Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auf Vorschlag der CDU/CSU-Fraktion sollen der
Kollege Jens Spahn und auf Vorschlag der SPD-Fraktion die Kollegin Bärbel Bas in den Stiftungsrat der
Stiftung „Humanitäre Hilfe für durch Blutprodukte
HIV-infizierte Personen“ gewählt werden. Sind Sie mit
diesen Vorschlägen einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind der Kollege Spahn und die Kollegin Bas gewählt.
Die FDP-Fraktion schlägt als Nachfolger für den Kollegen Carl-Ludwig Thiele den Kollegen Frank
Schäffler als neues ordentliches Mitglied im Verwaltungsrat bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vor. Neues stellvertretendes Mitglied soll
der Kollege Björn Sänger werden. Sind Sie auch damit
einverstanden? - Dem ist offenkundig so. Dann sind
auch diese beiden Kollegen gewählt.
Nachfolger der Kollegin Michaela Noll im Wahlprüfungsausschuss soll nach Mitteilung der Fraktion der
CDU/CSU der Kollege Michael Grosse-Brömer werden. Können wir uns auch darauf verständigen? - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege GrosseBrömer zum ordentlichen Mitglied des Wahlprüfungsausschusses gewählt.
Schließlich schlägt die Fraktion der CDU/CSU den
Kollegen Andreas G. Lämmel als Nachfolger für die
ausgeschiedene Kollegin Dr. Martina Krogmann als
neues ordentliches Mitglied im Beirat bei der Bundesnetzagentur vor. Sind Sie damit einverstanden? - Auch
das ist offenkundig einvernehmlich. Dann ist der Kollege in den Beirat gewählt.
Die Kollegin Dr. Maria Böhmer feiert heute einen
runden Geburtstag. Dazu möchte ich ihr im Namen des
ganzen Hauses herzlich gratulieren.
({0})
Es lässt sich für solche informellen Geburtstagsveranstaltungen schwerlich ein schönerer Platz als die Regierungsbank denken. Auch unter diesem Gesichtspunkt
meine besondere Gratulation.
Nun können wir in unsere Tagesordnung eintreten.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und
Arbeitsplätze
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Rainer Brüderle.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutschlands Wirtschaft wächst wieder, dieses Jahr mit knapp
1,5 Prozent, nächstes Jahr mit gut 1,5 Prozent. Der Vulkanausbruch auf Island hat die Wirtschaft kurzzeitig abgebremst. Wenn sich die Lage im Laufe der nächsten
Tage wieder voll normalisiert hat, wird sich zeigen, dass
sich die volkswirtschaftlichen Schäden in Grenzen halten. Wir können zuversichtlich sein, dass wir diesen exogenen Schock, wie Ökonomen es nennen, gut wegstecken. Wir sind gut aufgestellt. Deutschland ist zurück
auf dem Wachstumskurs.
Lassen Sie mich eine kurze Bemerkung zu Griechenland machen. Wir beobachten die Lage dort genau. Wir
nehmen die Signale ernst. Wir verfallen aber nicht in
Aktionismus; Aktionismus wäre genau die falsche Reaktion. Deutschland als exportorientierte Volkswirtschaft
hat ein besonderes Interesse an Währungsstabilität. Die
Regierungschefs haben einen ganz klaren Fahrplan verRedetext
einbart. Die Mitglieder der Währungsunion stehen gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds dann
bereit, wenn sich Griechenland nicht mehr selbst helfen
kann. Das ist sozusagen die Ultima Ratio. Bislang ist
diese Situation nicht eingetreten. Wir sollten gemeinsam
daran arbeiten, dass dies so bleibt. Innen- oder gar wahlkampfpolitisch motivierte Äußerungen sind völlig fehl
am Platz.
({0})
Meine Damen und Herren, vieles von dem, was sich
in diesem Jahr als Wachstum zeigt, ist die Folge staatlicher Stabilisierungsmaßnahmen. Angesichts der
schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit brauchte
die Wirtschaft Impulse. Worum es aber letztlich gehen
muss, ist die Rückkehr zu einem selbsttragenden, nachhaltigen Wachstumsprozess, der nicht auf den Staat
zählt, sondern auf Marktkräfte und Eigeninitiative vertraut.
({1})
Im Kern geht es dabei um das richtige Verhältnis zwischen dem Staat auf der einen und der Wirtschaft und
den Bürgern auf der anderen Seite. Nicht Bevormundung und Gängelung, sondern Freiheit, Eigenverantwortung und Chancengerechtigkeit sind die Quellen, aus denen tragfähiges Wachstum und echter Wohlstand
entstehen.
Diese Regierung hat einen klaren ordnungspolitischen Kompass.
({2})
Dauersubventionen, staatliche Bürokratie und Markteingriffe sind keine Grundlagen für eine wirklich wettbewerbsfähige Wirtschaft. Was wir unterstützen wollen
sind Lernen, Kreativität, Engagement, die Bereitschaft,
Verantwortung zu übernehmen, und den Willen, die
Dinge selbst zu gestalten.
({3})
So gesehen sind Deutschlands Wachstumspotenziale
noch längst nicht ausgeschöpft. Unser Wachstumspfad
liegt noch immer deutlich unter seinen Möglichkeiten.
({4})
Wenn wir diese Potenziale heben wollen, müssen wir
an drei zentralen Stellen ansetzen. Erstens. Wir brauchen
Innovation und technischen Fortschritt. Zweitens. Wir
brauchen wirksame Steuervereinfachungen und -entlastungen. Drittens. Wir brauchen offene und flexible
Märkte.
Innovation und technischer Fortschritt sind für die
christlich-liberale Bundesregierung Schüsselthemen.
Wir haben hier schon wichtige Weichen gestellt: Allein
der Bund wird in dieser Legislaturperiode zusätzlich
12 Milliarden Euro für Forschung, Entwicklung und Bildung bereitstellen.
Innovation ist aber nicht nur eine Frage des Geldes in
den Taschen, sondern vor allem auch des Denkens und
der inneren Einstellung. Neue Technologien brauchen
einen positiven Resonanzboden in Politik und Gesellschaft. Nur wenn wir Innovation als Chance sehen, hat
Innovation hierzulande auch eine Chance.
({5})
Deshalb brauchen wir den Beitrag der Genforschung zur
Linderung von Hunger und Krankheiten.
({6})
Deshalb ist für uns eine CO2-Speichertechnologie ein
möglicher Schlüssel für mehr Klimaschutz am Industriestandort Deutschland.
({7})
Deshalb brauchen wir eine Offenheit für neue Technologien wie die Elektromobilität,
({8})
um das Auto des 21. Jahrhunderts in Deutschland neu zu
erfinden. Am 3. Mai 2010 bringt die Bundeskanzlerin
dafür alle wichtigen Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einen Tisch. Von diesem Treffen
wird das Signal ausgehen: Deutschland wird der Leitmarkt für Elektromobilität sein.
({9})
Derzeit läuft die Versteigerung der Mobilfunkfrequenzen. Es wird bei weitem nicht so viel Geld in den
Bundeshaushalt fließen wie bei der UMTS-Versteigerung im Jahr 2000. Aber dieser Bundesregierung geht es
nicht - wie damals Rot-Grün - darum, Kasse zu machen.
({10})
Uns geht es um die Infrastruktur des 21. Jahrhunderts.
Uns geht es darum, das schnelle Internet in ganz
Deutschland zu ermöglichen.
({11})
Deshalb gibt es in den Versteigerungsbedingungen die
Auflage an die Bieter, zunächst die noch unterversorgten
Räume zu erschließen.
({12})
Wir brauchen Breitband überall. Ein Industriegebiet
braucht heute beides: gute Straßen und ein leistungsfähiges Internet. Kein Unternehmen darf „offline“ sein.
({13})
Strukturell genauso wichtig wie das Breitband ist eine
saubere, eine sichere und eine bezahlbare EnergieversorBundesminister Rainer Brüderle
gung. Heute brauchen wir einen dynamischen Energiemix aus Erneuerbaren, Kernenergie und sauberer Kohle.
Für morgen und übermorgen wollen wir die erneuerbaren Energien stark ausbauen.
Dafür brauchen wir verlässliche Übergänge. Ein
Übergang ist der Ausbau der Netze. Ein weiterer Übergang ist die Entwicklung von Speichertechnologien. Als
Brücke ins regenerative Zeitalter brauchen wir die Verlängerung der Laufzeiten für Kernkraftwerke.
({14})
Sie gibt uns die Zeit und die finanziellen Mittel, den
Übergang vernünftig zu gestalten.
Mein Kollege Röttgen und ich werden im Herbst ein
Energiekonzept vorlegen, übrigens das erste seit elf Jahren. Wir haben einen vernünftigen Kompass, der uns bei
dem Konzept leitet.
({15})
Im globalen Wettbewerb müssen wir besser sein als
die anderen. „Besser“ heißt hier: innovativer. Ein wichtiges Thema ist dabei die steuerliche Förderung von
Forschung und Entwicklung. Sie kommt allen innovativen Unternehmen zugute, auch denjenigen, die bisher
vor den Anträgen für die Projektförderung zurückgeschreckt sind. Das wäre ein gutes Mittel, um die Forschungsleistung der Wirtschaft generell anzukurbeln. In
Zeiten knapper Kassen macht es sicherlich Sinn, eine
solche Maßnahme zunächst auf den Mittelstand zu fokussieren.
Das gilt auch für die von dieser Bundesregierung konzipierten Innovationsgutscheine, die ich Anfang Mai
vorstellen werde. Mittelständler erhalten durch diese
Gutscheine eine Art technologisches Fitnesstraining
ohne viel Bürokratieaufwand.
Die erfreuliche Wirtschaftsentwicklung bekommen
die Bürgerinnen und Bürger direkt in ihrem Geldbeutel
zu spüren.
({16})
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte
steigen spürbar. Wir haben einen Zuwachs bei den Nettolöhnen. Sie steigen so stark wie seit fast einem Jahrzehnt
nicht mehr. Die Bundesregierung hat hierzu ihren Beitrag geleistet.
({17})
Sie wird einen weiteren Beitrag leisten. Wir werden die
Wirkung der kalten Progression vermindern, die Bezieher unterer und mittlerer Einkommen weiter entlasten.
({18})
Die Effekte für den Arbeitsmarkt wollen wir maximieren.
({19})
Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag auch einen
Stufentarif vereinbart.
({20})
Im Bundeswirtschaftsministerium haben wir das kürzlich durchrechnen lassen.
({21})
Ein Tarif mit fünf Stufen und einem Entlastungsvolumen
von 16 bis 17 Milliarden Euro würde 130 000 neue Arbeitsplätze schaffen.
({22})
Als Wirtschaftsminister ist mir dabei etwas besonders
wichtig. Neben der Entlastung der unteren und mittleren
Einkommen zur Stärkung der Kaufkraft geht es um
80 Prozent der deutschen Betriebe. Sie sind nämlich Personengesellschaften. Für sie ist die Einkommensteuer
die Unternehmensteuer. Wir wollen also den Mittelstand
entlasten. Das stärkt die Eigenkapitalbasis, die Substanz
jedes Unternehmens.
Die Stärkung der Unternehmenssubstanz ist übrigens
ein roter Faden unserer Steuerpolitik. Das haben wir bei
der Zinsschranke gezeigt. Das haben wir bei der Erbschaftsteuer gezeigt. Dagegen will Rot-Rot-Grün mit
seinen Vermögensteuerplänen den Unternehmen an die
Substanz.
({23})
Es ist nicht glaubwürdig, wenn die SPD auf der einen
Seite die Abschreibungsbedingungen aus den Konjunkturpaketen dauerhaft verlängern, aber auf der anderen
Seite die Eigenkapitalbasis der Unternehmen durch die
Vermögensteuer dauerhaft schmälern will.
({24})
Ein weiterer zentraler Schlüssel für mehr Wachstumspotenzial sind flexiblere Märkte.
({25})
Das gilt mehr denn je. Der Staat war in der Krise gefordert. Nun ist der Staat gefordert, sich in Schritten wieder
zurückzuziehen; denn das beste Entdeckungsverfahren
bleibt der Wettbewerb. Er ist Garant für Dynamik und
Innovation.
Wir haben das bei der Telekommunikation gesehen.
Der Markt wurde in den 90er-Jahren von der damaligen
christlich-liberalen Regierung geöffnet. Davon profitiert
unsere Gesellschaft bis heute. Statt trister Telefonzellen
und horrender Fernsprechrechnungen gibt es heute einen
boomenden Telekommunikationsmarkt mit vielfältigen
Techniken und niedrigen Tarifen.
({26})
Wir wollen solche Erfolgsgeschichten auch in anderen Sektoren, etwa im Postmarkt. Wir machen Schluss
mit dem Mehrwertsteuerprivileg der Post. Dazu hatten
sozialdemokratische Finanzminister elf Jahre nicht die
Kraft. Die neue Regierung sorgt für gleiche Wettbewerbsbedingungen im Postsektor.
({27})
Wir werden die Gasmärkte in den nächsten Monaten
weiter öffnen. Die Gasnetzzugangsverordnung, die wir
in Kürze vorlegen werden, wird dafür ein erster Baustein
sein.
({28})
Für den Stromgroßhandel werden wir eine Markttransparenzstelle einrichten, die die Preisbildung dort dauerhaft unter die Lupe nimmt. Wir werden für alle Branchen
als Ultima Ratio ein Entflechtungsinstrument in das
GWB aufnehmen.
Offene und flexible Märkte brauchen wir auch im
weltweiten Maßstab. Das gilt zum Beispiel für die Rohstoffversorgung. Ich sehe mit großer Sorge, wie sich
etwa bei der Eisenerzgewinnung monopolartige Strukturen herausbilden, die die Preise nach oben treiben.
({29})
Bei den anderen Rohstoffen, wie den sogenannten seltenen Erden, gibt es wichtige Ausfuhrstaaten, die starke
protektionistische Tendenzen zeigen, ja sogar wie China
Exportzölle eingeführt haben.
Ich werde in Kürze die deutsche Wirtschaft zu einem
Rohstoffdialog einladen.
({30})
In meiner Außenwirtschaftspolitik ist das Thema Rohstoffe zentral. Ganz konkret werde ich nächste Woche in
Brasilien die Eisenerzfrage mit meinem Amtskollegen
erörtern.
Wichtig ist, dass wir die Markttransparenz im Rohstoffbereich deutlich erhöhen. Dazu werden wir die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe zur zentralen Rohstoffagentur für die deutsche Wirtschaft
ausbauen. Wir wollen die Wirtschaft unterstützen, jedoch die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Flexible Märkte sind widerstandsfähig. Das verdeutlicht der erstaunlich robuste Arbeitsmarkt. Angesichts
von 3,4 Millionen Arbeitslosen nach der schwersten
Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit kann man schon von
einem kleinen Jobwunder sprechen. Die düsteren Prognosen der letzten Zeit haben sich jedenfalls nicht bewahrheitet. Von Horrorszenarien aus rot-grünen Zeiten
mit 4,5 bis 5 Millionen Arbeitslosen sind wir weit entfernt.
({31})
Die Bürger erinnern sich genau: Rot-Grün war die Regierung des Nullwachstums und der Massenarbeitslosigkeit. Schwarz-Gelb ist die Regierung von Wachstum und
Beschäftigung.
({32})
Es waren immer die bürgerlichen Parteien, die auf flexible Arbeitsmärkte gedrängt haben.
({33})
Wir wissen genau: Die gute Entwicklung verdanken
wir den vielen Bündnissen für Arbeit in den Betrieben,
mit Lohnzurückhaltung und Arbeitszeitkonten, die das
kleine Jobwunder erst möglich gemacht haben.
({34})
Der Flächentarif ist zwar von den Tarifpartnern nicht
aufgegeben worden, aber die zentralen Abmachungen
lassen viel mehr Flexibilität als früher zu. So konnte reguläre Beschäftigung über die Krise hinweg gehalten
werden. Von dieser Flexibilität haben letztlich alle profitiert.
Zwei Drittel der positiven Arbeitsmarkteffekte gehen
auf das Konto von Arbeitszeitflexibilisierung und Lohnzurückhaltung. Im Krisenjahr 2009 ist etwa ein Drittel
auf die Kurzarbeiterregelung zurückzuführen. Mit der
Ausweitung der Kurzarbeiterregelung hat die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für die Flexibilität
der Unternehmen verbessert.
({35})
Facharbeiter konnten gehalten werden. Mit dem Abflauen der Krise wird das Kurzarbeitergeld wieder an
Bedeutung verlieren. Die am Mittwoch beschlossene
Verlängerung ist eine Vorsichtsmaßnahme. Die sogenannte Konzernklausel wurde nicht verlängert. Die
Kurzarbeitergeldregelung ist damit ein Stück mittelstandsfreundlicher geworden.
Kollegin von der Leyen und ich sind uns völlig einig:
Die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung können kein
Dauerzustand sein. Dauerhafte Subventionen stehen im
Widerspruch zum christlich-liberalen Verständnis vom
Verhältnis zwischen Mensch und Staat.
({36})
Sie verzerren den Wettbewerb. Sie stehen einem effizient funktionierenden Marktmechanismus im Wege.
Letztendlich sind dauerhafte Subventionen schlichtweg
nicht zu finanzieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die aktuellen Konjunkturprognosen und die Zahlen vom Arbeitsmarkt zeigen: Seitdem diese Regierung angetreten ist, ist
Deutschland endlich wieder auf Wachstumskurs.
({37})
Die Sofortmaßnahmen der letzten Monate haben gewirkt. Viele Unternehmen sind weiterhin am Markt;
viele Jobs konnten gerettet werden. Jetzt geht es um eine
Wirtschaftspolitik, die Wachstum und Arbeitsplätze
auch für die Zukunft sichert. Dafür müssen wir verschüttete Wachstumspotenziale heben. Dafür müssen wir
Freiräume schaffen. Dafür steht diese Koalition.
({38})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, wer Ihnen den
Rat gegeben hat, hier und heute eine Zwischenbilanz der
Regierung zur Wirtschaftspolitik zu ziehen.
({0})
Auf denjenigen, der diesen Rat gegeben hat, würde ich
jedenfalls nicht allzu häufig hören.
({1})
Das, was wir heute gehört haben, ist keine Leistungsbilanz, verehrter Herr Brüderle. Das grenzt an einen
wirtschaftspolitischen Offenbarungseid.
({2})
Sie fordern, dass die Unternehmen online sein sollen,
Herr Brüderle. Dazu kann man nur sagen: Diese Regierung ist es nicht. Das, was Sie eben vorgetragen haben,
lässt doch klar erkennen: Da ist kein Kompass, da ist
keine Richtung, da ist keine Idee. Diese Regierung und
Sie, Herr Brüderle, warten mit gefalteten Händen, bis
der Aufschwung kommt, bis Manna vom Himmel fällt.
Sie haben nichts auf der Kante; es besteht ein Rekordschuldenstand. Diese Regierung und auch Sie eben fabulieren weiterhin von Steuersenkungen und machen uns
vor, dass alles schöner, heller und bunter wird und die
Leute am Ende sogar noch ein bisschen Geld herausbekommen. Man muss schon bereit sein, Herr Brüderle,
Realität und gesunden Menschenverstand weit hinter
sich zu lassen, um daran zu glauben.
Ich versichere Ihnen: Wir glauben nicht daran. Sie
werden es am 9. Mai erleben: Auch die Menschen glauben es Ihnen nicht.
({3})
Sie können mir glauben, Herr Brüderle: Niemand in diesem Hause würde sich mehr als ich freuen, wenn Sie
recht hätten
({4})
und wir wirtschaftlich wirklich schon über dem Berg
wären. Sie sprechen doch mit denselben Unternehmen
wie ich. Auch Sie hören und sehen doch: Es gibt einen
ganz eklatanten Unterschied; da klafft etwas auseinander
zwischen dem, was sich in Umfragen über Hoffnungen
und Erwartungen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung dokumentiert, und dem, was sich im Augenblick in konkreten Auftragszahlen in Unternehmen niederschlägt. Das ist doch ein eklatanter Unterschied. Sie
hören wie ich in den gleichen Gesprächen die Beurteilung, dass die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung, in der wir uns befinden, keineswegs gesichert ist,
dass wir uns bei weitem noch nicht in einem nachhaltigen Aufschwung befinden.
Über das, was gut ist, darüber darf man - da haben
Sie recht - auch gut reden. Schlechtreden ist gefährlich;
auch das stimmt. Ich reihe mich da nicht ein. Aber wirklich gefährlich, Herr Brüderle, ist das, was Sie tun. Sie
ignorieren einfach, dass dies die tiefste Krise der Nachkriegszeit ist, dass uns das mehr als nur Prozente beim
Wachstum gekostet hat, dass wir eine tiefe Verunsicherung über die Stabilität unseres Wirtschaftssystems
haben. Ob wir in der Politik es wollen oder nicht: Damit
geht ein weiterer Verlust an Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit von Politik einher. Ich sage Ihnen: Wenn die
Demokratie wirklich stabil bleiben soll, dann müssen
wir vor allen Dingen an der Wiederherstellung dieses
Vertrauens arbeiten.
Deshalb ist es sehr gefährlich, wenn Sie sich wie am
vergangenen Mittwoch einfach hinstellen und mit strahlender Miene verkünden: Leute, macht euch keine Sorgen! Die Wirtschaft brummt wieder. Es gibt sogar zusätzlich etwas zu verteilen, immerhin 8 Milliarden Euro. Ganz Deutschland, Herr Brüderle, reibt sich verwundert
die Augen. Herr Brüderle, Sie wissen, dass die Wirklichkeit eine andere ist. Sie selbst glauben nicht daran, und
deshalb halte ich solche Pressekonferenzen wie die am
Mittwoch für unverantwortlich.
({5})
Wenn man im Land unterwegs ist, und zwar nicht nur
im Wahlkampf, trifft man den einen oder anderen. Die
Menschen begreifen nicht so recht, worüber Sie sich am
Mittwoch gefreut haben. Dort haben Sie - das ist Ihr gutes Recht - für die Bundesregierung ein Wachstum von
1,4 Prozent prognostiziert. In derselben Woche hat der
IWF für Deutschland ein Wachstum von 1,2 Prozent
prognostiziert. Worüber sollen sich die Menschen dann
eigentlich genau freuen? Darüber, dass Sie fröhlich vor
die Kameras treten und mit Verweis auf einige wenige
Quartalszahlen von Unternehmen - unter anderem von
Goldman Sachs - sagen: „Es geht uns gut“? Goldman
Sachs hat im ersten Quartal einen Gewinn von
3,5 Milliarden Dollar erzielt. Das ist beeindruckend. Die
Frage, die Sie als Wirtschaftsminister zu beantworten
haben, ist doch nur: Ist diese Zahl ein Beleg für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung? Oder ist sie nicht
eher ein Beleg dafür, dass die Zockerei, die uns in diese
Krise gebracht hat, wieder an Fahrt gewinnt?
Wenn in derselben Woche, in der Sie eine Pressekonferenz geben und vor die Kameras treten, von betrügerischen Spekulationen in schier unfasslichem Ausmaß berichtet wird, dann dürfen Sie als Wirtschaftsminister
nicht dazu schweigen. Dazu müssen Sie doch Sprache
haben.
({6})
Sie haben sie nicht; denn Ihnen fehlt der Mut, zu sagen,
wie Sie damit umgehen wollen.
Wenn ich bei dem Thema bin: Ich glaube, diese Bundesregierung muss eines begreifen: Es kann keinen
nachhaltigen Aufschwung geben - davon bin ich zutiefst
überzeugt -, solange wir den Finanzmärkten keinen
wirklich klaren Rahmen geben, für mehr Transparenz
und mit klaren Grenzziehungen.
({7})
Ich darf daran erinnern, dass wir mit Peer Steinbrück an
der Spitze der weltweiten Diskussion über eine neue internationale Finanzarchitektur standen. Jetzt sind wir allenfalls Zaungast dieser Entwicklung. Das ist die bittere
Wahrheit, nicht das, was Sie uns hier vorgetragen haben.
({8})
Herr Brüderle, mir ist ein Weiteres bei Ihrer Rede
eben aufgefallen: Das Wachstum, über das wir alle uns
gefälligst miteinander zu freuen haben, ist im Grunde
genommen ein Wachstum gegen jede Ordnungspolitik.
Die Hälfte des Wachstums - Sie haben es nur angedeutet fußt auf staatlicher Konjunkturpolitik. Das kleinere Problem ist jetzt: Hätten Sie damals, bei Ausbruch der
Krise, regiert, dann gäbe es diese Hälfte des Wachstums
gar nicht, dann krebsten Sie jetzt bei 0,6 oder 0,7 Prozent
Wachstum herum.
({9})
Das größere Problem ist - das nehme ich viel ernster -:
Die Wirkungen dieser Konjunkturmaßnahmen werden
schwächer und laufen aus. Darauf haben Sie, Herr
Brüderle, keine Antwort; wir haben eben keine Antwort
gehört. Das ist in einer solchen Lage wirklich dramatisch.
({10})
Ich sage das nicht einfach so dahin, sondern mit Blick
auf Ihre Pressekonferenz; ich habe da genau zugehört.
Da sagten Sie, es gehe jetzt
… um einen sich selbst tragenden Aufschwung.
Wir müssen … die richtigen Anreize für Kreativität
und Innovationen setzen.
Das stimmt. Herr Brüderle, umso erstaunlicher ist Ihr
nächster Satz:
Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Bundesregierung mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz getan.
({11})
Daran glauben Sie doch selber nicht.
({12})
Dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz - ich sage es
hier noch einmal - beschleunigt alles außer Wachstum.
Es ist ein Dankeschöngesetz, ein Klientelgesetz für ein
paar Hoteliers. Es verursacht Milliardenausfälle bei den
Städten und Gemeinden. Da wird Geld verpulvert, das
wir, das auch Sie an anderer Stelle dringend brauchten.
Das soll der Beitrag der Bundesregierung zu einem
selbsttragenden Aufschwung sein? Ich sage Ihnen: Ganz
Deutschland, auch die deutsche Wirtschaft, lacht darüber. Verschonen Sie uns also mit solchen Experimenten!
({13})
Wir haben es eben gehört: Weil es so schön ist, machen Sie einfach weiter. Ihre steuerpolitischen Vorschläge vom vergangenen Montag haben im Grunde genommen dasselbe Strickmuster: eine Steuerreduzierung
um 16 Milliarden Euro - eben haben Sie gesagt: um
16 bis 17 Milliarden Euro -, und das jedes Jahr, obwohl
der deutsche Staat schon jetzt mit 1,7 Billionen Euro
verschuldet ist. 70 Prozent unserer gesamten WirtDr. Frank-Walter Steinmeier
schaftsleistung sind Staatsschulden, Herr Brüderle. Das
werfen wir Ihnen nicht gänzlich vor, wahrlich nicht.
Aber man kann doch nicht die Augen davor verschließen
- auch die FDP nicht -, was das bedeutet, was es für Folgen hat im Hinblick auf die völlig geschrumpften Handlungsspielräume von Regierungen und von Politik. Da
ist eben andere Politik vonnöten als das, was Sie hier abgeliefert haben: Heilsversprechen, Steuersenkungspläne,
Allgemeinplätze.
Wenn Sie uns das nicht glauben, dann glauben Sie
wenigstens der OECD oder dem IWF oder glauben Sie
es wenigstens den Menschen; denn die ahnen doch:
Wachstumspolitik auf der einen Seite und leere Kassen
auf der anderen Seite, Konsolidierung und gleichzeitig
Steuersenkungen - das kann nicht gehen, das wird es
nicht geben. Verehrter Herr Brüderle, tun Sie uns deshalb einen Gefallen: Verkaufen Sie die Menschen nicht
für dumm!
({14})
Die Menschen ahnen noch etwas. Das Stück, das im
Moment auf der Bühne aufgeführt wird, heißt: „Im Himmel ist Jahrmarkt“. Im vierten Akt läuft jetzt die Steuersenkungskomödie. Nach dem 9. Mai 2010 wird die
Bühne dann umdekoriert. Das neue Stück, das dann gegeben wird, heißt: „Die Kassen sind leer“. Dann kommt
die Wahrheit auf die Menschen zu. Ehrlich ist etwas anderes, Herr Brüderle; aber auch das werden Sie am
9. Mai 2010 merken.
Ein bisschen von der Wahrheit ist trotzdem herausgerutscht, wenn man das Kleingedruckte des steuerpolitischen Vorschlags vom Montag letzter Woche gelesen
hat. Wir haben da etwas von Kürzungen bei den Mitteln
für aktive Arbeitsmarktpolitik gelesen, von höheren Sozialabgaben und vielleicht auch der Besteuerung der Zuschläge für Nacht- und Schichtarbeit. Sie wollen auch an
die Gewerbesteuer heran. Aber Sie wissen: Das wird bei
weitem nicht reichen, wenn Sie wirklich bei diesem
Steuersenkungsvorhaben bleiben. Deshalb sage ich: Sagen Sie den Menschen die Wahrheit! 16 Milliarden Euro
Steuersenkungen bedeuten - zu den 1,6 Milliarden Euro,
die den Städten und Gemeinden schon jetzt fehlen noch einmal 2,5 Milliarden Euro weniger für die Städte
und Gemeinden. Dafür werden nicht die Städte und die
Oberbürgermeister bluten müssen, sondern die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. Da
werden schon jetzt Gebühren erhöht, da werden auch
Bibliotheken, Schwimmbäder und Schauspielhäuser geschlossen. Das raubt den Städten und Gemeinden nicht
nur Lebensqualität, sondern bereitet den Ruin der kommunalen Selbstverwaltung vor. Das sage nicht nur ich
Ihnen; das sagt auch die Präsidentin des Deutschen Städtetages, Petra Roth, die - jedenfalls bisher nicht - keine
bekennende Sozialdemokratin ist. Nehmen Sie das bitte
ernst, und brechen Sie mit dieser Politik, die Sie da auf
den Weg gebracht haben!
({15})
Sie reden immer von Steuersenkungen. Es sind immer noch die Fragen unbeantwortet, wofür die eigentlich
sind und welche Wirkung sie haben. Das haben wir uns
einmal sehr genau angeschaut. Die Alleinerziehende mit
16 000 Euro Jahresgehalt spart nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag genau 73 Euro im Jahr.
({16})
Das Ehepaar mit 200 000 Euro Jahreseinkommen bekommt nach Ihrem steuerpolitischen Vorschlag zusätzlich über 3 000 Euro. Meine Damen und Herren, ist das
wirklich das, was Sie wollen, diese Umverteilung, diese
Ungerechtigkeit? Wenn das die Leistung ist, die sich
wieder lohnen soll, dann haben wir Herrn Westerwelle
doch alle richtig verstanden.
({17})
Ein Letztes zum Thema Ehrlichkeit und damit auch
zu dem Thema, das Sie, Herr Brüderle, angesprochen
haben: Griechenland. Das ist ein ernstes Thema, von
dem ich überzeugt bin, dass es uns alle miteinander hier
noch lange beschäftigen wird und beschäftigen muss.
Vorab: Wir verweigern uns nicht dem Nachdenken darüber, wie man Griechenland helfen kann. Aber unter
dem Gesichtspunkt der Ehrlichkeit: Frau Merkel, Sie haben sich als „Madame Non“ - Seite 2 der Bild-Zeitung auf den Bismarck-Sockel stellen lassen. Sie haben das
nicht selbst gemacht, aber sich draufstellen lassen.
({18})
Wie zu erwarten war, wird nun doch gezahlt. Zu welchen
Bedingungen und in welcher Größenordnung, das wissen wir zwar noch nicht; aber das Entscheidende ist
- deshalb spreche ich es heute an -: Das, was auf dieses
Parlament und auf die deutschen Steuerzahler zukommt,
soll dem Parlament nach Ihrer Zeitplanung offenbar
auch erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen vorgelegt werden. Deshalb meine Bitte: Wenn Sie eine breite
parlamentarische Zustimmung in diesem Parlament
möchten - und das sollten Sie, wenn Sie das Thema
Griechenland und die sich daraus ergebenden Folgen
ernst nehmen -, dann ist unsere Erwartung, dass Sie das
Parlament frühzeitig, noch in dieser Woche, darüber informieren, was auf den Weg gebracht werden soll. Das
ist keine Kleinigkeit; es geht um Größenordnungen, die
die Stabilität des gesamten Euro-Raums berühren dürften. Wir erwarten, dass für diese wichtige Frage, bei der
wir bereit sind, mitzuhelfen, genügend Beratungs- und
Diskussionszeit im Parlament zur Verfügung steht. Machen Sie bitte keine Nacht-und-Nebelaktion! Betreiben
Sie keine Wählertäuschung mit Blick auf den 9. Mai!
Seien Sie dem Parlament gegenüber offen, und sagen
Sie, zu was Sie unsere Zustimmung erwarten. Dann können Sie auch erwarten, dass sich die SPD einer Mithilfe
nicht verweigert.
Herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat nun die Bundesministerin für Arbeit und
Soziales, Frau Dr. von der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
({0})
Wir haben die Krise noch lange nicht überwunden. Wir
befinden uns aber in einer Phase, in der wir langsam,
aber sicher sehen, wie wir Schritt für Schritt aus der
Krise herauskommen. Wir befinden uns in einer Zeit, in
der wir die Weichen neu stellen müssen.
({1})
Es ist nicht eine Zeit des Zauderns und Zurückblickens,
sondern es ist eine Zeit des Vorwärtsschauens und eine
Zeit des Mutes, zu handeln. Wir dürfen zum einen den
auch international sehr beachteten Erfolg des robusten
deutschen Arbeitsmarktes nicht auf den letzten Metern
verspielen, aber ebenso müssen wir den Blick auf die
nächste Etappe richten. Diese beiden Ziele sind im Beschäftigungschancengesetz enthalten.
Dass wir im Krisenjahr 2009 so gut gefahren sind,
verdanken wir neben einem sehr klugen Krisenmanagement vor allem der Kurzarbeit. Die Kurzarbeit verhindert Arbeitslosigkeit. Das war nicht nur ein Beitrag der
Arbeitgeber durch die Haltekosten, die sie getragen haben, und der Politik, die das Kurzarbeitergeld bewilligt
hat; es ist vor allem ein Erfolg der Beschäftigten gewesen, die Lohneinbußen auf sich genommen haben, um
ihre Arbeitsplätze zu halten. Das sollte in der Diskussion
über die Kurzarbeit ausdrücklich honoriert werden.
({2})
Die Kurzarbeit wird vor allem vom Mittelstand genutzt. Die Kurzarbeit sichert den Unternehmen eine gut
eingespielte Belegschaft, die sie für den nächsten Auftrag brauchen, sonst können sie ihn nicht annehmen. Die
Unternehmen brauchen jetzt Planungssicherheit, vor allem für 2011. Deshalb ist es richtig, dass wir Ende des
letzten Jahres nicht das Fallbeil haben runtersausen lassen und die konjunkturelle Kurzarbeit beendet haben,
({3})
sondern die Regelungen zur Kurzarbeit erst zum März
2012 auslaufen lassen. Das bedeutet Planungssicherheit
für die Unternehmen. Das sichert den Mittelstand ab und
vor allem die innovativen Belegschaften für den Aufschwung, den wir brauchen.
({4})
Wir stehen jetzt vor zwei großen Herausforderungen:
Es geht nicht nur um die Beschäftigungssicherung in der
Krise; wir müssen vor allem auch einen Blick auf den
Arbeitsmarkt haben, wie er in der Zukunft aussehen
wird. Der Arbeitsmarkt der Zukunft wird vor allen
Dingen durch zwei Phänomene, durch zwei Fragen geprägt werden: Welche Fachkräfte brauchen wir für die
Jobs der Zukunft, und vor allem, woher sollen sie kommen? Wenn wir das schlecht machen, wenn wir stur nach
den bisherigen Mustern vorgehen, dann kann man vorhersehen, was kommt. Dann werden wir in 20 Jahren
5 Millionen Beschäftigte weniger haben. Wir werden einen dramatischen Fachkräftemangel haben, und wir werden gleichzeitig Massenarbeitslosigkeit erleben.
({5})
Das heißt, dass wir unabhängig davon, ob wir eine Krise
haben oder nicht, wahrnehmen müssen, dass ein demografischer Wandel und ein Strukturwandel stattfinden.
Mit anderen Worten: Wenn wir es besser machen wollen,
wenn wir jetzt Schritte in Richtung Zukunft gehen wollen, dann müssen wir auch anfangen, neu zu denken.
({6})
Niemand bestreitet mehr, dass sich in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft der Arbeitsmarkt
dramatisch verändert. Sie können das Monat für Monat
an den Arbeitsmarktstatistiken erkennen. Auf der einen
Seite muss man sehen, wer arbeitslos wird. Auf der anderen Seite muss man schauen, wer in die wachsende
Zahl offener Stellen hineindrängt. Wenn man das auf den
Punkt bringt, dann heißt das eigentlich, dass der Arbeitsmarkt, ob es uns passt oder nicht, weiblicher und internationaler wird und die Belegschaften älter werden. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir die Chancen für
diejenigen neu ausrichten, die ganz unabhängig davon,
ob wir Boomzeiten oder eine Krise hatten, weit unter ihren Möglichkeiten bleiben mussten. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf diejenigen, die im Arbeitsmarkt
sind, sondern vor allem auf diejenigen, die draußen sind.
Dafür stellen wir mit dem Beschäftigungschancengesetz
die Weichen. Das ist ein Anfang. Das ist noch nicht die
Antwort auf alles; aber wir stellen damit die Weichen,
die wir jetzt stellen müssen. Deshalb ist es richtig, das
Beschäftigungschancengesetz auf den Weg zu bringen.
({7})
Dieses Gesetz gibt uns die Möglichkeit, durch die
Jobcenterreform erstens eine solide, eine verlässliche
Basis für eine schnelle und gezielte Vermittlung in ArBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
beit herzustellen. Es ist allerhöchste Zeit. Alle hier im
Hohen Haus wissen, dass Ende des Jahres das Fundament der Arbeitsvermittlung quasi gesprengt worden
wäre.
({8})
Ich sage Ihnen: Zweieinhalb Jahre hat es Streit gegeben;
aber jetzt hat sich eine Allianz der Vernünftigen im Bundesrat und im Bundestag zusammengefunden, eine Allianz der Vernünftigen,
({9})
die die Interessen des Landes, die Interessen der Menschen, die arbeitslos sind, und die Interessen einer Wirtschaft, die krisengeschüttelt ist, über ihre eigenen, kleinkarierten parteipolitischen Interessen gestellt hat.
Deshalb gilt mein Dank stellvertretend Frau Homburger,
Herrn Kauder und Herrn Steinmeier als Fraktionsvorsitzenden. Frau Künast, es tut mir leid, Sie sind nicht dabei.
Das stört Sie, das merkt man; es sind genau die drei, die
ich eben stellvertretend genannt habe.
({10})
- Man merkt an Ihrer Aufregung, wie sehr Sie das trifft.
Das kann ich jetzt nicht ändern. - Mein Dank gilt den
Ländervertretern, Herrn Beck und Herrn Tillich. Mein
Dank gilt auch den unermüdlichen Unterhändlern dieser
Reform in diesem Haus. Das waren Herr Kolb stellvertretend, Herr Schiewerling stellvertretend und Hubertus
Heil stellvertretend. Diesen Dank sollten wir gemeinsam
aussprechen.
({11})
Wir schaffen mit dieser Jobcenterreform zweitens ein
lernendes System, nicht ein System, das zurückschaut,
sondern ein lernendes System, das zeitnah überall in
Deutschland Transparenz herstellt, sodass wir sehen
können: Wer macht es gut? Was können wir von denen
vor Ort lernen? Wer macht es schlecht? Wer muss von
den besten Beispielen lernen, wie man die Menschen,
die es besonders schwer haben, in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt?
({12})
Es geht nicht um irgendein Produkt, sondern um
Menschen, die Hilfe suchen. Die Arbeitsvermittlung hat
in den vergangenen Jahren einen deutlichen Modernisierungskurs eingeschlagen; das ist unbestritten. Der Erfolg
ist messbar. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist gesunken. Aber wir alle wissen: Wir wollen und müssen besser werden. Das betrifft vor allem die drei Gruppen, die
bislang auch in konjunkturell guten Zeiten nicht vom
Aufschwung profitieren konnten. Wir wollen uns nicht
mit der Tatsache abfinden, dass fast jede zweite Alleinerziehende in Langzeitarbeitslosigkeit ist. Das sind
660 000 Alleinerziehende mit 1 Million Kindern; diese
machen rund die Hälfte der Kinder in Hartz IV aus. Wir
wollen uns nicht mit der Tatsache abfinden, dass rund
200 000 arbeitslose Jugendliche schon am Lebensanfang
keine Chance haben, mitzukommen.
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil zu?
Gerne.
({0})
Frau Ministerin, erst einmal herzlichen Dank für die
schöne Danksagung. Vielleicht sollten wir auch noch
Staatssekretär Hoofe danken, der die Verhandlungen an
Ihrer statt geführt hat.
({0})
Ich möchte nur eine Frage stellen, Frau Ministerin.
({1})
- Herr Kauder, bleiben Sie an dieser Stelle geschmeidig!
({2})
Herr Präsident, darf ich die Frage stellen, oder soll ich
abwarten, bis Herr Kauder fertig ist?
Frau Ministerin, Sie haben drei Zielgruppen genannt:
Alleinerziehende, Jüngere und Ältere, die es als Langzeitarbeitslose am Arbeitsmarkt sehr schwer haben. Es
ist richtig, in diesen Kategorien weiterzudenken. Aber
können Sie mir einmal erklären, wie Sie all die Überschriften, die Sie jetzt produzieren, nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen durchsetzen wollen? Sie
brauchen eine bessere Betreuungsrelation. Sie brauchen
gute Maßnahmen, die auch finanziert werden müssen.
Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagt, für die Haushaltskonsolidierung in
2011, die auf ungefähr 10 Milliarden Euro taxiert wird,
müsse Frau von der Leyen aus ihrem Etat ein Drittel bis
zur Hälfte Beitrag leisten. Kann es sein, dass Sie vor der
NRW-Wahl schöne Überschriften produzieren, aber
nichts in der Tasche haben, um diese großen Sprünge zu
realisieren, weil Sie die Unterstützung Ihrer Fraktion
nicht haben?
({3})
Herr Heil, gerade von Ihnen hätte ich eigentlich nicht
erwartet, dass Sie von schönen Überschriften reden;
denn Sie gehörten bei der Jobcenterreform zu der Allianz der Vernünftigen.
({0})
- Ja, ich meine das aufrichtig. Ich finde, man muss sich
nicht immer nur im kleinkarierten Parteienstreit verhaken; es ist auch wichtig, Gemeinsamkeiten zu benennen.
Sie haben den Prozess selber mitbekommen. Die Politik hat sich aus unterschiedlichen Gründen auf Bundes-,
Landes- und kommunaler Ebene auseinanderdividiert
und konnte keinen gemeinsamen Nenner finden, wie wir
die Arbeitslosenvermittlung vor Ort regeln.
({1})
- Nein, ich muss keine Frage stellen, sondern ich beantworte die Frage von Herrn Heil.
({2})
Wenn Sie mir Fragen stellen, dann müssen Sie ertragen,
dass ich sie so beantworte, wie ich es für richtig halte.
Mir ist wichtig, dass wir bei diesem Punkt klarstellen:
Zweieinhalb Jahre hat es diese Auseinandersetzung gegeben. Dass sich jetzt die Richtigen zusammengefunden
haben und die richtige Reform auf den Weg gebracht
wurde, betrachten wir mit hohem Respekt. Das war unabhängig von Wahlen. Hier haben sich Menschen zusammengetan, um den richtigen Weg zu gehen.
({3})
Sie wissen ganz genau, dass sie aus wahltaktischen
Gründen eigentlich kein großes Interesse daran gehabt
haben, dies zu machen. Wir haben es gemeinsam - darauf lege ich Wert - geschafft,
({4})
für die Menschen, die Hilfe brauchen, eine Lösung zu
finden.
Nächster Punkt. Sie wissen, dass die Unterhändlergruppe gute Arbeit geleistet hat; das habe ich eben anerkannt.
({5})
Herr Heil, ich glaube nicht, dass ein Erfolg möglich gewesen wäre - das wissen auch Sie -,
({6})
wenn sich nicht diejenigen, die die Entscheidung zu vertreten haben, zusammengetan und Ja zu dieser Reform
gesagt hätten.
({7})
- Na ja, ich beantworte alle Fragen, die mir gestellt wurden.
({8})
Jetzt komme ich zu der Frage nach dem Geld. Wir haben die Reform gemacht, weil wir für eine gute Vermittlung aus der Langzeitarbeitslosigkeit nicht nur die aktive
Arbeitsmarktpolitik brauchen, sondern auch und vor allem Jobcenter vor Ort, die funktionieren. Wir geben
40 Milliarden Euro für die Grundsicherung aus,
({9})
für Menschen, die in Langzeitarbeitslosigkeit sind. Wir
geben 10 Milliarden Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik aus; im Krisenjahr waren es 11 Milliarden Euro.
Man sieht an den Relationen: Wenn wir die Mittel der
Arbeitsmarktpolitik, also die Brücken in Arbeit, gut verwenden, wenn wir die Jobcenter vor Ort gut organisieren, dann ist das der richtige Weg. Denn wenn Menschen
aus der Arbeitslosigkeit wieder in Arbeit kommen, sinken auch die hohen Kosten der Grundsicherung. Dieser
Politik, Herr Heil, liegt ein Konzept zugrunde. Diese
Politik zeigt den Menschen Chancen auf. Hier wird nicht
fiskalisch gerechnet und dumm gekürzt, sondern hier
wird mit den Mitteln der Arbeitsmarktpolitik der Weg in
die Beschäftigung vorgegeben.
({10})
Dieses Konzept stelle ich Ihnen vor, und dieses Konzept
vertrete ich hier.
({11})
Wir werden es nicht tolerieren, Herr Heil, dass zu
viele Alleinerziehende, zu viele Jugendliche und viel zu
viele Ältere, nämlich eine halbe Million, zu den Langzeitarbeitslosen zählen. Wir werden die Anstrengungen
verstärken, um sie in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist symptomatisch für die Opposition, dass in
dem Moment, in dem wir sagen, dass wir die Anstrengungen verstärken und wie wir sie verstärken, sofort die
geballte Kritik aus allen Rohren kommt: Diese Menschen stehen dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung.
Daran kann man gar nichts ändern. Es gibt keine Jobs.
Es gibt keine Kinderbetreuung. Es gibt keine Ausbildungsplätze. - Dieses Verhalten zeigt einen tiefen Fatalismus, zeigt ein statisches und rückwärtsgewandtes
Denken. Dieses Denken brauchen wir in der Zukunft
nicht. Wir wollen dynamisch denken. Unser Weg führt in
die Zukunft.
({12})
Es ist richtig: Die Probleme sind erheblich. Viele Menschen vertreten die Haltung: Das geht nicht. Das können
wir nicht. Das haben wir schon alles gehabt. - Aber bei
dieser Haltung können wir doch nicht bleiben. Noch nie
sind die Chancen so groß wie jetzt gewesen, für diese
Gruppen einen Fortschritt zu erzielen.
({13})
Wir brauchen die Menschen. Wir stehen am Anfang
einer konjunkturellen Erholung. Viele aus der Wirtschaft
spüren schon jetzt den Fachkräftemangel. 46 000 Ausbildungsplätze konnten nicht besetzt werden, weil die
geeigneten Bewerberinnen und Bewerber fehlen.
Gleichzeitig sichert die Jobcenterreform vor Ort, dass in
Zukunft die Kommunen, die alle sozialintegrativen Leistungen in der Hand haben, mit der Bundesagentur für
Arbeit, die die Vermittlung in Arbeit als ihr Markenzeichen hat, zusammenarbeiten. Das heißt, vor Ort sind alle
Instrumente vorhanden, um diese Menschen wieder in
Arbeit zu bringen.
({14})
Wir werden die noch vorhandenen Hürden abbauen.
Der Umfang der Kinderbetreuung wird dank des Kinderförderungsgesetzes, das wir in der letzten Legislaturperiode verabschiedet haben, ausgebaut. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an den Rechtsanspruch. Die
Bundesagentur für Arbeit qualifiziert Tagesmütter. Diese
können eingesetzt werden, um in den Randzeiten die
Kinderbetreuung sicherzustellen.
({15})
Diese Hürden waren vor Jahren unüberwindbar, als Sie,
Frau Künast, noch an der Regierung waren.
({16})
Was haben Sie dafür getan, dass der Ausbau der Kinderbetreuung vorangekommen ist?
({17})
- Deshalb schreien Sie jetzt so herum; das kann ich verstehen. Aber diese Hürden sind nicht mehr unüberwindbar; denn wir haben in der letzten Legislaturperiode etwas geleistet, wozu Sie nicht die Kraft gehabt haben.
Wir beobachten ein Phänomen, das es so vor der
Krise noch nicht gegeben hat: Die Betriebe stehen inzwischen zu ihren Beschäftigten, insbesondere zu den älteren Beschäftigten. Es gibt keine Entlassungswellen. Es
gibt keine Frühverrentungswellen, wie wir sie aus den
vergangenen schwierigen Phasen kennen. Die Unternehmen suchen Azubis. - All das garantiert zwar noch keinen Erfolg; aber es sind die Grundvoraussetzungen dafür, dass wir besser werden können, dass wir mit einem
anderen Blick und mit anderen Ansätzen als in der Vergangenheit, was in Fatalismus endete, vorankommen.
Nein, wir werden mit den Instrumenten, die wir geschaffen haben, und der Basis, die uns jetzt zur Verfügung
steht, diese Zusammenarbeit gemeinsam mit den Akteuren vor Ort - das sind die Kommunen, die Schulen, die
Bildungsträger, die Unternehmen, die Gewerkschaften
und die Kammern - für die Menschen sichern, die Arbeit
wollen und brauchen und die diese Gesellschaft auch
braucht.
Diese Zusammenarbeit gibt es in einigen ausgezeichneten Regionen schon heute. Von denen können wir lernen. Diese gute Zusammenarbeit soll aber nicht die Ausnahme bleiben; sie muss die Regel werden. Davon
profitiert jeder vor Ort: die Menschen, die die Chance
haben, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen, die Unternehmen, die die Arbeitskräfte vor Ort finden, die sie
suchen, die Beschäftigten in den Jobcentern, die erleben,
dass sie Erfolge haben und Rückhalt für ihre Arbeit erfahren, und schlussendlich auch die Gesellschaft und die
Sozialsysteme.
Wir wollen keine rückwärtsgewandten Parolen „Das
geht nicht!“ mehr. Es kann gehen. Aber dazu brauchen
wir die Bereitschaft, die Muster zu verändern; wir brauchen die Bereitschaft, die eingetrampelten Pfade zu verlassen. Dies ist nicht die Zeit der Zauderer und der Bedenkenträger. Dies ist die Zeit derjenigen, die den Mut
zum Handeln haben.
Vielen Dank.
({18})
Klaus Ernst ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben eben einen Auftritt unseres Wirtschaftsministers erlebt, bei dem ich den Eindruck bekommen musste, dass das eine oder andere, was er uns
mitgeteilt hat, ganz vorsichtig ausgedrückt, zumindest
nicht zu Ende gedacht ist. Herr Brüderle, Sie behaupten,
Deutschland sei gut aufgestellt. Gleichzeitig reduzieren
Sie Ihre Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung, in
der Sie noch vor kurzem von 2 Prozent Wachstum ausgegangen sind. Wie passt das zusammen? Sie müssen
Ihre Prognose nach unten korrigieren, weil Sie merken,
dass Ihre ökonomischen Vorstellungen nicht aufgehen.
Eine Analyse der Krise bleiben Sie uns schuldig. Sie
sagen so richtungsweisende Sätze wie: Nur wenn wir
Innovation als Chance begreifen, hat Innovation in
Deutschland eine Chance. - Nachts ist es dunkler als
draußen, Herr Brüderle.
({0})
Solche Sätze bringen uns nicht weiter. Eine Analyse der
Krise fehlt nach wie vor. Ich will Ihnen sagen, was an
Analyse fehlt: Es fehlt, dass Sie feststellen, dass eine Ursache dieser Krise in der Bundesrepublik darin bestanden hat, dass die Verteilung des Volkseinkommens in
der letzten Zeit nicht mehr stimmt. Wenn die Arbeitnehmer beim Lohn keinen Zuwachs mehr haben, wenn letztendlich nur noch diejenigen, die ihr Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen beziehen, Zuwächse
zu verzeichnen haben, während der normale Mensch in
der Bundesrepublik Deutschland mit Reallohnsenkungen zu rechnen hat - und das über Jahre -, dann ist klar,
dass die Ökonomie nicht mehr funktioniert. Was ist Ihre
Idee? Weitermachen wie bisher. Ich kann nicht akzeptieren, Herr Brüderle, wenn Sie weiter auf Flexibilisierung
und offene Märkte setzen. Nehmen Sie zur Kenntnis,
dass die Deregulierung der Finanzmärkte eine Ursache
dieser Krise war. Aber dazu kam von Ihnen kein einziges
Wort.
({1})
Auch was die Deregulierung der Arbeitsmärkte angeht, Frau von der Leyen, kann ich nicht erkennen, dass
Sie einen anderen Weg einschlagen wollen als bisher.
Wenn die Deregulierung der Arbeitsmärkte wie die Deregulierung der Finanzmärkte fortschreitet, wenn wir
nichts dagegen tun, dass durch Leiharbeit und durch Befristung die Löhne gedrückt werden, wenn Sie sich weigern, einen Mindestlohn einzuführen, dann - das ist die
Wahrheit - ist es doch logisch, dass die Kaufkraft in diesem Lande kein Niveau erreicht, das vernünftiges
Wachstum ermöglicht. Aber da unternehmen Sie nichts,
Frau von der Leyen; auch Sie, Herr Brüderle, unternehmen da nichts.
({2})
Sie haben bisher auch nichts dagegen unternommen,
dass weiterhin ein großer Teil dessen, was in dieser Wirtschaft erzeugt wird und an Wirtschaftsleistung erbracht
wird, letztendlich auf den Finanzmärkten landet. Die
Banken zocken; insofern haben Sie recht, wenn Sie sagen: Wir sind gut aufgestellt. Die Banken sind wahrlich
gut aufgestellt. Herr Ackermann macht wieder seine
Profite. Wenn wir nicht gegensteuern - das sage ich Ihnen -, beachten Sie eine Grundregel der Ökonomie überhaupt nicht. Das ist die VNKN-Regel, Herr Brüderle:
Von nichts kommt nichts.
({3})
Wenn man das Geld in die Finanzwelt abwandern lässt,
wenn man nichts dagegen tut, dass die Banken, die Kredite billigst aufnehmen können, einem normalen Menschen aber 12 oder 13 Prozent Zinsen abverlangen, wenn
er sein Konto überzieht, wenn Sie nichts dagegen tun,
dass die Mittelständler, selbst wenn sie bei den Banken
um Kredite betteln, keinen Kredit bekommen, weil die
Banken mit dem Geld an den Finanzmärkten mehr verdienen können, als wenn sie es dem Mittelstand als Kredit geben, dann werden Sie Ihrer Aufgabe als Wirtschaftsminister nicht gerecht, Herr Brüderle.
({4})
Jetzt sage ich Ihnen, was notwendig wäre, um das zu
ändern.
({5})
- Ja. - Wir brauchen eine Stärkung der Binnennachfrage. Diese Stärkung der Binnennachfrage erreichen
wir nur dadurch, dass wir uns das Erfolgsmodell
Deutschland, das wir einmal hatten, zumindest in Gedanken tatsächlich wieder vor Augen führen.
Worin bestand das denn? - Leistung muss sich lohnen.
({6})
Es war selbstverständlich so, dass Produkte aus Deutschland ganz besonders gefragt wurden.
Worin lag die Ursache? - Wenn jemand bei uns in der
Bundesrepublik mehr Geld verdienen und als Unternehmer innovativ sein wollte, dann musste er sich etwas einfallen lassen. Er musste darüber nachdenken, welche
neuen Produkte er einführt und welche neuen Verfahren
er möglicherweise praktiziert.
({7})
Eines ging nämlich nicht: einfach die Löhne nach unten
drücken oder die Arbeitszeiten verlängern. Das war entsprechend geregelt. Wenn Sie das aber nun vernachlässigen, dann heißt das in der Konsequenz: Erfolgreiche
Innovationen sind nicht mehr gefragt, und es ist nicht
notwendig, sich über neue Verfahren Gedanken zu machen, weil ein Unternehmer nun einfach die Löhne nach
unten drücken oder die Arbeitszeiten verlängern kann.
Unser Erfolgsmodell Deutschland hing davon ab,
dass es geregelte Arbeitsbeziehungen gab, aufgrund
derer es nicht möglich war, mehr Geld zu verdienen, indem man die Leute mehr quälte. Diese Ebene haben Sie
verlassen,
({8})
indem Sie zum Beispiel keine Regeln für Mindestlöhne
aufstellen, indem Sie die Gewerkschaften massiv geschwächt haben, indem es nach wie vor kein vernünftiges Streikrecht gibt und indem Sie letztendlich flexible
Arbeitsmärkte - es geht zum Beispiel um Leiharbeit, Befristungen und Ähnliches - nicht vernünftig regeln.
Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie für all das jetzt
nicht sorgen, dann bereiten Sie jetzt die nächste Krise
vor. Wenn Sie sich weigern, Regelungen dafür zu treffen, dass das Geld in die Realwirtschaft fließt und nicht
in die Finanzmärkte abwandert, dann bereiten Sie die
nächste Krise vor.
Herr Brüderle, es kann ja sein, dass Sie Ihre Brüderles
in den Banken und Ihre Brüderles bei den Hoteliers damit möglicherweise gut bedenken,
({9})
aber ich kann Ihnen sagen: Es ist nicht akzeptabel, dass
Sie sich kurz vor einer Wahl in Nordrhein-Westfalen hier
hinstellen und Steuergeschenke verteilen, die letztendlich auf einer neuen Rechenart beruhen; denn es ist ja eigentlich nicht möglich, bei sinkenden Einnahmen mehr
Geld auszugeben. Wenn Sie so verfahren, sagen Sie den
Bürgern dieser Republik und insbesondere denen in
Nordrhein-Westfalen nicht die Wahrheit. Die Wahrheit
werden Sie aber präsentieren müssen, spätestens dann,
wenn der Finanzminister wieder da ist. Er wird Ihnen
nämlich vorrechnen, dass man Geld nur dann ausgeben
kann, wenn man es hat. Er ist nämlich Schwabe, Herr
Brüderle, und nicht aus der Pfalz.
({10})
Damit komme ich zum Schluss. Ich finde es absolut
inakzeptabel, dass, wenn wir hier Vorschläge machen,
permanent die Rede davon ist, die Linke würde Luftnummern verbreiten und könne nicht rechnen. Herr
Brüderle, das, was Sie hier vorgelegt haben, ist nichts
anderes als eine Luftnummer. Ich kann Ihnen sagen: Die
Bürger werden das merken. Deshalb liegen auch Ihre
Umfragewerte im Keller.
Ich danke fürs Zuhören.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit einer Anmerkung zu der Rede von Herrn
Steinmeier beginnen.
Herr Steinmeier, ich habe mit Interesse gehört - das
ist ja ausdrücklich zu begrüßen -, dass Sie regelmäßig
Besuche in Betrieben durchführen
({0})
und sich anhören, wo die Unternehmen der Schuh
drückt. Ich habe nur den Eindruck, Herr Steinmeier, dass
hier gilt - dabei kommt mir ein altes Wortspiel in den
Sinn -: Gehört ist nicht verstanden.
({1})
Wenn Sie nämlich das, was Sie in den Betrieben gehört
haben, tatsächlich verstanden hätten, Herr Steinmeier,
dann müssten Sie die Arbeiten an der Neuausrichtung
Ihrer Wirtschaftspolitik sofort stoppen - das wäre konsequent, Herr Steinmeier ({2})
und dann müssten Sie die fortschreitende Abkehr Ihrer
Partei und ihrer Fraktion von der Agenda 2010,
({3})
deren Architekt Sie im Bundeskanzleramt ja gewesen
sind, unverzüglich aufhalten. Genau dies tun Sie aber
nicht. Deswegen klaffen bei Ihnen Reden und Handeln
auseinander.
({4})
Meine Damen und Herren, für eine Wirtschaftspolitik
für Wachstum und Arbeitsplätze müssen wir, wie ich
glaube - das ist aus dem bisherigen Verlauf der Debatte
auch schon deutlich geworden -, Zweierlei tun. Wir
müssen zum einen unser erfolgreiches Krisenmanagement fortsetzen.
({5})
Zum anderen müssen wir die Voraussetzungen für ein
möglichst starkes Wachstum schaffen, damit sich die
Perspektiven für die Unternehmen, die auch für das Niveau der Beschäftigung in unserem Lande von entscheidender Bedeutung sind, möglichst schnell wieder verbessern.
Ich will mit dem ersten Punkt, dem Krisenmanagement, beginnen und dabei auf das zentrale Instrument
des Kurzarbeitergeldes zu sprechen kommen. Es war
und bleibt das wichtigste Instrument in der Krise.
({6})
- Nein, die Kurzarbeit steht schon ewig im Gesetz.
({7})
Sie haben es genutzt, wie es andere Regierungen in dieser Situation auch getan hätten. Aber Sie haben es nicht
hundertprozentig richtig ausgestaltet, Herr Heil. Deswegen war es wichtig - darauf hat unsere Fraktion gedrungen -, dass wir bei der Verlängerung der Erstattungsmöglichkeiten beim Kurzarbeitergeld Veränderungen
vorgenommen haben. Ich hielt es für falsch, als Sie damals beschlossen haben, die Konzernklausel in das
Kurzarbeitergesetz aufzunehmen, nach der, wenn in einem Betrieb eines Arbeitgebers mindestens sechs Monate Kurzarbeit durchgeführt wurde, alle Betriebe dieses
Arbeitgebers ab dem ersten Tag die Möglichkeit erhielten, eine hundertprozentige Beitragserstattung zu be3676
kommen. Das war aus meiner Sicht - ich habe das damals deutlich gesagt und wiederhole es jetzt noch einmal für die großen Unternehmen eine Lizenz zum Ausplündern der Kasse der Bundesagentur in Nürnberg.
({8})
Dies haben wir korrigiert. Das war für uns wichtig.
({9})
Jetzt gilt wieder die arbeitgeberbezogene Ausrichtung.
Ein Unternehmen, in dem Kurzarbeit durchgeführt
wurde, hat ab dem siebten Monat die Möglichkeit, für
die Arbeitnehmer dieses Unternehmens zu 100 Prozent
die Beitragserstattung zu bekommen. Das halte ich für
richtig und angemessen.
({10})
Für uns war auch wichtig, Herr Heil - das ist der
zweite Punkt -, dass die Förderung tariflicher Kurzarbeit durch Beitragsmittel, die man avisiert hatte und
die auch schon im Tarifabschluss im Metallbereich angelegt war, für die Zukunft ausgeschlossen wird.
({11})
Das wollen wir ausdrücklich nicht. Denn es kann nicht
sein, dass es eine Tarifpolitik zulasten der Beitragszahler
gibt.
({12})
Das werden wir nicht mitmachen.
({13})
Das Instrument der Kurzarbeit ist also wichtig. Es
muss nachgesteuert werden. Das tun wir. Missbrauch befürchte ich nicht. Das will ich deutlich sagen; denn dafür
ist das Instrument der Kurzarbeit für die Unternehmen
zu teuer. Zwei Drittel der Kosten werden von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern, also den Unternehmen, getragen. Das ist per se ein, wie ich denke, wirksamer Schutz gegen Missbrauch.
Für uns ist auch wichtig, dass es künftig bei Qualifizierungsmaßnahmen die Möglichkeit der hundertprozentigen Erstattung gibt. Diese Entscheidung haben wir
sehr bewusst getroffen, weil wir die Wichtigkeit von Bildung und Weiterbildung im Berufsleben anerkennen und
dies ausdrücklich fördern wollen.
({14})
Es gibt jetzt eine Exit-Strategie. Das ist wichtig. Das
Ende der Krise rückt in den Blick. Das Licht am Ende des
Tunnels wird sichtbar. Deswegen haben wir keine vollständige Synchronisierung der Bezugsfristen und der Erstattungsmöglichkeit vorgenommen, sondern die Erstattungsmöglichkeit nur bis zum Frühjahr 2012 verlängert.
Danach gibt es selbstverständlich weiterhin Kurzarbeit,
aber keine Beitragserstattung mehr. Diese Übergangslösung verhindert, dass es fallbeilartig zu einem Ende der
Kurzarbeit kommt. Stattdessen wird sich die Förderung
langsam ausschleichen. Das wird helfen, Brüche am Arbeitsmarkt zu verhindern.
Mein Kollege Vogel wird noch Weiteres zum Beschäftigungschancengesetz vortragen. Ich will zum Schluss
meiner Ausführungen festhalten, dass wir unser Augenmerk jetzt auf die Anstrengungen zur wirtschaftlichen Erholung richten müssen.
Wir brauchen selbstverständlich weiterhin Steuersenkungen. Das Thema steht auf der Agenda. Arbeit muss
sich lohnen. Wir brauchen Entbürokratisierung und auch
Steuervereinfachung, Herr Kollege Ernst. Wir brauchen,
um die Anregung der Ministerin aufzunehmen, eine moderne Form der Zuwanderung von qualifizierten Arbeitnehmern in unsere Volkswirtschaft. Das ist sehr wichtig.
Ich glaube, wenn wir den Weg fortsetzen, den wir in
den letzten Monaten eingeschlagen haben, dann haben
wir die besten Voraussetzungen dafür, dass die Unternehmen, nachdem sie in der Krise die Segel nach unten
geholt haben, diese baldmöglichst wieder hochziehen
können, damit der entstehende Wind die Segel füllt und
die Schiffe wieder Fahrt aufnehmen.
({15})
In diesem Sinne, Herr Steinmeier - ich sehe durchaus
konstruktive Beiträge, die Ihre Fraktion geleistet hat,
ausdrücklich auch bei dem Thema Orga-Reform, das die
Ministerin angesprochen hat; ich habe auch die Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegen Heil in diesem Punkt als
sehr angenehm empfunden -, wünsche ich Ihnen und
uns Mut, Tatkraft, Weitsicht, Fingerspitzengefühl und
das nötige Verständnis für die aktuellen Herausforderungen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort erhält der Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem ich mir die bisher geführte Debatte
angehört habe, frage ich mich schon, wie die Bundesregierung eigentlich aufgestellt ist. Ich mache das einmal
an der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes deutlich.
({0})
Natürlich kann man das Kurzarbeitergeld verlängern.
Eine Verlängerung bis zum März 2012 ist aber doch ein
Zeichen dafür, dass man die wirtschaftspolitische Situation für fragil hält; denn sonst würde man nicht einen so
langen Zeitraum wählen. Wenn dies der Fall ist, kann
man nicht, wie Herr Minister Brüderle es am Mittwoch
und auch in seiner heutigen Rede getan hat, in eine
Grundsatzeuphorie nach dem Muster „Alles ist schon
geregelt“ ausbrechen. Entweder das eine oder das andere! An diesem Prozedere erkennen Sie, dass die ReFritz Kuhn
gierung insgesamt keinen gemeinsamen Nenner bei der
Krisendeutung hat.
Frau von der Leyen - ({1})
Da sich die Ministerin gerade um eine Kollegin gekümmert hat, der unwohl war, sollten wir an dieser Stelle
nun wirklich keine unnötige Spekulation anstellen.
Frau von der Leyen, Ihre eben gehaltene Rede war für
mich kein argumentativer Höhepunkt. Ich will Ihnen
auch sagen, warum. Sie sprechen bei der vom Bundesverfassungsgericht erzwungenen Reform der Jobcenter
von einer „Allianz der Vernünftigen“. Das können Sie
seriöserweise nicht tun, nachdem die CDU - das weiß
die gesamte Öffentlichkeit - jahrelang die Reform der
Jobcenter verhindert hat.
({0})
Das ist einfach nicht redlich. Meines Erachtens ist es eigentlich auch unter Ihrer Würde, hier mit solchen Zaubertricks zu argumentieren.
Die Verlängerung der Kurzarbeiterregelung ist okay.
Ich bitte Sie aber, mehr Initiativen zu ergreifen, damit
die Möglichkeiten zur Qualifizierung, die die Kurzarbeit bietet - die in der Quote heute nur bei 10 Prozent
liegt -, ausgeschöpft werden. Dafür gibt es auch einen
wirtschaftspolitischen Grund. Wir haben nämlich nicht
nur Konjunkturkrise, sondern auch Strukturkrise.
({1})
Ein Merkmal der Überwindung einer Strukturkrise ist,
dass Sie innerbetrieblich umsteuern und die Weiterbildung vorantreiben. Das wäre der entscheidende Punkt;
das erwarten wir von einer Arbeitsministerin an dieser
Stelle auch.
({2})
Frau von der Leyen, viel Neues haben Sie nicht vorgelegt. Vieles von dem, was Sie zum Beispiel in Bezug
auf die Jugendlichen vorschlagen, ist bereits Gesetz. Eines ist mir aber wichtig: Wenn Sie etwas für die Alleinerziehenden tun wollen und deren Arbeitsfähigkeit und
die Kinderbetreuungsmöglichkeiten verbessern wollen, dann tragen Sie dazu bei, dass man die Kommunen
in ihrer finanziellen Basis nicht weiter ausbluten lässt.
({3})
Wenn sie Schulden und kein Geld haben, können sie die
Kinderbetreuung nämlich nicht verbessern. Da können
Sie Tagesmütter durch die Bundesagentur schulen lassen, soviel Sie wollen.
Meine weitere Bitte an Sie lautet: Wir müssen aufpassen, dass in den nächsten Jahren neue Arbeitsplätze in
Deutschland nicht weiterhin in Form prekärer Arbeitsverhältnisse ausgestaltet werden. Vielmehr brauchen wir
vernünftige Vollerwerbsarbeitsplätze. Wenn ich höre,
dass Sie nach der Wahl die Weiterbeschäftigung auf befristeten Arbeitsplätzen in Form von Kettenverträgen erleichtern wollen, kann ich nur sagen: Das ist die falsche
Politik. Wir müssen dazu kommen, dass nicht mehr Sicherheit in Unsicherheit verwandelt wird, sondern dass
auf dem Arbeitsmarkt Unsicherheit zunehmend in Sicherheit verwandelt wird. Das schafft nämlich Vertrauen
bei den Bürgerinnen und Bürgern sowie bei der Wirtschaft.
({4})
Herr Brüderle, als ich Ihre Ausführungen am Mittwoch gehört habe, habe ich mich schon gefragt, was
denn in Sie gefahren ist. Angesichts Ihrer „Wachstumsbesoffenheit“ müssten Sie eigentlich in die Ausnüchterungszelle. Die von Ihnen vorgelegten Zahlen geben das
nämlich nicht her. Sie sprechen jetzt von einem Wirtschaftswachstum von 1,4 Prozent im Jahr 2010 und
1,6 Prozent im Jahr 2011. Daraus leiten Sie ab, dass
Geld ohne Ende in der Kasse ist, ignorieren aber, dass in
der Haushaltsplanung des Bundes für die Jahre 2011 ff.
2 Prozent Wachstum angesetzt sind. Diese Nummer, es
sei genügend Geld für Ihre Steuersenkungspläne vorhanden, können Sie nicht seriös verkaufen. Die können
Sie sich wirklich abschminken.
({5})
Sie agieren wie jemand, der kaum Geld und darüber hinaus noch Schulden hat, aber bei der Sparkasse Geld leihen will, weil er ein Haus für 1 Million Euro kaufen will,
und dann, wenn die Sparkasse dafür keinen Kredit gibt,
sagt: Dann nehme ich eben eines für 500 000 Euro. Das ist doch absoluter Unsinn. So kann man nicht agieren. Wer die Steuern nicht um 35 Milliarden Euro senken kann, der hat auch keinen Spielraum für eine Steuersenkung von 16 Milliarden Euro, die Sie in Ihrem
jüngsten Fünfstufentarif vorgeschlagen haben.
({6})
Ich habe selten in der Politik erlebt, dass jemand mit
der Verve, mit demselben Tempo und mit dem Karacho
wie die FDP zum zweiten Mal an die Wand fährt und
eine Politik der Unmöglichkeit zum Programm erklärt.
Wir müssen ab 2011 wegen der Schuldenbremse jedes
Jahr 10 Milliarden Euro weniger Schulden machen. Es
gibt unendlich viele Risiken auf dem Finanzmarkt.
Hinzu kommen die Probleme in der EU und in Griechenland. Das alles kostet Geld. Und dann kommt die FDP
und will uns erzählen, es sei kein Problem, die Steuern
um 16 Milliarden Euro zu senken; im Zweifelsfall gebe
es ja noch das Liberale Sparbuch. Ich sage: Das ist keine
seriöse Politik. Es wundert mich nicht, dass die Wirtschaftseliten in Deutschland der FDP fluchtartig davonlaufen, weil sie es satt haben, dass man eine Politik als
machbar verkauft, die irreal ist. Sie von der FDP sind Ir3678
realos geworden. Herr Brüderle, Sie sind kein seriöser
Wirtschaftsminister, der Vertrauen im Land schafft.
({7})
Ich will es noch einmal klarmachen, Herr Wirtschaftsminister. Die Aufgabe eines Wirtschaftsministers
am Ende einer Krise, also dann, wenn es einen konjunkturellen Aufschwung gibt, ist doch, Seriosität und Vertrauen nicht nur bei den Konsumenten, sondern auch bei
der Wirtschaft zu erwecken, damit diese investiert. Aber
Ihre Dampfplaudereien über ein Wachstum der Wirtschaft und eine tolle Konjunktur sind insgesamt nicht
dazu angetan, neues Vertrauen zu schaffen.
Sie sind ein Ankündigungsguru: Ich nenne nur das
Stichwort „Entflechtungsgesetz“. Heute war es mucksmäuschenstill, als Sie dieses Wort in den Mund genommen haben.
({8})
Sie haben versucht, als Tiger zu springen, sind aber
schon jetzt als Bettvorleger gelandet.
({9})
Das wird nichts, weil Sie sich nicht trauen, sich mit den
wirklichen Lobbys in Deutschland anzulegen. Deswegen
sind Sie in der Koalition in einer Rückzugsbewegung.
({10})
Unser Hauptvorwurf lautet: Sie sind nicht in der
Lage, Innovations- und Wachstumspotenziale so zu mobilisieren, dass Arbeitsplätze entstehen. In der Energiepolitik gehen Sie mehrere Schritte rückwärts. Die Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke wird
überhaupt nichts bringen. Sie bremsen beim Ausbau der
Erneuerbaren. Das Energiedienstleistungsgesetz, mit
dem Sie jetzt die EU-Richtlinie umsetzen, schafft keine
neuen Arbeitsplätze. Dänemark hat geregelt, dass die
Energieversorger Kunden in der Form bei Einsparungen
helfen müssen, dass die Kunden jedes Jahr 1,2 Prozent
weniger Strom und Wärmeenergie verbrauchen. Das
führt auf breiter Basis zur Entwicklung neuer Technologien. Was macht Brüderle? Alle müssen wissen: Er
verlangt, dass in der Stromrechnung Telefonnummern
von Handwerkern mit aufgeführt werden, die vielleicht
dabei helfen können, etwas einzusparen.
Was Sie machen, ist Innovationsverweigerung. Das
kostet Arbeitsplätze. Sie sind in einer Rückwärtsbewegung in der Energiepolitik.
({11})
Dafür gibt es einen Grund: Sie sind nicht der Innovationstreiber, sondern Sie sind abhängig von alten Lobbys. Es ist das Kernproblem der FDP, dass sie nicht das
Neue verteidigt, sondern dass sie von der Lobby getrieben wird. Die Spenden, die Sie für Ihre falschen Versprechen bekommen, zeigen, dass etwas daran ist.
Herr Brüderle, ich komme zum Schluss. Sie als Wirtschaftsminister müssen sich endlich daranmachen, durch
Innovationen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Wir nennen das Green New Deal. Damit kann man neue Jobs
schaffen. Aber mit Ihren Manövern und Ihrer selbstsuggestiven Politik werden Sie keinen Blumentopf gewinnen.
Vielen Dank.
({12})
Dr. Joachim Pfeiffer ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal ist es
gut, sich klarzumachen, wo wir eigentlich stehen. Wir
befinden uns im Jahr 2010, und noch haben wir die
größte Wirtschafts- und Finanzkrise, die diese Republik
je hatte, noch nicht durchgestanden. Herausgekommen
aus dieser Krise sind wir erst, wenn wir an die Entwicklung zwischen 2005 und 2008 anknüpfen - damals waren wir in vielen Bereichen auf dem richtigen Weg - und
dauerhaftes Wachstum schaffen.
In der Tat wird ein wesentlicher Teil des Wachstums
in diesem Jahr durch Konjunkturmaßnahmen bedingt
sein. Im nächsten Jahr muss das anders sein. Unsere zentrale Herausforderung ist - Herr Bundesminister
Brüderle, Bundesministerin von der Leyen und andere
Redner haben es angesprochen -, für ein dauerhaftes,
selbsttragendes Wachstum zu sorgen. Die Erreichung
dieses Ziels hat für diese Regierung oberste Priorität.
1 Prozent Wachstum schafft 6 bis 7 Milliarden Euro
Steuermehreinnahmen. 1 Prozent Wachstum schafft
gleichzeitig 4,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen in der
Sozialversicherung, und das bei gleichzeitigem Rückgang der Ausgaben für Sozialtransfers in Höhe von 3 bis
5 Milliarden Euro. Wachstum ist also alternativlos. Wir
müssen die Voraussetzungen für Wachstum schaffen.
Wir tun dies, indem wir die Gütermärkte stärken. Was
die Telekommunikation und die Post - sie sind angesprochen worden - angeht, gilt es zum Wohle der Wirtschaft und der Bürger deren Effizienzpotenziale zu heben und somit die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir müssen uns aber auch überlegen, wie auf intelligente Weise zukünftig Innovationen hervorgebracht werden können. Deshalb will und wird diese Regierung eine
steuerliche Forschungsförderung einführen, deren
Nutzen dreimal höher ist als ihre Kosten. Dadurch werden neue Produkte und Dienstleistungen auf den Markt
gebracht. Langfristig schafft das Wachstumsperspektiven.
Diese Regierung wird auch für eine Vereinfachung
des Steuerrechts und für Steuerentlastungen sorgen,
und zwar mit dem Ziel, dass sich Leistung wieder lohnt.
Wir werden auch etwas für die Kommunen tun. Ich
glaube, die Kommunen haben mittlerweile selber eingesehen, dass das unsägliche Auf und Ab bei der Gewerbesteuer nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Ziel muss es
sein, eine Verstetigung der Einnahmen der Kommunen
zustande zu bringen.
({0})
Ich will an dieser Stelle heute auch auf die besondere
Rolle des Arbeitsmarktes eingehen. Hier wurde ja gefordert, die Reformen, die am Arbeitsmarkt durchgeführt
wurden - ich gestehe durchaus, dass sie unter Rot-Grün
eingeleitet und von der Großen Koalition fortgeführt
wurden -, rückgängig zu machen. Das wäre falsch, weil
die damit einhergehenden Maßnahmen wie auch moderate Tarifabschlüsse und Innovationen bei Dienstleistungen und Produkten dazu geführt haben, dass diese Republik 2008 das höchste Beschäftigungsniveau seit ihrer
Gründung 1949 erreicht hat, nämlich über 40 Millionen
Erwerbstätige.
Damit einher geht eine bessere Wettbewerbsfähigkeit deutscher Produkte und Dienstleistungen im Ausland. Anders ausgedrückt: Wir können mehr exportieren.
Dass Produkte und Dienstleistungen in Deutschland aufgrund der Maßnahmen der Bundesregierung preiswerter
und effizienter als in anderen Ländern hergestellt bzw.
erbracht werden, hat positive Auswirkungen auf den Export. Zum Beispiel werden aus Deutschland Maschinen
und Konsumprodukte nach Frankreich geliefert. Davon
haben auch die Franzosen etwas, weil sie so bessere und
preiswerte Produkte bekommen. Man gewinnt dort also
gleichzeitig Konsumentensouveränität zurück. Nicht anders verhält es sich mit Produkten und Dienstleistungen,
die wir einkaufen. Das ist die positive Seite der Globalisierung und des europäischen Binnenmarktes.
Herr Kollege Pfeiffer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Wenn es sein muss, bitte.
Es muss nicht sein. Deswegen frage ich Sie ja.
Doch. Ich bin einverstanden.
Herzlichen Dank für die Gelegenheit, hier eine Frage
zu stellen - Sie haben in Ihren Ausführungen die Ausrichtung Deutschlands auf den Export als sehr positiv
dargestellt. Das wundert mich. Sind Sie insofern bereit,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir durch unsere einseitige Ausrichtung auf Exporte einen Handelsbilanzüberschuss zu verzeichnen haben, der gleichzeitig zu Defiziten in anderen Ländern führt? Sind Sie auch bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass diese Tatsache unter anderem
dazu beiträgt, dass es jetzt Probleme mit Griechenland
gibt und es möglicherweise zu Problemen mit Portugal
und Spanien kommen wird?
Wollen Sie diesen Kurs wirklich fortsetzen? Ist es
nicht so, dass die Fortsetzung dieses Kurses bedeutet,
dass wir permanent denjenigen Ländern helfen müssen,
deren Haushaltsdefizite das Ergebnis unserer eindeutigen Ausrichtung auf den Export sind?
Also, in der Tat bin ich gern bereit, nicht nur zur
Kenntnis, sondern sogar freudig zur Kenntnis zu nehmen, dass wir diese Exportstärke haben. Ich habe gerade
versucht, zu erläutern, was uns diese Überschüsse und
diese Exportstärke bringen. Zunächst einmal ist es das
Ergebnis von Reformmaßnahmen am Arbeitmarkt, von
Strukturreformen der Unternehmen, von erhöhter Innovationskraft, dass wir so attraktive Produkte und Dienstleistungen haben, dass diese auch nachgefragt werden.
Das ist der Grund dafür, dass wir bis zur Krise großes
Wachstum hatten und das höchste Beschäftigungsniveau
seit 1949 erreicht hatten. Da möchte ich Sie nun fragen,
ob Sie bereit sind, dieses zur Kenntnis zu nehmen. Das
ist nämlich das Ergebnis der Politik, die wir gemacht haben.
Verstehe ich Ihre Frage richtig, dass Sie uns nun allen
Ernstes das griechische Geschäftsmodell empfehlen?
Wollen Sie uns vorschlagen, die notwendigen Anpassungs- und Strukturmaßnahmen nicht vorzunehmen?
Damit würden wir Gefahr laufen, auf die gleiche
Schiene wie Griechenland und vielleicht auch manch anderes Land zu kommen. Das kann doch wohl nicht Ihr
Ernst sein.
({0})
Es kann ja wohl nicht sein, dass wir schlechter werden
sollen, um uns an die anderen anzugleichen. Das ist nicht
das Geschäftsmodell, das ich mir und das wir uns in dieser Koalition vorstellen.
({1})
- Die Frage ist noch nicht beantwortet!
({2})
Nach meinem Empfinden ist sie beantwortet, und das
hilft auch der Einhaltung der vereinbarten Gesamtredezeit.
({0})
Ich lasse jetzt noch eine weitere Zusatzfrage zu, aber
dann ist auch gut. - Bitte schön.
Herr Kollege Pfeiffer, Sie sagen, wir sollten nicht das
Geschäftsmodell Griechenlands übernehmen. Das ist sicherlich nicht die Frage. Verstehe ich es aber richtig,
dass Sie der Auffassung sind, dass die Griechen und
andere Länder - aber hier ging es jetzt ja um Griechenland - das deutsche Geschäftsmodell zu übernehmen
haben? Das deutsche Geschäftsmodell heißt ja: Lohndumping durch die Agenda 2010, Lohndumping durch
Befristung, Leiharbeit, Mini-Jobs und Arbeitslosengeld II. All das hat ja dazu geführt, dass in Deutschland
die Lohnstückkosten in den letzten zehn Jahren gerade
einmal um 7 Prozent angestiegen sind. In allen anderen
Ländern der Euro-Zone sind sie dagegen im Durchschnitt um 27 Prozent angestiegen. Sind Sie der Auffassung, dass die anderen Länder das Geschäftsmodell des
Lohndumpings übernehmen sollten? Dann müssten Sie
allerdings auch die Frage beantworten, zu was das am
Ende führt, ob das dann nicht zu einer allgemeinen Deflation in Europa führt.
({0})
In der Tat halte ich es für einen Erfolg, dass es uns in
den letzten zehn Jahren gelungen ist, den Anstieg der
Lohnstückkosten zu bremsen. Denn dieses hat die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland gestärkt
und letztlich, wie gesagt, zu mehr Wettbewerbsfähigkeit,
zu erfolgreicheren Produkten und Dienstleistungen und
zu mehr Arbeitsplätzen bei uns geführt.
Sie werden hier doch nicht allen Ernstes einen Anstieg der Lohnstückkosten propagieren wollen! Damit
würde sich doch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands
und vielleicht sogar ganz Europas im weltweiten Kontext verschlechtern.
Wenn Sie von Lohndumping reden, möchte ich dem
entgegenhalten, dass die Höhe der Löhne in Deutschland
weltweit und in Europa noch mit an der Spitze liegt.
({0})
Da kann ich also hinten und vorne kein Lohndumping
erkennen. Ganz im Gegenteil: Genau diese maßvolle
Entwicklung bei den Lohnstückkosten hat dazu geführt,
dass wir heute besser dastehen als die anderen. Deshalb
fordere ich in der Tat, dass sich andere an diesem Prozess, an dieser Entwicklung, sozusagen an dieser Benchmark, orientieren. Das ist der richtige Weg. Insofern
haben Sie das richtig herausgearbeitet, nur die Schlussfolgerung war falsch. Vielleicht können wir darüber
beim nächsten Mal noch einmal sprechen.
Ich möchte aber gern noch auf ein weiteres Thema,
das angesprochen worden ist, eingehen. Das ist die
Kaufkraft. Da muss man schon einmal mit dieser Mär
aufräumen, die von Salonlinken, also von den Grünen
über die SPD bis ganz Linksaußen, immer wieder gern
verkauft wird, nämlich dass die Kaufkraft nur dadurch
gestärkt werden könne, dass man die Reallöhne erhöht
und die Reformen zurückdreht, die notwendig und sinnvoll waren. Das ist nämlich eine Milchmädchenrechnung. Das schadet vielmehr der Wettbewerbsfähigkeit
und führt zu weniger Wachstum; weniger Wachstum
führt zu weniger Arbeitsplätzen; und weniger Arbeitsplätze führen zu weniger Kaufkraft.
Ich kann Ihnen das auch noch einmal nach Adam
Riese darlegen. Es ist offensichtlich - auch das Institut
der deutschen Wirtschaft hat es gerade noch einmal ausgerechnet; das ist für alle nachlesbar -, dass von 1992
bis 2006 ein Reallohnanstieg von 1 Prozent zu 0,3 Prozent mehr Kaufkraft geführt hat, während ein Beschäftigungsanstieg von 1 Prozent zu 0,8 Prozent mehr Kaufkraft geführt hat. Daraus wird also ein Schuh. Es kann
nicht darum gehen, einseitig Lohnsteigerungen oder sogar Steigerungen der Lohnstückkosten zu erreichen.
Wenn wir die Beschäftigung, das Beschäftigungsvolumen insgesamt ausweiten, wenn wir mehr Menschen in
Beschäftigung bekommen, wenn wir die Arbeitslosigkeit mit unseren Maßnahmen abbauen, wenn wir die
Menschen aus der sogenannten stillen Reserve in den
Arbeitsmarkt integrieren, dann wird mehr Kaufkraft geschaffen, dann entstehen mehr Arbeitsplätze, dann haben
die Menschen auch mehr in der Tasche. Das Ergebnis ist
dann, dass Wachstum und Beschäftigung dauerhaft steigen, und das hilft den Menschen. Es geht nicht umgekehrt.
Das ist die Politik, die wir verfolgen. Daran werden
wir konsequent festhalten. Die Ergebnisse werden wir
am Ende dieser Legislaturperiode sehen können. Dann
werden Wachstum und Beschäftigung gleichermaßen
gestärkt sein.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Regierung - das haben wir heute gehört - setzt auf
Wachstum und auf individuelle Perspektiven für jeden
Einzelnen auf dem Arbeitsmarkt. Das Maßnahmenbündel im Rahmen des Beschäftigungschancengesetzes, das
heute vorgestellt worden ist, bringt das sehr gut zum
Ausdruck. Zu nennen sind die maßvolle - das ist der Unterschied zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD - Verlängerung der Kurzarbeit und die gute
Jobcenterregelung, die wirklich einen guten Kompromiss darstellt.
({0})
- Bitte, Herr Heil; sehr gerne. Wenn man etwas richtig
gemacht hat, muss man auch gelobt werden. Was die
Jobcenterregelung angeht, so ist schon zu Recht Lob an
viele Beteiligte im Hause verteilt worden.
Gerade als jüngerer Vertreter in diesem Hause will ich
aber darüber hinaus auf zwei Aspekte gesondert hinweiJohannes Vogel ({1})
sen. Da haben die beiden Regierungsfraktionen von Ihnen Lob verdient, Herr Heil. Da kümmern wir uns nämlich um jüngere Menschen und deren Chancen auf dem
Arbeitsmarkt.
({2})
Es geht um zwei Punkte in diesem Maßnahmenbündel.
Zum einen ist die Vermittlungsoffensive für junge
Menschen unter 25 Jahren zu nennen. Wir wollen festschreiben, dass endlich in jedem Jobcenter in Deutschland der Grundsatz gilt: Junge Menschen unter 25 Jahren, die arbeitslos sind, bekommen innerhalb von sechs
Wochen ein Angebot für eine Arbeitsstelle oder für eine
sinnvolle Qualifikationsmaßnahme. Sie wissen so gut
wie ich, dass das derzeit mitnichten überall in Deutschland der Fall ist. Da gibt es vor Ort sehr wohl Licht und
Schatten. Wir wollen die Schulen, die Kammern, die Unternehmen und andere vor Ort in diese Offensive einbeziehen und das Ganze bündeln; denn Arbeitslosigkeit
wird dann zum Schicksal, wenn sie sich individuell verfestigt.
({3})
- Ja, das ist nichts Neues, aber es wird eben nicht überall
umgesetzt. Wir machen Druck, dass dieses Ziel endlich
Realität wird,
({4})
weil wir glauben: Jeder junge Mensch hat es verdient,
Herr Heil, eine Perspektive zu bekommen.
({5})
Der Grundsatz von Fördern und Fordern, den Sie ja eingeführt haben, soll endlich auch für jeden jungen Menschen gelten; wir werden diesem Gedanken zur Umsetzung verhelfen.
({6})
Ich komme zu dem zweiten Punkt. Sie wissen, dass
für diese Regierung und gerade für die FDP die Verbesserung der Zuverdienstregeln
({7})
- ja, Frau Nahles - ein ganz zentrales Projekt in der Sozialpolitik in dieser Legislaturperiode ist, weil sie einen
ganz wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, die Menschen stärker in den ersten Arbeitsmarkt zu bringen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die Zuverdienstregelung bei den Schülerferienjobs. Das haben wir jetzt ganz konkret herausgegriffen. Vor dem
1. Juni, also noch vor den Sommerferien, wird eine Regelung in Kraft treten, nach der junge Menschen, die in
einer Familie mit Arbeitslosgengeld-II-Empfängern aufwachsen, die Chance haben, von dem Geld aus einem
Schülerferienjob auch etwas zu haben. Das ist ein
Thema - wie übrigens die Frage des Hartz-IV-Schonvermögens -, bei dem es ganz entscheidend auch um die
Ethik geht, die in unserem Sozialstaat herrscht. Wir wollen eine Ethik, die auf Eigenverantwortung setzt und jedem Menschen Perspektiven zur freien Entfaltung bietet.
Dabei spielt in meinen Augen eben auch ein Schülerferienjob, der oft das erste selbstverdiente Geld bedeutet,
eine große Rolle.
Da besteht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
({8})
- Ja, Herr Heil. Wir mussten eben eine Lösung finden
- Sie haben nämlich keine aufgezeigt -, die Gleichbehandlung schafft
({9})
im Hinblick auf diejenigen, die einen kleinen Job neben
der Schule haben, vielleicht Brötchen verkaufen oder
unter der Woche Zeitungen austragen. Sie müssen weiterhin den Grundfreibetrag von mindestens 100 Euro haben, bevor wir die grundsätzliche Hinzuverdienstregelung anpacken.
({10})
- Nein, Herr Heil, das ist die realistische Perspektive aus
Sicht der betroffenen Menschen. Obendrauf muss es
eben noch eine Möglichkeit für Schülerferienjobs geben.
Denn wenn junge Menschen in den Ferien arbeiten
- zum Beispiel Zeitungen austragen oder Brötchen verkaufen -, dann muss es auch die Möglichkeit geben,
mehr als 100 Euro im Monat zu verdienen.
Wenn von zwei Schülern, die in unterschiedlichen Familien aufwachsen - die Eltern des einen haben einen
Job, können arbeiten und zahlen möglicherweise auch
Steuern, die des anderen sind bedauerlicherweise und
hoffentlich nur vorübergehend Arbeitslosengeld-II-Empfänger -, der eine sein selbstverdientes Geld behalten
kann und der andere nicht, dann ist das doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.
Wir schaffen diese Ungerechtigkeit endlich ab und
sorgen diesbezüglich für mehr Fairness im Sozialstaat.
({11})
- Sie haben ein Modell vorgelegt, das nicht funktioniert
und diejenigen, die in den Ferien oder auch einfach während der Schulzeit nebenher arbeiten, ungleich behandelt
hätte. Wir haben ein Modell, das alles zusammenbringt.
({12})
Das macht unseren Sozialstaat an dieser Stelle fairer und
verdeutlicht, dass die Regierung sich nicht nur Gedanken darüber macht, wie wir neue Jobs schaffen können,
sondern auch darüber, wie wir denjenigen eine Perspek3682
Johannes Vogel ({13})
tive geben können, die vorübergehend benachteiligt
sind.
In diesem Sinne vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({14})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Natürlich kann man in einer vom Wahlkampf geprägten Debatte wie dieser über Prozentpunkte diskutieren. Aber es
bleiben doch zwei Dinge festzuhalten: Erstens. Deutschland ist langsam, aber stetig auf einen Wachstumskurs
zurückgekehrt. Zweitens. Deutschland hat es in einer bemerkenswerten Art und Weise geschafft, seinen Arbeitsmarkt zu stabilisieren.
({0})
Das ist ein Verdienst der Bürgerinnen und Bürger auf
der einen Seite, die die Nerven bewahrt haben, der Unternehmer - insbesondere des Mittelstands und des
Handwerks -,
({1})
die zu ihren Arbeitnehmern stehen, auf der anderen
Seite,
({2})
und es ist auch ein Verdienst der Politik,
({3})
insbesondere zweier unionsgeführter Bundesregierungen. Auch das muss man doch einmal sagen.
({4})
Ich hätte erwartet, dass auch die SPD, die ja an der
letzten Regierung beteiligt war, an dieser Stelle klatscht.
Es ist schon eine bemerkenswerte wahlkampfbedingte
Selbstverleugnung, die Sie da an den Tag legen.
({5})
Es gab heute Kritik am Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Vielleicht hätte man eine andere Überschrift
wählen sollen:
({6})
„Große-Koalition-Schaden-Beseitigungsgesetz“ zum Beispiel, weil wir das korrigieren mussten, was mit Ihnen
nicht machbar war.
({7})
Das betrifft zum Beispiel Ihr verschrobenes Familienbild
in Bezug auf die Erbschaftsteuer. Ich halte es immer
noch für skandalös, dass Sie Neffen und Nichten so behandeln wollten, als seien es Fremde. Außerdem ist die
Substanzbesteuerung inakzeptabel.
({8})
Es ist schon bemerkenswert, wenn Herr Steinmeier
sagt, es handele sich um Geldverschwendung, wenn man
im Rahmen dieses Gesetzes zusätzliches Geld für die Familien aufbringt. Das ist ein Skandal.
({9})
- Doch. Er hat dieses gesamte Thema mit dem Titel
„Geldverschwendung“ überschrieben. Das ist vollkommen falsch.
({10})
Aber ich gebe zu, dass der Silberstreif am Horizont,
den wir in wirtschaftlicher Hinsicht momentan sehen,
Geld kosten wird. Wir werden uns in dem Zusammenhang genau überlegen müssen, wie wir unsere Haushalte
konsolidieren.
({11})
Da gilt es, klare Prioritäten zu setzen: Erstens. Wir
müssen unsere Politik so ausrichten, wie Herr Brüderle
es heute zu Recht angedeutet hat: Wir müssen sie an der
deutschen Mittelschicht, am unternehmerischen, aber
auch am Arbeitnehmermittelstand, dieser Republik
orientieren.
Zweitens. Wir müssen aufpassen, dass wir den investiven Bereich nicht wieder als Steinbruch nutzen. Da haben wir in der Vergangenheit etliche Fehler gemacht; das
gebe ich zu. Zum Beispiel hat man aus einer statistischen
Betrachtung heraus gemeint, die Eigenheimzulage abschaffen zu müssen. Das war ein kompletter Fehler, und
diesen dürfen wir beim Marktanreizprogramm und beim
CO2-Gebäudesanierungsprogramm nicht wiederholen.
Das Thema Griechenland wurde hier angesprochen.
Es ist schon spannend, Herr Ernst, dass Sie sagen, der
deutsche Außenhandel sei schuld an der Misere in Griechenland. Was ist das für ein Wirtschaftsverständnis?
({12})
Zwei Dinge muss man ganz klar sagen:
Erstens. Natürlich können wir uns einen Staatsbankrott innerhalb der Euro-Zone nicht erlauben. Das würde
eine neuerliche Bankenkrise bedeuten. Im Übrigen
würde dies auch andere Staaten in Schwierigkeiten bringen. Das wäre das Ende der Währungsunion.
Zweitens. Einen Automatismus, einen Freibrief für
Griechenland im Sinne eines europäischen Länderfinanzausgleichs darf es aber auch nicht geben. Dies
könnten wir den Wählerinnen und Wählern nicht vermitteln.
Deshalb sage ich: Der Zugang zum Euro ist mit Lug
und Trug erschlichen worden, übrigens, Herr Heil, begünstigt von der SPD
({13})
zu ihrer damaligen Regierungszeit. Ich stelle klipp und
klar fest: Kontrolle ist legitim, und es war richtig, zu entscheiden, dass der IWF beteiligt wird. Er ist hilfreich.
Denn ich glaube nicht, dass die anderen Staaten, die sich
selber in schwierigen Haushaltslagen befinden, in diesem Zusammenhang die notwendige Konsequenz von
den Griechen einfordern würden. Deshalb werden wir
sehr genau darauf achten
Herr Kollege.
- letzter Satz -, dass die Griechen mit der notwendigen Konsequenz auf einen Konsolidierungskurs gebracht werden, auf dem sich Deutschland dank dieser
neuen Bundesregierung bereits befindet.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Kramme, Gabriele Hiller-Ohm, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern
- Drucksache 17/1408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eine Woche vor dem 1. Mai führen wir diese
Debatte über Mindestlöhne. Der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund, hat ein sehr gutes Motto für die Veranstaltung zum 1. Mai in der nächsten Woche gewählt:
„Wir gehen vor!“
Wir von der SPD gehen vor und legen Ihnen heute einen Antrag vor, in dem wir etwas fordern, was dringend
notwendig ist: die Einführung von Mindestlöhnen in
Deutschland. Das tun wir deswegen, weil wir auf die
Frage, wer in unserem Land vorgeht, klar und eindeutig
sagen: Die Menschen in unserem Land gehen vor. - Deswegen brauchen wir Mindestlöhne in Deutschland.
({0})
Der Wohlstand, den wir in Deutschland haben, wird
erarbeitet. Aber die Menschen, die diesen Wohlstand erarbeiten, werden immer weniger geachtet; das müssen
wir festhalten. Wir müssen sagen, dass das Versprechen:
„Wenn du etwas leistet, dann kannst du in unserem Land
etwas aus dir machen“, mit dem wir groß geworden sind
und das uns Wohlstand gebracht hat, für Millionen von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jeden Tag
etwas leisten, nicht mehr aufgeht. Wir brauchen Mindestlöhne auch deswegen dringend, weil wir diesen Leuten wenigstens eine gewisse Perspektive auf anständige
Löhne und Aufstiegsperspektiven in Deutschland verschaffen wollen.
({1})
Was tut nun die schwarz-gelbe Bundesregierung? Sie
verhindert Mindestlöhne.
({2})
Sie wissen ganz genau, dass es immer mehr Niedriglöhne gibt - und das, obwohl 80 Prozent derjenigen,
die Niedriglöhne bekommen, eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Ich frage Sie: Entspricht es Ihrem
Verständnis von Freiheit, dass 2 Millionen Menschen
brutto weniger als 6 Euro pro Stunde verdienen? Entspricht dies Ihrem Verständnis von Liberalität? Ist es
christlich, dass wir diesen Menschen einen Mindestlohn
verweigern? Ich sage: Nein, das ist es nicht.
({3})
Deswegen brauchen wir Mindestlöhne.
Sie auf der Regierungsbank wissen ganz genau, dass
Lohndumping tariftreuen Unternehmen, die noch anständige Löhne zahlen, Probleme macht. Sie wissen
ganz genau, dass diese Unternehmen bei den Ausschreibungen benachteiligt werden, wenn wieder ein Unternehmen mit Dumpinglöhnen das billigere Angebot
präsentiert und den Zuschlag bekommt. Ist das Ihr Verständnis von Wettbewerbsfähigkeit? Ist das fairer Wettbewerb? Ich sage: Nein. Auch deswegen brauchen wir
Mindestlöhne in Deutschland.
Sie wissen auch, dass die Staatskassen wegen dieser
Schmutzkonkurrenz massiv geplündert werden. Mittlerweile kostet es jährlich 9 Milliarden Euro, Menschen,
die niedrigste Einkommen und Löhne erhalten, ständig
zusätzliche Leistungen zu gewähren.
({4})
Ist das Ihr Verständnis von Haushaltskonsolidierung? Ist
das liberal, fair und christlich? Ich sage: Nein.
Glauben Sie mir: Es tut nicht weh, Mindestlöhne einzuführen.
({5})
Sie wissen doch, dass alle europäischen Länder, die
einen Mindestlohn eingeführt haben, gute Erfahrungen
damit gemacht haben. Das wird von Ihnen schlichtweg
ignoriert. Dann werden irgendwelche Gutachten zitiert,
die belegen sollen, dass Mindestlöhne Millionen von Arbeitsplätzen vernichten. Das ist Unsinn, das ist Quatsch.
Putzen Sie Ihre Brille! Schauen Sie einmal über den Tellerrand und auf die europäischen Nachbarn Frankreich,
Holland und England! Das sind doch keine Deppen; das
können Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Liberalen und von der Union, hier niemandem weismachen.
({6})
Das Beste ist, dass Sie dann immer behaupten, Sie
seien die Sachwalter und Gralshüter der Tarifautonomie
in Deutschland.
({7})
Das ist wirklich tragikomisch, und zwar aus folgendem
Grund: Ihnen fiel über Jahre nichts Besseres ein, als darüber zu jammern, wie unflexibel und starr unsere Tarifsysteme und unser überregulierter Arbeitsmarkt seien.
Wahr ist, dass wir in Deutschland 60 000 gültige Tarifverträge haben. Das ermöglicht in diesem Land eine
Flexibilität und Varianz, die zu jedem Unternehmen
passt. Es wird nicht im Mindesten von Ihnen zur Kenntnis genommen und gewürdigt, dass die Gewerkschaften
dies ermöglicht haben, zum Beispiel mit der Pforzheimer Vereinbarung.
Es ist wichtig, dass wir den Realitäten ins Auge
schauen: Nur noch 50 Prozent der Arbeitnehmer werden
von Tarifverträgen erfasst. Die anderen 50 Prozent lassen Sie im Regen stehen, weil Sie nicht bereit sind, hier
Mindestlöhne zu gewähren. Das ist die Wahrheit.
({8})
Sie sind hier die Letzten, die sich mit der Tarifautonomie
schmücken dürfen.
Wir wissen sehr wohl, dass es sensibel sein kann,
wenn allein wir als Parlament über die Höhe der Mindestlöhne entscheiden. Wir schlagen deswegen vor, eine
unabhängige Kommission einzurichten, die es ermöglicht, dass Arbeitgeberinteressen, wissenschaftliche Erkenntnisse und Arbeitnehmerinteressen gleichermaßen
berücksichtigt werden. Unsere Empfehlung ist, eine solche unabhängige Kommission einzusetzen. Wir unterstützen den Richtwert für Mindestlöhne von 8,50 Euro,
den der DGB vorschlägt.
({9})
Wir wollen aber nicht, dass hier vor einer Wahl für eine
Erhöhung des Mindestlohns gestimmt wird und das nach
der Wahl nicht mehr wahr sein soll. Stattdessen sollen
unabhängige Leute über die Höhe des Mindestlohns entscheiden; wir vollziehen es dann hier im Parlament nach.
Das ist ein kluger Weg.
Mindestlöhne müssen kontrolliert werden. Wir haben
in Deutschland branchenbezogene Mindestlöhne eingeführt und den Zoll beauftragt, das zu kontrollieren. Wir
halten das für eine zentrale Achse: Mindestlöhne sind
nämlich nur dann nicht wettbewerbsverzerrend - Wettbewerbsverzerrung ist für Sie das Hauptproblem -, wenn
sich alle an die Spielregeln halten. Deswegen wollen wir
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, mit Spielregeln, die jeder einhalten muss. Wir sind für Mindestlöhne, aber
auch für eine Kontrolle der Mindestlöhne; denn wir wollen nicht, dass sich einer daran hält und darunter leidet,
während ein anderer das nicht tut. An dieser Stelle sind
wir sehr klar.
({10})
Wir haben eine Menge branchenbezogener Mindestlöhne auf den Weg gebracht. Ich frage Sie: Was ist eigentlich mit dem Postmindestlohn, der mühevoll errungen wurde? Gleich nachdem das Gericht wegen eines
Formfehlers entschieden hatte, dass der Postmindestlohn
ausgesetzt wird, ist die PIN AG hingegangen und hat
von einem Tag auf den anderen die Löhne von 9,80 Euro
auf 8,50 Euro abgesenkt. Das ist doch genau die Wahrheit in unserem Land. Die Absenkung von Löhnen ist
mittlerweile ein Sport von Arbeitgebern in diesem Land
geworden.
({11})
Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Das ist unsere
Position.
({12})
Wir sagen: Die Menschen gehen vor. Wir legen heute
diesen Antrag vor. Er ist vernünftig und abgewogen. Er
berücksichtigt die Interessen von allen. Deswegen bitten
wir Sie herzlich - zurzeit haben wir nun einmal die Situation, dass Sie sich der Vernunft komplett verweigern
und Mindestlöhne, wo es geht, vermeiden, sich aber
christlich und liberal schimpfen -: Gehen Sie mit uns.
Das würde den Menschen in diesem Land nutzen.
Danke.
({13})
Die Kollegin Gitta Connemann ist die nächste Rednerin für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man
merkt, es ist Wahlkampf - an der Lautstärke Ihres Beitrages, liebe Frau Nahles, und an der Anzahl der Oppositionsanträge, die explosionsartig ansteigt. Es bebt, es
brodelt, es zischt - man fühlt sich an Island erinnert.
({0})
Auch die SPD glüht und entdeckt einmal mehr das
Thema gesetzlicher Mindestlohn, allerdings mit neuen
Akzenten. Waren es in Regierungszeiten noch 7,50 Euro,
sind es jetzt 8,50 Euro. In der Opposition fordert es sich
eben leichter. Das zeigt, liebe Frau Nahles: Sie gehen
nicht vor, sondern allenfalls hinterher.
({1})
Ihre Forderung hört sich gerecht und einfach an, aber
einfache Sätze sind selten wahr, und wahre Sätze sind
selten einfach - wie auch in diesem Fall.
({2})
Keine Frage: Arbeit darf nicht arm machen. Darin sind
wir uns einig. Ich sage hier deutlich für die christlichliberale Koalition: Alles andere wäre unsozial und unwürdig. Aber wo ist die Grenze? Eine Friseurin in Thüringen verdient als Tarifgrundlohn zwischen 3,18 Euro
und 7,62 Euro pro Stunde - von der Gewerkschaft abgesegnet. Sollen wir das verbieten?
({3})
Wie gerecht wäre es, wenn ein Arbeitnehmer im teuren München das Gleiche bekäme wie der Kollege im
ländlichen Raum mit eher niedrigen Lebenshaltungskosten? Und hilft ein Mindestlohn Geringqualifizierten oder
Langzeitarbeitslosen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz? Nein, im Gegenteil.
Denn erstens: Ein gesetzlicher Mindestlohn in der geforderten Höhe vernichtet Arbeitsplätze.
({4})
Es ist eine bittere Wahrheit, aber auch der Faktor Arbeit
unterliegt volkswirtschaftlichen Gesetzen.
({5})
Eine Gesetzmäßigkeit lautet: Betriebe, die wegen zu hoher Löhne zu hohe Preise verlangen müssen, können auf
Dauer am Markt nicht bestehen. Ist ein Mindestlohn zu
hoch, vernichtet er also Arbeitsplätze.
({6})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
werden jetzt sagen, die Betriebe könnten mehr zahlen,
sie wollten bloß nicht. Wer so etwas sagt, weiß in keiner
Weise um die Lage gerade der kleinen und mittelständischen Unternehmen vor Ort.
({7})
Wissen Sie, was einem Handwerksbetrieb bleibt? Zwischen 2 und 4 Prozent. Wenn Sie das auf einen Stundensatz umlegen, dann sind wir bei 0,56 bis 1,30 Euro in der
Stunde. Da bleiben keine Spielräume mehr.
Zweitens. Ein gesetzlicher Mindestlohn schadet gering qualifizierten Menschen; denn darunter leiden vor
allem die Ungelernten ohne Ausbildung, ohne Abschluss, ohne Perspektive.
({8})
Wenn ihre Arbeit teurer wird, haben sie keinerlei Chance
am Arbeitsmarkt. Sie sind damit nicht nur von der
Chance auf einen eigenen Verdienst abgeschnitten, sondern übrigens auch von der Anerkennung, die jede Arbeit darstellt. Denn eines müssen wir an dieser Stelle
auch festhalten: Es geht bei Arbeit nicht nur um Geld,
sondern Arbeit gibt auch Würde.
({9})
Drittens. Ein gesetzlicher Mindestlohn gefährdet insbesondere Arbeitsplätze in ohnehin schwachen Regionen. Niemand hat etwas davon, in Berlin einen Lohn
festzulegen, der in Grenzregionen Arbeitsplätze zerstört.
Die Verhältnisse in Frankfurt unterscheiden sich eben
danach, ob man an der Oder oder am Main ist.
({10})
Die Brandenburger Betriebe stehen im Wettbewerb zu
polnischen. Dort gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn,
vollkommen richtig; aber dieser liegt bei 1,53 Euro.
({11})
Ein Mindestlohn von 8,50 Euro auf deutscher Seite hätte
nur ein Ergebnis: Jobvernichtung. Unterschiedliche Verhältnisse müssen unterschiedlich behandelt werden. Ein
gesetzlicher Mindestlohn für ganz Deutschland gewährleistet dies nicht.
({12})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich
höre schon Ihren Einwand, dass in anderen europäischen
Ländern höhere Mindestlöhne gezahlt werden als in Polen.
({13})
Das ist völlig korrekt. Es gibt insgesamt 20 Staaten in
der EU, die einen Mindestlohn eingeführt haben; aber
der Durchschnittslohn in der EU beläuft sich auf
4,08 Euro.
({14})
So unterrichtete uns das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales am Anfang dieses Monats darüber, dass der
Mindestlohn in der EU durchschnittlich 4,08 Euro beträgt. Das Ministerium wies uns übrigens auch auf folgende Erkenntnis hin: In Staaten ohne gesetzlichen Mindestlohn ist der Durchschnittslohn 30 Prozent höher als
in Staaten mit gesetzlichem Mindestlohn.
({15})
Denn auch ohne gesetzlichen Mindestlohn sind Hungerbzw. Armutslöhne in Deutschland schon heute verboten.
Das Gesetz untersagt sittenwidrige Löhne. Bleibt das
Einkommen auffällig hinter dem tarifüblichen oder ortsüblichen Lohn zurück, hat der Arbeitnehmer das Recht
auf Nachzahlung und übrigens der Staat auf Bestrafung.
Leider melden sich Betroffene kaum, und wo kein Kläger, da kein Richter. Da hilft auch kein gesetzlicher Mindestlohn, übrigens auch nicht dem System.
Ihre Behauptung, liebe Frau Nahles, gesetzliche Mindestlöhne würden zu Mehreinnahmen in der gesetzlichen
Sozialversicherung führen, ist reines Wunschdenken.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Höhere Arbeitslosigkeit durch gesetzliche Mindestlöhne führt zu Mindereinnahmen in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung.
({16})
Es ist deshalb sinnvoll, die Lohnfrage dort zu lassen, wo
sie hingehört, nämlich in den Tarifverhandlungen.
({17})
Wir, die Union, wollen Mindestlöhne, aber branchenbezogen; denn so wie sich die regionalen Verhältnisse in
Deutschland nicht vergleichen lassen, gibt es auch Unterschiede zwischen den Branchen,
({18})
von der Chemiebranche bis zur Agrarbranche. Sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich dort einig, können wir
den Branchentariflohn auf alle erstrecken. Das haben wir
gemacht, vom Bau bis zur Pflege, und zwar mit großem
Erfolg.
({19})
Wir in der Union sind offen für weitere Branchen.
Das Prinzip, das übrigens unter Kohl und Blüm eingeführt worden ist, hat sich bewährt. Die Lohnfindung erfolgt durch die Tarifvertragsparteien. Niemand kann es
besser.
Frau Kollegin Connemann, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht zulassen?
Aber immer gerne.
Bitte.
({0})
Verehrte Frau Kollegin, ich finde Ihr Plädoyer für die
Tarifautonomie sehr charmant. Ich selbst war 20 Jahre
lang in der Tarifpolitik verantwortlich tätig. Wir haben
bereits gehört, dass mittlerweile nur noch 50 Prozent der
Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland durch Tarifverträge abgedeckt sind. Wie wollen Sie mit den anderen
50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer,
für die es mittlerweile durch vielfältige Prozesse, die
durch Politik herbeigeführt worden sind, keine Tarifverträge mehr gibt, umgehen, wenn der Abschluss von Tarifverträgen nicht mehr möglich ist?
Herr Kollege, zunächst einmal halte ich Ihre Behauptung, dass es aufgrund politischer Einwirkung oder Vorgaben zu keinen Tarifabschlüssen mehr käme, für absolut abenteuerlich.
({0})
Bei Tarifverhandlungen haben wir immer noch auf der
einen Seite unabhängige Gewerkschaften, zum Beispiel
den DGB - Frau Nahles hat ihn genannt -, Verdi oder
die Einzelgewerkschaften
({1})
- Sie brauchen sich gar nicht zu ereifern -, und auf der
anderen Seite die Arbeitgeberverbände. Damit hat die
Politik nichts zu tun. Das ist auch gut so; denn das Prinzip der Tarifautonomie hat sich in diesem Lande bewährt.
({2})
Sie haben natürlich recht: Es gibt Branchen, in denen
wir keine Tarifverträge bzw. ältere Tarifverträge haben.
In diesen Fällen helfen wir mit einer Ausweitung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, weil ein Grundsatz für
uns in der Union unantastbar ist: Die Lohnfindung ist bei
den Tarifvertragsparteien auf jeden Fall besser angesiedelt als beim Staat
({3})
oder bei Kommissionen, wie sie hier auch gefordert werden.
({4})
Weder der Staat noch eine unabhängige Kommission
könnte es besser, Herr Kollege. Das gilt mit Ausnahme
des Bereichs der Pflege. Dort gibt es wegen der Mehrzahl der kirchlichen Anbieter keine Tarifverhandlungen.
Hier wurde eine Mindestlohnkommission gegründet.
Das war die Ausnahme. Ansonsten haben wir unabhängige Tarifvertragsparteien. An diesem Prinzip wollen
wir festhalten. Es hat sich bewährt.
Dort, wo es keine Branchenmindestlöhne gibt, müssen wir ein Mindesteinkommen schaffen, und zwar
durch staatliche Zuschüsse. Mit uns sind Hungerlöhne
nicht zu machen. Das sage ich wiederholt von dieser
Stelle aus.
({5})
Anders als Sie streuen wir den Menschen aber keinen
Sand in die Augen, liebe Damen und Herren von der Opposition.
({6})
Wir sagen offen: Nicht jeder Beschäftigte kann von seinem Lohn leben, zum Beispiel, weil er Teilzeit arbeitet,
zum Beispiel, weil er eine geringere Qualifikation hat.
Ich sage Ihnen auch: Arbeitslosigkeit zu finanzieren ist
allemal teurer, als in diesen Fällen ein Mindesteinkommen durch staatliche Zuzahlung zum Lohn zu sichern.
({7})
Benachteiligte Bewerber können mit einem solchen
Kombilohn auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen. Das lohnt
sich übrigens, bevor das restliche Leben perspektivlos
wird. Ihnen mit Zuschüssen eine sinnvolle Arbeit zu geben, ist eine Chance für die Betroffenen wie für uns.
Es gibt viele Wege im Kampf gegen Arbeitslosigkeit.
Der gesetzliche Mindestlohn ist kein Patentrezept. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({8})
Das Wort hat der Kollege Werner Dreibus für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin Nahles, herzlich willkommen im
Kreis der Befürworter eines gesetzlichen Mindestlohns.
Um mit den Worten Friedrich Schillers anzufangen:
„Spät kommt Ihr - Doch Ihr kommt!“ Immerhin.
({0})
Ich freue mich, dass wir innerhalb von nur vier Sitzungswochen bereits die zweite Debatte zum Thema
Mindestlohn im Bundestag führen. Nachdem wir Anfang März unseren Antrag „Niedriglöhne bekämpfen Gesetzlichen Mindestlohn einführen“ vorgestellt haben,
zieht heute die SPD nach und präsentiert einen Antrag
mit einem fast wortgleichen Titel. Das Thema Mindestlohn hat für Millionen Menschen eine so existenzielle
Bedeutung, dass wir als Linke bereit wären, jede Woche
im Bundestag über die Einführung eines flächendeckenden, einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns zu diskutieren.
({1})
Wir wollen nicht vergessen, dass es die Linke war, die
in den letzten Jahren den gesetzlichen Mindestlohn immer wieder, auch hier im Haus, zum Thema gemacht hat.
({2})
Ich nenne nur zwei, drei Beispiele. Ich erinnere an die
eindrucksvolle Sachverständigenanhörung, die wir im
Mai 2006, also vor fast vier Jahren, hier im Bundestag
durchgeführt haben. Wir haben die Vertreter der Low
Pay Commission aus Großbritannien eingeladen. Übrigens waren Vertreter der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Wissenschaft bei uns. Sie berichteten schon
damals übereinstimmend in Berlin, dass der gesetzliche
Mindestlohn in Großbritannien ein voller Erfolg ist,
keine Arbeitsplätze gekostet hat, im Gegenteil sogar zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind.
({3})
- Hören Sie gut zu! - So sagte der Vertreter des Industrieverbandes wörtlich - das war nicht der Vertreter der
Gewerkschaft -: In unserem Land gibt es niemanden
mehr, der den Mindestlohn wieder abschaffen möchte.
Ich erinnere auch an die Unterschriftenkampagne der
SPD im Jahr 2007, mit der sie öffentlichkeitswirksam
feststellte: Deutschland braucht den Mindestlohn. Doch
statt als Regierungspartei in der vergangenen Legislaturperiode selbst eine Gesetzesinitiative für den gesetzlichen Mindestlohn zu starten, musste erst die Linke die
Resolution der SPD zur Abstimmung in den Bundestag
bringen. Das Ergebnis ist bekannt. Ich erinnere daran:
Die SPD stimmte gegen ihre eigene Resolution. Hätten
Sie mit uns und mit den Grünen in der letzten Legislaturperiode für Ihre Resolution gestimmt, hätten wir bereits
seit drei Jahren in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn.
({4})
Ich erinnere auch kurz an die vielen Anträge der Linken, mit denen wir wiederholt die Einführung eines flä3688
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gefordert haben. All diese Chancen haben Sie nicht genutzt.
Kollegin Nahles hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren
massiv angewachsen ist. Mittlerweile arbeiten mehr als
6,5 Millionen Menschen - das ist fast jeder vierte Beschäftigte - für einen Niedriglohn. Das ist nicht hinnehmbar. Fast jeder zehnte regulär Beschäftigte ist von
Niedriglöhnen betroffen. Es sind vor allem Menschen in
prekären Beschäftigungsverhältnissen, die zu Hungerlöhnen arbeiten. Das trifft vier von fünf sogenannten
Minijobberinnen und Minijobbern, zwei Drittel der
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter, 40 Prozent der befristet Beschäftigten, 39 Prozent aller Beschäftigten in
Ostdeutschland und vor allem Frauen, nicht zu vergessen die 1,4 Millionen Menschen, die so wenig verdienen,
dass sie neben ihrem Lohn noch Hartz IV beziehen müssen. Das kostet die Steuerzahler - auch das ist schon gesagt worden - jährlich 9,3 Milliarden Euro. Das ist völlig inakzeptabel.
({5})
An dieser Stelle sollte die Regierungskoalition, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ansetzen, wenn sie Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
wirklich entlasten will. Je schneller es in diesem Haus
eine Mehrheit für einen gesetzlichen Mindestlohn gibt,
desto besser ist es für die Betroffenen und für die Steuerzahler.
({6})
Zurück zum Antrag der SPD. Sie tun so, als ob Sie
mit der ganzen Entwicklung überhaupt nichts zu tun hätten. Weder in Ihrem Antrag noch im Grundsatzpapier Ihres Parteivorstandes „Fairness auf dem Arbeitsmarkt“
findet sich auch nur eine Zeile, in der Sie sich kritisch
mit Ihrer eigenen Rolle als Regierungspartei in den letzten elf Jahren auseinandersetzen. Finden Sie das gerade
bei diesem Thema fair? Ich finde es nicht fair. Wer hat
denn sachgrundlose Befristungen gesetzlich ermöglicht?
Wer hat die wichtigsten Schutzbestimmungen in der
Leiharbeit abgeschafft? Wer hat es ermöglicht, durch Tarifverträge vom Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ nach unten abzuweichen? Wer?
({7})
Wer hat die Minijobs gesetzlich erleichtert? Wer hat mit
Hartz IV ein Zwangssystem für Arbeitslose eingeführt,
das die Menschen entsprechend der Maxime „Jede Arbeit, jede billige Arbeit ist zumutbar“
({8})
in den Niedriglohnsektor zwingt und alle Beschäftigten
einschüchtert? Wer? Auch wenn Sie heute nichts mehr
davon wissen wollen: Es war die SPD zusammen mit
den Grünen, und zwar unter Beifall und Zustimmung
durch CDU/CSU und FDP.
({9})
Es ist Ihre gemeinsame Politik, die dafür gesorgt hat,
dass Millionen Menschen zu Niedriglöhnen schuften
müssen, dass fast 8 Millionen Menschen in prekären
Jobs stecken. Sie sind chancenlos, ohne Zukunft.
({10})
Wenn Sie wirklich glaubwürdig sein wollen, dann sollten Sie zu Ihrer gemeinsamen Verantwortung stehen.
Jeder hat das Recht, einen falschen Weg zu korrigieren. Deshalb freuen wir uns über diesen Antrag. Vielleicht wäre es aber besser, sich nicht nur bei der Überschrift an unserem Antrag zu orientieren. Denn Sie
bleiben, wie so oft, auf halbem Weg stecken. Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein genereller gesetzlicher Mindestlohn könnte derzeit 8,50 Euro betragen. Die Betonung liegt auf „könnte“.
({11})
Er könnte nach Ihrem Antrag auch deutlich darunter liegen. Als Kriterien für die Höhe des Mindestlohnes nennen
Sie lediglich, dass er Vollzeitbeschäftigten ein existenzsicherndes Einkommen und eine angemessene Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben ermöglichen soll. Könnte das,
wenn ich auf Hartz IV blicke, heißen, dass der Mindestlohn einem Vollzeitbeschäftigten ein Leben ohne aufstockende Hartz-IV-Leistungen ermöglichen soll? Das
würde bei einer 40-Stunden-Woche einem Mindestlohn
von gerade einmal 7,12 Euro entsprechen. Wir müssten
zumindest noch einmal darüber nachdenken, ob wir das
wollen. Das reicht vielleicht Ihnen, aber nicht den Betroffenen.
({12})
Die Linke macht klare Vorgaben, an die sich eine
Mindestlohnkommission, die auch wir wollen, orientieren muss. Wir wollen einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der noch in dieser Wahlperiode, also
spätestens bis Herbst 2013, auf 10 Euro steigen soll.
({13})
Damit liegt unser Vorschlag über der Niedriglohngrenze
von 9,85 Euro. Diesen Wert haben nicht wir erfunden
oder errechnet, er entspricht der Berechnung des Statistischen Bundesamtes auf Grundlage des von der OECD
und der ILO angewandten Verfahrens zur Bestimmung
der Niedriglohngrenze. Die Zahl wurde mir gerade heute
in einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage noch einmal ausdrücklich bestätigt:
9,85 Euro. Niedriglöhne darf es in Deutschland nicht
mehr geben. Das sollte eines der großen Ziele dieser Legislaturperiode sein. Wer Vollzeit arbeitet, der muss davon wirklich leben können.
({14})
Mit dieser Forderung stehen wir nicht allein: 70 Prozent der Bundesbürger befürworten die Einführung eines
gesetzlichen Mindestlohns. Meine Damen und Herren
von SPD und Grünen, meine Damen und Herren von der
Regierungskoalition, ich halte das für einen klaren Auftrag unserer Wählerinnen und Wähler, den wir im Sinne
der Betroffenen endlich erfüllen sollten.
({15})
Ich sage ausdrücklich dazu: Es geht um einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn. Frau Connemann,
wenn Sie ernsthaft glauben, dass es gerecht ist, sich in
Thüringen für 3,50 Euro die Haare schneiden zu lassen
und in Frankfurt dafür 10 Euro zu bezahlen, dann frage
ich mich wirklich, warum Sie als Abgeordnete aus Ostfriesland die gleiche Entschädigung und die gleiche Vergütung wie ein Abgeordneter aus München bekommen.
({16})
Lieber heute als morgen einen Mindestlohn einführen! Das hilft den Betroffenen. Das stärkt alle Beschäftigten. Das stabilisiert die Sozialkassen und entlastet die
Steuerzahler.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Sebastian Blumenthal für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
Kollegin Nahles, Sie haben vorhin erwähnt, die FDP und
die CDU/CSU würden immer irgendwelche Gutachten
nennen, um daraus ihre Gegenpositionen abzuleiten. Ich
möchte heute auf eine Studie eingehen, die von der
Friedrich-Ebert-Stiftung vor zwei Jahren erstellt wurde.
Diese Stiftung ist in Ihren Reihen sicherlich gut bekannt.
Titel dieser Studie ist: „Auswirkungen eines Mindestlohns auf kleine und mittlere Unternehmen“. Die Studie
stellt die Auswirkungen eines gesetzlichen Mindestlohns
auf Basis von 7,50 Euro dar. Damit es keine Missverständnisse gibt, möchte ich betonen, dass diese Feststellungen nicht von der Friedrich-Naumann-Stiftung kommen, sondern von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Darin
werden genau und sehr treffend die kritischen Argumente im Zusammenhang mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns behandelt, die Sie ganz offensichtlich bewusst ausblenden.
Die Kernaussagen dieser Studie lauten im Wortlaut ich zitiere -:
In Branchen, die dafür bekannt sind, auch gering
qualifizierten … Arbeitslosen einen Arbeitsplatz
anzubieten ({0}), könnten
Löhne in Höhe von 7,50 €/Std. für diese Personengruppen nicht mehr gezahlt werden. Gleiches gilt
beispielsweise auch für Hilfskräfte in Floristikbetrieben. … Das Friseurgewerbe wäre von einem gesetzlichen Mindestlohn besonders stark betroffen über alle Unternehmensgrößen und nahezu über
alle Standorte hinweg.
Über alle Branchen würde es zu folgenden Ausgleichsreaktionen kommen - auch das, wie gesagt, alles Wortlaut
der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung -:
({1})
Streichung von Gratifikationen bzw. Sonderzahlungen … verstärkte Beschäftigung von Auszubildenden oder 400-€-Kräften zu Lasten ausgebildeter
Vollzeitarbeitskräfte … verstärkter Rückgriff auf
Familienmitglieder als Mitarbeiter ({2}).
Das sind Ergebnisse der SPD-nahen Friedrich-EbertStiftung. Höchst interessant, kann ich dazu nur sagen.
({3})
Außerdem - so heißt es weiter in dieser Studie -:
… die Beispielkalkulationen zeigen ein deutliches
Nord-Süd- und West-Ost-Gefälle. … in Zwickau
[würden] die Personalkosten in den untersuchten
Branchen um bis zu 87 % steigen … Grenzregionen
stünden vor besonderen Problemen. Gerade in den
von einem Mindestlohn tendenziell stärker betroffenen Regionen … gibt es kaum Spielräume, die
Preise zu erhöhen, um die deutlichen Mehrkosten
zu kompensieren. Zu nah sind die Konkurrenz aus
Polen und Tschechien und damit die Gefahr, dass
Kunden in den Grenzgebieten zu billigeren, ausländischen Anbietern abwandern könnten.
Die Studie kommt dann zu weiteren Ergebnissen, die
ich hier sehr gerne wörtlich zitieren möchte:
Aus diesen Erkenntnissen lassen sich folgende Forderungen … für die weitere Diskussion ableiten:
Ein genereller Mindestlohn … erscheint vor dem
Hintergrund der hier vorgestellten Ergebnisse nicht
sinnvoll. … Sehr deutlich wird dieser Effekt im Friseurgewerbe, in der Floristikbranche sowie im Sanitär- und Heizungshandwerk. … Die Einführung
eines gesetzlichen Mindestlohns - in welcher Gestaltung auch immer - wird in der Realität unsinnig
und zur Farce.
Ich muss gar nicht die Elemente aus unserem Wahlprogramm zitieren, wir brauchen uns nur anzuschauen,
was Ihre eigenen Experten Ihnen ins Stammbuch geschrieben haben; umso erstaunlicher, dass Sie das ignorieren.
({4})
Wenn Sie sich schon über unsere Bedenken hinwegsetzen, sollten Sie wenigstens zur Kenntnis nehmen, was
die Friedrich-Ebert-Stiftung geschrieben hat. Was Sie
vollziehen wollen, bringt keinen Schutz von Arbeitsplät3690
zen, sondern gefährdet Arbeitsplätze. Die Erkenntnisse
sind, glaube ich, offensichtlich.
({5})
Ich möchte Ihnen noch sagen: Sie können den Wettlauf mit der Linken, wer den höheren Mindestlohn verkündet - diesen Wettlauf haben wir in den letzten Wochen live beobachten können -, nicht gewinnen. Dieser
Wettlauf zeigt doch, dass der Mindestlohn eine populistische Maßnahme ist. Ein Mindestlohn widerspricht, wie
ich eben anhand Ihrer eigenen Studie dargestellt habe,
allen betriebswirtschaftlichen Grundsätzen.
Die FDP-Fraktion wird den Antrag der SPD ablehnen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Blumenthal, wir haben uns in endlosen Debatten
- ich komme gleich noch auf die Zahl der Debatten, die
wir schon geführt haben - die Ergebnisse zahlreicher
Studien um die Ohren gehauen. Ich finde es immer richtig, wissenschaftliche Studien zu Rate zu ziehen. Irgendwann sollten wir uns aber auch mit der empirischen
Wirklichkeit auseinandersetzen. Da müssen auch Sie,
Herr Blumenthal, zur Kenntnis nehmen, dass es in fast
allen europäischen Ländern einen gesetzlichen Mindestlohn gibt oder - wie in den skandinavischen Ländern eine hundertprozentige tarifliche Absicherung. Dies
führt, auch wenn Sie das immer wieder behaupten, nicht
zu Arbeitsplatzverlusten.
({0})
Lassen Sie mich noch einmal zu der Debattenkultur in
diesem Hause kommen. Wissen Sie eigentlich, wie oft
wir allein seit Beginn der letzten Legislaturperiode im
Bundestag über das Thema Mindestlohn diskutiert haben?
({1})
25 Mal! Und was, frage ich Sie, hat sich geändert?
({2})
Gerade einmal 5,6 Prozent der Beschäftigten sind durch
einen Mindestlohn vor Lohndumping geschützt. Wenn
wir mit dieser Strategie und mit diesem Tempo weitermachen, brauchen wir 20 weitere Legislaturperioden, bis
alle Beschäftigten vor Lohndumping geschützt sind. Das
ist länger, als die Bundesrepublik Deutschland besteht.
Im Grundgesetz der Bundesrepublik ist das Sozialstaatsgebot verankert. Dazu gehört für mich, dass die
Beschäftigten durch einen Mindestlohn abgesichert sind.
({3})
Ich glaube nicht, dass das Vertrauen in die Politik zunimmt, wenn Sie so weitermachen.
Ihre Strategie, die Beschäftigten durch die Einführung
branchenspezifischer Mindestlöhne vor Lohndumping
zu schützen, ist untauglich. Das liegt daran - Frau
Nahles hat darauf hingewiesen -, dass die Tarifbindung
in Deutschland exorbitant zurückgegangen ist: In Ostdeutschland sind nur noch 32 Prozent der Beschäftigten
in der Privatwirtschaft durch Tarifverträge abgesichert,
und allein seit 1996 ist die Tarifbindung um 16 Prozent
zurückgegangen. In Westdeutschland sind noch 50 Prozent der Beschäftigten durch Flächentarifverträge abgesichert.
Diese Daten, meine Damen und Herren, sind Ihnen
bekannt. Das ist nichts Neues, das wurde alles schon gesagt. Trotzdem versuchen Sie immer wieder, den Eindruck zu erwecken, als könnte man das sich ausweitende
Lohndumping durch tarifliche Mindestlöhne stoppen.
Frau Connemann, für Sie zum Mitschreiben: Tarifverträge können überhaupt nur dort geschlossen werden, wo
es Tarifparteien gibt.
({4})
Deswegen, Frau Connemann, ist Ihre Strategie falsch.
Jetzt wende ich mich insbesondere an die Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie singen hier
immer das Hohelied der Tarifautonomie. Dabei waren es
gerade Sie, war es gerade Ihr Parteivorsitzender, der die
Erosion von Flächentarifverträgen immer gepusht hat.
({5})
Wenn es nach Ihnen ginge, dann hätten Sie die Gewerkschaften inzwischen zerschlagen.
({6})
Ich will das jetzt einmal anhand einiger Zitate belegen: Originalzitat Guido Westerwelle:
Die Gewerkschaftsfunktionäre sind die wahre Plage
in Deutschland …
Das zweite Zitat - dies wurde hier im Bundestag vorgetragen, Herr Blumenthal -:
Im Bereich der Lohnfindung muss der flächendeckende Tarifvertrag verschwinden.
Und jetzt spielen Sie sich hier als Schutzmacht der Tarifautonomie auf! Da lacht wirklich noch einmal die Koralle. Das ist unglaubwürdig.
({7})
Ich finde es wirklich mehr als zynisch, dass Sie hier
versuchen, den gesetzlichen Mindestlohn zu verhindern,
und zwar mit Hinweis auf die Tarifhoheit, die Sie all die
Jahre zu bekämpfen versucht haben.
({8})
Sie wollen überhaupt keinen Mindestlohn, weder einen
tariflichen noch einen gesetzlichen. Ich finde, das sollten
Sie dann auch einmal sagen.
Ich habe noch ein Zitat von Guido Westerwelle; denn
das Reservoir ist einfach unerschöpflich. Der Mindestlohn ist für Herrn Westerwelle „DDR pur, nur ohne
Mauer“. Damit wissen wir doch gleich, mit wes Geistes
Kind wir es hier zu tun haben.
In meinem Konzept steht jetzt, dass Herr Weiß eine
Zwischenfrage stellt. - Herr Weiß, Sie können mich
nicht einfach im Stich lassen.
({9})
Lieber Herr Weiß, eigentlich melden Sie sich an dieser
Stelle immer, und dann fragen Sie: Frau Pothmer, ist Ihnen eigentlich das MiArbG bekannt? - Ja, Herr Weiß, es
ist mir bekannt.
({10})
Sie verweisen ja auch immer darauf. Durch das Mindestarbeitsbedingungengesetz soll ja zumindest theoretisch die Möglichkeit eröffnet werden, auch in Branchen mit schwacher Tarifbindung Mindestlöhne
einzuführen.
({11})
Das Problem ist aber, dass sich hier auf absehbarer Zeit
- das sehen wir doch - nichts, aber auch gar nichts tun
wird.
Der Hauptausschuss ist damals öffentlichkeitswirksam eingesetzt worden. Seitdem ist allerdings Schweigen im Walde. Das war auch absehbar; denn dieses Gesetz bietet wirklich keine geeignete Grundlage,
({12})
weil in diesem Gesetz steht, dass bestehende Tarifverträge, egal welche Lohnabschlüsse in ihnen vereinbart
worden sind, von vornherein einen Vertrauensschutz genießen.
Deswegen ist es so, dass eine Friseurin in Sachsen,
die einen Tariflohn von 3,06 Euro erhält - Frau
Connemann, auch in einem kleinen Dorf in Sachsen
kann man übrigens von einem Tariflohn von 3,06 Euro
nicht leben -, durch das MiArbG keinen Cent mehr bekommt.
({13})
Das Gleiche gilt für den Fleischer aus Sachsen-Anhalt
mit einem Lohn von 4,99 Euro oder für die Floristin in
Thüringen mit einem Lohn von 4,54 Euro. Das sind die
Leidtragenden Ihrer Politik.
Frau Connemann, Sie müssen doch wirklich erkennen: Durch Ihre Strategie hat sich nichts verbessert. Es
gibt noch immer 6,5 Millionen Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten.
({14})
Diese sind die Leidtragenden. Aber auch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sind die Leidtragenden. Die
einen müssen ihre Hungerlöhne durch Arbeitslosengeld II aufbessern, und die Steuerzahler müssen das bezahlen. Die Profiteure sind gewissenlose Unternehmen.
Deren Schutzmacht sind Sie hier nämlich mit Ihrer Politik.
({15})
Jetzt komme ich noch einmal ganz kurz zu dem Arbeitsplatzargument. Frau Connemann, die Hans-BöcklerStiftung hat gerade ein Gutachten vorgelegt,
({16})
aus dem hervorgeht, dass durch den Mindestlohn auch
Geringqualifizierte eben nicht von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Es ist hier schon gesagt worden: Es kommt
darauf an, mit welcher Strategie der Mindestlohn eingeführt wird.
Ich freue mich, dass die SPD unseren Vorschlag einer
Low Pay Commission übernommen hat.
({17})
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Redezeit. Offensichtlich hat es diesmal mit den Absprachen zu den
Zwischenfragen zur Verlängerung der Redezeit nicht geklappt.
({0})
Ich finde, das müssten Sie an Herrn Weiß richten.
Nein, Sie müssen jetzt bitte zum Ende kommen. Klären Sie das bitte für die nächste Sitzungswoche.
Frau Präsidentin, ich komme jetzt wirklich zum
Schluss. - Lassen Sie mich abschließend sagen: In gut
einer Woche ist der 1. Mai. Ich wünsche mir, dass ich
nicht weiterhin Plakate lesen muss, auf denen steht:
„Habe Arbeit - brauche Geld!“
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Willi Zylajew für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Menschen, die Vollzeit arbeiten, müssen von ihrer Arbeit leben können.“
({0})
Das ist der erste Satz im SPD-Antrag.
({1})
Dieser Satz ist richtig. Den wird auch jeder hier unterschreiben.
Wir haben in der Politik die Aufgabe, dafür zu sorgen,
dass die Wirtschaft in diesem Land so funktioniert und
da, wo wir es beeinflussen können, auch floriert, dass es
Arbeit gibt und dass die Arbeit so bezahlt wird, dass man
davon leben kann. Das ist die Aufgabe der Politik.
Der zweite Satz ist völlig falsch. Denn wir brauchen
keinen gesetzlichen Mindestlohn, um gute und faire Arbeit für alle zu ermöglichen. Ich denke, das wissen auch
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD. Deswegen fällt Ihnen dieses Thema auch immer nur in Oppositionsjahren ein.
({2})
Bei allem Respekt, lieber Toni Schaaf: In den Jahren, in
denen Sie regieren, gibt es eine Auszeit für dieses
Thema, weil Sie genau wissen, dass es besser ist
- Deutschland war bisher auch sehr erfolgreich damit -,
dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Lohn finden.
Weil Sie die Marktsituation kennen und wissen, wie
Kunden auf Preise reagieren, ist es besser, wenn sie
selbst die tarifliche Bezahlung verabreden. Dafür ist die
Politik aus meiner Sicht höchst ungeeignet.
Eben ist darauf hingewiesen worden, dass nur
48 Prozent der Branchen über Tarifverträge abgesichert
seien. Wir würden uns als Union wünschen, dass das
deutlich mehr wären. 70, 80, 90 oder 100 Prozent würden uns begeistern.
({3})
Aber wenn wir demnächst gesetzliche Löhne festlegen,
dann müssen wir uns fragen, wofür wir noch Gewerkschaften brauchen.
({4})
Als jemand, der seit 1. Mai 1964 Gewerkschaftsmitglied ist, sage ich Ihnen sehr deutlich: Ich setze auf die
Gewerkschaften und auf die Stärkung der Gewerkschaften.
Ich will am Beispiel Mindestlohn in der Pflege deutlich machen, wie die Union denkt und was wir erreichen
wollen. Die Pflegebranche ist eine schwierige Branche.
Wegen der besonderen Rolle der Kirchen sind sie als Arbeitgeber etwas anders zu sehen als andere Gruppen. Wir
haben aus der Arbeitnehmergruppe heraus am 11. März
2008 die beiden Bischöfe der katholischen und evangelischen Kirche aufgefordert, ihren Beitrag zu leisten, damit wir einen Mindestlohn für den Pflegebereich erarbeiten. Dies ist in der Schlussphase. Wir wollen uns bei
allen Beteiligten ausdrücklich bedanken. Es gibt ein einstimmiges Votum. Die katholische und die evangelische
Kirche mit ihren Organisationen haben ebenso wie die
Gewerkschaften und Dienstnehmer allesamt mitgewirkt. Ich glaube, dass dieses einstimmige Ergebnis, das
die Pflegekommission mit je vier Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern vorgelegt hat, in Ordnung ist. Allerdings würden wir uns wünschen, dass wir in Ost und
West, weil wir in den neuen wie in den alten Ländern die
gleichen Pflegesätze zahlen, einen einheitlichen Lohn
hätten. Das ist vielleicht in der Zukunft noch zu erreichen. Eine Dynamisierung gibt es ohnehin.
Es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es um
den Mindestlohn für Pflegehilfskräfte geht, um es etwas
unpräzise zu sagen. Denn in meinem Heimatbereich
wird eine examinierte Pflegekraft mit etwa 16 Euro
brutto pro Stunde bezahlt. Das ist gut und in Ordnung.
Das wollen wir dann, bitte schön, auch weiter so sehen.
Mit diesem Pflegelohn geben wir aber auch ein deutliches Signal in Richtung der Sozialhilfeträger und Pflegekassen, die sich in den letzten Jahren kräftig an der
Lohndrückerei beteiligt haben. Wer einmal an Verhandlungen teilgenommen hat, hat erfahren, wie gut bezahlte
Vertreterinnen und Vertreter von Pflegekassen und Sozialhilfeträgern versuchen, den Pflegelohn zu drücken.
Hier haben wir nun eine Bremse eingebaut. An dieser
Stelle blockieren wir. Wir vollziehen nur das, was
Dienstgeber und Dienstnehmer vereinbart haben.
Damit geben wir auch ein deutliches Signal mit Blick
auf den 1. Mai 2011. In der Pflegebranche gibt es große
Sorge vor Druck aus Osteuropa, also davor, dass Menschen aus Osteuropa zu uns kommen und hier ihre Leistungen preiswerter anbieten. Ich denke, dass wir dem einen Riegel vorgeschoben haben.
({5})
Frau Kollegin, diese Situation ist gut - gut für die Arbeitnehmer, weil sie einen gerechten Lohn erhalten; gut
für die Arbeitgeber, weil der Wettbewerb fair bleibt; gut
aber auch für die Angehörigen, weil sie wissen, dass die
Menschen, die sich um die Betroffenen kümmern, ordentlich bezahlt werden.
Frau Nahles, Sie haben behauptet: Die Union verhindert Mindestlöhne. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen.
Nun haben die Tarifparteien sich verständigt: Sie wünschen Mindestlöhne - aber tariflich und nicht politisch
vereinbart. Das ist das Entscheidende.
({6})
Frau Nahles, Sie haben auch die guten Erfahrungen in
anderen Ländern angesprochen. In diesem Zusammenhang haben Sie uns empfohlen, unsere Brillen zu putzen.
({7})
Das hat aber keinen Zweck,
({8})
und zwar deshalb nicht, Frau Nahles, weil Sie schlichtweg blind sind und die Schattenwirkungen in diesen
Ländern nicht sehen. Da hilft kein Brillenputztuch;
({9})
denn aufgrund der Schattenwirkungen möchten wir weiterhin verlässlich und ordentlich sagen: Wir wollen, dass
Menschen von Vollzeitarbeit leben können. Wir wollen
aber genauso deutlich, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer die Lohnfindung vornehmen - und nicht der Staat.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen mit Blick auf den 1. Mai in dieser Beziehung
gute Erkenntnisse.
({10})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Willi Zylajew, das persönliche Bekenntnis zur
Tarifautonomie nehme ich dir ohne Wenn und Aber
ab - allerdings nicht allen in der Fraktion der CDU/CSU
und schon gar nicht in der Fraktion der FDP. Das Nötige
zu dem Thema FDP und Tarifautonomie hat Frau
Pothmer allemal gesagt. Der größte Feind der Tarifautonomie und der Gewerkschaften ist der Vorsitzende der
FDP und Außenminister, Guido Westerwelle. Das ist unstrittig.
({0})
In dieser Koalition wird es keine Stärkung der Tarifautonomie geben. Das ist doch absehbar.
Ich mache gerne an einem Beispiel deutlich, an welcher Stelle die Union unglaubwürdig wird, was die Tarifautonomie angeht. Übrigens kann man hier auch noch
einmal zuhören, Werner Dreibus. Ja, es war in der Großen Koalition nicht durchsetzbar, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen. Das ist in der Tat richtig.
({1})
Wir haben aber zumindest im Koalitionsvertrag branchenspezifische Mindestlöhne vereinbart und in vielen
Branchen dann am Ende auch durchgesetzt.
({2})
Bei der Branche, bei der es in der Tat am allernötigsten wäre, Mindestlöhne einzuführen, hat die Union sich
aber aus ideologischen Gründen verweigert, obwohl alle
Voraussetzungen für die Einführung von Mindestlöhnen,
die wir miteinander vereinbart hatten, tatsächlich gegeben waren, nämlich bei der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Dort hat sich die Union aus ideologischen Gründen
verweigert ({3})
übrigens auch mit dem Hinweis auf die Tarifautonomie.
({4})
An dieser Stelle wird es richtig lustig, Frau
Connemann. Dieses Lied wird von Ihnen gerade dann
gesungen, wenn Scheingewerkschaften, die sich auch
noch christlich nennen, Scheintarifverträge abschließen
sowie Lohn- und Sozialdumping betreiben. Das führen
Sie als Begründung an und argumentieren: Hier gibt es
konkurrierende Tarifverträge; deshalb wollen wir bei der
Zeit- und Leiharbeit keinen Mindestlohn. - Das ist Ihr
Verständnis von Stärkung der Tarifautonomie.
Genau das Gleiche gilt für den Bereich der Post. Geschäftsmodelle, die darauf angelegt sind, Lohn- und Sozialdumping zu betreiben, werden die Unterstützung der
SPD-Bundestagsfraktion niemals finden; denn solche
Geschäftsmodelle sind an sich sittenwidrig.
({5})
Jetzt hat diese Koalition, nur um irgendetwas zu dem
Thema zu sagen, vereinbart, dass sie keine sittenwidrigen Löhne wolle.
({6})
Dazu gibt es eine einschlägige Rechtsprechung. Das im
Koalitionsvertrag zu beschließen, ist dummes Zeug. Das
ist eine Selbstverständlichkeit und durch die Rechtspre3694
chung geklärt. Aber was heißt das, wenn man sich die
Definition genauer anschaut? Sittenwidrig ist der Lohn,
der ein Drittel unter dem ortsüblichen Niveau liegt. Nehmen wir als Beispiel die Friseurin, die einen Tariflohn
von 3,80 Euro hat. Sie finden sich damit ab - das ist der
Beschluss der Koalition -, dass diese Frau deutlich unter
3 Euro verdienen darf. Ich sage Ihnen: Schon 3,80 Euro
sind sittenwidrig.
({7})
Zu der Abgrenzung, die Sie betreiben, indem Sie auf
Sachsen und Thüringen als Argument gegen einen gesetzlichen Mindestlohn verweisen, sage ich Ihnen: Im
Westen der Republik, Richtung Holland und Richtung
Frankreich, sind die Deutschen die Lohndrücker, weil es
in diesen Ländern nämlich Mindestlöhne gibt. Im grenznahen Bereich werden von diesen Ländern Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Dienstleistungen bei
uns eingekauft, weil wir die niedrigeren Löhne haben.
Im Westen der Republik sind wir die Lohndrücker.
Übrigens beantworten Sie die Frage überhaupt nicht
- Sie weigern sich schlichtweg, das Problem zur Kenntnis zu nehmen; das gilt auch für die Arbeitsministerin -:
Was passiert eigentlich mit der Lohnspirale im Zusammenhang mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem
nächsten Jahr?
({8})
Es gibt EU-rechtlich überhaupt keine Chance, die Freizügigkeit zu verhindern, weil wir an Verträge gebunden
sind. Das ist zunächst einmal so in Ordnung; denn wir
sind ein einiges Europa mit einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Wir liberalisieren jetzt Zug um Zug auch
den Arbeitsmarkt. Aber ich frage Sie: Wie wollen Sie
verhindern, dass Arbeitgeber, die schon jetzt Lohn- und
Sozialdumping skrupellos betreiben, die Arbeitnehmer,
die sie zu schlechten Bedingungen beschäftigen, entlassen, weil sie aus Osteuropa Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen, die bereit sind, zu noch schlechteren Bedingungen zu arbeiten? Wie wollen Sie das
verhindern, wenn nicht mit einem gesetzlichen Mindestlohn? Ihre Haltung ist mir unbegreiflich. Diese Regierung bleibt jede Antwort schuldig. Sie agieren an dieser
Stelle überhaupt nicht.Das ist fahrlässig für die Arbeitsplätze in unserem Land.
({9})
Frau Connemann, Sie haben etwas über Würde und
Arbeit gesagt, wo ich Ihnen durchaus recht gebe. Nun
haben Sie entschieden, dass Sie im Bereich des SGB II
die Zuverdienstgrenzen anheben werden. Wenn Sie
diesen Bereich ausweiten, dann müssen Sie mir erklären,
was es mit der Würde des Einzelnen zu tun hat, den ganzen Tag, von morgens bis abends, und den ganzen Monat
lang arbeiten zu gehen, um anschließend zur Behörde
gehen zu müssen, um sich Geld zu holen, damit er überhaupt überleben kann. Was hat das mit Würde zu tun?
({10})
Würde bezieht man nicht aus einem solchen Arbeitsverhältnis, sondern nur aus einem Arbeitsverhältnis, in dem
man anständig und fair für die Leistung, die man erbringt, bezahlt wird. Dadurch erwirbt man Würde, nicht
dadurch, dass man zusätzlich zu seiner Arbeit zum Bittsteller beim Staat wird.
({11})
Sie entlasten damit nur die Arbeitgeber. Das ist das, was
dahintersteckt. Sie machen die Arbeit für die Arbeitgeber billiger, aber Sie stützen damit nicht die Würde des
Einzelnen, ganz im Gegenteil.
({12})
Ich habe heute Morgen der Bundesarbeitsministerin
sehr genau zugehört; denn man hat immer noch die
Hoffnung, dass hinter dem Begriff „christlich-liberale
Koalition“, den man mit CLK abkürzen könnte, etwas
steckt. CLK ist ein Hochleistungsprodukt eines bekannten deutschen Autobauers,
({13})
übrigens von hervorragenden Mitarbeitern gebaut. Aber
Qualität hat diese Regierung nicht und hervorragende
Mitarbeiter auch nicht. Deshalb lassen wir den Vergleich
mit CLK weg.
({14})
Ich hatte gehofft, dass die Arbeitministerin tatsächlich
etwas Vorwärtsweisendes sagt. Sie hat etwas zu den
Alleinerziehenden gesagt. Das fand ich sehr spannend.
In der Tat hat sie recht, wenn sie sagt - das ist aber eine
Banalität -, dass man die Ressourcen, die insbesondere
bei der weiblichen Bevölkerung vorhanden sind, besser
nutzen muss, und zwar nicht nur wegen der Frauen selber, sondern auch wegen des wirtschaftlichen Nutzens,
der damit verbunden ist: Frauen sind in der Regel hoch
qualifiziert.
In diesem Zusammenhang hat sie gesagt: Da brauchen wir eine Offensive, und daher werden wir uns auf
diesem Gebiet zusätzlich engagieren, zum Beispiel sorgen wir für eine Erhöhung der Anzahl der Betreuungsplätze, um mehr Menschen die Aufnahme einer Arbeit
zu ermöglichen. Die Ministerin soll sich einmal anschauen, wie die CDU-FDP-Regierung in NordrheinWestfalen beim Ausbau der Anzahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige schlichtweg versagt hat. Die
CDU sollte erst einmal Ordnung in den eigenen Reihen
schaffen.
({15})
Bei Gelegenheit wird mir sicherlich irgendjemand erklären können, wie der Anspruch, mehr Betreuungsplätze zu schaffen, damit mehr Menschen arbeiten können, mit der von der Koalition beschlossenen Zu-Hausebleib-Prämie korrespondiert.
({16})
Sie müssen mir einmal erklären, wie das, was die Ministerin heute Morgen hier erklärt hat, damit zusammengeht, dass man Menschen dafür Geld gibt, dass sie ihre
Kinder zu Hause betreuen, dass man diese Menschen
also absichtlich vom Arbeitsmarkt fernhält. Schaffen Sie
einmal Ordnung in Ihrer eigenen Argumentation. Bisher
war davon nichts zu sehen.
({17})
Die Ministerin hat außerdem von ihren Vorstellungen
zur Zukunft der Arbeit gesprochen. Man kann sich in
Nordrhein-Westfalen genau anschauen, wie sich die
Union und die FDP zur Zukunft der Arbeit und zu zukünftigen Arbeitsplätzen tatsächlich stellen: Sämtliche
Fördermittel, die für die Arbeitsplätze der Zukunft im
Bereich der erneuerbaren Energien eigentlich zur Verfügung stehen müssten, sind in Nordrhein-Westfalen radikal zusammengestrichen worden. Die Wirtschaftsförderung in Nordrhein-Westfalen geht mit einer Förderung
der Zukunft der Arbeit nicht einher. Man kann sich das
dort exemplarisch anschauen.
Ich sage noch einmal: Ein gesetzlicher Mindestlohn
ist vor dem Hintergrund des Schutzes der Arbeitsplätze
und der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa unerlässlich. Ich fordere diese Regierung und diese Koalition
auf, uns im Hinblick auf Arbeitnehmerfreizügigkeit im
nächsten Jahr zu erklären, wie sie deutsche Arbeitsplätze
schützen will. Wenn Sie da nicht agieren, zeigt sich wieder einmal - ich kann nur das wiederholen, was ich
schon beim letzten Mal gesagt habe -: Diese Koalition
und diese Regierung sind eine Gefahr für die Arbeitsplätze in unserem Land.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Röhlinger für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mindestlohn war genau vor einem Jahr im
Rahmen des Kommunalwahlkampfes in Thüringen, im
Rahmen des Europawahlkampfes, im Rahmen des Landtagswahlkampfes und nicht zuletzt im Rahmen des Bundestagswahlkampfes ein Thema, bei dem die FDP, beispielsweise bei Podiumsgesprächen, durchaus nicht so
gut ausgesehen hat - ich gebe das zu - wie bei anderen
Themen. Aber das Ergebnis der Bundestagswahl ist bekannt.
({0})
Mit diesem Ergebnis werden Sie noch eine Zeit lang leben müssen; denn die nächste Bundestagswahl wird erst
in dreieinhalb Jahren stattfinden.
({1})
- Ich spreche von Bundestagswahlen. Das ist schon ein
Unterschied. Wir, die Vertreter dieses Hohen Hauses,
sind gewählte Abgeordnete des Bundestages, und darauf
beziehe ich mich.
({2})
Uns werden Sie noch eine Weile ertragen müssen. Ich
freue mich auf diese Auseinandersetzung.
Zurück zum Thema Mindestlohn. Ich habe diesbezüglich vor einem Jahr die gleiche Position wie heute
vertreten.
({3})
Der Unterschied ist allerdings, dass ich als Abgeordneter
der FDP-Fraktion heute wesentlich besser informiert
bin. Als Liberaler habe ich damals empfunden: Das kann
nicht gut gehen; das ist nicht dein Ding. - Heute, ein
Jahr später, stellt sich heraus, dass sich meine Grundposition - das Geländer, an dem man sich orientiert - bestätigt hat. Die Orientierung an diesem Geländer habe
ich während der 40 Jahre DDR und auch während meiner mehr als 16 Jahre als Oberbürgermeister der Stadt
Jena gebraucht. Die Orientierung an diesem Geländer
war für mein Verhältnis zu den Arbeitnehmern und zu
den Arbeitgebern wichtig. Insoweit werden Sie mir
nachsehen, Frau Nahles, dass ich meine Auffassung zum
Mindestlohn heute nicht ändern kann.
Im Übrigen stelle ich fest: Wir lesen beide eine bestimmte Zeitung, das ist der Tag des Herrn. Wenn ich es
richtig weiß, wird schon im Markus-Evangelium das
Leistungsprinzip bei dem Vergleich der Verwalter verdeutlicht. Das Leistungsprinzip hat also durchaus seine
Wurzeln vor langer, langer Zeit.
({4})
- Frau Nahles, man muss den Leuten erst einmal die Gelegenheit geben, zu arbeiten. Das ist unsere Auffassung.
({5})
Wir wollen erst einmal die Menschen mitnehmen, dass
sie überhaupt in Arbeit kommen. Ich bin durchaus der
Auffassung - das ist heute schon vorgetragen worden -,
dass die Menschen, die arbeiten wollen und fleißig sind,
ihre Familie und sich selbst in einer ordnungsgemäßen,
sauberen Weise durchs Leben bringen können sollen.
({6})
Dieser Auffassung sind wir. Die Wege dahin sind unterschiedlich. Wir haben es vor 20 Jahren erreicht, dass
jeder seine Meinung sagen darf. Sie haben zum Mindestlohn eine andere Auffassung. Ich bin sehr dafür und
auch persönlich daran interessiert - da können Sie mit
mir rechnen -, weiter dafür zu streiten, dass die Meinungsfreiheit nicht unterdrückt wird, weil sonst das
Ganze gegen den Baum fährt. Wir sollten uns streiten,
und die bessere Meinung ist dann mehrheitsfähig - so
hoffen wir - in diesem Land.
({7})
Wir lehnen den Mindestlohn ab. Jetzt spreche ich
nicht das nach, was häufig und immer wieder erzählt
wird, sondern ich kenne diese Auffassung aus meinem
persönlichen Umfeld. Ich weiß nicht, in welchem Umfeld Sie leben. In meinem persönlichen Umfeld sind diejenigen, die zu mir gesagt haben: Es ist schön, dass einer
wie du nach Berlin geht, weil du weißt, wie es an der Basis aussieht. - Das sind Verkäuferinnen beim Bäcker,
beim Fleischer; auch Floristinnen sind schon genannt
worden, die mit Sicherheit nicht das verdienen, was ich
ihnen geben würde. Aber ich kenne auch den Fleischermeister und den Bäckermeister. Zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmern besteht ein stilles Einvernehmen:
Mehr kann ich euch nicht bezahlen. - Das ist nicht nur
bei Handwerkern so, das ist auch bei qualifizierten
Dienstleistern so, in Ingenieurbüros, deren Auftragslage
derartig schwankt, dass zwischen den Ingenieuren und
dem Chef ein stilles Einvernehmen besteht: Ich bin von
den Auftragseingängen abhängig; sobald sich die Lage
stabilisiert, bekommt ihr mehr, zurzeit eben nicht. - Vor
diesem Hintergrund kann ich einem Mindestlohn - zumindest einem flächendeckenden - nicht zustimmen.
({8})
Ich bin der Auffassung, dass wir auch gegenüber der
nachfolgenden Generation nicht den Eindruck erwecken sollten, dass man mit einem Mindestlohn die Probleme lösen kann. Wir lösen sie damit nicht. Mindestlohn vermittelt einen Tunnelblick und vergisst die
Komplexität, die beispielsweise heute oder auch gestern
in unseren Debatten deutlich wurde.
Frau Pothmer, wir haben auch schon gestern das
Thema durchdekliniert. Mir hat sehr gut gefallen, dass
Sie in dem Zusammenhang das Wort „Qualifizierung“
genannt haben.
({9})
Wir müssen um Himmels willen - da sind wir uns doch
einig - die Familien stärken, auch alle eheähnlichen Elternhäuser stärken, damit die Kinder nicht nur lernen
und sich qualifizieren, sondern auch begreifen, dass sie
für ihr eigenes Leben verantwortlich sind. Wer das im
Elternhaus zu spät, möglicherweise erst mit 14 Jahren
oder gar erst mit 18 Jahren im Studium, oder nie lernt,
der tut sich schwer. Die Verantwortung für das eigene
Leben muss zu Hause mit auf den Weg gegeben werden.
({10})
Deswegen bin ich der Auffassung: Ja, wir brauchen
Investitionen für die Familie, Investitionen für die Bildung und Investitionen in die Jugend.
Mein letzter Gedanke soll sein: Auf meinem Schreibtisch stehen nicht Bilder irgendwelcher großen Politiker
dieser Welt, sondern da steht ein Bild meiner Enkel.
Herr Röhlinger, wir haben hier keine Mindestredezeit,
sondern wir haben eine verabredete Redezeit, und diese
haben Sie jetzt weit überschritten.
({0})
Ich will Ihnen aber trotz alledem zu Ihrer ersten Rede in
diesem Hohen Hause gratulieren und Ihnen auch alles
Gute wünschen.
Für die Zukunft bitte ich Sie einfach, mich oder auch
die anderen Präsidenten hier ernst zu nehmen. Das
Signal, welches Ihnen jetzt seit dreieinhalb Minuten bedeutet,
({1})
dass die Redezeit abgelaufen ist, ist sehr ernst gemeint.
Für Ihre nächste Rede gilt: Ich habe hier auch einen
Knopf, um das Mikrofon auszuschalten.
Ich bedanke mich.
({0})
Aber, wie gesagt, wir gratulieren Ihnen zu Ihrer ersten
Rede und wünschen Ihnen viel Erfolg für Ihre Arbeit.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Max
Straubinger das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD hat heute den Antrag „Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne verhindern“ eingebracht.
Schon der Bezug, der damit hergestellt wird - Löhne bedeuten gleichzeitig Armut -, ist falsch, und das wissen
Sie sehr genau, werte Kolleginnen und Kollegen der
SPD.
({0})
Der Lohn ist das Entgelt für erbrachte Leistung, und
er kann nie mit Armut in Verbindung stehen. Sie wissen
sehr wohl: Für die Sozialpolitik ist die Bundesregierung
zuständig - da ist sie sehr erfolgreich -; Lohnpolitik
kann Sozialpolitik nicht ersetzen. Sie aber wollen mit Ihrem Antrag einen Versuch dazu unternehmen. Der kann
nicht erfolgreich sein.
({1})
Es kommt noch dazu, dass Sie falsche Schlüsse aus
der Vergangenheit ziehen. In Ihrem Antrag wird angeführt, dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren
sehr zugenommen hat. Sie vergleichen die Jahre 2004
und 2008 miteinander. Es ist ein guter Vergleich, den Sie
da ziehen, werte Kolleginnen und Kollegen der SPD;
2004 war nämlich die Endzeit von Rot-Grün. In der
Endzeit von Rot-Grün hatten wir 26,1 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in
Deutschland. 2008, also in den guten Zeiten der Großen
Koalition, hatten wir 27,458 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, also über
1,2 Millionen mehr. Das zeigt sehr deutlich, dass wir mit
unserer Politik in der Großen Koalition für Beschäftigung gesorgt haben und damit den Menschen zu Löhnen
verholfen haben. Damals waren in unserem Land
5 Millionen Arbeitslose zu beklagen; jetzt sind es noch
3,6 Millionen; es waren schon unter 3 Millionen. Das ist
ein Erfolg.
({2})
Für die Zukunft der Menschen in unserem Land ist es
wichtig, dass sie selbst etwas verdienen können, dass sie
einem Erwerb nachgehen können. Das ist die beste Sozialpolitik. Diese kann nicht durch einen gesetzlichen
Mindestlohn ersetzt werden; denn ein gesetzlicher Mindestlohn - davon bin ich felsenfest überzeugt - wird Arbeitsplätze in unserem Land kaputt machen.
({3})
Werte Damen und Herren, ein gesetzlicher Mindestlohn würde sehr wohl auch Wettbewerbsnachteile mit
sich bringen, vor allen Dingen bezogen auf die Regionen. Man kann nicht über ganz Deutschland hinweg einheitliche Regelungen schaffen, weil die Verhältnisse sehr
unterschiedlich sind. Frau Kollegin Nahles hat das ja
dargestellt. Es gibt über 60 000 Tarifverträge, angepasst
an die Verhältnisse in den Branchen, angepasst an die
Verhältnisse in den Regionen. Es gibt auch keinen einheitlichen Metalltarifvertrag über ganz Deutschland hinweg, sondern das Ganze ist an die regionalen Verhältnisse angepasst. Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, einen
einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn über ganz
Deutschland hinweg festzulegen.
({4})
Vor allen Dingen würde damit die Tarifautonomie
beschädigt. Die Tarifautonomie aber hat viele Arbeitsplätze in Deutschland gebracht. Ich möchte hier betonen,
dass die Tarifparteien für die Lohnfindung eine bedeutsame Rolle spielen. Sie legen die Grundlagen für die
Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Dies kann der
Staat nicht erbringen. Das können nur diejenigen leisten,
die entsprechende Branchenkenntnisse besitzen. Aber
Politik kann diesen Prozess wirkungsvoll begleiten.
Anton Schaaf, der im Moment leider nicht anwesend
ist, hat sich vorhin kritisch über die Politik in Nordrhein-Westfalen ausgelassen. Daher möchte ich verdeutlichen, was der dortige Sozialminister Karl-Josef
Laumann gemacht hat. Er hat die Tariflöhne im Gastronomiegewerbe für allgemeinverbindlich erklärt.
({5})
Damit erhalten alle Beschäftigten in Gastronomiebetrieben den Tariflohn.
({6})
Das ist im besten Sinne christliche Politik, die in Nordrhein-Westfalen gemacht wird.
({7})
Lieber Kollege Schaaf, es ist für Nordrhein-Westfalen
bedeutsam, dass der Tarifvertrag von Verdi, der einen
Stundenlohn von 7,60 Euro vorsieht, auch für Friseure
allgemeinverbindlich erklärt wird. Das zeigt sehr deutlich: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fallen
nicht in ein tarifpolitisches Loch, sondern es werden
Tarife ausgehandelt, die allgemeinverbindlich erklärt
werden können. Das hat Karl-Josef Laumann in vorbildlicher Weise gemacht. Das zeigt sehr deutlich: Die nordrhein-westfälische Landesregierung steht an der Seite
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({8})
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?
Gerne.
Herr Kollege Straubinger, es wäre interessant, zu erfahren, wie hoch der Mindestlohn in diesem Bereich ist. Ich habe aber eine andere Frage: Würden Sie mir zustimmen, dass der Arbeits- und Sozialminister von Nordrhein-Westfalen maßgeblich mit dafür verantwortlich ist,
dass das Landespersonalvertretungsgesetz geschleift und
die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst kaputt gemacht worden ist?
Nein, Herr Kollege Schaaf, da kann ich Ihnen in keiner
Weise zustimmen. Im Gegenteil: Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat noch weit größere Erfolge
vorzuweisen - Sie wollten vorhin diese Erfolge nicht darstellen -, zum Beispiel bei der Schaffung von Betreuungsplätzen. Nachdem Ministerpräsident Rüttgers die Regierungsverantwortung übernommen hat, ist die Zahl der
Betreuungsplätze für unter Dreijährige in NordrheinWestfalen um über 100 000 gestiegen.
({0})
Rot-Grün hatte 11 800 Betreuungsplätze als Ergebnis vorzuweisen. Die jetzige nordrhein-westfälische Landesregierung hat 112 500 Betreuungsplätze vorzuweisen. Das
zeigt sehr deutlich, welche Leistung die christlich-liberale
Regierungskoalition in Nordrhein-Westfalen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Familien mit Kindern erbracht hat. Die Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen tun also sehr gut daran,
dieser Regierung ihre Stimme zu geben und Ministerpräsident Rüttgers den Rücken zu stärken.
({1})
Ich möchte die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD warnen. Ein Kollege hat heute schon ausgeführt
- ich glaube, es war jemand von der FDP -, dass Sie den
Wettlauf um die Höhe des gesetzlichen Mindestlohns
nicht gewinnen können. Sie haben mit der Forderung
nach einem Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro begonnen. Danach gab es den Schulterschluss mit den Gewerkschaften.
({2})
Damals forderten die Linken noch einen Mindestlohn
von 8,50 Euro. Mittlerweile hat die SPD ihre Forderung
auf 8,50 Euro erhöht, wieder im Schulterschluss mit den
Gewerkschaften. Aber die Linken liegen schon bei einem Mindestlohn von 10 Euro. Das wird ein Hase-undIgel-Wettlauf werden. Es wird aber nie eine Lohnfindung auf gesicherten Fundamenten stattfinden.
({3})
Sie leiten Ihre Forderung nach einem gesetzlichen
Mindestlohn von den angeblichen Erfolgen in Ländern
wie Frankreich und Großbritannien ab, in denen es einen
hohen Mindestlohn gibt. Ich frage mich aber, wieso gerade in diesen beiden Ländern die Jugendarbeitslosigkeit
mehr als doppelt so hoch ist wie in Deutschland.
({4})
Das zeigt sehr deutlich, dass ein hoher Mindestlohn
letztendlich eine Einstiegsbarriere bedeutet.
({5})
Damit werden die Zukunftschancen der jungen Menschen verringert. Das wollen wir nicht, und deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Molitor für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Gegen die Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns ist eigentlich schon alles gesagt worden.
({0})
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass er das falsche Instrument ist. Die kurze Episode des Post-Mindestlohns hat gezeigt, dass in diesem Bereich
7 000 Arbeitsplätze weggefallen sind. Dies hätte Ihnen
doch deutlich machen müssen, dass dies der falsche Weg
ist.
({1})
Das Ifo-Institut hat errechnet, dass die Forderung von
SPD und DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohn
von 8,50 Euro rund 1,2 Millionen Arbeitsplätze kosten
würde. Das sind keine Kleinigkeiten, das sind Existenzen. Wie wollen Sie das den Bürgern in diesem Land erklären?
Der Zusammenhang zwischen Produktivität und Entlohnung ist außer Kraft gesetzt, wenn Löhne gesetzlich
festgelegt werden. Das Beispiel der Friseurin ist hier
schon häufig genannt worden. Dieses Beispiel ist insofern wichtig, als Sie sich fragen sollten: Sind denn die
Kunden bereit, entsprechend höhere Preise zu zahlen?
({2})
Diesen Punkt dürfen wir nicht außer Acht lassen.
({3})
Lassen Sie mich kurz auf den sozialen Aspekt eingehen, und zwar auf den wesentlichen Unterschied zwischen Mindestlohn und Mindesteinkommen. Um das
Einkommen einer vierköpfigen Familie über Hartz-IVNiveau zu heben, müsste der Stundenlohn über 10 Euro
liegen. Ein Stundenlohn von 8,50 Euro würde dieses
Problem nicht lösen können. Jeder soll vom Lohn seiner
Arbeit leben können. Dort, wo das nicht möglich ist, ist
der Sozialstaat gefordert. Die FDP hat Vorschläge gemacht, wie ein Mindesteinkommen gesichert werden
kann.
Eine flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen
ist das falsche Instrument. In meinem Wahlkreis beklagen Arbeitgeber im Bereich der Pflege, dass die Diskussion über die Einführung eines Mindestlohns in diesem
Bereich suggeriert, dass sie ihren Beschäftigten zu wenig bezahlen würden. Sie zahlen aber sogar mehr, als
von ihnen erwartet wird. Man sollte also bitte nicht so
tun, als wären alle Arbeitgeber Ausbeuter.
({4})
In der Koalition wurde vereinbart, dass in manchen
Branchen Mindestlohnregelungen gelten sollen und im
Oktober 2011 eine Evaluierung stattfinden soll.
({5})
Das ist der richtige Weg. Wir wollen schauen, wie sich
dieses Instrument bewährt und ob der von Ihnen unterstellte Schutz tatsächlich eintritt oder ob nicht am Ende
Arbeitsplätze auf der Strecke bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich kann Ihnen nur sagen: Wir werden uns das genau ansehen und mit Vernunft und sozialer Verantwortung an
die Sache herangehen. Die FDP wird sich um diese
Dinge mit Vehemenz kümmern.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Lucia Puttrich für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Diskussion über gesetzliche Mindestlöhne ist in der
Tat alt. Sie führen sie immer wieder. Am 5. März 2010
wurde ein Antrag der Linken eingebracht; heute liegt ein
Antrag der SPD vor.
Nachdem immer wieder ein Bezug zur NRW-Wahl
hergestellt wurde, kann man nur sagen: Offensichtlich
ruft diese Wahl bei Ihnen ganz besondere Aktivitäten
hervor. Im Zuge mehrerer Landtagswahlen haben Sie gefordert, einen Volksentscheid über die Einführung von
gesetzlichen Mindestlöhnen herbeizuführen. Dazu kann
ich nur feststellen: Sie sind dreimal daran gescheitert
und werden auch diesmal daran scheitern.
({0})
Natürlich kann man sagen, dass die Argumente hinreichend ausgetauscht worden sind. Aber es ist offensichtlich notwendig, dass man dies immer wieder tut, damit bei Ihnen an der einen oder anderen Stelle ein
Erkenntnisgewinn hinzukommt.
({1})
Sie tragen den gesetzlichen Mindestlohn in der Tat
wie eine Monstranz vor sich her. Mit der Formulierung
„Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Armutslöhne
verhindern“ im Titel Ihres Antrags erwecken Sie den
Eindruck - darauf ist schon eingegangen worden -, dass
Armut nur mit diesem Instrument bekämpft werden
kann. Sie wissen genau, dass das nicht stimmt. Ich muss
Ihnen an dieser Stelle schlicht und einfach eine selektive
Wahrnehmung bescheinigen. Sie lassen ganz bewusst
mehrere Aspekte außer Acht.
Ein flächendeckender Mindestlohn entspricht nicht
- das wurde hier schon häufig erwähnt - den unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in unserem Land. Frau Connemann hat darauf hingewiesen,
dass in Frankfurt ({2}) eine andere Situation als in
Frankfurt am Main, dass in München eine andere Situation als in Kiel herrscht. Sie übersehen bewusst, dass
eine solche Zwangsregelung zahlreiche Arbeitsplätze
gefährden würde. Aufgrund des Lohnniveaus würde die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns insbesondere in den ostdeutschen Grenzregionen ganz klar dazu
führen, dass Arbeitsplätze gefährdet werden und verloren gehen.
Auch wir wollen, dass Menschen von ihren Löhnen
leben können. Nur eines ist klar: Unser Weg dorthin unterscheidet sich deutlich von Ihrem Weg. Das Beispiel
des Pflegebereichs zeigt, dass es einen erfolgreichen
Weg gibt, der bereits beschritten wurde - die christlichliberale Koalition wird genau diesen Weg gehen -: branchenbezogene Lösungen. Es gibt mehrere Beispiele dafür, dass diese Lösungen funktionieren: die Bereiche des
Bergbaus, der Wäschereidienstleistungen sowie der Abfallwirtschaft inklusive Winterdienst und Straßenreinigung. In Zukunft wird es weitere Lösungen geben: bei
den Sicherheitsdienstleistern und den Aus- und Weiterbildungsdienstleistern nach SGB II.
({3})
In der Begründung Ihres Antrags berufen Sie sich auf
verschiedene Studien. Man muss sich die Studien aber
ein bisschen genauer ansehen. Dann stellt man zwar fest,
dass 20 von 27 EU-Ländern Mindestlöhne haben. Aber
man muss auch erwähnen, dass diese zwischen knapp
80 Euro und 1 500 Euro im Monat variieren.
({4})
Allein daran kann man sehen, dass Ihre Begründung für
die Einführung des Mindestlohns - weil ihn andere hätten, brauchten wir ihn auch - schlicht und einfach nicht
stimmig ist.
({5})
Der Hinweis, dass wir in Deutschland vollkommen
andere Verhältnisse als in anderen EU-Ländern haben,
ist völlig richtig. Schauen Sie sich Frankreich an - Kol3700
lege Zimmer hat bei der letzten Debatte darauf hingewiesen -: Hier werden die Mindestlöhne durch den Staat
subventioniert. In Frankreich gibt es bei den Jugendlichen eine extrem hohe Arbeitslosigkeit; das muss man
immer wieder sagen. Insofern können Sie dies nicht als
Beispiel nennen. Sie können auch nicht England als Beispiel wählen. Großbritannien hat eine vollkommen andere Grundsituation. Die arbeitsrechtlichen Bedingungen sind dort anders. In Großbritannien gibt es zum
Beispiel wesentlich weniger Urlaub als in Deutschland
und nur einen minimalen Kündigungsschutz. Insofern
sind die Hinweise, dass andere Länder den Mindestlohn
haben und wir ihn deshalb auch brauchen, vollkommen
unzulänglich.
({6})
Frau Nahles, es ist richtig: Bei uns, der christlich-liberalen Koalition, steht der Mensch im Mittelpunkt der
Politik. Zur Würde eines Menschen gehört, dass er Arbeit hat, dass er einen Platz in der Gesellschaft hat und
Anerkennung findet. Wir nehmen dies sehr ernst. Deshalb gilt für uns - auch wenn Sie das nicht gerne hören -:
Sozial ist, was Arbeit schafft.
({7})
Unsozial ist, was Arbeitsplätze vernichtet. Ihr gesetzlicher Mindestlohn würde Arbeitsplätze vernichten.
Die Union ist die Partei der sozialen Marktwirtschaft
mit christlichem Leitbild.
({8})
Wir stehen für die Kombination des freien Marktes mit
dem sozialen Ausgleich. Deshalb bilden Freiheit und
Verantwortung für uns ein unauflösbares Begriffspaar.
Zwar ist es die Aufgabe des Staates, den Rahmen für einen funktionierenden Markt bzw. Wettbewerb zu schaffen. Aber wir wollen nicht den allmächtigen Staat. Wir
meinen nicht, dass der Staat alles regeln muss, dass er
das regeln sollte, was andere viel besser können, in diesem Fall die Sozialpartner.
({9})
Blickt man auf 60 Jahre Bundesrepublik zurück, dann
kann man nur sagen, dass die soziale Marktwirtschaft
ein ausgesprochen erfolgreiches Modell ist. Sie aber entmündigen Gewerkschaften und Arbeitgeber. Sie verabschieden sich von der verfassungsrechtlich garantierten
Tarifautonomie. Deshalb kann ich nur sagen: Wenn Sie
Mindestlöhne in die Hände von Kommissionen geben
wollen und wenn Sie sogar tarifliche Vereinbarungen unwirksam machen und durch Mindestlöhne ersetzen wollen, dann trauen Sie offensichtlich den Tarifpartnern
nicht mehr zu, im Interesse der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer zu verhandeln. Meinen Sie ernsthaft, dass
verordnete Löhne mehr Arbeitsplätze schaffen als tariflich ausgehandelte? Mit Ihren Forderungen suggerieren
Sie den Menschen, Probleme zu lösen. Wenn Sie aber
ernsthaft glauben, dass das funktioniert, dann sind Zweifel an Ihrem wirtschaftspolitischen Sachverstand durchaus angebracht.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Mit gesetzlichen Mindestlöhnen setzen Sie Arbeitsplätze aufs Spiel.
Sie grenzen Geringqualifizierte vom Arbeitsmarkt aus
und - das ist sehr ernst zu nehmen - erhöhen das Risiko
der Jugendarbeitslosigkeit. Sie verlassen mit Ihren Forderungen den Boden des Erfolgsmodells der sozialen
Marktwirtschaft, das Grundlage für Freiheit und Wohlstand ist. Der Staat setzt fest, der Staat lenkt, und der
Staat denkt - dies scheint Ihr ordnungspolitischer Ansatz
zu sein. Unserer ist es nicht. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1408 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Opel - Zukunftsfähige Arbeitsplätze statt
Standortwettlauf
- Drucksache 17/1404 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin,
Hubertus Heil ({2}), Doris Barnett, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft - Nachhaltiges Wachstum und mehr
Beschäftigung schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zukunftsprogramm für 2 Millionen Arbeitsplätze
- Drucksachen 17/521, 17/470, 17/873 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Der
Name Brüderle steht nicht erst seit heute für eine Wirtschaftspolitik des Nichtstuns für Arbeitsplätze, Wachstum und Erneuerung. Alle - von IWF bis OECD - haben
erst diese Woche wieder Maßnahmen zur Stärkung des
Binnenmarktes gefordert. Sie tun nichts. In unserem Antrag zum Zukunftsprogramm finden Sie Alternativen:
2 Millionen Arbeitsplätze durch öffentliche Investitionen in Bildung und ökologische Erneuerung, mehr Beschäftigte im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern, in
der Pflege, in Schulen und Kindergärten sowie unsere
Vorschläge für eine aktive Industriepolitik.
({0})
Trotz Kurzarbeit wurden in der Industrie im letzten
Jahr 242 000 Arbeitsplätze abgebaut. 200 000 Arbeitsplätze sollen nach Aussagen der Industrieverbände in
diesem Jahr gestrichen werden. Herr Brüderle fabuliert
von einem sich selbsttragenden Aufschwung und vom
Ende der Krise. Ein Beispiel für Ihre verheerende Politik
ist Opel. Millionen hat die alte Regierung als Überbrückungskredit vergeben und dabei auf Mitspracherechte
verzichtet. Nachdem GM mithilfe der Steuergelder wieder obenauf ist, vergießen Sie jetzt Krokodilstränen, weil
das Unternehmen nicht macht, was die Regierung gern
möchte. Da Sie keine europäische Abstimmung herbeiführen, lassen Sie sich von GM-Manager Reilly am Nasenring durch die Arena ziehen. Im Wochenrhythmus
werden von GM Produktionszusagen für das Elektroauto
mal dem und mal jenem in Aussicht gestellt und dann
widerrufen.
Natürlich ist es richtig, von General Motors Antworten zur Finanzierung und zur Frage der Patente zu verlangen. Aber die entscheidenden Fragen stellen Sie bis
heute nicht: Wie sollen die Arbeitsplätze und die Standorte erhalten werden? Wie soll angesichts der Überproduktion von Automobilen die Zukunft der Arbeitsplätze
langfristig gesichert werden? Statt ein industriepolitisches Konzept vorzulegen, fordern Sie von den Beschäftigten den Verzicht auf tarifliche Leistungen in Höhe von
120 Millionen Euro allein in Deutschland. Das ist keine
Innovation, sondern eine Fortsetzung der Politik des Tarif- und Lohndumpings in der Automobilindustrie.
({1})
Das ist ein Skandal, aber kein Ausweg aus der Krise.
Wir sagen Ja zu öffentlichen Mitteln, aber nur gegen Beschäftigungssicherung und Standorterhalt, gegen Beteiligung und Mitsprachrechte der Belegschaften. Wir wollen einen Beirat, der zukunftsfähige Produkte und
Produktfelder für die Automobilindustrie entwickelt und
die öffentlichen Gelder bei Opel dafür einsetzt, diesen
Umbau voranzubringen.
({2})
Ein weiteres Beispiel für Ihr Nichtstun: Im Stahlbereich sollen die Preise um über 100 Prozent steigen.
Der Grund: Rohstoffspekulation und ein Machtkartell.
13 000 Stahlarbeiter haben gestern in Duisburg und
Brüssel dagegen demonstriert. Wie ist Ihre Antwort? Sie
überlassen die Zukunft den Zockern im Kasino. Die
Rohstoffspekulation kann und muss endlich verboten
werden. Auch in der Stahlindustrie muss mit aktiver
Industriepolitik der Einsatz von Rohstoffen und Stahlrecycling gefördert werden. Dazu braucht es keine Gespräche mit Stahlunternehmen, die Herr Brüderle heute
Morgen als Lösung angeboten hat. Vielmehr muss die
Regierung endlich handeln und darf nicht nur schwätzen.
({3})
Ihre Wirtschaftspolitik des Nachtwächterstaates, des
Marktradikalismus und der Lobbypflege bei Hoteliers
und Großindustriellen haben die Menschen bei Opel, bei
Thyssen, in der Zuliefererindustrie und anderswo nicht
verdient. Für NRW gibt es am 9. Mai eine Chance auf
Veränderung. Ich glaube, die Menschen werden sie massenhaft ergreifen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ernst Hinsken für die
Unionsfraktion.
({0})
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dieser Tagesordnungspunkt ist praktisch eine
Fortsetzung der Regierungserklärung von heute Morgen.
Wir können die Möglichkeit nutzen, uns auszutauschen
und der Öffentlichkeit darzulegen, wie wir die anstehenden Probleme zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in Zukunft bewältigen können. Eines will ich Ihnen vorweg
sagen, Frau Lötzer: Es steht unbestritten fest, dass kaum
ein anderes Land die Wirtschafts- und Finanzkrise besser gemeistert hat als die Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Ja, es stimmt: Die Sozialdemokraten haben einen entscheidenden Anteil daran, weil im vergangenen Jahr
diesbezüglich einige Beschlüsse gefasst worden sind.
({1})
Schließlich wurden einige Weichenstellungen schon von
der Großen Koalition vorgenommen.
Der Aufschwung ist zu spüren. Er kommt an. Deutschland ist auf einem guten Weg. Die Angst, dass es wirtschaftlich weiter nach unten geht, ist vorbei. Von den befürchteten 3,7 Millionen Arbeitslosen im Jahresschnitt
sind wir weit entfernt.
({2})
Wenn die jetzigen Prognosen stimmen, sind es circa
10 Prozent weniger als im Januar vorhergesagt. Die
Bundesregierung erwartet in ihrer Frühjahrsprojektion
einen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts von
1,4 Prozent in diesem Jahr. Für das Jahr 2011 geht die
Bundesregierung von einer weiteren leichten Beschleunigung des Wachstums in Höhe von 1,6 Prozent aus. Begleitet wird die Erholung der deutschen Wirtschaft von
einer stabilen Entwicklung des Arbeitsmarktes in beiden
Jahren. Darüber sollten wir uns alle freuen; denn das
sind gute Einkommensperspektiven für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Zudem ist es erfreulich - es
liegt mir besonders am Herzen, das in den Mittelpunkt
meiner Ausführungen zu stellen -, dass wir damit unseren jungen Menschen gute Perspektiven für die Zukunft
geben. Es sollte uns mit Genugtuung erfüllen, dass die
Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland um 11 Prozent gesunken ist, während sie in der EU im Durchschnitt um
28 Prozent, in Spanien sogar um 86 Prozent gestiegen
ist. Haben Sie sich schon einmal auf der Zunge zergehen
lassen, wie blendend wir, speziell was Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, in der Bundesrepublik Deutschland
im Vergleich mit anderen Staaten dastehen?
Dieser Rückgang der Jugendarbeitslosigkeit ist vor
allem auf das Engagement der Wirtschaft zurückzuführen, die allein im letzten Jahr wieder über 30 Milliarden Euro für die Ausbildung bereitgestellt hat. Ein
herzliches Wort des Dankes dafür! Diese Leistung der
Wirtschaft für den Staat sollte auch einmal anerkannt
werden.
({3})
Das duale System, um das wir weltweit beneidet werden,
hat sich unter schwierigen Bedingungen bewährt. Die
deutschen Betriebe haben die Zeichen der Zeit erkannt.
Sie setzen auf die Jugend und wirken dem prognostizierten Fachkräftemangel durch Ausbildung entgegen.
Die gute allgemeine Entwicklung ist vor allem das
Verdienst der Tarifpartner, also der Unternehmen und
der Arbeitnehmer. Beiden gebührt an dieser Stelle ebenfalls ein Dankeschön für ihr maßvolles Handeln; denn
wir können seitens der Politik bzw. des Staates schließlich nur den Rahmen schaffen. Ausfüllen müssen ihn die
Betriebe. Aber die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Hierfür wurde einiges getan. Darauf sind wir zu
Recht stolz. Schließlich verbessern sich die wirtschaftliche Lage und die Lage am Arbeitsmarkt Tag für Tag.
Wie heißt es so schön in einem Sprichwort? Wer rastet,
der rostet. Deshalb muss weiter Gas gegeben werden.
Seitens des Staates müssen wir die verschiedenen Fesseln lockern, insbesondere die der Bürokratie. Das kann
dazu beitragen, dass vor allem der Mittelstand als Konjunktur- und Beschäftigungslokomotive unser Land weiter aus der Krise zieht. Dies ist das Credo der schwarzgelben Koalition.
In jüngster Zeit zeigt sich mehr und mehr: Sie von der
SPD und der Linken setzen auf den Staat und auf unfinanzierbare und unrealistische Konjunkturprogramme.
Wofür stehen Sie auf der linken Seite dieses Hauses
denn? Erstens. Mit Ihren Vorschlägen wollen Sie eine
Wiederbelebung des Sozialismus im 21. Jahrhundert erreichen.
({4})
Zweitens. Sie legen einen Fahrplan vor, der in Richtung
Staatswirtschaft führt. Drittens. Die Chancen am Arbeitsmarkt stellen Sie hintan; Sie wollen sie zerstören.
Viertens. Steuern und Abgaben sollen drastisch erhöht
werden. Fünftens. Transferleistungen sollen aufgebläht
werden.
({5})
- Warum schreiben Sie es denn rein, wenn Sie sich davon distanzieren wollen, Frau Lötzer? Sie müssen schon
dazu stehen. Sie müssen den Leuten schon erklären, wie
Sie die Wirtschaftspolitik ausgerichtet haben wollen, um
die Probleme zu bewältigen.
({6})
Das ist nicht die Konzeption für die Zukunft. Gerade
jetzt und in Zukunft braucht Deutschland keine rot-roten
Experimente. Das ist unsere Botschaft.
({7})
Was wir jetzt brauchen, ist weiteres Wachstum, um
endgültig aus der Krise zu kommen. Dabei setzen wir
von der CDU/CSU insbesondere auf Mittelstand und
Handwerk. Unsere Strategie hierzu heißt: Wir wollen
weiter auf unsere Stärken setzen. Die Union hat in den
letzten Jahren in der Bundesregierung mit dafür gesorgt,
dass wir wirtschaftspolitisch unsere Hausaufgaben erledigt und die richtigen Weichenstellungen vorgenommen
haben. Das Ergebnis: Die deutschen Unternehmen, insbesondere im Mittelstand, zählen auch deshalb zu den
wettbewerbsfähigsten der ganzen Welt. Davon profitieren unsere Industriestandorte, unsere Arbeitsplätze und
die Exportwirtschaft als eine der zentralen Stützen unseres Wirtschaftswachstums. Im europäischen Vergleich
werden wir darum beneidet. Der Vorwurf, der vor allem
aus Frankreich kommt, unser Exportüberschuss bringe
andere Länder in Schwierigkeiten, ist meiner Meinung
nach haltlos. Diese Kritik ist doch völlig falsch; denn wir
sorgen für den stabilen Außenwert des Euro und das Vertrauen der Kapitalmärkte in die gemeinsame Währung
und somit für niedrige Zinsen. Deshalb muss es umgekehrt sein: Alle anderen EU-Länder sind aufgefordert,
auf uns zu schauen und es so zu machen, wie wir es in
Deutschland praktizieren. Dann fahren sie gut; dann sind
sie auf dem richtigen Weg.
({8})
- Dass Bayern noch besser ist als die Bundesrepublik
Deutschland insgesamt, möchte ich nicht bestreiten.
({9})
Von uns werden die jetzt so hoch verschuldeten Mitglieder der Euro-Zone profitieren.
Gerade wir von der CDU/CSU haben darauf gedrängt, dass in der Krise insbesondere die Binnennachfrage gestärkt wurde. Das ist der richtige Ansatz. Der
Beweis: Deutschland hat mit zwei Konjunkturpaketen
der schwarz-roten Koalition und dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz der christlich-liberalen Bundesregierung deutliche Impulse für die Binnennachfrage gesetzt. Das ist mehr, als die anderen EU-Mitgliedstaaten
getan haben. Insbesondere die Konjunkturpakete kamen
zum Beispiel beim Handwerk an. Sie waren zur Stärkung der Binnenkonjunktur maßgeschneidert. Dadurch
konnte das Handwerk seine Stärken voll ausspielen.
Zudem wurden die Bürger seit dem 1. Januar 2010
um 22 Milliarden Euro entlastet. Außerdem haben wir
das Kindergeld und den Kinderfreibetrag - er liegt jetzt
bei 7 008 Euro je Kind - erhöht. Unsere Maxime lautet:
Wir wollen den Schwächeren und Bedürftigen helfen.
Deshalb ist es richtig, dass wir kinderreiche Familien unterstützen. So zahlt in der Bundesrepublik Deutschland
seit 1. Januar dieses Jahres ein Vierpersonenhaushalt erst
ab einem Einkommen von rund 30 000 Euro Steuern.
Wir haben gehalten, was wir vor den Wahlen versprochen haben. Das kann sich sehen lassen.
({10})
Ich sage das deshalb, weil ein altes Sprichwort sagt: Tue
Gutes und rede darüber - noch dazu, wenn du einlösen
kannst, was du versprochen hast. Man kann es spüren:
Gerade in diesem Jahr profitieren Konsum und Investitionen von den wirtschafts- und finanzpolitischen Stützungsmaßnahmen. 2010 steigen durch die bereits beschlossene Entlastung die Nettoeinkommen je Arbeitnehmer
um voraussichtlich 2,5 Prozent.
Wir haben zudem etliches für die Unternehmen getan.
Es war uns ein Herzensanliegen, den Fehler bei den
geringwertigen Wirtschaftsgütern, den wir gemeinsam
gemacht haben, zu bereinigen. Auch sollte nicht verschwiegen werden, dass Bürokratieabbau das beste Konjunkturprogramm ist. Seit dieser im Kanzleramt bei
Bundeskanzlerin Angela Merkel angesiedelt ist, sind die
Erfolge unübersehbar. Bis Ende 2009 wurde die deutsche Wirtschaft um rund 7 Milliarden Euro pro Jahr entlastet. Das ist ein fast um die Hälfte höheres Volumen als
die 5 Milliarden Euro, die die Unternehmensteuerreform
2008 generiert hat, und das ohne zusätzliche staatliche
Ausgaben oder Einsparungen bei staatlichen Leistungen.
Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann
dürfen wir nicht vergessen, dass auch Kommunikation
ein Wettbewerbsfaktor ist. Wenn wir uns vor Augen führen, wie teuer das Telefonieren noch vor 20 Jahren war
und wie teuer es jetzt ist, stellen wir fest, dass allein das
Telefonieren im Festnetz um 95 Prozent günstiger geworden ist. Das kann sich durchaus sehen und hören lassen.
Wir, die Union und die FDP, ruhen uns nicht aus, sondern gehen entschlossen ans Werk. Bis zum 1. Juli dieses
Jahres wollen wir weitere Entlastungsmaßnahmen beschließen, um die durch den Bund verursachten Kosten
bei den Informationspflichten der Wirtschaft bis Ende
2011 um netto 25 Prozent im Vergleich zu 2006 zu senken. Diese Maßnahmen werden die Unternehmen nicht
nur finanziell entlasten, sondern schaffen auch ein Mehr
an Freiheit für die Bürgerinnen und Bürger. Das ist für
uns soziale Marktwirtschaft.
({11})
Gleichzeitig werden dadurch Wachstumspotenziale generiert.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich wollte noch
etwas zur Bildung sagen. Das muss ich weglassen, weil
schon das rote Licht leuchtet. Aber es sei mir noch gestattet und erlaubt, auf Opel einzugehen.
Wenn Sie das in einem Satz schaffen, ja, Kollege
Hinsken.
Ja. - Hier können verschiedene Möglichkeiten ins
Auge gefasst werden. Die Bundesregierung schiebt dieses Problem nicht beiseite. Man wird sich mit den zuständigen Institutionen, Persönlichkeiten und allen, die
dazugehören, unterhalten. Aber eines steht fest: Wir
wollen es nicht so machen, wie es einmal bei der Firma
Holzmann gemacht worden ist. Dort hat man hinausposaunt, man könne alles retten. Zu guter Letzt ist das
Ganze in die Hose gegangen. Das darf bei Opel nicht
passieren. Dafür wird die Bundesregierung sorgen. Ich
bin zuversichtlich: Auch dieses Problem werden wir bewältigen.
({0})
Nur noch einen Satz, verehrte Frau Präsidentin. Ich
bedanke mich für das Zuhören und wünsche allen, dass
es wirtschaftlich so weitergeht, wie wir das in der Bundesrepublik Deutschland dringend brauchen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Kollege Garrelt Duin für die SPDFraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Kollege Hinsken, ich will Ihnen zunächst
einmal im Nachgang zu den Ereignissen des frühen Morgens ganz herzlich dazu gratulieren, dass Sie nun der
Vorsitzende des Unterausschusses „Regionale Wirtschaftspolitik“ sind, und wünsche Ihnen für dieses Amt
alles Gute und ein gutes Händchen, damit in diesem so
wichtigen wirtschaftspolitischen Bereich durch den
Deutschen Bundestag wirklich etwas vorangebracht
werden kann.
({0})
- Sehr gerne. - Gleichwohl hatte ich bei Ihrer Rede gerade eben den Eindruck - verzeihen Sie mir den Vergleich -, dass Ihre berufliche Herkunft als gelernter Bäcker- und Konditormeister ein bisschen mit Ihnen
durchgegangen ist. Sie haben hier ein Bild nach dem
Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ gemalt und das
Ganze schön verziert, wie es ein Konditor eben macht.
({1})
Es hat aber mit der Realität nichts zu tun.
Sie sprechen davon, dass die Angst vorbei sei, dass
jetzt alle Probleme gelöst seien und wir optimistisch in
die Zukunft blicken könnten. Niemand in diesem Hause
hätte etwas dagegen einzuwenden, wenn es denn so
wäre. Aber die wirtschaftliche Realität in Deutschland,
in Europa und in der Welt ist leider Gottes eine andere.
Deswegen wäre es dringend notwendig, hier nicht nur
ein Weiter-so zu verkünden, sondern zu überlegen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um das Ziel, das Sie
hier beschrieben haben, zu erreichen.
({2})
Kollege Duin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Hinsken?
Bitte.
Herr Hinsken.
Herr Kollege Duin, eine ganz kurze Zwischenfrage.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Produkte in meinem Betrieb genauso gut sind, wie es die
Politik von CDU/CSU ist, nämlich bestens?
({0})
Ich kann darauf nur antworten, dass sich das meiner
Kenntnis entzieht. Ich hoffe, dass Ihre Produkte besser
als die Politik sind, die Sie hier zum Besten geben.
({0})
Ich will in aller Kürze auf unseren Antrag Bezug nehmen und deutlich machen, was aus unserer Sicht in dieser Situation notwendig ist, in der die Krise eben noch
nicht überwunden ist. Zunächst ist es wichtig - das hat in
der Debatte bisher keine Rolle und auch heute Morgen
im Grunde nur am Rande eine Rolle gespielt -, dass wir
uns den Ursachen, also den unregulierten Finanzmärkten, noch einmal zuwenden. Das, was in Pittsburgh auf
dem G-20-Gipfel und auch an anderer Stelle ins Auge
gefasst worden ist, braucht dringend wieder einen Schub
und muss realisiert werden. Ein solches Thema wie die
internationale Finanztransaktionsteuer darf nicht still
und leise von der Tagesordnung genommen werden.
Deswegen ist es richtig, dass dieses Thema wieder auf
die Tagesordnung gesetzt wird. Notfalls - das haben wir
deutlich gemacht - werden wir uns mit dem neuen Instrument einer europäischen Bürgerinitiative beschäftigen, um dieses Thema endlich zu einem guten Abschluss
zu bringen. Wir haben nicht den Eindruck, dass die Bundesregierung hier das Notwendige tut.
({1})
Ein weiterer Punkt - Herr Hinsken hat selbst gesagt,
dass er dazu nicht mehr gekommen ist - sind Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Wir haben
in verschiedenen Debatten, auch im Ausschuss, immer
wieder festgestellt, dass es eigentlich eine relativ große
Übereinstimmung dahin gehend gibt, dass wir neben der
Projektförderung bei der Forschung und Entwicklung
auch das Instrument der sogenannten Tax Credits, also
der steuerlichen Forschungsförderung, brauchen. Ich
fordere die Bundesregierung nachhaltig auf, dies wirklich in Angriff zu nehmen und für dieses Modell nicht
nur Sympathie zu äußern.
Wenn das, was ich gehört habe, richtig ist, ist es so,
dass in der CDU ein sehr konkretes Modell erarbeitet
worden ist. Das scheitert aber an Ihnen von der FDP.
({2})
Uns liegen Vorschläge vom BDI und auch von anderen
Verbänden vor, über die wir diskutieren können. Handeln wir doch jetzt endlich!
({3})
Wir brauchen im Jahr 2010 dieses Signal für die steuerliche Forschungsförderung in Deutschland und können
nicht länger warten.
({4})
Darüber hinaus brauchen wir angesichts der finanziellen Lage in den Kommunen - die dramatisch ist und die
durch Sie, Schwarz-Gelb, maßgeblich negativ beeinflusst worden ist - einen Rettungsschirm für die Kommunen. Die Große Koalition hat die Kommunen mit den
beiden Konjunkturpaketen zu Recht in die Lage versetzt,
Investitionen tätigen zu können. Diese Investitionen in
die Sanierung der Gebäude von Schulen, Kindergärten
usw. sind längst überfällig. Jetzt fällt das alles flach, weil
den Kommunen in den nächsten Jahren die Luft ausgehen wird. Das ist ein politischer Skandal.
({5})
Wir müssen das wieder umkehren. Lassen Sie uns einen
Rettungsschirm für die Kommunen auf den Weg bringen, meine Damen und Herren!
({6})
Ein weiterer Punkt, der wichtig ist, in der Politik der
Bundesregierung aber vollkommen fehlt, ist die Definition von Märkten der Zukunft, von Leitmärkten. Was tun
Sie denn für die Kreativwirtschaft in unserem Land?
Was tun Sie für die Gesundheitswirtschaft in Deutschland? Die Gesundheitswirtschaft hat ein riesiges Potenzial. Was tun Sie - außer dass Sie, mal im Kanzleramt,
mal im Ministerium, Spitzentreffen organisieren - beim
Thema E-Mobility? Dieses Thema brennt den Leuten
unter den Nägeln. Die Industrie wartet darauf, dass von
der Bundesregierung verlässliche Signale kommen. Wir
brauchen ein klares Signal für den Leitmarkt, den Zukunftsmarkt Greentech/erneuerbare Energien. Eine Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken, wie Sie
sie vorhaben, das ist die Rückkehr ins Atomzeitalter und
das Gegenteil von dem, was wir brauchen.
Ich hoffe, dass wir den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen können. Ich hoffe, dass auch die Grünen in
Nordrhein-Westfalen an diesem Weg unumkehrbar festhalten und nicht wie die Grünen in Hamburg am Ende
Kompromisse mit falschen Partnern eingehen.
({7})
- Mach keinen Zwischenruf, liebe Kollegin Andreae,
sonst rede ich noch länger, und das soll ich doch nicht.
({8})
Ich will einen letzten wichtigen Punkt aufgreifen: Wir
müssen schon jetzt, im Frühjahr des Jahres 2010 - das
Ministerium muss das tun, lieber Herr Burgbacher; aber
auch das Parlament muss das tun -, darüber nachdenken,
welche Anschlussregelungen wir für die Zeit nach 2010,
nach dem Ablauf des sogenannten Temporary Framework, nach dem Ablauf der Konjunkturprogramme, die
wir auf den Weg gebracht haben, finden. Allein auf eine
Exit-Strategie zu setzen, ist ein großer Fehler. Die Institute bescheinigen Ihnen nicht nur, dass Ihre Steuersenkungspläne Unsinn sind, sie sagen auch voraus, dass
viele Betriebe - gerade mittelständische Betriebe -, die
von der Kreditklemme noch nicht betroffen sind, 2011
große Probleme bekommen werden.
Deswegen ist es wichtig, dass wir jetzt die Weichen
dafür stellen, dass sich die Situation 2011 nicht verschärft. Ich wäre sehr dafür, dass wir - wie es schon vorgeschlagen wurde - gemeinsam mit unseren europäischen Partnern darüber nachdenken, ob es nicht möglich
ist, dass wir im Rahmen einer wirklich koordinierten
europäischen Wirtschaftspolitik noch einmal - in der
Größenordnung von 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes - eine gemeinsame Kraftanstrengung unternehmen,
damit die Menschen in Deutschland wirklich Hoffnung
haben können, dass wir so gut, wie wir durch die Beschlüsse, die die Große Koalition getroffen hat, durch
die erste Hälfte der Krise gekommen sind, auch gut
durch die zweite Hälfte der Krise kommen.
Ich bitte um Zustimmung zu unserem Antrag; denn in
diesem Antrag geht es im Gegensatz zu dem, was die
Bundesregierung aufgezeigt hat, um eine Gesamtkonzeption. Wir denken nicht nur in Einzel- und Klientelinteressen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Paul Friedhoff für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der beiden Anträge, über die wir diskutieren
und in denen es um allgemeine Wirtschaftspolitik geht,
klingen gut: Eine „Politik der wirtschaftlichen Vernunft“
ist immer richtig, und auch gegen ein „Zukunftsprogramm für 2 Millionen Arbeitsplätze“ kann man eigentlich nichts einwenden.
Wenn man zu dem Inhalt der beiden Anträge kommt,
muss man feststellen, dass die Überschriften falsch oder
zumindest nicht ganz richtig gewählt sind; zumindest
hält der Inhalt nicht, was die Überschriften versprechen.
Die Forderung der SPD nach einer Stärkung der privaten Binnennachfrage leuchtet noch ein, wenngleich
wir hinsichtlich des Weges, wie man das erreichen kann
und muss, ganz anderer Ansicht sind.
Die Forderung der Linken nach einem massiven Ausbau des öffentlichen Sektors ist dagegen schon in sich
falsch. Abgesehen von den aberwitzigen Summen, die
dafür gefordert werden, liegt hierin eine klare Tendenz
zu einer Staatswirtschaft mit einer damit verbundenen
steigenden Bürokratie. Welche Konsequenzen dieser
Hang gerade in Bezug auf den ebenfalls geforderten
dringenden Infrastrukturausbau hat, wird am Beispiel
Berlin sehr deutlich. Vor allem durch die anhaltend hohen Personalkosten in Rekordhöhe von mehr als
30 Prozent der Gesamtausgaben werden notwendige Investitionen gebremst und kommt es seit Jahren zu einem
stetigen Verfall der Verkehrsinfrastruktur.
({0})
Der vermeintliche Ausweg aus diesem Debakel soll
nun, wie schon so oft, durch neue Steuern oder Steuererhöhungen geebnet werden. Gerade durch die Entwicklung in Griechenland, wo der öffentliche Sektor in einer
ähnlichen Größenordnung aufgebläht worden ist, wird
aktuell gezeigt, welcher Irrweg hier vorgeschlagen wird.
({1})
Solche Forderungen haben mit wirtschaftlicher Vernunft
nichts zu tun und sind erst recht kein Zukunftsprogramm.
Es ist nicht der Staat, der neue Arbeitsplätze schafft,
es sind die Unternehmen.
({2})
Ich darf das auch an dieser Stelle noch einmal betonen:
Es sind vor allem die arbeitsplatzintensiven kleinen und
mittleren Unternehmen, die Stellen schaffen. Statt die
Schaffung von subventionierter öffentlicher Konkurrenz
zur Privatwirtschaft zu unterstützen, muss alles getan
werden, um die Rahmenbedingungen für diese Unternehmen zu verbessern.
({3})
Durch teure öffentliche Beschäftigungsprogramme,
wie sie die Linke fordert, wird kein Beitrag zur nachhaltigen Integration von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt geleistet. Ganz
im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit wird verfestigt, und
es werden Fehlanreize gesetzt, mit denen letztlich unkontrollierbare Verdrängungsprozesse und Verwerfungen bei regulärer Beschäftigung hervorgerufen werden.
Wirklich sinnvoll ist nur die Verbesserung der Chancen
auf Beschäftigung im regulären Arbeitsmarkt. Hierauf
müssen sich unsere Anstrengungen richten.
({4})
Deshalb setzen wir als FDP sowohl auf eine Reform
des Vermittlungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsangebotes als auch auf die Neugestaltung der Zuverdienstmöglichkeiten, eine deutliche Reduzierung - auch wenn
Sie es nicht hören wollen - der Steuer- und Abgabenlast
und die Senkung der Bürokratiekosten.
In letzter Zeit habe ich wiederholt den scheinbar ernst
gemeinten Ratschlag hören können, die deutsche Wirtschaft solle ihre Exportaktivitäten zügeln, damit die
Konkurrenten, vor allem im EU-Raum, nicht zu schlecht
dastünden. Im Kern zu fordern, der Gute solle sich doch
bitte schlechter aufstellen, damit es dem nicht so Guten
dann besser ginge: Damit stellt man unser Wirtschaftssystem auf den Kopf. Unsere asiatischen Wettbewerber
würden sich jedenfalls bestimmt darüber freuen, wenn
wir der Bitte der Franzosen folgen und uns beim Export
selbst einschränken würden.
({5})
- Sie waren in der letzten Sitzung des Wirtschaftsausschusses dabei, und Sie haben die Diskussion ja auch
verfolgt.
({6})
- Stärken Sie den Binnenmarkt auf andere Art und
Weise, aber nicht dadurch, dass Sie unsere Exportindustrie sozusagen „herunterfahren“. - Deswegen sollten wir
diese Forderung nicht unterstützen.
Eine weitere beharrliche Behauptung der Linken
muss an dieser Stelle auch einmal besprochen werden.
Immer wieder wird behauptet, die deutsche Exportstärke
basiere auf Lohndumping. Dies ist schlicht Unsinn; denn
die exportierende Wirtschaft ist weit davon entfernt, ein
Niedriglohnsektor zu sein. Die exportstarken Unternehmen in Deutschland sind vielmehr mit ihren Produkten
technologisch so gut aufgestellt, dass sie für ihre hochqualifizierten Arbeitskräfte auch hohe Löhne bezahlen
können und auch bezahlen.
Würden wir die Arbeitskosten in Deutschland durch
eine Reduktion der Lohnnebenkosten senken, die heute
wie eine Sondersteuer auf Arbeit wirken, dann könnten
wir tatsächlich ein Beschäftigungsprogramm erleben,
durch welches wir ein Stück weiter auf dem Weg zur
Vollbeschäftigung kommen könnten.
({7})
Natürlich spielt dabei ein starker Export eine wichtige
Rolle.
Wir benötigen ein größeres Stück vom Kuchen des
weltweiten Arbeitsmarktes. Dafür bedarf es einer weiteren Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Nur so werden wir in Deutschland mehr Aufträge erhalten. Dauerarbeitsplätze entstehen durch Aufträge und nicht durch
noch so gut gemeinte staatliche Programme oder Subventionen.
Lassen Sie mich zum Schluss zum Thema Opel kommen. Die Fraktion der Linken beschimpft in ihrem Antrag die Bundesregierung und hält ihr vor, sie betreibe
auf dem Rücken der Beschäftigten eine Verzögerungstaktik.
({8})
Ich kann hier nicht für die Vorgängerregierung sprechen,
aber die christlich-liberale Koalition jedenfalls verzögert
nichts.
({9})
Im Gegenteil: Sie stellt konstruktive Fragen an General
Motors, damit die Prüfung des Antrags auf eine Kreditbürgschaft vorangehen kann. Wenn nun General Motors
sich seit Monaten weigert, diese Fragen zu beantworten,
({10})
kann die Verantwortung auf keinen Fall bei der Bundesregierung oder beim Bundeswirtschaftsminister gesucht
werden. Es kann, glaube ich, sehr wohl ein gewisses
Maß an Kooperationsbereitschaft von demjenigen verlangt werden, der auf Risiko der deutschen Steuerzahler
unterstützt werden will.
Ein gutes Indiz dafür, dass die Bundesregierung in ihrem Vorgehen richtigliegt und keine Politik auf Kosten
der Opel-Beschäftigten macht, ist die Zurückhaltung der
europäischen Opel-Betriebsräte. Auch diese sind gegen
eine vorschnelle Entscheidung und verlangen konkrete
Informationen von General Motors zur Unternehmenszukunft.
Herr Kollege Friedhoff, achten Sie bitte auf die Zeit.
Auch die Betriebsräte haben ihre Stellungnahmen
noch nicht abgegeben. Auch ihnen fehlen offensichtlich
Informationen. Die Bundesregierung kann dies vor der
Gewährung von Bürgschaften in Milliardenhöhe unserer
Meinung nach völlig zu Recht verlangen.
({0})
Ich glaube, dass es keinen Sinn macht, wenn wir Geld
ausgeben, ohne dass Konzepte bekannt oder vorhanden
sind, gerade auch vor dem Hintergrund, dass General
Motors in den Vereinigten Staaten viel Geld an den Staat
zurückgezahlt hat und gleichzeitig uns um Bürgschaften
nachsucht.
Kollege Friedhoff, Ihre Redezeit ist tatsächlich jetzt
erschöpft.
Man muss deshalb sehen, dass eben kein wettbewerbsfähiges Konzept vorliegt. Deswegen müssen wir
hier vorsichtig vorgehen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! „Politik der wirtschaftlichen Vernunft“ klingt in
der Tat gut, und sie ist notwendig und richtig. Die Frage
ist aber: Was ist vernünftig?
Vernünftig ist, das zarte Pflänzchen Aufschwung zu
schützen. Es ist wirklich ein zartes Pflänzchen, Herr
Hinsken. Ihre Rede hat aus diesem Pflänzchen schon einen großen Baum gemacht. So weit sind wir aber noch
lange nicht.
Es geht also darum, das zarte Pflänzchen Aufschwung
zu schützen. Vernünftig ist aber auch, keine leeren Versprechen zu machen. Leere Versprechen sind die Steuersenkungspläne vor allem der FDP. Das ist keine vernünftige Politik.
({0})
Leere Versprechen sind im Übrigen auch die Versprechen im Antrag der Linken. Ich komme später darauf zurück, dass Sie trotz des gigantischen Investitionsaufwands nicht in der Lage sein werden, die wirtschaftlichen
Probleme im Grundsatz zu lösen. Das sind leere Versprechen, die wir in der Wirtschaftspolitik immer wieder von
der Linken hören. Wir sind erstaunt, wie Sie aus Luftblasen Luftschlösser aufbauen und Versprechen machen, die
Sie im Kern nicht halten können.
({1})
Die heutige Debatte über Wachstum und Beschäftigung ist wichtig. Herr Friedhoff, Sie haben zu Recht
festgestellt, dass Arbeitsplätze von den Unternehmen geschaffen werden.
({2})
Das ist absolut richtig. Darin stimmen wir Grünen mit
Ihnen überein. Aber dann müssen Sie auch in die Unternehmen hineinhorchen.
Die Unternehmen heute reden von Effizienz, Einsparungen und neuen Technologien. Sie reden davon, dass
ihnen die steigenden Energiepreise die Luft abschnüren,
und sie fragen sich, wie sie sich zukunftsfähig aufstellen
können und wie die neuen Produkte und Produktionsprozesse aussehen. Sie finden sie in der Umweltwirtschaft.
Die Umweltwirtschaft wird der Wachstumstreiber des
21. Jahrhunderts sein. Das belegen die Studien von
Roland Berger und anderen Instituten. Hier sind die
neuen Arbeitsplätze und Jobs der Zukunft. Davon reden
die Unternehmen. Sie reden nicht von Steuersenkungen.
({3})
Was den Antrag der Linken angeht, sind wir uns in
den Zielen einig. Bildung und Betreuung sind sehr wichtig. Ökologische Erneuerung ist enorm wichtig. Energieund Ressourceneffizienz sind enorm wichtig. Das sind
gute grüne Ziele.
({4})
Das sind Ziele grüner Politik. Aber es sind nicht die richtigen Instrumente. Das Prinzip „Viel hilft viel“ funktioniert nicht. Sie können nicht einfach viel Geld irgendwo
hinkippen und darauf hoffen, dass das funktioniert. Sie
müssen zukunftsorientiert investieren.
({5})
Sie reden in Ihrem Antrag von 125 Milliarden Euro. Das
muss man sich einmal vorstellen. Sie reden hier von
125 Milliarden Euro. Das ist das Konzept „Viel hilft
viel“. So etwas ist kein grünes Instrument.
Dies gilt auch für die Vorstellung, dass der Staat sich
an den Unternehmen beteiligen soll.
Sie wollen zwei Dinge miteinander verbinden, nämlich Überkapazitäten abbauen und gleichzeitig Beschäftigung sichern. Das funktioniert so nicht. Sie müssen
dort deutlich moderner werden und sich damit auseinandersetzen, dass Unternehmen, die sich diesem ökologi3708
schen Umbau nicht stellen, es tatsächlich schwerer haben werden, am Zukunftsmarkt zu bestehen.
Wir müssen Rahmen setzen.
({6})
Wir müssen Leitplanken schaffen, mit denen die Unternehmen in der Lage sein werden, diese Herausforderungen zu meistern, die die Energie- und Ressourcenfragen
an die Unternehmen stellen werden. Hier falsche Versprechungen zu machen, ist unehrlich gegenüber den
Beschäftigten und den Unternehmen.
Mit dem Ansatz der SPD können wir uns anfreunden.
Deswegen werden wir diesen Antrag unterstützen. Sie
fordern, Forschung und Entwicklung steuerlich zu fördern. Einen entsprechenden Antrag werden die Grünen
demnächst ebenfalls in den Bundestag einbringen. Diese
steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung
brauchen wir als nächste Säule. Wir müssen Rahmen setzen, Finanzmärkte regulieren und Gründer fördern sowie
ökologische Investitionen anreizen und dafür klare Instrumente entwickeln.
Eine Kritik kann ich mir aber nicht verkneifen. - Ich
sehe die Uhr.
Kollegin Andreae, das müssen Sie bitte in einem kurzen Satz erklären.
Der kurze Satz lautet: Warum haben Sie in Ihrer Zeit
als Große Koalition die Chance verpasst, diese ökologischen Investitionen zu setzen? Sie haben mit der Abwrackprämie - die im Grundsatz schon sehr diskussionsbedürftig ist - dadurch, dass Sie sie nicht an ökologische
Komponenten geknüpft haben, eine große Chance vertan. Hier übe ich herbe Kritik an Ihnen. Jetzt erklären Sie
hier, ökologische Investitionen sollten gefördert werden.
Dort, wo Sie es hätten tun können, haben Sie es aber
nicht getan.
({0})
Fazit: Mit grünen Ideen schaffen wir Arbeitsplätze.
Mit grünen Konzepten haben die Unternehmen auch
eine wirklich nachhaltige Ausrichtung. An dieser Stelle
können wir uns treffen. Hier gehen wir gemeinsam voran.
Vielen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1404 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/873.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/521 mit dem Titel „Für
eine Politik der wirtschaftlichen Vernunft - Nachhaltiges
Wachstum und mehr Beschäftigung schaffen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Unionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/470 mit dem Titel „Zukunftsprogramm für
2 Millionen Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktionen, der SPD-Fraktion, der FDPFraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Nestle, Oliver Krischer, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Energieeffizienzgesetz unverzüglich vorlegen
- Drucksache 17/1027 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Ingrid Nestle für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vor 707 Tagen war der Stichtag, an dem
Deutschland ein Energieeffizienzgesetz hätte einführen
müssen. Doch bis heute hat die Bundesregierung diese
Pflicht nicht erfüllt. Das Vertragsverletzungsverfahren
gegen Deutschland läuft.
Dabei wollen alle die Energieeffizienz: Umweltminister Röttgen will Energieeffizienz für den Klimaschutz.
Wirtschaftsminister Brüderle will Energieeffizienz, um
bares Geld zu sparen und für die Versorgungssicherheit
im Energiesektor. Alle Bundesregierungen haben sich
Effizienzziele gesetzt, um den Stromverbrauch zu reduzieren, aber trotzdem ist bis zur Wirtschaftskrise der
Stromverbrauch kontinuierlich angestiegen. Alle sind
sich also einig: Energieeffizienz ist der Königsweg. Was
legen Sie jetzt vor? Die Regierung hat am Mittwoch eiIngrid Nestle
nen Gesetzentwurf beschlossen, der im Wesentlichen genau das wiedergibt, was das Wirtschaftsministerium
schon seit langem im Effizienzbereich fordert, aber Sie
trauen sich nicht einmal mehr, den Entwurf Energieeffizienzgesetz zu nennen. Zu Recht trauen Sie sich das
nicht. Was steht in dieser Initiative? Sie hat weniger
Substanz als ein Luftschloss oder eine Lachnummer. Der
Kern dieses Gesetzes ist, dass die Verbraucher einmal im
Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf eine Internetseite bekommen, auf der sich eine Liste von Anbietern von Energiedienstleistungen befindet.
({0})
Das ist eine Schnitzeljagd, aber kein Energieeffizienzgesetz.
({1})
Auch Ihre eigenen Studien aus dem Bundesumweltministerium haben gezeigt: Mit Energieeffizienz können
Sie 19 Milliarden Euro Energiekosten sparen, Sie können 77 Millionen Tonnen CO2 vermeiden, und Sie können 260 000 Arbeitsplätze schaffen. Auch diese Arbeitsplätze setzen Sie leichtfertig aufs Spiel. Sie sorgen dafür,
dass der Innovationsmotor abgewürgt wird. Unsere europäischen Nachbarn kaufen uns in Sachen Energieeffizienz inzwischen den Schneid ab. Noch nicht einmal die
Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie schaffen Sie
mit diesem Gesetzentwurf. Das bestätigen immer wieder
Experten aus Politik, aus dem Verbraucherschutz und
aus der Wissenschaft. Auch eine Studie, die wir kürzlich
in Auftrag gegeben haben, kommt zu dem Schluss, dass
Ihnen mit diesem Entwurf nicht einmal die Eins-zu-einsUmsetzung gelingt.
Die Debatten mit Regierungsvertretern zeigen leider
auch, dass im Herbst nicht mehr zu erwarten sein wird.
Herr Minister Röttgen, für dieses Nichts haben Sie sich
den Trumpf aus der Hand nehmen lassen. Sie haben sich
jetzt nicht durchsetzen können. Warum sollte das im
Herbst anders sein? Dieser Kabinettsentwurf zeigt die
wahre Einstellung dieser Regierung zur Energieeffizienz. Sie will nichts tun, aber damit werden wir uns
nicht abfinden.
({2})
Wir haben in dem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, gezeigt, wie ein Energieeffizienzgesetz aussehen
kann. Für den Endkundenbereich fordern wir, dass die
Energielieferanten den Verbrauchern helfen, Energie einzusparen, ein System, das anderswo erprobt ist. In Dänemark hat man gerade die Zielmarke von 0,7 auf 1,2 Prozent hochgesetzt, weil das Instrument so gut funktioniert.
Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits und
Energieberatung mit konkreten Vorschlägen, wie Energie
eingespart werden kann, und wir fordern eine verlässliche
Evaluation. Wir fordern dynamische Effizienzstandards,
einen Top-Runner-Ansatz. Wir fordern einen Energieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden Euro und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, der weniger
Schulden aufweist als der Ihre. Minister Brüderle möchte
bei der Energieeffizienz gerne Weltmeister sein. Mit diesem Entwurf schaffen Sie es nicht einmal in die Vorrunde,
Sie schaffen noch nicht einmal die Qualifikation.
({3})
Kollegin Nestle, achten Sie bitte auf die Zeit.
Folgen Sie unserem Antrag und bewahren Sie sich die
Chance aufs Finale!
({0})
Das Wort hat der Kollege Thomas Bareiß für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Liebe Frau Nestle, der Antrag,
den Sie heute vorlegen, ist eigentlich seit dem vergangenen Mittwoch obsolet. Unter dem Gesichtspunkt der Sitzungseffizienz hätte man sich heute die Diskussion darüber sparen können.
({0})
Aber Ihnen geht es - insofern unterstelle ich Ihnen etwas
Gutes - nicht allein um das Gesetz an sich, das wir vorlegen, sondern um unser Ziel, die Energieeffizienz in
Deutschland zu steigern.
Ich möchte gleich zu Beginn einen Punkt Ihrer Rede
aufgreifen. Sie haben das Beispiel Dänemark hervorgehoben und gesagt, die dänische Regierung habe aufgrund ihrer hervorragenden Politik das Einsparziel von
0,7 auf 1,2 Prozent heraufgesetzt. Ich muss Ihnen sagen:
Wir sind über dieses Ziel schon längst hinaus. Schon in
den letzten Jahren haben wir unsere Energieeffizienz um
1,7 Prozent gesteigert. Mit 2,5 bis 3 Prozent wollen wir
sogar einen wesentlich besseren Wert erzielen.
({1})
Insofern, glaube ich, sind wir auf dem richtigen Weg.
Die Zahlen der letzten Jahre zeigen, dass wir sehr erfolgreich waren.
Die Erreichung dieses Ziels ist für mich eine Etappe
auf dem Weg hin zu mehr Energieeffizienz. Wir brauchen in diesem Bereich eine Steigerung der Potenziale.
Ich selber bin Schwabe - man hört es mir an -, und deshalb ist für mich Sparsamkeit die oberste Maxime der
Wirtschaftspolitik und insbesondere der Energiepolitik.
({2})
Wir können noch enorme Effizienzsteigerungen realisieren. Wir brauchen neue Technologien, sowohl auf der
Seite der Energieerzeugung als auch auf der Seite der
Energieverbräuche. Energieeffizienz ist die Voraussetzung für die Erreichung unserer folgenden drei Ziele:
Erstens. Wir wollen durch mehr Energieeffizienz Ressourcen schonen - das ist ein Kernbestandteil unserer
Politik - und Rohstoffe sparen.
Zweitens. Wir wollen in unserer Energieversorgung
unabhängiger und damit auch sicherer werden.
Drittens. Nicht zuletzt wollen wir unserer Industrie
und unseren Unternehmen Wettbewerbsvorteile im internationalen Markt verschaffen.
({3})
Wie ich schon gesagt habe, haben wir gemeinsam, übrigens auch in der Großen Koalition, schon viel erreicht;
in den letzten Jahren konnte die Energieeffizienz um
1,7 Prozent gesteigert werden.
({4})
Unser Umweltminister Norbert Röttgen hat das Ziel einer Energieeffizienzsteigerung von 3 Prozent ausgerufen. In den Szenarien für das Energiekonzept wollen wir
darstellen, wie eine Steigerung auf 2,3 Prozent bis
2,5 Prozent erreicht werden kann. Ich glaube, dass wir
eine enorme Kraftanstrengung vor uns haben. Der jetzt
vorgelegte Gesetzentwurf ist nur eine Etappe auf unserem Weg. Wenn wir unser Energiekonzept im Herbst
vorlegen, werden wir über weitere Schritte sprechen. An
die in Ihrem Antrag festgehaltenen Punkte werden wir
anknüpfen.
Ich möchte auf die Bereiche zu sprechen kommen, in
denen die Energieeffizienz gesteigert werden soll. Das
Thema Gebäude ist dabei von zentraler Bedeutung. Allein auf diesem Gebiet finden 40 Prozent der gesamten
Energieverbräuche statt.
({5})
Da müssen wir etwas machen, und da haben wir schon
vieles getan. Beispielsweise haben wir in den letzten
Monaten ganz bewusst die Mittel für das Jahr 2011 auf
das Jahr 2010 vorgezogen - 400 Millionen Euro -, damit
wir in diesem Bereich weiterhin stark investieren können.
({6})
Der Umfang des Gesamtprogramms beträgt weiterhin
1,5 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiger Ansatz, um sicherzustellen, dass in den Gebäudebereich weiter investiert wird. Das hilft nicht nur den Verbrauchern, sondern
vor allen Dingen auch den Handwerksbetrieben, die dort
enorm investieren.
Für mich sind zwei Punkte wichtig:
Der erste Punkt ist die Transparenz. Das heißt, dass
die Verbraucher, die Konsumenten ein Bewusstsein für
ihre Verbräuche haben, sodass eine Verhaltensänderung
stattfinden kann. Teilweise wird dem schon in dem Gesetzentwurf Rechnung getragen.
Der zweite Punkt ist die Schaffung von Anreizen. Dafür müssen wir Geld in die Hand nehmen, und wir müssen überlegen, wo wir investieren. Ich möchte gar nicht
verhehlen, dass das eine schwierige Diskussion nach
sich ziehen wird. Zu einer nachhaltigen Politik gehört
nämlich nicht nur eine nachhaltige Energiepolitik, sondern auch eine nachhaltige Haushaltspolitik.
({7})
Wir müssen sicherlich um jeden Euro streiten. Das wird
uns in den kommenden Haushaltsberatungen in den
nächsten Monaten sicherlich noch beschäftigen.
Wie ich bereits beschrieben habe, stellen wir bis zum
Herbst ein Energiekonzept vor. Darin wird das Thema
Energieeffizienz eine ganz besondere Rolle spielen. Ich
möchte an dieser Stelle ganz bewusst sagen - es ist ja so,
dass vonseiten der Opposition immer wieder das Thema
Kernenergie herausgestellt wird -: Das Thema Energieeffizienz ist für die nächsten Jahre äußerst wichtig. Auf
diesem Feld liegen nämlich enorme Potenziale, die gehoben werden müssen. Ich wiederhole: Ich sehe den von
uns vorgelegten Gesetzentwurf als Teilschritt auf dem
Wege der Umsetzung der EU-Vorgaben. Wenn das geschehen ist, werden wir, darauf aufbauend, Weiteres vorlegen. Deshalb macht Ihr Antrag, über den wir heute diskutieren, für uns keinen Sinn, und daher müssen wir ihn
ablehnen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Bareiß, Sie haben sich gerade
darüber beklagt, dass die Opposition, wenn sie vom
Energiekonzept spreche, insbesondere die Tatsache herausgreife, dass Sie die Laufzeiten von Kernkraftwerken
verlängern wollen. Sie müssen das entschuldigen, aber
das ist das Einzige, was bisher aus Ihrem Energiekonzept bekannt geworden ist. Deswegen kommentieren wir
das natürlich auch.
({0})
Es ist deutlich geworden, dass das die Konstante ist, um
die herum Sie das bauen, was Sie im Herbst am Ende
Energiekonzept nennen wollen.
Wir haben heute den Antrag der Grünen zu beraten.
Sie wollen, dass ein Energieeffizienzgesetz vorgelegt
wird. Möglicherweise ist es auch eine Auswirkung dieses Antrages, dass tatsächlich in dieser Woche das Kabinett einen Gesetzentwurf verabschiedet hat, der den Titel
trägt: „Gesetz über Energiedienstleistungen und andere
Energieeffizienzmaßnahmen“. Es heißt also nicht „Energieeffizienzgesetz“, davor ist man, glaube ich, zurückgescheut. Aber selbst bei diesem Titel erwarte ich, dass ich
in diesem Gesetz etwas Konkretes zu Energiedienstleistungen und zu Effizienzmaßnahmen finde. Ich glaube,
alle, die den Entwurf gelesen haben, auch die Kollegen
von der Koalition, werden zugestehen: Da werden sämtliche Erwartungen enttäuscht.
({1})
Es ist eben schon in der Rede von Frau Nestle angeklungen, dass Energieeffizienz ein Thema ist, das unsere
höchste Aufmerksamkeit verdient und bei dem wir sehr
offensiv vorangehen sollten. Wir haben das im letzten
Jahr vor der Bundestagswahl versucht; wenn ich sage
„wir“, meine ich meine Kolleginnen und Kollegen aus
der SPD-Bundestagsfraktion. Wir wollten damals ein
solches Gesetz verabschieden, auch im Wissen darum,
dass damals ein Vertragsverletzungsverfahren drohte. Inzwischen ist es ja auch eingeleitet worden. Aber das war
leider nicht möglich, offensichtlich weil wir schon damals zu ambitioniert waren.
Warum ist Energieeffizienz so ein wichtiges Thema?
Es geht im Grunde um die Veränderung des Geschäftmodells in der Energiewirtschaft. Das bisherige Modell
funktioniert so, dass die Unternehmen daran verdienen,
möglichst große Energiemengen zu verkaufen. Was wir
wollen, ist, dass statt des Verkaufs von Mengen eine
Dienstleistung angeboten und verkauft wird, bei der die
zwei Seiten, die Angebotsseite und die Verbrauchsseite,
das gemeinsame Interesse haben, dies mit möglichst geringem Energieaufwand hinzubekommen. Deswegen
sind sowohl der Umwelt- als auch der Wirtschaftsminister eigentlich und grundsätzlich an dem Thema interessiert, weil es ökologische und ökonomische Effekte
hätte, wenn wir da tatsächlich mutig voranschreiten würden.
Dieses Gesetz wird selbst dem reduzierten Namen
nicht gerecht. Es fällt weit hinter Zielsetzungen zurück,
die wir schon im Jahr 2007 in der Großen Koalition gemeinsam definiert haben, beispielsweise die Verdoppelung der Energieproduktivität im Zeitraum von 1990 bis
2020. Insofern ist mit diesem Gesetzentwurf das Effizienzproblem, das die europäischen Volkswirtschaften,
auch unsere Volkswirtschaft, haben, nicht zu lösen.
Weil noch kein Konzept vorliegt und weil in diesem
Gesetz nichts wirklich Zitierwürdiges steht, gucken wir
uns doch einmal das konkrete Handeln dieser Bundesregierung an. Da wurde eben mit einem gewissen Stolz
das energetische Gebäudesanierungsprogramm erwähnt.
In den gleichen Kontext gehört das Marktanreizprogramm, zum Beispiel für die energetische Sanierung von
Heizungen in privaten Wohngebäuden. Beides wird zurückgefahren.
Das MAP, das Marktanreizprogramm, soll komplett
auslaufen. Mein Schornsteinfeger fragt mich: Was machen die da in Berlin? Da ist einmal etwas Vernünftiges
entstanden. Ich kann die Leute davon überzeugen, zu investieren; die Handwerker in unserem Bereich haben
Aufträge; die Arbeitnehmer haben Beschäftigung; der
Finanzminister muss am Ende noch nicht einmal zuzahlen, weil das, was erfahrungsgemäß vorher in der
Schwarzarbeit gelandet wäre, jetzt über offizielle Rechnungen mit Mehrwertsteuer gegenüber dem Finanzamt
abgerechnet werden muss.
Genauso ist es beim CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Was passiert da? Eben ist gesagt worden: Es ist
um 400 Millionen Euro aufgestockt worden. - Gut, das
kann man so sagen, aber wir wollen einmal Folgendes
festhalten: Im letzten Jahr gab es 2,25 Milliarden Euro
für dieses Erfolgsprogramm. Das arbeitet mit Zuschüssen an diejenigen, die in ihr Häusle investieren wollen.
Aber der Finanzminister macht trotzdem Reibach, weil
er über die Mehrwertsteuer und andere Steuern am Ende
mehr zurückbekommt, als er vorher geben musste.
Anstatt auf dem Sockel von 2,25 Milliarden Euro
weiterzumachen, will man reduzieren. Ursprünglich war
geplant, auf die Hälfte zu gehen; inzwischen ist man bei
1,5 Milliarden Euro. Warum ist das zu wenig? Weil das
Handwerk in Deutschland inzwischen Strukturen aufgebaut hat, mit denen man in der Lage ist, Aufträge in einer Größenordnung auszuführen, die der Förderung mit
2,25 Milliarden Euro entspricht, Beschäftigung zu generieren, also sowohl die ökonomischen als auch die ökologischen Vorteile sowie die Beschäftigungsvorteile zu
realisieren. Warum machen Sie so etwas kaputt? Warum
führen Sie das nicht auf hohem Niveau fort?
({2})
Sie suchen, wie Sie sagen, Maßnahmen, die dafür sorgen, dass wir mehr Beschäftigung bekommen. Warum
zerstören Sie die, die bewiesen haben, dass sie funktionieren? Das ist für uns nicht nachvollziehbar. In diese
Wunde werden wir natürlich auch künftig den Finger legen.
Wir als Opposition haben uns das Recht genommen,
verschiedene Anfragen zu stellen, etwa eine Anfrage zu
dem Thema „Intelligente Zähler, intelligente Netze“. Die
Antwort, die wir vom Bundeswirtschaftsministerium darauf bekommen haben - das war nach dem Motto: „läuft
alles“, „weiter so“, „kein Handlungsbedarf“ -, zeigt uns,
dass das Potenzial überhaupt noch nicht erkannt worden
ist.
Gerade dabei geht es darum, zu einer anderen Vernetzung der Angebots- und der Nachfrageseite zu kommen.
Gerade dabei geht es darum, diejenigen, die in ihren
Haushalten Energie verbrauchen, in den Stand zu setzen,
ihre Verbräuche zu erkennen, sie dann aber auch zu beeinflussen. Dazu brauchen sie intelligente Zähler. Dazu
brauchen wir auch intelligente Tarife, die es interessant
machen, den Stromverbrauch in Schwachlastzeiten, zum
Beispiel nachts, zu verlagern. Alles das wird nicht weiter
befördert. Es wird nicht untersucht, wie die Instrumente
wirken. Das ist, denke ich, der falsche Weg.
Wir haben die dringende Bitte an Sie, an die die Regierung tragenden Fraktionen: Denken Sie darüber noch
einmal neu nach! Setzen Sie einen Schwerpunkt bei dem
Thema Effizienz, und hören Sie ruhig gelegentlich auch
mal auf die, die sich schon länger parlamentarisch mit
dem Thema befasst und gezeigt haben, dass sie auf dem
Gebiet gute Ideen entwickeln können!
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Klaus Breil für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Grünen drängen mit ihrem Antrag auf
eine rasche und übertriebene Umsetzung der EU-Richtlinie über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen.
Sie werden es kaum glauben, aber außer den Grünen haben mindestens zwei weitere Gruppen die Energieeffizienz als schlafenden Riesen zur Kosteneinsparung und
zum Klimaschutz entdeckt:
Als Erstes sind dabei die Unternehmen zu nennen.
Diese verstehen es durchaus selbst, durch Einsatz energieeffizienter und damit ressourcensparender Technologien ihre Kosteneinsparungspotenziale aufzudecken.
Dazu braucht es keine Politik. Hier geht es um eine Verbesserung der eigenen Kostenstrukturen.
Wir können dabei Anreize setzen. Genau das tun wir
derzeit. Gemeinsam mit der Industrie werden wir überprüfen, ob eine freiwillige Verpflichtung zu sogenannten
Stromspar-Checks zweckdienlich sein kann.
({0})
Die zweite Gruppe sind wir, die Regierungskoalition.
Am Mittwoch hat das Kabinett den Entwurf eines Gesetzes über Energiedienstleistungen und andere Energieeffienzmaßnahmen - kurz: EDL-G - beschlossen; Herr
Hempelmann, Sie haben es bereits angesprochen. Der
von vielen geforderten Eins-zu-eins-Umsetzung der
EDL-Richtlinie steht damit nichts mehr im Wege. Auch
die drohende Klage der EU-Kommission ist damit vom
Tisch.
({1})
Ergo: Wir sind am Ball. Deutschland wird das vorgeschriebene Mindesteinsparziel von 9 Prozent bis 2016
erreichen, und zwar gemessen am durchschnittlichen
Endenergieverbrauch zwischen 2001 und 2005.
Zum Inhalt des Umsetzungsgesetzes kann ich in Anbetracht der knappen Zeit nicht allzu viel sagen. Dafür
gebe ich Ihnen aber Folgendes mit auf den Weg: Der
vom Koalitionsausschuss beschlossene Gesetzentwurf
wird insgesamt die Transparenz im Markt verbessern.
Ganz besonders aber geht es um eine Ausweitung der Informationen über sparsamen Energieeinsatz für den Endkunden. Der in der letzten Legislaturperiode von der
Tagesordnung genommene Entwurf hingegen umfasste
planwirtschaftliche Gängelungen für Energielieferanten,
energieintensive Betriebe, Anbieter von Energiedienstleistungen und Endverbraucher. Ich erinnere nur an das
Beispiel des Tankstellenbetreibers, der auf eigene Rechnung monatlich Sparfahrschulungen für seine Kunden
anbieten sollte.
Gerade weil die Chancen der Energieeffizienz von so
vielen erkannt werden, dürfen wir das Energieeffizienzgesetz nicht als das Ende der Diskussion ansehen. Hier
werden wir, Union und FDP gemeinsam, im Herbst bei
der Überprüfung des Integrierten Energie- und Klimaprogramms untersuchen, welche zusätzlichen Maßnahmen im Bereich der Energieeffizienz sinnvoll sind. Darauf freue ich mich sehr.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich reden wir hier über Selbstverständlichkeiten:
Erstens. Die EU-Richtlinie hätte eigentlich bis Mai 2008
in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dies ist
bis heute jedoch nicht geschehen. Wir haben gehört, dass
das Vertragsverletzungsverfahren läuft. Zweitens. Energieeffizienz und sparsamer Ressourcenverbrauch sind
angesichts endlicher Ressourcen und Rohstoffe und angesichts des Klimawandels sowohl ökologisch als auch
ökonomisch notwendig.
Der Antrag der Grünen hat zumindest einen Erfolg
gezeigt. Denn acht Tage nachdem er vorgelegt wurde,
folgte endlich ein Entwurf aus dem Wirtschaftsministerium. Aber wer jetzt gedacht hätte, die lange Zeit, die es
gebraucht hat, hätte zu mehr Qualität geführt, sah sich
getäuscht. Das ist vorhin schon mehrfach angesprochen
worden.
Nicht nur wir Linken, sondern auch Verbraucherverbände und Umweltverbände kamen zu dem Urteil, dass
die Vorschläge noch nicht einmal eine Umsetzung dessen sind, was die EU uns vorgibt, und dass keinerlei konkrete Vorschläge und innovative Ideen für die Erreichung von Einsparzielen genannt worden sind. Aufgabe
von Politik ist es, Bürgerinnen und Bürgern, aber auch
Betrieben - sowohl dem kleinen Glasermeister an der
Ecke als auch dem großen Automobilunternehmen Ziele vorzugeben und bei der Umsetzung und Realisierung zu helfen.
({0})
Die Bereitschaft, Energie einzusparen, ist bei den
Bürgerinnen und Bürgern und auch bei den Betrieben
vorhanden. Das ist eben schon gesagt worden. Spätestens wenn sie ihre jährliche Strom- oder Heizungsabrechnung bekommen, geraten die allermeisten ins
Grübeln, wie denn einzusparen wäre. Trotzdem ist Energieeffizienz kein Selbstläufer, wozu es nur des Blickes
auf die Jahresabrechnung und einiger Klicks im Internet
bedarf. Notwendig ist ein Mix aus ordnungspolitischen
Vorgaben und aus Förderprogrammen, verbunden mit
ganz konkreten Zielvorgaben zur Energieeinsparung.
Es ist ja nicht so, dass es keine Vorschläge geben
würde. Nicht nur wir Linken und die Grünen, sondern
auch Verbraucherverbände und Umweltverbände, ja sogar die EU machen sehr konkrete Vorschläge, was möglich und wünschbar wäre. Dazu gehört zum Beispiel ein
Handelsverbot für Geräte mit Stand-by-Schaltung,
({1})
Unterstützung der Kraft-Wärme-Kopplung, kostengünstige Kredite für Effizienzmaßnahmen sowie EnergieEtikettierungsprogramme. Diese Liste ließe sich noch
fortführen. Aber all dies sucht man in dem Vorschlag der
Regierung vergeblich.
Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die
Linke seit vier Jahren in jeder Haushaltsberatung vergeblich die Einrichtung eines Energiesparfonds fordert.
Immer wieder stößt sie dabei auf Ablehnung. Ein Energiesparfonds wäre nötig, um es zum Beispiel Menschen,
die über keinen großen Geldbeutel verfügen, zu ermöglichen, energieeffiziente Geräte zu erwerben und somit
Energie einzusparen.
({2})
Der Antrag der Grünen bietet aus unserer Sicht eine
gute Debattengrundlage, die angesichts manchen Redebeitrags, den ich eben gehört habe, dringend nötig ist.
Denn Energieeffizienz ist ein Motor für Innovationen,
für neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze und für eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit.
Aber nein, Schwarz-Gelb setzt auf alte Konzepte, auf
größtmögliche Freiheit oder was sie dafür hält oder auf
- ich habe zugehört, was Minister Brüderle heute Morgen gesagt hat - Uralttechnologie und Konzepte von
vorgestern
({3})
sowie auf Laufzeitverlängerung und meint, mit diesen
Dingen vorwärtszukommen. Das ist ein Zurück in die
Zukunft.
({4})
Das sehen nicht nur wir Linken so - das ist nicht mit
uns zu machen; das ist kein Konzept für die Zukunft -,
das sehen auch die Menschen in diesem Land so. Deswegen bin ich mir sicher, dass morgen ganz viele Menschen gegen diese Politik und gegen eine Laufzeitverlängerung von AKWs auf die Straße gehen werden - und
dies nicht nur im Rahmen der Menschenkette Brunsbüttel-Krümmel, sondern auch in Biblis und in Ahaus.
Ich danke.
({5})
Das Wort hat der Kollege Georg Nüßlein für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mir
wird im Zusammenhang mit Energieeffizienz zu viel
über Strom und zu wenig über die Themen „Verkehr“
und „Wärme“ gesprochen, obwohl wir doch alle wissen,
dass in diesem Bereich das größte Potenzial zu heben ist.
({0})
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass
ich all den Stromkonzepten misstraue. Sie gehen am
Schluss nur deshalb auf, weil man quasi als Residualgröße ein hohes und höchstes Maß an Energieeinsparund -effizienzpotenzial einkalkuliert. Dies wird in dieser
Art und Weise nicht aufgehen.
Ich räume ein: Wir sind in Verzug, was die Umsetzung der europäischen Vorgaben angeht, nicht aber, was
die Umsetzung derjenigen Dinge angeht, die in den
beschriebenen Bereichen zu Energieeffizienz führen. Ich
greife gerne und dankbar auf, was der Kollege
Hempelmann zum Thema „CO2-Gebäudesanierung und
Marktanreizprogramm“ formuliert hat. Natürlich befinden wir uns in einer schwierigen haushalterischen Lage.
Wir werden sparen müssen. Nur, wir werden uns auch
überlegen müssen, welche Multiplikatoreffekte hinter
bestimmten Programmen stehen. Es macht keinen Sinn,
einen Investitionshaushalt zu kürzen, wohl wissend, dass
sich viele Dinge, von denen wir hier sprechen, selbst refinanzieren.
({1})
Das möchte ich in dieser Deutlichkeit deshalb sagen,
weil uns da noch etliche Diskussionen bevorstehen.
({2})
Aber eine Diskussion, die so weit geht, dass man, so wie
es die Grünen tun, fordert, zusätzlich einen Fonds in
Höhe von 3 Milliarden Euro aufzulegen, halte ich für
populistisch und dem Wahlkampf geschuldet, weil ich
davon ausgehe, geschätzte Kollegin Nestle, dass auch
Sie wissen, wie unsere Haushalte momentan aussehen.
Um ein bisschen Leben in die Debatte zu bringen,
möchte ich fragen, warum wir bei der Umsetzung dessen, was uns die EU versucht hat zu diktieren, in Verzug
sind. Daran ist ganz maßgeblich der Kollege Gabriel in
seiner damaligen Rolle als Umweltminister schuld.
({3})
Herr Breil hat dies vorhin angeführt. In einem Gesetz
Tankstellenbesitzer verpflichten zu wollen, Fahrkurse
anzubieten,
({4})
ist lächerlich. Sie könnten ein Stück weitergehen und
könnten sagen: Warum können dann nicht auch Heizölhändler Holzhackkurse oder Strickkurse anbieten?
({5})
Meine Damen und Herren, das Problem war, dass wir
weit über das Ziel hinausgeschossen sind, anstatt uns auf
das zu beschränken, was man realistischerweise hätte
machen sollen. Ich glaube im Übrigen, dass man das
nicht im Rahmen eines Gesetzes wie diesem machen
kann. Man muss vielmehr ganz konkrete Maßnahmen
ergreifen, wie zum Beispiel das CO2-Gebäudesanierungsprogramm.
Zu dem, was vorhin zum Haushalt gesagt worden ist,
sage ich eines klipp und klar: Die 2,2 Milliarden Euro,
von denen gesprochen wurde, kamen durch einen Vorgriff auf die nächsten Haushalte zustande. Dass wir Mittel dieses Ausmaßes, nämlich in Höhe von 400 Millionen Euro, nicht gekürzt, sondern aufgestockt haben,
zeigt doch, wie ernst wir das Thema nehmen und dass
wir sehr wohl wissen, was dieses Programm einerseits
für die Erhöhung der Energieeffizienz und andererseits
für das deutsche Handwerk bedeutet.
({6})
Nun haben wir zunächst einmal europäische Vorgaben umzusetzen. Ich gebe Ihnen recht, dass an dieser
Stelle eigentlich die alte Regel von Montesquieu greifen
müsste: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Die EU meinte aber, ein solcher formaler Akt sei wichtig
und notwendig.
In unserer Regierungszeit müssen wir noch etliche
Dinge anstoßen, insbesondere die „Energieinitiative Mittelstand“, bei der unter anderem „Investitionsanreize
durch Änderungen im Mietrecht und im Energiecontracting“ geschaffen werden sollen, und die „Kennzeichnung
des Energieverbrauchs bei energierelevanten Produkten“, um mehr Transparenz zu schaffen. Hier werden wir
Etliches tun; das steht nicht ohne Grund in dieser expliziten Art und Weise in unserem Koalitionsvertrag.
Anders als von den Grünen und der Linken hier eingefordert, werden wir das durch Sensibilisierung und das
Setzen von Anreizen erreichen, aber nicht mit linken
Ideen im grünen Gewand, also ohne Zwangsenergiesparquote, Verbote, Gängelung, Planwirtschaft; das machen
wir nicht.
({7})
Ich sage Ihnen auch, warum: Der Endpunkt dessen, was
Sie - insbesondere die linke Seite - da im Kopf haben,
ist das, was in Rumänien zu Ceausescus Zeiten stattgefunden hat. Er hat nämlich um 18 Uhr den Leuten den
Strom abgedreht. Das mag Energie gespart haben und
war vielleicht auch für die demografische Entwicklung
gut; das mag durchaus sein. Das werden wir aber nicht
mitmachen.
In diesem Sinne ein schönes Wochenende.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Torsten
Staffeldt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass einige von Ihnen doch noch da sind.
Frau Nestle, Sie haben den Entwurf des Kabinetts entweder nicht gelesen oder nicht verstanden.
({0})
Diesen Eindruck musste ich zumindest gewinnen, als Sie
versucht haben, unseren Entwurf zu zerreden. Sie sind
auf Ihren eigenen Antrag so gut wie gar nicht eingegangen, wahrscheinlich weil Sie wissen, dass er inzwischen
völlig überflüssig ist.
Ich kann Ihnen sagen - das gilt auch für das BMWi -:
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. Das ist die Prämisse, unter der das Regierungshandeln steht.
({1})
Darum hat sich das Kabinett bis jetzt Zeit genommen,
den Entwurf vorzulegen. Im Übrigen hätte das die Vorgängerkoalition schon längst machen können. Sie haben
zu Recht gesagt, dass dazu 707 Tage Zeit waren; da haben Sie wahrscheinlich schön gerechnet. Das sind immerhin fast zwei Jahre. Das ist genug Zeit, um einen
Entwurf vorzulegen.
Das Kabinett hat jetzt einen Entwurf vorgelegt. Er
setzt die Vorgaben der Energierichtlinie der EU eins zu
eins um. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen geht
weit darüber hinaus. Er sieht Belastungen für die Unternehmen und die Energiewirtschaft vor und führt zu mehr
Bürokratie. Er will den Unternehmen und Bürgern vorschreiben, wie sie energetische Maßnahmen umsetzen
sollen. Vor allem soll er den Steuerzahler - das ist das
Schlimmste daran - 3 Milliarden Euro zusätzlich kosten.
Damit widerspricht dieser Antrag marktwirtschaftlichen
Prinzipien. Vor allem schränkt er die Kreativität und
Freiheit der Energiedienstleister und -unternehmen völlig unzulässig ein. Der Gesetzgeber muss die Randbedingungen festlegen, nicht die Ausführung; das ist nicht
nur eine liberale Überzeugung, sondern die Überzeugung dieser Koalition.
Ich nenne als Beispiel die in Ihrem Entwurf aufgeführte Liste von standardisierten Energieeffizienzmaßnahmen und -programmen. Glauben Sie, meine Damen
und Herren von den Grünen, dass Sie allwissend sind?
Sie schließen doch aus, dass es Innovationen geben
kann, die Sie in Ihrer tollen Liste noch gar nicht berücksichtigt haben.
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- Gerne.
Das mit den verabredeten Redezeitverlängerungen
funktioniert jetzt nicht mehr.
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Sie sind in der letzten Minute Ihrer Redezeit.
Okay. - Ich komme auf die Verpflichtung zur zertifizierten Energieeffizienzberatung, die 3 Milliarden Euro
kosten soll. Hierbei handelt es sich um grüne Klientelpolitik. Sie wollen die Ihnen genehmen Energieberaterinnen und -berater zulasten des Steuerzahlers finanzieren.
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Im Regelfall gibt es für das Geld Papier und eine Powerpoint-Präsentation.
Von Goethe stammt der Satz: „Es ist nicht genug, zu
wissen, man muss auch anwenden“. Das muss unser Ziel
sein. Wir sollten nicht grün gestrickte Berater finanzieren, sondern die Bürgerinnen und Bürger zur Nutzung
der Energieeinsparmöglichkeiten motivieren.
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Es sollte Programme geben, die zum Beispiel Unternehmen unterstützen, Druckluftleckagen zu beseitigen, und
Hausbesitzern Finanzierungen zur Wärmedämmung anbieten oder mit denen die Angebote von Verkehrsträgern
wie der ökologisch unschlagbaren Schifffahrt ausgebaut
werden können.
Der Kabinettsentwurf bietet dafür einen guten Rahmen; durch ihn wird die nötige Freiheit für Entwicklung
gegeben und werden die Bürgerinnen und Bürger und
die Unternehmen nicht zusätzlich belastet. Der Entwurf
der Grünen ist das Gegenteil davon. Er ist daher abzulehnen.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1027 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
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Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. Mai 2010, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und eine
erfolgreiche Woche. - Kollege Fricke, Sie haben Ihr Bedauern darüber ausgedrückt, dass wir schon am Ende der
Tagesordnung sind. Ich denke, wir haben einen großen
Vorrat an gemeinsamen Vorhaben, auch für die nächste
Sitzungswoche.
Die Sitzung ist geschlossen.