherung. Die bisherige Regelung war unfair.
({7})
Schauen wir uns nun an, was wir im Bereich des Zuverdienstes machen wollen. Es wird immer so getan, als
wäre die Erhöhung des Schonvermögens von Hartz-IVEmpfängern das Einzige, was diese Regierung im Bereich der Solidarität vorhat.
({8})
Als Vertreter der FDP sage ich mit Stolz, dass wir hier
ein wesentliches Element des Bürgergeldes, das die Liberalen vorschlagen, einführen werden.
({9})
Es geht darum, dass jemand, der auf die Unterstützung
der Solidargemeinschaft angewiesen ist und sich etwas
dazuverdienen möchte, nicht mehr vor der Situation
steht, dass er - in meinen Augen eine der größten Ungerechtigkeiten, die wir in Deutschland haben - dann nicht
mehr hat, als wenn er es nicht täte. Das ist unfair, und es
ist ein Fehlanreiz. Es ist gut, dass wir das endlich korrigieren.
({10})
Wenn ich mir einmal anschaue, was die Opposition
im Laufe des Tages zum Koalitionsvertrag gesagt hat,
dann finde ich eine Reaktion von Ihnen, Herr Heil, besonders spannend. Das haben Sie eben nicht so klar gesagt, aber heute Morgen in der Debatte zum Bereich
Wirtschaftspolitik. Dort haben Sie nämlich die Leistungen aufgrund der Agenda 2010 der rot-grünen Regierung
gelobt. Es ging um die Leistungen im Bereich des Arbeitsmarktes und die Reaktionen auf die Krise. Herr
Heil, das Problem ist doch, dass Sie sich jetzt gar nicht
mehr konsequent dazu bekennen, dass Sie den Sozialstaat modernisieren wollen.
({11})
Was wir machen, ist: Wir führen zum Beispiel den
richtigen Gedanken im Bereich der Rentenversicherung,
wo Sie eine größere Kapitaldeckung einführen wollten,
fort und übertragen ihn auf den Bereich der Pflege.
Gleichzeitig korrigieren wir die Ungerechtigkeiten, die
Sie im Bereich Hartz IV eingebaut haben.
({12})
Zum Schluss will ich noch eines dazu sagen, was die
Kollegin der Grünen eben ausgeführt hat - auch die Kollegin Ferner hat es eben anklingen lassen -, nämlich uns
würden die Wähler davonlaufen: Ich möchte Sie nur
ganz entspannt auf die heutige Forsa-Umfrage hinweisen. Bei Forsa wird die SPD, wie ich weiß, immer ein
bisschen nervös, aber bei der Bundestagswahl war das ja
ein ganz gutes Institut; es hat das Ergebnis ganz gut vorhergesagt. Schauen Sie auf die heutige Forsa-Umfrage.
Danach hat die FDP 1 Prozent zugelegt, und die Regierung hat 2 Prozent mehr Unterstützung als am 27. September 2009.
({13})
Ich kann feststellen: Die Menschen begreifen, dass
wir ihnen Perspektiven geben und den Sozialstaat fairer
machen, und das werden Sie am Ende der Legislaturperiode auch erleben.
Vielen Dank.
({14})
Herr Kollege Vogel, das war Ihre erste Rede hier im
Parlament.
({0})
Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin so viel Tatkraft und Schwung, wie Sie sie
gerade in dieser Rede zum Ausdruck gebracht haben,
eine glückliche Hand und viel Erfolg.
({1})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nächste Rednerin ist die Kollegin Katja Kipping für
die Fraktion Die Linke.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch
kurz vor den Wahlen forderten die Unionsländer recht öffentlichkeitswirksam mehr Geld für Kinder in Hartz IV.
Sucht man im Koalitionsvertrag jetzt nach höheren
Hartz-IV-Regelsätzen für Kinder, so muss man sagen:
Fehlanzeige!
Nun mögen Sie einwenden, dafür gebe es eine
Kindergelderhöhung. Diese Kindergelderhöhung sieht
aber wie folgt aus: Ein Ehepaar mit einem Kind, das ein
Jahreseinkommen von einer halben Million Euro hat,
profitiert davon mit über 400 Euro, während ein Ehepaar
mit einem Kind, das ein Jahreseinkommen von nur
20 000 Euro hat, nur rund die Hälfte davon bekommt.
Dass Alleinerziehende, die auf Hartz IV angewiesen
sind, davon mit 0 Euro profitieren, wurde bereits angesprochen. Das ist keine Familienförderung. Ich nenne
das Reichtumsförderung.
({0})
Um es mit anderen Worten zu sagen: Die schwarzgelbe Koalition, die gerne auch einmal als Tigerentenkoalition bezeichnet wird, hat vielleicht versucht, in
puncto Familienförderung als Tiger zu starten, sie ist
aber als Bettvorleger für das Klientel der Vermögenden
und Reichen gelandet.
Die Linke hat einen anderen Ansatz. Wir sagen: Wir
brauchen eine eigenständige Kindergrundsicherung. Deswegen legen wir Ihnen auch einen Antrag vor, in
dem ganz klar vorgesehen ist: Der Kinderregelsatz muss
eigenständig berechnet werden; denn ein Kind ist mehr
als einfach nur ein halber Erwachsener.
({1})
Im Koalitionsvertrag heißt es:
Wir wollen das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ für Frauen und Männer …
So weit, so gut. Schaut man aber wieder nach konkreten
Maßnahmen, so stellt man fest, dass es lediglich bei
halbherzigen Appellen an die Wirtschaft bleibt. Solange
die Politik gegenüber der Wirtschaft nur in der demütigen Pose des Bittstellers auftritt, wird diese grundlegende Gerechtigkeitslücke nicht geschlossen. Wir als
Linke sagen: Wir brauchen verbindliche Vorgaben, damit endlich wirklich „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
gilt;
({2})
denn es ist nicht hinnehmbar, dass Frauen im Durchschnitt immer noch ein Viertel weniger verdienen als
Männer.
Im Koalitionsvertrag wird auch das Bürgergeld erwähnt - zum Glück nur als Prüfauftrag. Nun gibt es ja
gelegentlich Irritationen darüber, was damit überhaupt
gemeint ist. Ich finde, an dieser Stelle sollte man einmal
klar darstellen, was mit dem Bürgergeld à la FDP gemeint ist. Es bedeutet 662 Euro, mit denen man alles
bezahlen muss, nicht nur die Miete und die Lebenshaltungskosten, sondern auch die Krankenversicherungsbeiträge.
({3})
- Sie brauchen nicht zu widersprechen. Mir liegen Ihre
Parteitagsbeschlüsse vor.
({4})
Das Bürgergeld à la FDP heißt auch schärfere Sanktionen. Im Klartext: Das Bürgergeld der FDP bedeutet
Hartz IV XXL. Anstatt Hartz IV XXL meinen wir als
Linke: Wir brauchen vielmehr eine sanktionsfreie Mindestsicherung.
({5})
Wir als Linke fordern deswegen eine Erhöhung der Regelsätze auf 500 Euro, die Streichung des Sanktionsparagrafen 31 SGB II und die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaft.
Im Koalitionsvertrag heißt es auch: Zweckgebundene
Transferleistungen müssen den Vermieter erreichen. Im Klartext heißt das, dass die Kosten für die Unterkunft
für Hartz-IV-Beziehende, so steht es zumindest zu befürchten, zukünftig direkt vom Amt an den Vermieter
gezahlt werden. Dann hätten die Mieter, die auf Hartz IV
angewiesen sind, kaum mehr die Möglichkeit, gegenüber dem Vermieter ihre Rechte wahrzunehmen.
Stellen wir uns einmal eine Wohnung vor, in die es hineinregnet und in der die Fenster nicht mehr ordentlich
schließen, aber bei der der Vermieter nichts unternimmt.
Normalerweise könnte dann ein Mieter eine Mietminderung geltend machen. Aber wenn die Regelung in Ihrem
Koalitionsvertrag greift, wird das in Zukunft nicht mehr
möglich sein. Insofern kritisiert der Mieterbund diese
Regelung mit gutem Recht. 4 Millionen Haushalte werden durch Schwarz-Gelb quasi entmündigt. Die Linke
steht in dieser Frage ganz klar an der Seite des Mieterbundes.
({6})
Um es zusammenzufassen: Schwarz-Gelb verfolgt
den Kurs der Entsolidarisierung. Wir meinen jedoch:
Nötig wäre ein ganz anderer Kurs, und zwar ein Kurs in
Richtung Teilhabegerechtigkeit. Nötig wäre ein Aufbruch in eine Gesellschaft, in der niemand unter die Räder kommt. Doch dafür steht Schwarz-Gelb nun wahrlich nicht.
Danke.
({7})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts dieser Debatte hat man den Eindruck, der
Wahlkampf wird von den Oppositionsparteien fortgeführt, von links bis grün. Es wird ein Zerrbild der sozialen Situation der Menschen in Deutschland und unseres
Sozialstaates insgesamt gezeichnet.
Es ist viel besser, darzustellen - der Herr Bundesminister Franz Josef Jung hat das sehr eindrucksvoll getan -, dass vor allen Dingen die Arbeits- und Sozialpolitik in dieser Bundesregierung einen hohen Stellenwert
hat. Natürlich hat dies gestern die Frau Bundeskanzlerin
Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung ebenfalls
dargestellt. Sozialpolitik wird bürgerlich-liberal und zukunftsfest gestaltet.
({0})
Die Befürchtungen der Opposition, in Deutschland
würde die soziale Kälte ausbrechen, sind völlig unbegründet. Vor allen Dingen das Bild, das die Frau Kollegin Pothmer gezeichnet hat, wird der Wirklichkeit nicht
gerecht.
({1})
- Frau Pothmer, alle Leistungen des Sozialstaats in
Deutschland haben ein Volumen von insgesamt
750 Milliarden Euro. Dieses Geld stammt aus den Beiträgen der Versicherten und aus Steuergeldern. Das ist
alles erwirtschaftetes Geld zur sozialen Unterstützung
der vielen Menschen, die dieser Unterstützung bedürfen
und diese benötigen. Angesichts dessen sollte man nicht
ein so verzerrtes Bild zeichnen, wie Sie es heute getan
haben, Frau Pothmer.
({2})
Auch wenn das der Kollege Ernst infrage gestellt hat:
Der Abbau der Arbeitslosigkeit hat in dieser Bundesregierung Vorrang. Das ist beste Sozialpolitik für die
Menschen.
({3})
Jeder, der sich durch seiner eigenen Hände Arbeit seinen
Lebensunterhalt verdienen kann, ist damit natürlich auch
sozial gut abgesichert. Diese Errungenschaft wollen wir
in der Bundesregierung beibehalten. Auch ich möchte
noch einmal das feststellen, was auch der Kollege Karl
Schiewerling schon gesagt hat: Am Anfang der Regierungstätigkeit der Union gemeinsam mit der SPD nach
Ablösung von Rot-Grün hatten wir 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt sind es 3,2 Millionen.
({4})
Wir werden trotz dieser Schwierigkeiten, die mit der
Weltwirtschaft, der Finanzkrise und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen verbunden sind, mit
einer bürgerlich-liberalen Regierung weiterhin dafür sorgen, dass die Menschen in Arbeit kommen und dementsprechend selbst Zukunftschancen erarbeiten können.
({5})
Es gilt auch zum Ausdruck zu bringen, dass die Menschen besonders im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit
gesichert sind und dass wir eine vorbildliche Rentenpolitik mit weiterführen. Ich glaube, dass die Rentengarantie, die wir im vergangenen Jahr mitbeschlossen
haben, wichtig und richtig ist. Sie ist auch Ausdruck unseres Sozialstaatswesens, und wir sollten sie im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger und der Rentnerinnen und
Rentner beibehalten. Dies entspricht meines Erachtens
auch der Kontinuität in der Rentenpolitik.
({6})
Es ist auch wichtig, Menschen mit körperlichen Einschränkungen oder Behinderungen ebenfalls Teilhabe
am Erwerbsleben zu ermöglichen. Wir werden mit dem
Aktionsplan eine neue Grundlage dafür schaffen. Besonders entscheidend ist, dass wir auch Menschen, die aus
irgendwelchen Gründen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können, soziale Unterstützung gewähren.
Ich glaube, diese Bundesregierung hat mit dem Koalitionsvertrag, der in den kommenden vier Jahren abgearbeitet wird, bereits die Grundlagen dafür geschaffen.
Aber zusätzlich ist es mitentscheidend, dass die Wirtschaft in Gang gesetzt wird. Mit dem Gesetz zur
Beschleunigung des Wirtschaftswachstums legen wir
die Grundlagen dafür, dass es Wirtschaftswachstum gibt,
um damit auch mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu
schaffen. Das war der Erfolg der vergangenen Regierung. Die Senkung der Lohnnebenkosten - ich erinnere daran, dass sie am Ende von Rot-Grün bei 42 Prozent lagen; danach sanken sie unter 40 Prozent - zeigt
sehr deutlich die Handschrift der Union in diesem Bereich.
({7})
Das hat zu einem Arbeitsplatzaufbau in Deutschland geführt. Diesen werden wir mit einer Senkung der Kosten
in den Betrieben zusätzlich verstärken.
Herr Kollege Straubinger.
Moment, Herr Präsident. - Damit werden wir die Arbeitslosigkeit verringern und mehr Arbeitsplätze in unserem Land schaffen. - Jetzt, Herr Präsident.
({0})
Ja, sehr gerne. Herr Kollege Straubinger, würden Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf zulassen?
Dem geschätzten Kollegen Schaaf kann ich das nicht
verwehren.
({0})
Bitte schön, Herr Schaaf.
Geschätzter Herr Kollege Straubinger, ich kenne Sie
als engagierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiker. Sie
haben sich eben ausdrücklich für die Unionsfraktion zu
der Rentengarantie bekannt. Wenn Sie der Opposition
vorwerfen, sie mache heute im Plenum permanent Wahlkampf, dann kann ich umgekehrt feststellen, dass Sie
mitten in den Koalitionsverhandlungen sind. Ihr Kollege
Kolb hat eben gesagt, die Rentengarantie sei ein Kardinalfehler gewesen.
({0})
Sie sagten gerade, die Rentengarantie habe Bestand. Ich
und sicherlich auch die interessierte Öffentlichkeit - insbesondere die Rentnerinnen und Rentner - würden gerne
wissen, was gilt.
({1})
Wird diese Koalition eine Initiative ergreifen, die von
uns eingeführte Rentengarantie wieder abzuschaffen?
Darauf hätten ich und sicherlich auch das geneigte Publikum gerne eine Antwort.
({2})
Das war der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Ich habe wirklich den Eindruck, Sie
sind noch in den Koalitionsverhandlungen. Herr Kolb
hat klipp und klar noch einmal das liberale Konzept der
Rente ab 60 mit den bekannten Folgen von 25 Prozent
Abzügen dargestellt,
({3})
sodass sich das ein normaler Arbeitnehmer oder eine
normale Arbeitnehmerin nie leisten könnte. Mich interessiert, ob es Ihrerseits in dieser Legislaturperiode eine
Initiative zu diesem Thema geben wird.
Herr Kollege Straubinger, ich kenne Sie als engagierten Kollegen. Wenn Sie Ihre Koalitionsverhandlungen,
die Sie gerade hier führen, ein bisschen erläutern können, wäre ich sehr dankbar.
({4})
Herr Kollege Schaaf, ich bin Ihnen sehr dankbar für
diese beiden Fragen.
Erstens. Der Kollege Kolb hat ausgeführt - ich habe
das ausdrücklich mitgeschrieben -, dass die Rentengarantie ein Akt des Populismus gewesen ist. Das ist
aber eine Bewertung der Vergangenheit. Der Kollege
Kolb steht genauso wie die gesamte Koalition zur Rentengarantie.
({0})
Das ist auch im Koalitionsvertrag letztendlich sichtbar.
({1})
Zweitens. Im Koalitionsvertrag steht nichts davon,
({2})
dass wir ein neues Rentenmodell kreieren wollen. Wir
stehen auf den Grundlagen der Rente mit 67 - ich hoffe,
dass auch die SPD-Kollegen das zukünftig weiterhin
tun -, weil es unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit richtig war, die Rente mit 67 einzuführen. Die ehemaligen Bundesminister Franz Müntefering
und Olaf Scholz stehen für die Rente mit 67. Auch Sie,
Herr Kollege Schaaf, haben sie vertreten. Unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit und angesichts der Chance, Gott sei Dank eine höhere Lebenserwartung zu haben, ist eine längere Lebensarbeitszeit
notwendig. - Herr Schaaf, bitte setzen Sie sich nicht. Ich
bin noch nicht ganz fertig.
Wenn im Jahr 2027 das Renteneintrittsalter bei 67
liegt, dann hat die Lebenserwartung in Deutschland um
drei Jahre zugenommen. Das bedeutet, dass wir bereits
in der Vergangenheit eine generationengerechte Rentenpolitik betrieben haben. Das wird auch in der Zukunft so
sein. - Ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihre Zwischenfrage, Herr Schaaf.
({3})
Herr Kollege Straubinger, diese Frage hat beim Kollegen Kolb den Wunsch ausgelöst, auch eine Zwischenfrage zu stellen.
Er ist mindestens genauso geschätzt.
Bitte schön, Herr Kolb.
Das hoffe ich doch, Herr Kollege Straubinger. - Eine
Vorbemerkung: Natürlich steht die FDP auf dem Boden
des geltenden Rechts. Damit ist klar: Alles, was im Bundesgesetzblatt steht, ist Ausgangspunkt des Regierungshandelns dieser bürgerlichen Koalition. Ungeachtet desDr. Heinrich L. Kolb
sen werden wir natürlich immer wieder mit guten
Vorschlägen die Arbeit in der Koalition beleben.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, Herr
Straubinger, ob Sie genauso wie ich - mit dieser Intonierung will ich das in die Debatte einbringen - Handlungsbedarf beim Übergang vom Erwerbsleben in den
Ruhestand und die Notwendigkeit sehen, nach der gemeinsam gewollten Abschaffung der Altersteilzeit ein
Instrument zu finden, mit dem sich dieser Übergang
überbrücken lässt.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass das,
was Frau Ferner und Herr Schaaf gesagt haben, falsch
ist, nämlich dass das FDP-Modell zwangsläufig mit höheren Abschlägen verbunden ist? Natürlich ist die Rente
mit 60 nur ein Angebot. Die Menschen entscheiden
selbst. Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass es für uns wichtig ist, dass die Entscheidungsfreiheit und der Wille des Versicherten berücksichtigt werden, was letztendlich dazu führt, dass die Menschen länger im Erwerbsleben bleiben? Wir wissen - das treibt
uns um -, dass die Menschen, wenn sie länger leben,
auch länger arbeiten müssen. Es geht darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Eine freie Entscheidung ist
besser als eine starre Regelaltersgrenze. Wir schlagen
daher vor, den Übergang flexibel zu gestalten. Dafür
werden wir bei den Kollegen von der Union werben.
Herr Straubinger, Sie räumen mir sicherlich ein, dass die
Union für Vorschläge auf jeden Fall offen ist und sich
guten Vorschlägen am Ende nicht verschließen wird.
Herr Kollege Kolb, es gibt bereits das Instrument der
Teilverrentung. Wir können sicherlich darüber nachdenken, ob es verbessert werden kann. Dieses Instrument
kann den geordneten Übergang vom Erwerbsleben in die
Altersrente erleichtern. Aber grundsätzlich gilt natürlich,
dass die Menschen bei einer höheren Lebenserwartung
länger arbeiten müssen. Das ist generationengerecht.
Das Umlageverfahren, an dem wir festhalten, ist nichts
anderes als ein Generationenvertrag. Wir müssen eine
gute Lösung für beide Generationen, sowohl für die ältere als auch für die jüngere, im Erwerbsleben stehende
Generation finden. Darüber können wir uns noch fruchtbar austauschen.
({0})
Jetzt, Herr Kollege Straubinger, hat auch der Kollege
Beck vom Bündnis 90/Die Grünen den Wunsch, eine
Frage zu stellen.
Das ist heute eine Ehre.
Herr Kollege Straubinger, angesichts der großen Differenzen innerhalb der Koalition wollte ich Sie fragen,
ob Sie vielleicht daran gedacht haben, in der Koalition
so etwas wie gemeinsame Arbeitsgruppen einzurichten,
um Ihre gemeinsame Politik dort zu besprechen, sodass
die deutsche Öffentlichkeit in solchen Debatten über die
Regierungserklärung vielleicht erfährt, was die Politik
dieser Koalition ist, und nicht, was die unterschiedlichen
Standpunkte dieser Koalition sind; denn die Verhandlungen waren schon, jetzt könnte es auch einmal zur Politik
kommen.
({0})
Herr Kollege Beck, wenn Sie vorhin dem Kollegen
Kolb aufmerksam zugehört hätten, dann wüssten Sie,
dass Herr Kollege Kolb auf den Grundlagen des Koalitionsvertrages steht. Ansonsten gibt es zusätzlich in der
FDP noch weitere Diskussionen.
({0})
- Nein, die Koalition hat einen schönen Koalitionsvertrag gemacht.
Ich glaube, dass es entscheidend und wichtig ist - damit will ich an meine letzten Ausführungen anschließen -,
die Arbeitsplätze in unserem Land zu stärken. Das ist natürlich mit wirtschaftlichem Aufschwung verbunden.
Wir werden die entsprechenden Weichenstellungen vornehmen. Kurzarbeit und Mindestlöhne wurden heute
schon von meinen Vorrednern angesprochen. Ich glaube,
entscheidend ist, dass wir die Vermittlung auf Arbeitsplätze verbessern und noch schneller gestalten. Wenn
wir wie derzeit 480 000 freie Stellen haben, dann müssen wir alles daran setzen, dass die Vermittlungen
schnell stattfinden.
Was für mich bemerkenswert ist - darüber wird nicht
mehr gesprochen -, ist, dass wir, auf ganz Deutschland
bezogen, mehr Lehrstellen als Lehrstellenbewerber haben. Erinnern wir uns an die Instrumente der SPD, die
immer eine Ausbildungsplatzabgabe gefordert hat. Es
zeigt sich sehr deutlich, dass diese nicht notwendig ist.
Auch in diesem Bereich muss Flexibilität herrschen, damit auch die letzten Ausbildungswilligen in Lehrstellen
vermittelt werden können. Das werden wir mit einer
effizienten Arbeitsverwaltung - hier danke ich ausdrücklich Herrn Weise und den Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit für ihren Einsatz - erreichen. Wir
werden die Bundesagentur mit unserem Programm in die
Lage versetzen, die Menschen noch schneller in Arbeit
zu bringen. Dafür stehen unsere Bundeskanzlerin und
unser Bundesminister.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/21, 17/22 und 17/23 an die in der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Themenbereich Innen auf.
Das Wort als erster Redner hat der Bundesminister
Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Als neuer Bundesminister des Innern sage ich Ihnen allen meine Bereitschaft zu sehr guter, offener Zusammenarbeit zu, zuvörderst in und mit
meiner Fraktion, aber genauso mit unserem verehrten
Koalitionspartner,
({0})
aber auch mit der Opposition, jedenfalls solange die Opposition dies wünscht.
({1})
Mein Verständnis ist, dass der Bundesminister des Innern für die innere Verfasstheit, für den inneren Zusammenhalt unseres Landes zuständig ist, jedenfalls soweit
der Staat überhaupt zuständig ist; denn die Hauptverantwortlichen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft sind die freien Bürger, ist die Zivilgesellschaft,
die sich um das öffentliche Gut, um das Gemeinwesen,
die - um einen althergebrachten Ausdruck zu verwenden Res publica, kümmert. Für ein gutes Miteinander brauchen wir gemeinsamen Gestaltungswillen in Verantwortung und eine Gesellschaft, die verhindert, dass die
Durchsetzung von Eigeninteressen auf Kosten des Zusammenhalts aller geht.
Wichtige Kraftquellen für das Zusammenleben, für
das, was unser Land im Innersten zusammenhält, sind
natürlich zuvörderst die Religionen, aber auch das Ehrenamt, der Sport, die Bindekräfte, die in den Kommunen entstehen. In all diesen Bereichen wird das Bundesinnenministerium seinen Auftrag wahrnehmen, als
Partner, als Fürsprecher, als Gestalter.
Heute denke ich - ich hoffe, ich tue es in Ihrem Namen - in besonderer Weise an die Familie von Robert
Enke. Ich wünsche ihr von dieser Stelle aus Trost, Kraft
und Gottes Segen. Dieser tragische Tod soll uns Mahnung sein, dass äußerer Erfolg und Glanz nicht alles sind
im Leben. Manchmal lösen sie vielleicht einen Druck
aus, der übermenschlich ist.
Zum Zusammenhalt der Gesellschaft gehört auch eine
leistungsfähige Verwaltung, die das Funktionieren unserer arbeitsteiligen Gesellschaft gewährleistet. Wir
brauchen eine Verwaltung mit tüchtigen Mitarbeitern,
die zügig entscheiden, die klug abwägen, die ihr Ermessen ausüben und die immer daran denken, dass es bei der
Gesetzesanwendung um Menschen geht.
({2})
Ich kann und will nun nicht den ganzen Zuständigkeitsbereich meines schönen großen und - ich sage mit
Stolz - klassischen Ministeriums durchgehen, sondern
ich will mich auf vier Punkte beschränken:
Erstens. Ein gutes Miteinander, der Zusammenhalt
der Gesellschaft funktionieren nicht ohne Sicherheit.
Wer sich nicht sicher fühlt, baut Mauern um sich herum
und schottet sich ab. Sicherheit ist ein öffentliches Gut
und keine Privatsache.
({3})
Innere Sicherheit des Einzelnen ist eigentlich nichts, was
man gemeinhin mit Polizeiarbeit und Ähnlichem verbindet. Innere Sicherheit ist etwas, was Menschen ausstrahlen können und worum sie sich bemühen. Eine solche
innere Sicherheit des Einzelnen entsteht auch durch öffentliche Sicherheit.
Es ist eine Kernaufgabe des demokratischen Staates,
vielleicht seine ursprünglichste Aufgabe, den Ordnungsrahmen für die Entfaltung von Freiheit zu
schaffen und zu sichern, Sicherheit in Freiheit zu garantieren. Die Rechtfertigung für das Gewaltmonopol des
Staates beruht gerade darauf, dass sich die Bürger darauf
verlassen können, dass der Staat die Sicherheit für alle
garantiert.
({4})
Wer frei in Verantwortung handelt, soll sich um seine
Sicherheit nicht sorgen müssen. Öffentliche Sicherheit
ist eine Bedingung für die Entfaltung von Freiheit, und
umgekehrt ist Freiheitssicherung der eigentliche Kern
der staatlichen Zuständigkeit für öffentliche Sicherheit.
In diesem Sinne setzen wir auf unsere bewährte föderale
Sicherheitsarchitektur und werden prüfen, wo Bund und
Länder, wo auch die Sicherheitsbehörden des Bundes
untereinander ihre Zusammenarbeit verbessern können.
Das Bundeskriminalamt behält die erforderlichen Befugnisse im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
Den Bevölkerungsschutz, der gut aufgestellt ist, wollen
wir weiterentwickeln.
Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus ist da. Sie zeigt sich auch in den Terrorbotschaften, die
an uns gerichtet sind. Wir werden weiterhin besonnen und
entschlossen reagieren. Wir bleiben wachsam, aber wir
fürchten uns nicht. Dass wir uns fürchten, ist nämlich das,
was die Terroristen beabsichtigen.
Für die Gewährleistung der Sicherheit der Bürger tragen wir alle, die Bundesregierung, der Gesetzgeber eine
gemeinsame Verantwortung; vor allem aber die Polizistinnen und Polizisten sowie die Mitarbeiter der anderen
Sicherheitsbehörden. Ich freue mich auf eine gute und
faire Zusammenarbeit mit ihnen und danke ihnen allen
für ihre Arbeit.
({5})
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern
Wenn es nötig ist, sollten wir neue Gesetze für mehr
Sicherheit erarbeiten. Wenn es nicht nötig ist, sollten wir
es lassen.
({6})
Gefahrenabwehr ist zuallererst die Abwehr von Gefahren, und Strafverfolgung ist zuallererst die Verfolgung
von Straftaten und Straftätern, nicht zuallererst der Erlass von Gesetzen.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist eines der
sichersten Länder der Welt: Die Aufklärungszahlen sind
hoch; die Kriminalitätsentwicklung ist seit Jahren leicht
rückläufig.
({7})
Trotzdem haben viele Menschen den Eindruck, dass die
Bedrohung durch Kriminalität zugenommen hat. Woran liegt das? Nun, es gibt in unserer Gesellschaft Entwicklungen, die neben zusätzlichen Freiheitsspielräumen zugleich auch Unübersichtlichkeiten schaffen: ein
hohes Maß an Mobilität, Flexibilisierung, Anonymität in
den großen Städten. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass
viele Menschen in ihrem gewohnten Umfeld weniger
miteinander vertraut sind und zum Teil ihre eigenen
Nachbarn nicht mehr richtig kennen. In der Folge fühlen
sich viele Menschen auch im öffentlichen Raum unsicher.
Hier kommen wir mit klassischen innenpolitischen
Ansätzen allein nicht weiter. Vielmehr müssen wir
Strukturen stärken, die helfen, dass Menschen sich nicht
zurückziehen, sondern die sie ermutigen, sich in einem
überschaubaren Rahmen zusammen für etwas einzusetzen. Wir sollten unsere öffentlichen Räume, unsere
Plätze, unsere Bahnhöfe, unsere Waggons nicht noch
mehr entmenschlichen. Kameras sind gut und notwendig, Menschen sind allemal besser.
({8})
Das ist eine ebenenübergreifende Aufgabe. Gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden wollen wir
die Kommunen entlasten, kommunale Handlungsspielräume erweitern und mit den Ländern an der Stärkung
der kommunalen Selbstverwaltung arbeiten. Wir wollen
zivilgesellschaftliche Kräfte überall ermutigen und ehrenamtliche Strukturen weiter stärken. In diesem Sinne
werde ich sehr bald die kommunalen Spitzenverbände
einladen und mit ihnen über diese Themen sprechen.
Zweitens. Eine große Herausforderung für unser Zusammenleben sind die rasanten Entwicklungen in der
Informations- und Kommunikationstechnologie. Das
Internet kann zu mehr Teilhabe und sogar zu neuen Formen gemeinschaftlichen Handelns führen. Das fördert
die Bundesregierung selbst nach Kräften. Auch mit der
Gewährleistung sicherer Abläufe und der Erhaltung der
Funktionsfähigkeit unserer IT-Infrastruktur müssen wir
uns weiter befassen. Es geht zunehmend nicht mehr um
die alte Debatte, ob der Staat hier in Freiheitsrechte zu
stark eingreift. Auf private Daten wird heute nicht vor
allem vom demokratischen Staat zugegriffen,
({9})
sondern eher von anderen Privaten, auch wegen manchmal eigener Leichtfertigkeit und auch wegen der Unauslöschlichkeit der Spuren der Internetnutzung. Da brauchen wir neue Antworten und nicht alte Frontstellungen.
({10})
Immer wichtiger wird deshalb die Informationssicherheit. Die Gewährleistung sicherer Kommunikation ist für mich eine neue staatliche Aufgabe. Daher
wird der Datenschutz - ich glaube, wir sollten lieber von
Datensicherheit sprechen - ein Schwerpunkt der Arbeit
in dieser Legislaturperiode sein. Gesetzlicher Regelungsbedarf besteht zum Beispiel beim Arbeitnehmerdatenschutz. Ich werde im nächsten Jahr einen Gesetzentwurf im Rahmen des Bundesdatenschutzgesetzes für
ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorlegen.
Drittens. Zum Zusammenhalt unseres Landes gehört
auch - das meine ich jetzt so wörtlich, wie man es nur
nehmen kann -, dass Menschen einander verstehen, miteinander sprechen können und sich als je andere akzeptieren. Angesichts weltweiter Migrationsbewegungen
und zunehmender Vielfalt ist Integration eine Schlüsselaufgabe für uns alle. Bei der Integration von Zuwanderern haben wir bereits viel erreicht. Es hat sich aber
auch gezeigt, dass große Anstrengungen weiterhin notwendig sind. Voraussetzung für alle Bemühungen ist die
Bereitschaft von Aufnahmegesellschaft und Zuwanderern, sich aufeinander zuzubewegen. Vielfalt ja, aber in
der Achtung unserer Kultur- und Rechtsordnung - das
ist für mich Maßstab und Auftrag.
({11})
Mit der Deutschen Islam-Konferenz ist ein maßgebliches Forum entstanden, das eine Annäherung zwischen
Muslimen und dem deutschen Staat befördert. Wir werden den Dialog in den nächsten Jahren weiter vertiefen
und die Islam-Konferenz fortsetzen. Meine Damen und
Herren, der Islam als Religion ist in Deutschland herzlich willkommen, Islamismus als Extremismus nicht.
({12})
Es wäre aber zu kurz gegriffen, Integration nur im Zusammenhang mit Zuwanderern zum Thema der Innenpolitik zu machen. Integration in einem umfassenden Sinne
bedeutet, diejenigen Menschen mitzunehmen und in die
Mitte der Gesellschaft zu führen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Parallelgesellschaften, ob zwischen
Ausländern oder zwischen Deutschen, zerstören den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Das wollen wir nicht.
({13})
Viertens. Wir haben vorgestern den 20. Jahrestag des
Mauerfalls gefeiert. Der 9. November 1989 ist einer der
Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister des Innern
glücklichsten und schönsten Tage unserer Geschichte.
Darauf können wir stolz sein. Der 9. November war aber
der revolutionäre Beginn, nicht schon die Vollendung
des politischen Vereinigungsprozesses.
Mein Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble hat danach
den Einigungsvertrag maßgeblich mit ausgehandelt und
damit vor 20 Jahren die Weichen für das innere Zusammenwachsen unseres Landes gestellt. Dass nun die Zuständigkeit für die deutsche Einheit - in unserer Nationalhymne steht übrigens „Einigkeit“ und nicht „Einheit“;
das finde ich sehr interessant, und ich werde später noch
einmal darauf zurückkommen, aber nicht heute ({14})
wieder zum Innenministerium gekommen ist, freut mich
persönlich besonders. Es ist eine glückliche Fügung.
({15})
Ich selbst bin nicht in der DDR aufgewachsen wie
Arnold Vaatz, der gestern eine bemerkenswerte Rede gehalten hat. Der 9. November ist aber für mich ein tiefer
Einschnitt. Seit diesem Tag ist mein ganzes politisches
- und ich füge hinzu: auch mein persönliches - Leben
aufs Engste mit dem deutschen Einigungsprozess verbunden und davon geprägt, und das wird es auch bleiben.
Ich bin zuversichtlich, meine Damen und Herren,
dass wir bis 2019 gleichwertige Lebensverhältnisse in
Ost und West schaffen können. Der Solidarpakt gilt. Der
Bundesverkehrswegeplan und die Verkehrsprojekte
„Deutsche Einheit“ stehen nicht zur Disposition. Das hat
auch mein Kollege Peter Ramsauer heute gesagt.
Der Osten Deutschlands beteiligt sich nach Kräften
an den Kosten der Einheit, und auch der Westen profitiert von den Infrastrukturmaßnahmen, zum Beispiel den
großen Bauprojekten für Verkehrsverbindungen zwischen West und Ost. Der Begriff „Aufbau Ost“ trifft es
nicht mehr vollständig. Ein Begriff „Aufbau West“ träfe
es erst recht nicht. Es geht um eine gemeinsame Entwicklung in und für Deutschland und unsere Zukunft,
und das unter Achtung unserer jeweiligen Biografien.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Deutschland ist stark und frei. Deutschland ist in seiner Vielfalt
und Offenheit ein lebenswertes Land. Wir wollen die
Chancen der Informationsgesellschaft nutzen. Wir wollen in Freiheit und Sicherheit leben, geeint und miteinander. Wir wollen ein Land sein, das etwas auf sich hält.
Wir wollen ein Land sein, das zusammenhält. Dafür will
ich arbeiten, und dafür bitte ich um Ihre Unterstützung.
({17})
Herr Minister de Maizière, bei Ministern ist es nicht
üblich, zur ersten Rede zu gratulieren. Aber Sie sind
auch neugewähltes Mitglied dieses Hauses. Deswegen
will ich es so formulieren: Wenn Sie als Abgeordneter
gesprochen hätten, hätte ich Ihnen zu Ihrer ersten Rede
in diesem Hause gerne gratuliert.
({0})
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPDFraktion.
({1})
Herr Minister, zunächst einmal von mir alles Gute für
Ihr neues Amt. Wir haben in der Vergangenheit in anderen Funktionen gut zusammengearbeitet, und das werden wir auch in Zukunft schaffen, wenn auch in einer
anderen Rollenverteilung: als Regierung und als Opposition. Aber auch da ist ja Zusammenarbeit erforderlich.
Meine Damen und Herren! Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut und sich bemüht, eine Linie in der
künftigen Innenpolitik zu entdecken, gelingt einem das
nicht.
({0})
Auch wer soeben die Rede verfolgt hat, ist nicht schlauer
geworden, was die zukünftige Linie der Koalitionsfraktionen in der Innenpolitik sein soll.
Der Koalitionsvertrag ist eine eigenwillige Konstruktion mit vielen Details, bei denen man sich fragt: Warum
gehört dies in einen Koalitionsvertrag, warum hat dies
kein Verwaltungsbeamter als Vorlage für den Amtschef
aufgeschrieben? Aufgrund welchen persönlichen Steckenpferds es als würdig erachtet wurde, die Zuverlässigkeitsprüfung für Privatpiloten zu einer öffentlichen
Aufgabe zu machen, hat sich mir bis heute nicht erschlossen.
({1})
Ich will gerne noch ergänzen. Da kommen Union und
FDP nun zusammen. Die FDP hat in den letzten elf Jahren vieles an den Innenministern der SPD und der CDU
kritisiert. Was kommt nun aber heraus?
({2})
Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, dann
wird man unversehens an das berühmte Buch von
Giuseppe Tomasi di Lampedusa Der Leopard erinnert.
Da unterhält sich der Fürst mit seinem Neffen, der bei
Garibaldi mitmacht, und fragt, was das alles soll. Die
Antwort lautet: Es muss sich alles ändern, damit alles
bleibt, wie es ist. - Genau das ist das Ergebnis des
Koalitionsvertrages. Wir sind nicht beeindruckt.
({3})
Es wird evaluiert, ausgewertet, abgewartet und überprüft. Dann kommen noch ein paar Scheinaktionen
hinzu, die die öffentliche Debatte möglicherweise begleiten sollen. Man fragt sich nur, wieso. Was beispielsweise vorher Richter an anderen Gerichten gemacht haben, soll jetzt ein BGH-Richter tun. Das kann man
machen, das kann man auch lassen. Es ändert gar nichts.
Es ist vielleicht das Kennzeichen dieses Koalitionsvertrages: An dieser Stelle hat sich nichts weiterentwickelt.
Es lohnt weder, sich aufzuregen, noch eine spezifische
Debatte zu führen, was man alles da hineingeheimnissen
kann. Es ist keine Fortentwicklung erkennbar. Elf Jahre
Opposition der FDP waren jedenfalls in dieser Hinsicht
vergeblich.
({4})
Da gibt es noch etwas, was zwar in dem Koalitionsvertrag nicht sehr sorgfältig ausformuliert wird, was hier
aber angesprochen werden muss. Es gibt Entscheidungen in Bezug auf die innere Sicherheit in unserem
Lande. Diese stehen aber nicht in erster Linie im Kapitel
über die innere Sicherheit. Denn die 24 Milliarden Euro,
die im Zuge der Steuerentlastung dem Bund, den Ländern und den Gemeinden fehlen, werden sich massiv auf
die innere Sicherheit auswirken. Niemand soll sagen, es
sei nicht die Schuld dieser Regierung gewesen, wenn in
den Bundesländern demnächst bei der Polizei gespart
wird. Das waren Sie. Was Sie machen, ist falsch.
({5})
Es findet sich auch eine Passage über den Extremismus, der bekämpft werden muss. Das ist gut, vernünftig
und richtig. Was die Bekämpfung des Rechtsextremismus angeht, wurden unter der letzten Regierung und
auch davor gute Programme entwickelt. Ich nenne beispielsweise „Vielfalt tut gut“, „Xenos“ und „Kompetent
für Demokratie“. Das sind gute und wichtige Programme gewesen. Warum diese spezielle Form der Extremismusbekämpfung - sie ist ausgerichtet auf die Bekämpfung einer Variante des Extremismus - nun auf alle
Varianten des Extremismus ausgedehnt werden soll,
ohne dass die Mittel aufgestockt werden, ist mir nicht
begreiflich. Man muss befürchten, dass die Mittel für die
bestehenden Projekte gekürzt werden zugunsten anderer.
Richtig wäre es, alle Projekte zu unterstützen. Das haben
Sie versäumt.
({6})
Es gibt in dem Koalitionsvertrag noch Punkte, bei denen man sich fragt, wie sie da hineingekommen sind und
ob man nicht etwas länger hätte nachdenken können. Ich
meine zum Beispiel den Vorschlag, die Pflicht zum Erscheinen vor der Polizei neu zu regeln. Niemand braucht
diese Neuregelung. Es gibt schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken.
({7})
Hätten Sie nicht etwas länger nachdenken können, bevor
Sie diese wenigen Sätze in den Koalitionsvertrag hineingeschrieben haben?
({8})
Ein großes Thema der Innenpolitik - auch das haben
Sie eben gesagt; damit bin ich sehr einverstanden - muss
die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und Zuwanderung sein. Da liegen noch viele unerledigte Aufgaben vor uns. Deshalb müssen wir in diesem
Bereich etwas zustande bringen, damit viele Migranten
in unserem Lande ihre Potenziale und Fähigkeiten entfalten können. Ich bin froh, dass es uns zumindest gelungen ist, eine Diskussion über die Frage zu beginnen, ob
es über die Fachkräftezuwanderung hinaus, die wir gerade in der letzten Zeit ausgeweitet haben, noch eine zusätzliche Potenzialzuwanderung geben soll.
({9})
Aber belassen Sie es in den nächsten Jahren nicht bei
den verschämten Formulierungen. Es muss etwas Konkretes dabei herauskommen.
({10})
Was wir dringend brauchen, um die vielen Menschen,
die in diesem Lande ihre Talente entfalten wollen, zu
stärken und zu unterstützen, ist ein Anerkennungsgesetz,
mit dem es einen Rechtsanspruch darauf gibt, die Qualifikationen, die man irgendwo auf der Welt erworben hat,
auch in diesem Lande einsetzen zu können.
({11})
Die Vorschläge dazu liegen auf dem Tisch. Ich bin froh,
dass die Vorschläge des sozialdemokratischen Arbeitsministers der letzten Legislaturperiode nun im Koalitionsvertrag ihren Widerhall gefunden haben. Denn
anders als bisher geht es jetzt tatsächlich um ein Anerkennungsgesetz mit einem Rechtsanspruch, um ein Bundesgesetz. Das ist nämlich zulässig. All das, was darunterbleibt, ist zu wenig. Wir werden Sie daran messen, ob
Sie so gut sind, wie Sie es angekündigt haben.
({12})
Es ist richtig, etwas beim Bleiberecht derjenigen zu
tun, die jetzt, am 31.12., gerade wegen der Wirtschaftskrise nicht in der Lage sind, die Voraussetzung zu erfüllen, um ihren Aufenthaltsstatus zu sichern. Wir brauchen
jetzt schnell eine Regelung. Machen Sie das, schieben
Sie es nicht auf! Schade, dass wir nicht schon fertig sind.
Denn alle Bemühungen der SPD-Fraktion und der sozialdemokratischen Minister wurden von der Union auf
die Zeit nach der Wahl verschoben. Jetzt ist nur noch
kurze Zeit; aber es geht noch. Werden Sie noch vor dem
Jahresende damit fertig!
({13})
Ich bin froh, dass es endlich möglich ist, darüber zu
diskutieren, dass wir ein Rückkehrrecht für diejenigen
brauchen, die als Opfer von Zwangsheirat in eine
schwierige Lage gekommen sind. Das war bisher nicht
möglich. Wir werden Sie dabei unterstützen, wenn es etwas wird. Aber beschließen Sie bitte nicht nur eine
Überschrift, sondern tatsächlich etwas, was die Lebenslage der betroffenen Frauen verbessert!
({14})
Wir brauchen eine Verbesserung der Situation derjenigen, die illegal in diesem Lande leben. Wir brauchen
sie nicht deswegen, weil wir die Illegalität für richtig
halten, und nicht deswegen, weil es richtig ist, dass illegale Zuwanderung nach Deutschland stattfindet - da
sind wir uns alle einig -, sondern deswegen, weil es
nicht sein kann, dass jemand, der eine Schule besuchen
soll, dadurch in eine schwierige Lage kommt und der
Schulbesuch deshalb unterbleibt. Es ist richtig, dass hier
die Übermittlungspflichten neu geregelt werden. Aber
wir sollten dies nicht nur auf die Schule beschränken. Es
geht zum Beispiel auch um die Besuche von Ärzten.
({15})
Meine Damen und Herren, wir müssen beim Staatsangehörigkeitsrecht etwas voranbringen. Wir müssen
die Situation derjenigen verbessern, die in den letzten
Jahren wegen der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
durch die rot-grüne Regierung zwei Staatsbürgerschaften hatten. Diese Regelung hatte einen kleinen Haken,
den wir wegen der damaligen Mehrheitsverhältnisse akzeptieren mussten, nämlich die Situation, dass man optieren muss.
({16})
Diese Sache muss geändert werden.
({17})
Diese Optionsregelung muss endlich abgeschafft werden. Wir wollen, dass die jungen Leute, die deutsche
Staatsbürger sind, ihre deutsche Staatsbürgerschaft ohne
Wenn und Aber behalten können und nicht in eine
schwierige Lage gebracht werden.
({18})
Alles zusammen: Es gibt viele Aufgaben, die wir in
Angriff nehmen müssen. Ich finde, es wäre interessant
gewesen, mehr zu tun als das, was im Koalitionsvertrag
steht. Letztendlich ist nicht sehr viel Konkretes geregelt
worden. Konkrete Aufgaben liegen aber vor uns.
Schönen Dank.
({19})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Scholz, vielleicht liegt - Sie brauchen nicht mit mir
zu reden; das können wir in den nächsten vier Jahren
auch anders machen ({0})
Ihre Aussage, dass Sie im Koalitionsvertrag keine klare
Linie in der Innenpolitik gefunden haben, daran, dass
Sie ein Neuling in der Innenpolitik sind. Ganz ehrlich
- ich darf das Kompliment zurückgeben -, auch ich habe
in Ihrer Rede keine klare Linie der SPD zur Innenpolitik
erkennen können.
({1})
Sie haben davon gesprochen, dass zum Beispiel bei
der Polizei gekürzt worden ist. Dazu kann ich Ihnen nur
eines sagen: Dort, wo die FDP in Deutschland mitregiert, ist ganz im Gegenteil Geld investiert worden, sind
neue Polizisten eingestellt worden. Schauen Sie in die
von Ihnen regierten Länder. Beim nächsten Mal können
wir gerne darüber reden.
({2})
- Das stimmt natürlich. Die Verantwortung in den Ländern ist gering. Aber dort, wo die FDP mitregiert, versuchen wir, neue Polizisten einzustellen.
({3})
Das sollten Sie sich einmal anschauen.
({4})
Das, was Sie hier gemacht haben, ist einfach unredlich.
({5})
Elf lange Jahre - das meine ich heute, am
11. November, überhaupt nicht karnevalistisch; ich bin
im Rheinland geboren - stand im Mittelpunkt der Innenpolitik in diesem Hohen Hause vor allen Dingen eines:
neue Befugnisse für die Behörden und das Sammeln
von immer mehr Daten von Bürgerinnen und Bürgern.
({6})
Abschaffung des Bankgeheimnisses, Einführung der
Steuer-ID, Vorratsdatenspeicherung, Fluggastdatenübermittlung, Luftsicherheitsgesetz, Ausweitung der DNASpeicherung - das alles, Herr Wieland, haben Sie mit zu
verantworten. Das alles ist aus Ihrer Zeit.
({7})
In der letzten Legislaturperiode sind auch das BKA-Gesetz mit heimlichen Onlinedurchsuchungen, das BSIGesetz, das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz,
Internetsperren und die Bundesabhörzentrale beschlossen worden. Das haben Sie, die Kolleginnen und Kollegen von SPD, Grünen und CDU schon eingeführt, alles
ohne uns, gegen unsere Stimmen.
Das alles und noch viel mehr ist das Erbe, das wir
vorgefunden haben. Nun könnte man jetzt natürlich sagen, dass man ein Erbe ausschlagen könne, wenn es
überschuldet ist. Genau diese Überschuldung zulasten
der Bürgerrechte ist in den letzten Jahren erfolgt.
({8})
Aber wir sehen es als unsere Pflicht an, nicht nur zu tönen, sondern auch den Auftrag unserer Wählerinnen und
Wähler anzunehmen und dieses Erbe anzutreten.
Frau Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Hartmann?
Nein, ich möchte jetzt erst einmal weiterreden.
Wir tun dies, weil vor allen Dingen eines klar ist: Wir
wollen so nicht weitermachen, und wir werden so auch
nicht weitermachen. Dies bedeutet, dass wir Stück für
Stück die Schulden abbauen müssen, die Sie uns hinterlassen haben.
Die vorhin nur unvollständig aufgeführte Liste der
Bürgerrechtseinschränkungen werden wir nicht verlängern.
({0})
Im gesamten Koalitionsvertrag werden Sie keine Pläne
für weitere Einschränkungen der Bürgerrechte finden. Ich muss ganz ehrlich sagen: Dass Sie als Grüne
sich überhaupt trauen, hier so den Mund aufzumachen,
während Sie mit den Otto-Katalogen angefangen haben,
ist schon erstaunlich.
({1})
- Sie haben sie alle unterstützt. Sie sollten sich an die eigene Nase fassen, bevor Sie hier die FDP angreifen. Das
muss ich Ihnen wirklich einmal sagen.
({2})
Im Koalitionsvertrag finden Sie ein ganz klares Bekenntnis zu einer Politik, die im Bereich der Bürgerrechte die Entschuldung in diesem Sinne angeht. Das ist
und bleibt eine Herausforderung; das ist klar. Die im Koalitionsvertrag zur Innenpolitik geschlossenen Vereinbarungen stellen sicherlich keine Durchschlagung des Gordischen Knotens dar; das will ich gerne zugeben. Aber
wir fangen an, die Fäden zu entwirren. Das ist der Unterschied zu Ihnen allen, die Sie zusammen immer neue
Knoten gemacht haben. Wir versuchen, sie zu entwirren,
und das ist ein erster Schritt, den Sie alle zusammen
nicht geschafft haben.
({3})
Wir werden das BKA-Gesetz überarbeiten. Es ist
kein Geheimnis, dass wir dieses Gesetz nicht wollten.
Aber wir arbeiten an der absoluten Mehrheit, kann ich
dazu nur sagen.
({4})
Deshalb ist es schon einmal gut, dass wir beim BKA-Gesetz die rechtsstaatlichen Sicherungen verbessern. Das
Bundesverfassungsgericht hat die Grundrechte in diesem
Zusammenhang immer besonders betont. Künftig wird
ein Richter beim BGH - das haben Sie richtig erkannt über die Anordnung verdeckter Überwachungsmaßnahmen befinden müssen. Die Anordnung muss zudem über
die Generalbundesanwaltschaft laufen. Das ist ein richtiger Schritt zur Absicherung der Grundrechte.
Es ist im Übrigen auch gut, dass die Generalbundesanwältin so in das laufende Verfahren eingebunden ist.
({5})
- Da haben Sie vielleicht nicht genau hingeschaut. Denn
mit der steten Vorverlagerung der Strafbarkeit in das Gefahrenvorfeld, wie es die SPD-Justizministerin Zypris
immer gemacht hat, ist die Abgrenzung von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung immer weiter verwischt worden.
({6})
Der Schutz des unantastbaren Kernbereichs privater
Lebensgestaltung wird weiter gestärkt werden. Wir werden dafür sorgen, dass solche Daten gar nicht mehr erhoben werden.
Ein weiteres zentrales Projekt der schwarz-gelben
Koalition wird es sein, dass Datenschutzrecht künftig
zukunftsfest und technikneutral zu gestalten. Das ist eine
Kernaufgabe - darauf hat der Minister schon hingewiesen - für diese Koalition, damit wir nicht jeder technologischen Entwicklung hinterherlaufen und für alles, ob es
nun RFID oder Scoring ist, einen neuen Absatz schaffen
müssen. Vielmehr muss es uns gelingen, dies anders zu
gestalten.
Das nächste Reformprojekt - dazu hätte ich schon
gerne einmal etwas von Ihnen gehört, Herr Scholz - betrifft den Arbeitnehmerdatenschutz. Dazu muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Elf Jahre war die SPD an der
Regierung; sie hat ununterbrochen den Arbeitsminister
gestellt: Riester, Clement, Müntefering und Sie selbst.
Sie haben es nicht geschafft, den Arbeitnehmerdatenschutz hier im Haus durchzusetzen. Sie haben sogar drei
Wochen vor der Wahl noch einen Gesetzentwurf vorgelegt. Das ist, ehrlich gesagt, nichts; denn zu diesem Zeitpunkt wussten Sie genau, dass er - ({7})
- Nein, ich möchte auch diese Frage nicht beantworten.
Sie wussten genau, dass Ihr Gesetzentwurf nicht
mehr - ({8})
- Ja, bitte, dann lasse ich sie zu.
({9})
Herr Kollege Scholz, Frau Piltz lässt die Zwischenfrage zu. - Bitte schön.
Schönen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.
- Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie sich schon darauf
freuen, dass Sie noch in diesem Jahr einen vollständigen
Gesetzentwurf der SPD zum Arbeitnehmerdatenschutz
bejubeln können.
Wenn es derselbe Gesetzentwurf ist, den Sie bereits
einbrachten, dann kann ich ihn nicht bejubeln, weil er
nicht gut war. Ich möchte aber sogar Ihnen eine gewisse
Lernfähigkeit unterstellen. Ich freue mich darauf, dass
Sie in der Lage sind, in der Opposition etwas zu schaffen, was Sie als Regierungsfraktion nicht geschafft haben.
Aber ich muss Ihnen trotzdem sagen: Wer es in elf
Jahren nicht geschafft hat, ein Arbeitnehmerdatenschutzrecht vorzulegen und sich dann in der Opposition damit
brüstet, hat für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in
Deutschland gar nichts getan, sondern mit Zitronen gehandelt. Das ist Ihre Verantwortung und nicht unsere.
Wir werden einen guten Gesetzentwurf vorlegen. Ich bin
sicher, er wird besser als das, was Sie vorlegen.
({0})
Ein weiteres wichtiges Thema ist die Frage der Informationsgesellschaft. Wir haben im Koalitionsvertrag
vereinbart, dass die Internetsperren zunächst für ein Jahr
ausgesetzt werden. Wir werden nach dem Motto „Löschen statt Sperren“ verfahren. Es wird keine geheimen
und unkontrollierten Sperrlisten geben. Sie werden nicht
geführt. Es wird nichts weitergegeben, und es wird keinen Aufbau von Sperrinfrastruktur geben.
({1})
Das ist ein Fortschritt. Das kann keiner bestreiten.
({2})
Mein letzter Punkt - ich komme sofort zum Schluss -:
Wir wollen das Internet auch für die demokratische
Teilhabe nutzen. Deshalb werden wir das Petitionsrecht
zu einer Art virtuellen Volksinitiative ausbauen. Das ist
übrigens mehr als das, was in den letzten elf Jahren unter
Ihrer Regierung in diesem Bereich passiert ist. Mir ist in
diesem Bereich eine Entwicklung in kleinen Schritten
lieber als ein erneuter Prüfauftrag; wie Sie das zu diesem
Thema immer so gerne in Ihren Koalitionsverträgen gemacht haben.
({3})
Ansonsten freue ich mich auf eine vertrauensvolle Zusammenarbeit für die Bürgerrechte mit Ihnen allen.
({4})
Zum Schluss möchte ich noch einmal Herrn Schäuble
zitieren - das verzeihen Sie mir bitte -, er hat nämlich
vor vier Jahren, als er sein Amt angetreten hat, gesagt:
Ich vertraue jedem bis zum Beweis des Gegenteils.
({5})
In diesem Sinne ist die Koalitionsvereinbarung eine gute
Arbeitsbasis. Ich freue mich auf die nächsten vier Jahre.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte von der Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
Erstes muss ich feststellen: Im Gegensatz zu Ihrem Vorgänger verbreiten Sie, Herr de Maizière, keine Weltuntergangsstimmung, und Sie halten keine so markigen
Reden. Wir werden überprüfen, wie sich das im Koalitionsvertrag niederschlägt oder eben auch nicht.
Die FDP hat richtigerweise festgestellt, dass die letzte
Legislaturperiode eine einzige Katastrophe für die Bürgerrechte - Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung usw. - war. Es ist im Übrigen niemals nachgewiesen worden, dass all diese Maßnahmen ein Mehr an
Sicherheit gebracht haben. Es war also schlecht. Das
können wir, glaube ich, so festhalten.
Allerdings gab es in dieser Gesellschaft auch neuen
Widerstand. Es gab viele Demonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern unter dem Motto „Freiheit statt
Angst“. Auf diesen Demonstrationen gab es geradezu
ein Fahnenmeer von FDP und Linken. Das war gut. Das
muss man so festhalten. Reden wir darüber - die FDP
wird wahrscheinlich nicht mehr demonstrieren -, was
Sie im Koalitionsvertrag durchgesetzt haben.
Mein erster Punkt ist das Arbeitnehmerdatenschutzgesetz. Alle Fraktionen wollten das in den letzten
Jahren immer wieder auf den Weg bringen. So weit, so
gut. Passiert ist nichts, obwohl die Skandale immer größer wurden. Im Koalitionsvertrag steht dazu Folgendes:
Hierzu werden wir den Arbeitnehmerdatenschutz in
einem eigenen Kapitel im Bundesdatenschutzgesetz
ausgestalten.
Das ist immerhin ein Fortschritt, das muss man sagen.
Das hat die SPD in der Tat nicht hinbekommen. Aber
das, was Datenschützer immer gefordert haben, nämlich
ein eigenes, detailliertes Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, wollen auch Sie nicht. Das kritisieren wir massiv;
denn der Datenschutz und die Bürgerrechte enden nicht
am Werkstor. Daran werden Sie nichts ändern.
({0})
Die Onlinedurchsuchung bleibt, die Vorratsdatenspeicherung bleibt. Ich habe mir die Koalitionsvereinbarung
genau durchgelesen. Im Innenpolitikteil, in den Zeilen
4 471 bis 4 932, habe ich nachlesen können, inwieweit
die Entwicklung entscheidungsfreudig vorangebracht
wird. Dort findet man allein zwölfmal die Begriffe
„überprüfen“, „evaluieren“ und, was ich besonders lustig
finde, „sorgfältig beobachten“, immerhin „sorgfältig“.
Nur eine Entscheidung findet man dort nicht, zu gar keinem Thema. Deshalb ist das, was Sie, liebe Kollegin
Piltz, eben gesagt haben, nicht mit der Realität kompatibel. Das muss man leider feststellen. Auch wir hätten
uns mehr gewünscht von Ihnen.
({1})
Wie kann man das Ganze politisch bewerten? Man
kann es so bewerten: Im Ton moderat, aber an der harten
Law-and-Order-Politik der CDU, die den Bürgerrechten
entgegensteht, ändert sich überhaupt nichts. Das kann
man festhalten.
({2})
Eine besonders schlimme Entwicklung, die Aufweichung der Trennung von Polizei und Geheimdiensten,
die es bereits gibt, wird nicht zurückgedrängt. Daran
wird nichts geändert. Auch das bleibt.
({3})
Was sagt nun die Linke? Was sollten wir tun? Statt zu
überprüfen, zu evaluieren und sonst etwas zu tun,
brauchten wir eine grundlegende Umkehr in der Innenpolitik. Wir brauchten eine Belebung der Demokratie,
wozu übrigens auch Elemente der direkten Demokratie gehören. Dazu hört man von Ihnen nichts, überhaupt
gar nichts. Direkte Demokratie, das wäre die richtige
Antwort.
({4})
Eines wird sich verschlimmern: In den letzten zwei
Legislaturperioden und auch davor wurde parallel zum
Abriss des Sozialstaates in der Innenpolitik hochgerüstet. Auf diesem Gebiet ist ganz Schlimmes zu erwarten.
Der Abriss des Sozialstaates wird weitergehen, und darauf werden Sie mit einer Aufrüstung in der Innenpolitik
antworten. Auch das muss endlich beendet werden.
({5})
Ich will noch einen Punkt ansprechen, über den gestern und heute viel diskutiert worden ist: die Steuerpolitik. Wozu führt diese Steuerpolitik? Ich möchte Ihnen zu
bedenken geben, wozu sie im Bereich der inneren Sicherheit führen wird - das ist eben schon angesprochen
worden -: Wenn ich in meinem Wahlkreis bin, beispielsweise auf dem Markt in Bitterfeld, dann stelle ich fest,
dass der Kontaktbereichsbeamte - so heißt er heute -,
der Streife geht, der vor Ort ansprechbar ist, wichtig ist,
wenn es um öffentliche Sicherheit und das subjektive Sicherheitsgefühl geht. Die Stellen dieser Kontaktbereichsbeamten werden die ersten Stellen sein, die wegfallen, wenn die Länder aufgrund Ihrer Steuerpolitik
kein Geld mehr in der Tasche haben.
({6})
Das wird die Folge sein. Diese Politik ist völlig verfehlt.
Wir brauchen Dezentralisierung und nicht Zentralisierung.
({7})
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte: Wenn
in diesem Koalitionsvertrag wirklich, wie von der FDP
groß angekündigt wurde, ein Neuanfang vereinbart
wurde, dann könnten Sie, Herr Minister de Maizière,
und die neue Regierungskoalition doch ein durch und
durch demokratisches Zeichen setzen und endlich die
unsägliche, antidemokratische Beobachtung der Linkspartei durch den Verfassungsschutz beenden. Das wäre
ein echtes Zeichen für eine Kehrtwende in der Innenpolitik.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zugegeben, es ist auch für mich gewöhnungsbedürftig, hier eine
innenpolitische Debatte zu führen, an der der Taktgeber
der vergangenen vier Jahre, Wolfgang Schäuble, nicht
teilnimmt - Frau Kollegin Piltz, Sie haben ihn erwähnt -:
Kein Stakkato mehr, wie wir es gewöhnt waren bei Debatten über den Bundeswehreinsatz im Innern, über den
Abschuss von Passagierflugzeugen oder über die Liquidierung von Terrorverdächtigen. Das alles fand heute
schönerweise nicht mehr statt. Herr de Maizière hat sogar gesagt, er reiche der Opposition die Hand, wenn sie
mitarbeiten wolle, solle sie mitarbeiten. Wir haben noch
nie eine ausgestreckte Hand ausgeschlagen. Wir werden
sehen, ob es hier nur um die Form des Politikmachens
geht, ob es nur um eine andere Herangehensweise geht
oder ob sich auch der Inhalt der Politik ändert. Nur zu
sagen: „Gesetze machen, wenn sie nötig sind“, ist einfach - das klingt immer gut -, aber der Streit beginnt,
wenn es darum geht, wann was nötig ist.
Liebe Kollegin Piltz, ich sage Ihnen auch: Wenn man
uns den Fehdehandschuh hinwirft, wie Sie es getan haben, dann nehmen wir ihn auf.
({0})
Deswegen sage ich Ihnen ganz direkt: Eine Partei, die
auf ihren Parteitagen mit Bändern mit der Aufschrift
„Freiheitskämpfer“ auftritt, deren Vormann, Guido
Westerwelle, sich zur Freiheitsstatue erklärt hat und in
deren Wahlprogramm so schöne Sätze wie - ich zitiere „Die Verfassung selbst muss Freiheit schaffen, bilden,
hüten, verteidigen und lehren. Der Zweck der Verfassung ist gerade auch Schutz der Freiheit. Die FDP nimmt
die Werteentscheidungen des Grundgesetzes ernst. Sie
sind ein zentraler Maßstab liberalen Handelns“ stehen,
({1})
die muss sich fragen lassen: Wo ist dieser Maßstab geblieben? Ist die fällige und von Ihnen auch immer geforderte Neujustierung der Innenpolitik hin zum Primat der
Freiheit in dieser Koalitionsvereinbarung irgendwo festgeschrieben worden? Die Antwort ist: Nein. Diese Antwort ist enttäuschend; das können wir Ihnen nicht ersparen.
({2})
- Ich werde Beispiele nennen, Herr Lindner, freuen Sie
sich nicht zu früh. Sie sind Neumitglied hier. Herzlich
willkommen!
Sie haben in Ihrem Wahlprogramm die sprichwörtlichen Berge von Gold versprochen. Jetzt stehen wir vor
einer Geröllhalde, und von Gold ist weit und breit keine
Spur. Das ist die herbe Enttäuschung, die Sie bereiten.
({3})
Das war Beispiel eins.
Im Wahlprogramm steht:
Die FDP fordert die Wiederherstellung des Bankgeheimnisses
- alles dreht sich um das Bankgeheimnis ({4})
durch die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung
und den Verzicht auf heimliche Online-Durchsuchungen privater Computer.
Was ist daraus geworden? Daraus ist geworden, dass
jetzt nicht mehr der Richter am Amtsgericht in Wiesbaden die Onlinedurchsuchung anordnet, sondern ein
Richter am Bundesgerichtshof - Sie amüsieren sich zu
Recht, Herr Binninger -, auf Vermittlung des Generalbundesanwaltes.
({5})
Staatsanwälte können bisher bei uns eine Menge machen, vermitteln allerdings nicht. Das ist offenbar die liberale Wende.
({6})
Demnächst heißt es nicht mehr: „Ich beantrage einen
Haftbefehl“, sondern: „Ich bitte um Vermittlung eines
Haftplatzes für den hier Angeklagten“. Dahinter steckt
ein harter Kern: Sie haben den Generalbundesanwalt
beim BKA-Gesetz vollständig außen vor gelassen und
nun soll er auch durch diese Konstruktion nicht hereinkommen. Er soll keine Akten bekommen. Er soll wie ein
Ehevermittler tätig werden. Das ist hanebüchen.
Zur Vorratsdatenspeicherung steht im Koalitionsvertrag: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wird abgewartet und eingearbeitet.
({7})
Es bleibt Ihnen ja auch nichts anderes übrig. Bis dahin
wird sie aber nicht ausgesetzt. Nein, polizeirechtlich soll
sie weiter durchgeführt werden. Am 15. Dezember dieses Jahres werden wir eine Premiere erleben. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger wird sie uns bieten. Es war
ja bisher schon die Spezialität der FDP, bei der Onlinedurchsuchung sowohl als Kläger als auch als Beklagter
vor dem Bundesverfassungsgericht aufzutreten.
({8})
Da konnte man nur gewinnen. Da klagte man gegen den
eigenen NRW-Innenminister. Nun wird Frau LeutheusserSchnarrenberger in Person sowohl als Klägerin als auch
als Mitglied der Bundesregierung als Beklagte in Karlsruhe auftauchen.
({9})
Das ist eine Art Pendeldiplomatie, Herr Kollege
Wiefelspütz. Das ist die Krönung der liberalen Wendigkeit; nur, mit Glaubwürdigkeit hat es gar nichts zu tun.
({10})
- Ja, hätten Sie Ihr Wahlversprechen - weg mit der Vorratsdatenspeicherung! - durchgesetzt, dann hätten wir
alle diesen Rechtsstreit für erledigt erklären können. Warum haben Sie das nicht getan?
({11})
Sie haben von einem Schuldenkonto gesprochen; das
machen Sie ja gerne: Hundert Gesetze seit Rot-Grün
habe es gegeben. Das habe ich immer wieder von Ihnen
gehört, liebe Kollegin Piltz. Kein einziges Gesetz haben
Sie wegverhandelt.
Zum BKA-Gesetz waren Ihre Worte: Das ist ein
Worst of - nicht Best of - aus allen Polizeigesetzen. Von
den Buchstaben a bis x haben Sie keinen einzigen herausverhandelt. Das ist ein Armutszeugnis, was Sie hier
vorgelegt haben.
Sprichwörtlich sagt man - das ist ein Sprichwort; das
sage ich, damit Sie sich nicht wieder aufregen -: Wer mit
dem Teufel essen will, muss einen langen Löffel haben.
Die FDP ist mit dem Teelöffel angekommen, und so
sieht das Ergebnis auch aus.
({12})
Herr Kollege Wieland, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz?
Weil wir jetzt in der Opposition vereint sind, will ich
da nicht so kleinlich sein. Bitte schön, Herr Kollege.
Ich möchte mit Ihnen auf gar keinen Fall vereint sein,
lieber Herr Kollege Wieland. Gleichwohl stelle ich die
Frage: Haben Sie, Herr Kollege Wieland, denn ernsthaft
geglaubt, dass die FDP ihre Wahlversprechungen im Bereich der Innenpolitik erfüllt, oder was haben Sie gedacht?
({0})
Lieber Herr Kollege Wiefelspütz, ich war natürlich
hinreichend skeptisch; das muss ich Ihnen sagen. Ich
habe auch einmal gelesen, dass man bei Wahlversprechen zwischen „die FDP will“ und „die FDP wird“ unterscheiden muss, dass das eine die Richtung, den politischen Willen betrifft und dass das andere das ist, was
man tun wird. Zum Datenschutz beispielsweise liest
man bei Ihnen folgenden Satz: Die FDP wird die Weitergabe der Meldedaten an die Gebühreneinzugszentrale
verbieten. - Als ich diesen Satz las, dachte ich: Dann
sollen sie das doch verbieten. Nachdem ich Ihre Koalitionsvereinbarung gelesen habe, musste ich allerdings
feststellen: Nichts davon taucht darin auf.
Außerdem sagen Sie: Das Bankgeheimnis ist uns heilig. - Als ich dann aber gelesen habe, was Sie zu SWIFT
vereinbart haben, musste ich feststellen: Das ist eine
lange Wischiwaschi-Vereinbarung.
({0})
- Bleiben Sie stehen, Herr Kollege!
({1})
Auch wenn wir uns nicht vereinigen wollen, lege ich
Wert darauf, dass Sie stehen bleiben, schon damit man
Ihre neue Frisur gebührend würdigen kann.
({2})
Notfalls sollte der Herr Präsident das durchsetzen. - Na
gut, ich gebe die Antwort dennoch: Was SWIFT angeht,
erfahren wir heute, dass diese Regierung, einen Tag bevor der Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird, offenbar auf exekutiver Ebene Fakten schaffen, das Europaparlament brüskieren und den USA den Zugriff auf die
Bankdaten ermöglichen will,
({3})
und das von der höchsten Hüterin des Bankgeheimnisses. Das muss man sich einmal vorstellen!
({4})
Lieber Kollege Wiefelspütz, selbst ich, der ich geringe
Erwartungen hatte, bin von diesem mickrigen Ergebnis
enttäuscht.
({5})
Herr Kollege Wieland, das löste beim Kollegen Wolff
das Bedürfnis nach einer Frage aus. Erlauben Sie das?
Ja.
Bitte schön.
Wir sind ja nicht mehr in der Opposition vereint. Der
Kollege Wolff wird mir, wie ich ihn kenne, sicherlich
eine Frage zum Waffenrecht stellen.
({0})
Lieber Herr Kollege Wieland, vereint waren wir auch
in der Opposition nicht wirklich. Das wird sich jetzt
auch nicht weiterentwickeln, vor allem, weil Sie gerade
zwei Fragen provoziert haben.
Mich würde erstens interessieren, wann das Thema
Fluggastdatenspeicherung aufgekommen ist. War das
nicht zufällig in der Zeit, als Sie gerade an der Regierung
beteiligt waren?
Die zweite Frage, die mich interessieren würde, ist:
Wann ist die Onlinedurchsuchung Ihrer Kenntnis nach
zum ersten Mal sogar ohne gesetzliche Grundlage durchgeführt worden? Nach meiner Kenntnis war auch das in
einer Zeit, in der die FDP nicht an der Regierung beteiligt war.
Herr Kollege Wolff, auf Ihre letzte Frage eine klare
Auskunft: Die Onlinedurchsuchung wurde das erste Mal
ohne gesetzliche Grundlage unter Rot-Grün durchgeführt,
({0})
allerdings ohne dass wir davon Kenntnis hatten
({1})
und ohne dass dies überhaupt mitgeteilt wurde.
({2})
Auch Sie hatten davon keine Kenntnis. Wir wollten
Herrn Diwell dazu anhören, aber - Sie werden sich erinnern, Herr Uhl - er ist nicht gekommen. Wir jedenfalls
haben als Koalitionspartner nichts davon gewusst.
({3})
Als es herauskam, haben wir, damals noch mit Ihnen zusammen, auf Aufklärung gedrängt. Dann wurde die Onlinedurchsuchung beendet, bis Ihr Innenminister sie erstmals in das Gesetz aufgenommen hat.
Zum Thema Fluggastdaten haben Sie in Ihrem Wahlprogramm den wunderbaren Satz geschrieben: Die FDP
will keine Speicherung, und die FDP will keine Weitergabe. - Vergleichen Sie einmal selbst, welch ein mickriges Ergebnis im Vergleich zu diesen hehren Zielen herausgekommen ist.
({4})
Sie werden weiterhin gespeichert und weitergegeben.
Auch hier haben Sie leider versagt, Herr Kollege.
({5})
Jetzt komme ich zur Integrationspolitik. Es wurde
schon zu Recht gesagt, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Dieses Thema lässt sich nicht auf den
Bereich Inneres beschränken. Damit ist es wirklich nicht
getan; denn Integration umfasst viele Bereiche, von der
Bildung bis zur Religion. Im Bereich Inneres werden allerdings die Rahmenbedingungen gesetzt; im Bereich
Inneres sind Hürden errichtet worden. Der Kollege
Scholz hat schon gesagt: Der Optionszwang muss zuerst
fallen. - Er stellt die jungen Ausländer nämlich vor eine
Alternative, vor eine Frage, die sie nicht beantworten
können und wollen. Es ist an der Zeit, den Optionszwang
nicht nur zu überprüfen, sondern fallen zu lassen.
({6})
Auch bei der Einbürgerung muss es endlich Erleichterungen geben. Es darf nicht mehr heißen: Der junge
Mann, der seit 20 Jahren hier lebt, wird nicht eingebürgert, weil sein Vater Hartz-IV-Empfänger ist. Das muss
aufhören. Hier muss es zu einer Gleichbehandlung kommen, und hier brauchen wir Erleichterungen. Vor allen
Dingen darf man keine neuen Hürden aufbauen. Wenn
Sie zum Beispiel formulieren, Sie werden prüfen - das
ist einer Ihrer x Prüfaufträge -, ob man mit Blick auf
eine geprügelte, misshandelte Ehefrau eine Verlängerung der Ehebestandszeit vornehmen wird, dann kann
ich Ihnen sagen: Diese Passagen tragen, genauso wie die
Visa-Warndatei, keine liberale Handschrift. Sie tragen
die Handschrift Ihrer beiden Nachbarn, von Herrn Uhl
und von Herrn Grindel; er bekennt sich auch dazu.
({7})
Das ist eine schwarze Handschrift, mit tiefschwarzer
Tinte. Auch hier haben Sie leider versagt.
({8})
Abschließend zum Waffenrecht - das will ich Ihnen
auch noch sagen -: Was ist denn Ihre Antwort auf die
wirklich drängenden Fragen, Aggressivität unter Jugendlichen, Amokläufe? Sogar der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordert jetzt, dass Waffen aus Wohnungen
verbannt werden, und spricht sich gegen Waffen in privater Hand aus. Was machen Sie? Sie wollen - das steht
in Ihrer Koalitionsvereinbarung - die Waffenbestimmungen wieder lockern. Das ist verhängnisvoll. Sie haben
nicht nur keine Antworten auf die drängenden Fragen,
({9})
Sie geben an entscheidenden Stellen auch noch die falsche Antwort.
({10})
Das ist sehr schade.
Schließlich und endlich: Minister de Maizière hat gesagt, man solle an die Res publica denken, man solle an
das denken, was unser Gemeinwesen zusammenhält.
Das hätte man ja einmal tun sollen! Dann hätte man sich
fragen müssen, ob nicht eine Wende hin zu einer Politik,
die den Bürger nicht unter Generalverdacht stellt, die ihn
nicht als Sicherheitsrisiko sieht, die ihn als mündigen
Menschen sieht, die ihn mitnimmt, die ihm vertraut, notwendig wäre. Von so etwas ist in Ihrer Koalitionsvereinbarung leider in keiner Weise die Rede.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, das Thema innere Sicherheit und
die Frage, welche Sicherheitsgesetze wir brauchen, um
in Deutschland Schaden von der Bevölkerung abzuwenden, ist zu wichtig und sollte uns allen zu ernst sein, um
so lärmige Reden zu halten, wie Sie es wieder getan haben.
({0})
Die Sicherheitsgesetze der vergangenen drei Legislaturperioden tragen die Handschrift der Regierungspartei
SPD. Zwei davon tragen auch die Handschrift der Grünen. Nur die der letzten Periode tragen auch die unsere.
Jetzt kann man natürlich Oppositionsreden halten. Sie
waren sehr viel leiser, Herr Scholz, vielen Dank!
Auch wir, meine Damen und Herren von der FDP, sind
der Meinung, dass die Sicherheitsgesetze zum Teil gesetzgeberische Versuche waren, die durchaus einer Evaluierung bedürfen. Nach einem Jahr oder nach zwei Jahren werden wir sehen - darin sehe ich keine Schande -,
ob unsere gesetzgeberischen Versuche tauglich waren, ob
sie - was Sie befürchtet haben, als Sie in der Opposition
waren - einen übermäßigen Eingriff in den Kernbereich
der Privatsphäre unserer Bürger darstellen oder ob wir sie
- was wir befürchten, vor allem ich als alter Praktiker des
Vollzugs von Gesetzen - aus lauter Sorge, die wir uns um
den Schutz des Kernbereichs der Privatsphäre der Bürger
gemacht haben, praxisuntauglich formuliert haben. Auch
dies kann bei der Evaluierung herauskommen. Dann
müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie wir die
Gesetze so nachbessern, dass sie für unser Land einen Sicherheitsgewinn bringen. Wir wollen also gemeinsam
evaluieren und dann ganz leise, ganz sachlich, ganz ruhig
darüber reden, Herr Wieland.
({1})
Wir werden in Zeiten angespannter Haushaltslage
auch im Sicherheitsbereich nicht mit weiteren Planstellen in Hunderterzahl rechnen können. Deswegen werden
wir uns Gedanken machen müssen, wie man die vorhandenen Kräfte bündeln kann. Bei der Bundeszollverwaltung zum Beispiel sind viele Tausend Beamte. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und andere wollen in den
Bereich der Sicherheitsbehörden, in den Bereich des Innenministeriums überwechseln. Darüber wird zu verhandeln sein mit dem Bundesfinanzminister, der Ihnen ja als
ehemaliger Innenminister bekannt ist.
Im Bereich der nationalen Küstenwache sind die
Kompetenzen auf fünf Bundesministerien sowie auf
Landesministerien verteilt. Wir werden darüber zu reden
haben, wie wir das effizienter gestalten, ohne neue Planstellen zu schaffen; denn das Geld dafür haben wir nicht.
Wir werden uns auch die Kompetenzen der Bundespolizei, vor allem bei Einsätzen im Ausland, genau anschauen.
Bundesinnenminister de Maizière hat schon angesprochen, dass wir - das halte ich für sehr wichtig - die
Zeichen der Zeit erkannt haben. Unsere Sicherheit wird
heute völlig anders bedroht als noch vor einigen Jahrzehnten. Mussten wir zur Zeit des Kalten Krieges befürchten, dass Panzer über die Elbe kommen, ist in unserer Zeit das Aufmarschgebiet feindlicher Kräfte das
Internet: Unsere Kommunikation als Privatperson wird
bedroht durch organisierte Kriminalität. Die Kommunikation unserer Wirtschaft wird bedroht durch Wirtschaftsspionage aus dem Ausland wie aus dem Inland.
Unsere Kommunikation in den Behörden wird durch das
Ausspionieren durch ausländische Mächte bedroht.
Das sind die neuen Herausforderungen unserer Zeit.
Hier gilt es, Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Deswegen sind wir froh darüber, dass wir das Bundesamt für
Sicherheit in der Informationstechnik haben. Wir wollen
diese Fähigkeiten ausbauen und uns Gedanken darüber
machen, wie wir uns hier besser aufstellen können. Das
Ausland, etwa Amerika, Frankreich und andere Länder
- auch England -, ist hier schon sehr viel weiter als wir.
Bitte denken Sie hier gemeinsam mit.
Durch den elektronischen Personalausweis wird es
zu einer Revolution für den Bürger kommen, indem er
ihn nutzen kann, wenn er Behördengänge machen muss.
Er wird vieles von zu Hause aus erledigen können.
Durch den Personalausweis mit elektronischer Signatur
wird es zu einer Revolution auf der Anwenderseite kommen, zum Beispiel im privaten Rechtsverkehr, indem Sie
von zu Hause aus unter Einsatz dieses Mediums Verträge
schließen können. Dies alles sind Neuerungen von epochaler Bedeutung.
({2})
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen, der mir sehr
wichtig ist. Es geht um das Thema Datenschutz, das
schon hinreichend diskutiert wurde. Auch wir legen großen Wert darauf, dass der Arbeitnehmerdatenschutz
endlich verwirklicht wird. Ich bin froh darüber, dass jetzt
das Bundesinnenministerium dafür zuständig ist. Hier
wird in Kürze ein Gesetzentwurf vorgelegt werden, mit
dem wir auf diesem Gebiet weiterkommen. Es kann
nicht angehen, dass privateste Daten von Arbeitnehmern
- von Gesundheitsdaten bis hin zu Daten über das außerdienstliche Verhalten -, die den Arbeitgeber nichts angehen, bei diesem gespeichert und missbräuchlich verwendet werden können. Das muss ein Ende haben.
({3})
Mitten in dieser vierjährigen Legislaturperiode - genauer gesagt: am 6. Juli 2011 - wird eine Entscheidung
getroffen, die für uns von großer Bedeutung ist. Es geht
darum, ob Deutschland das Vertrauen der internationalen
Sportgemeinschaft erhält, die Winterolympiade 2018
auszutragen. Das ist ein nationales und nicht nur ein
bayerisches oder ein Münchener Vorhaben.
({4})
Diese Frage, ob wir die Olympischen Spiele in Deutschland ausrichten können, wird im Jahre 2011 entschieden.
Ich meine, wir alle sollten uns gemeinsam anstrengen,
dass es gelingt, den Zuschlag zu bekommen.
({5})
Die Olympischen Spiele sind viel mehr als ein Sportfest; sie verbinden die Menschen. Die olympischen
Ringe sind das bekannteste Symbol in dieser Welt;
({6})
Milliarden von Menschen kennen und bewundern es.
Deswegen meine ich, dass wir alles tun und dafür sorgen
müssen - auch hier im Bundestag -, dass wir den Zuschlag bekommen.
Alles in allem: Herr Scholz, ich verstehe ja, dass es
nach elf Jahren Regierung nicht einfach ist, den Weg in
die Opposition zu gehen. Erklären Sie aber bitte nicht
alle Sicherheitsgesetze für falsch, die Sie mit uns und zuvor mit den Grünen verabschiedet haben.
Ich verstehe, dass Herr Wieland, seinem Naturell gerecht werdend, hier so aufgetreten ist, wie er es immer
tut.
({7})
Behalten aber bitte auch Sie die Contenance. Sie können
nicht alle Sicherheitsgesetze, die Sie unter Schily gemeinsam beschlossen haben, für falsch erklären.
Ich möchte auch an die FDP eine Bitte richten. Als
Oppositionspolitiker redet man natürlich anders, als
wenn man in der Regierungsverantwortung ist.
({8})
Das ist ganz normal; das haben wir auch getan. Wenn
Sie aber in der Regierungsverantwortung sind und Ihnen
die Fachleute sagen, dass Sie Gefahren für die Bevölkerung abwenden könnten, wenn Sie zum Beispiel das Instrument der Onlinedurchsuchung, der Telefonüberwachung, der Vorratsdatenspeicherung oder anderes mehr
hätten, dann müssen Sie Ihrer Verantwortung bitte auch
gerecht werden.
({9})
Wenn Sie dann auch wieder Nein sagen, wie in der Opposition, dann laden Sie Schuld auf sich, und das können
Sie nicht tun.
({10})
Ich bitte also darum, dass wir die Sache gemeinsam
angehen. Es geht um die Sicherheit unserer Mitmenschen. Dafür sollten wir tunlichst an einem Strang ziehen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Dieter Wiefelspütz von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben hier erste Anzeichen für eine offenbar wunderbare
Koalition kennengelernt.
({0})
Offenbar handelt es sich um eine tief empfundene,
wechselseitige Freundschaft. Ich bin sehr gespannt auf
die Zusammenarbeit.
Herr Minister de Maizière, insgesamt haben Sie eine
ganz ordentliche Rede gehalten, die Rede eines liberalen
Konservativen. Ich habe es nicht anders erwartet.
Gleichwohl - jetzt wird es ganz ernst und vielleicht auch
ein bisschen bitter - bin ich über die ersten Tage Ihrer
Amtstätigkeit tief enttäuscht. Sie haben Ihre Arbeit mit
einer schweren Hypothek belastet. Lassen Sie mich das
in aller Ernsthaftigkeit ausführen.
Ihr Amtsvorgänger, Dr. Wolfgang Schäuble, war
zweimal Innenminister. Ich habe ihn in den letzten vier
Jahren begleiten können. Dieser Mann hat, wie es bei Innenministern der Fall ist, viele Entscheidungen treffen
müssen, weniger wichtige, wichtige und auch sehr wichtige. Am wichtigsten und qualifiziertesten war die von
ihm persönlich getroffene Entscheidung, den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Herrn Dr. August
Hanning, zum beamteten Staatssekretär zu machen.
Diesen Menschen haben Sie, Herr Minister, unter nach
meiner persönlichen Überzeugung unwürdigen Umständen vorzeitig aus dem Amt entlassen. Ich halte das von
der Sache her für indiskutabel und falsch; menschlich
halte ich das für unterirdisch. Ich muss Ihnen das hier in
aller Ernsthaftigkeit sagen.
Ich habe den Eindruck, dass es in Ihrem Hause
brennt. Durch diese, wie ich finde, falsche Entscheidung
laufen Sie Gefahr, das Vertrauen Ihrer engsten Mitarbeiter zu verlieren. Ich bin darüber überhaupt nicht glücklich. Bei den Kollegen von der Koalition herrscht hierzu
betretenes Schweigen. Sie wissen sehr genau, worum es
geht, und wissen, dass ich an dieser Stelle recht habe.
({1})
Ich akzeptiere natürlich, dass Sie Ihr persönliches
Umfeld selber bestimmen.
({2})
Der frühere Staatssekretär August Hanning hat aber in
diesem Amt im Innenministerium Außerordentliches für
unser Land geleistet. Er hat es nicht verdient, ein Jahr
vor der Altersgrenze auf diese Weise vorzeitig in den
Ruhestand geschickt zu werden.
Noch einmal: Ich bedauere das sehr. Ich betone: Das
ist eine schwere Hypothek, mit der Sie Ihre Amtszeit am
Anfang belasten. Herr de Maizière, es ist ein Fehler, der
leider nicht korrigierbar ist; er wird Ihnen bleiben.
({3})
Nehmen Sie es bitte so, wie ich es sage! Ich bin keineswegs besonders glücklich darüber, dass ich das an dieser
Stelle sagen muss. Eigentlich wäre ich eher geneigt gewesen, mich etwas freundlicher mit Ihnen auseinanderzusetzen.
({4})
- Dr. Uhl, was ist denn eigentlich mehr zur Sache als
solch ein Thema! Das ist keine Petitesse. Es ist von erheblicher Bedeutung, wie man miteinander umgeht und
welche Sachentscheidungen man trifft.
({5})
Die Tatsache, dass Sie so aufgeregt reagieren, macht
doch deutlich, wie sehr der Hieb sitzt.
({6})
Kollege Scholz hat die etwas flache Koalitionsvereinbarung angesprochen. Auch ich habe mir überlegt,
wie man das werten kann. Ich komme zu folgendem Ergebnis: Man hatte keine neuen Ideen, weder positive
noch negative, weil wir in der Kontinuität elfjähriger Regierungsmitverantwortung der SPD im Bereich der Innenpolitik ein Ergebnis erzielt haben, das offenbar ein
bestimmtes Niveau erreicht hat, von dem niemand herunter will oder kann. Deswegen fällt dieser Koalition
dazu nichts Entscheidendes ein. Alles, was in den vergangenen Jahren auf den Oppositionsbänken massiv kritisiert worden ist, ist im Kern von vorne bis hinten erhalten geblieben. Da sind Papiertiger durch die Gegend
gelaufen. Das Ergebnis ist: Das BKA-Gesetz, nach meiner festen Überzeugung das beste Polizeigesetz, das wir
in Deutschland haben,
({7})
ist im Kern unverändert geblieben. Ich bin sehr gespannt, wie diese Klagen aussehen.
({8})
So gesehen ist nach elf Jahren Regierungsverantwortung der SPD in Deutschland immerhin ein Niveau erreicht worden, das von Ihnen nicht in Zweifel gezogen
wird. Unter anderem deswegen ist Ihre Koalitionsvereinbarung so unendlich matt.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
gestern mit Freude die Aussagen des CDU/CSU-Fraktionschefs Volker Kauder gehört. Er sagte, wir wollen
Politik machen, die ideologiefrei und vorurteilsfrei ist.
Genau diese Politik wird die neue Bundesregierung machen.
({0})
Die Abwägung zwischen Freiheitsrechten und Sicherheit ist meines Erachtens nicht auf die Frage nach
Schuld und Unschuld zu reduzieren. Verfassungsrecht
hat mit dieser einfachen Frage nach Schuld und Unschuld wenig zu tun, gerade wenn es darum geht, Menschenrechte und Bürgerrechte zu stärken.
({1})
Deutschland verändert sich, und die neue Bundesregierung wird diese Veränderungen gestalten. Einige
krabbeln langsam wieder in die Schützengräben, andere
kommen heraus.
({2})
Das ist gut so. Insbesondere im Bereich der Migrationsund Integrationspolitik macht es sehr viel Sinn, sich dieser Herausforderung zu stellen; sie bietet auch neue
Chancen.
Die Koalition hat sich auf eine konsequente Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland und eine aktive Integrationspolitik geeinigt. Wir wollen die Attraktivität Deutschlands für Hochqualifizierte steigern und
bürokratische Hindernisse für qualifizierte Arbeitnehmer
abbauen. Denn die Zuwanderung von Hochqualifizierten
und Fachkräften schafft neue Arbeitsplätze auch in
Deutschland und stärkt den Standort Deutschland.
Der Zugang von ausländischen Hochqualifizierten und
Fachkräften muss - ich zitiere aus dem Koalitionsvertrag „systematisch an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarkts ausgerichtet und nach zusammenhängenden,
klaren, transparenten und gewichteten Kriterien wie beispielsweise Bedarf, Qualifizierung und Integrationsfähigkeiten gestaltet werden.“ Herr Koschyk wird sich gut
an diese Formulierung erinnern. Das ist eine sehr schöne
und gute Darstellung von dem, was wir in Zukunft machen wollen.
Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ist für Deutschland eine Schlüsselaufgabe. Wir
wollen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus Zuwandererfamilien alle Chancen eines weltoffenen Landes eröffnen und ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglichen. Das erfordert umgekehrt
aber auch die entsprechende Integrationsbereitschaft der
Zuwanderer. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist
Grundvoraussetzung für Bildung und Ausbildung, für
Integration in den Beruf, für Partizipation und sozialen
Aufstieg. Dazu werden wir die Integrationskurse quantitativ und qualitativ aufwerten.
Lieber Herr Scholz, bei der Ankündigung eines Anerkennungsgesetzes wollen wir es eben nicht belassen. Sie
waren sehr gut darin, kurz vor Ende der Legislaturperiode das eine oder andere anzukündigen. Wir wollen es
umsetzen, und wir werden es auch machen. Die Anerkennung von ausländischen Abschlüssen ist einer der
Hartfrid Wolff ({3})
wichtigsten Bereiche. Damit können wir für eine vernünftige Integrationspolitik sorgen.
({4})
Auch in einem anderen Punkt ist der neuen Koalition
eine lang überfällige Einigung gelungen. Wenn bei lange
geduldeten, gut integrierten Ausländern ohne festen
Aufenthaltsstatus eine Abschiebung nicht mehr vertretbar ist, muss dem durch eine vernünftige und unbürokratische Regelung auf Bundesebene Rechnung getragen
werden. Hier gilt es zunächst, die zum Jahresende auslaufende Regelung zeitgerecht so anzupassen, dass wir
die notwendige Zeit gewinnen, eine tragfähige gesetzliche Grundlage für ein Bleiberecht zu schaffen, um nachhaltig den nicht mehr verständlichen Zustand anzugehen, den wir derzeit in einigen Bereichen haben.
Ein humanitärer Fortschritt ist es auch, dass wir die
aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher
Stellen ändern, um den Schulbesuch von Kindern zu gewährleisten.
({5})
Das ist ein humanitäres Muss.
({6})
Ideologiefreie, sachorientierte Politik wird ein Markenzeichen der neuen Koalition: ideologiefrei in der
Ausländer- und Integrationspolitik, mit Augenmaß in der
Sicherheits- und Datenschutzpolitik, an Lösungen statt
an aktuellen Stimmungsschwankungen ausgerichtet,
auch in Bereichen wie dem Waffenrecht und dem Bevölkerungsschutz. Das wird die Zukunft der Innenpolitik
sein. Sie wird vernünftig werden, Herr Kollege Wieland.
Sie werden es merken.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
neue Bundesregierung ist angetreten und will sofort die
notwendigen Programme gegen Rechtsextremismus
schwächen und ausdünnen. Sie sollen irgendwie - wohlgemerkt: irgendwie - auf jede Form des Extremismus
ausgedehnt werden. Ich sage Ihnen ganz klar: Wer solche Pläne umsetzen will und den bisherigen Konsens
gegen rechts aufkündigt, riskiert bewusst, dass Nazis
Oberwasser gewinnen. Das sagen auch renommierte
Professoren, deren Stellungnahme heute den Medien zu
entnehmen ist. Zum Beispiel sagen sie, dass die Gleichsetzung der unterschiedlichen Extremismusformen den
„Denkschablonen des Kalten Krieges“ entspricht. Meine
Damen und Herren, Sie können doch nicht ernsthaft die
Augen davor verschließen, dass Neonazis seit 1990
141 Menschen ermordet haben. Es sind Nazis - und
nicht Linke -, die mit ihrem Terror ganze Regionen dominieren und Menschen, die ihnen als nicht deutsch oder
als Andersdenkende erscheinen, täglich mit Gewalt und
Misshandlung drohen.
({0})
Die Nazi-NPD hat eine Stammwählerschaft, wie wir
in Sachsen sehen. Statt aber diese Herausforderung anzunehmen, führt die Regierung ein Schattenboxen auf.
Ihre schärfste Waffe im Kampf gegen Extremismus soll
sein, die Verklärung der DDR-Vergangenheit zu verhindern, wie es im Koalitionsvertrag heißt.
({1})
- Dieser abseitige Zusammenhang gefällt mir in der Tat
nicht. - Ich bin der Meinung: Wer den Kampf gegen den
Rechtsextremismus verwässert und schwächt, handelt
brandgefährlich. So heißt es in der heute veröffentlichten
Stellungnahme der Professoren: Man kann davon ausgehen, dass die Naziszene diese Schwerpunktverlagerung
„geradezu als mutmachende Geste begrüßt“. - Das wäre
eine fatale Entwicklung. Diese lehnt die Linke auf jeden
Fall ab.
({2})
Ich will noch einen anderen Bereich ansprechen, die
Asyl-, Migrations- und Integrationspolitik. Die Folgen
der wirtschaftlichen Krise werden vor allen Dingen Migranten und Flüchtlinge zu spüren bekommen. Zehntausenden Menschen droht möglicherweise ein Durchfallen
bei der Bleiberechtsregelung, weil sie keinen Job haben, der ihre Familien ausreichend ernährt. Was steht im
Koalitionsvertrag dazu? - Nichts, kein Wort!
({3})
Die FDP hat sich gerade dies und meiner Meinung nach
noch einige andere Punkte auf die Fahnen geschrieben.
Ich nenne als Beispiel die vielfältigen Schikanen für
Asylsuchende. Wo wollen Sie die Residenzpflicht abschaffen? Die Beschränkungen für Flüchtlinge bei den
Sozialleistungen bleiben bestehen.
Auch in der Integrationspolitik wurde nichts Substanzielles vereinbart.
({4})
Beim Staatsangehörigkeitsrecht bleibt alles beim Alten.
Die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Drittstaatsangehörige hat es noch nicht einmal zu einem Prüfauftrag geschafft. Es bleibt weiterhin beim Arbeitsverbot
für Asylbewerber. Ich halte es für einen ziemlichen
Skandal, dass hier noch nicht einmal ein Millimeterschritt gemacht worden ist.
({5})
Unser Fazit lautet: Die neue Bundesregierung
schwankt zwischen ideologischen Rückfällen in alte Zeiten und einem billigen Weiter-so. Sie können sich darauf
verlassen: Die Linke wird zusammen mit Flüchtlingsorganisationen, Menschenrechtsorganisationen, Kirchen
und Wohlfahrtsverbänden entschiedenen Widerstand dagegen leisten, dass Sie hierzu nichts im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Kollege Reinhard Grindel von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Jelpke, Sie haben die Neuorientierung unserer
Extremismusprogramme angesprochen, und Herr Korte
kritisiert, dass die Linke, zumindest in Teilen, vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
({0})
Heute hat die Leiterin des Berliner Verfassungsschutzes
darauf hingewiesen, dass die Tendenzen bei Ihrer Partei
zunehmen, mit militanten linken Gruppierungen gemeinsame Sache zu machen.
({1})
Ich verweise darauf, dass Ihre Abgeordnete Höger
Brandanschläge auf Bundeswehrfahrzeuge in Berlin gerechtfertigt und dafür Verständnis geäußert hat.
({2})
Wer so etwas Unmögliches tut, der darf sich nicht wundern, wenn der Verfassungsschutz genau hinschaut.
({3})
Herr Scholz und Frau Kollegin Ziegler - Sie haben
die Gelegenheit, nach mir zu sprechen -, es ist das SPDgeführte Innenressort hier in Berlin, das diese Sorgen geäußert hat. Es sind Ihre Koalitionspartner, mit denen Sie
jetzt in Berlin und Brandenburg gemeinsame Sache machen, die mit militanten Gruppen gemeinsame Aktionen
durchführen. Auch daran muss man bei so einer Gelegenheit erinnern.
({4})
Insofern bleibt es dabei: Für uns kommt es auf den
Kampf gegen jede Form von Extremismus an, gegen
Rechts- und Linksextremismus, Antisemitismus und Islamismus. Das ist unsere Linie, die wir in den kommenden vier Jahren vertreten werden.
({5})
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben das Niveau der
SPD-Innenpolitik und der SPD-Innenminister angesprochen. Der Kollege Scholz kritisiert, dass wir uns beim
Thema Onlinedurchsuchung darauf verständigt haben,
dass der BGH-Richter zuständig ist. Ich muss den Hinweis des Kollegen Wolff aufgreifen. Sie haben noch
nicht einmal eine Rechtsgrundlage gehabt, Sie haben nur
ein Dekret des Bundesinnenministers Schily und seines
Staatssekretärs Diwell gehabt. Damit haben Sie Onlinedurchsuchungen durchgeführt. Sie sind nun wirklich der
Allerletzte, der irgendwelche kritischen Anmerkungen
bei diesem Thema machen kann, was Rechtsstaatlichkeit
angeht.
({6})
Zu Recht ist in unserem Koalitionsvertrag sehr viel
von Integrationspolitik die Rede. Wir brauchen verantwortungsbewusste Integration. Das bedeutet, jeder, der
für das Gelingen der Integration verantwortlich ist, muss
sich auch der Verantwortung stellen. Der Bund tut das
mit einer weiteren Verbesserung der Integrationskurse
und der Eingliederung von Migranten in den Arbeitsmarkt. Das betrifft natürlich auch die Aufnahmegesellschaft, vor allem die Kommunen. Hier ist vor allen Dingen die Verbesserung der frühkindlichen Erziehung von
zentraler Bedeutung. Aber das betrifft eben auch die Migranten selber. Es gibt viele junge Migranten, die Abitur
machen und studieren. Es gibt vielfältige Integrationserfolge. Wenn man sich diese gelungenen Integrationskarrieren anschaut, dann stellt man fest, dass in aller Regel die Eltern mit dazu beigetragen haben, weil sie auf
Spracherwerb Wert gelegt und ihren Kindern eine Bildungsperspektive gegeben haben. Deshalb heißt unsere
Konsequenz, die sich auch sehr präzise im Koalitionsvertrag wiederfindet: Ja, wir müssen noch mehr tun, aber
unsere Integrationsangebote müssen auch angenommen
werden. Angebot und Annahme durch die Migranten
- Eltern und Kinder gehören zusammen -, Fördern und
Fordern, das ist unser Leitmotiv, das sich sehr präzise im
Koalitionsvertrag wiederfindet. Das ist auch richtig so.
({7})
Es bleibt beim verbindlichen Sprachnachweis vor
dem Ehegattennachzug, weil wir gerade damit die Familien, die eher abgeschottet, eher integrationsfern in unserem Land leben, darauf aufmerksam machen wollen,
dass es ohne Deutsch nicht geht, erst recht nicht für die
Kinder. Sie haben völlig zu Recht angesprochen: Was
wir dringend in Angriff nehmen müssen, ist, die Qualifikationsschätze von vielen Migranten zu heben, die seit
vielen Jahren bei uns leben. Deshalb wollen wir einen
gesetzlichen Anspruch auf schnelle Verfahren zur Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen. Taxifahrer haben wir genug in unserem Land. Wir brauchen
Ärzte und Ingenieure. Die haben wir reichlich im Land.
Mit entsprechenden Qualifizierungen und Anerkennungen wollen wir erreichen, dass diese hochkompetenten
Migranten in ihrem angestammten Beruf bei uns arbeiten und zu unserem Wohlstand beitragen können.
({8})
Lieber Herr Kollege Scholz, Sie haben die Frage einer
weiteren Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte auf
den deutschen Arbeitsmarkt angesprochen. Ich rate
dazu, die Arbeitsmarktentwicklung in unserem Land und
vor allen Dingen die Auswirkungen der Freizügigkeit
abzuwarten, die wir nach 2011 für alle Arbeitnehmer in216
nerhalb der Europäischen Union haben werden. Die
Grenzen fallen. Ich sage in aller Deutlichkeit: Wir wollen an der Vorrangprüfung festhalten. Sie muss unbürokratisch ausgestaltet werden - okay, Herr Kollege Wolff.
Wir wollen, dass jeder Mittelständler, jeder Unternehmer, der sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt keine Arbeitskraft verschaffen kann, die Chance hat, ausländische Arbeitskräfte ins Land zu holen. Aber wir wollen
keine ungesteuerte Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt,
um billige und willige Arbeitskräfte ins Land zu holen.
Es wundert mich, dass Sie als ehemaliger Arbeitsminister einer solchen Politik das Wort reden, Herr Scholz.
({9})
Im Kern geht es auch beim Thema Bleiberechtsregelung darum, Qualifikationsschätze zu heben und eine
kluge Integrationspolitik zu betreiben. Wir, die Koalition, gehen davon aus, dass die Innenministerkonferenz
im Dezember eine Verlängerung der Bleiberechtsregelung vereinbaren wird. Ich finde, dass wir darüber hinaus
zu einer grundlegenden Lösung für Familien kommen
sollten, die sich lange in Deutschland aufhalten und deren Kinder hier erfolgreich zur Schule gehen. Wir sollten
diesen Familien ein Bleiberecht geben, damit ihre Kinder in Ruhe einen Schulabschluss und eine Ausbildung
machen können. Wir wollen den Erfolg aller Kinder,
auch solcher, deren Aufenthalt bisher geduldet worden
ist und für die Deutschland mittlerweile eine neue Heimat geworden ist. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam,
der Bundesinnenminister, die Koalitionsfraktionen und
die Länder, an einer solchen Lösung arbeiten. Meine
Fraktion ist dazu ausdrücklich bereit, vor allen Dingen
im Interesse der Kinder, für die unser Land Heimat geworden ist.
({10})
Wir haben gehört, dass der Bundesinnenminister den
notwendigen gesellschaftlichen Zusammenhalt angesprochen hat. In Zeiten, in denen man immer öfter hört
„Was bringt mir das? Was habe ich davon?“, ist es wohltuend, zu sehen, wie viel ehrenamtliches Engagement
wir in unserem Land haben. Wir sollten hier über Sonntagsreden hinauskommen. Wir sollten im Alltag vielen
Ehrenamtlichen ganz praktisch, unbürokratisch und mit
der Unterstützung, die wir im Rahmen des finanziell
Möglichen geben können, helfen, ihre Arbeit zu befördern. Das heißt für unseren Bereich, vor allen Dingen die
freiwilligen Feuerwehren und das Technische Hilfswerk
zu unterstützen. Ich benenne in diesem Zusammenhang
einen ganz konkreten Punkt: Wir müssen zum Beispiel
mit den Verkehrspolitikern darüber diskutieren, wie es
gelingt, eine unbürokratische feuerwehrinterne Lösung
hinsichtlich der Führerscheine von Feuerwehrleuten zu
finden. Es hat etwas mit Sicherheit, mit Schutz unserer
Mitbürger und mit Unterstützung ehrenamtlichen Engagements zu tun, dass wir in diesem konkreten Fall unseren freiwilligen Feuerwehren zur Seite stehen.
({11})
CDU, CSU und FDP haben die Koalitionsverhandlungen in den Bereichen Inneres und Justiz zügig abgeschlossen. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
wir haben uns in unserer Verhandlungsgruppe geeinigt.
Wir haben gesagt: Wir brauchen nichts an die große
Runde abzugeben; das schaffen wir alles selber. Wir haben diese Verhandlungen in einem guten Geist geführt.
Ich bin ganz sicher, dass wir im Interesse der Menschen
in unserem Land und zum Wohle der Sicherheit unseres
Landes gute vier Jahre miteinander haben werden.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({12})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Ziegler von
der SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrter Herr de Maizière, auch von
mir herzlichen Glückwunsch und viel Erfolg bei Ihrer
Amtsführung. Ich habe mich sehr gefreut, dass Sie sich
mit Ostdeutschland so verbunden fühlen. Mir als gebürtiger Ostdeutschen, die nach der Wende zunächst als ehrenamtliche Bürgermeisterin in die Politik gekommen
ist, als Abgeordnete und Ministerin in Brandenburg tätig
war, liegt dieses Thema natürlich besonders am Herzen.
Wir haben vor zwei Tagen den Fall der Mauer gefeiert, und wir haben uns an den 9. November 1989 mit
Respekt vor den Menschen in Ostdeutschland erinnert.
Wir haben in Ost und West nicht ohne Stolz auf das zurückgeblickt, was wir in den letzten zwei Jahrzehnten für
die soziale Einheit Deutschlands gemeinsam erreicht haben.
Klar ist: Der Aufbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte.
Klar ist aber auch, dass immer noch tiefgreifende strukturelle Probleme in Ostdeutschland bestehen, die weiterhin große Anstrengungen und besondere Hilfen für den
Osten notwendig machen.
({0})
Es liegt im gesamtdeutschen Interesse, gleichwertige
Lebensverhältnisse in Ost und West zu verwirklichen.
Das heißt konkret, erstens die Wirtschafts- und Innovationskraft zu erhöhen, zweitens die sozialen Spannungen
abzubauen und die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und,
drittens, die demografischen Herausforderungen zu
meistern und eine gute öffentliche Daseinsvorsorge zu
gewährleisten.
Das alles ist aber kein Selbstläufer. Dafür ist politisches Handeln gefragt. Der Koalitionsvertrag von Union
und FDP ist jedoch in dieser Hinsicht eine herbe Enttäuschung. Die neue Bundesregierung hat kein politisches
Gesamtkonzept für Ostdeutschland, keinen Fahrplan,
keine neuen Ideen und offensichtlich auch gar keinen
Ehrgeiz.
({1})
Stattdessen gibt es eine weitere Expertenkommission,
sozusagen als Ausdruck der eigenen Einfallslosigkeit.
Wer den Koalitionsvertrag aus dem Blickwinkel Ostdeutschlands liest, stellt aber noch etwas fest: Diese
Bundesregierung gefährdet mit ihrer Politik der sozialen
Spaltung das Ziel der sozialen Einheit unseres Landes.
({2})
Ich nenne Ihnen drei Beispiele, die in Ost und West wirken, aber im Osten um ein Vielfaches negativer.
Erstes Beispiel: die Steuerpolitik. Um die soziale Einheit Deutschlands zu vollenden, müssen wir die Wirtschafts- und Innovationskraft Ostdeutschlands stärken.
Dafür brauchen wir Investitionen in Bildung, in Forschung, in Infrastruktur. Die Voraussetzung dafür sind
aber handlungsfähige Länder und handlungsfähige Kommunen. Mit Ihren Steuerplänen setzen Sie die notwendige
Handlungsfähigkeit der öffentlichen Hand jedoch fahrlässig aufs Spiel. Damit schaffen Sie eben nicht Ihr hochgepriesenes Wachstum. Sie gefährden es,
({3})
und Sie gefährden Beschäftigung und eine gute Daseinsvorsorge. Gerade für den Osten wäre das fatal.
Zweites Beispiel: die Arbeitsmarktpolitik. Wir brauchen gute Arbeit und faire Löhne. Wir brauchen mehr
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, gleiche
Löhne in Ost und West und einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn.
({4})
Wir müssen auch die Arbeitslosigkeit weiter bekämpfen,
gerade auch die Langzeitarbeitslosigkeit, die im Osten
nach wie vor doppelt so hoch ist wie im Westen. Dafür
brauchen wir gerade in der Krise eine aktive und vorausschauende Arbeitsmarktpolitik. Wir haben die Stichworte Kurzarbeit und Qualifizierung bereits gehört. Ich
denke aber auch an den Kommunalkombi für Langzeitarbeitslose. Was aber macht Schwarz-Gelb? Sie wollen
die Arbeitsmarktinstrumente deutlich reduzieren und
stellen die aktive Arbeitsmarktpolitik gänzlich infrage.
Das Gleiche beim Thema Mindestlohn. Sie lehnen den
allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ab und stellen
schon beschlossene Mindestlöhne wieder infrage.
({5})
Damit machen Sie Billiglöhne im Osten zum Programm.
Dabei unterstelle ich Ihnen gar keine Blauäugigkeit; das
ist pure Absicht. Sie handeln zwar nicht blauäugig, aber
Sie verdienen da zwei blaue Augen.
({6})
Drittes Thema: die Gesundheitspolitik. Zu den notwendigen Antworten auf die demografischen Herausforderungen in den neuen Bundesländern gehört ein solidarisches und gerechtes Gesundheitssystem. Sie aber
planen die Entsolidarisierung des Gesundheitswesens
und die Regionalisierung der Krankenversicherung, und
zwar insbesondere zulasten der Menschen in den neuen
Ländern. Ihre Politik bedeutet im Konkreten: höhere
Beitragsbelastung bei weniger Leistung. Da das Lohnniveau im Osten leider immer noch niedriger ist als im
Westen, trifft Ihre Politik die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler im Osten besonders hart.
Auch mit den geplanten Veränderungen beim Risikostrukturausgleich benachteiligen Sie vor allem die Krankenkassen in den neuen Ländern.
Das wird logischerweise zu höheren Zusatzbeiträgen
im Osten führen müssen. Gestern habe ich aus den Reihen der CDU gehört, dass es da auch Bauchschmerzen
gibt. Aber hier hilft nicht der Rat des Arztes oder Apothekers, da hilft ganz einfach ein Abführmittel. Führen
Sie einfach diese Pläne dorthin ab, wohin sie gehören,
und spülen Sie kräftig nach!
({7})
Die SPD erwartet von Ihnen, Herr Minister, ganz konkret, dass Sie Ihrer Verantwortung als Beauftragter für
Ostdeutschland nachkommen und sich in der Regierung
gegen eine solche Politik der Spaltung einsetzen. Dazu
gehört im Übrigen auch, dass endlich die Pläne zur Angleichung der Ostrenten verwirklicht werden.
({8})
Wenn Kollegen Ihrer Regierung anfangen, Ost und West
gegeneinander auszuspielen, so wie es Herr Ramsauer
schon einmal versucht hat, erwarten wir von Ihnen, dass
Sie ihm mit klaren Worten Paroli bieten und nicht dazu
schweigen.
Ich erwarte, dass wir spätestens zum 30. Jahrestags
des Mauerfalls gemeinsam sagen können, dass wir die
soziale Einheit unseres Landes auch tatsächlich verwirklicht haben. Viel Glück dabei!
({9})
Frau Kollegin Ziegler, ich gratuliere auch Ihnen zu
Ihrer ersten Rede hier im Deutschen Bundestag. Ich
hoffe, dass Sie noch viele Reden halten werden.
({0})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu dem Bereich Recht. Als erste
Rednerin hat die Bundesministerin der Justiz, Frau
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, das Wort.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! 20 Jahre nach dem Sieg der friedlichen Revolution
in der DDR über den Überwachungsstaat gilt der materielle Rechtsstaat in ganz Deutschland. Wir haben die
Aufgabe, ihn ständig bestmöglich auszurichten. Wir
müssen den Bürgern Rechtssicherheit geben. Aber dies
muss immer so geschehen, dass die Privatsphäre des
Einzelnen geschützt ist und der Bürger Vertrauen in den
Rechtsstaat haben kann. Seit dem 11. September 2001
haben viele Gesetze Bürgerrechte eingeschränkt und
staatliche Überwachungsbefugnisse ausgeweitet. Das
hat mit dazu geführt, dass manche Menschen nicht mehr
das nötige Vertrauen in den Rechtsstaat haben, sondern
ihm mit Misstrauen gegenüberstehen.
Unser Grundsatz, niedergelegt in der Koalitionsvereinbarung, ist: kein Weiter-so mit dem Stakkato immer
neuer Gesetze in der Sicherheitspolitik.
({0})
In Zukunft haben die konsequente Anwendung der bestehenden Gesetze und die Beseitigung von Vollzugsdefiziten immer Vorrang vor der Schaffung neuer Eingriffsbefugnisse für den Staat. In diesem Sinne werden
wir die rechtsstaatlichen Korrekturen und Gesetzesentschärfungen vornehmen, die in der Abwägung von Freiheit und Sicherheit verantwortbar sind und den Bürger
stärken.
({1})
Dazu haben wir sehr konkrete Vereinbarungen getroffen. Wir werden den Schutz der Berufsgeheimnisträger verbessern, indem wir die falsche Aufspaltung
des Berufes der Anwaltschaft in Anwälte und Strafverteidiger wieder aufheben.
({2})
Wir werden die entsprechenden Regelungen ändern und
schnellstmöglich einen Gesetzentwurf dazu vorlegen.
({3})
- Herr Wieland, natürlich haben Sie nie genug.
({4})
Wir haben in diesen Punkt des Koalitionsvertrages ausdrücklich hineingeschrieben, dass wir in Bezug auf eine
weitere Ausdehnung des Berufsgeheimnisträgerschutzes prüfen werden - möglicherweise nach dem Vorbild
des § 100 c Abs. 6 StPO -, inwieweit das mit der Durchsetzung des Strafverfolgungsanspruches vereinbar ist.
Wir ändern, und wir prüfen. Wir sind auf dem richtigen
Weg und machen das, was wir angekündigt haben.
({5})
Konkret vereinbart haben wir auch die Änderung der
Kronzeugenregelung. Diese Regelung muss rechtsstaatlich wieder richtig ausgerichtet werden; das heißt,
eine Berücksichtigung der Aussage bei der Strafzumessung darf nur dann erfolgen, wenn ein Bezug zur vorgeworfenen Tat hergestellt werden kann.
({6})
Wir werden - auch das ist konkret vereinbart - die
Pressefreiheit stärken. Journalisten werden in Zukunft
besser vor Beschlagnahmungen geschützt. Wir werden
sicherstellen, dass sich kein Journalist der Beihilfe strafbar macht, wenn er lediglich Material veröffentlicht, das
ihm zugespielt worden ist. Damit schließen wir das Einfallstor, das unter anderem zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall „Cicero“ geführt hat. Das
geschieht sofort.
({7})
Wir werden dem Internet, dem wir eine riesige
Chance für die Kommunikation und die Teilhabe des
Einzelnen zumessen, in den nächsten vier Jahren einen
großen Stellenwert geben. Auch hier spielt Vertrauen
eine große Rolle. Deshalb werden wir auf der Grundlage
des geltenden Rechts kinderpornografische Inhalte im
Netz löschen; denn das ist die wirkungsvollste Vorgehensweise.
({8})
Deshalb werden wir ein Jahr lang keine Sperrung vornehmen und keine Infrastruktur in Bezug auf Internetsperren aufbauen. Wir werden sehen, wie erfolgreich wir
damit sind. Das ist im Einklang mit dem Gesetz möglich. Das zeigt: Wir nehmen die Befürchtungen und die
Sorgen der Menschen vor einer möglichen Zensur ernst.
Aber wir verschließen nicht die Augen vor der Tatsache,
dass das Internet kein rechtsfreier Raum sein darf und
dass es in ihm Inhalte gibt - unter anderem kinderpornografischer Art -, die aus dem Netz genommen werden
müssen. Diesem Punkt werden wir unsere Aufmerksamkeit und unsere ganze Tatkraft widmen.
({9})
Nach einem Jahr wird sich zeigen, was geht und was
nicht geht. Daran lassen wir uns messen.
Im Zusammenhang mit dem Internet wird natürlich
auch das Urheberrecht eine herausragende Rolle spielen. Weil das Internet kein rechtsfreier Raum ist, müssen
wir das Urheberrecht durchsetzen.
({10})
Da stehen wir vor neuen Herausforderungen. Das sehen
wir an den Beratungen der Europäischen Union in den
letzten Tagen. Wir haben aber eines klargemacht: Wir
wollen keine gesetzlichen Internetsperren im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Urheberrechts. Das
steht konkret in der Koalitionsvereinbarung. Da wird
nicht geprüft, nicht abgewogen und nicht evaluiert. Das
machen wir in den Bereichen, in denen es notwendig und
verantwortbar ist. Aber das können wir teilweise nicht sofort tun. Bevor wir uns beispielsweise mit den Strafbestimmungen zu den Terrorcamps befassen können, brauchen wir eine gewisse Zeit, um erst einmal Erfahrungen
hinsichtlich der Anwendung dieser Bestimmungen zu
sammeln. Dann werden wir uns genau ansehen - diese
Gesetzgebung war eine Gratwanderung -,
({11})
ob sie sich in der Praxis bewährt haben.
Wir haben uns nicht nur auf diesen Bereich konzentriert. Die Rechtspolitik muss natürlich auch die richtigen Lehren aus der Finanzmarktkrise ziehen. Deshalb
stehen für uns das Insolvenzrecht, Reorganisationsverfahren für Kreditinstitute und eine Verbesserung des Insolvenzplanverfahrens an vorderster Stelle. Wir werden
Ihnen unter Federführung des Justizministeriums gemeinsam mit den anderen Ressorts gute Vorschläge unterbreiten, die Instrumente zum Gegenstand haben, die
gerade dann, wenn die Gefahr einer Pleite droht, in der
Zukunft helfen sollen, diese zu verhindern und die betroffenen Unternehmen einfacher und effektiver zu sanieren.
Wir haben uns in der Gesellschaftspolitik viel vorgenommen. Das betrifft unter anderem die Eingetragene
Lebenspartnerschaft. Da sage ich ganz deutlich: Nach
vier Jahren Stillstand wird es hier Verbesserungen
geben - im öffentlichen Dienstrecht und im Steuerrecht.
Das ist in der Koalitionsvereinbarung konkret festgelegt.
({12})
Ich komme zum Schluss. Wir werden der Rechts- und
Justizpolitik unter Berücksichtigung der europäischen
Entwicklungen eine große Bedeutung beimessen; denn
mit dem Vertrag von Lissabon habe ich als Bundesjustizministerin die große Verantwortung, Sie als Parlamentarier so früh wie möglich in alle Überlegungen und Beratungen einzubeziehen. Ich begrüße, dass die Rechte
des Parlaments gestärkt wurden.
({13})
- Herr Montag, ich sage Ihnen, SWIFT wird im Moment
verhandelt.
({14})
- Nein. - Wir haben unsere Bedenken deutlich gemacht.
Heute tagen Gruppen, und nächste Woche tagen Gruppen. Warten Sie einmal ab, was am 30. November passiert!
({15})
Wir wollen mit Rücksicht auf das Europäische Parlament nicht präjudizieren.
({16})
Deshalb müssen Sie sich noch ein paar Tage gedulden.
Dann werden wir Ihnen sagen können, dass wir hier unsere Position sehr erfolgreich eingebracht haben.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Ministerin, auch Ihnen wünsche ich
zunächst einmal alles Gute für Ihr neues Amt ganz im
Interesse unseres Landes.
({0})
Es gibt ein paar Fragen in der Rechtspolitik, die wir
besprechen müssen. Manche Fragen haben wir eben in
der Debatte über die Innenpolitik schon besprochen. Ich
fand interessant, wie man malerisch die Tatsache beschreiben kann, dass nichts geschieht. Es wurde dargestellt, dass kleine Änderungen überdacht und Prüfaufträge abgearbeitet werden sollen.
Aber jeder, der sich mit der Materie auskennt, weiß:
Reale Bewegung, reale Veränderung kann man nicht
wahrnehmen.
({1})
Das Markenzeichen der Regierung wird vielleicht sein,
dass zwar alles groß inszeniert wird, aber das, was dann
an realer Bewegung zu beobachten ist, dieses nicht wert
ist.
({2})
Lassen Sie mich deshalb über ein paar reale Probleme
reden, die mich sehr besorgt machen und die jeden, der
am Rechtsstaat unseres Landes interessiert ist, besorgen
müssen, zum Beispiel über die Veränderung, die Sie bei
der Prozesskostenhilfe planen. Da steht zwar jetzt ganz
harmlos, dass Sie mal schauen wollen, ob das alles unter
den Gesichtspunkten der finanziellen Umstände vernünftig ist. Aber in Wahrheit ist dies doch die Ankündigung, dass die Prozesskostenhilfe für Leute verschlechtert wird, die wenig Einkommen haben.
({3})
Das ist keine gute Botschaft für den Rechtsstaat in
Deutschland. Er muss jeden schützen und nicht nur diejenigen mit dickem Geldbeutel.
({4})
Es gibt im Übrigen überhaupt keinen Evaluationsbedarf. Das, was dort diskutiert wird, ist schlichtweg Sparpolitik, aus den Länderverwaltungen in die Koalitionsverhandlungen gebracht. Es hätte genügt, sich dagegen
aufzustellen.
Das Gleiche gilt für das, was Sie mit dem Rechtsstandort Bundesrepublik Deutschland anstellen wollen.
Über Wirtschaftspolitik wird zwar viel gesprochen; aber
dass die Qualität des Rechts in Deutschland sehr hoch ist
und dass man sich auf die Rechtspflege hierzulande ordentlich verlassen kann, das ist für viele weltweit von
großer Bedeutung. Deshalb fuhrwerkt man darin nicht
einfach herum.
Ich will Ihnen ausdrücklich vorhalten, dass die Eröffnung der Möglichkeit der Zusammenlegung von Sozial- und Verwaltungsgerichten mit der Folge, dass es
in einigen Ländern so und in anderen Ländern so ist,
eine Verschlechterung der Qualität der rechtlichen Organisationen in Deutschland ist. Wir lehnen das ab. Sie
sollten von diesem Vorhaben ganz lassen.
({5})
Dann haben Sie sich vorgenommen, dass jetzt so
manche Privatisierung stattfinden soll. Die Aufgaben
des Nachlassgerichts sollen teilweise bei den Notaren
landen. Das Gerichtsvollzieherwesen wollen Sie privatisieren - und das wollen Parteien, die ständig die Wirtschaftsförderung in den Vordergrund stellen. Hier soll
eine Veränderung durchgeführt werden, die die Kosten,
die bei der Zwangsvollstreckung anfallen, auf alle Fälle
gewaltig steigern und die die Qualität der Rechtspflege
verschlechtern wird.
({6})
Wir lehnen beide Privatisierungsschritte ab.
({7})
Eines der Vorhaben, das ebenfalls Anlass zu vielen
Nachfragen und Sorge geben muss, sind die Veränderungen, die Sie beim Mietrecht vorhaben. Warum eigentlich, fragt man sich. Man kann heute sagen, dass es keine
Behinderung vernünftiger Investitionen in Wohngebäude gibt, die sich durch das heutige Mietrecht erklären
lässt. Wer saniert, hat am Ende, früher oder später, etwas
davon. Ohnehin wird dadurch sowieso nur die Substanz
der Mietsache, der Wohnung erhalten. Es gibt keinen
Anlass, nach juristischen Regeln zu suchen, die letztendlich dazu führen, dass Mieter Dinge bezahlen müssen,
die eigentlich zur normalen Bestandspflege und zur Weiterentwicklung von Wohnungen seitens der Vermieter
gehören.
({8})
Und es sind zwei Ankündigungen dabei, die mich
sehr bedenklich stimmen. Zum Beispiel wollen Sie für
das Eintreiben von Mietschulden neue Möglichkeiten
schaffen.
({9})
Da fragt man sich, weil das alles sehr kryptisch ist, was
sich dahinter eigentlich verbirgt. Ich habe die Sorge,
dass Sie zum Beispiel ermöglichen wollen, dass man mit
einem Titel gegen den Hauptmieter eine Zwangsräumung durchführen kann und die weiteren in der Wohnung berechtigt Lebenden die Wohnung gleich mit räumen müssen. Das wäre eine Verschlechterung. Falls das
gemeint ist, können Sie mit unserem entschiedenen Widerstand rechnen.
({10})
Ich ergänze das um die Frage der Kündigungsfristen.
Heute ist die Politiksprache so, dass sie meistens harmlos daherkommt. Alles klingt so, als ob es zum Besseren
für alle wird. In Wahrheit wird es für manche zum Teil
ganz schön schlecht.
({11})
Dass Sie im Rahmen Ihrer Vorhaben sagen: „Die Kündigungsfristen für Vermieter und Mieter sollen angeglichen werden“, ist doch nur eine nette Formulierung für
die Ankündigung, dass die Kündigungsfristen für Mieter
verschlechtert werden sollen. Das ist keine richtige Entscheidung.
({12})
Sagen Sie offen, dass Sie der Vermieterlobby und deren
jahrelanger Arbeit in Richtung Politik nachgeben,
({13})
und tun Sie nicht so, als ob Sie irgendjemandem sonst etwas Gutes tun. Es ist eine Verschlechterung der Situation
({14})
der Mieter in diesem Land, die Sie planen.
Meine Damen und Herren, im Koalitionsvertrag steht
zur Rechtspolitik eine Formulierung, die die großen Ankündigungen andernorts infrage stellt.
Ich nenne eine Ankündigung zum Gesellschaftsrecht. Sie wollen die Europäische Gesellschaft im Sinne
des Mittelstandes entwickeln. Das Gesellschaftsrecht ist
eine Sache des Justizministeriums. Aber es geht um die
Mitbestimmung. Das, was Sie hier in den Koalitionsvertrag geschrieben haben, ist der Bruch eines Wahlversprechens. Sie haben nämlich gesagt, an der Mitbestimmung
in Deutschland werde nichts verschlechtert. Ja, man
kann in Deutschland die Mitbestimmung abschaffen,
ohne ein einziges Gesetz zu ändern, indem man ein Loch
in den Eimer bohrt, durch das das ganze Wasser der Mitbestimmung fließt. Wenn Sie auf die Art und Weise, wie
es heute in Europa geplant ist, eine solche Europäische
Gesellschaft schaffen, dann wird es mit der Mitbestimmung in Deutschland bald vorbei sein, selbst wenn die
Gesetze als Relikte noch vorhanden sind. Das muss verhindert werden, meine Damen und Herren.
({15})
Es besteht Anlass zu dieser Sorge; denn es hat in der
bisherigen Koalition in dieser Frage keine Einigkeit zwischen dem Arbeitsministerium, dem WirtschaftsministeOlaf Scholz
rium und dem Kanzleramt gegeben. Dort war der
Wunsch, es so zu machen, dass die Mitbestimmung
durch die Schaffung solcher Gesellschaften abgeschafft
werden kann, so vehement, dass es nicht möglich war,
eine gemeinsame Linie der Bundesregierung in dieser
Frage gegenüber der Europäischen Union zu entwickeln.
Deshalb sage ich: Das, was Sie hier hineingeschrieben
haben, ist das Gegenteil dessen, was in der Regierungserklärung gesagt worden ist. Die Mitbestimmung ist damit in Gefahr. Dies muss jeder wissen.
({16})
Frau Ministerin, das Selbstlob, das Sie sich in der
Frage der Weiterentwicklung des Rechts gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und eingetragener Partnerschaften ausgesprochen haben, ist völlig
unberechtigt. Letztendlich haben Sie es gerade einmal
geschafft, das, was die Rechtsprechung erzwingt, Gesetz
werden zu lassen. Das darf man ja wohl mindestens erwarten. Aber Fortschritt ist Ihnen nicht gelungen, auf
den Sie aber mit Ihrer politischen Tradition und den Ansagen, die Sie in den letzten Jahren gemacht haben, hätten dringen müssen. Dabei hätten Sie auch mit unserer
Unterstützung rechnen können. Es gibt bei der Union etwas, das ich einmal als „Bis-hierhin-und-nicht-weiterLiberalismus“ bezeichne. Er geht so: Man ist immer dagegen. Das gesamte Recht, das wir zu den eingetragenen
Lebenspartnerschaften entwickelt haben, ist auf entschiedenen Widerstand der Union gestoßen. Als wir es
endlich so weit hatten, konnte man sich irgendwann
dazu durchringen, dass es so bleiben könne, wie es geworden ist; es dürfe nur nichts mehr dazukommen. Dieses „Nichts-mehr-darf-dazukommen“ hat die Union
auch in dieser Frage letztlich erfolgreich gegen Sie verteidigt. Ich bedaure dies; denn Fortschritt wäre hier das
Richtige gewesen.
({17})
Meine Damen und Herren, es ist über den Datenschutz
schon diskutiert worden. Er spielt in der Innenpolitik, der
Justizpolitik, der Wirtschaftspolitik und selbstverständlich im Bereich der Rechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern eine Rolle. Deshalb will ich an dieser
Stelle noch einmal etwas zum Arbeitnehmerdatenschutz
sagen, weil mich bei diesem Thema in den letzten Jahren
Folgendes sehr aufgeregt hat:
({18})
Bei jedem großen Skandal sagen alle, sie wollten etwas
machen und seien sofort für das, was die gute Überschrift
„Arbeitnehmerdatenschutz“ hat. Aber wenn es dann konkret zur Sache geht, sind alle einzelnen Regelungen nicht
gewollt. Die Überschrift will man noch hinnehmen, aber
die konkreten Regelungen, die den Datenschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verbessern, werden
dann gar nicht mehr akzeptiert. Deshalb waren die Verhandlungen zu dieser Frage in den letzten Monaten und
dem letzten Jahr schon eine ganz interessante Erfahrung.
({19})
Es war interessant, zu sehen, dass man öffentlich immer
einer Meinung ist, in der Fachfrage aber in keinem relevanten Detail.
Deshalb gibt es auch einen Entwurf zum Arbeitnehmerdatenschutz, und deshalb werden wir ein solches Gesetz in diesem Hause beraten. Ich bin dagegen, es irgendwo im Datenschutzgesetz unterzubringen.
({20})
Erstens ist es schon ganz schwierig gewesen, bei der Generalklausel zu einer vernünftigen Regelung zu kommen. Zweitens brauchen die Arbeitnehmer mehr Schutz,
weil sonst der Missbrauch weiterhin stattfinden wird.
Wenn ein neuer Missbrauch bekannt wird, erklärt jeder
Politiker, er halte dies jetzt für so schlimm, dass man ein
Gesetz brauche. Das reicht nicht. Wir sollten ein Gesetz
schaffen, das diesen Namen verdient. Das ist dann auch
gute Rechtspolitik, meine Damen und Herren.
({21})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Mit den heutigen Debatten zur Innenund Rechtspolitik sprechen wir am heutigen Nachmittag
über die Kernaufgaben des Staates. Die Bundeskanzlerin
hat gestern sehr treffend in ihrer Regierungserklärung
betont, dass Freiheit und Sicherheit untrennbar zusammengehören.
Freiheit ohne Sicherheit wäre wertlos, sie verkäme zu
einer einseitigen Freiheit des Starken. Wollten wir aber
Sicherheit ohne Freiheit, hätten wir in Deutschland aus
zwei Diktaturen nichts gelernt. Heute, zwei Tage nach
dem 20. Jahrestag des Mauerfalls, wird besonders deutlich, dass die innere Sicherheit unseres Landes und eine
stabile Rechtsordnung eben keine Selbstzwecke sind,
sondern dass Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit im
Dienste der Freiheit der Menschen stehen. Genau das
war den Menschen in der DDR in den Tagen des Novembers vor 20 Jahren klarer. Und wir sollten es auch
nicht vergessen.
({0})
Weil Freiheit und Sicherheit zwei Seiten der gleichen
Medaille sind, ist die Überschrift des Kapitels im Koalitionsvertrag sehr treffend gewählt worden: „Freiheit und
Sicherheit - Durch Bürgerrechte und starken Staat.“ Das
ist zugleich das Leitkonzept der christlich-liberalen
Rechtspolitik und der neuen Bundesregierung in dieser
Wahlperiode. Genauso wie Freiheit Sicherheit voraussetzt, so brauchen Bürgerrechte einen starken Staat, der
diese Freiheitsrechte, diese Bürgerrechte auch durchsetzen kann.
Es ist keine Lösung, den Staat dort großmachen zu
wollen, wo es um Bürokratie und Umverteilungsapparate geht, sondern der Staat muss gerade auch dort stark
sein, wo seine Ordnungshüter und Gerichte die Grundbedürfnisse der Menschen nach Freiheit und Sicherheit
befriedigen. Wir dürfen den starken Staat nicht mit dem
voluminösen Staat verwechseln. Deshalb ist es richtig,
dass wir in dieser Wahlperiode unter anderem auch beim
Bürokratieabbau deutlich voranschreiten.
Viele hatten vorausgesagt, dass es in den Koalitionsverhandlungen gerade in den Bereichen Recht und Innenpolitik besonders schwierig und kontrovers werden
würde. Soweit ich die Koalitionsverhandlungen begleitet
habe, konnte ich mich davon überzeugen, dass wir in einer guten, sachlichen, konstruktiven Atmosphäre diskutiert haben. Am Ende waren wir im Bereich von Innenund Rechtspolitik eine von drei Arbeitsgruppen, die
schon in der ersten Runde einen vollständigen Konsens
erzielt haben.
({1})
Das ist sicher gut, weil wir schon in der letzten Wahlperiode festgestellt haben, dass rechtspolitische Fragen
möglichst von Fachleuten diskutiert werden sollen, um
zu einer sachdienlichen Lösung zu kommen. Wenn das
zu vorgerückter Stunde in Koalitionsausschüssen stattfand, dann kam dabei nicht immer das beste Paket heraus.
Im Bereich der Innen- und Rechtspolitik ist dank der
umsichtigen Verhandlungsführung - das will ich an dieser Stelle betonen - des aus der Funktion des Innenministers ausgeschiedenen Wolfgang Schäuble und der neuen
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ein
gutes Ergebnis erzielt worden.
({2})
Ich möchte mich bei beiden - Frau LeutheusserSchnarrenberger ist anwesend - noch einmal sehr herzlich für diese Verhandlungen und für diese Atmosphäre
bedanken.
({3})
Ich wünsche Ihnen, Frau Ministerin, an der Spitze des
Justizministeriums alles Gute und viel Erfolg für diese
Arbeit. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und darf
den Staatssekretär Herrn Stadler ausdrücklich in den
Wunsch einschließen. Sie nehmen eine für Sie nicht
ganz neue Position ein. Ich bin mir sicher, dass Sie die
Zusammenarbeit mit den beiden Koalitionsfraktionen erfolgreich durchführen werden.
Im Zuge dieser Bereitschaft zu einem konstruktiven
Dialog, der natürlich auch innerhalb der Koalitionsfraktionen stattfinden wird, will ich den Oppositionsfraktionen
- ich darf namentlich die SPD und das Bündnis 90/Die
Grünen erwähnen - ausdrücklich anbieten, mit uns zusammenzuarbeiten.
({4})
Wahr ist, dass wir in der Großen Koalition mit der SPD
durchaus einen Vorrat an gemeinsamen Themen, an gemeinsamen Grundüberzeugungen hatten und dass wir im
Bereich der Rechtspolitik den Koalitionsvertrag der letzten Wahlperiode zu einem ganz großen Teil, zu fast
100 Prozent, umgesetzt haben.
({5})
Ich kann nur hoffen, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, diesen Grundkonsens in vielen
Fragen der Rechtspolitik nicht nur deshalb aufkündigen,
weil Sie jetzt eine andere Rolle spielen. Die Versuchung,
in der Opposition einen Rollenwechsel zu vollziehen, ist
groß; das weiß ich. Ich bin deshalb rückblickend froh,
dass ich während der drei Jahre als Oppositionspolitiker
im Rechtsausschuss hier im Hause dieser Versuchung
widerstanden habe.
({6})
Ich kann mich zum Beispiel sehr gut an die Verhandlungen zum Vorstandsvergütungs-Offenlegungsgesetz Anfang 2005 erinnern, Herr Scholz. Das haben wir damals,
als wir noch in der Opposition waren, gemeinsam hinbekommen. Ich fand die Verhandlungen sehr sachorientiert. Ich habe bei Ihren beiden Reden zur Innen- und
Rechtspolitik ein bisschen den Eindruck gewonnen, dass
der Effekt der Oppositionszugehörigkeit Sie eingeholt
hat. Ich darf daher der Hoffnung Ausdruck verleihen,
dass wir weiter sachorientiert miteinander kommunizieren werden. Ich hoffe auch, dass Sie in Ihrer neuen
Rolle, in der Opposition, nicht die Augen vor den wahren Problemen dieses Landes verschließen.
({7})
Ich darf einen Punkt nennen: Sie haben eben das
Thema Mietrecht angesprochen. Ich glaube, wir müssen
uns davor hüten, zu glauben, auf der einen Seite seien
die reichen Vermieter und auf der anderen Seite die armen Mieter unterwegs. Ich bin in meiner Heimatstadt
sehr oft von Menschen angesprochen worden, die sich
zum Zwecke der Altersvorsorge ein oder zwei Mietwohnungen zugelegt haben und jetzt unter Mietnomaden leiden. Sie leiden darunter, dass sie ihre Miete nicht eintreiben können und ihre Alterssicherung gefährdet ist. Wer
sagt: „Da machen wir keine Änderungen mit“, der gibt
diesen Menschen Steine statt Brot. Diese Menschen haben Hilfe verdient. Diese Hilfe bekommen sie von dieser
Koalition.
({8})
Da sich die Kollegen von den Grünen gerade so nett
zu Wort melden, darf ich ihnen sagen: Ich glaube, auch
die Debatten zwischen uns werden weiterhin spannend
bleiben. Das werden sicherlich Diskussionen auf Augenhöhe sein und hoffentlich keine Diskussionen, in denen
sich die eine Seite als Gralshüter des Rechtsstaates sieht.
Hoffentlich wird die Diskussion von der Erkenntnis ausgehen, dass nur ein starker Staat die Bürgerrechte gut
schützen kann.
Der Koalitionsvertrag umfasst eine Fülle von Aussagen aus dem sehr vielschichtigen Bereich der Rechtspolitik. Für die Rechtspolitik ist es übrigens besonders
wichtig, dass alle, die mitreden wollen, die circa
130 Seiten wirklich aufmerksam lesen; denn viele Aussagen zur Rechtspolitik finden sich gar nicht in dem speziellen Teil zur Rechts- und Innenpolitik, sondern an vielen anderen Stellen, zum Beispiel zur Wirtschafts- und
Umweltpolitik. Das macht mehrere Dinge deutlich:
Erstens. Wir denken nicht in Schubladen, sondern in
thematischen Zusammenhängen, die die Bürger verstehen.
({9})
Zweitens. Rechtspolitik ist eine echte Querschnittsaufgabe, die in nahezu alle Sachbereiche der Politik hineinspielt.
Drittens. Rechtspolitik ist auch Gesellschaftspolitik,
die den Veränderungen in der Gesellschaft folgt, sie aber
auch steuert, beschleunigt oder, wenn nötig, zügelt. Mit
Rechtspolitik kann in bester konservativer Tradition Bewährtes erhalten werden und schädlichen, gefährlichen
Entwicklungen gegengesteuert werden.
Gerade wegen dieser Vielfalt und dieser Steuerungsfunktionen ist die Rechtspolitik eines der spannendsten
Themenfelder, über die in diesem Hause debattiert wird,
und der Rechtsausschuss einer der interessantesten Ausschüsse dieses Hauses. Ich beglückwünsche daher alle
Kollegen, die neu in diesem Ausschuss sind. Aufgrund
des Wahlergebnisses kommen viele erstmalig in diesen
Ausschuss. Ich bin mir sehr sicher, dass Sie die Entscheidung für diesen Ausschuss nicht bereuen werden,
sondern dass Sie im Gegenteil die Arbeit im Bereich der
Rechtspolitik sehr schätzen werden.
Die öffentlichkeitswirksamsten Teile der Rechtspolitik sind die strafrechtlichen und die strafprozessualen
Themen. Ich will ein paar Punkte aufgreifen. Natürlich
gab es hierbei im Vorfeld nicht nur identische Positionen
bei FDP und Union. Umso positiver ist es aber, dass wir
sagen können, dass wir in vielen Punkten einen guten
Konsens gefunden, sehr gute Kompromisse erzielt und
letztlich gerade für die Opfer von Straftaten wesentliche
Verbesserungen erreicht haben.
Ich will erwähnen, dass wir zum Ersten die Zwangsverheiratung als eigenständiges Delikt in das Strafgesetzbuch hineinschreiben wollen.
({10})
Das ist ein klares und wichtiges Signal, diesen Straftatbestand noch einmal klarer und deutlicher zu fassen. Das
ist ein klares und wichtiges Signal für viele Frauen, die
aus anderen Kulturkreisen hierherkommen, das zeigt,
dass der deutsche Rechtsstaat sie nicht allein lässt. Die
jetzige Regelung ist eben nicht deutlich genug gefasst.
Das werden wir verbessern.
({11})
Zum Zweiten setzen wir uns für das strafrechtliche
Verbot einer gewerblichen Sterbehilfe ein. An der Tötung auch eines leidenden Menschen darf in Deutschland
kein Geld verdient werden.
({12})
Wir wollen Polizisten besser schützen. Die Polizisten
riskieren täglich für unseren Rechtsstaat, für unsere Sicherheit Leib und Leben. Es ist sehr fragwürdig, dass nach dem
Strafgesetzbuch für die Beschädigung eines Polizeiautos
ein höherer Strafrahmen vorgesehen ist - der Kollege
Bosbach hat in den letzten Wochen sehr oft zu Recht darauf
hingewiesen - als für die Verletzung eines Polizisten. Es ist
daher richtig und notwendig, dass wir für den Widerstand
gegen Vollstreckungsbeamte, jedenfalls in besonders
schweren Fällen, ein höheres Strafmaß vorsehen.
({13})
Das Problem von Widersprüchen im Strafrecht stellt
sich auch im Bereich des Jugendstrafrechts. Deshalb
haben wir hier vereinbart, dass wir die Höchststrafe für
das abscheuliche Verbrechen des Mordes heraufsetzen
werden. Gerade weil die allermeisten jungen Erwachsenen heute nach Jugendstrafrecht - das ja für Jugendliche
und Heranwachsende gilt - behandelt werden,
({14})
ist es nicht nur für Laien, sondern auch für viele Juristen
schwer verständlich, wenn in manchen Fällen der 22-jährige Nebentäter eine doppelt so hohe Gefängnisstrafe wie
der 20-jährige Haupttäter bekommt.
Im Jugendstrafrecht halte ich eine weitere Änderung
für noch viel dringlicher, nämliche die Einführung eines
sogenannten Warnschussarrestes.
({15})
Nicht erst der tragische Fall des mutigen Geschäftsmanns Dominik Brunner, der in München-Solln im September von zwei Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde,
weil er vier Kindern helfen wollte, zeigt, dass wir viel
frühzeitiger und konsequenter auf Jugendliche einwirken
müssen, die in die Kriminalität abzurutschen drohen.
({16})
- Passen Sie auf: Ich spreche gerade vom Warnschussarrest. Herr Kollege Wieland, Sie sollten schon aufpassen,
wovon ich spreche. Dann haben Sie auch etwas davon.
Jugendliche Intensivtäter geben oft selber an, dass sie
die Botschaft des Rechtsstaates zu lange nicht wirklich
verstanden haben, weil sie Verwarnungen von Gerichten
nicht ernst genommen haben oder die Verurteilung zu
Sozialstunden und Bewährungsstrafen als faktischen
Freispruch gewertet haben. Sie brauchen, wie sie zum
Teil selber sagen - ich selbst habe solche Gespräche geführt -, einen wirksamen frühzeitigen Schuss vor den
Bug, und zwar zu dem Zeitpunkt, wo man kriminelle
Karrieren noch stoppen kann.
({17})
Dieser Schuss vor den Bug kann eben auch eine Teilverbüßung einer im Übrigen zur Bewährung ausgesetzten
Freiheitsstrafe sein. Nichts macht wohl einen so dauerhaften Eindruck auf einen jungen Menschen wie der Verlust der Freiheit für einige Wochen.
(Christine Lambrecht ({18}): Dort lernen sie
erst alles, was sie noch nicht kennen! Wolfgang Wieland ({19}): Kommt darauf an, was man dort mit
ihm macht!)
Diese sicherlich harte Maßnahme ist bei manchen Jugendlichen und jungen erwachsenen Straftätern nötig,
um ihnen den Respekt vor unserem Rechtsstaat zu lehren. Auch insoweit brauchen wir keinen weichen, alles
entschuldigenden, sondern einen starken Staat.
Wir werden ferner Schutzlücken im Recht der Sicherungsverwahrung schließen.
({20})
Dieses besonders scharfe Schwert des Rechtsstaates darf
nur wohlüberlegt eingesetzt werden. Es wird deshalb eine
Harmonisierung mit einer in sich stimmigen Gesamtlösung dieses Themenbereiches geben. Es gibt - zum Glück
nur wenige - hochgefährliche Täter, vor denen wir die
Allgemeinheit schützen müssen. Es kann aber nicht sein,
dass eine Sicherungsverwahrung etwa daran scheitert,
dass ein schon vom ersten Hafttag an extrem gefährlicher
Täter seine Gefährlichkeit eben gar nicht mehr steigern
kann. Hier gibt es Handlungsbedarf; darauf werden wir
reagieren.
Wahr ist: In der Öffentlichkeit ist, wie ich gesagt
habe, der sichtbarste Teil der Rechtspolitik das Strafrecht. Es ist auch wahr: Über Spezialfragen, zum Beispiel der freiwilligen Gerichtsbarkeit, liest man nur selten etwas auf den Titelseiten der Boulevardpresse.
Dennoch umfasst die Rechtspolitik sehr viel mehr als
Mord und Totschlag, zum Beispiel auch viele Bereiche
des Zivilrechts, die viele Menschen täglich betreffen,
und viele Bereiche des Wirtschaftsrechts. Rechtspolitik
ist eben eine umfassende Gestaltungsaufgabe. Gerade im
Wirtschaftsrecht bestehen für die neue christlich-liberale
Regierung eine Reihe von sinnvollen und pragmatischen
Gestaltungsmöglichkeiten.
({21})
Eines der wenigen Themen, das wir in der vorherigen
Koalition nicht abgearbeitet haben, war die dringend nötige Reform des Insolvenzrechts. Ein wesentlicher
Grund war, dass die Leitung des BMJ spätestens zur
Mitte der letzten Wahlperiode offenbar das Interesse an
diesem Thema verloren hatte. Ich habe daher nicht verstanden, warum Ende 2008, Anfang 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzmarktkrise, auf einmal an der Spitze
des BMJ Krokodilstränen darüber vergossen wurden,
dass das Wirtschaftsministerium unter Führung von
Herrn Kollegen Guttenberg nun dieses Vakuum schließen wollte.
({22})
Es ist gut, dass wir jetzt das Thema unter der Federführung der Rechtspolitik wieder anpacken. Wichtig ist,
dass wir das Insolvenzrecht modernisieren, es zu einem
echten Restrukturierungsrecht ausbauen und dabei vor
allem dafür sorgen, dass Insolvenzverfahren eines Unternehmens in der Regel nicht zur Abwicklung führen, sondern dazu, dass ein Unternehmen wieder auf ein solides
Fundament gestellt wird. Das Insolvenzplanverfahren
wird hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Lassen Sie mich zu einem letzten wirtschaftsrechtlichen Sachthema kommen. Sie alle wissen, dass mir der
Schutz des geistigen Eigentums besonders am Herzen
liegt. Einige im Hause hat das Wahlergebnis der Piratenpartei offenbar etwas nervös gemacht. Man hatte bei einigen Äußerungen fast den Eindruck, dass sich der eine
oder andere selbst gern eine Totenkopfflagge ans Revers
heften möchte.
({23})
Es ist richtig: Die Modernisierung des Urheberrechts
und seine Anpassung an die Herausforderungen der digitalen Welt bleiben eine fortwährende Aufgabe für die
Rechtspolitik. Richtig ist aber auch: Der Wohlstand unseres Landes basiert maßgeblich auf der Kreativität von
Unternehmern und Arbeitnehmern, von Künstlern, Erfindern und Autoren. Die Ergebnisse dieser Arbeit müssen geschützt werden. Es geht hier um eine wichtige
Schutzpflicht des Staates. Es ist deshalb richtig und ganz
entscheidend, dass die rechtlichen Maßstäbe in der digitalen Welt die gleichen sind wie in der analogen Welt.
Was allgemein verboten ist, kann nicht plötzlich deshalb
erlaubt sein, weil es im Internet geschieht. Von diesem
Kompass werden wir uns in dieser Frage leiten lassen.
Dabei werden wir auch die beteiligten Wirtschaftsverbände, Unternehmen und Internetnutzer in die Pflicht
nehmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich komme
zum Schluss. Die Garantie der Freiheits- und Eigentumsrechte bleibt das Kernanliegen der christlich-liberalen Rechtspolitik. Sicherlich werden wir über viele Instrumente und Wege mit der Opposition streiten. Ich
gehe aber davon aus, dass wir bei den Fundamenten dieses Rechtsstaats und den grundsätzlichen Zielen weiterhin eine weitgehende Einigkeit erzielen können. Ich
hoffe auch, dass wir weiterhin spannende Debatten über
die verschiedenen Wege führen werden, möglichst auch
des Öfteren einmal in der Kernzeit des Parlaments.
({24})
Vor allen Dingen in der vorgegebenen Zeit.
Ich freue mich auf diese rechtspolitischen Debatten,
die wir gemeinsam führen werden, hoffentlich auch
dann wieder unter der charmanten Leitung der amtierenden Vizepräsidentin.
Vielen Dank.
({0})
Der Kollege Raju Sharma hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Wir wollen Freiheit und Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger.
So steht es in der Präambel des Koalitionsvertrages. Außerdem heißt es dort:
Wir wollen ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit.
Und schließlich:
Wir setzen auf die Freiheit des Einzelnen und stehen für die Sicherheit aller ein.
Das sind schöne Worte. Sie sind zwar nicht besonders
originell, aber all das sind Aussagen, denen sich vermutlich die Mehrheit aller Fraktionen des Deutschen Bundestages bedenkenlos anschließen könnte.
({0})
Das gilt auch für die Mehrheit aller anderen Fraktionen
in jedem Parlament in jedem anderen beliebigen Land
der Welt.
Genau das ist das Problem. Auch in der Rechtspolitik
ist der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP geprägt von Allgemeinplätzen, die so beliebig und unverbindlich sind, dass sie glatt der vom Kollegen Lammert
so geschmähten Fernsehserie Bianca - Wege zum Glück
entstammen könnten.
({1})
Leider führt der Koalitionsvertrag auch in der Rechtspolitik nicht zum Glück. Wer sich die Mühe macht, tiefer
einzusteigen, wird schnell feststellen, dass auch in diesem
Bereich hinter den warmen Worten zumeist nichts anderes
als schnöde, kalte Interessenpolitik steckt, die die Sinnhaftigkeit sozialer Transferleistungen und Schutzvorschriften grundsätzlich infrage stellt.
Der Kollege Scholz hat bereits darauf hingewiesen - ich
freue mich ausdrücklich darüber, dass die Sozialdemokraten in diesem Punkt unsere Auffassung teilen -: Die Forderung nach einer Vereinheitlichung der Kündigungsfristen
für Mieter und Vermieter mag unverdächtig und irgendwie ausgewogen klingen. Faktisch geht es hierbei aber
schlicht und ergreifend um den Abbau von Mieterrechten.
(Beifall des Abg. Dr. Axel Troost ({2}) - Dr. Max Stadler ({3}): Warten Sie
es doch erst einmal ab!)
Wenn die Koalition verlangt, mietrechtliche Ansprüche müssten auch wirksam vollstreckt werden können,
geht es natürlich um die Ansprüche der Vermieter. Ihnen
soll nicht länger zugemutet werden, sich mit dem lästigen Mieterschutz auseinandersetzen zu müssen. Hierzu
sagt die Linke ganz klar: Nein, das wollen wir nicht.
({4})
Rousseau hat es richtig erkannt: Zwischen dem Starken und dem Schwachen ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Recht, das befreit. Für die Linke hat
Rechtspolitik deshalb immer auch eine soziale Dimension. Das Sozialstaatsprinzip ist zu Recht eine der tragenden Säulen unserer Verfassung. Wer ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und Sicherheit will, darf die
soziale Sicherheit nicht aus dem Blick verlieren.
Noch ein Wort an die Justizministerin. Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben viel Mut bewiesen, in dieser Konstellation und mit diesem Koalitionsvertrag in die Bundesregierung einzutreten. Ich wünsche
Ihnen, dass Sie mehr sein werden als das liberale Feigenblatt einer wenig freiheitlichen Rechtspolitik. Wenn es
um die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte geht,
finden sich außerhalb der Koalition womöglich mehr
Bündnispartner als innerhalb. Wer gerade den Ausführungen des Kollegen Dr. Krings zugehört hat, der weiß,
wovon ich rede.
Vielen Dank.
({5})
Herr Sharma, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Wir beglückwünschen Sie dazu herzlich und
wünschen eine erfolgreiche Arbeit.
({0})
Jerzy Montag spricht jetzt für das Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute den zweiten Tag über die Regierungserklärung
der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ich will an dieser
Stelle an das Bild erinnern, das unser Fraktionsvorsitzender, Jürgen Trittin, gestern für den Koalitionsvertrag
geprägt hat. Er sprach von einem Zug: In den ersten
Waggons des Zuges, in der ersten Klasse, werden Cocktails serviert. In den hinteren Waggons, in der Holzklasse, gibt es nichts. Einige der Waggons werden abgehängt. Leider ist es so, dass die Waggons mit der
Aufschrift „Rechtsstaat/Bürgerrechte“ zu den hinteren
gehören. Ich befürchte, dass sie zu den gehören, die abgehängt werden.
({0})
Wie vor vier Jahren habe ich in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin kein einziges Wort zu der Bedeutung gehört, die die Grund- und Bürgerrechte für
eine freiheitliche Gesellschaft haben, kein Wort zur
Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsbindung allen staatlichen Handelns, kein Wort dazu, dass eine Rechtspolitik
ihren Namen nur dann verdient, wenn sie verdeutlicht,
welche Bedeutung die Unabhängigkeit der Justiz hat.
Wie vor vier Jahren muss ich dies kritisieren.
Deswegen stimmt auch das zweite Bild, das Jürgen
Trittin verwendet hat: Diese Koalitionsvereinbarung und
diese Regierungserklärung sind kein Aufbruch, sondern
ein Aufguss, von dem wir uns in der Rechtspolitik nichts
versprechen dürfen.
({1})
Als Rechtspolitiker habe ich an zwei Stellen aufgemerkt. Die erste Stelle war, als die Bundeskanzlerin
sagte: „Sittenwidrige Löhne werden wir verbieten.“ Die
Bürgerinnen und Bürger müssen sich verwirrt fragen:
Was soll das heißen? Sind sittenwidrige Verträge bei uns
noch nicht verboten? Muss man sie jetzt verbieten? Ein
Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. In
§ 130 BGB heißt es:
Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
Strafrechtlich ist das bereits unter Strafe gestellt.
({2})
Meine Damen und Herren, der Satz: „Sittenwidrige
Löhne werden wir verbieten“, ist arbeitsmarktpolitisch
ein Offenbarungseid.
({3})
Es kommt nicht darauf an, sittenwidrige Löhne zu verbieten, sondern darauf, sie abzuschaffen. Wie kann man
sie abschaffen? Durch intelligente Mindestlöhne; solche
Mindestlöhne müssen eingeführt werden.
({4})
Rechtspolitisch ist dieser Satz eine Nullnummer; denn er
besagt überhaupt nichts. Ich bin sehr gespannt, wie die
Koalition zu einem Verbot der Sittenwidrigkeit kommen
will.
Der zweite Satz der Bundeskanzlerin, bei dem ich
aufgemerkt habe, war: „Wir wollen das Verhältnis der
Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat verbessern.“ Das
Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat
verbessern? Was für ein Verhältnis haben die Bürgerinnen und Bürger denn heute zu ihrem Staat? Im Bereich
des Strafrechts und der Strafverfolgung galt bisher der
Grundsatz: Jeder rechtschaffene und gesetzestreue Bürger hat das Recht, dass sich der Staat auch und besonders
in Form der Polizei von ihm fernhält und ihn nicht behelligt. Es gibt eine staatsbürgerliche Pflicht, Zeuge zu
sein. Die Pflicht zum Erscheinen und zur wahrheitsgemäßen Aussage gibt es aber bisher nur gegenüber der
unabhängigen Justiz. Sie wollen die Bürgerinnen und
Bürger dazu verpflichten, auf Vorladung auch vor der
Polizei zu erscheinen und auszusagen.
({5})
Bisher galt: Der Staat ist für die Menschen da und
nicht die Menschen für den Staat.
({6})
Bisher war der aufrechte Gang der Bürgerinnen und Bürger grundrechtlich geschützt. Nach Ihrer Denkart sollen
die Bürgerinnen und Bürger jetzt wieder die Hacken zusammenschlagen, und man hat gesenkten Hauptes vor
der Obrigkeit zu erscheinen. Das meint die Kanzlerin,
wenn sie sagt, dass sie das Verhältnis der Bürgerinnen
und Bürger zu ihrem Staat verbessern will.
In der Sache ist das ein Prozess der Verpolizeilichung
des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Die Polizei
wird mit dieser Neuerung aus der Rolle des Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft befreit. Sie wird das, was sie
schon immer werden wollte: Sie wird selbstständig. Die
Staatsanwaltschaft wird weiter entmachtet.
Wir haben im Sommer dieses Jahres vom Bundesjustizministerium ein vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenes dickes Gutachten zugeschickt bekommen. Das Gutachten des Deutschen Richterbundes trägt
den Titel „Das Verhältnis von Gericht, Staatsanwaltschaft und Polizei im Ermittlungsverfahren, strafprozessuale Regeln und faktische ({7})Entwicklungen“. In
diesem Gutachten wird genau davor gewarnt, was Sie
jetzt einführen wollen. Das Gutachten hätten Sie sich
sparen können.
({8})
Mit Erlaubnis der Präsidentin will ich aus einem Bundestagswahlprogramm einige Sätze zitieren:
Wir brauchen eine Neuausrichtung der Rechtspolitik. Die Rechtspolitik darf sich nicht darauf beschränken, europäische Vorgaben umzusetzen oder
innenpolitische Initiativen rechtsstaatlich zu schärfen.
Rechtspolitik muss gestalten und dem Wandel in
der Gesellschaft ein Gesicht geben. Von der Rechtspolitik müssen entscheidende Impulse ausgehen für
eine moderne und aufgeklärte Bürgergesellschaft.
Ich frage Sie: Welche der Fraktionen dieses Hohen
Hauses hat diesen Text in ihr Wahlprogramm geschrieben?
({9})
Die Linke war es nicht;
({10})
denn darin stand nichts über Hartz IV oder über völkerrechtswidrige Angriffskriege.
({11})
Von uns stammt es auch nicht; Herr Stadler, Sie haben
recht. Es hätte von uns stammen können. Wir haben das
Gleiche mit anderen und besseren Worten geschrieben. Jawohl, es stammt von der FDP.
({12})
Es ist das Wahlprogramm der FDP.
({13})
Angesichts dieser starken Worte, die Sie benutzt haben, sage ich Ihnen:
({14})
Für mich ist diese Bürgerpflicht, auf Vorladung vor
der Polizei erscheinen und aussagen zu müssen, die
größte rechtspolitische Fehlentwicklung und Enttäuschung, die Sie in diese Koalition hineintragen.
({15})
Viele andere Punkte sind angesprochen worden. Ich
habe nicht die Zeit, sie hier im Einzelnen aufzuführen.
({16})
Wir Grünen werden, wie auch die anderen Kolleginnen
und Kollegen aus der Opposition, im Rechtsausschuss
auf alle diese Punkte zu sprechen kommen.
({17})
- Ich hoffe, dass Sie das tun.
Zum Schluss würde ich ganz gerne noch eines sagen:
Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, Herr
Staatssekretär Stadler, wir werden Ihnen eine konsequente, eine sachliche und eine konstruktive Opposition
sein. Wir werden Ihnen nichts durchgehen lassen, wenn
Sie sich Ihrer bürgerrechtlichen und rechtsstaatlichen
Kleider entledigen,
({18})
und wir werden Ihnen konkrete Alternativen dafür vorschlagen, wie man die Justiz stärken und die Grundrechte, Bürgerrechte und Menschenrechte heute und
morgen in Deutschland schützen kann.
({19})
Ich will von diesem Pult nicht wegtreten, ohne Sie,
Frau Ministerin, und Sie, Herr Staatssekretär, zu Ihren
neuen Ämtern zu beglückwünschen. Ich denke, dass wir
trotz der Differenzen, die wir miteinander haben, eine
gute Zusammenarbeit im Rechtsausschuss haben werden.
({20})
Der Kollege Christian Ahrendt hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich für meine Fraktion eines vorneweg feststellen: Die Rechtspolitik hat ihren Kompass zurück. Der Rechtsstaat wird durch den Koalitionsvertrag
gestärkt.
({0})
- Das sage ich Ihnen gleich.
Wir stellen den Menschen und die Freiheitsrechte in
den Mittelpunkt. Wir haben hier eine klare Kursbestimmung von der Ministerin erhalten, und für diese klare
Kursbestimmung darf ich mich bei Ihnen, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, ganz herzlich bedanken.
({1})
Herr Wieland, da Sie hier so schön dazwischenrufen
und Herr Montag die Grundrechte predigt, sage ich Ihnen von dieser Stelle aus: Sie haben mit der SPD zusammen das Luftsicherheitsgesetz gemacht. Sie sind dort
mitgeflogen, und Sie sind dort auch mit abgestürzt.
({2})
- Das ist schön; aber der Lernprozess hat sich nicht fortgesetzt, wenigstens nicht bis hierher.
Im Grunde genommen zeigt sich hier in der Debatte
das Problem: Die Opposition ist in der Rechtspolitik
ohne klare Kursbestimmung. Sie haben im Wahlkampf
gepredigt: Wenn Schwarz-Gelb gewählt wird, geht das
Abendland unter.
({3})
Die Menschen haben unser konkretes Politikangebot gewählt. Wir sind in der Regierung, Sie sind in der Opposition, und das ist auch gut so.
({4})
Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt eingehen.
Wir haben die Skandale um die Überwachung der
Arbeitnehmer bei Lidl und bei der Bahn verfolgt. Das
Thema war schon aktuell, als Herr Scholz noch Minister
war; aber erst kurz vor Ende des Wahlkampfes ist ein
Gesetz vorgelegt worden.
({5})
Es wäre vorher genug Zeit gewesen, um die Arbeitnehmerrechte und den Datenschutz zu verbessern. Dennoch
wurde es erst kurz vor Ultimo in Angriff genommen. Als
man Verantwortung trug, wurde die Gelegenheit nicht
genutzt.
({6})
Es ist zu wenig, wenn man Rechtspolitik erst dann betreibt, wenn es im Wahlkampf nützlich ist.
({7})
Ich möchte ein zweites Beispiel für die Irrungen der
Rechtspolitik anführen. Am 24. September hat dieses
Haus das Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von
Unternehmen verabschiedet. Damit wurde der Überschuldungsbegriff geändert. Kurz zur Rechtsgeschichte: 1999 wurde ein neues Insolvenzrecht mit einem neuen Überschuldungsbegriff eingeführt. In der
Krise wurde dieser außer Kraft gesetzt. Seitdem kann ein
Unternehmen fortgeführt werden, wenn es eine positive
Fortbestehensprognose gibt. Dadurch sollen Sanierungen erleichtert werden. Allerdings wurde für diese Regelung nur ein Zeitfenster bis 2014 geöffnet. Was ist das
für eine Rechtspolitik? Bis 2014 kann ein Unternehmen
leichter saniert werden; ab 2015 können Unternehmen,
die in eine Notlage geraten, wieder schlechter saniert
werden. Das offenbart das Problem, das wir in der
Rechtspolitik haben: Sie sind ohne Orientierung unterwegs.
({8})
- Es ist ein Kernstück der Rechtspolitik. - Das Beispiel
zeigt, wie wirr zuletzt agiert wurde. Wir werden das ändern.
({9})
- Das müssen Sie Herrn Krings fragen.
({10})
Wir machen Ihnen das Angebot, in den Ausschüssen
kreativ mitzuarbeiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Christine Lambrecht
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, auch
ich darf Ihnen an dieser Stelle recht herzlich zur Ernennung gratulieren und wünsche Ihnen eine glückliche
Hand bei der Amtsausübung. Ich habe Sie in den letzten
Jahren im Rechtsausschuss als eine streitbare, aber sehr
faire Kollegin kennengelernt. Von daher setze ich große
Hoffnungen in die Zusammenarbeit.
Sie haben in der Öffentlichkeit erklärt, dass dieser
Koalitionsvertrag eine liberale Handschrift trägt. Ich
freue mich, dass es gelungen ist, wenigstens das, was das
Bundesverfassungsgericht in Bezug auf gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften vorgegeben hat,
in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.
({0})
Ich weiß, wie schwierig es in den letzten Jahren war: Wir
sind immer wieder an die ideologischen Scheuklappen
der CDU/CSU gestoßen, wenn wir in diesem Bereich
auch nur die kleinsten Veränderungen vornehmen wollten, selbst wenn es Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gab und klar war, dass sich etwas tun muss. Ich
lese den Koalitionsvertrag; aber bevor ich mich tatsächlich - insbesondere für die betroffenen Menschen - über
Verbesserungen freue, warte ich Ihre Taten ab. Wenn die
richtigen Vorschläge kommen - Herr Stadler kündigt das
an; wir nehmen Sie beim Wort -, werden Sie uns auf jeden Fall als konstruktive Mitstreiter an Ihrer Seite haben.
Lassen Sie uns den Koalitionsvertrag in einigen
Punkten überprüfen. Sie haben gesagt, hier sei insbesondere der Gedanke des liberalen Rechtsstaats zu spüren.
Bei einigen Punkten kommen allerdings Zweifel auf.
Kollege Scholz und andere haben es schon angesprochen. Die Überlastung der Gerichte wird völlig zu Recht
zum Thema gemacht. Rechtswege dauern lange, Richter
und auch alle anderen, die in diesem Bereich beschäftigt
sind, haben viel zu tun. Aber wenn dann vorgeschlagen
wird, die Prozesskosten- und Beratungshilfe auf den
Prüfstand zu stellen - das heißt nichts anderes, als dass
sie gekürzt werden soll -, dann hat das, glaube ich, mit
dem Rechtstaatsbegriff nichts zu tun.
({1})
Denn was heißt das konkret? Es heißt doch, dass denjenigen, die finanziell schwach sind und sich weder einen
Anwalt noch die entsprechenden Gebühren leisten können, der Rechtsweg verschlossen bleibt, aber all diejenigen, die dieses Privileg in Anspruch nehmen können, das
Recht haben, zu klagen. Bei allen anderen ist es ein
Missbrauch. Wenn man Geld hat und klagt, dann ist es
völlig in Ordnung. Dabei werden Sie allerdings auf den
erbittertsten Widerstand der SPD-Fraktion stoßen, und
zwar nicht erst, seitdem wir in der Oppositionsrolle sind.
Das war eine ganz klare Position, die wir schon immer
vertreten haben, und dabei werden wir auch bleiben.
({2})
Ähnlich ist es mit der Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens. Abgesehen davon, dass ich es rechtsstaatlich für höchst bedenklich halte, wenn Sie ein solches Vorhaben umsetzen, verführt es auch automatisch
dazu, dass Sie den Menschen eine Erhöhung der Gebühren klarmachen müssen. Die Erhöhung der Gebühren
wird sich auf ungefähr 200 Prozent belaufen, weil gegenwärtig die eingenommenen Gerichtsvollziehergebühren nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Sie werden vielmehr zurzeit in einer Größenordnung von
345 Millionen Euro subventioniert. Zumindest diese
345 Millionen Euro müssen dann irgendwo eingetrieben
werden.
({3})
Dazu kommt, dass ein privater Gerichtsvollzieher auch
etwas verdienen will. Das bedeutet einen ordentlichen
Aufschlag für diejenigen, die sowieso schon nichts oder
wenig haben. Sie werden sich darauf einstellen müssen,
dass auch das mit uns nicht zu machen ist.
({4})
Lassen Sie uns einen weiteren Punkt ansprechen, der
unter das Thema Populismus fällt. Dazu gehört das
Thema Zwangsheirat. Sie wollen die Zwangsheirat verbieten. Sie ist aber schon längst verboten. Alles, was Sie
jetzt in den Koalitionsvertrag hineinschreiben, ist eine
zusätzliche Überschrift. Damit haben Sie völlig recht.
Aber subsumieren kann man sie, wenn man es einigermaßen beherrscht, bereits heute unter den Fall der besonders schweren Nötigung. Man muss sich nur Mühe
geben.
({5})
Es ist also keineswegs so, dass wir eine Rechtslücke hätten, die jetzt endlich geschlossen werden muss. Nein,
hier wird nur Kosmetik betrieben und einfach ein Wort
mit hineingeschrieben. Wenn das Ihr Verständnis der
Politik eines liberalen Rechtsstaats ist, dann bin ich sehr
skeptisch.
({6})
Ebenso geht es im Jugendstrafrecht weiter. Dazu haben Sie die Erhöhung der Höchststrafe im Jugendstrafrecht von zehn auf 15 Jahre vereinbart.
({7})
Jetzt lassen Sie uns einmal hören, was Sie gesagt haben,
als Sie noch in der Opposition waren. Mit Genehmigung
der Präsidentin zitiere ich die Kollegin Dyckmans, die
heute anwesend ist, aus der Debatte am 16. Januar 2008.
Wir erinnern uns: Es war wieder einmal Landtagswahl in
Hessen, und Herr Koch hat versucht, mit genau diesem
Thema auf Stimmenfang zu gehen. Die Kollegin
Dyckmans - damals noch in der Opposition - hat erklärt:
Wir haben kein Problem mit dem geltenden Recht.
Wir haben vielmehr ein Problem mit der Umsetzung des geltenden Rechts.
Gegen Ende ihres Beitrags heißt es:
… das alles zeigt, dass wir bereits heute nach dem
geltenden Recht handeln können und handeln müssen. Wir brauchen keine neuen Gesetze.
Recht haben Sie. Es ist nur schade, dass Sie sich dann,
wenn Sie in der Regierungsverantwortung sind, an diese
Sätze nicht mehr erinnern, sondern offensichtlich klein
beigeben, dem Populismus unterfallen und jetzt die
Höchststrafe anheben wollen. Dazu kann ich nur sagen:
Sie haben Ihre Wähler getäuscht.
({8})
Das Gleiche gilt für den Warnschussarrest. Jeder in
der Praxis erklärt Ihnen, dass es grober Unfug ist, dass
Jugendliche, die genau diese Maßnahme erleiden, nichts
anderes erfahren als alle weiteren Möglichkeiten, wie
man richtig kriminell wird.
({9})
Bei einer so bescheuerten Idee knicken Sie jetzt ein.
Diese Position haben Sie auch vertreten, solange Sie
noch in der Opposition waren. Aber auch dabei haben
Sie sich offensichtlich eines Besseren belehren lassen.
So ist es eben, wenn man in die Regierung kommen und
mitspielen will. Ich sage in Ihre Richtung nur: Versprochen - gebrochen. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Das wahre Gesicht zeigt die Koalition - darin sind Sie
sich wieder sehr einig -, wenn es um Klientelpolitik
geht. Dazu gehört das Thema Mietrecht - das ist schon
angesprochen worden -, insbesondere die Verkürzung
der Kündigungsfristen.
Ich will aber noch ein weiteres Beispiel von Klientelpolitik anbringen. Sie wollen prüfen, ob Grundstücke,
die nach 1945 in der SBZ enteignet wurden, kostengünstig an die ehemaligen Eigentümer abgegeben werden können, wenn sie jetzt in öffentlicher Hand sind.
({10})
Darüber kann ich nur lachen. Es gibt ein Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz. Vor langen Jahren ist ein Kompromiss zu einem solchen Ausgleich gefunden worden. Den haben Sie damals noch
beschlossen. Diesen Kompromiss wollen Sie jetzt zugunsten Ihrer eigenen Klientel wieder aufheben und damit sehr viel Unfrieden in die neuen Länder bringen.
Dazu kann ich meinem Vorredner nur sagen: Vielleicht
könnten Sie da einmal aufräumen, damit so etwas nicht
in die Tat umgesetzt wird.
({11})
Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie sind nicht zum ersten Mal Justizministerin. Ich muss schon sagen: Ihr damaliger Rücktritt und Ihre Tränen darüber haben Geschichte gemacht und mich als junge Juristin sehr
beeindruckt. Der Grund für Ihren Rücktritt war der
große Lauschangriff. Er ist heute noch in Kraft.
({12})
- Akustische Wohnraumüberwachung. Vielen Dank für
die präzise Formulierung. - Mittlerweile sind das Gesetz
über die Vorratsdatenspeicherung und das BKA-Gesetz hinzugekommen. Daher verwundert es, dass Sie
jetzt, wo sich vieles in eine Richtung verändert hat, die
Sie ursprünglich nicht mittragen konnten, den Mut haben, in dieses Amt zurückzukehren.
Was mich in negativem Sinn besonders beeindruckt,
ist, dass Sie momentan Justizministerin sind und gegen
eines der Gesetze klagen, die in Kraft sind, nämlich die
Vorratsdatenspeicherung. Sie selbst klagen gegen ein
Gesetz.
({13})
- Da haben Sie gut aufgepasst. Aber sie klagt trotzdem
dagegen. - Ich glaube, das ist ein einmaliger Vorgang in
Deutschland.
({14})
- Kein Wunder, dass Sie sich so aufregen. Bei einem solchen Vorgang wäre auch ich aufgebracht.
Wenn die Frau Justizministerin darauf angesprochen
wird, erklärt sie: Ich warte ab, was das Bundesverfassungsgericht sagt. Da kann ich nur sagen: Was ist denn
mit dem Gestaltungsauftrag der Politik? Sie sind die amtierende Justizministerin. Sie haben die Mehrheit in diesem Hause. Ändern Sie das Gesetz doch! Sie haben ursprünglich erwartet, dass wir entgegen allen
europäischen Vorgaben
({15})
dieses Gesetz zurückhalten. Sie haben jetzt die Möglichkeit, Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Aber das Sein
bestimmt das Bewusstsein. Es ist leichter, so etwas in
der Opposition zu fordern, als dann, wenn man in der
Regierung ist. Ich hoffe, dass dies der einzige Fall ist, in
dem Sie Ihre Überzeugung so leichtfertig über Bord werfen, und dass Sie in Zukunft weiter für Ihre liberalen
Grundüberzeugungen kämpfen werden.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wir werden Ihre Arbeit begleiten und immer darauf hinweisen,
wenn Sie wie in den vielen aufgezeigten Fällen Ihre
Wahlversprechen brechen oder Überzeugungen über
Bord werfen. In diesem Sinn sind wir eine verlässliche
Opposition. Wir kündigen Ihnen aber auch eine konstruktive Zusammenarbeit dort an, wo es in die richtige
Richtung geht.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer
von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Lob
und Zuspruch ein Mensch ertragen kann, bevor es ihm
unangenehm wird. Auch ich kann Ihnen das nicht ersparen, Frau Justizministerin. Ich wünsche Ihnen alles Gute
in Ihrem neuen Amt. Sie machen das in der Tat zum
zweiten Mal. Sie kennen das Haus und werden sehr erfolgreich sein, wahrscheinlich auch deshalb, weil Ihnen
die Rechtspolitiker der CDU/CSU zur Seite stehen.
({0})
- Der Kollege Wieland wird wieder unruhig, weil er
spürt, dass die Union einen vernünftigen Aufschlag
macht. Ich komme gleich darauf zurück.
({1})
In der Rechtspolitik können wir als CDU/CSU-Fraktion nahtlos an eine erfolgreiche Arbeit der vergangenen
Jahre anknüpfen - das ist unser gnadenloser Vorteil -,
wenn auch unter den Bedingungen einer veränderten politischen Mehrheit. Es gibt - das ist spannend - viele
neue Kollegen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit,
insbesondere mit den Kollegen in unseren Reihen. Wir
werden aber auch die neuen Gesichter in der Opposition
und neue Argumente kennenlernen. Sicherlich werden
wir ein neues Miteinander finden. Leider gibt es auch ein
paar Kollegen, die wir vermissen werden. Ich glaube,
wir hatten mit Andreas Schmidt - er gehört nicht mehr
dem Deutschen Bundestag an - einen ganz tollen Ausschussvorsitzenden. Es gibt noch einen anderen Kollegen, der - ich muss jetzt Herrn Wieland zitieren - unvergessen ist, nämlich Jürgen Gehb, der rechtspolitischer
Sprecher meiner Fraktion war.
({2})
Es ist schön, dass wir trotz der vielen neuen Gesichter
alte vermissen, weil sie so gut waren. Mich freut es ganz
besonders, dass es sich dabei um Mitglieder der Unionsfraktion handelt.
Wir, die christlich-liberalen Partner, haben in den bereits permanent diskutierten Koalitionsvertrag die guten
Sachen aufgenommen und die schlechten weggelassen.
Deswegen wäre es klug, wenn die Opposition der Empfehlung der charmanten Kollegin Lambrecht von der
SPD folgen und abwarten würde.
Es gibt natürlich noch einige Sachen, die auf uns zukommen. Wir haben nicht alles in diesem Koalitionsvertrag geregelt.
({3})
Das sieht man an dem Punkt, den sie angesprochen hat,
nämlich die Prozesskostenhilfe. Wir ahnen die Reaktion
der Opposition. Wer PKH auch nur anfasst, kommt
gleich in den Geruch, die armen Leute daran zu hindern,
den Rechtsstaat in Anspruch zu nehmen. Darum ging es
bei der Prozesskostenhilfe in der letzten Legislaturperiode nicht,
({4})
darum wird es auch in dieser Legislaturperiode nicht gehen; denn es geht nur darum, die Möglichkeit zu beschränken, dass man die Prozesskostenhilfe ausnützt,
weil man sich arm rechnet, und zwar durchaus in Partnerschaften, die wohlhabend sind. Es geht darum, in einem solchen Fall nicht weiter Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen zu können. Das ist ein Punkt, den wir
ansprechen müssen, weil er von Ihnen in die Debatte gebracht wurde.
Wir werden auch weiterhin mit der Überregulierung
kämpfen und gleichzeitig den Schutz der Bevölkerung
im Auge haben müssen. In diesem Spannungsfeld werden wir sicherlich spannende Debatten haben, ich
glaube, auch in der Koalition. Wir werden weiterhin das
Rechtsempfinden der Menschen beachten müssen. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode gespürt, dass die
Managergehälter im Vergleich zu dem, was geleistet
wurde, nicht immer angemessen waren. Deswegen hat
man auch rechtspolitisch darauf reagiert. Ich glaube, wir
müssen auch in Zukunft nahe beim Menschen bleiben
und zusehen, dass wir die Akzeptanz des Rechtsstaats
bei den Menschen stärken.
Die Kanzlerin kündigte gestern zu Recht an, Deutschland zu neuer Stärke zu führen. Eine der großen Stärken
Deutschlands ist die Rechtsordnung. Wir müssen die
Vorteile dieser Rechtsordnung, nämlich leistungsfähige
Gesetze, leistungsfähige Justiz, national bewahren und
international herausstellen und stärken. Stichwort ist
hier: Bündnis für das Recht. „Law - Made in Germany“,
das ist eine vorbildliche Arbeit der Politik und der berufsständischen Vertretungen gewesen. Ich nenne hier
die Bundesrechtsanwaltskammer, den Deutschen Anwaltsverein, die Bundesnotarkammer, den Deutschen
Notarverein und den Deutschen Richterbund. Da ist eine
sehr gute Arbeit im Sinne des deutschen Rechtsstaats
und des deutschen Rechts geleistet worden. Wir pflegen
ein exzellentes Miteinander - das finde ich gut - zwischen Politik und berufsständischen Vertretungen. Dazu
zählen beispielsweise auch die Rechtspfleger oder die
Patentanwälte. Ich glaube, es wird weiterhin so sein
müssen, dass wir als Rechtspolitiker hier im Deutschen
Bundestag Wert auf diese praktischen Erfahrungen legen, dass wir die Erfahrungen berücksichtigen, unser gutes Verhältnis weiter intensivieren und diese Kontakte
pflegen.
Ich will noch kurz darauf hinweisen, dass nach meiner
Überzeugung die deutsche Rechtsordnung gravierende
Vorteile gegenüber dem angelsächsischen Recht hat. Wir
haben das bei der internationalen Finanzmarktkrise gespürt. Es wäre manches Mal besser gewesen, wenn wir
deutsche Rechtssätze, deutsche Bilanzierungsvorschriften hätten zur Anwendung bringen können und nicht andere. Bei diesem Punkt werden wir sicherlich insgesamt
noch nacharbeiten müssen. Es geht auch in den nächsten
vier Jahren um Deregulierung. Aus Unionssicht geht es
dabei immer erstens um weniger und zweitens um bessere
Gesetze. Da gilt der alte Satz, der von dieser Stelle schon
mehrfach, auch von unterschiedlichen Parteien, zitiert
wurde: Wo es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen,
ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. ({5})
Ich glaube, daran sollte man sich zwischendurch einmal
erinnern, im Übrigen auch, weil ich jetzt den Parlamentarischen Staatssekretär Otto sehe, der nicht mehr im
Kulturausschuss mit mir permanent über Staatszielbestimmungen diskutieren wird. Vielleicht täte dem
Grundgesetz eine kleine Ruhepause gut.
({6})
Wir haben manches geändert, aber vielleicht können wir
auch einmal nicht dem Wunsch jeder Kollegin und jedes
Kollegen nachkommen, sein Lieblingspolitikziel schnell
in die Verfassung zu schreiben, weil es da so gut aufgehoben ist und weil man dann einen Erfolg zu Hause verkünden kann. Aber Sie, Herr Kollege, haben eine ganz
wichtige Aufgabe, und ich bin froh, dass Sie sich jetzt
im Wirtschaftsministerium mit schwierigen Fällen beschäftigen müssen.
Wir werden Gesetze nach wie vor systematisch nachvollziehbar und auch verständlich machen müssen.
Ein Punkt, den ich zum Schluss ansprechen will, ist
aus meiner Sicht sehr wichtig. Es gibt vieles, was nicht
mehr rein national zu regeln ist. Das ist unstreitig. Europa und die Bundesrepublik Deutschland sind wechselseitig voneinander abhängig. Wir werden die europäische Integration nicht als Bedrohung verstehen, sondern als Gelegenheit, auf globaler Ebene nationale
Interessen durchzusetzen. Wir haben die Begleitgesetze
neu gestaltet. Wir müssen jetzt, gerade im Rechtsausschuss, noch eines tun: Wir müssen die erweiterten
Befugnisse dieses Parlaments, die erweiterten Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte jetzt auch in Anspruch nehmen. Nur Gesetze machen reicht nicht, gerade
dann nicht, wenn sie uns persönlich betreffen. Daran
müssen wir in den nächsten vier Jahren arbeiten. Das ist
ein ganz wichtiger Punkt.
({7})
Ich bin mir sicher: Letztlich können wir auf den Unterausschuss Europarecht nicht verzichten. Da werden
viele Kollegen mitarbeiten müssen. Wie ich gehört habe,
gibt es viele, die von diesem Bereich etwas verstehen.
Sie können ihre Kenntnisse sicherlich sinnvoll einbringen. Wir werden europarechtlich intensiver, besser arbeiten müssen.
({8})
Zum Schluss will ich sagen: In der Rechtspolitik hat
sich diese Koalition viel vorgenommen. Wir sind nämlich sicher, dass vieles möglich ist. Frau Ministerin, bevor Ihnen Herr Otto irgendetwas über die Kulturstaatszielbestimmung erzählt, will ich noch schnell sagen,
dass dieses Koalitionsbündnis - so haben Sie es im WeltInterview gesagt - keine Zwangsbeglückung sei, sondern eine von Empathie und dem Willen zur Zusammenarbeit getragene Partnerschaft. Diese Einschätzung teile
ich voll und ganz. Besonders freut uns, dass Sie damit
vorweggenommen haben, dass ohne partnerschaftliche
Beteiligung der Rechtspolitiker der Union in dieser
Koalition wohl keine erfolgreiche Rechtspolitik möglich
ist. In diesem Sinne herzlichen Dank Ihnen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Der Kollege Jens Petermann hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, in Sachen Rechtspolitik hat die
Koalition, wie im Koalitionsvertrag nachzulesen ist, ihre
Hausaufgaben nur unzureichend erledigt. Diesen Vorwurf kann ich Ihnen leider nicht ersparen. Ich möchte
das an zwei Punkten festmachen.
Erstens. Sie haben es, wie zuvor in schöner Regelmäßigkeit alle Regierungen seit 1990, versäumt, die Verpflichtungen aus dem Einigungsvertrag vom 3. Oktober
1990 zu erfüllen und ein Gesetz zur Regelung der
Arbeitsverhältnisse vorzulegen. In Art. 30 Abs. 1 Einigungsvertrag heißt es:
Es ist die Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers, das Arbeitsvertragsrecht … einheitlich neu zu
kodifizieren …
Die jüngere deutsche Rechtsgeschichte zeigt mit dem
DDR-Arbeitsgesetzbuch von 1976, dass sich die Arbeitsbeziehungen handhabbar regeln lassen und dass
Rechtssicherheit für die Beteiligten an Arbeitsrechtsverhältnissen erzeugt werden kann.
({0})
- Beruhigen Sie sich doch mal. Hören Sie doch erst einmal in Ruhe zu.
Von diesen Erfahrungen hat sich die Verhandlungsgruppe der DDR-Regierung leiten lassen und die oben
zitierte Regelung in Art. 30 Einigungsvertrag erreicht.
({1})
Die Linksfraktion wird dieses Thema in der vor uns
liegenden Legislatur aufgreifen und einen Entwurf für
ein zeitgemäßes Arbeitsgesetzbuch vorlegen. Dabei wird
ein gesetzlicher existenzsichernder Mindestlohn in Höhe
von zumindest 8,50 Euro festzuschreiben sein.
({2})
Wir bieten allen Fraktionen an, sich an der Erarbeitung
zielführend zu beteiligen und damit gerade im zeitlichen
Kontext des 20. Jahrestages der Grenzöffnung ein Zeichen zu setzen. Auch das ist ein Beweis dafür, dass die
Herstellung der deutschen Einheit im Sinne des Einigungsvertrages über Sonntagsreden hinaus ernst gemeint
ist.
({3})
Zweitens. Der preußische Justizminister Leonhardt
erklärte einst:
Solange ich über die Beförderungen bestimme, bin
ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.
Dieses Zitat stammt aus dem 19. Jahrhundert, also aus
einer Zeit, in der unser Justizsystem seine Wurzeln hat.
Was in einem Rechtsstaat nach dem Prinzip der Gewaltenteilung selbstverständlich ist, nämlich eine unabhängige selbstverwaltete dritte Gewalt, ist in Deutschland in
der Form nicht vorhanden. Hier bestimmt nach wie vor
die Exekutive, wer Richter wird und wer als Richter befördert wird. Ein Rechtsstaat verdient diesen Namen allerdings nur insoweit, als er strukturell die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewährleistet.
({4})
Die Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz ist
eine zentrale Forderung, der sich auch das höchste deutsche Parlament immer wieder stellen muss. Das Grundgesetz hat die rechtsprechende Gewalt den Richterinnen
und Richtern anvertraut; tatsächlich aber werden die Gerichte durch die hierarchisch gegliederten Justizbehörden geleitet. Diesem in Europa nur noch in Österreich,
Tschechien und Deutschland anzutreffenden obrigkeitsstaatlichen Konzept ist ein hierarchiefreies Modell entgegenzustellen. Die von Verfassungs wegen zu verlangende Autonomie der Justiz erfordert schließlich eine
unabhängige selbstverwaltete Justiz. Letztendlich lehnen
wir die Schaffung einer zusätzlichen Militärjustiz, wie
sie gerade diskutiert wird, ab. Wir fordern: Friedensdiplomaten statt Militärrichter.
Danke, meine Damen und Herren.
({5})
Herr Petermann, auch für Sie war das Ihre erste Rede
hier im Hohen Hause. Sie haben sofort die Lebendigkeit
des Parlaments herausgefordert. Wir wünschen Ihnen
hier weiter alles Gute.
({0})
Daniela Raab ist die nächste Abgeordnete, die für die
Fraktion der CDU/CSU spricht.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst auch von meiner Seite und aus ganz persönlicher Überzeugung meine herzlichsten Glückwünsche an Sie, Frau Ministerin, aber natürlich auch an Sie,
Herr Staatssekretär Stadler. Wir beide kennen uns seit
den letzten beiden Legislaturperioden sehr gut aus dem
Rechtsausschuss. Ich denke, es wird eine sehr konstruktive und gute Zusammenarbeit, wenn wir uns das zum
Beispiel nehmen, was wir während der Koalitionsverhandlungen über viele Tage und Abende praktiziert haben. Es sind schon stichwortartig sehr viele Punkte, auf
die wir uns haben einigen können, genannt worden.
Ich verhehle nicht, dass es an der einen oder anderen
Stelle bei der Abwägung von Freiheit und Sicherheit
- das hat uns in den letzten Jahren beschäftigt; das wird
uns in den nächsten Jahren weiter beschäftigen - so
manche harte Nuss zu knacken gab. Wir haben uns aber,
wie ich finde, durchaus sehr erfolgreich bei manchmal
sehr weit auseinanderliegenden Vorstellungen in einer
guten und durchaus vertretbaren Mitte treffen können.
Damit meine ich das BKA-Gesetz; damit meine ich auch
die Vorratsdatenspeicherung. Bei diesen beiden Punkten
sind wir, wie ich glaube, von am weitesten auseinanderliegenden Positionen aufeinander zugegangen. Das war
auch sicherlich richtig. An der einen oder anderen Stelle
warten wir die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ab, wodurch dann vielleicht die jeweiligen Möglichkeiten eingeschränkt werden.
Ich verhehle auch nicht, dass es manchmal schwierig
war; das gebe ich zu. Ich denke aber, wer will, dass diese
Koalition eine erfolgreiche Rechtspolitik macht, der
muss auch in der Lage sein, Grenzen zu akzeptieren und
Kompromisse zu schließen. Ich glaube, gerade an den
beiden genannten Punkten, BKA-Gesetz und Vorratsdatenspeicherung, ist uns das sehr gut gelungen.
Wir haben natürlich auch Dinge durchsetzen können,
die gerade meiner Partei und meiner Fraktion ausgesprochen wichtig waren. Der Warnschussarrest ist schon erwähnt worden. Wir erhöhen auch - dieses Stichwort ist
heute, wie ich glaube, noch nicht gefallen - die Höchststrafe für Mord im Jugendstrafrecht von 10 auf 15 Jahre.
({0})
Auch das war uns ganz besonders wichtig.
({1})
Ich danke für Ihre Kooperationsbereitschaft an dieser
Stelle.
Wichtig war uns auch - das möchte ich ansprechen,
obwohl wir es nicht durchgesetzt haben -, ein Fahrverbot als Hauptstrafe für Jugendliche durchzusetzen. Es
wäre mein ganz persönlicher Wunsch, aber auch der
meiner Kollegen gewesen, dies durchzusetzen. Wir müssen doch schauen, was bei Jugendlichen wirkt. Gute
Worte wirken ja meist nicht so gut. Bewährungsstrafen
werden häufig gern als Freispruch empfunden. Ganz besonders wirkt aber die Einschränkung der Freiheit, und
für viele Jugendliche ist die höchste Form der Freiheit
das freie Sich-Fortbewegen-Können in Form von Autofahren. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass
man sich hier vonseiten der FDP ein bisschen mehr bewegt hätte. Auf diese Weise hätte man sicherlich erhebliche erzieherische Wirkung erzielen können. Ich spreche
das noch einmal an, weil ich denke, dass in dieser Frage
noch nicht aller Tage Abend ist, und gebe dies als Merkposten den Kollegen an die Hand, die künftig die
Rechtspolitik begleiten werden.
Bei der Sicherungsverwahrung haben wir uns dagegen auf eine Lückenschließung geeinigt. Das war dringend erforderlich; denn das wurde von vielen Bürgern,
aber auch von vielen Opfern ständig angemahnt. Dieses
Vorhaben müssen wir jetzt zügig angehen; denn bewusst
eine Lücke hinzunehmen, die auf Kosten der Sicherheit
geht, ist für einen Rechtsstaat nicht akzeptabel.
Bei den Internetsperren ist eine Lösung gefunden
worden, die wir als Rechtspolitiker sehr gut mittragen
können, nämlich Löschen statt Sperren. Wir hatten von
Anfang an gerade bei diesem Gesetz ein ganz klein
wenig Bauchschmerzen. Diese Bauchschmerzen sind
durchaus etwas weniger grummelig geworden.
({2})
- Ich teile nicht immer meine persönlichen Befindlichkeiten mit, aber gerade eben habe ich es getan.
({3})
Es ist mir auch lieber, so etwas mit Kollegen zu machen,
die mir etwas näherstehen.
Vorhin wurde schon gesagt, dass Zwangsverheiratung von Frauen, die in unserer Mitte leben, ein Zeichen von Menschenverachtung und ein Zeichen von
Missachtung unseres Grundgesetzes ist. Man kann natürlich sagen, wir haben mit dem Straftatbestand der Nötigung eine Regelung, die, wenn man sie entsprechend
auslegt und richtig liest, die Zwangsverheiratung verbietet. Ich denke aber, in diesem Bereich ist ein entsprechender Fingerzeig ganz wichtig. Ich gehöre zwar nicht
zu denjenigen, die glauben, vom Strafrecht müsse Symbolkraft ausgehen. Ich denke aber, dass es an dieser
Stelle wichtig ist, dass wir festhalten, dass Zwangsverheiratung mit unserer Wertevorstellung zu keinem Zeitpunkt vereinbar ist, und dass wir deswegen, weil wir den
Frauen helfen wollen, gerade diesen Straftatbestand ganz
bewusst ins Strafrecht mit aufnehmen sollten.
({4})
Bezüglich der Vorhaben im Mietrecht war die Aufregung ganz besonders groß. Da wird immer gleich davon
geredet, dass man ideologisch handele bzw. Scheuklappen aufhabe, wenn man eine andere Meinung vertritt.
Das ist sehr interessant. Natürlich geht es beim Mietrecht um Mieterrechte. Sie sind bei uns richtig gut ausgeprägt. Es geht aber auch um die Vermieterrechte, und
diese haben auch ein ganz klein wenig mit Eigentumsschutz zu tun. Das sollten wir an dieser Stelle nicht vergessen.
Wenn Vermieter, deren vermietete Wohnung einen
Teil ihrer Altersversorgung darstellt, durch Mietnomaden in einer Weise geschädigt werden, die einen komplett fassungslos hinterlässt, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, hier einzuschreiten.
Genau das tun wir. Das heißt, Mietrecht für Mieter, für
Vermieter und zum Schutz des Eigentums. Das muss an
dieser Stelle deutlich erwähnt werden. Deswegen halte
ich es für sehr richtig, dass wir uns hier Verbesserungen
- ich betone: Verbesserungen - vorgenommen haben.
Diese werden wir dringend angehen müssen.
({5})
Ein Punkt, der mir persönlich wichtig war, ist die vertrauliche Geburt. Ich möchte dieses Thema ansprechen, auch wenn ich weiß, dass es hochumstritten ist.
Wir haben uns darauf geeinigt, zu prüfen, welche
Rechtsgrundlage es für Frauen in einer problematischen
Schwangerschaft geben kann, die ihr Kind eigentlich
gerne zur Welt bringen möchten, aber ihre Daten nicht
preisgeben wollen. Hier müssen wir - ich weiß, wie
schwierig das ist - zwischen dem Recht des Kindes auf
Kenntnis in Bezug auf die Abstammung und dem Recht
des Kindes auf Leben abwägen. Vielleicht gelingt es uns,
in dieser Legislaturperiode eine Lösung in der Richtung
zu finden, dass zunächst zumindest die Hürde für die
Geburt etwas gesenkt werden kann, was eine Rettung
des Kindes bedeuten würde. Anschließend müssen wir
im Personenstandsgesetz eine vernünftige Regelung verankern. Mir wäre das sehr wichtig.
Zum Schluss möchte ich zur Einmischung auffordern.
Der Kollege Grosse-Brömer hat das Thema schon angesprochen. Wir werden in den nächsten Monaten sicherlich sehr viel über Rechtspolitik im Zusammenhang mit
der Wirtschaftskrise zu sprechen haben. Ich nenne als
Schlagworte das Gesellschaftsrecht, wo wir schon viel
Richtiges getan haben, und das Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz, das sicherlich eines der wichtigsten Gesetze
der letzten Legislaturperiode ist. Wir müssen uns aber
auch um Themen wie das der europäischen Finanzrichtlinien und das der Standards bei Finanzdienstleistungen
kümmern, bei denen wir auf europäischer oder vielleicht
sogar auf internationaler Ebene zu Regelungen kommen
müssen. Wir können als Rechtspolitiker nicht einfach
darauf vertrauen, dass die Finanzpolitiker das schon gut
machen werden.
Ich denke, dass wir uns da in ganz erheblicher Weise
einmischen müssen, Frau Ministerin. Denn Rechtspolitik
ist immer eine Querschnittsaufgabe; sie ist zum Teil immer auch Wirtschaftspolitik. Deswegen haben wir hier
eine große Verpflichtung, gerade was die europäischen
Regelungen in Bezug auf die Finanzkrise und die notwendigen Konsequenzen daraus angeht. Ich wünsche
mir, dass wir dieses Thema bewusst aufnehmen und uns
mit den vernünftigen Grundsätzen der Rechtspolitik einmischen.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Diese Bundesregierung möchte, so hat sie es
verkündet, das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger
zum Staat verbessern. Mir scheint, da hat die BundesreHalina Wawzyniak
gierung das Grundgesetz nicht wirklich gelesen. Denn in
Art. 20 Abs. 2 steht:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
({0})
Vielleicht wäre es angesichts dessen besser, das Verhältnis des Staates zum Bürger zu verbessern.
Derzeit wird die Staatsgewalt allein durch Wahlen
ausgeübt. Ich komme gleich auch noch auf das Wahlgesetz zu sprechen. Doch der Koalitionsvertrag selbst
deckt den Mantel des Schweigens über die Frage direkter Demokratie und mehr Beteiligungsmöglichkeiten
für Bürgerinnen und Bürger.
({1})
Noch in der vergangenen Legislaturperiode lagen diesem Haus drei Gesetzentwürfe für mehr direkte Demokratie vor: einer von Bündnis 90/Die Grünen, einer von
der Linken und einer von der FDP. Lesen Sie in Drucksache 16/474 nach. Darin heißt es:
Der Wunsch und die Bereitschaft der Bevölkerung,
Verantwortung für eine aktive Bürgergesellschaft
zu übernehmen und an ihrer Ausgestaltung mitzuwirken, gebieten es, die parlamentarisch-repräsentative Demokratie um direkte Beteiligungsrechte
für Bürgerinnen und Bürger zu ergänzen.
Das Gebot, die parlamentarisch-repräsentative Demokratie um direkte Beteiligungsrechte zu ergänzen, ist
wohl den Bremsern der CDU/CSU in der Frage direkter
Demokratie geopfert worden. Die Haltung der CDU/
CSU ist nicht wirklich verwunderlich. Sie setzt die Politik der CDU/CSU aus der vergangenen Legislaturperiode fort.
({2})
Aber, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
seien Sie doch nicht so hasenfüßig. Ihr CDU-Landesverband in Berlin hat mit dazu beigetragen, dass die von
Rot-Rot vorgeschlagene Verfassungsänderung für mehr
Demokratie in Berlin verabschiedet werden konnte.
({3})
Berlin steht jetzt weit oben auf der Liste der Länder, die
mehr Demokratie ermöglichen. Reden Sie mit Ihren Parteifreunden aus Berlin! Herr Krings, zeigen Sie, dass Sie
wirklich nicht in Schubladen denken! Geben Sie sich einen Ruck! Die Bürgerinnen und Bürger werden es Ihnen
danken.
({4})
Der Koalitionsvertrag sagt auch nichts zur Veränderung des Wahlrechts aus. Das ist ausgesprochen interessant. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht dem
Hohen Haus einen Arbeitsauftrag aufgegeben.
({5})
Wer Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt, der sollte
endlich darangehen, das Wahlrecht auch all jenen zu geben, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
({6})
Bei dieser Gelegenheit denken Sie doch auch noch
einmal über das Staatsbürgerschaftsrecht nach. Wer
wirklich mündige Bürgerinnen und Bürger will, der gibt
ihnen auch die Möglichkeit, mit zu entscheiden, und der
ändert das Wahlrecht auch für Menschen, die schon länger hier leben.
Danke.
({7})
Frau Wawzyniak, auch für Sie war es die erste Rede
im Plenum. Wir beglückwünschen Sie dazu und wünschen Ihnen alles Gute.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Bildung
und Forschung. Hierzu ist verabredet, eineinviertel
Stunden zu debattieren.
Ich gebe das Wort der Bundesministerin Dr. Annette
Schavan.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der Koalitionsvertrag sendet
starke Signale an die junge Generation.
({0})
Gute Bildung und leistungsstarke Forschung sollen die
Bildungsrepublik Deutschland prägen. Die Grundidee,
also die ganz konkrete Entfaltung dessen, was gemeint
ist, steht in dem Vertrag der christlich-liberalen Koalition.
({1})
Was meinen wir im Grundsatz, wenn wir sagen: „Bildungsrepublik Deutschland ist das Ziel, ist das Zukunftsbild, das wir vor Augen haben“? Wir meinen viererlei:
Erstens. Kein Kind darf verloren gehen.
({2})
Zweitens. Niemand darf um die Entfaltung seiner Talente gebracht werden.
Drittens. Bildung und Forschung werden als inspirierende Kräfte und Quellen künftigen Wohlstands anerkannt.
Viertens. Bildung und Forschung müssen - das ist unsere Aufgabe in Parlament und Regierung hier in Berlin,
aber auch in den 16 Ländern sowie in den Städten und
Gemeinden - in den nächsten Jahren mehr denn je politische Priorität haben.
({3})
Wir beginnen nicht am Punkt null. Auch für den Bereich von Bildung und Forschung gilt: Da gibt es manches, auf das wir aufbauen können. Da gibt es gute Initiativen in einzelnen Städten und in den Ländern. Aber das
Fundament muss noch stabiler werden. Wir wollen eines
der besten Bildungssysteme der Welt. Wir wollen, dass
Deutschland im internationalen Vergleich einer der attraktivsten Wissenschafts- und Forschungsstandorte ist.
Der Koalitionsvertrag enthält die starke Zusage des
Bundes, in den kommenden vier Jahren zusätzlich
12 Milliarden Euro in Bildung und Forschung zu investieren. Damit erhöhen wir den Anteil des Bundes für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts: 7 Prozent für Bildung, 3 Prozent für Forschung.
Auch das ist ein starkes Signal und zeigt, welche Priorität
diese christlich-liberale Koalition der Bildung und Forschung beimisst.
({4})
Wir haben dies in der Zeit der schwersten Wirtschaftskrise in Deutschland beschlossen, weil wir davon überzeugt sind, dass Bildung ein Bürgerrecht ist und dass
gute Bildung und starke Forschung Quellen für künftigen Wohlstand sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundeskanzlerin hat gestern Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung in
Deutschland genannt. Bis zum Jahre 2020 ist mit einem
Rückgang der Zahl der unter 25-Jährigen zu rechnen.
Das setzt sich in einem etwa 20-prozentigen Rückgang
der Zahl der Schülerinnen und Schüler in Deutschland
fort. Das bedeutet: Eine Gesellschaft mit weniger Kindern und Jugendlichen muss noch mehr tun, um jedem
Kind und jedem Jugendlichen Chancen durch Bildung
zu eröffnen und sie zu Bildung, Ausbildung und Studium zu ermutigen.
Ich füge hinzu: Das ist nicht allein eine Aufgabe des
Staates. Das ist die Aufgabe der ganzen Gesellschaft.
Kinder und Jugendliche brauchen auch die Ermutigung
durch ihre Eltern. Deshalb sage ich: Bildungsrepublik
Deutschland meint mehr als ein gut finanziertes Bildungs- und Wissenschaftssystem, meint auch - dies
muss noch stärker eingefordert werden - Leidenschaft
und Begeisterung für Lernen und Forschen als die besten
Seiten des Menschen.
({5})
Ich sage das auch deshalb, weil sich da niemand Illusionen machen soll. Allein mehr Geld und das Versprechen an die Bürgerinnen und Bürger, dass Bildung nichts
kostet, führen noch nicht zu besserer Bildung und starker
Forschung.
({6})
- Maulen Sie doch nicht so herum. Sie haben doch gerade Schiffbruch damit erlitten, dass Sie im Wahlkampf
zur Bildungspolitik nichts anderes gesagt haben, als dass
von der Kita bis zur Uni alles kostenfrei sein sollte. Das
hat Ihnen keiner geglaubt.
({7})
Große Versprechen - und wie viel Prozent haben Sie dafür bekommen?
({8})
Deshalb sage ich: Die Bürgerinnen und Bürger wollen
mehr. Sie erwarten kreative Konzepte. Sie verlangen,
dass endlich die Vergleichbarkeit der Bildungsinhalte
und Schulabschlüsse möglich wird.
({9})
- Liebe Frau Kumpf, Sie regieren doch noch in ein paar
Ländern. Sie können jetzt zu all dem beitragen, was die
Bürgerinnen und Bürger zu Recht von uns erwarten.
({10})
Die Lehrerinnen und Lehrer erwarten eine verlässliche Partnerschaft mit den Eltern, um ihre Aufgabe in der
Schule gut wahrnehmen zu können. Die Öffentlichkeit
erwartet, dass wir endlich geeignete Wege finden, um
die Bildungsarmut in einem wohlhabenden Land zu
überwinden. Ich sage Ihnen: Das Wichtigste in dieser
Legislaturperiode ist, dass es allen politischen Akteuren
gelingt, dass Bildungsarmut in diesem Land keinen Platz
mehr hat.
({11})
Gute Bildung und die Teilhabe aller Kinder an einem
leistungsfähigen Bildungssystem beginnen mit der frühkindlichen Bildung. Deshalb werden wir die Weiterbildung der Erzieherinnen voranbringen, den Bildungsauftrag der Kindergärten stärken und sie zu Häusern der
kleinen Forscher weiterentwickeln. Außerdem sorgen
wir - gestern haben schon einige Redner darauf hingewiesen - gemeinsam mit den Ländern dafür, dass jedes
Kind vor dem Schulbeginn eine Sprachförderung erhält,
wenn seine Sprachentwicklung dies erfordert. Das ist ein
Schritt zur Integration; darin liegt für Kinder und ihre Eltern der Schlüssel für gute Bildung: früh beginnen, Sprache lernen.
({12})
Wir werden ein Konzept für Bildungspartnerschaften von Bund, Ländern und Kommunen entwickeln. Wir
schaffen im Hochschulpakt 275 000 neue Studienplätze.
Wir bauen gemeinsam mit den Ländern ein nationales
Stipendienprogramm für 10 Prozent der Studierenden
auf. Wir sichern das BAföG und entwickeln es weiter.
Sollte jemand von Ihnen schon ein Manuskript haben, in
dem steht, dass es abgebaut wird, dann streichen Sie
bitte diesen Satz.
({13})
Wir schaffen Anreize für das Bildungssparen, bauen die
Aufstiegsstipendien aus und werden das Büchergeld für
die Stipendiatinnen und Stipendiaten der zwölf Begabtenförderungswerke auf monatlich 300 Euro erhöhen.
Wir tun nicht so, als koste Bildung nichts. Wir geben attraktive Impulse und Anreize für die Finanzierung von
Bildung und Studium.
({14})
Gemeinsam mit den Sozialpartnern, den Ländern, der
Bundesagentur für Arbeit und den Weiterbildungsverbänden werden wir eine Weiterbildungsallianz schmieden. Wir werden zügig die Anerkennung von ausländischen Bildungs- und Berufsabschlüssen voranbringen
und unsere Maßnahmen zur Integration von Jugendlichen durch Bildung und Ausbildung verstärken.
Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte - wir wissen das - sind besonders häufig in der Gefahr, keinen
Schulabschluss zu erreichen. Wir haben gute Vorarbeit
aus den letzten Jahren in diesem Bereich, vor allen Dingen was das Engagement in der beruflichen Bildung angeht. Nachdem es erste Fortschritte gibt, müssen wir
jetzt aber den Ehrgeiz haben, zu sagen: Im nächsten
Jahrzehnt muss es in Deutschland gelingen, dass kein Jugendlicher mehr ohne Schulabschluss ins Leben geht.
({15})
Auch an diesem Punkt gilt, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Eine ausreichende Finanzierung ist das eine,
wirksame Konzepte sind das Zweite, aber das Dritte ist,
dass Kinder und Jugendliche eben auch Erwachsene
brauchen, die sie ermutigen, die Chancen wahrzunehmen, die Bildung bietet. Dies betrifft die Mentalität in
dieser Gesellschaft. Deshalb bedarf es mehr Zustimmung zur Bildung nicht nur in Rede und Theorie, sondern vor allem im alltäglichen Leben. Da brauchen Kinder und Jugendliche Ermutigung.
({16})
Wir werden den Ausbildungspakt zum Qualitätspakt
weiterentwickeln.
({17})
- Der war ziemlich erfolgreich, total erfolgreich.
({18})
Jetzt geht es um die Frage, wie wir Qualität und Ausbildungsreife so weiterentwickeln, dass wirklich jeder eine
Ausbildung antreten kann.
Deutschland ist Teil des europäischen Bildungsraumes. Wir werden den deutschen Qualifikationsrahmen
analog zum europäischen Qualifikationsrahmen erarbeiten, das Übergangssystem neu strukturieren und effizienter gestalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
werden auch gerade mit dem Flaggschiff unseres Bildungssystem, der beruflichen Bildung, noch stärker international präsent sein.
Gemeinsam mit den Ländern und den Hochschulen
werden wir ein Bologna-Qualitäts- und -Mobilitätspaket
schnüren, das die Studienreform voranbringt. Sie ist
richtig; aber sie verlangt Korrekturen, was die Gestaltung der Studiengänge und die Verbesserung der Lehre,
die bessere Betreuung und Beratung der Studierenden
angeht. In den nächsten Monaten können seitens der
Länder und da, wo wir helfen können, auch von unserer
Seite deutliche Signale an die Studierenden gegeben
werden.
Wir werden bereits ab dem Wintersemester 2011 in
Deutschland das modernste Konzept der Studienplatzvergabe haben. Auch das ist nach den Erfahrungen der
letzten Jahre ein wichtiger Schritt für die Studierenden.
Mit steuerlichen Anreizen für Investitionen in Forschung und Entwicklung in den Unternehmen stärken
wir die Innovationskraft unseres Landes. Wir wollen es
so gestalten, dass neue Arbeitsplätze für Forscherinnen
und Forscher geschaffen werden können.
Wir werden die Hightech-Strategie weiterentwickeln
als ein europäisches Konzept mit den Flaggschiffen im
Bereich der Gesundheitsforschung und der Energie- und
Klimaschutzforschung. Wir werden ein integriertes
Energieforschungsprogramm vorlegen. Wir werden weitere Spitzenforscher aus aller Welt unter anderem mit
den Alexander-von-Humboldt-Professuren nach Deutschland holen.
Die Elektromobilität erweist sich als Querschnittsthema. Ich glaube, sie wurde in drei Reden angesprochen; auch ich könnte sie jetzt noch einmal nennen.
Wenn ich mir die Kompetenz und die Kompetenznetze,
die wir in Deutschland geschaffen haben, ansehe, dann
bin ich davon überzeugt, dass das ein Renner wird.
Die christlich-liberale Koalition wird mit dem Pakt
für Forschung und Innovation und einem jährlichen Zuwachs von 5 Prozent ein verlässlicher Partner unserer
Forschungsorganisationen sein und die Exzellenzinitiative in eine zweite Runde bringen.
Schließlich: Auch in der Forschungspolitik gilt: Die
Transparenz und die Akzeptanz der Chancen und die Risiken der Forschung sind so bedeutsam wie ihre Finanzierung. Deshalb werde ich für den 2. Dezember zum
nächsten Runden Tisch zur Grünen Gentechnik einladen. Das ist ein Element dessen, was wir in den nächsten
Jahren verstärken werden: Dialogplattformen, Stärkung
der Forschungsmuseen, Gründung eines Hauses der Zukunft, um den Diskurs über Zukunftstechnologien in unserer Gesellschaft zu befördern.
Der Blick in die 16 Bundesländer zeigt, dass nahezu
alle im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien bildungspolitische Verantwortung tragen. Das kann man
bedauern, je nachdem.
({19})
Aber man kann es auch als Chance sehen. Es ist eine
Chance - ich sage das ganz ernst - zum Konsens über
Parteigrenzen hinweg. Dazu lade ich Sie ein. Lassen Sie
uns bei allen Meinungsverschiedenheiten und allem
Wettbewerb gemeinsam daran arbeiten, durch gute Bildung und starke Forschung Kinder und Jugendliche zu
ermutigen und unser Land voranzubringen.
Vielen Dank.
({20})
Dagmar Ziegler hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Schavan! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Koalitionsvertrag von Union und FDP ist leider eine bildungspolitische Mogelpackung. Es steht zwar „Bildung“ darauf, sie ist aber leider nicht drin.
In der Bildungspolitik stehen wir vor enormen Herausforderungen. Die bildungspolitischen Megathemen
sind Chancengleichheit und Bildungsqualität. Die großen Fragen lauten: Wie schaffen wir es, dass Bildung
nicht mehr vom Geldbeutel der Eltern abhängt? Wie
schaffen wir es, dass alle Kinder früher und besser individuell gefördert werden können? Wie schaffen wir bessere Integration in und durch Bildung? Wie schaffen wir
es, dass kein junger Mensch mehr ohne Schulabschluss
und ohne Ausbildung in sein Leben starten muss? Wie
schaffen wir einen echten Qualitätssprung zu besserer
Bildung? Das sind die zentralen Fragen, die die Menschen bewegen und die eine gute Bildungspolitik beantworten muss.
({0})
Aber, sehr geehrte Frau Schavan, in Ihrem Koalitionsvertrag finden wir auf keine dieser Fragen eine Antwort.
Gerade mal fünf von insgesamt 132 Seiten widmen
Sie der Bildungspolitik. Es ist zudem schon erstaunlich,
dass es Ihnen gelungen ist, auf weniger als fünf Seiten
noch weniger konkrete Maßnahmen aufzuschreiben.
({1})
Und die wenigen konkreten Maßnahmen, die Sie ankündigen, deuten darauf hin, dass Sie auch noch den falschen Weg einschlagen.
Diese Koalition verabschiedet sich von dem Gedanken, dass Chancengleichheit das Ziel und gute Bildung
für alle eine öffentliche Aufgabe sein muss, die der Staat
kostenlos zur Verfügung stellt. Die schwarz-gelbe Linie
lautet: mehr Gebühren, mehr Kosten für die Familien,
mehr Auslese, weniger Chancengleichheit.
({2})
Sie treiben die soziale Spaltung auch im Bildungssystem
voran.
Ich möchte das gerne an drei Beispielen erläutern.
Erstens. Statt alle Kinder besser zu fördern, verschlechtern Sie mit dem Betreuungsgeld die Bildungschancen
von benachteiligten Kindern. Sie wissen, dass das Betreuungsgeld eine Bildungsverhinderungsprämie ist, dass
das Betreuungsgeld eben nicht dafür sorgt, dass insbesondere Kinder aus sozial schwächeren Familien systematisch an die frühkindlichen Bildungs- und Betreuungseinrichtungen herangeführt werden.
({3})
Damit bekämpfen Sie die Bildungsarmut gerade nicht,
sondern verstärken sie.
({4})
Zweitens. Geld ist nicht alles, Frau Ministerin - damit
haben Sie völlig recht -, aber gute Bildung darf auch
nicht am Geld scheitern.
({5})
Dafür brauchen wir zwei Dinge: kostenlose Bildungsangebote von der Kita bis zur Hochschule und eine finanzielle Bildungsförderung für diejenigen, die nicht genug
Geld in der Tasche haben.
({6})
Frau Schavan, Sie und Herr Pinkwart machen aber das
Gegenteil: Erst verteuern Sie Bildung durch Gebühren
immer weiter, und dann wollen Sie mit dem Bildungssparen denjenigen Geld zurückgeben, die genug haben,
um etwas auf die Seite zu legen.
({7})
Das genau ist unser Punkt: Bildung ist keine Bausparkasse. Sozial gerecht wäre etwas anderes, nämlich Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Hochschule.
Drittens. Grundsätzlich spricht nichts dagegen, für
mehr Stipendien zu sorgen. Das haben wir in der Großen Koalition ja auch gemeinsam gemacht. Ihr Stipendienmodell hat aber erhebliche Tücken:
Erstens. Sie koppeln die Studienfinanzierung an die
Konjunktur und an Brancheninteressen. Deswegen warnen inzwischen sogar CDU-regierte Länder vor diesem
Konzept.
({8})
Zweitens. Sie versuchen, den Menschen etwas vorzumachen; denn es ist ja gerade nicht Ihre Absicht, die Studierenden mit einem Geldsegen zu beglücken. Ihre eigentliche Absicht ist es - das haben alle erkannt -, die
Studiengebühren, die Sie in Ihren Ländern eingeführt
haben, zu zementieren.
({9})
Diese Studiengebühren sollen jetzt auch noch durch
Bundesgelder subventioniert werden.
Drittens. Stipendien sorgen nicht für gleiche Chancen.
Kein Stipendiensystem kann eine Fördergarantie für Studentinnen und Studenten aus sozial schwächeren Familien ersetzen. Deshalb wird für die SPD das BAföG immer oberste Priorität haben. Frau Schavan hat eine
Erhöhung des BAföG in dieser Legislaturperiode ausgeschlossen, wenn sie auch gerade in ihrer Rede etwas anderes verkündet hat, frei nach dem Motto: Jetzt, wo ich
die SPD los bin, kann ich machen, was ich will. - Ich
sage Ihnen: Beim Thema BAföG werden Sie uns nicht
los. Wenn die Lebenshaltungskosten steigen, muss auch
das BAföG steigen. Verlassen Sie sich darauf, daran
werden wir Sie immer wieder erinnern!
({10})
Diese drei Beispiele, Betreuungsgeld, Bildungssparen
und Stipendienprogramm, zeigen, was Schwarz-Gelb für
die Bildung bedeutet: weniger Chancengleichheit und
ein Abwälzen von Bildungskosten auf die Familien.
Gute Bildung haben für Union und FDP nur diejenigen
verdient, die sich gute Bildung leisten können. Das ist
das Gegenteil dessen, was wir in der Bildung tatsächlich
brauchen. Wir brauchen frühe individuelle Förderung,
gemeinsame Erziehung und Beschulung von behinderten
und nichtbehinderten Kindern,
({11})
mehr Ganztagsschulen, mehr Sozialarbeiter, ein neues
Schüler-BAföG, ein starkes Studenten-BAföG und gebührenfreie Bildung. Das wäre der richtige Weg; aber es
ist leider nicht der Ihre.
Die schwarz-gelbe Logik ist eine andere. Bildung ist
für diese Regierung keine öffentliche Aufgabe, sondern
reines Privatvergnügen. Deswegen hat diese Regierung
auch keine Ideen, wie sie den dringend notwendigen
Qualitätssprung in der Bildung bewerkstelligen kann.
Das zeigt sich auch bei der Aus- und Weiterbildung und
bei den Hochschulen.
Bei der Aus- und Weiterbildung geben Sie keine
Antwort auf die Frage, wie Sie dafür sorgen wollen, dass
alle Jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekommen.
Sie geben keine Antwort auf die Frage, wie Sie die Weiterbildung endlich zur vierten Säule des Bildungssystems
machen wollen. Sie setzen in der Aus- und Weiterbildung
auf den Markt und überlassen die Ausbildungschancen
der jungen Menschen der Konjunkturlage. Das ist der
Fehler. Wenn Sie Ideen brauchen, wie man es besser machen kann, schauen Sie in das Wahlprogramm der SPD.
({12})
- Bildung schadete auch Ihnen nicht, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition.
Wir brauchen neue Förderinstrumente und Rechtsansprüche, um gute Übergänge von der Schule ins Berufsleben zu organisieren und die Weiterbildung zu stärken.
Dazu gehört ein Rechtsanspruch auf Nachholen des
Schulabschlusses für alle. Dazu gehört eine gesetzliche
Berufsausbildungsgarantie. Dazu gehört die Arbeitsversicherung, und dazu gehört die konsequente Ausrichtung
von BAföG und Meister-BAföG auf die Anforderungen
eines lebenslangen Lernens.
({13})
Als im Sommer die Studierenden auf die Straße gingen, um für bessere Studienbedingungen zu demonstrieren, haben Sie, Frau Schavan, erst einmal erklärt, die
Forderungen seien von gestern. Aber der Handlungsdruck ist da. Die Probleme bei den Bologna-Reformen
sind immer noch nicht gelöst. Die Frage des Masterzugangs für alle ist offen. Wir brauchen eine Qualitätsoffensive in der Lehre.
Jetzt wird im Koalitionsvertrag angekündigt, dass ein
Bologna-Qualitäts- und Mobilitätspaket geschnürt
werden soll. Was dieses Paket konkret enthalten soll, erfahren wir nicht, auch nicht aus Ihrer Rede. Die SPD
sagt: Die Studentinnen und Studenten brauchen kein unverbindliches Paket aus Absichtserklärungen, sondern
einen verbindlichen Qualitätspakt für ein gutes Studium.
({14})
Deswegen fordern wir Sie auf, Geld in die Hand zu nehmen und mit den Ländern einen solchen Qualitätspakt
für ein gutes Studium abzuschließen.
({15})
Im Übrigen sind die 275 000 Studienplätze, die Sie
hier ankündigen, nichts Neues. Dies haben wir bereits in
der Großen Koalition gemeinsam so beschlossen; das
kann man dann auch einmal sagen.
({16})
Damit komme ich zum letzten Stichwort: Bildungspartnerschaft. Sie haben gerade davon gesprochen, die
Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen in
der Bildung stärken zu wollen. Auch das ist leider eine
Mogelpackung. Denn faktisch machen Sie auch hier genau das Gegenteil. Statt die Partnerschaft zu stärken,
verschärfen Sie damit die Konkurrenz. Das wird an zwei
Punkten ganz deutlich.
Erstens. Wer es mit der Bildungspartnerschaft ernst
meint, muss im Grundgesetz die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass mehr Kooperation von Bund, Ländern
und Kommunen überhaupt erst möglich wird. SchwarzGelb will alles so lassen, wie es ist. Ringen Sie sich endlich dazu durch, das Kooperationsverbot im Grundgesetz
wieder abzuschaffen! Erst dann kann eine echte Bildungspartnerschaft gelingen.
({17})
- Ich bin nicht vergesslich.
Lebenslanges Lernen ist das Stichwort. Lebenslanges Lernen gilt für uns alle, auch für dieses Parlament.
Zweitens. Sie kündigen an, mehr Geld in die Bildung
zu investieren, und Sie kündigen an, dass Sie es den
Ländern erleichtern wollen, ebenfalls mehr Geld für Bildung auszugeben. Ich frage Sie: Wie? Mit den Steuerplänen machen Sie genau das Gegenteil. Sie erschweren die
dringend notwendigen Mehrausgaben für die Bildung,
Sie verengen die Haushaltsspielräume, und Sie nehmen
den Ländern und Kommunen das Geld, das sie für den
Ausbau einer guten Bildungsinfrastruktur brauchen.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen findet,
dass zusätzliche Ausgaben für Schulen und Hochschulen
wichtiger sind als unfinanzierbare Steuersenkungen auf
Pump.
({18})
Im Klartext: Union und FDP setzen damit die falschen
Prioritäten. Sehr geehrte Frau Ministerin, steuern Sie im
Denken und Handeln um! Auch für Sie gilt lebenslanges
Lernen. Investieren Sie tatsächlich in Bildung für alle!
Danke schön.
({19})
Patrick Meinhardt spricht für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Diese Regierung der Mitte setzt ein klares
Zeichen: Wir wollen Bildungsarmut in diesem Land bekämpfen. Wir wollen einen Politikwechsel für mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Wir wollen mit allen
zusammen in einer neuen Bildungspartnerschaft dafür
kämpfen, dass Deutschland zu einem Bildungsland mit
den besten Kindertagesstätten, mit den besten Schulen
und Berufsschulen, mit den besten Hochschulen und
Forschungseinrichtungen wird. Für diese Regierung der
Mitte gilt: Bildung ist Bürgerrecht.
({0})
Genau deswegen hat die frühkindliche Bildung für
uns solch einen hohen Stellenwert.
({1})
Deswegen gilt: Diese Regierung unterstützt verbindliche, bundesweit vergleichbare Sprachstandstests für alle
Kinder im Alter von spätestens vier Jahren und eine daran ansetzende gezielte Sprachförderung. Denn jedes
Kind muss vor Schuleintritt die deutsche Sprache beherrschen.
({2})
Das heißt, dass wir verstärkt auch auf die Kompetenz der
Erzieherinnen und Erzieher in Deutschland setzen müssen. Es ist richtig, dass wir für die 350 000 Erzieherinnen und Erzieher mit einer wirklichen Fortbildungsoffensive durchstarten.
({3})
Wir brauchen auch Veränderungen in der pädagogischen Ausbildung bei Lehrerinnen und Lehrern. Wir
brauchen einen Modernisierungsschub, der sowohl Bildungsinhalte als auch Lernmethoden und Lernmedien
umfasst.
Das müssen wir zusammen mit den Lehrerinnen und
Lehrern organisieren. Wir setzen auf Partnerschaft, wie
es unser Bundespräsident in seiner Berliner Rede 2006
formuliert hat:
Lehrerinnen und Lehrer arbeiten oft unter schwierigen Voraussetzungen. … Engagierte Lehrerinnen
und Lehrer, die nicht aufgeben, die darauf brennen,
jungen Menschen etwas beizubringen - das sind für
mich Helden des Alltags.
Das ist deutlich zu unterstreichen.
({4})
- Ja, ihnen müssen wir den Rücken stärken.
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, es kommt
noch ein Zweites hinzu: Starke Kinder brauchen starke
Eltern. Mehr Beratungsangebote, mehr Familienzentren, eine stärkere Förderung der Erziehungskompetenz der Eltern, auch das steht auf der Agenda. Es ist
richtig, dass mehr Ganztagsangebote erforderlich sind
und dass wir eine starke Vereinskultur brauchen. Es
muss in diesem Hohen Haus aber auch formuliert werden dürfen: Erziehung ist zuerst einmal Elternsache.
({5})
Umso wichtiger ist, dass Eltern, Schüler und Lehrer
dann auch mehr Gestaltungsrechte in der Bildung bekommen. Hier können wir viel von den Schulen in freier
Trägerschaft lernen.
({6})
Für die Hochschulen gilt: Sie sollen autonom werden.
Für die Schulen gilt: Sie sollen über ihre eigenen Angelegenheiten auch eigenständig entscheiden können.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein richtiges
Zeichen, Bildungsbündnisse vor Ort zu stärken und
auszubauen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Denn jeder junge Mensch - über 20 Prozent von ihnen
haben erhebliche Lese- und Rechenprobleme -, den wir
nicht fördern, läuft Gefahr, später ein Sozialfall zu werPatrick Meinhardt
den. Deswegen ist es ein Ausdruck von Bildungsgerechtigkeit, hier aktiv zu werden.
({8})
Umso wichtiger wird die Bedeutung der beruflichen
Bildung, ihre Fortentwicklung und Modernisierung. Wir
müssen die überbetriebliche Ausbildung ausbauen, die
Einstiegsqualifizierung stärken und den erfolgreichen
Ausbildungspakt mit der Wirtschaft ausweiten und fortführen.
Gerade mit Blick auf den Mittelstand gilt: Ob sich
junge Menschen für ein Studium oder eine Ausbildung
entscheiden, ob sie einen Beruf erlernen oder sich selbstständig machen, ist für uns gleich wichtig. Für uns sind
berufliche und akademische Ausbildung gleichwertig.
({9})
Für den Wettbewerb um die beste Bildung muss auch
mutig Geld in die Hand genommen werden.
({10})
FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,
dass wir das 10-Prozent-Ziel bezogen auf den Bund
schon 2013 erreichen und damit Vorbildfunktion für alle
anderen haben wollen. Wir haben entschieden, dass innerhalb der kommenden vier Jahre zusätzliche Bildungsinvestitionen in Höhe von 12 Milliarden Euro fließen.
({11})
12 Milliarden Euro, das ist ein gigantisches Investitionsprogramm. Das ist Vorfahrt für Bildung.
FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,
dass der Dreiklang aus BAföG, Bildungsdarlehen, auch
über das 30. Lebensjahr hinaus, und Stipendien stark
ausgebaut werden soll. Dafür brauchen wir ein nationales Stipendienprogramm. 10 Prozent der Studierenden
sollen die Chance auf ein Stipendium erhalten. Das ist
im Vergleich zu heute eine Verfünffachung. Begabungsförderung darf nicht an finanziellen Hürden scheitern.
Das ist Vorfahrt für Bildung.
({12})
FDP, CDU und CSU haben gemeinsam entschieden,
dass wir in der Weiterbildung deutliche Zeichen setzen
müssen,
({13})
im Interesse von Erzieherinnen und Erziehern, älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie kleinen
und mittleren Unternehmen. Die Zukunftskonten, die
persönlichen Bildungskonten, sind der überfällige intelligente Einstieg in ein Bildungssparen ein Leben lang.
Das ist Vorfahrt für Bildung.
({14})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Bildung braucht
Geld. Bildung braucht aber auch den richtigen Geist und
die richtigen Werte. Wer die Talente junger Menschen
fördern will, wer sich in die Pflicht nimmt und die Hochbegabtenförderung zum Programm macht, dem geht es
auch darum, dass jungen Menschen Verantwortung für
sich selbst beigebracht wird. Das geht aber nur mit der
richtigen Einstellung, und das geht nur mit der richtigen
Leistungsbereitschaft. Leistungswille ist ein Wertbegriff,
den wir im deutschen Bildungssystem wieder neu
etablieren, neu denken und neu mit Leben füllen müssen.
({15})
Im gleichen Umfang brauchen wir auch eine Schärfung der Verantwortung für andere - für die Gemeinschaft, für den Staat -, wie es Theodor Heuss als Erzieher im Hinblick auf die Demokratie eingefordert hat.
Deswegen erhält die Bundeszentrale für politische Bildung 20 Jahre nach dem Mauerfall den Arbeitsschwerpunkt „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. Wir nehmen es
nicht hin, dass ein Hauptschüler aus Bayern mehr über
das Unrechtsregime in der DDR weiß als ein Gymnasiast
aus Brandenburg. Wir nehmen es nicht hin, dass nicht
einmal jeder zweite ostdeutsche Jugendliche die DDR
für eine Diktatur hält. Wir nehmen es nicht hin, dass in
einer Schülergeneration, die die Mauer nicht selbst erlebt hat, eine Verklärung der SED-Diktatur stattfindet.
Diese Bundesregierung will den Wert der Freiheit wieder ins Zentrum der politischen Bildung setzen.
({16})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, für diese Regierung der Mitte ist unter dem Motto „Freiheit für Verantwortung“ Bildung das Schlüsselthema für die Zukunft.
Auch für die Bevölkerung in Deutschland ist Bildung
das Schlüsselthema für die Zukunft. Das Kursbuch für
mehr Bildungsgerechtigkeit ist dieser Koalitionsvertrag.
Vielen Dank.
({17})
Die Kollegin Dr. Petra Sitte hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
werde in diesen Tagen in meinem Wahlkreis immer wieder besorgt gefragt: Wie wird es mir ergehen unter
Schwarz-Gelb?
({0})
Welche Konsequenzen hat die schwarz-gelbe Regierung
für meine persönliche Lebenssituation?
({1})
Welche Perspektiven werde ich in diesen vier Jahren bekommen - oder eben auch nicht? Vor allem: Was blüht
meinen Kindern?
Wissen Sie, ich komme aus Halle ({2}). Halle ist
eine ostdeutsche Stadt mit einer der höchsten Armutsquoten in diesem Land: 45 Prozent der Familien in meiner Stadt erhalten Transferleistungen. Halle hat Stadtviertel, in denen jedes zweite Kind Sozialgeld bekommt.
Das verfügbare Jahresdurchschnittseinkommen liegt in
Halle nur knapp über 14 000 Euro. Es ist also völlig klar,
dass in meiner Stadt - in vielen anderen Regionen ist es
ähnlich - Ihr Koalitionsvertrag und Ihre Politik nur bestehen können, wenn sie aus der Sicht dieser Menschen
ganz konkret spürbare Verbesserungen bewirken.
({3})
Schaue ich mir Ihren Koalitionsvertrag unter diesem
Blickwinkel an, kann ich den Leuten ihre Sorgen nicht
nehmen.
Die Ministerin und andere Redner der Koalition wie
Herr Meinhardt schwärmen schon davon, dass sie Milliarden in Bildung, Wissenschaft und Forschung investieren wollen. Das hört sich gewaltig an, wohl wahr!
Aber dort, wo das Geld am dringendsten benötigt wird,
bei genau diesen einkommensschwachen Familien, bei
ihren Kindern und Jugendlichen, kommt es nicht an. Insofern, Frau Ministerin, besteht zwischen meiner Einschätzung und der Ihren eine gravierende Differenz.
({4})
Das zentrale Defizit Ihres Koalitionsvertrages schlägt
sich mit dramatischen Folgen auch im Bildungsteil nieder. Auch hier koppeln Sie sehenden Auges mittlerweile
etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen von Zukunftsperspektiven ab. Jene, die heute knapp unter der
Armutsgrenze oder knapp über der Armutsgrenze leben,
erfahren durch diese Politik weiter Ausgrenzung. Seit
Jahren ist bekannt, dass in diesem Land die Bildungschancen und damit natürlich auch die Lebensperspektiven extrem von der sozialen Herkunft abhängen.
In kaum einem anderen europäischen Land fällt die Prognose für den Fachkräftemangel so dramatisch aus. Man
sollte glauben, dass der Koalition völlig klar ist, wo sie
ansetzen muss, nämlich an diesen Punkten.
Dazu müssten Sie, wie wir es mit unserem nationalen
Bildungspakt vorgeschlagen haben, gemeinsam mit den
Ländern und mit den Kommunen bei der Unterfinanzierung des öffentlichen Bildungswesens konsequent gegensteuern.
({5})
Das beginnt bei Kindertagesstätten, wohl wahr, setzt
sich aber fort über Schule und Ausbildung und geht bis
zur Hochschule und zur Weiterbildung. An der Basis
bröckelt das öffentliche Bildungssystem am meisten, in
Quantität und Qualität. Es bietet immer weniger Kindern
optimale Startbedingungen. Ich habe vorhin erwähnt,
aus welcher Stadt ich komme, und weiß genau, unter
welchen Bedingungen viele Kinder dort aufwachsen.
Umgekehrt stellen wir fest, dass immer mehr Familien, immer mehr Eltern, die es sich leisten können, mit
dem öffentlichen Bildungssystem brechen: Immer mehr
Kinder und Jugendliche besuchen Kindertagesstätten
und Schulen in freier Trägerschaft oder privater Hand,
die Gebühren erheben. Gelöhnt wird auch für private
Nachhilfe. Auch private berufsbildende Schulen stehen
hoch im Kurs. Tausende, die in diesem Land an öffentlichen Hochschulen studieren, müssen Geld für Studiengebühren aufbringen. Wen wundert es, wenn am Ende
private Hochschulen immer mehr bevorzugt werden?
Nun will die Koalition die Ausgaben für Bildung und
Forschung bis 2015 auf etwa 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anheben. Der Bund will seinen Anteil bis
2013 aufgebracht haben, und zwar mit 3 Milliarden Euro
zusätzlich im Jahr. Ich sage Ihnen aber eines: Ihre Rechnung stimmt hinten und vorne nicht; denn im Oktober
2008, also vor gut einem Jahr, wollten Bund und Länder
7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes allein für Bildung
aufbringen. Damals befand eine Strategiegruppe aus
Vertretern von Kanzleramt und Ländern, dass dafür jedes Jahr rund 25 Milliarden Euro ausgegeben werden
müssten.
Die Mittel für die nun geplanten Ausgaben müssen
dann eben auch von den Ländern aufgebracht werden.
Für Sie selbst heißt es: Die Mittel sind eigentlich gebunden, weil Sie den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative
und den Pakt für Forschung und Innovation verbindlich
im Koalitionsvertrag festgeschrieben haben. Mit diesen
drei Pakten werden die meisten Gelder aber in den Bereich Forschung und nicht in den Bereich Bildung gesteuert.
({6})
Jetzt sollen die Länder nachziehen. Na, die Idee ist
großartig, kann ich nur sagen. Wir haben jetzt schon Einnahmedefizite durch die Krise. Sie senken die Steuern.
Es ist doch völlig logisch, dass sich das in den Landeshaushalten niederschlägt. Das heißt am Ende, dass es so
sein wird wie in meinem Land, in dem schon jetzt klar
angekündigt wird: Das Geld für die Hochschulen wird
gekürzt. - Und wir sind nicht das einzige Land. Die Vorstellung, dass die Länder das Defizit beheben können, ist
also natürlich völlig illusorisch.
An dieser Stelle kommt dann auch noch hinzu, dass
die Koalition offensichtlich der Auffassung ist, dass der
Rest von der Wirtschaft erbracht wird. Das ist ungefähr
so wie beim Ausbildungspakt: Appelle, Appelle, Appelle! Wann und wo das am Ende wirklich verbindlich
geregelt wird, bleibt Ihr ganz kleines schwarz-gelbes
Geheimnis. Das ist nämlich nirgendwo im Koalitionsvertrag verankert oder ausgewiesen.
({7})
Mit zwei Ideen schlägt die Koalition nach meinem
Dafürhalten neue Nägel in den Sarg des öffentlichen BilDr. Petra Sitte
dungssystems und will sie Verantwortung an private Investoren abgeben. Statt nun das BAföG elternunabhängig und zuschussbasiert auszubauen, mindestens jedoch
an die Lebenshaltungskosten anzupassen und für einen
Bezug über das 30. Lebensjahr nach einer ersten Berufsphase zu öffnen, bietet die Koalition Bildungskredite
inklusive Schuldenberge für alle an.
Für wenige, nämlich für 10 Prozent der Studierenden
- davon war ja schon die Rede -, soll es jedoch ein Stipendienprogramm geben. Erst habe ich gedacht: Das
klingt ja gar nicht schlecht. - Dann habe ich gehört, wen
das betrifft. Das soll nur die Besten der Besten betreffen.
Großartig!
({8})
Wenn wir uns in der Praxis umschauen, dann stellen wir
fest, dass genau jene kompakt studieren können, die
eben nicht nebenbei jobben müssen und die nicht aus Familien kommen, die sich das nicht leisten können,
({9})
und das, liebe Koalition, sind eben wieder Studierende
aus einkommensschwächeren Elternhäusern.
Letztlich will die Koalition offensichtlich auch Anreize dafür setzen, dass jeder seine Bildung selbst bezahlt. Sie nennen das jetzt „privates Bildungssparen“.
Das ist ein richtig schönes Zauberwort. Ich nenne das
„Bildungsriestern“. Den Familien wird eine Sockelsumme als Anschubfinanzierung geboten; Frau Ziegler
hat das schon erwähnt.
Auch hier stellt sich aus meiner konkreten Erfahrung
in meiner Stadt heraus die Frage: Können sich die Elternhäuser das denn überhaupt leisten? Die meisten in
meiner Stadt können sich das nämlich gar nicht leisten,
und sie rechnen mittlerweile auch gar nicht mehr damit,
dass ihre Kinder studieren können. Sie sind ja beispielsweise als Alleinerziehende, als Hartz-IV-Empfängerin,
als Aufstockerin faktisch nicht in der Lage, dieses Geld
aufzubringen. Frau Schavan, Sie haben vorhin gesagt,
kein Kind solle verloren gehen. Wenn man sich den Koalitionsvertrag anschaut, dann erkennt man: Das ist ein
Titel ohne Handlung.
({10})
91 Prozent der Eltern haben sich im Sommer laut
Umfrage für ein einheitliches Bildungssystem ausgesprochen. Statt nun eine weitere Bildungsprivatisierung
durchzuführen und Ihre schönen föderal-bürokratischen
Blüten treiben zu lassen, sollte endlich der Ansatz gepflegt werden, ein integrierendes Bildungssystem aus
einem Guss zu erarbeiten und gemeinsam mit den Ländern zu vereinbaren. Dann hätten nämlich endlich auch
Kinder aus sogenannten bildungsferneren Familien eine
Chance auf gute Abschlüsse.
Meine Damen und Herren, ich habe diese beiden Bereiche herausgegriffen, weil sie ganz konkrete Beispiele
dafür sind, wie Sie Kinder und Jugendliche aus ärmeren
Schichten abkoppeln und von Lebensperspektiven abschneiden. Das ist tätige Elitenpflege einer christlichliberalen Koalition.
({11})
Wo es um Bildung geht, darf es nicht Stände geben.
Das sagte Konfuzius bereits um 500 vor Christus.
Übersetzt in die Moderne heißt das: Bildung ist ein
Recht für jedermann oder jede Frau. Wie lange soll es eigentlich noch dauern, bis das Bildungssystem in diesem
Land vom Kopf auf die Füße gestellt wird, bis Bildungsangebote in der gesamten Breite nicht mehr vom sozialen Hintergrund abhängig sind? Wie viele Bildungsstreiks müssen denn noch stattfinden? Der nächste Streik
fängt am 17. November an. Der Koalitionsvertrag bietet
jedenfalls keine Antwort auf die Proteste und die Fragen
der Studierenden.
({12})
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
unter dem Titel „Die Amtszeit Schavans aus der Sicht
der Betroffenen“ - ich hätte „Ministerin“ gesagt, aber so
stand es in dem Artikel - schrieb der promovierende
Sprachwissenschaftler Friedemann Vogel von der Uni
Heidelberg:
Die Studenten protestieren inzwischen auf der
Straße für eine breite, auf die Förderung individueller Urteilsfähigkeit hin orientierte Bildung. Allerdings fehlt in einigen Bundesländern selbst die
Möglichkeit, die Erfahrungen der Studierenden
durch verfasste Mitbestimmungsrechte einbringen
zu können. Es ist höchste Zeit, dass sich die Bildungspolitiker mit der Kritik von Lehrenden und
Lernenden sowie den Problemen vor Ort auseinandersetzen, anstatt von hohen Gipfeln und Kongressen zu lamentieren oder sich hinter der Finanzpolitik zu verstecken.
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Danke schön.
({13})
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
spricht nun die Kollegin Krista Sager.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben hier heute eine Bildungsministerin, deren Selbstzufriedenheit ausschließlich darauf beruht, dass sie nicht
über den Tellerrand gucken kann. Wenn sie nämlich einmal über den Rand hinüberschauen würde, hätte sie
längst entdeckt, dass die schwarz-gelbe Steuer- und
Klientelpolitik der von ihr ausgerufenen Bildungsrepublik die finanzielle Grundlage völlig entzieht.
({0})
Sie freuen sich hier darüber, dass die See im Auge des
Orkans so ruhig ist. Ihre Kolleginnen und Kollegen
draußen im Lande, die Bildungspolitiker in Ländern und
Gemeinden, aber kämpfen mit allerschwerstem Wetter.
Und was machen Sie? Sie ziehen ihnen mit Ihrer Klientelpolitik den letzten Boden unter den Füßen weg.
({1})
Das Schlimme ist: Sie machen das auf Kosten der Bildungschancen von jungen Menschen und Kindern.
„Kampf gegen Bildungsarmut“ ist bei Ihnen eine bloße
Floskel.
({2})
In Ihrem Koalitionsvertrag findet sich hierfür kein einziges Instrument. Das ist eine große schwarz-gelbe Null.
({3})
Die Transfers im Bereich der Familienpolitik gehen
zielgenau an den armen Familien vorbei. Genauso geht
Ihre Bildungspolitik an den Schwachen vorbei.
({4})
Kinder brauchen in allererster Linie gute, frei zugängliche Bildungsinstitutionen und eine gute Bildungsinfrastruktur. In diesem Bereich haben Sie sich nichts vorgenommen: keinen weiteren Ausbau der ganztägigen
Frühförderung und keine Einräumung eines gesetzlichen
Anspruchs darauf. Im Gegenteil: Eltern, die ihre Kinder
von der Frühförderung fernhalten, sollen dafür eine Prämie bekommen. Wenn Eltern ihr Kind im Alter von zwei
Jahren zur Frühförderung schicken, wird ihnen zur
Strafe das Geld vorenthalten. Was sagt die Bildungsministerin dazu? Es herrscht Schweigen im Walde.
({5})
Hier geschieht großer bildungspolitischer Irrsinn,
aber sie duckt sich einfach weg. Wenn Sie das Geld für
die Prämie in die Frühförderung stecken würden,
müssten Sie nicht hinterher, kurz bevor die Kinder in die
Schule gehen, Reparaturmaßnahmen im Bereich der
Sprachförderung vornehmen. Das, was Sie hier machen,
stimmt doch hinten und vorne nicht.
({6})
Das Wort „Ganztagsschulen“ kommt im Bildungsteil
Ihres Koalitionsvertrages überhaupt nicht vor. Wir wissen, dass das Ganztagsschulprogramm des Bundes ausläuft. Sie bekennen sich zum Kooperationsverbot. Da
geschieht also nichts. Mit Ihrer Steuerpolitik geben Sie
den Ländern zudem keine Möglichkeit, hier eigene Akzente zu setzen. Das alles stört die Bildungspolitikerin
Schavan aber nicht.
Offensichtlich sollen Startkonten, Gutscheine und
einseitige Transfers jetzt das Allheilmittel sein. Es ist offenkundig, dass Sie hier auf Anreize für kommerzielle
Bildungsmärkte zielen, auf denen sich am ehesten die
einkommensstärkeren Familien bewegen können. Startkonten sind weder ein Ersatz für gute Bildungsinstitutionen noch ein Ersatz für ein echtes Erwachsenenbildungsförderungsgesetz, das endlich einmal denjenigen eine
Chance geben würde, die schlecht qualifiziert sind und
bessere Zukunftschancen brauchen.
({7})
Für die berufliche Bildung und die Weiterbildung gehen von Ihrem Koalitionsvertrag keinerlei neue Impulse
aus. Damit setzen Sie offenbar auf die Fortsetzung Ihrer
bisherigen unzulänglichen Politik. Gerade in der Krise
müsste es doch darum gehen, das Ausbildungssystem
endlich konjunkturunabhängig zu machen und die unsinnigen Warteschleifen in einem teuren Übergangssystem
endlich abzuschaffen. Aber da herrschen bei Ihnen totale
Ideenlosigkeit und ein hilfloses Weiter-so.
({8})
Auch in der Hochschulpolitik setzen Sie falsche Prioritäten. Der Hochschulpakt ist nach wie vor unterfinanziert. Durch die Mitfinanzierungsprobleme der Länder
steht er auch noch auf tönernen Füßen. Deswegen sagen
Sie schon gar nichts mehr zur Studierendenquote. Denn
Sie haben sich längst damit abgefunden, dass es die Studienplätze, die wir brauchen, gar nicht geben wird. Das
ist doch das Traurige.
Stattdessen wollen Sie jetzt ein Stipendienprogramm
für Begabte auflegen. Damit erreichen Sie diejenigen, die
sowieso studieren. Aber für die Menschen, für die der
Weg an eine Hochschule mit einem selektiven Hürdenlauf
durch das ganze System verbunden ist, tun Sie gar nichts;
denn für die ist dann kein Geld mehr da.
({9})
Von den 3 Milliarden Euro, die Sie jährlich mehr haben, geht der überwiegende Teil in den Hochschulpakt,
in die Exzellenzinitiative und in den Pakt für Forschung
und Innovation. Doch: Selbst diese Vorhaben sind durch
Ihre Klientelpolitik akut gefährdet. Fünf Regierungschefs haben schon im Sommer erklärt, dass sie die Mitfinanzierung nur dann leisten können, wenn es Steuermehreinnahmen gibt. Jetzt hauen Sie denen durch Ihre
Politik noch mehr Einnahmen weg. Glauben Sie im
Ernst, dass die Länder, die bei den Schulen und Kindergärten kaum den Status quo erhalten können, Ihnen
5 Prozent Aufwuchs bei den Forschungsorganisationen
mitfinanzieren? Glauben Sie im Ernst, dass die Länder,
die vor ihren eigenen Hochschulen und Universitäten
mit leeren Händen dastehen, ihr letztes Hemd hergeben,
um Ihr Begabtenstipendienprogramm zu finanzieren?
({10})
Ich kann nicht begreifen, Frau Schavan, wie jemand,
der aus der Landespolitik kommt, so blauäugig sein und
die Tatsachen so verkennen kann.
({11})
Ihre eigenen schwarzen Landeskapitäne kämpfen noch
mit der hohen See der Krise. Dann kommen Sie mit Ihrer
Klientelpolitik und schießen denen zusätzlich ein großes
Leck ins Schiff.
({12})
Jetzt glauben Sie, dass die mit Lobeshymnen auf
Schwarz-Gelb tapfer untergehen. Aber kurz bevor sie
absaufen, sollen sie Ihnen noch den letzten Bordproviant
zuwerfen. Wer soll denn das glauben?
({13})
Wulff, Carstensen, Koch und von Beust haben doch
alle einen gesunden Selbsterhaltungstrieb. Das sind doch
keine japanischen Samurais, die sich für Glanz und Gloria
einer Bundesbildungsministerin freiwillig ins Schwert
stürzen.
({14})
In welcher Welt leben Sie denn? Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag chaotische Vorstellungen von der zukünftigen Ausgestaltung der Bund-Länder-Beziehungen. Dagegen war das verfassungsrechtliche Verfahren der BundLänder-Kooperation in früheren Zeiten solide, geordnet
und transparent. Glauben Sie im Ernst, irgendeine Gemeinde ist beeindruckt, wenn Sie sozusagen mit dem erhobenen Zeigefinger der Bundesbildungsgouvernante
ankommen und sich beschweren, dass die von Ihnen
weitergebildeten Erzieherinnen von denen nun nicht eingestellt werden, weil sie kein Geld mehr dafür haben?
Das glauben Sie doch selber nicht.
({15})
Vielleicht noch eines zu dem Einfluss der FDP: Wenn
man den Koalitionsvertrag liest, dann hat man geradezu
den Eindruck, dass Risikobewertung und Technikfolgenabschätzung jetzt durch schwarz-gelben Frohsinn ersetzt
werden sollen.
({16})
Es ist eigentlich Common Sense, dass die Risikobewertung zur Forschung dazugehört. Wohin ein solcher Frohsinn führt, können wir noch heute im Forschungslager
Asse bewundern.
Ich komme zum Schluss. Sie setzen die falschen Prioritäten. Sie verschärfen die Probleme der Unterfinanzierung. Sie bekämpfen nicht die Bildungsarmut, sondern
steigern die Bildungsspaltung. Sie sind völlig ignorant
gegenüber den Problemen in den Ländern und Gemeinden. Sie werden es nicht nur mit der Opposition im Bundestag zu tun haben, sondern auch ganz harten Wind von
vorne von allen Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitikern in dieser Republik bekommen. Das kann ich
Ihnen schon heute versprechen.
({17})
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
finde, der Gedanke der Bildungsrepublik ist in unserem
Koalitionsvertrag wirklich mit Leben erfüllt worden.
({0})
Sehr viele konkrete Punkte sind beschrieben. Liebe Frau
Kollegin Sager, man darf bei allem Schimpfen das Denken nicht vergessen. Wie Sie uns gerade unterhalten haben, war durchaus amüsant, aber an der Sache vorbei.
({1})
Wir setzen in finanziell schwierigen Zeiten einen klaren Schwerpunkt auf Bildung und Forschung. Dahinter
steckt die Strategie, Deutschland international wettbewerbsfähig zu halten, Wachstum zu erzeugen und Wohlstand für unser Land zu generieren. Wir können Wohlstand nicht mit niedrigen Löhnen, sondern nur mit der
guten Qualität unserer Produkte im internationalen Wettbewerb erhalten und ausbauen. Wir wollen der Welt unsere Innovationen verkaufen. Deswegen fördern wir Forschung und Entwicklung in einem ganz erheblichen
Maß.
({2})
Wir haben vor vier Jahren mit Bundeskanzlerin
Angela Merkel und Bundesforschungsministerin Annette
Schavan damit begonnen und haben seitdem kontinuierlich die Ausgaben für Bildung und Forschung gesteigert.
Das Volumen des Haushalts des BMBF ist um sage und
schreibe 36 Prozent gestiegen und beträgt heute über
10 Milliarden Euro. Das ist ein tolles Signal, und das
wird in den nächsten Jahren so weitergehen.
({3})
Die Bildungs- und Forschungslandschaft hat nach
Jahren von Rot-Grün, in denen gekürzt wurde, die Haus246
halte also nicht aufgewachsen sind und es große Sorgen
gab, deutlich an Auftrieb gewonnen.
({4})
Wir werden trotz der aktuellen Wirtschaftskrise und gerade deshalb an diesem Weg festhalten. Mit den Bundesländern haben wir vereinbart, 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung auszugeben.
Es war nicht einfach, diesen nationalen Pakt zu erreichen. Voraussetzung war, dass man mit den Ländern redet und sie ernst nimmt. Das ist ein großer Unterschied
zur ehemaligen Bundesforschungsministerin Edelgard
Bulmahn, die immer mit dem Kopf durch die Wand
wollte und den Protest der Länder hervorgerufen hat.
Nein, wir gehen einen anderen Weg. Wir setzen auf Kooperation und Zusammenarbeit. Wir sind dabei sehr erfolgreich und werden das in den nächsten Jahren fortsetzen. 12 Milliarden Euro mehr vom Bund für Bildung
und Forschung bis 2013 ist eine klare Ansage.
Man kann sich schmollend in die Ecke stellen und immer nur schimpfen. Man kann aber auch mitmachen. Ich
kann nur dazu aufrufen, mitzutun. Der Wahlkampf ist
vorbei. Die Ideen, die wir in unseren Koalitionsvertrag
geschrieben haben, gilt es jetzt mit Leben zu erfüllen.
Dabei sind alle eingeladen, die guten Willens sind.
({5})
Wir stehen für Chancengerechtigkeit, Durchlässigkeit
und Aufstiegsmöglichkeiten. Ich glaube, dass jeder, der
ernsthaft und guten Willens unseren Koalitionsvertrag
liest, auch erkennt, wie das möglich ist. Wir haben klar
Position zur frühkindlichen Bildung bezogen. Jedes
Kind, das eingeschult wird, muss Deutsch können. Ansonsten kann es dem Unterricht nicht vernünftig folgen.
Das ist noch immer keine Selbstverständlichkeit, erst
recht nicht im Land Berlin, wo Rot-Rot regiert; da ist das
am wenigsten der Fall. Dass wir, der Bund, uns gezwungen sehen, hier einzugreifen, ist zuallererst ein Armutszeugnis für die Bildungspolitik in diesem Land, für die
Rot-Rot seit vielen Jahren Verantwortung trägt.
({6})
Die Probleme sind beschrieben. Es wird im Jahr 2010
100 000 Schulabgänger weniger geben als 2006.
Deswegen sind wir in der Pflicht, und es ist eine
große Herausforderung, mehr aus den vorhandenen jungen Leuten zu machen. Keiner soll auf der Strecke bleiben. Wir haben das als ein klares Ziel für uns formuliert.
Stichwort Bildungssparen. Frau Kollegin Sitte, ich
möchte nicht, dass Sie die neuen Bundesländer für das in
Mithaftung nehmen, was Sie heute gesagt haben; denn
es stimmt nicht. Auch ich komme aus Ostdeutschland,
und ich habe eine andere Wahrnehmung. Dort gibt es
Leute, die wollen und auch können. Das hat überhaupt
nichts mit dem Einkommen zu tun. Gerade das Bildungssparen mit zunächst einmal 150 Euro als Anreiz
und später weiteren Prämien ist ein Signal an diejenigen,
die aus bildungsferneren Schichten kommen. Wir wollen
den Aufstieg durch Bildung. Dieser Koalitionsvertrag ist
eine klare Ansage an alle, da mitzutun.
({7})
275 000 neue Studienplätze, ein Hochschulpakt mit
den Ländern, vereinbart über die nächsten Jahre und mit
sehr viel Geld, einem mehrstelligen Milliardenbetrag,
ausgestattet - das muss man in diesen Zeiten erst einmal
durchsetzen. Wir haben es getan. Wir gehen mit dem Stipendienprogramm einen weiteren Schritt. Ich finde es
richtig, dass wir die Wirtschaft, die Unternehmen mit in
die Pflicht nehmen, dass wir die Länder einladen, mitzutun. Wir wollen denjenigen ein Stipendium geben, die
gute Leistungen erbringen, egal aus welchen sozialen
Schichten sie kommen.
({8})
Wir wollen, dass eine Stipendienkultur in diesem Land
entsteht.
({9})
Wie lange reden wir schon darüber, dass es in Deutschland keine Stipendienkultur gibt? Es gab verschiedenste
Ansätze. Ich glaube, mit diesem neuen Modell, mit dem
wir 10 Prozent aller Studierenden erreichen wollen - das
ist eine klare Ansage -, werden wir eine Stipendienkultur in Deutschland erzeugen. Auch da kann ich nur sagen: Machen Sie mit, und stehen Sie nicht abseits!
({10})
Ich möchte auch etwas zum Thema Bologna sagen.
Ich fand es gut und richtig, dass die Bundesforschungsministerin die Sorgen der jungen Leute ernst genommen
hat, sie eingeladen hat und mit ihnen ins Gespräch gekommen ist. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, für
eine hohe Qualität in der Lehre zu sorgen. Wenn Änderungen am Bologna-Prozess notwendig sind, dann müssen sie erfolgen. Ich finde es positiv, wie gerade die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit dem Stifterverband
für die Deutsche Wissenschaft einen Wettbewerb für die
bessere Lehre ausgelobt hat. Wir setzen auch in dem
nächsten Hochschulpakt einen Schwerpunkt auf eine exzellente Lehre im Rahmen der Exzellenzinitiative.
Wichtig ist die Zusammenarbeit von Forschung und
Wissenschaft. Wir werden die Hightech-Strategie mit
Schwerpunkten auf Klimaschutz, Energie, Gesundheit
und Mobilität fortsetzen und konzentrieren uns zudem
auf die Förderung von Schlüsseltechnologien. Wir wollen, dass der Bewerbungs- und der Verwaltungsaufwand
bei den Förderverfahren kritisch untersucht wird. Wir
wollen auch dort weniger Bürokratie für die Unternehmen und für die Wissenschaftler, die sich um Forschungsgelder bewerben, und wir wollen insgesamt die
bürokratischen Fesseln in den Forschungseinrichtungen
lockern. Dazu gab es bereits die Initiative „Wissenschaftsfreiheit“. Wir wollen sie in Zukunft mit einem
Wissenschaftsfreiheitsgesetz neu aufgreifen.
({11})
Ich glaube, es ist das Gebot der Stunde, mehr aus dem
vorhandenen Geld zu machen.
({12})
Die CDU/CSU steht dafür ein, dass neue Technologien sicher gemacht werden. Das gilt für die Nanotechnologie genauso wie für die Bio- und Gentechnologie.
Das ist ein anderer Ansatz als die Verhinderungspolitik
von Rot-Grün. Nein, wir dürfen keine Angst haben,
({13})
sondern müssen klug und mutig vorangehen. Wir brauchen neue Technologien. Deutschland kann nur mit
neuen Technologien seinen Wohlstand halten.
({14})
Ich kann zum Abschluss nur noch einmal sagen: Machen Sie mit! 12 Milliarden Euro sind eine ganze Menge
Geld. Viele Chancen liegen darin, die es gemeinsam zu
nutzen gilt.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat der Kollege Ernst Dieter Rossmann für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts der großen Ansprüche meine ich: Da muss
dann auch geliefert werden. So wie ich es sehe, Frau
Sitte, Frau Sager, wird das eine fröhliche Opposition.
({0})
Erstens. Um es auf den Punkt zu bringen: Den Irrtum,
den Sie mit dem Kooperationsverbot begangen haben,
toppen Sie jetzt noch mit der Finanzierungsfalle für die
Länder.
({1})
Um es ganz klar zu sagen - für alle, die das vielleicht
nicht wissen -: Bildung wird zu 8,5 Prozent vom Bund
und zu über 50 Prozent von den Ländern finanziert. Wer
jetzt nahelegt, die Gesamtausgaben für den Bildungsbereich auf 7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern, der erwartet von den Ländern, dass sie 15 Milliarden Euro mehr finanzieren. Gleichzeitig sollen den
Ländern 15 Milliarden Euro genommen werden. Diese
30-Milliarden-Euro-Lücke wird Sie verfolgen.
({2})
Deshalb kann ich nur sagen: Sie erwartet eine fröhliche
Opposition.
Hoffentlich trägt unser Streit dazu bei, dass Sie noch
die Einsicht gewinnen, dass man mit einer 30-MiliardenEuro-Lücke keinen Bildungsaufbau betreiben kann. Das
werden Ihnen die Ministerpräsidenten schon im Dezember sagen. Frau Schavan, wir wollen sehen, mit welchem
Ergebnis Sie von dieser Zusammenkunft zurückkehren.
Zweitens. Frau Schavan, Sie begehen den Irrtum, sich
mit der Bildungsförderung an die Spendenbereitschaft
von Firmen zu wenden. Frau Sager, aus Gründen der
Frauensolidarität haben Sie sich gefragt: Wie konnte
sich Frau Schavan eigentlich darauf einlassen? Ich
glaube, sie wollte sich gar nicht darauf einlassen, sondern sie musste sich darauf einlassen. Nur, Frau
Schavan, „200 000 bis 2013“, das ist jetzt Ihr Projekt;
Sie müssen liefern. Mal sehen, ob Sie liefern können. Ich
bin da nicht so sicher.
Wenn es so sein sollte, dass das BAföG erhalten
bleibt, dann kommen Sie gerne mit: Schüler-BAföG,
BAföG mit regelmäßiger Anpassung, Master-BAföG,
Meister-BAföG. Das ist tatsächlich ein Sozialstipendium. In Bezug auf das andere: Wir werden sehen, ob
Sie dort wirklich liefern können.
Drittens. Herr Kretschmer, ich will ausdrücklich auf
einen Unterschied eingehen, was das Bildungssparen
angeht. Ja, auch in der Großen Koalition haben wir Erwachsenen ein Angebot zum Bildungssparen hinsichtlich der Weiterbildung gemacht. Aber es ist ein fundamentaler Unterschied, die Bildungschancen von Kindern
daran zu knüpfen, dass ihre Eltern für ihren Bildungsweg gespart haben.
({3})
Jetzt wird nahegelegt, dass Eltern darüber entscheiden
sollen, ob für ihre Kinder ein Bildungskonto angelegt
wird. Es ist gut, wenn sie es tun. Aber was ist mit dem
Bildungsrecht derjenigen Kinder, deren Eltern es nicht
tun? Herr Trittin hat gestern gesagt: Man kann die Frage
von Gerechtigkeit aus der Sicht des Bourgeois oder des
Citoyen betrachten. Ihre Sicht ist die des Bourgeois.
({4})
Das Recht auf Bildung ist nicht an materielle Voraussetzungen gebunden; vielmehr ist es ein Menschenrecht:
Jeder Mensch muss eine erste, eine zweite, eine dritte
Chance haben, Bildung zu erwerben.
Dieses Recht ist auch daran gebunden, dass die Institutionen stark gemacht werden. Ich finde, der bessere
Ansatz ist, Kindertagesstätten zu Eltern-Kind-Zentren
auszubauen.
({5})
Weshalb steht hier eigentlich „Kindertagesstätten als
Haus der Forscher“ und nicht „Kindertagesstätten als Eltern-Kind-Zentren“? Frau von der Leyen, ich glaube,
auch Ihnen wäre es wichtig, wenn aus der Bildungseinrichtung Kindertagesstätte qualitativ richtig gute ElternKind-Zentren würden.
Stichwort „Institution stärken“. Die Institution Schule
sollte über Schulsozialarbeit gestärkt werden und nicht
über Bildungsschecks, da diese nicht zu einem gemeinsamen Lernen ganz vieler in einer gemeinsamen Schule
führen. Als Sie noch mit uns in einer Koalition waren,
waren Sie da weiter.
Recht auf Bildung heißt, mit modernsten Berufsbildungseinrichtungen dafür zu sorgen, dass Menschen
ohne Ausbildung eine zweite oder dritte Chance bekommen, eine Ausbildung zu machen. Ich will gern anerkennen, dass bei Ihnen von modernsten beruflichen Bildungseinrichtungen die Rede ist; für diese Einrichtungen
wollen Sie auch Investitionen tätigen. Hoffen wir, dass
Sie Ihr Vorhaben umsetzen.
Recht auf Bildung heißt auch, Priorität auf Weiterbildungsberatung und Weiterbildungsnetzwerke und natürlich auf ein echtes Hochschulpaket, also auf ein gutes
Studium. Da haben wir einen Konsens. Frau Sager, Frau
Sitte, wir wollen sehen, wie wir Koalition und Regierung
treiben können und wie wir sie dazu bringen können,
dass sie liefern. Ich betone: Was geschrieben steht, liest
sich gut; aber sie müssen liefern.
Da sehr viel Geld in die Forschung fließen soll, will
ich an dieser Stelle zwei weitere Themen ansprechen.
Die Verknüpfung von Bildung und Forschung ist das,
was nachhaltiges Wachstum, qualitatives Wachstum eigentlich ausmacht. Zur Forschungsförderung gehören
gute Universitäten, gute außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und eine gute öffentlich verantwortete
Programmförderung. Außerdem gehört dazu, dass die
Wirtschaft in die Lage versetzt wird, die Märkte von
morgen zu entwickeln und sich forschungsmäßig daran
zu orientieren.
An der Stelle haben wir eine Frage an Sie. Im Koalitionsvertrag steht im Zusammenhang mit den Instrumenten der Hightech-Strategie, dass Sie prüfen wollen, ob
Sie die Forschung von kleinen und mittleren Unternehmen steuerlich fördern. Das ist ja etwas, was Sozialdemokraten und andere mit in die Diskussion gebracht haben. Es stand zum Beispiel auch im Wahlprogramm von
Frank-Walter Steinmeier: Hier waren „tax credits“ in
Höhe von 8 Prozent bei einer Deckelung von 1,5 Millionen Euro pro Unternehmen vorgesehen. Aber was ist
jetzt eigentlich passiert? Sie wollen prüfen, aber Herr
Keitel vom BDI sagt schon jetzt, es könne nicht angehen, dass es diese Förderung nur für kleine und mittlere
Unternehmen gibt, sondern sie müsse für alle gelten. Darin begründet sich der Unterschied von 1,5 Milliarden
und 4 Milliarden Euro im Umfang der Förderung.
({6})
Frau Schavan, wo stehen Sie? Sind Sie bei den
4 Milliarden oder bei den 1,5 Milliarden? Wollen Sie,
dass es Mitnahmeeffekte gibt, oder wollen Sie, dass sich
die Förderung wirklich auf die kleinen und mittleren Unternehmen konzentriert, die die größte Wertschöpfung
haben, nämlich circa 50 Prozent, von denen aber nur
15 Prozent der Unternehmen Forschungsmittel erhalten?
Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass Großunternehmen 5 Prozent in die Forschung investieren
können, kleine und mittelständische Unternehmen aber
nur 3 Prozent, dann ist doch evident, an welcher Stelle
die Mittel konzentriert werden müssen. Das ist besser,
als die Mittel zu zerstreuen.
Wir von der sozialdemokratischen Seite aus appellieren ausdrücklich an Sie - ich vermute, das wird auch von
Ihnen so geteilt -: Bleiben Sie dabei, die Forschungsförderung auf kleine und mittlere Unternehmen zu konzentrieren.
({7})
Bleiben Sie dabei, ihnen den Zugang zu Venture Capital
zu ermöglichen. Bleiben Sie dabei, auch eine gute institutionelle Förderung und eine Programmförderung vorzusehen. Sonst bekommen Sie nämlich Schwierigkeiten
mit der Nachhaltigkeit des Forschungsförderungsprogramms; denn es könnte nicht mehr effizient umgesetzt
werden.
Ein zweiter Punkt bezüglich der Forschungsförderung: Wir teilen Ihre Einsicht, dass die Hightech-Strategie auf bestimmte, gesellschaftlich relevante Handlungsfelder konzentriert werden muss. Das sagen wir
ausdrücklich auch angesichts unserer globalen Verantwortung. Wir haben verinnerlicht, dass anstelle des
Grundsatzes „Global denken, lokal handeln“ jetzt gilt:
lokal forschen, um global handeln zu können. Das ist
nachhaltige globale Verantwortungspolitik; denn alles
hängt zusammen: Wenn man über Sicherheitsforschung
nachdenkt, muss man auch die Konflikt- und Friedensforschung mit einbeziehen und entsprechend fördern.
Wenn man über Mobilität und Gesundheit nachdenkt,
muss man auch die Auswirkungen von Demografie und
Migration mit erforschen. Wenn man über die Wertschöpfung von morgen nachdenkt, muss man auch humanitäre Aspekte von Arbeit und die Entwicklung von
der Dienstleistungs- zur modernen Forschungsgesellschaft in den Evaluierungsprozess einbeziehen. Wir haben die Sorge, dass Sie hier auf einem Auge etwas blind
sind. Zerstreuen Sie unsere Sorge. Wir unterstützen Sie
gerne dabei.
Eine letzte Bemerkung zum Bürgerdialog. Den Blick
auf den Dialog zwischen Forschung und Gesellschaft zu
richten, ist angesichts der Bildungs- und Wissensgesellschaft von morgen grundrichtig. Die Frage, wie das konkret geschehen soll, wird im Koalitionsvertrag mit der
Planung, zusammen mit der Wirtschaft ein „Haus der
Zukunft“ einzurichten, beantwortet. Wir meinen, der
Bürgerdialog muss mehr umfassen. Der Bürgerdialog
über Wissenschaft und Forschung bekommt dann einen
starken Kern, wenn dieser Bundestag zum Haus der Wissenschaft wird, wenn man in diesem Bundestag über
Wissenschaft, über Forschung, über Forschungsschwerpunkte und -strukturen mehr als bisher diskutiert. Wir
wollen Ihnen anbieten, dieses Parlament, dieses Haus
der Bürger in Zukunft zu einem Haus zu machen, in dem
auch über Forschungs- und Wissenschaftspolitik gestritten wird. Das nützt uns allen. Frei nach der Devise von
Hartmut von Hentig - das ist ein sozialdemokratischer
Lehrsatz -: Worauf kommt es an? Sachen klären, Menschen stärken - das ist unsere Mission.
Danke.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir uns an die richtigen Worte der Bundeskanzlerin in der Regierungserklärung erinnern oder
wenn wir uns die Aussagen unseres Koalitionsvertrages
anschauen, dann kommen einem vier wesentliche Botschaften in den Kopf, die ich an dieser Stelle hervorheben möchte:
Erstens. Diese Bundesregierung wird sich den rasant
wachsenden Herausforderungen des globalen Wettbewerbs stellen.
Zweitens. Sie wird die Leistungsfähigkeit des deutschen Wissenschaftssystems wahrnehmbar steigern.
Drittens wird sie dafür Sorge tragen, dass die deutsche Wirtschaft bei internationalen Entwicklungen wieder Schritt halten kann.
Viertens wird sie Deutschland für die besten Köpfe
der Welt wieder attraktiv machen.
({0})
Nicht von ungefähr beschreibt die neue Bundesregierung ihr innovationspolitisches Handeln mit folgendem
Satz:
Moderne Technologien sind keine Bedrohung, sondern Chance für Deutschland. Mit ihnen begegnen
wir den großen Herausforderungen der Menschheit
wie Hunger, Armut, Krankheit und Naturkatastrophen. Deutschlands Technologieführerschaft sichert
uns Teilhabe an großen Zukunftschancen, Beschäftigung und Ressourcen schonendem Wohlstand.
Kurz gesagt: Diese Bundesregierung wird einer neuen
Kultur für Wissenschaft und Innovation den Weg bereiten.
({1})
An dieser Stelle sage ich ganz deutlich: Wir müssen
mehr Freiheit wagen, und, meine Damen und Herren,
wir werden mehr Freiheit wagen. Aus diesem Grund
werden wir gemeinsam einen mutigen Schritt in die Zukunft machen und Ihnen den Entwurf eines Wissenschaftsfreiheitsgesetzes vorlegen.
({2})
Es ist ein Gesetz, das der Wissenschaft und der Wirtschaft
gleichermaßen die notwendige Luft zum Atmen gibt. Es
ist ein Gesetz, das Barrieren abbaut und das - drittens Forschung und Lehre wieder enger zusammenführt. Es ist
ein Gesetz, das Eigenverantwortung in der Wissenschaft
stärkt und Bürokratie abbaut.
({3})
Es ist ein Gesetz, das Grenzen für Fachkräfte öffnet und
bestehende Forschungsinfrastrukturen für alle zugänglich macht.
({4})
Sie haben das Kredo unseres Koalitionsvertrages vernommen: Angst schafft keine Zukunft.
({5})
Es war gerade die Angst der letzten Jahre, die sich wie
Mehltau über neue Forschungsfelder, neue Erfindungen
und Entdeckungen sowie über neue Technologien legte.
Egal, ob Grüne Biotechnologie, Stammzellenforschung,
kerntechnische Sicherheitsforschung oder Validierungsforschung: Diese Bundesregierung setzt wieder verantwortungsbewusst auf Chancen und schützt die Menschen dabei zugleich vor möglichen Risiken.
({6})
Deutschland braucht ein positives Forschungsklima,
frei von ideologischen Debatten. Die herrschende, oft
angstbesetzte Kultur des Risikos muss sich zu einer zukunftsorientierten Kultur der Chancen wandeln.
({7})
Diese Bundesregierung wird die Leistungsfähigkeit
des deutschen Wissenschaftssystems im internationalen
Wettbewerb stärken. Das heißt, wir wollen die Kooperationsmöglichkeiten zwischen Universitäten, außeruniversitären Forschungseinrichtungen und der Wirtschaft
erweitern und dabei die Eigenverantwortung der Wissenschaftler stärken. Wir wollen gemeinsam mit den
Ländern eine Landkarte der FuE-Infrastruktur zeichnen,
um Kooperationsverträge über die gegenseitige Nutzung
der FuE-Infrastruktur zu ermöglichen.
Die staatliche FuE-Förderung der Wirtschaft ist in
Deutschland über Jahre hinweg zurückgegangen. Sie ist
heute niedriger als in einem Großteil der OECD-Staaten,
die allerdings FuE-Projektförderung und steuerliche
FuE-Förderung als Eines betrachten. Eine verstärkte
FuE-Tätigkeit der Wirtschaft ist aber eine der Grundvoraussetzungen für eine Steigerung der Wertschöpfung.
({8})
Dr. Martin Neumann ({9})
Was Deutschland heute fehlt, ist eine gezielte steuerliche FuE-Förderung aller in Deutschland forschenden
Unternehmen.
({10})
Während die Zuschussförderung die Durchführung eines
Forschungsprojektes erst ermöglicht, schafft die steuerliche FuE-Förderung zusätzliche Liquiditätsspielräume
für Innovationsvorhaben. Daher wird auch diese Bundesregierung eine steuerliche Förderung anstreben, die
zusätzliche Forschungsimpulse in kleineren und mittleren Unternehmen sowie in großen in Deutschland forschenden Unternehmen auslöst.
Zum Abschluss wünsche ich Ihnen, sehr geehrte Frau
Ministerin, in Ihrem Amt alles Gute und eine glückliche
Hand für die richtigen Entscheidungen.
Ich bedanke mich.
({11})
Kollege Neumann, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen recht herzlich und
wünsche Ihnen Erfolg in Ihrer Arbeit.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege Albert
Rupprecht.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Regierung
hat den Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“. Bildungspolitik ist in den Mittelpunkt gerückt. Wir werden
für Forschung und Bildung insgesamt 12 Milliarden Euro mehr bereitstellen. Das ist mit Abstand der
größte Zuwachs, den ein Ressort überhaupt zu verzeichnen hat. Das ist eine ganz klare Prioritätensetzung für
Bildung und Forschung.
({0})
Es geht dabei um weit mehr als um Finanzmittel. Wir
verstehen den Bildungsbegriff im Sinne des christlichen
Menschenbildes. Das heißt, der Mensch ist als Ebenbild
Gottes zur Freiheit berufen. Bildung ist die Voraussetzung für innere und äußere Freiheit. Bildung schafft
geistige Selbstständigkeit und Urteilsvermögen. Deshalb
ist Bildung auch eine Voraussetzung für die Wahrnehmung demokratischer Rechte und Pflichten.
Ein hoher Bildungsstand sichert nicht nur Wohlstand
und Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch unsere freiheitliche Grundordnung als solche. Deswegen ist es gut,
dass wir über Bildungspolitik leidenschaftlich streiten
und diskutieren. Das Ringen um die beste Bildung für
unsere Kinder ist den politischen Wettstreit wert.
Bildung hat auch aus Sicht der Bevölkerung höchste
Priorität. Die Bildungsrepublik Deutschland ist an den
Küchentischen der deutschen Familien längst angekommen. Die Eltern stellen viele Fragen. Es ist unsere Aufgabe, auch Antworten und Orientierungen zu geben. Es
gehört trotz aller Mängel dazu, ein realistisches Bild zu
zeichnen. Die Mühen der letzten Jahrzehnte haben sich
gelohnt. Nie zuvor war der Bildungsstand in Deutschland höher als heute. Auch das gehört zur Wahrheit, und
auch das sollten wir den Eltern sagen, die Angst um die
Zukunft ihrer Kinder haben.
Nur 3 Prozent der Erwachsenen haben keinen Schulabschluss. In Schweden sind es 6 Prozent, in Finnland
sind es 10 Prozent und in Frankreich 14 Prozent. Immerhin haben 83 Prozent der Erwachsenen einen Berufsabschluss - Tendenz steigend. Im EU-Schnitt sind es nur
69 Prozent. Nie zuvor gab es mehr Akademiker in
Deutschland als heute. 309 000 junge Menschen haben
2008 ihr Studium abgeschlossen. Das ist die Hälfte mehr
als im Jahr 2002. Fast 40 Prozent der Schulabsolventen
haben 2008 ein Studium aufgenommen. Das ist ein Drittel mehr als 1998. Nirgends auf der Welt gibt es mehr
Höchstqualifizierte als in Deutschland. 2,6 Promotionen
kommen auf 1 000 Erwachsene. Im EU-Schnitt sind das
lediglich 1,4. In den USA sind es nur 1,3.
Das sollte uns durchaus mit Stolz erfüllen und uns
motivieren, engagiert weiterzustreiten: streiten über das
richtige Wertefundament, streiten über die richtigen
Leitbilder und Instrumente, aber immer in dem Wissen,
dass in einer vernetzten und komplexen Gesellschaft
Dogmatismus nicht weiterhilft.
({1})
Neben den Erfolgen der Vergangenheit gibt es natürlich große aktuelle Herausforderungen, die es vor
20 Jahren in der Art nicht gab: Globalisierung, Demografie und Migration.
Zum Ersten: Schon heute fehlen jährlich 15 000 Ingenieure und Naturwissenschaftler. Ohne Ingenieure werden wir den Wohlstand in Deutschland im globalen
Wettbewerb nicht sichern können. Es geht ganz klar um
einen Wettstreit um die besten Köpfe. Wir wollen, dass
die besten Köpfe nicht in Zürich, Harvard und in Oxford,
sondern in Aachen, Karlsruhe und in München studieren.
({2})
Deswegen werden wir die Attraktivität Deutschlands für
Hochqualifizierte steigern. Deswegen werden wir die
technischen Fächer stärken und Hochbegabungen früher
fördern, und das auch im Rahmen eines nationalen Stipendiensystems unter Beteiligung - ich meine, das ist
richtig - der Wirtschaft.
Zum Zweiten, zur Demografie. 2010 gibt es 100 000
Schulabgänger weniger als 2006. Trotz Krise bleiben
2009 17 000 Lehrstellen in Deutschland unbesetzt. In
den nächsten 40 Jahren steigt der Altersdurchschnitt der
Deutschen um zehn Jahre. Die Betriebe werden händeringend auf ältere Arbeitnehmer angewiesen sein. Viele
Senioren werden rüstig sein. Deswegen sind starre Altersgrenzen in Zukunft kaum mehr zu begründen.
Zum Dritten. 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland. Das ist mehr
Albert Rupprecht ({3})
als ein Fünftel der deutschen Bevölkerung. Viele sind
zum Glück gut integriert. Trotzdem beträgt der Anteil
der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund und
ohne qualifizierten Berufsabschluss 41 Prozent im Vergleich zu einem Anteil von 15 Prozent, wenn man die
gesamte Bevölkerungsgruppe berücksichtigt.
Ich glaube, hier ist etwas massiv falsch gelaufen. Es
kann nicht sein, dass die zweite oder dritte Generation
schlechter integriert ist als die erste. Deswegen ist es
zwingend, dass künftig jedes Kind vor Schuleintritt die
deutsche Sprache beherrscht.
({4})
Wer in der Schule nichts versteht, verliert schnell den
Anschluss und das Interesse. Es muss daher für alle Kinder im Alter von vier Jahren Sprachstandserhebungen
und bei Bedarf verpflichtenden Sprachförderunterricht
geben. Zudem werden wir benachteiligten Kindern mit
Bildungsschecks beistehen - vor allem in den Klassen
vier bis sechs als unterrichtsbegleitende Förderung.
Dies und vieles mehr werden wir tun, um die Bildung
der Menschen in Deutschland voranzubringen und
Deutschlands Zukunft zu sichern. Hierzu begründen wir
eine Bildungspartnerschaft zwischen Bund, Ländern
und Kommunen. Wir erhöhen die Ausgaben des Bundes
für Bildung und Forschung um insgesamt 12 Milliarden
Euro bis 2013, und wir werden bis 2015 gesamtstaatlich
10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und
Forschung aufwenden. Von Beginn der Amtszeit der Ministerin Schavan im Jahre 2005 bis zum Ende dieser Legislatur wird sich der Etat des Bildungs- und Forschungsministeriums insgesamt verdoppeln. Ich glaube, das ist
eine außerordentlich klare Prioritätensetzung zugunsten
von Bildung und Forschung.
({5})
Es ist zwingend und muss uns gemeinsam gelingen,
Deutschland zur Bildungsrepublik zu machen. Wir brauchen eines der besten Bildungssysteme der Welt, wenn
wir gesellschaftlichen Zusammenhalt, Wohlstand und
soziale Sicherheit in Deutschland bewahren wollen.
Herzlichen Dank.
({6})
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zu den Themenbereichen Familie,
Senioren, Frauen und Jugend. Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Ursula von der Leyen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Politik
für Familien ist Politik für die Zukunft. Wer die Zukunft
gewinnen will, muss bereit sein, neue Wege zu gehen
und neue Akzente zu setzen. Wir haben in den vergangenen Jahren eine gute Grundlage für eine neue, moderne
und nachhaltige Familienpolitik gelegt. Wir haben es geschafft, einen breiten gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Wir haben es geschafft, dass eine moderne Familienpolitik ein kluger Mix aus Zeit, Infrastruktur und
Geld ist und nicht nur ein einzelnes Teil zählt. Familienpolitik ist vom Rand in die Mitte der gesellschaftlichen
Diskussionen gerückt. Das ist wichtig gewesen, um hier
eine solide Grundlage zu haben.
Stellvertretend dafür stehen Themen wie zum Beispiel das Elterngeld und neue Chancen für Väter - beides sind Themen, die wir weiterentwickeln werden -,
der Ausbau der Kinderbetreuung, Mehrgenerationenhäuser, Freiwilligendienste aller Generationen, frühe Hilfen
am Lebensanfang bis hin zu Demenzbegleitern am Lebensende. Wir sind erst am Anfang des Weges. Es ist
noch eine große Strecke zu gehen. Aber es ist durch die
breite Übereinstimmung, was die Richtung, in die wir
uns bewegen wollen, angeht, gelungen, dass wir jetzt
mehr in die Tiefe sehen können und vor allen Dingen
sensibler und aufmerksamer für die Brüche im Lebensverlauf werden können.
Was bedeutet es, wenn Kinder in Armut aufwachsen?
Was bedeutet es für Jugendliche, wenn sie in der Pubertät den Einstieg aus der Schule oder aus der Ausbildung
in den Beruf nicht schaffen? Was bedeutet es für Frauen
im Hinblick auf Aufstiegs- und Erwerbschancen, wenn
sie an die „gläserne Decke“ stoßen, wenn sie Kinder bekommen? Was bedeutet es für Menschen um die 50, die
gerade wieder eingestiegen sind, wenn sie merken, dass
Pflegeaufgaben auf sie zukommen und Pflege und Beruf
unvereinbar sind?
Natürlich sind Lebensläufe nicht immer geradlinig.
Ich weiß auch, dass zur Freiheit und Verantwortung eines jeden Menschen dazugehört, den Weg durchs Leben
selbst zu finden. Aber es gibt auch typische Brüche, die
verpasste Chancen bedeuten: verpasste Chancen für
den Einzelnen oder die Einzelne, aber auch verpasste
Chancen für dieses Land, wenn die Talente, die Möglichkeiten, die Einsatzfreude von Menschen nicht genutzt werden. Zu viele verpasste Chancen kann sich dieses Land nicht leisten, meine Damen und Herren. Dieses
Land braucht eine Chancengesellschaft.
({0})
Es gibt kaum ein Thema, bei dem verpasste Chancen
so augenfällig werden, wie das der Kinderarmut.
2,4 Millionen Kinder leben in Armut. Kinderarmut hat
viele Gesichter. Sie hat zunächst das Gesicht der Bildungsarmut. Deshalb werden wir den Ausbau einer qualitativ hochwertigen Kinderbetreuung weiter vorantreiben. Die heute vorgelegten Zahlen sind ermutigend.
Trotz der Wirtschaftskrise hat sich die Zahl der Bewilligungen für die Schaffung neuer Plätze in diesem Jahr im
Vergleich zum Jahr 2008 verdreifacht. Es ist ein Volumen von 150 000 Plätzen. Aber ich sage auch deutlich:
Dies reicht nicht; diese Dynamik wird noch weiter steigen müssen. Auch die Qualifikation von Tageseltern, Tagesmüttern mit der Bundesagentur für Arbeit und den
Jugendämtern werden wir weiter ausbauen.
Wenn Armut Bildungsarmut bedeutet, dann heißt
dies, dass die Kinder, die zu Hause zu wenig Ansprache,
keine Alltagsstruktur oder zu wenig Förderung erhalten,
vor allem davon profitieren, wenn sie mit Gleichaltrigen
zusammen sind, weil sie dadurch spielerisch Sprache,
Fantasie und Kreativität entwickeln,
({1})
weil sie dadurch spielerisch mit anderen ihre Welt entdecken. Deshalb möchte ich die kommenden drei Jahre dafür nutzen, mit Ihnen die gesellschaftspolitische Diskussion darüber zu führen, wie ein Betreuungsgeld so
ausgestaltet werden kann, dass es Kinder nicht von Anfang an von so wichtigen Lernorten ausschließt.
({2})
Anerkennung von Erziehungsleistung ja, aber liebevolle
Erziehung und frühe Bildung müssen Hand in Hand gehen.
Kinderarmut hat auch das Gesicht der materiellen Armut. Ein Kind bringt sicherlich ganz viel Liebe und Lebensfreude in eine Familie hinein. Aber es kostet auch
Geld, und mehrere Kinder kosten mehr Geld. Deshalb ist
es richtig, das Kindergeld zu erhöhen; denn Kindergeld
verhindert das Abrutschen in Armut. Hätten wir kein
Kindergeld in diesem Land, dann läge die Armutsquote
von Kindern nicht bei 14 Prozent, sondern mehr als doppelt so hoch bei 30 Prozent.
Wir werden auch den Kinderzuschlag weiterentwickeln, der den Erwerbsanreiz für die Eltern deutlich
stärkt: Wenn ihr genügend Einkommen für euch selber
verdient, dann sollt ihr nicht nur wegen der Kinder in
Hartz IV rutschen.
Die größte Gruppe der Kinder in Armut sind Kinder
von Alleinerziehenden. Sie brauchen neben den bereits
erwähnten Hilfen - gute Kinderbetreuung, Kinderzuschlag, materielle Hilfen - vor allem Netze der Unterstützung. Im Koalitionsvertrag haben wir uns vorgenommen, mit einem Maßnahmenpaket solche Netzwerke
auszubauen. Das beginnt bei der Zusammenarbeit in den
neuen Kooperationen mit der Bundesagentur für Arbeit,
mit lokalen Trägern, wenn es um eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie für diese Alleinerziehenden
in ihrem schwierigen Alltag geht, und reicht bis hin zu
den inzwischen über 600 lokalen Bündnisse für Familie
und den 500 Mehrgenerationenhäusern. Das heißt, wir
haben bereits eine Plattform aufgebaut, um die Halt gebenden, ermutigenden und einfach zugänglichen Netzwerke für diese Kinder auszubauen. Es gibt das schöne
alte afrikanische Sprichwort „Es braucht ein ganzes
Dorf, um ein Kind großzuziehen“.
({3})
Das ist und bleibt die richtige Philosophie. Es gibt viele
Menschen, die ehrenamtlich etwas tun wollen und tun
können. Wir dürfen es nicht dem Zufall überlassen, ob es
an einem Ort diese Unterstützungsnetzwerke gibt oder
nicht.
Armut, meine Damen und Herren, trägt aber auch das
Gesicht der Chancen- und der Teilhabearmut von Jugendlichen, der verpassten Schulabschlüsse in der Pubertät, des misslungenen Einstiegs in die Arbeitswelt,
des Gefühls, nichts wert zu sein, und der verzweifelten
Versuche, sich auf andere Weise Respekt zu verschaffen.
({4})
Deshalb müssen wir uns stärker darauf besinnen, dass jeder Jugendliche eine faire Chance bekommt, wertgeschätzt, mit Perspektiven und gesund durch die schwierigen Jahre der Pubertät zu kommen und, wenn es nötig
ist, auch eine zweite Chance zu erhalten.
Wir wollen deshalb die Jugendlichen beim Übergang
von der Ausbildung in den Beruf besser unterstützen, indem wir die Netzwerke, die wir aufgebaut haben, durch
Kompetenzagenturen mit Initiativen wie „2. Chance“
oder „Jugend stärken“ ausbauen. Dieses Fundament
müssen wir nutzen, um die Chancen für die Jugendlichen zu verbessern.
Verpasste Chancen in diesem Lebensalter sind aber
auch verpasste Chancen, sich mit diesem Land, diesem
Staat und dieser Demokratie zu identifizieren, mitzumachen, sich zu engagieren. Die Gleichgültigkeit gegenüber Politik und Demokratie ist heute ebenso eine Gefahr wie der Extremismus. Deshalb gehört es auch zu
einer eigenständigen Jugendpolitik - zu der wir uns im
Koalitionsvertrag bekennen -, die Wichtigkeit von Partizipation und Teilhabe, Jugendarbeit und politischer Bildung hervorzuheben, die wir mit dem Kinder- und Jugendplan fördern.
Wir brauchen eine eigenständige Jugendpolitik und
- das ist im Koalitionsvertrag festgehalten - vor allem
eine eigenständige Politik für Jungen und Männer.
({5})
Denn es sind gerade die Jungen, deren Lebensverläufe
im Jugendalter zu brechen drohen. Wir müssen uns die
Frage stellen: Was ist los, dass die Jungen nicht mehr
- wie die Mädchen - am Bildungsaufwuchs teilnehmen?
Warum bleiben sie zurück?
({6})
Bei den Frauen kommt der typische Bruch später im
Leben. In den Anfängen der Ausbildung sind sie besser,
sie sind schneller in der Schule, sie sind qualifiziert, aber
dann kommt der Lebensbruch - verursacht durch die
„gläserne Decke“ - in dem Augenblick, wenn Kinder da
sind und es um Erwerbs- und Aufstiegschancen für
Frauen geht. Wir wollen: mehr Frauen in Führungspositionen im öffentlichen Dienst wie in der Wirtschaft, gleichen Lohn für gleiche Arbeit, bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf, aber auch von Pflege und Beruf. Das
sind die gleichstellungspolitischen Eckpfeiler einer
Chancengesellschaft für Frauen.
Eine Chancengesellschaft umfasst schließlich und
endlich auch die Älteren. Wenn der Ausstieg aus dem
Beruf einen Bruch mit Aktivitäten, Aufgaben, Kontakten
und Wertschätzung bedeutet, dann ist die Chance auf ein
gutes Alter nicht gegeben. Das wiegt umso schwerer in
einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen immer
länger leben. Wir haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, neue Orte zu schaffen, neue Wege, neue
Chancen für ein aktives, ein anderes Altersbild zu entwickeln. „Alter schafft Neues“ - das ist eines dieser
Themen. Es gibt generationsübergreifende Freiwilligendienste. Dieses Leitbild werden wir weiter ausbauen.
Wir wissen, dass es mehr ältere Menschen geben
wird. Ich möchte die deutliche Ansage machen, dass das
keine Alterslast, sondern eine Chance, ein Fortschritt ist.
Deshalb ist es unser Ziel, einladende Angebote zu machen und Strukturen zu schaffen, damit sich mehr ältere
Menschen in ehrenamtliche oder bürgerschaftliche Aktivitäten einbringen können.
Wer Leihgroßmutter in einem Netz der „frühen Hilfen“ ist oder wer Mentor für Schüler mit einer besonderen Schwierigkeit ist, der erfährt nicht nur hohe Wertschätzung für sich durch eine sinnvolle Tätigkeit,
sondern der gibt den jungen Menschen zum ersten Mal
das gute Gefühl, dass sich jemand um sie kümmert.
Alle geschilderten Lebenssituationen haben eines gemeinsam: Man kann sie überwinden, wenn man eigene
Kräfte mobilisiert, wenn man auf Menschen, Netze und
Strukturen bauen kann, die einen dabei unterstützen. Gesellschaftspolitik für alle Generationen zu machen, heißt,
dass wir die Menschen stärken, damit sie ihr Leben in
die eigene Hand nehmen können, und wir müssen die
Menschen stärken, damit sie einander stärken und unterstützen können.
Eine Gesellschaft der Chancen ist auch eine Gesellschaft des Zusammenhalts, der gegenseitigen Hilfe und
des Engagements. Lassen Sie uns gemeinsam an dieser
Chancengesellschaft arbeiten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dagmar Ziegler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau von der Leyen,
zunächst einmal: Glückwunsch zu Ihrem Amt und viel
Erfolg; das kann man Ihnen wirklich nur wünschen.
Mit Verlaub: Ich habe nicht gewusst, ob Sie zu lange
an den Gesundheitsverhandlungen teilgenommen haben
oder ob Sie einen anderen Vortrag halten. Sie haben die
Verantwortung entweder auf die Länder, auf die Netzwerke oder das Ehrenamt abgeschoben, die eigene Verantwortung der Bundesregierung habe ich aber nicht erkennen können. Tut mir leid.
({0})
Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Gelb sieht in der
Familienpolitik eine Erhöhung des Kindergeldes und
des Kinderfreibetrages vor. Die Financial Times
Deutschland titelte letzte Woche - wie ich finde, zutreffend -: „Goldene Zeiten für reiche Eltern“. In der Tat
profitieren Eltern mit höherem Einkommen davon; denn
der Steuervorteil durch den Freibetrag ist höher als das
Kindergeld, und von der Erhöhung des Kindergeldes um
20 Euro haben Eltern im Arbeitslosengeld-II-Bezug gar
nichts. Die geschätzten Kosten von rund 4,6 Milliarden
Euro hätten wir besser in Infrastrukturen für Kinder investieren sollen.
({1})
Morgen, wenn wir über den Entwurf des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes Streit führen, wird sicher noch
Gelegenheit sein, dazu etwas zu sagen. Deshalb hier nur
so viel: Der Argumentation, dass mit diesen staatlichen
Leistungen die Konjunktur angekurbelt wird, kann man
nicht folgen. Bei den Familien mit höherem Einkommen
wird möglicherweise die Sparquote erhöht, mehr aber
auch nicht. Auch 20 Euro mehr Kindergeld werden nicht
zu einer messbaren Belebung der Konjunktur beitragen.
Es wird aber sicherlich Folgendes passieren: Die Schere
zwischen wohlhabenden Familien und Familien mit geringem Einkommen wird weiter auseinandergehen. Das
ungerechte System des Familienlastenausgleichs wird
damit verfestigt. Aber das scheint sowohl von der CDU/
CSU als auch von der FDP gewollt zu sein. Ihre gesellschaftspolitischen und familienpolitischen Vorstellungen
sind geprägt von einem Bild der Verfestigung von ungleichen Lebenschancen, auch wenn Sie ständig etwas
anderes behaupten.
({2})
Für die SPD gilt: Wir stehen für Chancengleichheit. Wir
sind dafür, dass alle Kinder gleich viel wert sind, unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern.
Zur Förderung von Familien zählt auch das Elterngeld. Sie sehen vor, dass das Elterngeld flexibilisiert,
entbürokratisiert und die Partnermonate gestärkt werden.
Es soll ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten eingeführt
und der doppelte Anspruchsverbrauch bei gleichzeitiger
Teilzeitbeschäftigung beider Eltern beseitigt werden.
Aber was haben wir unter einer Entbürokratisierung und
Flexibilisierung, was unter einer Stärkung der Partnermonate zu verstehen? Nichts davon haben Sie uns hier
berichtet. Eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie findet nicht statt, nur das Angebot der Einführung
eines Teilelterngeldes von 28 Monaten. Sicher, auf den
ersten Blick ist das ein Angebot für Eltern, keine Frage.
Aber werden es nicht wieder vor allem die Frauen sein,
die diese Regelung in Anspruch nehmen?
({3})
Wo ist der Anreiz für echte Partnerschaftlichkeit zwischen Männern und Frauen?
({4})
Angesichts einer Teilzeitquote bei Vätern von 5 Prozent
kann von einer Partnerschaftlichkeit zwischen Frauen
und Männern ja wohl nicht die Rede sein.
({5})
Die Abschaffung des doppelten Anspruchsverbrauchs
ist richtig und wird von uns unterstützt. Diese Abschaffung haben wir immer gefordert, aber die CDU/CSUFraktion hat das bei der Erarbeitung des Gesetzes immer
wieder abgelehnt. Wir freuen uns, dass Sie offensichtlich
dazugelernt haben. Wir wollen mehr Partnerschaftlichkeit; deswegen ist eine Erhöhung der verbindlichen Partnermonate für uns das Ziel.
Die Aussagen in der Koalitionsvereinbarung zur Kinderbetreuung bleiben weit hinter Ihren vollmundigen
Ankündigungen zurück, die Sie noch im Wahlkampf von
sich gegeben haben. Sie sind wenig konkret. Schlimmer
noch: Die von Ihnen angekündigten Steuersenkungen
drücken Bund, Ländern und Kommunen die Luft ab; das
haben wir heute schon mehrfach in den Debatten zu allen Politikfeldern gehört. Dadurch ist es nicht möglich,
den Betreuungsausbau voranzutreiben. Erhebliche Einnahmeausfälle in Milliardenhöhe sind vorprogrammiert.
Sie haben auch hier nicht die Frage beantwortet, wie
mehr Plätze und mehr Qualität in der Kinderbetreuung
realisiert werden sollen. Frühkindliche Bildung beginnt für die Koalition übrigens erst bei sechs Jahren,
was die Sprachstandserhebung angeht, möglicherweise
bei vier Jahren. Für uns setzt der Begriff „frühkindliche
Bildung“ viel früher an. Darüber muss man noch einmal
diskutieren.
Wie wollen Sie es schaffen, ab 2013 die Verwirklichung des Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz
für unter Dreijährige zu garantieren? All das bleibt heute
unbeantwortet. Vielleicht kann ich Ihnen die Antwort
geben: Der Koalitionsvertrag hat nicht den Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt“ verdient, sondern: Rückschritt, Bildungsnotstand und Unterfinanzierung.
({6})
Wir wollen starke Länder und Kommunen, die in der
Lage sind, bis 2013 das Ausbauziel und den Rechtsanspruch zu erreichen. Wir wollen mehr in die Qualität der
Kinderbetreuung investieren. Wir wollen eben nicht nur
den bereits beschlossenen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab 2013 schaffen, sondern auch einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. Wir wollen
ferner die Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Uni.
Dazu sind Investitionen statt Steuergeschenke notwendig.
Die Bundesregierung kündigt ein neues Kinderschutzgesetz an und distanziert sich zu Recht von dem
alten Entwurf der letzten Legislaturperiode. In diesem
Entwurf war nämlich keine Spur von präventiven Maßnahmen zu finden. Die Prävention soll in dem neuen Gesetz nun endlich eine Rolle spielen. Darüber freuen wir
uns sehr. Damit greifen Sie ja auch eine Forderung der
SPD auf.
Sie haben endlich verstanden, dass ein guter Kinderschutz früh ansetzt. Familien müssen rechtzeitig präventive Hilfen angeboten werden, um Gefährdungen der
Kinder und Jugendlichen vorzubeugen. Präventive Angebote sind beispielsweise Netzwerke für gesunde Kinder, aufsuchende Familienhilfen, Elternkurse oder Erstbesuche rund um die Geburt. Solche Angebote brauchen
wir flächendeckend in ganz Deutschland. Es ist mehr als
enttäuschend, dass der Koalitionsvertrag keine Aussage
zu dem dringend notwendigen Präventionsgesetz enthält. Damit verspielt die neue Regierung erneut eine entscheidende Chance für den Kinderschutz.
Was hat die neue Regierung älteren Menschen zu bieten? Welche Antwort gibt sie auf eine immer älter werdende Gesellschaft? Zum demografischen Wandel wird
ein neuer Bericht der Bundesregierung ab 2011 angekündigt. Das war es im Wesentlichen. Zu Senioren enthält der Koalitionsvertrag nur einige mehr oder weniger
allgemeine Absichtserklärungen zu Altersbildern und
Altersgrenzen, zum sozial vernetzten Wohnen und zur
Forschung.
Die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege soll verbessert werden. Aber wie? Keine Antwort. Das ist typisch
für die Haltung von CDU/CSU und FDP, die eine gesetzliche Verankerung beispielsweise von bezahlter Pflegezeit - wie von uns seinerzeit gefordert - abgelehnt hatten.
Hier wird deutlich, was die Koalition für welche Familien bereithält: viel für die Gutverdiener und so gut
wie nichts für die Geringverdiener und Arbeitslosen.
Entsolidarisierung und Spaltung der Gesellschaft werden
leider das Ergebnis Ihrer Politik sein.
Vielen Dank.
({7})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin
Miriam Gruß.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau
Ziegler, herzlich willkommen im Bundestag! Wir haben
in den letzten Jahren im Familienausschuss schon viel
über Familienpolitik diskutiert. Ich war damals in der
Opposition. Deswegen kann ich Ihre Haltung, dass Sie
nicht nur Freude über den Koalitionsvertrag empfinden,
grundsätzlich verstehen. Aber wir haben viele Diskussionen geführt und auch in vielen Ergebnissen festgestellt, dass die rot-grüne Familienpolitik, die Sie veranstaltet haben, auch keine besseren Ergebnisse geliefert
hat. Deshalb würde ich Sie einfach bitten, uns jetzt einmal zuzuhören.
({0})
- Keine besseren Ergebnisse als Schwarz-Rot.
Deswegen haben wir jetzt eine bürgerlich-liberale
Koalition und ambitionierte Ziele im Koalitionsvertrag
festgehalten.
({1})
Weil Sie immer sagen, der Koalitionsvertrag sei so vage,
sage ich Ihnen: Schauen Sie sich doch einmal Ihren letzten Koalitionsvertrag an! Er ist auch nicht detaillierter.
Dann schauen Sie sich einmal an, wie viel davon tatsächlich umgesetzt wurde. Es bleibt noch weiter hinter
den Erwartungen zurück.
({2})
Ich will mit dem Thema Kinder beginnen.
({3})
Wir haben, auch hier im Bundestag, in den letzten Jahren
zu Recht viel über den Ausbau der Betreuungsplätze diskutiert. Wir haben immer angemahnt, dass wir auch über
die Qualität sprechen müssen. Das findet sich jetzt im
Koalitionsvertrag wieder. Wir wollen einheitliche Standards in Zusammenarbeit mit den Ländern finden, um
die frühkindliche Bildung bundesweit qualitativ nach
vorne zu bringen. Dazu gehört beispielsweise auch Trägervielfalt, die der FDP sehr wichtig ist.
({4})
Zum Thema Kinderschutz. Dies haben die Frau
Ministerin und auch Sie, Frau Ziegler, schon angesprochen. Ihnen war Prävention wichtig. In der Tat steht Prävention jetzt im Koalitionsvertrag. Wir setzen darauf,
dass das in dem geplanten Gesetz einen großen Teil einnimmt, das nicht nur ein Eingriffsgesetz, sondern tatsächlich ein Schutzgesetz werden soll, wobei der Schutz
mit früher Prävention beginnt, beispielsweise mit dem
Ausbau von frühen Strukturen, Hilfestrukturen, niederschwelligen Strukturen und Familienhebammen. Das
war die Intention dieser Koalition.
Darüber hinaus wollen wir die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt reformieren, weil es uns wichtig ist,
überall dort, wo es bürokratische Strukturen gibt, zu
schauen, wie man sie effektiver gestalten kann, sodass
sie zielgenauer denjenigen helfen, die Hilfe brauchen.
Auch das ist das Ziel dieser Koalition.
Es sollte hier im Haus allgemeine Freude auslösen,
dass sich eine Forderung der Kinderkommission im
Koalitionsvertrag wiederfindet: die Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention.
({5})
Fraktionsübergreifend besteht Einigkeit, dass dies ein
richtiges und wichtiges Signal in Deutschland ist, das
diese Koalition setzt.
Eine weitere Forderung der Kinderkommission, dass
Kinderlärm nicht mehr zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führen darf,
({6})
findet sich aufgrund dieser neuen Konstellation jetzt
erstmals in einem Koalitionsvertrag.
Sicherlich, Kinderarmut ist für uns alle ein sehr
ernstes Thema. Kinderarmut muss bekämpft werden.
Auch wir haben weiterhin dieses Ziel.
({7})
- Doch, dazu steht einiges in unserem Koalitionsvertrag. Darüber hinaus spreche ich mich persönlich ganz deutlich dafür aus, dass die Regelsätze für Kinder bedarfsgerecht ausgestaltet werden müssen.
Zum Thema Jugendpolitik. Uns war es in den letzten
Jahren immer wichtig, dass wir eine eigenständige Jugendpolitik bekommen. Das ist auch ein erklärtes Ziel
der jetzigen Regierungskoalition. Wir brauchen eine eigenständige Jugendpolitik, die Gewalt- und Suchtprävention - auch hier ist Prävention wieder das wichtigste
Wort -, die Partizipation, die Beteiligung der jungen
Menschen, und die Medienkompetenz auch junger Menschen in den Vordergrund rückt. Dabei geht es allerdings
nicht nur um die Medienkompetenz junger Menschen.
Das Ziel Medienkompetenz haben wir in unserem Koalitionsvertrag generationenübergreifend festgehalten.
({8})
Nach der Jugendpolitik will ich nun auf die Jungenpolitik zu sprechen kommen. Wir haben festgestellt, dass
wir hier Defizite haben, dass Jungs die Bildungsverlierer
sind; deshalb die deutliche Passage in unserem Koalitionsvertrag. Natürlich brauchen wir mehr als nur einen
Boys’ Day im Jahr. Würde es ihn in Deutschland flächendeckend geben, wäre dies allerdings ein gutes, richtiges und wichtiges Signal; vereinzelt gibt es ihn ja
schon. All das darf aber nicht dazu führen, dass es bald
eine Männerquote in Krippen gibt, so wünschenswert es
auch wäre, dass der Anteil des männlichen pädagogischen Personals im frühkindlichen Bereich steigt.
({9})
Damit komme ich zu den Familien. Uns war wichtig,
in unserem Koalitionsvertrag ein modernes Familienbild
niederzuschreiben; auch dies finden Sie wieder. Uns war
wichtig, im Hinblick auf das Umfeld der Familien dafür
zu sorgen, dass sich Frauen und Männer frei entscheiden
können, wie sie ihr Leben gestalten. Es war wichtig, dass
auch Männer, die von früh an am Aufwachsen ihrer Kinder teilhaben wollen, die Chance dazu bekommen. Das
ist eine neue Gleichstellungspolitik. Wir betreiben
Gleichstellung auch für Männer und sorgen dafür, dass
sie sich Zeit für ihre Familie nehmen können.
({10})
Deswegen finden Sie in unserem Koalitionsvertrag beispielsweise auch das Thema Sabbaticals.
({11})
Bei der finanziellen Entlastung setzen wir vor allem
auf eine steuerliche Entlastung, natürlich aber auch auf
die Kindergelderhöhung. Frau Ziegler, ich kann es wirklich nicht verstehen, dass Sie Kritik an der Kindergelderhöhung vorgetragen haben.
({12})
Auf die letzte Kindergelderhöhung - hören Sie mir jetzt
bitte zu - mussten wir sieben Jahre warten, und das für
10 Euro mehr Kindergeld. Die jetzige Regierungskoalition wird das Kindergeld zum 1. Januar nächsten Jahres
um 20 Euro erhöhen.
({13})
Seien Sie also bitte ganz still, wenn es um das Thema
Kindergelderhöhung geht. Sie und Ihre Regierung haben
den Familien erst einmal Geld aus der Tasche gezogen
- das entspricht ja auch Ihrer Denkweise -, und nun wollen Sie es großgönnerhaft verteilen. Wir belassen das
Geld bei den Familien. Wir wollen, dass die Familien
frei entscheiden können, wofür sie ihr Geld ausgeben;
({14})
das haben wir in unserem Koalitionsvertrag auch so niedergelegt. Die familienpolitischen Leistungen, die es
derzeit gibt, werden wir auf den Prüfstand stellen, um
die Menschen effektiv zu fördern und ihnen die notwendigen Leistungen zuteilwerden zu lassen.
Zum Thema Betreuungsgeld. Wie Sie gelesen haben,
sind in unserem Koalitionsvertrag auch Gutscheine erwähnt.
({15})
Hier ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen.
Meine Kritik am Betreuungsgeld gilt weiterhin.
({16})
- Beruhigen Sie sich erst einmal, und stecken Sie die
Waffen wieder ein.
({17})
Ich kann Ihnen versichern: Soziale Kälte ist in dieser
Koalition Fehlanzeige.
({18})
Ich freue mich auf die Debatten im Ausschuss, Sie werden aber nur wenige Argumente finden.
({19})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Schönen Dank. - Frau Präsidentin! Frau Ministerin
von der Leyen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne
Wachstum kein Wachsen. Das ist im Grunde die Kernaussage des Koalitionsvertrages, die wir in den letzten
beiden Tagen von der Kanzlerin und anderen immer wieder gehört haben. Ohne Wachstum kein Wachsen - das
weiß eigentlich jedes Kind. Aber was soll wachsen? Die
Zahl der verpassten Chancen, die uns Frau von der
Leyen heute genannt hat? Die Zahl der Kinder, die in Armut leben? Die Zahl der Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen? Die Zahl der Frauen, die aus der
Arbeitslosenstatistik herausfallen? Die Zahl der Alleinerziehenden, die weiterhin zum Amt gehen müssen? Die
Zahl der Frauen, die immer noch weniger verdienen als
die Männer? Die Zahl der Steuervergünstigungen für
Besserverdienende? All dies legt der Koalitionsvertrag
nahe. Ich habe ihn hier, Schwarz auf Weiß, etwa
130 Seiten, viel Text, wenig Inhalt und wenn, dann entweder altbekannt oder gruselig und diskriminierend.
({0})
- Ja, so ist es. Wenn das so weitergeht, überlege ich mir
noch meinen letzten Satz.
Es scheint angebracht, die großen Versprechungen
unter die Lupe zu nehmen und sie zu hinterfragen. Auf
einzelne Punkte möchte ich eingehen:
Zu den Alleinerziehenden. Die Ministerin hat es angesprochen - ich zitiere einmal aus dem Koalitionsvertrag -:
Wir wollen die Rahmenbedingungen für Alleinerziehende durch ein Maßnahmenpaket verbessern.
Dieses soll insbesondere in verlässlichen Netzwerkstrukturen für Alleinerziehende lückenlos, flexibel
und niedrigschwellig bereitgestellt werden.
Wir werden prüfen, inwieweit die Umgestaltung
des bisherigen steuerlichen Entlastungsbetrages in
einen Abzug von der Steuerschuld möglich und interessengerecht ist.
Toll!
({1})
Was sollen diese Worthülsen? Jeder Familienpolitiker
weiß doch, dass die Zahl der Ein-Eltern-Familien - in
der Mehrheit alleinerziehende Mütter - und ihr Anteil an
allen Familienhaushalten beständig wächst. Jedes siebte
Kind in den alten und jedes fünfte Kind in den neuen
Bundesländern wird von einem Elternteil allein erzogen.
({2})
„Wir wollen verbessern und prüfen …“ - ja, nennen Sie
doch einmal Ihre konkreten Vorhaben!
({3})
Zum Kinderzuschlag findet sich keine Aussage.
Im Kampf gegen Kinderarmut müssen endlich konkrete Maßnahmen auf die Tagesordnung.
({4})
Über zweieinhalb Millionen Kinder in Deutschland leben unterhalb der Armutsgrenze. Doch weder eine realistische Höhe des Regelsatzes noch eine existenzsichernde Grundsicherung für Kinder werden irgendwie
in Betracht gezogen. Beschämend! Zu den Kinderregelsätzen im Rahmen von Hartz IV ist nichts geplant. Die
Devise heißt: Abwarten!
Betreuungsgeld. Das Betreuungsgeld, das geplant
ist, ist fatal und diskriminierend - konservativer geht es
eigentlich nicht mehr.
({5})
Das Betreuungsgeld ist frauenfeindlich, bildungsfeindlich und wird verstärkt zum Ausstieg junger Frauen aus
dem Berufsleben führen.
({6})
Interessant ist auch: Warum soll das Betreuungsgeld gerade im Jahr 2013 eingeführt werden? Ich erinnere daran: Im Jahr 2013 soll es einen Rechtsanspruch auf einen
Kindergartenplatz für alle Kinder geben. Es ist längst
klar, dass die Zahl der Plätze dem Anspruch nicht gerecht wird, dass Plätze fehlen werden.
({7})
Also muss man etwas machen. Die Zahl der Kitaplätze
verstärkt ausbauen? Nein, weit gefehlt. Stattdessen will
diese Regierung durch finanzielle Anreize die Kinder
aus den Kindergärten verbannen, um so ihre verfehlte
Politik zu kaschieren.
({8})
Noch eines: Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, sollen dafür Geld erhalten. Was soll das? Ja, erziehen denn Eltern, die ihre Kinder in den Kindergarten
bringen, nicht? Verdienen diese Eltern etwa keine Anerkennung? Die Koalition ist offensichtlich der Ansicht,
dass diese Eltern ihre Kinder im Kindergarten abgeben,
sie Jahre später wieder abholen und dann sagen: Kerl,
wat bist du groß geworden!
({9})
Deshalb lehnt die Linke ein derartiges Betreuungsgeld
ab.
Ehegattensplitting. Mein Gott, Frau Gruß! Frau
Laurischk, was hat die FDP dagegen gekämpft! Und
jetzt? Umgefallen.
({10})
Die Alleinverdienerehe wird weiter privilegiert. Was haben wir im Ausschuss dafür gekämpft, dass das abgeschafft wird! Wie sind die Kolleginnen der FDP seinerzeit auf die Barrikaden gegangen! Was ist davon geblieben? Da kann man nur aus Konstantin Weckers Lied Was
passierte in den Jahren zitieren:
… und für die, die du bekämpft hast, machst du
jetzt den Buckel krumm.
Das scheint das Lied der FDP zu sein.
Qualität der Kindertagesstätten? Allgemeine Appelle
an die insolventen Länder. Erst wird ihnen das Geld
weggenommen, und dann heißt es: Jetzt zahlt mal! Ich
habe ernsthaft die Befürchtung, dass im Zusammenhang
mit dem qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung die
Gefahr der Privatisierung und Kommerzialisierung
droht.
({11})
Bleibt die Abkehr von der Gemeinnützigkeit im Rahmen
von Bildung und Daseinsvorsorge weiter Regierungsprogramm?
Kinderarmut. Wird durch die Regierung - Frau von
der Leyen, das ist wichtig - im Koalitionsvertrag völlig
ausgeblendet! Nur einmal heißt es in einem Sowie-Satz
beiläufig „Kinderarmut“ - und das in dem Wissen darum, dass, wie gesagt, über zweieinhalb Millionen Kinder in diesem Lande in Armut leben. Es macht mich wütend, wenn ich hier immer wieder erleben muss, dass
sich die Regierungsparteien für alternativlos halten. Hören Sie wenigstens hin und wieder auf das Volk und die
Opposition! Damit wäre den Kindern jedenfalls geholfen.
({12})
Zum Elterngeld. Die Maßnahmen kommen mir irgendwie bekannt vor. Der Antrag klingt fast wie der Antrag der Linken aus der 16. Wahlperiode, aber auch nur
fast; denn so, wie das jetzt ausgestaltet ist, droht doch
wieder, dass verstärkt Frauen in Teilzeit gehen.
Zum Unterhaltsvorschussgesetz. Klasse, der Vorschlag, die Zwölf-Jahres-Grenze fallen zu lassen, stand
in dem ersten Gesetzentwurf, den ich eingebracht habe;
das war im Jahr 2005. Was wurde darüber gelacht! Alle
haben gesagt: Guter Gesetzentwurf; aber du bist in der
falschen Partei. - Abgelehnt! Jetzt wollen Sie diesen
Vorschlag umsetzen. Na, besser späte Einsicht als gar
keine.
Kindergeld. Warum wird die Erhöhung des Kindergeldes kritisiert? Es wird doch an alle gezahlt. Richtig!
Was Sie verschweigen, ist aber folgende Tatsache: Kinder, die in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften leben - Frau
von der Leyen, hören Sie einmal zu, dann begreifen Sie
es vielleicht auch -,
({13})
haben nämlich nichts davon. Bei ihnen wird die Kindergelderhöhung nämlich voll auf die Sozialleistung angerechnet. Sie sollten sich schämen.
({14})
Die Besserverdienenden werden hier wieder finanziell
bezuschusst, und Familien, die es tatsächlich bräuchten,
gehen leer aus. Es ist so, wie es vorhin schon zitiert
wurde: Goldene Zeiten für reiche Familien.
Kinderrechte. Miriam Gruß hat es angesprochen - ich
zitiere -:
Wir setzen uns für eine Stärkung der Kinderrechte
ein. Diese Rechte müssen im Bewusstsein der Erwachsenen stärker verankert werden. Wir wollen in
allen Bereichen … kindgerechte Lebensverhältnisse schaffen. Wir wollen die Vorbehaltserklärung
zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen.
Da kann ich nur sagen: Völker, hört die Signale! Eine
über Jahrzehnte währende, lähmende Debatte lässt mich
an dieser Aussage im Koalitionsvertrag zweifeln. Die
Regierungsparteien wollten doch immer wieder den Eindruck erwecken, dass die deutsche Rechtslage im Asylund Aufenthaltsrecht bereits im Einklang mit der UNKinderrechtskonvention stünde. Jetzt kommt es plötzlich
zu diesem Sinneswandel - und das gerade bei dieser
Koalition bzw. der CDU? Da bin ich aber gespannt, wie
dann die Abstimmung ausfallen wird, wenn es darum
gehen wird, sich auch weiter dazu zu bekennen. Ich sage
nur: Na, ihr Umfaller, das ist doch wieder etwas für
euch.
Frauen- und Gleichstellungspolitik. In dem Koalitionsvertrag ist im Wesentlichen der Status quo als Ziel
des künftigen Regierungshandelns festgeschrieben. Das
sind verbale Bekenntnisse ohne jede konkrete Umsetzung. Stattdessen gibt es viele Prüfaufträge und zu erstellende Gutachten. Es wird weiter auf Freiwilligkeit in
der Wirtschaft gesetzt und ein nebulöser Rahmenplan
zur gleichberechtigten Teilhabe versprochen. Super!
Der Koalitionsvertrag entspricht in seiner Grundsubstanz in keinster Weise den Auflagen, den der CEDAWAusschuss, also der Fachausschuss der Vereinten Nationen zur Gleichstellung von Männern und Frauen, gegenüber der Bundesregierung 2009 ausgesprochen hat. Der
Ausschuss hat die Regierung nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Gleichstellung die Verpflichtung des
Vertragsstaates ist. Gleichzeitig wurden konkrete - ich
wiederhole: konkrete - Ziele wie Quoten und Fristen gefordert. Nichts davon wurde umgesetzt; es gab nur Lippenbekenntnisse. Frau von der Leyen, da sagen Sie, verpasste Chancen könnten wir uns nicht leisten. Hohn und
Spott!
Seniorenpolitik. Zum Schluss noch einige Sätze
dazu. Die Koalition will eine erfolgreiche Generationenpolitik voranbringen. Na, da bin ich aber gespannt. Die
jetzigen Regierungsparteien hatten vor einem halben
Jahr auf dem 9. Seniorentag in Leipzig jedenfalls nichts
Konkretes dazu vorzuweisen. Dann aber mal los! Als
Bildungslektüre kann ich nur die seniorenpolitischen
Leitlinien der Linken empfehlen.
({15})
In diesem Koalitionsvertrag steht nichts Konkretes:
nur wollen, abwarten, mal sehen, prüfen oder verteilen
von unten nach oben. Wenn das die Familienpolitik dieser schwarz-gelben Regierung in den nächsten Jahren
sein soll, dann kann ich nur fragen: Das soll eine BieneMaja-Koalition sein? Maja war immer eine fleißige und
intelligente Biene. Deshalb kann diese Koalition nicht
Biene Maja heißen, sondern bestenfalls Drohne Willi:
unbedarft, bemitleidenswert, teilweise sympathisch, aber
immer dringend hilfebedürftig.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Ekin Deligöz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau von der Leyen, Sie haben Ihre Rede hier mit
Fragen begonnen, die Sie sich stellen, und Sie haben
eine ganze Menge Fragen gestellt. Ich frage mich nur, ob
das die richtige Herangehensweise für eine Ministerin
ist, weil es ja nicht Ihre Aufgabe ist, Fragen zu stellen,
sondern Antworten zu geben,
({0})
und die Antworten, die in diesem Koalitionsvertrag gegeben werden, sind alle falsch; das wissen Sie. Sie wissen auch, dass durch diesen Koalitionsvertrag die Möglichkeit, eine moderne und gerechtere Kinder- und
Familienpolitik zu gestalten, auf Jahrzehnte hinaus verbaut und zerstört wird.
({1})
Fangen wir doch einmal mit den Beispielen an. Sie reden von Kindergelderhöhung. Es geht dem Wesen nach
nicht um die Kindergelderhöhung, sondern um die Freibetragserhöhung, Frau Gruß.
({2})
Durch diese Freibetrags- und Kindergelderhöhung werden enorme Mittel, nämlich 4,5 Milliarden Euro jährlich,
gebunden. Überlegen Sie doch einmal, wie lange und intensiv wir hier gekämpft haben, um 2 Milliarden Euro
für die Kinderbetreuung herauszuschlagen. Jetzt wollen
sie von heute auf morgen in unbedachter Weise hopplahopp 4,6 Milliarden Euro ausgeben. Darüber hinaus versprechen Sie in einem zweiten Schritt 2,5 Milliarden
Euro mehr. Bei diesen Entscheidungen blenden Sie jeglichen familienpolitischen, sozialen und fiskalischen Verstand aus. Damit wollen Sie letztendlich das umsetzen,
was die FDP immer propagiert: Das Einzige, worum es
in der Politik gehen darf, ist die Senkung von Steuern.
({3})
Dafür nehmen Sie sogar die „bildungspolitische Katastrophe“ - das ist nicht mein Zitat; das ist ein Zitat von
Frau von der Leyen - eines Betreuungsgeldes in Kauf,
({4})
für das Sie 1,5 Milliarden Euro ausgeben wollen. Die
ganze Debatte um Gutscheine usw. ist doch nur der Versuch, von der eigentlichen Katastrophe abzulenken; das
führt zu nichts. Sie von der FDP müssen eingestehen,
dass man Ihnen an dieser Stelle nur eines vorwerfen
kann: Verhandlungsversagen erster Güte auf ganzer Linie.
({5})
Sie knüpfen an überholte Prinzipien bei der Familienförderung an: Die einen erhalten 20 Euro mehr, die anderen, die vom höheren Freibetrag profitieren, erhalten
das Doppelte, also 40 Euro mehr. Damit geben Sie den
Familien am meisten Geld, die es am allerwenigsten
brauchen. Hier geht es um Kernfragen der Gerechtigkeit
und der Ungerechtigkeit.
Frau von der Leyen, Sie haben hier und im Tagesspiegel gesagt, dass die Bekämpfung der Kinderarmut ein
Hauptthema Ihrer Politik sein soll. Beantworten Sie
doch die Frage, warum ausgerechnet die Kinder, die
vom ALG-II-Bezug leben, leer ausgehen sollen, warum
sie nichts bekommen sollen!
({6})
Beantworten Sie die Frage, warum Sie für die Bekämpfung der Kinderarmut - hier geht es nicht nur um die
1,8 Millionen Kinder in ALG-II-Bezug, sondern auch
um 2,5 Millionen Kinder, die in Haushalten mit niedrigem Einkommen leben - keine konkreten Maßnahmen
vorsehen! Hier reichen uns Fragen nicht; wir brauchen
schon längst Antworten. Wir kennen die Antworten; es
geht darum, sie umzusetzen. In Ihrem Koalitionsvertrag
kann man nichts, aber rein gar nichts dazu lesen.
({7})
Damit aber nicht genug: Sie reden zwar von einem
Kinderzuschlag, aber davon steht nichts im Koalitionsvertrag. Warum ist kein Cent dafür vorgesehen? Warum
wird das unter Finanzierungsvorbehalt gestellt? Oder
habe ich Ihr Interview falsch verstanden? Sie kündigen
hier etwas an, meinen es aber gar nicht so, weil Sie es
unter Finanzierungsvorbehalt stellen. Warum gibt es diesen Finanzierungsvorbehalt nicht, wenn man zugunsten
der Gut- und Besserverdienenden in diesem Land die
Freibeträge erhöhen will? Das müssen Sie uns irgendwann schon erklären.
Ich komme zur Frage der Kinderregelsätze. Inzwischen gibt es hierzu mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Auch hier bleiben Sie untätig,
Sie sagen dazu nichts. Anscheinend verstehen Sie unter
Gerechtigkeit, denen mehr zu geben, die mehr haben,
und denen nichts zu geben, die wenig haben. Das entspricht nicht meinem Gerechtigkeitsbegriff, aber auch
nicht dem des Bundesverfassungsgerichts. Sie müssen
mit weiteren Entscheidungen des Gerichts rechnen, auf
die Sie irgendwann einmal reagieren müssen.
({8})
Ich komme zu den Kinderbetreuungsplätzen. Auch
hier bin ich sehr enttäuscht. Viele in diesem Haus haben
für den Ausbau der Kinderbetreuung gekämpft. Inzwischen bluten die Kommunen aus. Ihre Politik, Steuern zu
senken, wird dazu führen, dass gerade die Kommunen,
die sich in diesem Bereich anstrengen und daher die
höchsten Belastungen zu tragen haben, nicht mehr über
genügend finanzielle Mittel verfügen werden. Wir können bei der Kinderbetreuung noch lange nicht von echter
Wahlfreiheit sprechen - wir sind meilenweit davon entfernt -, ganz zu schweigen von der Qualität. Wenn Sie so
tun, als sei diese Frage erledigt, kann ich nur sagen: Machen Sie mal Ihre Augen auf! Reden Sie mit den Mitgliedern der Kreistage und Stadträte und mit den Bürgermeistern! Nicht ohne Grund klagen Bürgermeister in
Nordrhein-Westfalen, aber auch in anderen Bundesländern dagegen, dass die Kommunen zwar die Aufgabe
der Kinderbetreuung erfüllen sollen, aber dafür keinen
Cent Unterstützung vom Bund erhalten.
({9})
Leere Versprechen reichen hier nicht aus.
Die Kritik am Betreuungsgeld ebbt nicht ab. Die Einführung eines Betreuungsgeldes ist eine Politik der ideologischen Scheuklappen.
({10})
Sie geht komplett am Bedarf der Menschen vorbei. Sie ignorieren auch einfach, dass wir schon eine ganze Menge
für die Wahlfreiheit in Deutschland ausgeben. Ehegattensplitting, Sozialversicherung und Elterngeld - das sind
Maßnahmen zur Unterstützung der Familie. Immer noch
zu wenig tun wir aber im Bereich der Bildung und der Betreuung, der Qualifizierung und besseren Bezahlung unserer Erzieherinnen. Quoten sind womöglich die falsche
Antwort. Eine bessere Bezahlung wäre aber eine gute
Antwort. Auch davon sind wir meilenweit entfernt.
({11})
Jetzt komme ich zu den anderen Bereichen. Was Sie
zur Jugendpolitik präsentieren, sind alles warme Worte.
Wenn man sich den Maßnahmenkatalog ansieht, den Sie
umsetzen wollen, dann liest man nur eines: Sie wollen
Repressionen. Mit Repressionen kann man aber keine
Jugendpolitik machen.
({12})
Das kann und darf nicht die einzige Antwort sein, die Sie
hier geben.
Oder nehmen wir die Frauen- und Gleichstellungspolitik. Für mich ist die Gleichstellungspolitik übrigens
auch immer eine Politik für Männer. Das ist selbstverständlich, falls Sie das noch nicht im Kopf haben.
({13})
Die Kernfragen der Gleichstellung rühren Sie aber nicht
an. Was ist mit der Entgeltungleichheit? Sie können
doch nicht von Gleichstellung reden und zu diesem
Thema ein komisches Lohntestverfahren anbieten, das
nicht wirken und ins Leere laufen wird.
({14})
Was ist mit dem Ehegattensplitting? Es benachteiligt
Frauen. Was ist mit der Abschaffung der Lohnsteuerklasse V,
die schon immer von der FDP gefordert wurde? Ganz plötzlich bleibt sie unangetastet.
({15})
Ganz plötzlich ist das Thema abgehakt und verschwunden.
Was ist mit der eigenständigen Existenzsicherung
von Frauen? Keine einzige Zeile dazu. Das existiert
nicht mehr, nicht einmal mehr in Ihren Gedanken. Sie
glauben, wenn Frauen zu Hause bleiben, dann wäre das
die eigenständige Existenzsicherung. Das ist es aber
nicht. Das ist nicht das, Herr Singhammer, was die
Frauen in diesem Land von Ihnen einfordern. Sie werden
die eigenständige Existenzsicherung auch weiter von Ihnen einfordern.
Ganz schlimm finde ich - das muss ich besonders betonen -, dass wir gerade in solchen historischen Tagen,
wie wir sie zurzeit erleben, auch über die Programme
gegen Rechtsextremismus reden müssen. Sie wollen
die Ausgaben für diese Maßnahmen senken.
({16})
Ihnen ist es egal, wie erfolgreich diese Maßnahmen sind.
Sie lassen gute Arbeit im Regen stehen. Sie lassen gute
Projekte in diesem Bereich verkümmern und verkommen. Das ist nicht zu verantworten, und das sollte Ihnen
zu denken geben.
({17})
Ich komme zu meinem allerletzten Satz. Ich schaue
mir das Ganze an und komme zu dem Schluss: Sie haben
weder den Mut noch die Kraft noch die Ideen für eine
moderne Gesellschaft. Das bleibt Tatsache.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich weiß manchmal zu Beginn einer
Rede, wenn ich einige Kollegen gehört habe, nicht, was
ich sagen soll. Frau Ziegler, von Ihnen weiß ich, dass Sie
in der letzten Legislaturperiode nicht dabei waren. Deswegen verzeihe ich Ihnen einiges.
({0})
Sie müssen einmal Ihre Kolleginnen fragen, was sie alles
machen wollten und wozu sie alles zugestimmt haben.
Wenn ich mich recht an das Ende der letzten Legislaturperiode erinnere, dann haben Ihre Kolleginnen gesagt,
dass sie den Ausschlag dafür gegeben haben, dass wir so
viel Erfolg hatten; dass die Frau Ministerin so gut war,
lag nur an der SPD.
({1})
- Ja, aber Sie haben sich immer auf die Vergangenheit,
auf die letzte Legislaturperiode bezogen.
({2})
Sie sprechen über ein Präventionsgesetz. Dieses Gesetz
versuchte Rot-Grün schon auf den Weg zu bringen. Darauf warte ich schon, seit ich hier bin, also elf Jahre. So
viel zum Präventionsgesetz.
({3})
Zu Herrn Wunderlich wollte ich einiges zum Inhaltlichen sagen. Aber ich kann nur feststellen: Sie werden zu
Willi Wunderlich. Sie machen also Ihrem Namen alle
Ehre.
({4})
- Aber Willi Wunderlich ist WW und macht doch auch
Spaß. Wir werden uns bestimmt noch des Öfteren auch
bei der Namensgebung wiederfinden.
Frau Deligöz, ich verstehe, dass es für Sie schwierig
ist. Ich glaube, auch Sie haben vergessen, was in Ihrer
Regierungszeit beschlossen wurde. Sie waren immerhin
sieben Jahre dabei. Ich kann mich erinnern - das ist der
Vorteil, wenn man länger dabei ist -, dass Sie damals, als
es um das Stichwort Kinderarmut ging, noch nicht wahrhaben wollten, wie viele Kinder in Armut leben.
({5})
Damals haben Sie sich gedrückt und gewunden wie ein
Aal. Wir haben die Zahl offen genannt. Die Frau Ministerin sagt: So viele Kinder sind es, und das darf nicht so
bleiben.
({6})
Deshalb werden wir jetzt in der neuen Koalition diesem
Problem begegnen, und wir werden es hinkriegen.
({7})
- Bleiben Sie ganz ruhig! Nicht nur ich, sondern auch
die Kollegen und die Menschen draußen kennen Ihre Regierungsprogramme und wissen, was dabei herausgekommen ist.
Lassen Sie uns zusammenarbeiten. Es geht um wirklich wichtige Probleme - deshalb war das Kasperletheater, das Sie, Herr Wunderlich, hier aufgeführt haben,
nicht sinnvoll -, für die wir Lösungen anbieten müssen.
Ich lade Sie, die Opposition, ein, dabei mitzumachen.
({8})
Ich möchte in meiner Redezeit vor allem die Jugendpolitik und die Situation der Jugend ansprechen. Die
Kanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht, vor welchen alarmierenden Zuständen wir stehen. Wenn wir uns die Zahlen genau anschauen, dann
wissen wir, dass bis 2020 die Zahl der unter 25-Jährigen
um fast 15 Prozent zurückgehen wird. Hier stehen wir
vor großen Problemen. Es ist daher wichtig, dass wir die
Jugend zu einem zentralen Thema machen. Keine Frage,
Jugend ist unsere Zukunft und unsere Ressource. Deswegen müssen wir die Jugendpolitik aktiv in den Fokus
nehmen. Ich freue mich, dass es gelungen ist, im Koalitionsvertrag festzuhalten, dass wir eine eigenständige Jugendpolitik betreiben wollen. Das ist wirklich ein Fortschritt, das ist ein Signal. Wir werden diesen Weg gehen
und Ihnen sicherlich Erfolge mitteilen können.
({9})
Wir brauchen eine starke Jugendhilfe; auch hier müssen wir ansetzen. Das haben wir in der Vergangenheit
nicht in ausreichendem Maß getan. Wir haben uns zudem für eine starke Jugendarbeit ausgesprochen. Hier
wird deutlich, dass wir unterschiedliche Beteiligte brauchen, um dem Problem begegnen zu können und vernünftige Lösungen auf den Weg zu bringen. Eine einseitige Sichtweise ist dabei nicht hilfreich. Wir müssen
vielmehr schauen, dass wir die Beteiligten stärken, um
etwas für die Jugend auf den Weg zu bringen.
({10})
Unser Ziel ist und bleibt, junge Menschen nicht nur
an den Entscheidungen, die sie betreffen, sondern vor allen Dingen auch an den Möglichkeiten teilhaben zu lassen, die unsere Gesellschaft bietet. Das Wichtigste ist
auf jeden Fall die Bildung; darüber haben wir schon gesprochen. Junge Menschen, die Schwierigkeiten beim
Lernen und in der Schule sowie dabei haben, einen Ausbildungsplatz zu finden, können wir nicht alleine lassen.
Wir müssen diesen jungen Menschen Hilfen anbieten. Es
ist richtig und wichtig, dass sie frühzeitig Unterstützung
bekommen. Deshalb tun wir gut daran, den von der Ministerin angesprochenen ersten Übergang von der Schule
in die Ausbildung viel stärker in den Fokus zu nehmen.
Es gibt viele junge Menschen, die Schwierigkeiten haben, angenommen, begleitet und gefördert zu werden.
Für sie brauchen wir Angebote. Diese können wir nur
gemeinsam schaffen. Wir dürfen uns nicht nur auf die
öffentlichen Angebote verlassen - diese sind sicherlich
richtig und wichtig und verdienen unsere Unterstützung -,
sondern müssen bei diesen Angeboten auch die Familien
stärker in den Fokus nehmen. Deshalb macht es Sinn, die
Familien zu stärken, wie wir es vorhaben.
({11})
Das heißt aber auch, die Wünsche, die Probleme und die
Sorgen der Familien ernst zu nehmen. Deshalb ist es
auch richtig und wichtig, nicht nur das Kindergeld, sondern auch den Kinderfreibetrag zu erhöhen.
({12})
Frau Marks, können Sie mir erklären, warum ein
Facharbeiter, der verheiratet ist und keine Kinder hat,
genauso viele Steuern zahlt wie ein Facharbeiter, der
eine Familie hat? Ist das nicht ungerecht? Wir reden
nicht über die oberen Zehntausend, die Wer-weiß-wieviel-Tausende Euro verdienen. Es geht vielmehr um
ganz normale Familien.
({13})
Hier macht es Sinn, für einen Ausgleich zu sorgen. Glauben Sie es mir! - Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen,
dann verlängert sich meine Redezeit, die ohnehin knapp
ist, Frau Deligöz. Tun Sie es bitte! Dann kann ich noch
etwas länger reden.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode einige Programme und Projekte auf den Weg gebracht, die jungen
Menschen helfen. Wir wollen dies verstärken. Wir werden ein effektives Fördersystem unter dem Stichwort
„Jugend stärken - Chancen nutzen“ schaffen, das Chancengerechtigkeit und vor allen Dingen die Integration
sozial benachteiligter junger Menschen zum Ziel hat.
Daran werden wir festhalten. Wir werden alles in unserer
Macht Stehende tun, um für die jungen Menschen eine
wirkliche Verbesserung zu erreichen.
Wir werden uns intensiv mit den Schnittstellen beschäftigen - Frau Ministerin und auch ich haben es gesagt -, nicht nur der von der Schule in den Beruf, sondern auch der von der Ausbildung in den Beruf. Wir
wollen mit der Bildungsministerin zusammen für Förderinstrumente sorgen. Die Jugendpolitik - auch das
möchte ich Ihnen sagen -, die Sie jetzt vielleicht nur unter dem Kapitel „Jugendliche“ nachgeschlagen haben, ist
nicht das Einzige, was wir für junge Menschen tun und
was im Koalitionsvertrag steht. Schauen Sie, Herr
Wunderlich, einmal im Kapitel „Bildung“ nach. Da werden Sie die eine oder andere Antwort finden, die wir zur
Lösung der Probleme anbieten.
Die Zeiten sind nicht einfach.
({14})
Die Zeiten sind wirklich nicht einfach, sie sind schwer.
Wir dürfen unsere jungen Leute nicht im Regen stehen
lassen.
({15})
Wenn Sie es ernst meinen, dann arbeiten Sie mit. Wir
bieten Ihnen an, mit Ihnen gemeinsam etwas für unsere
jungen Leute zu verändern und ihnen eine Perspektive
zu geben.
({16})
Wir werden die Vorarbeit liefern, und wir würden uns
freuen, wenn Sie sich dem einen oder anderen anschließen könnten.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch für
den Bereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend gibt
der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag keinen Anlass zur
Freude. Ganz im Gegenteil: Ihre ideenlose, rückwärtsgewandte Familienpolitik ist eine Klientelpolitik für Besserverdienende, und sie vergrößert die Schere zwischen
Arm und Reich.
({0})
Mindestens genauso ideenlos ist Ihre Gleichstellungspolitik. Die Ungerechtigkeit der Lohnungleichheit
zwischen Männern und Frauen wollen Sie nach wie vor
lediglich mit freiwilligen Maßnahmen der Wirtschaft beseitigen. Seit über acht Jahren besteht eine freiwillige
Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den
Spitzenverbänden der privaten Wirtschaft - ohne Erfolg.
Schwarz-Gelb hat nichts, aber auch wirklich nichts dazugelernt. Frauen verdienen nach wie vor 23 Prozent
weniger als Männer,
({1})
arbeiten verstärkt in Teilzeit und im Niedriglohnsektor,
sind kaum in Führungspositionen, Vorständen und Aufsichtsräten zu finden. Und was bietet die neue Regierung
zur Herstellung von Chancengleichheit an? Außer unverbindlichen Ankündigungen nichts. Bei der Wirtschaft
will Schwarz-Gelb lediglich darum werben, Entgeltungleichheit zu beseitigen. Viel Spaß und Erfolg beim
Werben! Es bleibt festzuhalten: keine gesetzlichen Maßnahmen, keine sinnvollen Überlegungen zur Einführung
von Quoten, keine zielführenden Vorschläge zur Beseitigung der Entgeltungleichheit, keine Überlegungen zur
Begrenzung von Minijobs. Schwarz-Gelb - das muss
man feststellen - ist an einer wirklichen Teilhabe von
Frauen an dieser Gesellschaft nicht wirklich interessiert.
({2})
Gleichstellungspolitik wird mit Frau von der Leyen
als Ministerin nach wie vor nicht stattfinden. Allenfalls
wird es - das versteht sie - aufgeblasene PR-Aktionen
und ein paar wohlwollende Worte beispielsweise am
Equal Pay Day geben. Aber ich sage Ihnen, Frau Ministerin, die Frauen haben die Nase voll von Appellen, sie
wollen Taten sehen.
({3})
Wir haben gute Konzepte zur Gleichstellung und auch
konkrete Vorschläge unterbreitet. Sie können sicher sein:
Wir werden Ihre Untätigkeit nicht hinnehmen.
Nehmen wir den Bereich der Entgeltungleichheit.
Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ muss endlich verwirklicht werden.
({4})
Da deutlich mehr Frauen als Männer im Niedriglohnsektor arbeiten, ist gerade für sie die Einführung eines Mindestlohns besonders wichtig.
({5})
Die Bekämpfung von Lohndumping lehnen Union und
FDP aber rigoros ab.
Wir, die SPD, wollen eine Stelle einrichten, die Lohnmessungen bei Unternehmen veranlassen kann. Gleichzeitig sollen Betriebsräte das Recht erhalten, vom Arbeitgeber Informationen darüber zu verlangen, ob die
Löhne in einem Unternehmen gerecht sind; die Betriebsräte wären dann keine Bittsteller mehr, die sich mit unverbindlichen Auskünften zufriedengeben müssten. Die
SPD will mehr Frauen in Führungsfunktionen, und dies
nicht als Lippenbekenntnis, sondern mit klaren gesetzlichen Regelungen.
({6})
Die Benachteiligung von Frauen im Beruf beschneidet ihre Lebenschancen; sie schadet aber auch unserer
Wirtschaft und unserer Demokratie. Damit werden wir
uns in der SPD nicht abfinden. Wir brauchen einen verbindlichen rechtlichen Rahmen, der es Frauen und Betriebsräten ermöglicht, gegen Lohndiskriminierung vorzugehen.
({7})
Durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
sind die Abhilfemöglichkeiten bei Entgeltdiskriminierungen durchaus verbessert worden. Benachteiligte Personen können sich besser zur Wehr setzen. Wir wollen
das Antidiskriminierungsgesetz noch schlagkräftiger
machen und weiterentwickeln; denn das ist notwendig.
({8})
Wir wissen alle, meine Damen und Herren von Union
und FDP, dass das AGG noch nie Ihr Herzensanliegen
war. Eigentlich haben Sie es immer abgelehnt. Daher
wundert es auch nicht, dass Sie das AGG von, wie es so
schön heißt, Bürokratie befreien wollen. Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich der Abbau von Rechten Benachteiligter.
({9})
Bezeichnend ist aber auch, dass Sie zur Antidiskriminierungsstelle des Bundes überhaupt kein Wort verlieren.
Ihre Arbeit muss deutlich verbessert werden.
({10})
Ob die neue Leiterin die Betroffenen besser unterstützt
als ihre Vorgängerin, bleibt abzuwarten. Schlechter kann
es jedenfalls nicht werden.
Sehr geehrte Damen und Herren von Union und FDP,
das in Ihrem Koalitionsvertrag vereinbarte Betreuungsgeld ist reaktionär und wird Chancen von Kindern verhindern. Die Zahlung einer solchen Zu-Hause-bleibPrämie ist bildungs-, integrations-, arbeitsmarkt- und
gleichstellungspolitisch katastrophal.
({11})
Die Erfahrungen in Thüringen zeigen doch, dass eine
solche Geldleistung den Fehlanreiz bietet, Kinder eben
nicht in eine Kindertagesstätte zu schicken. Dadurch
werden insbesondere für benachteiligte Kinder Bildungschancen ganz bewusst vertan, und dadurch wird
Bildungsarmut verfestigt.
Frau Ministerin, es ist wirklich ein Hohn, wenn Sie
von Chancengesellschaft und Armutsbekämpfung sprechen. Es reicht auch nicht aus, zu verkünden, das Konzept des Betreuungsgeldes sei in sich noch nicht stimmig. An diesem Betreuungsgeld - von einem Konzept
kann man wohl überhaupt nicht sprechen - wird nie etwas stimmig sein.
({12})
Es ist unsinnig und eine Verschwendung von Geld, das
an anderer Stelle für Qualität und Ausbau von Bildungsund Betreuungseinrichtungen dringend gebraucht wird.
Vor Monaten äußerten Sie als Familienministerin und
auch die FDP klar und deutlich Ihre Ablehnung zum Betreuungsgeld. Wir fragen Sie nun zu Recht: Wie ernst ist
Ihnen Ihr Nein zum Betreuungsgeld eigentlich?
Es bleibt festzuhalten: Mit Schwarz-Gelb ist kein
Staat für eine moderne und gerechte Familien- und
Gleichstellungspolitik zu machen. Es zeigt sich vielmehr: Sie sind alles andere als die selbsternannte Koalition der Mitte. Sie sind die Koalition des Rückschritts,
({13})
der Ideenlosigkeit und der gesellschaftlichen Spaltung,
und das nicht nur in diesem Fachbereich.
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Frau Marks, dass Sie bis vor Kurzem mitregiert haben, kann man schier nicht fassen,
wenn man Sie heute hört.
({0})
Ganz offensichtlich leiden Sie unter vielen verpassten
Chancen.
({1})
Der Koalitionsvertrag setzt auch in der Familien- und
Gesellschaftspolitik neue Zeichen. Unmittelbar nach den
familienpolitischen Zielsetzungen ist das Thema „Integration und Zuwanderung“ aufgeführt, das man traditionell im innenpolitischen Bereich vermutet. Hier wird
deutlich, dass wir die Bandbreite des Themas Integration nicht auf das Aufenthalts- oder Polizeirecht limitieren, sondern es auch als eine Fragestellung in der Mitte
dieser Gesellschaft verstehen.
({2})
Dazu ist natürlich der Erwerb der deutschen Sprache
weiterhin von zentraler Bedeutung. Wir haben es in der
letzten Legislatur gefordert, und wir fordern es auch
jetzt: Wir wollen, dass durch Sprachstandstests schon
frühzeitig erkannt wird, ob Kinder die entsprechenden
sprachlichen Fähigkeiten haben, und, wenn nicht, entsprechende Sprachförderung anbieten, sodass sie gut ins
Schulleben starten können. Hier sind allerdings auch die
Eltern gefordert. Sie müssen das unterstützen. In manchen Fällen ist sicher auch Unterstützung und Aufklärung der Eltern nötig, und unter Umständen brauchen
auch diese ihrerseits Sprachförderung.
Noch ein Thema war mir in den Koalitionsverhandlungen besonders wichtig: die Würdigung der Lebensleistungen von Migrantinnen und Migranten und dabei
insbesondere die Anerkennung der im Heimatland erworbenen Bildungsabschlüsse. Es ist ein Erfolg, dass wir
einen gesetzlichen Anspruch auf ein Anerkennungsverfahren schaffen werden.
({3})
Uns ist aber auch wichtig, dass familiäre Gewalt bekämpft wird. Sie ist in keinster Weise zu tolerieren.
Hierzu bedarf es ausreichender sogenannter flankierender Maßnahmen. Darunter verstehen wir Beratungsangebote, aber ganz konkret auch die Frauen- und Kinderschutzhäuser. Das Hilfesystem im Fall von Gewalt gegen
Frauen wird im Rahmen der Bundeszuständigkeit weiter
gestützt werden. Hierzu gehören auch die Einrichtung einer bundesweiten Notrufnummer sowie die Vorlage eines
Berichts zur Lage der Frauen- und Kinderschutzhäuser
und der darüber hinausgehenden Hilfeinfrastruktur. Wir
haben, Herr Wunderlich, den CEDAW-Bericht sehr wohl
gelesen und auch entsprechend umgesetzt.
({4})
Weiter haben wir vor, dass das Problem Zwangsheirat nicht so im Raum stehen bleibt. Es soll ein eigener
Straftatbestand geschaffen werden. Entsprechende rechtliche Regelungen - ich nenne das Stichwort Rückkehrrecht - sollen unter dem Gesichtspunkt des Opferschutzes neu gestaltet werden.
Noch eine andere Bevölkerungsgruppe, die gern übersehen wird, ist Thema unserer familienpolitischen Zielsetzung. Ich meine die mittlerweile knapp 1,6 Millionen
Alleinerziehenden in Deutschland, die rund 2,6 Millionen Kinder erziehen. Gerade sie brauchen den Ausbau
der Betreuungsangebote. Dazu haben wir heute schon einiges gehört. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung hier noch einiges auf den Weg bringt. Es ist im
Übrigen vereinbart, dass das Unterhaltsvorschussgesetz
dahin gehend geändert wird, dass die Gewährung von
Unterhaltsvorschuss entbürokratisiert und dieser künftig
bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres eines Kindes
gewährt wird.
({5})
Wir brauchen in dieser Gesellschaft aber auch das
freiwillige Engagement und wollen es deshalb fördern.
So ist uns die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements ein wichtiges Anliegen, das durch eine entsprechende Rahmengesetzgebung gestärkt werden soll.
Darüber hinaus haben wir vereinbart, die Wehrpflicht
auf sechs Monate zu reduzieren und den Zivildienst entsprechend anzupassen.
({6})
Das hat auch etwas mit Wehrgerechtigkeit zu tun. Im
Übrigen wird die Verkürzung des Zivildienstes, den wir
als eine Art Zwangsdienst - er ist ja bislang kein Freiwilligendienst - kritisieren,
({7})
zu einer Umstellung führen. Ich bin sehr zuversichtlich,
dass es jetzt endlich gelingt, die Freiwilligendienste stärker in den Fokus zu stellen,
({8})
zum Beispiel, indem der Ausbau von Maßnahmen wie
Freiwilliges Soziales Jahr und von anderen Freiwilligendiensten, nicht zuletzt auch unter Einbeziehung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, vorangetrieben wird. Eine freiwillige Verlängerung des Zivildienstes
lehnen wir allerdings ab.
({9})
Meine Damen und Herren, wir wollen solche Ziele
wie Integration und Stärkung von Familien in Problemlagen, aber auch mehr freiwilliges bürgerliches Engagement erreichen. Wir sollten gemeinsam darauf hinarbeiten.
({10})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Johannes
Singhammer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben es geschafft, in den vergangenen vier Jahren der Gerechtigkeit
für Familien einen ähnlichen Stellenwert in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu verschaffen wie den Arbeitslosenzahlen oder den Haushaltszahlen. Glückwunsch! Ich
wünsche Ihnen für die nächsten vier Jahre weiterhin viel
Erfolg. In meinen Glückwunsch beziehe ich ausdrücklich
Ihren Staatssekretär ein. Ich hoffe, dass es so erfolgreich
für die Familien weitergeht.
({0})
Es ist nicht völlig ungewöhnlich, dass die Opposition
den Koalitionsvertrag, den wir gerade unterschrieben haben, kritisiert.
({1})
Ich möchte Sie einfach bitten, zu prüfen, ob Ihre Vorwürfe, dass darin eine Ansammlung von Versprechungen ohne Taten aufgeführt sei, standhalten.
({2})
Wir haben im Koalitionsvertrag, der am 26. Oktober
2009 besiegelt wurde, formuliert:
Der Kinderfreibetrag wird in einem ersten Schritt
zum 01.01.2010 auf 7 008 Euro und das Kindergeld
um je 20 Euro erhöht.
Im Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das wir in dieser
Woche in erster Lesung behandeln, steht:
… werden die Freibeträge für jedes Kind von insgesamt 6 024 Euro auf 7 008 Euro ab dem Veranlagungszeitraum 2010 angehoben. Zugleich wird - um
Familien in unteren und mittleren Einkommensbereichen zu fördern - das Kindergeld ab dem 1. Januar
2010 für jedes zu berücksichtigende Kind um
20 Euro erhöht.
Versprochen und gehalten - und das in Rekordzeit.
({3})
Wer hier behauptet, der Koalitionsvertrag sei eine Ansammlung von Versprechungen ohne Taten, der sollte
das zur Kenntnis nehmen.
({4})
Wenn man die Halbwertszeiten zugrunde legte, mit denen früher Kindergelderhöhungen verbunden waren
- Kollegin Gruß hat es angesprochen -, nämlich 10 Euro
in sieben Jahren, hätten wir für diese Erhöhung 14 Jahre
gebraucht. Wir haben das innerhalb von acht Wochen
gemacht.
({5})
Sie sollten wissen, dass auch alle anderen Perspektiven für die Familien umgesetzt werden, und zwar Zug
um Zug.
({6})
Wir wollen, dass es den Familien durch mehr Kinderund Familienfreundlichkeit besser geht. Dazu zählt
auch ein anderes Verständnis von Kinderlachen oder gelegentlichem Kinderlärm.
({7})
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag formuliert, dass
Kinderlärm kein Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen sein darf. Wir werden die Gesetzeslage entsprechend ändern. Darauf können Sie sich verlassen.
({8})
Wir bekennen uns zur Erziehungsverantwortung
der Eltern. Sie tragen diese Verantwortung vor allen anderen. Die Eltern zu stärken, ist unser Ziel; denn starke
Kinder brauchen selbstverständlich auch starke Eltern.
({9})
Wir lassen die Eltern nicht allein.
({10})
Das bezieht sich auch auf alle anderen, die in der Erziehungsverantwortung stehen. Wir sagen: Moderne Erziehung braucht Werte. Wir wollen die Eltern und diejenigen, die in Betreuungseinrichtungen tätig sind, auch in
der Jugendarbeit, unterstützen.
Wenn wir die Gewaltexzesse beklagen, die uns bekümmern und über die die Medien berichten, dann ist es
ganz wichtig,
({11})
dass wir keinen unscharf gewordenen Toleranzbegriff
verwenden, sondern klar sagen, worum es geht. Die
Würde des Menschen ist unantastbar, und Gewalt darf
nie ein Mittel der Auseinandersetzung sein. Auch das
gehört zu einer modernen Familienpolitik.
({12})
Das Wesen der Familie ist eine Gemeinschaft. Eine
Politik, die einzelne Familienmitglieder isoliert betrachtet, springt zu kurz. Wer sich - zu Recht - über Kinderarmut beklagt, der muss auch sehen, dass die Situation
der Eltern damit zusammenhängt. Arme Kinder ohne
arme Eltern trifft man selten. Deshalb ist eine ganzheitliche Familienpolitik so wichtig. Dazu zählt auch unser
Hauptziel, die Wirtschaftskrise zu überwinden, die Geißel der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und dadurch vor
allem die Eltern zu stärken und aus der Armut herauszubringen.
({13})
Denjenigen, die in besonderen Lebenslagen Unterstützung brauchen, wollen wir ganz konkret helfen.
({14})
Das betrifft auch Schwangere in Notlagen. Lesen Sie unseren Koalitionsvertrag genau durch, dann finden Sie
Formulierungen wie: Frauen können bei einer Schwangerschaft aus unterschiedlichen Gründen in eine Notlage
geraten. - Wir wollen beispielsweise das Angebot der
vertraulichen Geburt entsprechend prüfen.
({15})
Wir haben uns auch als Ziel gesetzt, dass die Entscheidung für ein Kind nicht an finanziellen Notlagen scheitern darf.
({16})
Das Ziel von Schwarz-Gelb ist: Wir wollen die Wahlfreiheit der Familien hinsichtlich des von ihnen gewünschten Lebensmodells verbessern. Familien sollen
ihr Lebensmodell nach ihren Wünschen wählen und gestalten können. Das führt mich direkt zum Betreuungsgeld. Mit dem Betreuungsgeld haben Sie mittlerweile
ein Feindbild gefunden. Eigentlich wollen Sie ein bestimmtes Lebensmodell von Familien in Deutschland
zum Feindbild hochstilisieren. Dieses Lebensmodell
können Sie offensichtlich nicht ertragen.
({17})
Sie kritisieren das Betreuungsgeld und unterstellen in
diesem Zusammenhang immer, Eltern könnten mit diesem Geld nichts Sinnvolles anfangen.
({18})
Sie sagen, die 150 Euro Betreuungsgeld würden nicht im
Interesse der Kinder eingesetzt werden. Damit stellen
Sie die Eltern unter Generalverdacht.
({19})
Wenn das von allen zu Recht gelobte Elterngeld in Höhe
von mindestens 300 Euro ausläuft, kann im Monat darauf Betreuungsgeld in Höhe von 150 Euro beantragt
werden, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Ich fragen
Sie: Mit welcher Begründung können Sie behaupten,
dass das Elterngeld zum Wohl der Kinder eingesetzt
wird, aber das Betreuungsgeld, das danach ausgezahlt
werden kann, Teufelszeug ist?
({20})
Das zeigt, vorsichtig formuliert, eine gewisse Asymmetrie in Ihrer politischen Argumentation.
({21})
Wir werden die Eltern und die Familien fördern. Wir
wollen keine Strategie entwickeln, wie Kinder vor ihren
Eltern geschützt werden,
({22})
sondern wir wollen die Familien - Väter, Mütter und
Kinder gemeinsam - ganzheitlich fördern, damit es den
Familien besser geht.
({23})
Das Wort hat der Kollege Sönke Rix für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin fast gezwungen, noch einmal zum Betreuungsgeld Stellung zu beziehen. Aber da meine Kolleginnen von den Grünen und von der Linkspartei dazu
Stellung genommen haben, will ich es bei der Feststellung belassen, dass Sie es einfach nicht verstanden haben. Ich will daher nicht noch einmal erklären, warum
wir das Betreuungsgeld ablehnen.
({0})
Vielleicht sollten wir das Thema vertiefen, wenn wir im
Ausschuss den entsprechenden Gesetzentwurf behandeln. Ich bin sehr gespannt, ob und wann der Gesetzentwurf kommt. Vor allen Dingen bin ich sehr gespannt,
wie sich die FDP dazu verhalten wird. Sie hat das Betreuungsgeld einmal sehr viel kritischer gesehen, als es
jetzt im Koalitionsvertrag zum Ausdruck kommt.
({1})
Als ich mir den Koalitionsvertrag angeschaut habe,
habe ich mich über viele Dinge gar nicht gewundert;
denn Punkte wie Kopfpauschale, Mehrbelastung der
Kommunen und Betreuungsgeld, die im Wahlkampf angesprochen wurden, finden sich nun im Koalitionsvertrag wieder. Sehr gewundert habe ich mich aber über die
Regelung zur Wehrpflicht. Die Dauer des Wehrdienstes
soll auf sechs Monate verkürzt werden. Keiner kennt die
Gründe dafür. Es wurde gerade von Wehrgerechtigkeit
gesprochen. Jeder - sei es die FDP oder die CDU/CSU versucht, für sich einen Grund zu finden, warum er mit
einer Wehrdienstzeit von sechs Monaten zufrieden ist.
Als Jugendausschuss sind wir für den Zivildienst zuständig. Eine Verkürzung auf sechs Monate ist für die Träger
ein Schlag ins Gesicht. Was sollen sie mit Zivildienstleistenden anfangen, die nur sechs Monate ihren Dienst
in der Einrichtung leisten? Diese Frage müssen Sie beSönke Rix
antworten. Ich glaube, dieser Weg ist konzeptlos und
führt in die Sackgasse.
({2})
- Wenn Sie sich durchgesetzt hätten, dann hätten wir
eine Aussetzung der Wehrpflicht. Das hätte mich sehr
gefreut.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Fricke? - Bitte schön.
Herr Kollege Rix, ich weiß, dass die Opposition kritisieren muss. Sie muss dann aber auch sagen, was ihre eigene Position ist.
Wenn Sie sagen, dass Sie wie wir auch lieber eine Aussetzung der Wehrpflicht hätten, könnten Sie mir dann erklären, wie es möglich war, dass es der FDP-Fraktion gelungen ist, die CDU/CSU zu einer Verkürzung der
Wehrdienstzeit zu bewegen, während es der SPD-Fraktion in den vergangenen vier Jahren nicht gelungen ist?
Mich würde interessieren, warum Sie es in vier Jahren
nicht geschafft haben und wir es immerhin - ich gebe zu,
wir konnten uns nicht komplett durchsetzen - geschafft
haben, eine Verkürzung zu erreichen.
Ein verkürzter Zwangsdienst ist immer noch ein
Zwangsdienst, auch wenn er nur sechs Monate dauert.
Ich sage Ihnen: Ein Zivildienst von sechs Monaten ist für
die Träger und die Einrichtungen nicht zu machen. Das
muss man einfach hinnehmen. Haben Sie die Reaktionen
der Diakonie, des Roten Kreuzes und der Arbeiterwohlfahrt nicht zur Kenntnis genommen? Haben Sie davon
nichts gehört? Wir haben den Zivildienst bisher fast
fraktionsübergreifend zu einem Lerndienst weiterentwickeln wollen. Wie sollen wir denn in diesen sechs Monaten genügend Bildungseinheiten vorsehen, wenn die Betroffenen noch Urlaub haben sollen und zwischendurch
vielleicht noch krank sind?
({0})
Ein anderes Vorgehen hat mit der Union nicht geklappt. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich durchsetzen können. Das habe ich an dieser Stelle bereits gesagt.
Das ist leider nicht passiert. Dies ist Murks. Die alte Regelung wäre vielleicht sogar besser gewesen als das, was
jetzt geplant ist. Viel besser aber wäre es gewesen, wenn
Sie sich für unser Modell entschieden hätten. Daraus
hätte sich mehr Freiwilligkeit und weniger Pflicht entwickelt.
({1})
Denn es gibt einen großen Bedarf bei den Freiwilligendiensten; Frau Laurischk hat es angesprochen. Es
gibt weniger Plätze als Anfragen. Das Geld, das dort zur
Verfügung steht - im Koalitionsvertrag steht übrigens
nicht, was mit den bei einem verkürzten Zivildienst frei
werdenden Mitteln passieren soll -, muss eins zu eins in
die Freiwilligendienste fließen. Es ist immer noch so,
dass auf jeden Platz drei Anfragen kommen. Dies ist ein
Instrument, das dem Jugendministerium und uns im Jugendausschuss zur Verfügung steht, um Jugendlichen
nach der Schulzeit eine Perspektive zu bieten. Dazu
hätte ich mir erheblich mehr Antworten gewünscht.
Dazu steht im Koalitionsvertrag leider nicht viel.
Stattdessen sollen der Kinderfreibetrag und das Kindergeld erhöht werden. Das alles ist schön und gut. Aber
was im Hinblick auf die Mittel im Jugendhaushalt passieren soll, steht nicht im Koalitionsvertrag. Stattdessen
findet man eine Formulierung, die mich ein bisschen
zum Nachdenken gebracht hat, und zwar steht dort:
Wir werden das Kinder- und Jugendhilfesystem und
seine Rechtsgrundlagen im SGB VII auf Zielgenauigkeit und Effektivität hin überprüfen.
Das klingt erst einmal richtig und gut. Das sollte bei
all unseren Gesetzen so sein. Ich habe mich in diesem
Zusammenhang an einen Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion aus dem Jahre 2004 erinnert, an das sogenannte
Kommunale Entlastungsgesetz, das Sie damals geplant
haben. Es hätte in der Kinder- und Jugendhilfe einen
Kahlschlag bedeutet.
({2})
Die Formulierung im Koalitionsvertrag kann also durchaus so verstanden werden, dass eine Neuauflage des damaligen Entwurfes geplant ist. 2004 konnten wir diesen
Gesetzentwurf noch verhindern. Ich hoffe, Ähnliches ist
nicht geplant. Ich hoffe, dass solche Formulierungen
nicht einfach nur deshalb im Koalitionsvertrag stehen,
weil sie schön und gut sind. Ich hoffe, dass es nicht zu
Kürzungen kommt. Wir brauchen jeden Cent und jeden
Euro in der Jugendhilfe.
({3})
Wenn wir schon bei Streichungen sind, dann sind wir
auch beim Thema der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Ich spreche es gerne noch einmal an; es war heute
schon Thema in der innenpolitischen Debatte. Sie haben
es hinbekommen - ich glaube, dies hat auch die Union
durchgesetzt -, dass es keine speziellen Programme
mehr gegen Rechtsextremismus gibt, sondern nur noch
gegen Linksextremismus und den gesamten anderen Extremismus, ohne aber festzulegen, dass es dafür auch
mehr Mittel gibt. Folge ist: Es gibt weniger Mittel für die
jetzt sehr erfolgreichen und guten Projekte.
({4})
Da fehlen Antworten, wie das weitergehen soll.
Sie haben immer noch nicht begriffen, dass die Programme gegen Rechtsextremismus nicht einfach mit
Programmen gegen Linksextremismus gleichzustellen
sind. Hier wird eine völlig unterschiedliche Art der Bekämpfung durchgeführt. Das sind völlig unterschiedliche Dinge. Das in einen Topf zu schmeißen, ist verkehrt,
ideologisch und schadet den guten Projekten vor Ort.
({5})
Sie haben geschrieben: Vieles muss in Kindergärten,
in der Jugendbetreuung und in der Schule zu diesem
Thema passieren. Aber die jetzigen Projekte, die in Ihrem Hause angesiedelt sind, sind von Vereinen, Sozialverbänden und Kirchen organisiert. Dazu schreiben Sie
kein Wort. Ich hoffe, das lässt sich noch richtigstellen.
Wir brauchen dort jeden Cent. Die Bekämpfung des
Rechtsextremismus bleibt ein dauerhaftes Thema und
kann nicht mit der Bekämpfung des Linksextremismus
zusammengefasst werden.
Danke.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Michaela Noll für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, ich
möchte Ihnen erst einmal gratulieren. Ich bin froh, dass
Sie unsere Ministerin geblieben sind; denn ich habe Sie
in den letzten vier Jahren - das gilt auch für die Herrschaften auf der Oppositionsbank ({0})
als wirklich engagierte und durchsetzungsstarke Familienministerin kennengelernt, die sich für alle Gruppen
eingesetzt hat, ob jung, ob alt, ob alleinerziehend etc.
({1})
Deswegen empfinde ich es als ausgesprochen schade
- so lange sitzen Sie ja noch nicht auf der Oppositionsbank -, dass Sie heute nicht in der Lage sind, anzuerkennen, was wirklich geleistet worden ist. Ich mache nicht
alles schlecht, was wir in vier Jahren gemacht haben. Ich
erwähne hier noch einmal ganz kurz das Elterngeld, den
Kinderzuschlag, den Ausbau der Kinderbetreuung, die
„Zweite Chance“, die Mehrgenerationenhäuser.
({2})
Wir haben uns vorgenommen, an dieser Stelle weiterzumachen. Ich erinnere Sie daran, dass es einige Punkte
gab, die sich mit unserem Koalitionspartner, damals mit
Ihnen, äußerst schwierig gestaltet haben.
({3})
Darauf werde ich gleich noch eingehen; Stichwort Kinderschutz. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt endlich
mit der FDP neue Akzente setzen können.
({4})
Ich komme gleich noch auf das Thema Jungen zu sprechen, das der Kollegin Gruß und mir am Herzen liegt.
Endlich haben wir dieses Thema auch im Koalitionsvertrag.
Ministerin von der Leyen, Sie haben eben noch einmal den Spannungsbogen dargelegt. Es wäre einfach
schön gewesen, wenn die Kollegen von der Oppositionsbank auch einmal zugehört hätten. Sie haben nämlich
das Thema Kinderarmut breit und mit allen Facetten
angesprochen.
({5})
Sie haben über verpasste Chancen sowie darüber gesprochen, dass wir etwas gegen Bildungsarmut machen
müssen. Sie haben gezielt die Alleinerziehenden angesprochen, die auf den Ausbau der Kinderbetreuung angewiesen sind, und gesagt, dass wir Netzwerke brauchen. Sie haben von einer zweiten Chance gesprochen,
von der besseren Vernetzung von Kompetenzagenturen.
Ich frage mich einfach, wie es kommen kann, dass die
Kollegen von der Opposition die ganze Zeit hier sitzen
können, ohne zuzuhören.
({6})
Nun zu Ihnen, Frau Ziegler: Sie sind ja neu, zumindest hier bei uns. Ich weiß nicht, wie tief bei Ihnen oder
generell bei der Opposition der Frust sitzt. Er muss ganz
schön tief sitzen; denn manche Sachen, die Sie von sich
gegeben haben, kann ich nicht ansatzweise nachvollziehen.
({7})
- Nein, einfach deshalb, weil Sie gar nicht hier waren.
Also können Sie gar nicht in dieser Form mitdiskutieren.
({8})
Nehmen wir einmal die Betreuung der unter Dreijährigen. Jeder von Ihnen weiß - die Kollegin Humme
weiß es auch; ich komme ebenfalls aus Nordrhein-Westfalen -, dass in Nordrhein-Westfalen Gott sei Dank seit
2005 eine schwarz-gelbe Regierung im Amt ist. Welche
Folgen hatte das? Obwohl Schwarz-Gelb einen gigantischen Schuldenberg von Ihnen übernehmen musste, ist
es uns gelungen, den Ausbau von Betreuungsplätzen für
Kinder unter drei Jahren voranzutreiben und von
11 000 auf 74 000 zu erhöhen.
({9})
Wenn Sie heute einmal die Presse gelesen hätten, hätten
Sie auch entdeckt, dass Minister Laschet sagte, bis zum
nächsten Jahr werde das Ganze auf 100 000 aufgerundet
werden. Das haben Sie in Ihrer ganzen Regierungszeit
nicht geschafft.
Nächstes Stichwort! Nehmen wir den Kinderschutz:
Die von mir wirklich sehr geschätzte Kollegin Marlene
Rupprecht hat mit mir über ein Jahr lang über den Kinderschutz verhandelt. Wir haben Expertengespräche geführt und Anhörungen durchgeführt; wir haben Tage und
Nächte miteinander verhandelt. Wir waren beide auf einem wirklich guten Weg. Ich erinnere jetzt noch einmal
an das letzte Gespräch: Es ist nicht an uns gescheitert.
Das Problem war, dass Sie die Bundestagswahl im Nacken hatten, die Ihnen mächtig Angst machte. Deshalb
sind Sie vorzeitig ausgestiegen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir in der jetzigen Kombination unter dem Aspekt der Prävention und mit unserer Ministerin an der
Spitze ein Kinderschutzgesetz auf den Weg bringen werden, an dem auch Sie nichts mehr zu meckern haben.
({10})
Herr Wunderlich, ich schätze Sie sehr. Wir haben vier
Jahre lang gemeinsam in der Kinderkommission gesessen. Aber heute haben Sie Ihrem Namen alle Ehre gemacht. Sie haben auch nicht zugehört, als Frau von der
Leyen von Kinderarmut sprach. Was das Unterhaltvorschussgesetz angeht,
({11})
bin ich auf Ihrer Seite; da sehe auch ich schon seit längerer Zeit Handlungsbedarf. Wir haben es auf den Weg gebracht. Aber es wäre auch schön, es einfach einmal anzuerkennen, wenn in einem Koalitionsvertrag Dinge
stehen, die praxistauglich sind. ({12})
- Das hat aber nichts mit Umfallen zu tun. Das hat etwas
damit zu tun, dass sich die Dinge auch ändern können.
({13})
- Dann ist es okay, dann nehmen wir das zurück.
({14})
Aber ich finde es schön, dass wir heute wenigstens am
Ende dieser etwas heftigen Debatte gemeinsam lachen.
({15})
- Nein, wir verstehen uns sehr gut. Deswegen spreche
ich noch kurz einen weiteren Punkt an: Seit 2002 gehöre
ich dem Deutschen Bundestag an, und seit 2002 habe ich
immer gesagt, wir müssen den Fokus mehr auf die Jungen legen. Jungen sind unsere Sorgenkinder, die Jungen
sind die Bildungsverlierer.
({16})
Dank der guten Anfragen unter Federführung der Kollegin Miriam Gruß in der letzten Legislaturperiode haben
wir dieses Thema endlich in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Sprechen Sie mit Lehrern, mit Erziehern
und Schulleitern: Wir haben Defizite bei den Jungen.
Das hat nichts mit Gleichstellung zu tun.
({17})
Sie alle waren bei der Anhörung dabei, als Frau
Allmendinger bei uns war. Ich erinnere mich noch ganz
genau an die etwas spitz formulierte Frage von Frau
Allmendinger: Was nützt es den kompetentesten Frauen,
wenn sie keinen kompetenten Gegenüber mehr haben?
Dann nützt auch die beste Familienpolitik nichts, dann
ist sie am Ende.
Vielen Dank.
({18})
Weitere Wortmeldungen zu diesen Themenbereichen
liegen nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 12. November
2009, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.