Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz.
Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kollegen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträglich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulieren
und alles Gute wünschen.
({0})
Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. April
auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen HansWerner Kammer. Herzlich willkommen!
({1})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
zur Sicherheit im Luftverkehr
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Finanzierbarkeit der FDP-Steuerpläne
({2})
ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 28
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen
- Drucksache 17/1422 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten
- Drucksache 17/1424 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemein-
schaftsdiagnose aufnehmen
- Drucksache 17/1423 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten
- Drucksache 17/1405 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier,
Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und
Futtermittelkette fernhalten
- Drucksache 17/1410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren
- Drucksache 17/1427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({6}), Tom Koenigs, Marieluise Beck
({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umgang mit Guantánamo-Häftlingen
- Drucksache 17/1421 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie
Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und
Arbeitsplätze
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regierungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird,
verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tagesordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunktes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen
Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich
Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereignisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken.
({9})
Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribünen, unter denen ich besonders den Botschafter der Republik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in der
Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei
dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen.
Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staatspräsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahlreiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staates und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats
und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kolleginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen
zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über unsere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den
vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren
uns zu Partnern und Freunden geworden.
Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation waren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmal
von Katyn der fast 22 000 polnischen Offiziere und Intellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheiten
des sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Katyn ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch,
dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischen
Polen und Russland gedacht war, mit einer solchen Katastrophe endete.
Die große Anteilnahme der internationalen Staatengemeinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis in
Krakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, die
Polen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unser
gemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischen
Völker und Nationen werden wir auch im Gedenken und
Respekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mit
umso größerem Ernst weiterführen.
Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischen
Volk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Unfalltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und der
übrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken den
Angehörigen der Toten und dem gesamten polnischen
Volk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Beileid aus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung haben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am
Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefallen sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordafghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der
Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. Wenige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit
Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei
wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein
Militärarzt getötet.
Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Soldaten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme
gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt
den Verletzten.
Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unserer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des internationalen Terrorismus auch und gerade dort verteiPräsident Dr. Norbert Lammert
digt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume
und Kommandozentralen hat.
Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen
Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bislang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten
beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeordneten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernsthaften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten
und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch
Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Entscheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundestag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die
Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wieder neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen
und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkritischen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört
dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines
beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf
die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichtigen.
Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf
dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung
zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokratisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen,
darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht
verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere
gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Lebens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in
Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen.
Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten.
Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir
unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir
eine schnelle und vollständige Genesung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung
auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch hierzu darf
ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir
Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten
Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen
Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef
Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen
mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak,
Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag
in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische
Soldaten.
Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem
Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spreche den Angehörigen, den Kameraden und Freunden
mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im
Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder
dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken
wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken
und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollständige Genesung.
Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehrrekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat
Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor
dem Reichstag gesagt - ich zitiere -:
Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück …,
einer heute friedfertigen Nation und ihrem … rechtlich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen:
Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.
Ende des Zitats.
Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde
und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung feiern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten
viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerzhaft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie missbrauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen
und demokratischen Werte dieses Landes.
Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten
haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten
oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, diesen Eid:
Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.
Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute
gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu
gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deutsche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unterschiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von
Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammensetzung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist
über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben.
({0})
Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.
Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer,
weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit
zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für
Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit - das haben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir
alle schmerzhaft erfahren müssen - ist ohne Verletzbarkeit nicht denkbar.
Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb
uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Unser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei
Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland begleitet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu
Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der vergangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen.
Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier
gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit
dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das
nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es
auch - wie viele andere aus diesem Hohen Hause - als
Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als
Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und
damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit
unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was
unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mittelpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.
Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger
gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Soldatinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich
erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das
verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen
Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kommen, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten.
Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derjenige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationalen bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu verharmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich:
Niemand von uns verharmlost; niemand von uns - ob er
im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz
gestimmt hat - verharmlost das Leid, das dieser Einsatz
bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei
Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer
hinterlässt.
Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminister Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor diesem Hohen Haus erklärt - ich zitiere -:
Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen
Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren
militärischer Organisation führt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im
Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizieren.
Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig
als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.
Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit
dieser Frage beschäftigt hat - und das unterstelle ich jedem von uns -, war dies vor der Abstimmung über das
aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut
fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen haben.
({1})
In einem Interview, das am letzten Sonntag in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist,
hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht
beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres geriet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht geschossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er
- ich zitiere -:
Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es
in diesem Fall.
({2})
Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu
verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der
Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert
wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm,
wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel.
Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die
Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von
uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt
für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres
Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder
gar nicht vorstellen können.
({3})
Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises
am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikanische Präsident Barack Obama gesagt - ich zitiere -:
Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der
Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese
Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich
der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten,
wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der
Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der
Aufopferung für sein Land, für die Sache und für
seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist niemals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nennen.
In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Namen nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn unseres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren.
24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung
und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben
ihr Leben verloren - auch infolge deutschen Handelns,
wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September vergangenen Jahres.
Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch
immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoffnungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder
wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge
Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre
Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer
wieder in Gefahr sind.
({4})
Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die
Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wichtig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als
Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu bekennen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel,
ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich unBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
abweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen,
können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So jedenfalls geht es mir. Dennoch - und so stehe ich wie die
große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.
({5})
Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als früher haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass
Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Afghanistan.
({6})
Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.
Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten
dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen anderen Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte
missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind
Lebensbedingungen katastrophal - und trotzdem entsendet die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um
sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan
geht es noch um etwas anderes.
Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsministers Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er
sagte vor Jahren:
Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.
({7})
Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender
ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bislang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine ausreichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeutet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch
am Hindukusch verteidigt.
({8})
Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben
zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die
weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das
ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der
Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt.
Der internationale Terrorismus und die von ihm ausgehende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Menschen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet - dies ist
eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch
sowenig man die Globalisierung abschaffen kann - was
ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn
man es wollte -, so wenig dürfen wir in unseren Anstrengungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begegnen, wo sie entstehen.
Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig,
darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die
historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die
zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit
dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjetischen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese
Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber etwas anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch
den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt internationaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht
wurde.
Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre
Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von
den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind
die Attentäter von New York und Washington und später
die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen.
Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt.
Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland
verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher lediglich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu können.
Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutschland wäre nicht im Visier des internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen
lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich unter den Bedingungen der Globalisierung die Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende
des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird
in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwischen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Konflikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominieren werden.
Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan,
die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt
verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern,
um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind
Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen Attacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind
die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten
Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die
auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns
gelangen können.
Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militärische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im
Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt
nur Ultima Ratio.
({9})
Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebunden an Völker- und Verfassungsrecht.
Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte
nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhaltung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in
militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung
und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio - das
ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und
zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die
wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer
geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mitglied unserer Bündnisse wahrnehmen.
Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den
Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO.
Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In
Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles.
Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem
Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtlichen Weg gegangen.
({10})
Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Aufbau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das gesamte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der
früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland international Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbündeten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspolitik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch
außerhalb des Bündnisgebietes übernommen.
War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges
noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige
Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von
Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999
erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im
Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Ausland, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag
der Bundeswehr wesentlich bestimmen.
({11})
Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Soldatinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Soldatinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im
Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittelmeer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Absicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie
finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen
Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein
wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und
Soldaten gesetzt.
({12})
Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird
ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich
auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen
kann
({13})
und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.
({14})
Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für
unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum
Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer
Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient.
({15})
Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar alleinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen
Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt
unverantwortlich.
({16})
Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie
versinken, auch die Folgen für die internationale Gemeinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwortung übernommen haben, und für unsere eigene Sicherheit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft
ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Gemeinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte
sie anders, wären die Folgen - das ist meine Überzeugung - weit verheerender als die Folgen der Anschläge
vom 11. September 2001.
Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afghanistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuklearmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass
ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der
Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden.
Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen
Staats- und Regierungschefs auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargipfel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig:
Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedrohungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie
al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu
kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit
als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angereicherte konventionelle Waffen zu bauen.
({17})
Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Afghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute
schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die
nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington
vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afghanistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuklearwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von
extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss
verhindert werden, meine Damen und Herren.
({18})
Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in
Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwischen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht
nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christentum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten muslimischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürzten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine
Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afghanistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann
gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die SiBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
cherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Sicherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindukusch verteidigt wird.
Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen,
dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch
gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Beginn des Einsatzes müssen wir feststellen - ich sage dies
durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzuweisung gegen irgendjemanden -: Es gab manche Fortschritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele
waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch.
({19})
Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug
einzuschätzen, dass auf der Londoner AfghanistanKonferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der
neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichenstellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan
vorgenommen wurden.
({20})
Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verabschiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwicklungspolitik eng miteinander verbunden sind.
({21})
Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte
Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejenigen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit
sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Angebot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres
Landes beteiligen wollen.
Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Sicherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich
in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabilität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen
wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.
({22})
Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und
Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen
unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat
ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Benchmarks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bilanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul
ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen
wird.
({23})
In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Voraussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Darum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der internationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um
einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht
um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entweder unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre
zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, historischen und religiösen Traditionen der afghanischen Gesellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Traditionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga
in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd.
Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische
Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung,
die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen kann.
Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der
DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheit.
({24})
Rechtsstaatlichkeit - das meint nicht nur, aber zunächst
die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrückung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in
der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt
oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese
permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat
in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevölkerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen
Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem
Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer
Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.
Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer solchen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unserer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die
NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist richtig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwicklung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die
Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung
dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht
wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bilden, die uns in Europa und der Welt bedrohen können.
Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die internationale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so
lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber
auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer angelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der
Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingeleitet haben und die wir erfolgreich beenden werden.
({25})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem
Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verloren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein
Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor
beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension unserer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroranschlägen werden.
({26})
Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen
unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig
in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in
dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht
Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank,
unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({27})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen
und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokratische Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfraktion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten,
die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger Anschläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erinnern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch
unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser
Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und
doch - das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele
von uns -: Niemand von uns kann das Leid der Angehörigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts
kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des
Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des
Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal
und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Afghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein
Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehörigen, Familien und Freunde wirklich trösten können.
Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklärung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten
müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße
Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz
der Bundeswehr bewogen haben, wirklich so wichtig,
so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit
sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Afghanistan.
({0})
Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so beschlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch
auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den
Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem
ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz.
({1})
Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen
Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was
deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Menschen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf
Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz
durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Parlaments in einer besonderen Verantwortung, die wir
nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir
entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jahren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich verpflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem solchen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt
nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso.
Natürlich kommen vielen von uns angesichts von
schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilisten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffenen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber
immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige
tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran
tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzulassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage
nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Menschenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Verbündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind
unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen
zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in
Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offensichtlich - machen wir uns nichts vor! - überzeugen wir
die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren
Begründungen und Zielen.
({2})
Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst
zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletzten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Akzeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung.
Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tiefen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen
und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch
und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirklich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der
Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit
mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit und ich sage: Das muss auch so bleiben.
({3})
In Deutschland werden Berichte über getötete und gefallene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität
und mit Gleichgültigkeit aufgenommen - auch das muss
so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso
wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölkerung.
Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteilnahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als
Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst einmal stolz sein.
({4})
Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in
unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz
einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwindenSigmar Gabriel
den Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entscheidungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch
die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen
steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Soldaten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die
wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für
richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung
der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zurückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Soldaten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärungen im Parlament.
({5})
Die SPD - und die sozialdemokratische Bundestagsfraktion - ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt,
dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Einsatz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan
weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist;
({6})
denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban
hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus
die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant
und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten waren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terroristen vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt
geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem
Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen
werden zu lassen.
Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es
unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben.
({7})
Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die
Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Taliban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölkerung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie
verwickeln die internationalen Truppen in einen asymmetrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Sprengfallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland - das
ist wichtig, auch bei uns zu registrieren -, auch in den
USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanistan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis
breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die gewünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewirken kann.
Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen
von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll,
welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deutsche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür
sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Leben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit
großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zugestimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Abbruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und
Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktuellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die
durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das
Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die
Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabilisiertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele
andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutschland, erneut und zusätzlich bedrohen.
Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist
sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in
Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute unter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen
befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Nationen - wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal
so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr - weiterhin um
die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens.
Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten
Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteiligen.
({8})
Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, militärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur
durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich
dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Nationen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag
der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Beschluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu einem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist
dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Einstieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den
Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im
Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanistan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale
Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen
Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die
afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstützung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und
noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung
- das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir
Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor wenigen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustimmung stehen.
({9})
Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich
diesem Mandat und der damit verbundenen verantwortungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann
sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher
Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemeinsame Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort
leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie verstehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen
in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen
Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer
Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit
dem technokratischen Begriff „nicht internationaler bewaffneter Konflikt“ nichts anfangen können, wenn sie
den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotionen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Soldaten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so
elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein
Echolot öffentlicher Gefühle.
({10})
Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit
einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht
und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unterschiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vorhin den Begriff „Krieg“ erläutert. Ich
lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Aufforderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz
„Krieg“ zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich gesagt hat. Auf die Frage:
Aber warum reden dann so viele in Berlin von
Krieg - bis hin zur Kanzlerin?
antwortet Herr Westerwelle:
… Krieg ist traditionell eine militärische Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit
der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung.
Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall.
({11})
Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht.
({12})
Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer
Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes „Krieg“
auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde
Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird,
wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan
schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterregenden Rohre schauen.
({13})
- Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche
Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundesaußenminister ausdrücklich zu.
({14})
Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afghanistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir
so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und
würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und
lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten
und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eigenen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir Sozialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen
für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon ausgegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von
Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir
haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist
und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem
die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur
Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur
Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als
habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg
entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejenigen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN
nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur delegitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum
Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären.
({15})
In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Probleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des
Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicherheit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in
Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er damit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun.
Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der
Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein,
ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis
vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister
„Krieg“, dass das Schwergewicht nun doch auf militärischer Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Aufbau gelegt werden soll
({16})
- Sie können diese Frage nachher beantworten -, oder
sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in
Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre,
wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAFKommandeur, General McChrystal, uns und der Öffentlichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivilbevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militärische Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und
politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Gegenteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der
muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht
ändern, weder semantisch noch faktisch.
({17})
Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstanden haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen
habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidigungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine
gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet,
am besten die des Außenministers.
Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie
gehen das Bundesverteidigungsministerium und die
Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an
Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatinnen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parlaments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die
mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen.
({18})
Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan
schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszuschlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde.
Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat entlassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von
50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht gegenüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in einem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir
ernster nehmen als bisher.
({19})
Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie
schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich
darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem lebensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern
auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht
endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumatisiert zurückkehren.
Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst
ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung
nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung
der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim
zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vorstellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren.
Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel
im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer
Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung
der Lage in Afghanistan zwei Elemente:
Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systematische und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des
bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir
unsere Ziele wirklich erreichen.
Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internationale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen
Versöhnungsprozess vorantreiben können.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu
den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns
- das sage ich nochmals - zur internationalen Verantwortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen
auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie
sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den
Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur
so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für
möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schicken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständliche Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und
diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es
anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu
geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche
Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in
circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der
Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei
den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen.
Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in
diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Soldaten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung.
Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut
zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Einsatz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an
der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu
diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene
Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch
rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Mandat hat keine Veränderung nötig.
({0})
Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung
der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategiewechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden.
Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit
über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Gefährlichkeit des Einsatzes gesprochen.
({1})
Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz
will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im
Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch
unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensiver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für
diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen.
({2})
Ich kann verstehen - ich sage das ausdrücklich auch
an die Adresse von Herrn Gabriel -, dass sich unsere
Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen angesichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten
und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Gefühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch
zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu
lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass
sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen
und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht,
dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur
Seite stehen will.
({3})
Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußenminister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat
für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschätzung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorgenommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im
Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert
hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen
Hause im Unklaren gelassen. Damit sind nämlich eine
realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und
eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und
Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizierung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Soldatinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhaltens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung
des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die
höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und
Soldaten.
({4})
Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns
neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstattung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine
öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des
Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Einsatz schicken, schuldig.
({5})
Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewechsel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist
Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv
ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen.
Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger
als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine
Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig,
dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so
verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit
und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völlige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivilen Wiederaufbaus.
Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der
nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für
sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive erkennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für
meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht,
wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in
der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das,
was erreicht wurde, zunichtegemacht wird und Afghanistan wieder zum Zentrum des internationalen Terrorismus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
({6})
Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein ziviler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afghanistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in
Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden,
zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive
für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlossen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird.
Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen
250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in
dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich
mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 - es
war insgesamt 1 Milliarde Euro - zeigt, wie ich finde,
eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle
herbeigeführt wurde.
({7})
Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen
eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben.
Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen können und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir
wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung
überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht
gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils
traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen.
Deshalb muss die Diskussion über nötige Reformmaßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum
der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul
stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich
guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und
Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und
Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Präsident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden
müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internationale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung
dieser Zusagen einfordert.
Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich
will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deutlich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönlichen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Entscheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung
des Mandats durch die Regierung intensiv.
Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan engagieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen
Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der
politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter
schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerkennung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass
sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundestages verlassen können.
Vielen Dank.
({8})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich vertrete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat:
Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es
wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder
Hinsicht recht hatten.
({0})
Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe
auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr
Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen
den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban.
({1})
- Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grünen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutschland nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus
schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist
das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen.
({2})
Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Soldaten hat.
({3})
Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die
für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd.
({4})
Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine einzige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet
und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forderung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde,
würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten verhindert.
({5})
Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten,
die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind.
({6})
Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Soldaten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen
und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des
Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, gerade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß
werden, dieses Fiasko zu beenden.
({7})
Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei
dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll
man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen
Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Regelungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden.
Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen,
im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr.
({8})
Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und
die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, anderen Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen
und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfahren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung.
Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAFKommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundeswehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt
doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Beteiligten mit sich.
Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur
Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht
wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der
zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seelischen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemängelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fachärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der
Bundeswehr gebe.
({9})
- Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört
betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus,
nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar
zu sagen.
({10})
Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im
Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und
Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und
Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen.
Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit
verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletzten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und
toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte abzufinden.
({11})
Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will
die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen.
({12})
Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig,
und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute
der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir
dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir
das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit.
Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen
meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sagen.
({13})
Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bundestag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 toten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ihrer gedacht hätten.
({14})
Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwierigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bundesregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf
Sie erinnern:
Am Anfang hieß es - das war Ihre erste Begründung -,
der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu
bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels
Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur
neuen.
({15})
Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen waren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Ausbildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass
die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in
Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung
stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo
er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann
müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Sudan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu
Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn
al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan.
({16})
Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus
wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog
zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen,
uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau.
Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den militärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung.
Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt,
die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgsgeschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was
Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein
paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glauben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren
Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustellen ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Armut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterernährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der
Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Einrichtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölkerung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In
Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Millionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO.
Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent,
sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewinnung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, sondern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und
Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist
denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit
acht Jahren mithilfe der Bundeswehr organisieren?
({17})
Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne
Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau
Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ihnen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus.
({18})
Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglichkeiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroristen zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man
ergo Frieden und nicht Krieg.
({19})
Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jährlich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses
Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären
wir dort deutlich weiter.
({20})
Also trifft auch diese Begründung nicht zu.
Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Taliban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe
um die Herstellung einer Art demokratischer Verhältnisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie,
das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet,
wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen
wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin,
wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben
wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die
alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir gehen?
({21})
Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der
Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in
Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in
Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen,
in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mädchen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionellen, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demokratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele
andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will
dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung
für Krieg in Afghanistan.
({22})
Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister
Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau
Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum,
zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaffen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in
Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt
es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie
in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen
Einsatz in Afghanistan.
({23})
Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden
ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie
die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begründung wäre.
Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Problem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung
überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue
einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen
müssen.
({24})
Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute
wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegenüber den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine
lassen könne etc.
Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner
Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sagen. Warum können wir hier nicht Nein sagen?
Zweitens. Kanada und die Niederlande haben beschlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie denen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie
gehen nur einen anderen Weg als wir.
({25})
Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat erklärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011
abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen von Frau
Will gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass
dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er
war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch
nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch
nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigstens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch
wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann.
({26})
Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was haben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist
richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch
keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie!
({27})
Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen
Sie endlich für den Abzug.
Herr Kollege Gysi!
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. - Ich sage es
ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos
raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Problem, mit dem wir es zu tun haben.
({0})
Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon
überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregierung und viele Mitglieder des Bundestages - weit mehr
als die Mitglieder unserer Fraktion - wissen: Dieser
Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt
nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so
schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und
endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit
der Bevölkerung unseres Landes zu handeln.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz
etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe,
pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu
Stellung nehme.
({1})
Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein darauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses
Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen
Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf
den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut gemacht habe.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten
Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag
wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und
unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Familien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteilnahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die
im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja,
auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung unserer Sicherheit und Freiheit.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen
tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns
heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan
richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanzlerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht,
warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret
der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusammenhang mit der strategischen Lage dieses Landes.
Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bundeswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am
Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungserklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was - das
müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen - der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundeswehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Landes am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in
diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus formiert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sagen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan
wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die
Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt.
({0})
Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen
Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass
wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswegen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das
letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der
Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen
Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben
es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen,
dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Terroristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass
dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere
Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afghanistan.
Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ihnen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form
her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre
Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Perspektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der
Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afghanistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können.
Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr
Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern
schlicht und ergreifend sagen würden: „Irgendwann,
morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan
ab“, dann würden wir die Menschen in großer Sorge und
Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen,
auf wen sie sich verlassen können, und die damit rechnen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie
sich nicht wehren können. Wir wissen doch - davon haben Sie keinen Ton gesagt -, dass Taliban-Kämpfer
nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das
darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicherheit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in
unserem Land gewährleistet werden.
({1})
Deutschland ist an einer Aktion beteiligt - dies hat
Herr Gabriel völlig richtig gesagt -, die von der UNO
beschlossen worden ist.
({2})
Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhundert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderungen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerechtigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in
der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einziges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durchzuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf
angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlossen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht
im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das,
was in der UNO beschlossen worden ist - dafür zu sorgen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht -,
umzusetzen.
({3})
Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht.
Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pakistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten
- wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte
ich Ihnen unterstellen -, dass vom Iran eine Gefahr für
die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht,
wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie
schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Verhandlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert
hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen,
wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir
wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. - Wenn wir
sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu verhindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was
diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht
verkleinert.
({4})
Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein bisschen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der
Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in
Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen
Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben
jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im benachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser
Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer
Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungslager nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser
Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt,
wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich
ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge
auszuführen.
Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in
Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unterbindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und fördert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die
Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht
verschwunden.
({5})
Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere
Möglichkeiten bekommen, ihre „terroristischen Aufgaben“ zu erfüllen, ist doch völlig klar.
Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formuliert werden, worum es geht und was die jungen Menschen
als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es
geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass
der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen
neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergreifend darum, dass diese jungen Menschen einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem
Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr
Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in
unserem Land.
({6})
Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen
mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass
eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan
Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei auszubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bilden in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte
aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus,
damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies gelingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete
afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und
aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afghanistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn
wir das erreicht haben - wir gehen mit ganzer Kraft heran -, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit verantwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicherheitskräfte legen.
({7})
Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie
nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und
die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die
Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem
Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser
Ziel erreicht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass
wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Soldatinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche
Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regierungskoalition zu, dass wir das, was die militärische
Führung und der Bundesverteidigungsminister an Ausrüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbildung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen
werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Soldatinnen und Soldaten verlassen.
({8})
Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod
der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Einsatz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für
uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen
Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer
wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in
den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei dieser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unserer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hoffen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem
Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir
aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicherheit der Menschen in unserer Heimat.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,
wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regierungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen
wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getöteten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren
Angehörigen.
Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier
ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine
wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen
wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungseinsatz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist
eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere
Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müssen sie das noch tun?
Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Antwort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weitgehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fortgesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit
geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaftigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, obwohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer
bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt,
das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den
Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Aufklärung kann nicht die Rede sein.
Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und
ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das
auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrieben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwerpunktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen
hin „zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung“. Wir
haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was
General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort
in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat
er trocken gesagt: It’s classical counterinsurgency. Also
klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie
„grundsätzlich defensiv“? Es kann ja sein, dass Sie diese
Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten
Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Gegenteil.
({0})
Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem
Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering,
das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen
haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer offensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor
gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist.
Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu
Guttenberg - ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar
2010 -: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr
Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine
Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die
Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt
hat.
({1})
Partnering - auch hier zitiere ich Stanley
McChrystal - ist gefährlich und mit extremen Risiken
verbunden. - Das kann man heute nachlesen. Er führt
weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei herumzureden. - Ja, der General hat recht, und ich hätte
mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei
ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen
Brei herumzureden.
({2})
Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil
Sie sich jetzt trauen, das Wort „Krieg“ in den Mund zu
nehmen.
Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da
reingestolpert sind - Sie tun so, als ob Sie hineingestolpert sind -,
({3})
fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir
muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen
die Gefährdung durch Sprengfallen - durch sie sind die
Soldaten gestorben - vermindern wollen. Das ist einfach
nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber
hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht.
({4})
Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bundeskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut
haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie haben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter
Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der
Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auftrag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen
Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet
sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internationalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete.
Das ist verständlich.
Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was
Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr
Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete gefunden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der anderen Seite und die Nordallianz, die schon heute in seiner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren
potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er
sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA gesuchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen internen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen.
Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befriedung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen
schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann
nicht den Mut, zu sagen: „Das ist der Preis für die Stabilisierung Afghanistans“? Warum drücken Sie sich vor
diesen unangenehmen Wahrheiten?
({5})
Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber
töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere
Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist
doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten
müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin
sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Afghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es
gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber eines weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen
Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen
ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg.
Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine
Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch
Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der
Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten
immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen,
wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die
Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die
USA haben das nicht vor.
Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht
auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in
Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird.
Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine
Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die
verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen
und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen
haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen
nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulieren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.
({6})
Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben Anspruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange
sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort
sind Sie heute schuldig geblieben.
({7})
Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken
wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Ressourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege,
das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte genannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher gewordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Nationen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird
auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern.
Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich
dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland
wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade deshalb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten
dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der
Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes
von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evaluierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afghanistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Koalition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün.
Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu lassen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus diesem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen
und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung
bemühen, einen Anspruch haben.
Vielen Dank.
({8})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografischen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi
nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr
Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen
Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat,
den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich
verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kritischen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende,
polemische Bemerkungen verzichten sollten.
({0})
Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie
hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung,
dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des AfghanisElke Hoff
tan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber
nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen,
dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit
haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele
dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist.
({0})
Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch
zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Counterinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine wesentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counterinsurgency durchführen zu können, ist natürlich die Stabilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Führer in der NATO, der bisher behauptet hätte, dies könne
allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber
es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisierung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche
staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist
die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik
Deutschland übernommen haben.
({1})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut
daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag
für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt haben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an
dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewähren.
Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht
darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschiedlichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen
und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in
Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen - auch, wenn es sehr
junge Kolleginnen sind -, dass im Deutschen Bundestag
keine Plakate gezeigt werden, auf denen „Beim Bund ist
alles doof“ steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm
abgebildet ist,
({2})
hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als
gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht.
({3})
Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen
Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt gezollt wird.
({4})
Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Soldaten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in diesen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den
wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag
gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die
gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt,
die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der
Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten
unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Entscheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen
Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt
haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mittragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir
es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen
und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen
sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem
Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz
gewollt.
Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu
setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in
diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel,
aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten,
dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politisches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexität dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie.
Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir
müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen
und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Gemeinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung erfüllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu
ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen,
damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der
wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevölkerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam
eine Mission zum Erfolg gebracht. - Dafür kämpfen wir.
Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Soldaten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen.
Vielen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele
das Wort.
Danke, Herr Präsident. - Mir liegt daran, klarzumachen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle
Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn
beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der
Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht
hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan,
und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des
Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz
der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal
zur Kenntnis nehmen.
({0})
Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ablehnung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein
Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der
Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General
McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht,
doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die
Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln
könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es
ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können
das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der
Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der,
wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch
vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem
Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch
im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der
Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen
unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige
Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben
werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu
deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir
können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Gewissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen
Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müssen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer
Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen
den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung.
({1})
Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff.
Herzlichen Dank, Herr Präsident! - Sehr geehrter
Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der
überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan
nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist,
sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida,
und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen Anspruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge
nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge
durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbevölkerung in Afghanistan genauso schuldig machen,
wenn wir ihr diesen Schutz verweigern.
Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern
sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was
der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Sicherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat
zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwiegende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei
Dank hinter diesem Einsatz.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den
letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten
in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich
dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer
sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind
auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten
und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in
dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses
Thema reden.
Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat - es war die
große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses -, kannte
diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer
Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie
unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind,
ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragender Weise tun.
Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hingewiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion
Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine
Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die
internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen,
gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung geworden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber
Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fragen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehrheit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es
sind.
({0})
Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von
2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen
- das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verabschiedet worden - die Grundlage dafür gelegt, dass dieser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen
stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren
deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in
Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich
darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle bedroht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf
den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere
Lebensart zu zerstören.
({1})
Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf
dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine
Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebensfreude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschenwürde gibt.
({2})
Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönliches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die
Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern.
Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehemaliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses
Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat,
jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem
klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzuhelfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaffnen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen
Zustand gebracht wird.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({3})
Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so
stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man
hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte.
Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn
man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb
falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt richtig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und
Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die
Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbündeten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region
zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau
Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen Aspekt hingewiesen hat.
({4})
Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es
Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan,
sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Region. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es
al-Qaida gelingen würde, Macht - sei es direkt, sei es
nur indirekt - über atomare Sprengköpfe in dieser Region zu erlangen.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afghanistan eine sich selbsttragende Ordnung zu schaffen,
eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort
einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für
den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine
gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung,
die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevölkerung versorgt wird.
Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivilen Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben
Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese
zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der internationalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch,
was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen
würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance.
Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die
militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bisher die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen
Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist
es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen
Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine
militärische Absicherung geben. Das ist die Lage.
({6})
Die Bundesregierung hat eine klare Strategie - nicht
sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mitgestaltet - zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie,
die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel „Übergabe in Verantwortung“ zusammengefasst wird. Sie setzt
voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen
handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür
müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet
sein.
Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dankbar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit
den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Ausrüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das
eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch
sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in einer solchen Auseinandersetzung keine hundertprozentige Sicherheit geben kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der
Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes
ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des
Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung
der Menschen in unserem Lande.
({7})
Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Morgen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen
sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in
einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die
Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest
erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen
vorgeht.
Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff
„Krieg“ und wer wo was gesagt und interpretiert hat,
dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten
fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimension. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension.
Aber es gibt für den Begriff „Krieg“ vor allem eine emotionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass „Krieg“ im
klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die
Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staaten steht. Aber emotional ist „Krieg“ das Synonym für
Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte
Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Beispiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu
oft vorkommt: Er oder ich - wer wird überleben? In dieser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt.
Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt:
„Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt“? Ja, die
Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg
eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer
freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Soldaten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen.
Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem
Krieg nicht allein gelassen hat.
({8})
Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut
der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist
ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite
unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere
Freiheit. Wir danken ihnen dafür.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz
deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr
Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie,
Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals
in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den
Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach
dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich
Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02
nicht wiederholen.
Wir haben in den 90er-Jahren gesehen - rückblickend
hat es sich als ein Fehler herausgestellt -, dass es nach
dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die
Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des
Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben
al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Terrororganisation brauchte, um die Anschläge auf das
World Trade Center, auf das Pentagon und auch in anderen Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen.
({0})
Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan
nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die
internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem
über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken,
die wir heute zum Ausdruck gebracht haben - beginnend
mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am
Anfang unserer Sitzung -, machen sich doch auch die
Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von
220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise
Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und
Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen
Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn
die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten
und in Aserbaidschan - ich will jetzt nicht die über 40
Länder alle aufzählen - nicht zu der gleichen Einschätzung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin
in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die
internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem
Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist
auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel
steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere
Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach
wie vor richtig.
({1})
Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die
Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhüten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den
Stichwörtern „Taliban“ und „Frauen“ nachzuschauen.
Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frauenorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den
Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu erleiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschriften oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Fingernägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen
wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnitten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichtiger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Ja.
({0})
Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen
und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt.
Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das
nie wieder passiert.
({0})
Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen
sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg leiden.
Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisationen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit
Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Situation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai
und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft
in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich
jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können
den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qualen - des Geschlagenwerdens usw. - nicht ertragen. Das
heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft,
diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt gegenüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung gehört, zu beseitigen - auch unter dieser Regierung nicht.
Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es darzustellen.
Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und
der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es
nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt
gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afghanischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen
im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlimmen Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch
bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen
in die Schulen gehen können, Frauen studieren können
und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von
den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land
verbessert.
Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung
beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der
Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die
von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Taliban in Kabul wieder herrschen würden.
({0})
Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sagen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr
präzise beschrieben:
The insurgents have two primary objectives: controlling the Afghan people and breaking the coalition’s will. Their aim is to expel international
forces …
Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel.
Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schrecklichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck
erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn
weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen
und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen,
gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und
laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein.
({1})
Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur
die Assoziation „Turban, langer Mantel, barfuß oder mit
Sandalen, Kalaschnikow“ haben, sondern müssen auch
an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spiegel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche
Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deutschen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfolgen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen.
Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art
und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die
Diskussion führt.
({2})
Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen sicherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von
der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses
Bild auch in unseren Reden vermitteln.
({3})
Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der
Außenminister und der Verteidigungsminister - sie alle
tun es in der gleichen Weise - von kriegsähnlichen Zuständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu
charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrechtliche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es
ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen
diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll,
({4})
um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völkerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen,
dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten
wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider
Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso.
Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Vermengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische
Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir
müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher
Einsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich gesehen, keinen Krieg.
({5})
Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie
haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen
Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ihnen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir
uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verantwortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jahren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan geherrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die
afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze möglichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht verzichten. Sie wissen aber sehr genau - deshalb war Ihr
Vorwurf unredlich -, dass bei den Gesprächen, die
Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht
einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungsprozess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die afghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll,
worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Gewalt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgrenzung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten
Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess abspielen muss.
Eine letzte kurze - meine Redezeit ist gleich zu Ende Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir sprechen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Afghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir
die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über
Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr geredet. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den
Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran
ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Drogenanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die
Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es
sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine
Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida.
Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit
haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu
lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem
möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen
würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit
einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im
Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem
Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region
zubilligen.
({6})
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mit guter Arbeit aus der Krise
- Drucksache 17/1396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Realitäten in unserem Land über die Frage unterhalten, wie
es um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situation
der Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen
müssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Gewinnerwartungen der Unternehmen gab, die von der
Politik entsprechend unterstützt wurden, war die Situation in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohnquote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderungen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat von
Gerhard Schröder vom Februar 1999:
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der
die Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen beziehen, wieder in Arbeit und Brot bringt.
Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat im
Einzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben.
({0})
Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsverhältnissen arbeiten - Sie wissen das -, von denen man
nicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzungen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären und
gut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmen
unseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs,
die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbau
des Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit haben
bei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeitsverhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzahler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüssen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um die
Menschen überhaupt am Leben zu halten.
({1})
- Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ich
weiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeit
schafft.
({2})
Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen haben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozial
ist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schon
ein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Menschen wirklich arbeiten.
({3})
Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungen
Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund
- das mag nicht Ihre Klientel sein - ist dramatisch. Wir
müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns der
Realität zuwenden, dass die Menschen nach einer Umfrage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und festes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das entscheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestellt
worden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008
waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oder
in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeitnehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 Millionen
Arbeitnehmer - das ist fast ein Viertel der Beschäftigten
in unserem Lande - nur noch mit Niedriglöhnen abgespeist werden und kein vernünftiges Einkommen mehr
bekommen.
({4})
- Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Sie
die Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistik
fälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagentur
für Arbeit aus dem Jahr 2009.
1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufstocken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Leben
zu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen
haben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine unbefristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jährigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustand
dürfen wir uns nicht abfinden.
({5})
Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleicht
nicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was die
Süddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrieben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: „Teilzeit
und Leiharbeit fressen Demokratie auf“. In dem Artikel
über die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es:
Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die solchermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können
({6}). Es ändert sich das Maß, in dem
Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen Klaus Ernst
und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mit
den Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch Institutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführt
wurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik,
sondern auch in der Wirtschaft geben muss.
In dem Artikel heißt es weiter - das finde ich nun wirklich sehr bemerkenswert -:
Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigt
ist, wird auf die Gründung einer Familie vorerst
verzichten.
Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr anwesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau von
der Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in der
Bundesrepublik sorgt und die Familien in den Vordergrund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch in
den Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigen
oder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eine
Familie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Job
bloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbeiter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise als
Erster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Familienpolitik.
({7})
Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch aus
folgendem Grund so interessant:
Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf der
Bezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen.
Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigter
allenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsrat
konsultieren, und schon gar nicht wird er ({8})
auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren.
Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unserem
Land geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelbaren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmittelbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um einen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Den
müssen wir doch wohl gemeinsam verhindern.
({9})
Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie ausweislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leiharbeit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leiharbeit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondern
letztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätze
abzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betrieben
zu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie
in Ihrem Koalitionsvertrag schreiben:
Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von
Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sachgrundlose Befristung nach einer Wartezeit von einem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demselben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis
bestanden hat.
Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht verschlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie im
Koalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutz
obsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigt
werden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus den
Betrieben entfernt werden.
Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Regelung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohn
bei gleicher Arbeit.
({10})
- Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genauso
gut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter anderem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarife
abschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Möglichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem muss
sich die FDP anschließen.
({11})
Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohns
verweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sich
lohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität,
Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden.
({12})
Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dass
befristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwendet werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeitsvertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet werden. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die der
Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, ausgehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unter
anderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird und
dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch
verbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müssen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem herauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft arbeiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssen
sich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schaut
das Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettel
schreibt: Ich komme heute Abend später. - Wenn er wiederkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrieben: Ja, ich habe es gemerkt. - Das ist nicht der Zustand,
den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf besser vereinbart werden können.
({13})
Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in unserem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern,
realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungsdauer der Kurzarbeitsregelungen hat nicht geholfen.
Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssen
sie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir ändern.
({14})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Johann Wadephul.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß
Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die soziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Exportartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir
immer wieder - besonders in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr
erlebt haben - über die Neujustierung unserer Sozialpolitik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgreifen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein
Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnissen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch
von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir bereits kritisch diskutiert. All das ist notwendig.
Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag
Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozialistisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen
ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird versucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in
Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarifvertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag
dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird.
({0})
Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ihres Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen
peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu
schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindigkeit.
({1})
Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befassen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem
Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls
wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich
nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun.
Die Forderung, die Sie aufstellen - in Ihrer Rede war das
etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig -, die
sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig
abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich eingangs kritisiert habe.
Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die
Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
einem Sachgrund - damit haben Sie recht - befristet einzustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschaftsvertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge,
dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen,
oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Arbeitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach
aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den
Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen.
Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn
man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaffen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen
wir das schlicht und ergreifend ab.
({2})
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? - Herr Kollege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Bitte.
Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. - Sie haben
verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie haben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb
möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Ausführungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine
sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber
das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte
erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe,
die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kommen, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss,
ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie meiner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sachgrundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen,
zu dem Ergebnis geführt hat - ich habe es vorhin angesprochen -, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen
Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben
eingestellt wird?
Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stelle
missverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede haben
Sie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Deshalb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt.
Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80erJahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit,
ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristet
einzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen befristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse geworden. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat,
weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauerhaft übernommen.
({0})
Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stellen. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Recht
verankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ihnen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlich
nicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich ein
unbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ich
gesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir uns
ganz genau an, was wir modifizieren.
Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, der
mich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts gesagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in die
Tarifautonomie. Diese ist Ihnen - das wissen wir aus der
Mindestlohndebatte - ohnehin nicht so wahnsinnig viel
wert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingreifen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern hergestellt wird.
Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sie
den Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau darauf
nicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zeigen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, die
dem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem von
vornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet!
So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen der
Einzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das ist
das Erste.
({1})
Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist
die Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgsmodelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nachkriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das aus
FDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen als
Modell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnen
nur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaften und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spiel
der Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushandeln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nicht
Aufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehlentwicklungen in der Weimarer Republik und der DDR
ziehen. Dabei bleiben wir.
({2})
Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Linken teilweise noch in einer utopischen politischen Welt
leben und noch immer nicht begriffen haben, dass die
DDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern
auch sozialpolitisch gescheitert ist.
({3})
- Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt möglicherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das aber
vertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Das
müssen Sie miteinander aushandeln.
({4})
Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, was
Sie vorschlagen - auf einige Einzelregelungen werden
die nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen -,
lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemals
unfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf kein
Zukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein.
({5})
Das bedeutet im Ergebnis - das möchte ich Ihnen klar
sagen -: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen das
soziale Klima - Sie sprechen von sozialer Kälte - für
eine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlich
ist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenen
Sommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frankreich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Das
ist in der Tat eine Entwicklung - das sage ich insbesondere im Hinblick auf den Wahlkampf in NordrheinWestfalen -, die wir mit Sorge sehen.
({6})
- Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unruhen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten
ein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sagen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollen
nicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden.
({7})
Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganz
gut.
Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politische Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nordrhein-Westfalen.
({8})
Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vor
der dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungen
der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worum
es geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wir
brauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesondere
von Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- und
Nachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aussagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einer
Frau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Konstellation sie anstrebt und welche sie definitiv - hoffentlich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaubwürdigkeit - ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss,
dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Marktwirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verantwortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant.
Vielen Dank.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Wadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag der
Linkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben da
einen sehr weiten Bogen gespannt.
({0})
Sie haben zunächst - wie ich finde: zu Recht - kritisiert,
dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palette
von unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Man
könnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über das
man in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutieren
kann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unterschiedlichster Art zusammengeschrieben. Das macht
eine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmöglich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige wenige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für besonders wichtig halte.
Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeit
zu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialdemokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeitnehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. Die
Ergebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen,
dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit ein
auf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem die
Menschen einigermaßen vernünftig leben können.
({1})
Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ich
dies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nicht
bestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestens
zwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
zu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweise
in keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehlentwicklungen sind teilweise von der Politik gefördert
und befördert worden.
({2})
Also können sie von der Politik auch wieder korrigiert
werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es für
eine Schande halte, dass in einem der reichsten Länder
der Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen,
dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben können. Das ist nicht christlich.
({3})
Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht.
Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zum
Armutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dass
auf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechs
Hartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind,
von ihrem Lohn aber nicht leben können und über HartzIV-Leistungen aufstocken müssen.
({4})
- Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zu
diskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir es
ändern wollen.
({5})
- Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Regelungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erheblichen Teilen weitere Verschärfungen hier im Deutschen
Bundestag angestrebt.
({6})
Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstellen, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten,
zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehen
wir weiter.
({7})
Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keine
Zwischenrufe gemacht werden.
({8})
- Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht?
({9})
Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwicklung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuverdienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügiger
auszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproblematik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Überzeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion,
dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unternehmen, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren,
({10})
dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler davor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müssen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohndumping.
({11})
Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechende
Bestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unseren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschließen.
Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht,
warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einer
möglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. Der
Deutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letzten
Bundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von
96 Prozent die Forderung nach der Einführung gesetzlicher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaften
sind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Gewerkschaften der Auffassung sind, dass es der politischen
Unterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumindest im untersten Einkommensbereich halbwegs menschenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich die
Politik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mit
Eingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun.
({12})
Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man debattieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei
- 10 Euro brutto die Stunde - angemessen ist. Ich plädiere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Dieser
Vorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen arg
populistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien,
anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegen
kann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungsfreigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschuldung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, heOttmar Schreiner
ranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa
1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würde
ungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegsmindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stunde
entsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Gewerkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongress
ähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädiere
sehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen möglichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu
suchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind.
Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeitsmarkt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter,
prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Die
Arbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumente
betrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielen
Bereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der Instrumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss ein
Riegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hier
das Gegenteil.
({13})
Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Befristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in die
falsche Richtung.
({14})
2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neu
geschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. Die
Union behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein.
Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familienund kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann oder
eine 30-jährige Frau - das ist übrigens unabhängig von
der Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierte
und sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sie
den Start ins Berufsleben massiv vermiesen - nicht wissen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befristung noch angemessen kleiden und ernähren können,
dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brauchen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnisses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegs
vernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stärkung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer angelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindämmung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung.
Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundert
im modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sie
als christliche Partei nicht ernsthaft wollen.
({15})
Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutschland die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher die
tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahren
jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut überstanden hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibilisierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitgemäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mit
Qualifizierung und zum anderen mit dem sehr verantwortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Das
sind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Arbeitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Angesichts des anstehenden demografischen Wandels - ein
Facharbeitermangel wird vorausgesagt - wäre es grottenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen.
Es kommt jetzt darauf an - das ist die zentrale Aufgabe
der Politik in der nächsten Zeit -, dass diese bewährten
internen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltet
werden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen,
wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist,
und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmerfeindlichen Flexibilisierungsinstrumente - Leiharbeit,
zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. zurückzudrängen.
Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken,
weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kollegen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unverständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen aus
Untersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz gleicher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Prozent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gigantische Diskriminierung von Frauen ist!
({16})
Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen rechtlichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beim
Lohn diskriminiert werden, berufen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen.
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Redezeit zu Ende, Frau Präsidentin.
({0})
Es geht - diesen Punkt werden Sie nachher wahrscheinlich noch angreifen - um die Positionierung zu
politischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz Klaus
Wiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Hohen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG BauenAgrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bundeskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt:
Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Gewerkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäre
aber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschaftsbund, dafür zu kämpfen …, dass in der Bundesrepublik Deutschland genau wie in den anderen europäischen Ländern auch der politische Streik eine
Selbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig …
Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschiedenen Städten - Köln, Berlin und anderen - gestanden und gegen den Sozialabbau dieser Republik de3502
monstriert. Da ging es ja auch um eine politische
Demonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. Der
Streik kann ja auch durch eine Demonstration an einem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hat
niemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten.
Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Mit dem großen Sündenfall von
Adam und Eva begann die Vertreibung aus dem Paradies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ich
muss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nicht
den Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich die
Rolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe.
Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Eva
waren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch.
Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blick
zu haben.
({0})
Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn
man ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel „Mit guter
Arbeit aus der Krise“ bietet eine Steilvorlage für viele
philosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein.
Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht;
das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitik
nennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, muss
es der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeit
geben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit?
Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krise
gibt: Wer macht dann die schlechte?
Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr als
sechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neu
zu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits beliebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende der
Rockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mit
allen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreens
dieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über uns
ausgießen.
({1})
Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nie
Hits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Linken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sie
uns wieder verschweigen, woher das Geld für diese
Wohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürften dafür nicht ausreichen.
({2})
Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ihren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, in
Deutschland herrschten katastrophale soziale Zustände,
die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegenüber Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen davon, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird,
Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungen
als vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klima
der Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spielen die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sorgen der Menschen.
Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose,
sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen auf
den immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistungen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung,
ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen in
Deutschland gerade auch diese Beschäftigungsform aus
ganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz bewusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Arbeitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge,
dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen und
viele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen,
den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nicht
genug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Dabei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haushalt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unserer
Ausgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird.
Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.
Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesserungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hinzuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlossen.
({4})
Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirtschaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andere
Länder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert die
christlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch einmal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerinnen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemeinschaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs
1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen.
Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun etwas für die Menschen in diesem Land, statt nur leere
Versprechungen zu machen. Anders als den Linken ist es
uns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss,
anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne über
diesem Land auszuschütten.
({5})
Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, der
dazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaft
leistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, anstatt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihm
den Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken es
gerne hätten.
({6})
Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zur
Leistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vom
Leistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDRWirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diese
sollte hier heute nicht unser Maßstab sein.
({7})
Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität ist
keine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänen
mindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Menschen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen,
die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzügig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündigungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohnes
werden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Gegenteil wäre vielmehr der Fall.
({8})
Wir können nicht die Augen vor der globalisierten
Welt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätze
nicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt gefährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millionen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen.
Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Menschen vorgaukeln, ist ein einziges „Wünsch dir was“.
({9})
Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein reines Sachbuch.
Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umverteilungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegenden
Antrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Konzept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus der
Krise führen kann.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit ist
unübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeitbeschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische als
auch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folge
reichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Abstieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft.
Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Niedriglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen.
({0})
Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Ob
die Beschäftigten von ihrem Lohn leben können oder
nicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es auch noch
die unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmsten
werden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kann
nicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unserer
Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
({1})
Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Was
macht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Positionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radikalen Forderungen aus Ihrem Programm vor.
({2})
Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen.
({3})
Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland,
das es so nicht geben wird und das auch linksorientierte
Bürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir brauchen
eine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft.
Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das
macht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirklich ernst.
({4})
So werden Sie ihm nicht gerecht.
Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt und
treten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhne
und gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibt
es in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigt
sind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stärkere Regulierung der Leiharbeit, damit die „Schleckerisierung“ in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollen
Mindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung.
Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eine
echte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheit
zwischen Männern und Frauen.
({5})
Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Handlungsbedarf.
({6})
Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige Forderungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Bedrängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Beispielsweise reden Sie immer von „der Wirtschaft“.
Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem dem
Handwerk nicht gerecht.
({7})
Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegen
häufig woanders.
Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen die
Minijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordern
wir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich unser Progressivmodell.
In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen Forderungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ich
habe einen höheren Anspruch an unsere parlamentarische Arbeit.
({8})
An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlich
unehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien.
Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statt
eine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu fordern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eine
auf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmöglich wird.
Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmoratorium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auch
ich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmoratorium.
({9})
Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Regierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfungen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen anmahnt.
({10})
Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, die
ich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wollen die paritätische Unternehmensmitbestimmung auf
alle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen und
fordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zwei
Drittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieser
Forderung schießen Sie über das Ziel hinaus. Würden
Ihre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundesrepublik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidungen wären dann nicht mehr möglich.
Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbestimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmung
fordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es um
gleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwischen den Beschäftigten und den Unternehmen.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kollegin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Erlauben Sie sie?
Ja.
Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein
Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu informieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis
auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird,
als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unserem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt
ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren Antrag konkret für die Streichung des Sanktionsparagrafen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vorschläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu
dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es
im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vorschläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbarkeit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an
dieser Stelle gerne hinweisen.
({0})
Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den
Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe,
habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herumeiern.
({0})
- Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man herumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn
man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen
mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmoratorium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen anderen Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermittlung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man
muss keine anderen Forderungen stellen.
Die Kollegin möchte erneut nachfragen. - Sie erlauben es? - Frau Kipping.
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass
Sie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung der
Sanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies noch
nicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretene
Position. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, die
sich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen ausgesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr angemessen, dass man sich über weitere ZumutbarkeitsKatja Kipping
kriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass man
auch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis der
Sanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frage
ich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nicht
nur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III - das heißt
dann Sperrzeiten -, und dass es auch für diesen Bereich
sehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskriterien gibt.
Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlprogramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktionsmoratorium wollen und dass die Vermittlung in Arbeit
bzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkeiten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Von
daher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es steht
auch in unserem Wahlprogramm.
({0})
- Wie bitte?
({1})
- Okay, machen Sie das.
Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischem
Streik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches gesagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regierung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlich
schon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopuläre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks gerechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur Kollegen
Schreiner unterstützen: Wir können jederzeit streiken
und politische Demonstrationen machen. Daher braucht
man so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern.
Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder einmal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhne
fordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei noch
in den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen gesetzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber,
dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von
10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zur
Kenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen um
den höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wäre
es, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen,
weil dieses Thema momentan das wichtigste ist.
({2})
In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: Stellen
Sie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Men-
schen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerecht
und fair entlohnt werden.
Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetzt
noch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie in
der Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätze
zu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzieren
wollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich,
zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, die
sich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren und
gut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt es
einmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nicht
richtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regie-
rungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 Millionen
Arbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit Ihrem
Spiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus,
dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen können, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus erneuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohle
verzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal innerhalb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen.
({3})
Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regierungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftigten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unserer
Gesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft
mit dem Thema „gute Arbeit“.
In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sagen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahrscheinlich auch gemerkt.
({4})
Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist für
mich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt.
Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es macht
auch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichen
zu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diese
wichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesem
Hause ernsthaft mit dem Thema „gute Arbeit“ auseinandersetzen, und zwar im Interesse der Menschen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei dem Antrag der Linken „Mit guter Arbeit
aus der Krise“ trügt schon die Überschrift. Sie müsste eigentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immer
weiter in die Krise.
({0})
Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sich
der Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleid
des Neides durch die Gesellschaft.
({1})
Unter dem Punkt „Zumutbarkeit verbessern, Qualität
von Arbeit in den Mittelpunkt rücken“ fordern Sie zum
Beispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheit
müsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundgesetz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft geben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistisch
ist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sie
vorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welch
schlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeitsmarkt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt ist
grau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Sie
mitregieren.
({2})
Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzarbeit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Menschen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn die
Konjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Arbeit.
({3})
Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angaben
des Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhne
um 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahl
stimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in
2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Finanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sie
verschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, der
Rückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vor
allem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzahlungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlungen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensektors, der Versicherungen oder der Automobilindustrie
hinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundvergütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzulagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte gestiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, das
positiv zu kommentieren.
({4})
Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. Der
Rückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben dem
Einbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor allem
an der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt,
weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasst
wird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommen
der von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhne
sanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseits
für gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statistisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um
1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Väter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauer
befreit wurde.
({5})
Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwortung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Gesellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hass
unter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehen
falsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheit
aus.
({6})
Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhnlich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklich
eine andere.
({7})
- Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. - Vielleicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze,
weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeitgeber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestanden
habe.
Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur
12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine gute
Arbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeit
als mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ich
kenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal
2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarktindex des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktuell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, und
sie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragten
fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelte
Zufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zuletzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 - trotz
der von Ihnen als „katastrophal“ bezeichneten Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Sie
haben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondern
frönen ideologischer Fiktion.
({8})
Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejenigen, die am wenigsten in der von Ihnen geforderten
Weise vom Staat abgesichert werden, also die Selbstständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit einem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auch
das passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß.
Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Auf
dem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogar
von einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millionen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück.
Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis
3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr das
Niveau des vergangenen Jahres. Das sind immer noch
viel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollen
und müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unseres
christlich-liberalen Selbstverständnisses.
({9})
Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir als
Regierungskoalition verschließen nicht die Augen vor
der Realität. Wir sind uns der demografischen HerausMechthild Heil
forderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zur
positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt,
wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsleben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besseren
Zugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mit
Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in gute
Arbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbausteine. Wir packen die Probleme an.
Vielen Dank.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindet
sich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise als
nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden uns
in einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Menschen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung.
Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit und
in der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichen
Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden.
Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden.
Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwann
rechts in eine Sackgasse abgebogen.
({0})
Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik.
({1})
Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutige
Wirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich:
Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um
die Eroberung der Märkte und von einem knallharten
Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Produktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zwei
betriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie die
Kosten zu senken sind:
Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhänge
zwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern,
Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Firmen. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wird
großer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Systems werden Kostensenkungen erwartet.
Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist geprägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeitsplatz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Minijobs.
Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitnehmer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdichtung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife
Leistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeitnehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigende
Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine steigende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betrieben
ist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leistungsoptimierung mithalten können. Menschen, die
diese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runter
oder erhalten einen Armutslohn.
Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmern
mühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leistungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanzmarkt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet.
Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses System
rein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völlig
an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
({2})
Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahlkreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit.
Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit haben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommen
Familienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, obwohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kindern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermöglichen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die so
viel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen.
Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutter
überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unterhalte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zeigen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sich
um ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagen
ins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen.
Die Menschen haben die Orientierung verloren. Niemand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aussieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für das
Hier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidende
Frage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieser
Sackgasse wieder heraus?
Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar fraktionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein
„Weiter so“ geben darf. In den Sonntagsreden sprechen
alle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsere
Sitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder freitags statt, und unter der Woche zählen die schönen Reden vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nicht
viel.
({3})
Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie
wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssen
dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reise
geht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sackgasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vorwärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf die
Hauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wir
müssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von der
Wachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr
die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzunehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzunehmen.
({4})
Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt,
eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nicht
nur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allem
kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land,
die sich dem System der Kostensenkung und der Leistungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständigen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin unterstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesem
knallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
In der gesamten Diskussion müssen wir weiter denken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen über
den Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Umverteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Konzept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht und
bei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wertschöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungen
müssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein und
nicht Lohndrückerei und Spekulationen.
Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaft
schaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wir
unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mit
Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielen
weiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkommen. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhalten
grundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wieder eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchen
wir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kommission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt haben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan,
den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sackgasse zu finden.
Wir beraten hier den Antrag der Linken: „Mit guter
Arbeit aus der Krise“. Meine Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorlegen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstanden
haben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen.
({5})
Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung und
Gewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungen
zeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ich
frage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen,
ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeit
zu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem
1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu bekommen?
Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nur
am 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Probleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wir
in unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einen
Weg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebenswertes Leben für alle ermöglicht.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April
2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundestag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: „Gute
Arbeit - Gutes Leben“. Auch wenn Sie in Ihrem heutigen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehr
ganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik ein
gutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich überhaupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich gebotenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeblich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist ist
bedauerlicherweise noch immer derselbe.
({0})
Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Arbeitsmarktsituation in Ihrem Antrag - darauf haben sogar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien
hingewiesen - zielt allein darauf ab, ein Zerrbild der
Wirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verunsichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erdrutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IV
sprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit,
das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern.
({1})
Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Verantwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursachen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären und
Lösungen für Probleme zu suchen, die Menschen auf
Herausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für die
Zukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädagogik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Politik.
({2})
Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal das
Blaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen,
dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einer
grundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich doch
einige Anmerkungen machen, damit die unterschiedliche Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlichliberalen Koalition deutlich wird.
Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee eines Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaftlich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch entlohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keine
Frage, wobei wir die selbstständige und unternehmerische Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der UnterPascal Kober
schied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass diese
Arbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten im
System der sozialen Marktwirtschaft entstehen und
glücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklichkeit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versuchen - das ist ein weiterer Unterschied -, diese
Arbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei übersehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisse
herum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen,
die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeitslosen, unüberwindbar ist.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was
wir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen gerecht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind stabile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wir
als christlich-liberale Regierungskoalition wollen diese
gangbaren und stabilen Brücken für diese Menschen
bauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslose
dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten werden.
Das wäre nämlich die Konsequenz aus den Forderungen
Ihres Antrages.
({4})
Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für das
herausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Sie
fordern,
dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Verlangen von Schichtarbeit befreit werden können,
ohne dass der Arbeitgeber dagegen betriebliche
Gründe geltend machen kann.
Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die Folgen
Ihrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dann
nicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gearbeitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kindern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel?
({5})
Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ich
mir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote von
Beschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unternehmen dann erfüllen müssten.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, es
ist doch bemerkenswert - das sollte zum Nachdenken
anregen -, dass gerade in denjenigen Bundesländern die
Anzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen am
höchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer solchen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat.
({7})
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst? - Das Wort hat der Kollege Ernst.
Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über
die Verlängerung Ihrer Redezeit. - Menschen mit kleinen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu
betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit eingesetzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn
diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus
der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu
führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht
mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass
Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur
um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass
die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten,
gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil
es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt?
({0})
Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist
denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht
akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtarbeit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererziehung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf
zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass
man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte,
was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder
verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburtenrückgang, weil es sich Menschen unter diesen Voraussetzungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten
können, Kinder zu haben.
Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass
wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern
müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker
auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von
Kindern zu verbessern.
({0})
Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz umgesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Unternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kindern zurückhalten würden. Damit würde auf die
Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine
Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass
diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre
ich mich dagegen.
Vielen Dank.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Ulrich Lange.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ersten Mal recht geben - aber nur in folgendem Punkt -:
Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sammelsurium.
({0})
Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist populistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegende
Antrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteiprogramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammengefasst unter dem Stichwort: Lafontaine’sches Manifest.
({1})
Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus,
würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispiellose
Rezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeitslose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Das
muss man ganz deutlich sagen.
({2})
Wenn diese Bundesregierung - ich nehme die Vorgängerregierung hinzu - etwas bewiesen hat, dann ist es
das, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeitsmarktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitze
fast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Krise
aufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa
3,5 Millionen.
({3})
- Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heute
genug gebrüllt. Jetzt darf ich das.
({4})
- Das werden wir schon sehen.
Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobvernichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland in
Europa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letzten Wahlkampfparole „Reichtum für alle“ bei der Bundestagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt mit
einem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Linken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf diese
Thesen hereinzufallen und zu glauben, dass man in
Deutschland damit wirklich weiterkommt.
({5})
- Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft.
Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalition
in Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten und
weiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreich
meistern können.
({6})
Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in Ihrem
Antrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sie
letztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden.
({7})
- Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nicht
irgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dass
Sie sie beenden wollen. - Sie ignorieren den 11. AÜGBericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur,
in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen ein
erheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion und
die damit verbundene Flexibilisierung haben wir in diesem Hause schon mehrfach gesprochen.
Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes für
alle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klar
sein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetrieben
bzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspielraum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ich
kann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forderung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch.
Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über die
Höhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispiel
am Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien.
Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden begrenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. Weniger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mit
Sicherheit nicht leisten.
Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie am
Ende eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollem
Lohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ich
sage ganz offen: Das ist unseriös.
Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute eines gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mit
Fortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst,
bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jeden
Tag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fortpflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das muss
ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
({8})
Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontext
stellt, dann zeigt das - ({9})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sich
fünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeit
mehr. Da können Sie machen, was Sie wollen.
Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Sie
hat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauerhafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist - darum
geht es in diesem Zusammenhang - im Teilzeit- und Befristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet den
Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.
Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wir
haben eine hervorragend funktionierende Sozialpartnerschaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsabstimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungen
bedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser
Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokraten
nicht zu machen.
({10})
Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insgesamt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Sagen
Sie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen!
Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seele
gesprochen - das kommt nicht allzu oft vor -: Es ist
wirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealistischen Forderungen beschäftigen müssen.
({11})
Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitung
zitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über den
Entwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei „Sozialismus in Neuauflage“. Letztendlich geht es in Ihrem Programm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der ausgebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. So
ist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmergeist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, das
sie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genau
das wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Erfolg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wir
festhalten.
({12})
Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeunterricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nenne
nur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Kabinett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäftigungschancen am Arbeitsmarkt - Beschäftigungschancengesetz.
Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: soziale
Marktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den Sozialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlands
schon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden uns
dagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialen
Marktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeit
ist.
Herzlichen Dank.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ernst.
Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass
wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir
vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei werden die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen
geführt.
Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kindern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein
junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet
übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen
mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er
es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten
Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein
Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten
kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie
zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen,
dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis
befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer
die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden
- das war auch in dieser Krise so -, überlegt, ob er Kinder in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren
kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen
dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstellen, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familienministerin unter diesen Umständen konterkariert wird?
Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt,
dass dieses Land nicht ausstirbt.
({0})
Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedingungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir
Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land
schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil,
nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht
um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn
Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie haben sich von der Realität der Menschen, insbesondere
der jungen Menschen und der Menschen, die in schlechten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen
verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sagen.
({1})
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
({0})
- Gut, also ich antworte lustvoll.
Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen,
weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunsch
einzig und allein an der materiellen Situation einer Familie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Das
ist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilitoninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kinder bekommen haben.
({0})
- Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch.
Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangen
und interessanterweise auch viele Kinder haben. Ich
kenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. Herr
Ernst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück
und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wir
wieder denken.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
diesem beinahe lustvollen und - zumindest von einer
Seite des Hauses - an die Grenze des Kabarettistischen
gehenden Austausches über die Familienpolitik fällt es
schwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu begeben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegen
haben.
Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositäten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, Herr
Ernst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischer
Irrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftlichen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits.
({0})
Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschläge
einzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aber
ich will einige Punkte hervorheben, an denen sich die
Differenz zwischen unseren politischen Ordnungsvorstellungen sehr deutlich konkretisiert.
Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität.
Der wird ja in der Geschichte - auch der Arbeiterbewegung - groß geschrieben, auch wenn diese Solidarität
zunächst einmal transnational organisiert werden sollte.
Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einer
Rechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfeversprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe entsteht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleistung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn der
solidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslosigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung.
({1})
Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wir
wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Das
heißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip der
Solidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist die
dauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligen
durch die Arbeitswilligen.
({2})
Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zugunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzelner auf Kosten der Allgemeinheit.
({3})
Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied von
der Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen
Reichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in der
Gesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Verarmung.
({4})
Aber mit der materiellen und geistigen Verarmung
haben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungen
gemacht.
({5})
Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialistische Experiment in der DDR kann nur in einem großen
Katzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste,
was sich darüber sagen ließ.
({6})
Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sie
den Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftliche
Änderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, was
André Comte-Sponville in einem sehr lesenswerten
Buch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch sein
kann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zur
Durchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchen
oder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an gesellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich für
den Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mit
diesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschaftsleben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nennt
das die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen allerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für die
Wirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftliche Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirklichen.
Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahren
der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch:
Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialistischen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es weder
einzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach abgehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer der
Geschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Geschichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen,
({7})
zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts gelernt.
({8})
Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat.
Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit und
Selbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatz
der Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisation. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachrangig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnen
und der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Sie
mit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt mich
nicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gängelung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung.
Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen die
Biografien von Millionen Menschen zerstört.
({9})
In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkenntnis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR:
Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine
ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die
Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen
und die bürokratisierte Form der Planung und Leitung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende
Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innovations- und Leistungsfähigkeit.
Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem alten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einen
neuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wiederholung dieses nationalen Unglücks verhindern wollen. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weil
ich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren.
Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg aus
der Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigt
nur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann.
({10})
Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlich
nicht überraschen wird.
Danke schön.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 g sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf:
28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrechtlicher und
anderer Vorschriften
- Drucksache 17/1297 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Filmförderungsgesetzes
- Drucksache 17/1292 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERPSondervermögens für das Jahr 2010 ({2})
- Drucksache 17/1294 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Übereinkommens vom 3. September 1976 über die
Internationale Organisation für mobile Satellitenkommunikation ({4})
- Drucksache 17/1295 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung
umweltrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 17/1393 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Musterwiderrufsinformation für
Verbraucherdarlehensverträge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehensverträgen und
zur Änderung des Darlehensvermittlungsrechts
- Drucksache 17/1394 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht ({8}), Petra Crone, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und deren Finanzierung sichern
- Drucksache 17/1409 3514
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen
- Drucksache 17/1422 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten
- Drucksache 17/1424 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemein-
schaftsdiagnose aufnehmen
- Drucksache 17/1423 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten
- Drucksache 17/1405 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel
zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten
- Drucksache 17/1410 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({11})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln - Pflege-Transparenzkriterien optimieren
- Drucksache 17/1427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({12})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es handelt sich dabei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/1409, das
betrifft den Tagesordnungspunkt 28 g, soll dem Haushaltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksachen 17/717, 17/1209 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses ({13})
- Drucksache 17/1463 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Ingrid Arndt-Brauer
Dr. Birgit Reinemund
Richard Pitterle
Lisa Paus
Dabei handelt es sich um eine Beschlussfassung zu
einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1463, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/717 und 17/1209 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({14})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur
Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verhandlungen über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union eröffnen
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dietmar Nietan, Michael Roth ({15}), Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel,
Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel
- Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,
17/1464 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth ({16})
Andrej Konstantin Hunko
Der Ausschuss hat in diese Beschlussempfehlung den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/260 mit einbezogen. Über diese Vorlage
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann können wir so verfahren.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Auch dazu sehe
ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und
erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen
Michael Link für die FDP-Fraktion.
({17})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heutigen Antrag wollen wir Einvernehmen mit der
Bundesregierung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island herstellen. Die FDP unterstützt
ebenso wie die Bundesregierung das Ziel einer Vollmitgliedschaft Islands in der Europäischen Union. Deutschland und die EU haben allergrößtes Interesse an der Unterstützung dieses Beitrittsantrags und an dem Gelingen
des Beitrittsprozesses mit Island. Mit Island würde eine
stabile parlamentarische Demokratie der EU beitreten,
die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte
garantiert.
({0})
Island kann als funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden, auch wenn mit der Bankenkrise deutlich geworden ist, wohin es führt, wenn wir in einem
Markt keine klaren Aufsichtsregeln haben. Island war
eine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind auch sicher, dass es wieder eine funktionierende Marktwirtschaft sein wird. Am Beispiel Island kann man aber, wie
gesagt, sehr gut sehen, wohin es führt, wenn keine starke
Finanzmarktaufsicht vorhanden ist.
({1})
In der Öffentlichkeit wird teilweise der Eindruck vermittelt - er ist falsch -, dass es Island nur um den Beitritt
zur Euro-Zone geht, quasi als Rettungsmechanismus.
Natürlich geht es Island auch um den Beitritt zur EuroZone. Aber der Beitritt zur Euro-Zone und der Beitritt
zur Europäischen Union sind und bleiben für uns zweierlei Paar Stiefel. Wir reden jetzt über den Beitritt zur Europäischen Union. Der Weg zum Beitritt zur Euro-Zone
wird für Island ein sehr viel längerer sein; denn er hängt
- ich glaube, da sind wir uns alle einig - mit der strikten
Einhaltung der Maastricht-Kriterien zusammen. Hier
können wir keine Abstriche machen.
({2})
Aber auch die EU kann vom Wissen und den Erfahrungen Islands profitieren. Island verfügt im Bereich der
erneuerbaren Energiequellen, auch im Bereich der Fischereiwirtschaft über sehr wichtige Erkenntnisse. Island hat es geschafft, eine nachhaltige Fischereiwirtschaft aufzubauen, übrigens ohne öffentliche Beihilfen,
ohne Subventionen aus öffentlichen Kassen. Wir sollten
darauf achten, dass wir Island im Beitrittsprozess nicht
ohne Not ein überarbeitungsbedürftiges Regime der Eu3516
Michael Link ({3})
ropäischen Union an diesem Punkt überstülpen, da
Island mit nachhaltiger Fischerei selbst bereits weiter ist.
({4})
Klar muss allerdings auch sein, dass beim kommerziellen Walfangverbot keine Abstriche, keine Kompromisse
gemacht werden können.
Dankbar sind wir auch für das, was Island uns Neues
bringen kann, insbesondere in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Island wird an der Nordwestflanke der Europäischen Union eine ganz wichtige
Bereicherung sein. Wir alle wissen, dass der arktische
Raum in Zukunft an strategischer Bedeutung hinzugewinnen wird. Mit Blick auf das, was Island für die
NATO, das atlantische Bündnis, bereits geleistet hat, ist
es selbstverständlich, dass wir diesen Beitrag sehr schätzen und uns deshalb freuen würden, wenn wir Island
bald als Mitglied willkommen heißen könnten.
Island ist im Übrigen bereits lange in der EFTA und
im Europäischen Wirtschaftsraum vertreten. Es ist seit
2001 Mitglied des Schengener Abkommens. Insofern
glaube ich - da können wir über die Fraktionsgrenzen
hinweg vermutlich eine Gemeinsamkeit feststellen -:
Island wird mit Sicherheit nicht 10 oder 20 Jahre über
seinen Beitritt verhandeln müssen. Wenn es aber so ist,
dass die Verhandlungen in einem relativ überschaubaren
Zeitraum abgeschlossen werden können, dann muss
auch klar sein, dass die heutige Stellungnahme des Bundestages bereits sehr substanziiert sein muss.
Der relativ kurze Zeitraum von wenigen Jahren für
Beitrittsverhandlungen mit Island, den wir vor uns haben, erfordert eine umso genauere Begleitung des Prozesses durch den Bundestag von Anfang an. Deshalb haben wir von den Koalitionsfraktionen uns sehr viel Mühe
gemacht, um in diesem Antrag sehr viele inhaltlich angereicherte Punkte des EU-Ausschusses genauso wie der
mitberatenden Ausschüsse unterzubringen. Ich habe gerade das Thema Walfangverbot erwähnt. Den Prozess,
die Verhandlungen, die die Bundesregierung durchführt,
werden wir sehr genau begleiten.
Wichtig ist uns als FDP auch, deutlich zu machen,
dass man das isländische Beitrittsgesuch keinesfalls in
den Ruch stellen sollte, es sei lediglich erfolgt, weil Island jetzt in einer Krise ist und deshalb unter den Schirm
der EU möchte. So einfach ist das nicht. Wir wissen,
dass viele Parteien in Island, insbesondere die Sozialdemokraten, schon lange für den isländischen Beitritt
kämpfen.
({5})
Die Idee des isländischen Beitritts ist also weit mehr als
eine Flucht unter den EU-Rettungsschirm. Sie ist auch
ein Bekenntnis zu gemeinsamen europäischen Werten.
Das respektiert die FDP. Auch deshalb setzen wir uns für
den Beitrittsantrag Islands ein.
Zu guter Letzt: Wir sollten uns darüber im Klaren
sein, dass, anders als in der Vergangenheit - ich betone
das bewusst für meine Fraktion -, nur und ausschließlich
die strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien die Voraussetzung für den Beitritt sein kann, also die Beitrittsfähigkeit des Kandidaten und die Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union. Wir sollten uns davor hüten, zur
Unzeit Zeitpunkte zu nennen oder gar Pakete zu schnüren. Ich glaube, das muss die Lehre aus den großen Erweiterungswellen der Vergangenheit sein. Die Beitritte
waren in jedem Einzelfall richtig. Vielleicht hätte man
aber darauf verzichten sollen, früh und zur Unzeit ein
Beitrittsdatum zu nennen, und vielleicht hätte man auch
nicht jedes Paket so schnüren sollen, wie es geschnürt
worden ist. Denn dadurch wird verkannt, welche individuellen Chancen, aber teilweise auch Risiken und Probleme jedes neue Mitglied uns in der Union bringt. Wir
sind mehr als ein politischer Klub; wir sind ein Staatenverbund. Dementsprechend sollten wir Aufnahmen im
Einzelfall sehr genau prüfen und uns immer die notwendige Zeit dazu nehmen.
Die FDP unterstützt die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island zur Europäischen Union.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
gehöre - wie viele andere auch - zu den Leidtragenden
dieses isländischen Vulkans, dessen Namen ich immer
noch nicht auszusprechen vermag. Dennoch sollten wir
vor dem Hintergrund des Ascheregens nicht die falschen
Schlussfolgerungen ziehen und deutlich machen: Wir
freuen uns darauf, Beitrittsverhandlungen mit Island
führen zu können. Wir hoffen, Island baldmöglichst in
der Europäischen Union willkommen heißen zu dürfen.
Wir fänden es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich in
diese Beitrittsverhandlungen aktiv einbringen würde.
({0})
Ich kann mich der Kritik meines geschätzten Vorredners an Bundeskanzler Helmut Kohl hinsichtlich der
Nennung eines konkreten Datums nur anschließen; da
haben Sie völlig recht, Herr Kollege Link.
({1})
- Meines Wissens hatte der Bundeskanzler Dr. Helmut
Kohl das Datum 2000 in die Diskussion eingebracht.
({2})
Herr Schockenhoff, wir sollten hier keine Geschichtsklitterung beitreiben.
({3})
Michael Roth ({4})
Ich stimme Ihnen auch zu, Herr Kollege Link, wenn
Sie sagen, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen aus
den bisherigen Beitrittsverhandlungen ziehen müssen.
Beitrittsverhandlungen sind nicht nur eine Chance für
Island, sondern auch für die Europäische Union und
Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es uns nicht
ausreichend gelungen, deutlich zu machen, dass es bei
einem Beitritt zur Europäischen Union nicht vordergründig um den Binnenmarkt, um den Euro und um ökonomische Kriterien geht. Wir sind in erster Linie eine Wertegemeinschaft.
({5})
Wir sind eine politische Union. Insofern lautet meine
Bitte an die isländischen Partner, von Anfang an die isländische Zivilgesellschaft einzubeziehen und deutlich
zu machen, dass es sich um eine Win-win-Situation handelt: nicht nur für die Europäische Union, die ein weiteres Mitgliedsland bekommt, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger, für die Zivilgesellschaft. Es geht
nicht allein um Vorteile für die isländische Wirtschaft.
Denn eine Devise gilt nach wie vor: Kleine Länder
ganz groß. Die Größe eines Landes bemisst sich nicht
vorrangig an der Einwohnerzahl. Länder wie
Luxemburg, die sich immer als Speerspitze der europäischen Integration gesehen haben, haben sich so unendlich viele Verdienste um das Projekt der europäischen Integration erworben. Man sollte daher den Isländern Mut
machen und ihnen deutlich sagen: Euer Land ist zwar
klein, was die Einwohnerzahl anbelangt, aber ihr habt,
was euren Beitrag zur Demokratie und zum Parlamentarismus in Europa betrifft, große Verdienste. Bringt diesen demokratischen Geist und diesen Mut zur Autonomie offensiv ein!
Das sind Werte, auf die die Europäische Union zwingend angewiesen ist. Insofern kann dieses Angebot
durchaus ein Beitrag dazu sein, die vielen, die den Beitritt Islands immer noch ablehnen, zu überzeugen. Wenn
man sich die politische Landschaft in Island ansieht,
muss man feststellen: Die Sozialdemokraten in Island
sind in dieser Hinsicht eine der wenigen rühmlichen
Ausnahmen. Sie konsequent und frühzeitig für den Beitritt eingetreten. Das Fundament derer, die den Beitritt
Islands positiv sehen, muss nach Möglichkeit verbreitert
werden.
({6})
Das ist auch ein Auftrag an uns. Wir dürfen nicht
beim Vertrag von Lissabon stehen bleiben. Ich weiß,
dass das in den vergangenen Jahren für uns alle sehr
schwierig, sehr mühselig und manchmal auch nervig
war. Aber jetzt muss eine Debatte über die Fragen geführt werden: Was für eine Europäische Union wollen
wir eigentlich? Welche sind die richtigen Konsequenzen
aus der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wo müssen wir
vor allem in finanz- und wirtschaftspolitischen und in
umweltpolitischen Angelegenheiten noch enger zusammenarbeiten? Wo ist ehrliche und wahrhaftige Solidarität gefragt?
Ich bin von der Bundesregierung, insbesondere von
der Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister,
enttäuscht, weil diese wichtigen europäischen Impulse
„Wo wollen wir hin?“ und „Was ist unser europapolitisches Konzept?“ bislang sträflich vernachlässigt worden
sind. Ich fordere alle dazu auf, diese Diskussion zu führen. Möglicherweise können die Beitrittsverhandlungen
auch für uns ein Impuls sein, etwas nachzuholen, was
wir sträflich vernachlässigt haben.
({7})
Die Beitrittsverhandlungen sind eine Zweibahn-, keine
Einbahnstraße.
Island wäre eine Bereicherung. Ich möchte das an dieser Stelle nur auf einen einzigen Punkt fokussieren: die
Fischereipolitik. Auch dieser Politikbereich ist mühselig
und ärgerlich. Denken wir nur an die Quotendiskussion
innerhalb der Europäischen Union. Aber wenn Island
der Europäischen Union beiträte, wäre Island die größte
Fischereination in der Europäischen Union. Auf diesem
Gebiet können wir von Island eine Menge lernen. Der
Aspekt der Nachhaltigkeit ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der isländischen Fischereipolitik. Insofern sollten wir die isländischen Erfahrungen in die Diskussion
über eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik in
der Europäischen Union einbeziehen. Möglicherweise
kann auch dies dazu beitragen, die Ängste, die gerade
die Fischer in Island vor einem Beitritt zur Europäischen
Union haben, abzubauen.
({8})
Ich möchte noch einen bundestagsinternen Punkt ansprechen, über den wir gestritten haben, bei dem wir also
nicht einer Meinung waren. Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den Antrag eingebracht, der Bundesregierung eine Stellungnahme mit auf den Weg zu geben. Wir hätten uns
gewünscht, dass schon mit Blick auf den Europäischen
Rat am 25. März dieses Jahres eine parlamentarische Initiative eingeleitet worden wäre. Ich will mich mit Vorwürfen zurückhalten. Aber ich meine, dass wir den Niederländern und den Briten, die in Bezug auf die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island ihre eigenen Spielchen getrieben haben, hier in die Hände gespielt haben.
Wir hätten deutlich machen müssen: Der Deutsche
Bundestag ist in der Lage und bereit, trotz sehr enger
Fristen eine Stellungnahme abzugeben. Wir sind selbstbewusst, bereit und in der Lage, die Aufgaben und
Pflichten, die uns das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Umsetzung des Vertrages von Lissabon aufgetragen hat - hier geht es ja um eine stärkere Beteiligung des Deutschen Bundestages -, vollumfänglich zu
erfüllen. Da hätte ich mir von der CDU/CSU, aber auch
von der FDP ein bisschen mehr Engagement und ein bisschen mehr Kooperationsbereitschaft gewünscht. Das
sollte kein schlechtes Beispiel sein dafür, welche Rolle
Stellungnahmen spielen. Für mich sind Stellungnahmen
eine zwingende Voraussetzung dafür, Einvernehmen
zwischen Bundesregierung und Bundestag herzustellen.
Michael Roth ({9})
Wir dürfen nicht nur abstrakt darüber reden, wir müssen konkret handeln. Insofern finde ich den Antrag, den
die Koalitionsfraktionen eingebracht haben, in einem
Punkt kleinkariert: Ausgerechnet im Hinblick auf einen
Beitritt Islands eine Diskussion über die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union führen zu wollen, das
hätten Sie sich, ehrlich gesagt, sparen können.
({10})
Wir begrüßen Beitrittsverhandlungen mit Island, wir
freuen uns darauf, und wir bitten die Bundesregierung,
diese Verhandlungen mit aller Sorgfalt und mit aller
Ernsthaftigkeit, aber auch mit konstruktivem Wohlwollen zu begleiten. Die SPD wird aufpassen, ob dieser Weg
so, wie wir es erwarten, beschritten wird.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Aussprache ist ein besonderes Ereignis;
denn zum ersten Mal in seiner Geschichte entscheidet
der Deutsche Bundestag darüber, ob mit einem Kandidatenland Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union aufgenommen werden.
Es ist eine Folge des Lissabonner Vertrages, dass Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag erforderlich
ist, ehe die Bundesregierung im Rat der Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen zustimmen kann. Der Deutsche
Bundestag hat damit ein starkes Recht erhalten; er übernimmt damit aber auch eine große Verantwortung.
Es geht in der Frage einer Aufnahme von Beitragsverhandlungen nicht nur um ein Ja oder ein Noch-nicht, es
geht vor allem darum, dass wir gegenüber dem Kandidatenland schon vor Beginn der Verhandlungen unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess deutlich zum
Ausdruck bringen.
({0})
Die schlechten Erfahrungen, die wir noch heute mit
den verfrühten Beitritten Bulgariens und Rumäniens machen müssen, sind eine deutliche Ermahnung an uns,
diese Aufgabe anspruchsvoll anzugehen. Wir dürfen
nicht noch einmal in die Situation kommen, dass wir am
Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken können.
Wir müssen am Ende der Verhandlungen über den
Beitritt des Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt noch
nicht“ sagen können. Um dies begründet sagen zu können, müssen wir vor Beginn der Verhandlungen klar formulieren, welches unsere Erwartungen an den Verhandlungsprozess sind, vor allem, in welchen Bereichen des
Acquis communautaire der Kandidat noch Anstrengungen unternehmen muss, um beitrittsfähig zu werden. Das
betrifft bei vielen Ländern, die eine EU-Perspektive haben - Island nehme ich dabei ausdrücklich aus -, Problemthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung
von Korruption und Kriminalität. Wenn wir vor allem in
diesen, aber auch in anderen Fragen vor Beginn von Verhandlungen unsere Erwartungen deutlich formulieren,
haben wir eine wichtige Grundlage, um gegenüber dem
Kandidatenland, vor allem aber gegenüber unseren Bürgern zu begründen, warum wir am Ende der Verhandlungen für ein Ja oder für ein Jetzt-noch-nicht votieren.
({1})
Es wird immer wichtiger, dass wir besser als bisher begründen, warum wir es für richtig, notwendig und verantwortbar halten, ein neues Mitglied aufzunehmen oder eben nicht aufzunehmen.
Das alles erfordert, dass wir uns schon vor dem Beginn von Verhandlungen ein eigenes genaues Bild über
den Stand der Vorbereitungen des Kandidatenlandes machen. Mit Blick auf den Beitrittsantrag Islands denke ich,
für uns alle sagen zu können: Wir haben dies so sorgfältig wie möglich getan. Es wurden Anhörungen durchgeführt, viele Gespräche fanden statt. Einige von uns haben
sich vor Ort, in Island, ein genaues Bild gemacht. Vor
wenigen Tagen - ganz kurz bevor der Vulkan problematisch wurde ({2})
haben der Vorsitzende des EU-Ausschusses der französischen Nationalversammlung, Pierre Lequiller, und ich in
Reykjavík gemeinsame Gespräche mit der Regierung Islands und mit Vertretern der isländischen Zivilgesellschaft geführt.
Dies wurde dort im Übrigen als ein Zeichen einer engen Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Parlamenten in europapolitischen Fragen verstanden. Ich denke, es gehört auch zur Wahrnehmung
der neuen Rechte, die die nationalen Parlamente durch
den Lissabonner Vertrag erhalten haben, dass wir uns gemeinsam mit Parlamentskollegen anderer EU-Länder ein
Bild verschaffen, um darauf aufbauend zu einer gemeinsamen Bewertung zu kommen.
Mein französischer Kollege und ich haben am Ende
der Gespräche in Reykjavík fünf Punkte zum Ausdruck
gebracht:
Erstens. Wir unterstützen das Ziel einer Vollmitgliedschaft Islands. Wir haben ein Interesse am Gelingen des
Beitrittsprozesses, und wir sagen dies auch und gerade
angesichts von Umfragezahlen, die derzeit nur eine Zustimmung von rund 30 Prozent der isländischen Bevölkerung für einen EU-Beitritt widerspiegeln. Deshalb
hoffe ich, dass die Zustimmung zur EU nach Beantwortung der Fragen im Zusammenhang mit Icesave wieder
deutlich zunimmt.
Denn - das ist unser zweiter Punkt -: Ein Beitritt Islands wäre für die EU ein Gewinn. Mit Island würde nicht
nur eine stabile parlamentarische Demokratie beitreten,
die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte
garantiert, sondern die EU könnte auch - das haben die
Vorredner schon gesagt - von Islands Wissen auf dem
Gebiet der erneuerbaren Energien profitieren. Nicht zuletzt ist Island für die EU von strategischem Interesse als
Tor zur Arktis mit Blick auf Rohstoffe und Energieversorgung. Die Bedeutung des Nordatlantiks wird in den
kommenden Jahren weiter wachsen. Deshalb sollte die
EU in diesem Gebiet direkt präsent sein. Island ist also
für uns strategisch wichtig.
Drittens. Allerdings erwarten wir, dass Island bei einem Beitritt die politischen und wirtschaftlichen Kriterien umfassend erfüllt. Das betrifft insbesondere - auch
das ist schon gesagt worden - die Überwindung der Finanzkrise. Wir wissen, dass die weitere Haushaltskonsolidierung und die Gewährleistung tragfähiger öffentlicher Finanzen besondere Herausforderungen darstellen.
Diese Anstrengungen müssen aber konsequent fortgesetzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen und eine
strikte Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sicherzustellen.
({3})
Übrigens haben uns unsere isländischen Gesprächspartner gesagt, dass sie für die angestrebte Einführung
des Euro selbst eine Zeitperspektive von rund zehn und
mehr Jahren sehen. Ich erwähne das, um deutlich zu machen, dass es hierzu in Island keinerlei unrealistische
Perspektiven und Erwartungen gibt.
Sichergestellt werden müssen auch das kommerzielle
Wahlfangverbot und eine Einigung bei den Fischereifragen. Diese Fischereifragen seien so schwierig, wurde
uns von isländischer Seite gesagt, dass sie kaum innerhalb von 12 bis 18 Monaten beantwortet werden könnten. Ein Beitritt wird eher im Jahre 2014 als früher erfolgen, wenn er die Zustimmung der isländischen
Bevölkerung findet.
Viertens. Wir erwarten, dass Island nicht nur aus finanziellen Gründen unter das Dach der EU kommen
möchte. Neben der Erfüllung der vertraglich vereinbarten Beitrittskriterien ist es für uns wichtig, dass Island
die Grundidee einer immer tieferen Integration mitträgt.
Wie weit Island dazu bereit ist, kann nicht anhand der
Wirtschaftskriterien oder durch Gesetzestexte geklärt
werden. Das müssen wir durch den Kontakt zu den
Partnern in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft
herausspüren. Deshalb wird die Beurteilung der Integrationsbereitschaft Islands eine unserer wichtigsten und
schwierigsten Aufgaben bei der Begleitung des Verhandlungsprozesses sein. Wir haben auch schon die Erfahrung gemacht, dass ein Land Mitglied der Europäischen
Union werden wollte, um anschließend die weitere Integration eher zu behindern als zu befördern. Auch das
müssen wir bei der Beurteilung künftiger Beitrittsgesuche berücksichtigen.
Fünftens haben mein französischer Kollege und ich in
Island in einer gemeinsamen Presseerklärung zum Ausdruck gebracht, dass wir vom Europäischen Rat die
schnellstmögliche Entscheidung über die Eröffnung von
Beitrittsverhandlungen erwarten. Durch die offenen Fragen hinsichtlich des Icesave-Abkommens darf eine solche Entscheidung nicht noch länger verzögert werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSUBundestagsfraktion spricht sich aus den genannten
Gründen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit Island aus.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir neigen dazu, die Vorgänge in Island zu unterschätzen. Ich
rede nicht nur von dem Vulkan Eyjafjalla, dessen Aschewolke wir gerade in ganz Europa zu spüren bekamen.
({0})
- Jökull ist der Gletscher. Eyjafjalla ist der Vulkan.
({1})
Auch die Wellen der gesellschaftlichen Ereignisse infolge der Finanzkrise sind hier zu spüren. Die Tatsache,
dass wir heute über die Aufnahme von Verhandlungen
über einen Beitritt Islands zur Europäischen Union diskutieren, ist auch eine Folge der sozialen Unruhen des
Winters 2008/2009, der sogenannten Kochtopfrevolution. Sie fegte die konservativ geführte Regierung unter
Geir Haarde weg und brachte zum ersten Mal in Island
eine sozialdemokratisch-linksgrüne Koalition an die Regierung. Diese Regierung stellte im Juli vergangenen
Jahres ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union.
Selbstverständlich unterstützen wir als Linke die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen.
({2})
Das Interesse an Island ist aber auch deshalb so groß,
weil sich hier die Entwicklungen der letzten beiden Jahrzehnte besonders konzentrierten. Nach Jahren der Privatisierung, der Deregulierung und des Aufbaus eines gigantischen Spekulationssystems brach der isländische
Bankensektor im Herbst 2008 komplett zusammen. Genau wie hier und in anderen europäischen Ländern soll
die Bevölkerung die Zeche für die Party der Reichen bezahlen. Der Unterschied ist allerdings, dass Island als älteste Demokratie Europas über eine höhere demokratische Kultur verfügt: Am 6. März lehnten 94 Prozent der
Isländerinnen und Isländer die Übernahme der IcesaveSchulden, der Schulden einer privaten Internetbank, ab.
({3})
Ich kann dem isländischen Präsidenten Olafur
Grimsson nur zustimmen, der dazu sagte:
Wenn Demokratie und Finanzmärkte in Widerspruch zueinander geraten, muss man sich für die
Demokratie entscheiden.
({4})
Vor wenigen Tagen ist in Island ein umfangreicher
Untersuchungsbericht über den Finanzkollaps erschienen, der im Land für sehr viel Aufsehen gesorgt hat. Auf
2 383 Seiten werden die Verantwortlichen des neoliberalen Umbaus, der schließlich zum Zusammenbruch
führte, und die unheilvolle Verquickung von Finanzkonzernen und Politik detailliert benannt.
Wer hier meint, das alles gehe ihn nichts an, dem sage
ich: „De te fabula narratur“ - von dir ist hier die Rede;
denn diese Verquickung gibt es genauso auch in
Deutschland.
({5})
Ich wünsche mir, dass das auch hier einmal so transparent aufgearbeitet würde wie in Island.
({6})
Island hat im Juli 2009 den Antrag zur Aufnahme in
die EU gestellt. Die isländische Regierung hatte die
Hoffnung, dass der Europäische Rat noch im Dezember
unter schwedischer Ratspräsidentschaft über die Aufnahme von Gesprächen entscheidet. Im Februar 2010 hat
die Europäische Kommission schließlich die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Leider wurden
die Beitrittsgespräche von der niederländischen und britischen Regierung verzögert, um Island in der IcesaveFrage unter Druck zu setzen.
Es ist gut, dass die Mitwirkungsrechte des Bundestages unter anderem durch unsere Klage beim Bundesverfassungsgericht in dieser Frage gestärkt wurden.
({7})
Aber es wäre möglich gewesen, das Einvernehmen mit
dem Bundestag schon vor dem Ratsgipfel Ende März
herzustellen. Das war offensichtlich von der Bundesregierung nicht gewollt. Jetzt geht es darum, dass sich die
Bundesregierung wenigstens für die Zustimmung zur Eröffnung der Beitrittsgespräche auf dem Gipfel des Europäischen Rates am 17./18. Juni einsetzt.
Eine Forderung der Europäischen Kommission an Island in dem Bericht vom Februar ist, den freien Kapitalverkehr wiederherzustellen. Wörtlich heißt es im Kommissionsbericht:
Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Island und dem Ausland umfassenden Devisenkontrollen. … Hier muss Island durch Liberalisierungsmaßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz
des freien Kapitalverkehrs gewährleisten.
Die Kapitalsverkehrskontrollen der isländischen Regierung waren die richtige Reaktion auf den Zusammenbruch der Finanzmärkte,
({8})
wie auch der Internationale Währungsfonds, IWF, erkannte. Sie waren mit dem IWF abgesprochen, der Island Kredite gewährte. Der IWF ist zu Recht umstritten,
weil er häufig Staaten neoliberale Strukturanpassungsprogramme aufgezwungen hat. Aber immerhin ermöglichen die Statuten des IWF Kapitalverkehrskontrollen,
während der Lissabonner Vertrag diese verbietet. Die
EU ist hier neoliberaler und marktradikaler als der IWF.
Es kann doch nicht sein, dass Island im Zuge der Beitrittsverhandlungen gezwungen wird, den Zustand von
vor der Krise wiederherzustellen. Hier sind dringend
entsprechende Änderungen am Lissabonner Vertrag einzuleiten.
({9})
Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem Beitritt Islands ist der Zugang zur Arktis; dies ist eben auch
von Herrn Schockenhoff angesprochen worden. In der
Arktis liegen die größten bisher nicht erschlossenen
Rohstoffvorkommen. Bislang war die EU hier weitgehend abwesend vom sogenannten großen Spiel. Islands
Mitgliedschaft im Arktischen Rat und seine geostrategische Lage würden der EU ermöglichen, am Run auf
diese letzten Rohstoffvorkommen teilzunehmen. Im Dezember 2009 wurden im Rat der Europäischen Union für
Auswärtige Angelegenheiten die Schlussfolgerungen zur
Arktis beschlossen. Dort ist die Rede von „den neuen
Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem
Schmelzen des Meereises und den sonstigen Auswirkungen des Klimawandels für den Verkehr, die Gewinnung
natürlicher Ressourcen und sonstige unternehmerische
Tätigkeiten ergeben“.
Das ist doch an Zynismus nicht mehr zu überbieten.
({10})
Anstatt alles Menschenmögliche in Bewegung zu setzen,
um den Klimawandel zu stoppen, ist hier von den unternehmerischen Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben,
die Rede. Statt solcher Spekulationen sollten endlich der
Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung eingeleitet
und die vollständige Energiewende durchgesetzt werden.
({11})
Im Hinblick auf die Arktis wollen wir keinen imperialen
Wettlauf um die Region. Hier wäre analog zur Antarktis
ein Moratorium zur Ressourcenausbeutung die beste Regelung.
({12})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Linke spricht sich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island aus. Wir fordern die Trennung
der Beitrittsgespräche von der Frage der Icesave-Schulden. In mancher Hinsicht, etwa beim Walfang, muss sich
Island ändern. Vor allem muss sich aber die EU ändern,
etwa in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen. Eine
imperiale Verwendung Islands für einen Wettlauf um die
Arktis lehnen wir ab. Wir begrüßen es, dass am Ende in
Island der Souverän über den Beitritt entscheidet, die isländische Bevölkerung.
Danke.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann
leider den Namen des Vulkans nicht aussprechen. Ich
kann Ihnen aber unsere Anteilnahme dadurch versichern, dass die Grünen ihren Länderrat am Sonntag in
Köln in der Vulkanhalle durchführen. Vielleicht ist das
immerhin ein Zeichen der Anteilnahme an diesem Ereignis.
Herr Hunko und auch die anderen Vorredner haben
schon die besondere Bedeutung dieser Debatte dargestellt. Zum ersten Mal wird das Einvernehmen nach § 10
des EUZBBG zur Anwendung kommen. Sie haben
recht, wenn Sie davon sprechen, dass wir als Bundestag
eine besondere Verantwortung tragen, wenn wir die Vorbeitrittsverhandlungsprozesse und auch die Verhandlungsprozesse begleiten. Dadurch, dass wir uns jetzt ein
Bild machen, uns einmischen und am Ende des Prozesses den Wählerinnen und Wählern in Deutschland sagen
können, dass wir uns von Anfang an damit auseinandergesetzt haben, entstehen Chancen, die für beide Seiten
gut sind: Einerseits erreichen wir ein größeres Verständnis für Erweiterungen. Andererseits wissen vielleicht die
beitretenden Partner, was uns wichtig ist. - Ich begrüße
deswegen, dass alle Fraktionen hier Anträge eingebracht
haben, und ich begrüße es auch, dass diese Debatte stattfindet. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal in dieses
Haus und in die Öffentlichkeit.
Wir Grünen glauben weiterhin an die positive Kraft,
die sowohl politisch als auch im konstruktiv-strategischen Sinne von Erweiterungen ausgeht. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass der Erweiterungsprozess
fortgehen muss. Das heißt nicht, dass wir nicht auch
Dinge in der Vergangenheit anders bewerten. Wir halten
die Kopenhagener Kriterien für wichtiger denn je. Wir
denken auch, dass das verfrühte politische Setzen von
Beitrittsdaten kein kluger Schachzug ist, ganz egal, welche konkreten Interessen jeweils einzelne Partner dazu
bewegen könnten, zu sagen, ein bestimmter Partner solle
schneller oder besonders berücksichtigt werden. Wir
denken auch, dass bilaterale Konflikte, die plötzlich zu
Vetogründen erhoben werden, nicht europäisiert werden
dürfen. Ein solcher Konflikt hat auch bei Island eine
Rolle gespielt, was von Herrn Hunko, von Herrn Roth
und auch von Herrn Schockenhoff - Stichwort Icesave erwähnt wurde. Es darf auch keine Erweiterung erster
und zweiter Klasse geben. Jedes Land ist an den Kopenhagener Kriterien zu messen und nicht daran, ob man
ihm näher oder ferner steht.
({0})
Dabei sind natürlich besondere Fortschritte, die schon
vorhanden sind, zu bewerten.
Wir freuen uns, dass sich Island auf den Weg gemacht
hat. Island ist gut für die EU. Island ist in vielen Bereichen vorbildlich und kann uns ein Beispiel geben. Der
Beitritt Islands wäre im deutschen Interesse, weil der
Beitritt eine Stärkung der Zusammenarbeit der Ostseeanrainerländer und der nördlichen Länder in der EU bedeuten würde. Das sind Bereiche, die für Deutschland von
strategischem Interesse sind. Darüber hinaus hat Island
in kultureller Hinsicht eine lange Verbindung gerade
auch zu Deutschland. Wenn Island beitreten will, dann
sind die Türen offen. Dieses Signal geht von allen Fraktionen dieses Hauses aus. Der Beitritt ist aber auch im isländischen Interesse; denn in der Europäischen Union
können auch relativ kleine Mitgliedsländer eine vergleichsweise große Bedeutung erreichen, wenn sie aktiv
und besonders integrationsfreundlich agieren. Das Beispiel Luxemburgs ist oft genannt worden, und das ist sicherlich richtig.
Es ist daher richtig, dass wir in unserem Antrag die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedingungen unterstützen.
({1})
Wir formulieren Maßgaben für den Weg; aber diese
Maßgaben sind keine Vorbedingungen für die Aufnahme
von Verhandlungen.
Das Thema Walfang ist wichtig. Zugeständnisse oder
Übergangsfristen zum Stand des Acquis halten wir für
nicht akzeptabel. In der Europäischen Union ist vor allem
durch die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ein hohes
Schutzniveau für Wale eingeführt worden. Daran darf
nicht gerüttelt werden. Die Wiederaufnahme des Walfangs im Jahr 2003 ist aus meiner Sicht weder ökonomisch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt. Deswegen sollte es der isländischen Seite nicht so schwerfallen,
sich auf den Acquis zuzubewegen.
Zur Fischerei wurde viel Richtiges gesagt. Die oberste
Priorität muss auf der Nachhaltigkeit der isländischen Fischereiwirtschaft und der Erhaltung des Fischbestandes
liegen. Diese Priorität muss aber auch für die gemeinsame Fischereipolitik der Europäischen Union gelten.
Alle isländischen Rechtsnormen, die jetzt schon diesem
Ziel dienen, sollten in die Verhandlungen über die Reform der gemeinsamen Fischereipolitik einbezogen werden.
Zum Finanzmarkt. Sie haben recht, Herr Hunko: Island braucht eine stabilitätsorientierte Neuausrichtung
des Finanzmarkts. Das ist eine Maßgabe, die wir für beide
Seiten formulieren wollen, für die isländische Seite und
für die Europäische Union. Ich denke, der Grundsatz der
Kapitalverkehrsfreiheit, der in den Verträgen im Primärrecht festgelegt ist, ist wichtig und richtig, aber er darf
nicht dazu führen, dass die Fehler, die Island einmal gemacht hat, wiederholt werden.
({2})
- Nicht nur Island, auch das ist richtig.
Was mir wichtig ist - das sage ich an die Adresse des
Auswärtigen Amts, dessen Vertreter nicht mehr da sein
kann; er musste rechtzeitig den Flieger nach Brüssel erwischen, was auch in Ordnung ist -: Das politische Signal auf dem Juni-Gipfel ist noch nicht gesichert. Wir
haben gestern im Ausschuss die Information bekommen,
dass es keinen neuen Sachstand bezüglich der Frage
gibt, ob die Verhandlungseröffnung auf dem Rat ein
Thema sein wird. Wir sollten gemeinsam unsere Bundesregierung dazu auffordern, ihren Teil dazu beizutragen, dass die Verhandlungen eröffnet werden, damit wir
im Juni einen Beschluss fassen können.
({3})
Die Verzögerungen, die stattgefunden haben, sind Geschichte. Man kann das so oder so bewerten. Jetzt geht
es darum, ein positives Signal zu senden.
Wir Grüne wollen Verhandlungen mit dem Ziel des erfolgreichen Beitritts. Die Aufnahme von Verhandlungen
ist für uns ganz klar mit dem Ziel des Beitritts verbunden.
Auch die isländische Politik muss das Signal aussenden,
dass sie am Ende den Beitritt möchte. Das Voranschreiten
in den Verhandlungen ist jetzt besonders wichtig, damit
wir, um in einem Bild der letzten Tage zu sprechen, wegkommen vom Sichtflug - Ratsgipfel - und hinkommen
zum Instrumentenflug - Eröffnung von Kapiteln, Benchmarks, Closure Benchmarks und Schließung von Kapiteln -, damit Island rechtzeitig Mitglied der Europäischen
Union wird und nicht noch länger - wie wir letzte Woche
am Flughafen - warten muss, obwohl es schon mehr machen möchte.
Danke sehr.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Wort vorweg zum Verfahren, das hier zumindest
von dem Vertreter der Linken und dem der SPD angesprochen worden ist: Man stelle sich einmal vor, was
passiert wäre, wenn in einem beschleunigten Verfahren
die neuen Mitwirkungsrechte des Bundestags nicht so
ernst genommen worden wären, wie wir es in diesem
Fall getan haben. Wir wären kritisiert worden, etwas
durchpeitschen zu wollen und die neu erworbenen
Rechte nicht ausreichend ernst zu nehmen. Insofern bin
ich froh, dass der Kollege Sarrazin gesagt hat, dieser
Punkt gehöre eher der Vergangenheit als der aktuellen
politischen Debatte an.
Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sarrazin von Bündnis 90/Die Grünen?
Gerne, ja. - Gerade habe ich ihn noch gelobt.
Herr Kollege, wir hätten Ihnen nicht vorgeworfen, es
durchzupeitschen, weil wir ebenso wie die Koalitionsfraktionen der Erstansetzung der Voten der mitberatenden Ausschüsse am Tag vor der Zusammenkunft des
Rats zugestimmt haben; insofern hätten wir dieses Verfahren ganz in Ordnung gefunden. Als Frage formuliert:
Sehen Sie das auch so?
Herr Kollege Sarrazin, Sie wissen, dass es durchaus
Wünsche der einzelnen Ausschüsse gab, ausführlich zu
beraten. Wenn der Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union gesagt hätte: „Beeilt euch bitte
ein bisschen; es muss schneller gehen“, dann hätte es sicherlich den von mir hier beschriebenen Reflex gegeben,
man lasse sich nicht drängen, sondern müsse die Sachen
sorgfältig und in aller Ruhe beraten. Wie man es auch
macht, im Ergebnis kann man es Ihnen doch nicht recht
machen. Ich will diese Unterschiede aber gar nicht zu
sehr betonen; schließlich sind wir uns im Ergebnis einig,
und das finde ich sehr erfreulich.
Island ist eine uralte und stabile parlamentarische Demokratie. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Menschenrechten sind dort seit langer Zeit fest verankert.
Man sieht, wie sehr es den Zusammenhalt, die Architektur einer Gesellschaft erschüttert, wenn ein so kleines
Land eine solche Finanzkrise erlebt. Mir ist wichtig, dass
wir als deutsches Parlament hier klar sagen: Wir stehen
diesem Prozess positiv gegenüber. Wir sehen die Sorgen
und Nöte des isländischen Volkes. - Wir können nämlich
viel von ihm lernen; das wurde hier schon mehrfach gesagt. Ich hätte gern eine Fischereiwirtschaft in der Europäischen Union, die so auf ökonomischen Sachverstand
und ökologische Nachhaltigkeit setzt, die ohne Subventionen auskommt und insofern Vorbild für uns ist. Ich
hoffe nicht, dass wir die Isländer mit den Segnungen unserer Fischereipolitik überziehen.
({0})
Die Banken- und Finanzkrise hat dieses Land, wie gesagt, nachhaltig erschüttert; aber Island wird diese Krise
bewältigen.
({1})
Es ist klar, dass dieses Land mit seinem gegenwärtigen
hohen Haushaltsdefizit die Konvergenzkriterien der
Euro-Zone im Moment nicht erfüllt. Doch die Regierung
in Reykjavik hat wichtige finanzpolitische Maßnahmen
ergriffen, um die immense Staatsverschuldung zu senken
und die Konjunktur wieder anzukurbeln. Ich bin deshalb
vorsichtig optimistisch. Dies ist eine Einschätzung, die
auch der Chef des Internationalen Währungsfonds teilt.
Wir dürfen dieses Beitrittsgesuch nicht auf wirtschaftspolitische Fragen reduzieren. Die Kopenhagener Kriterien müssen vollständig erfüllt werden. Das haben wir in
unserem Antrag deutlich gemacht. Fischerei, Landwirtschaft, Walfang und Finanzkontrolle in Island waren bereits in der Vergangenheit Bereiche, über die ernsthaft
verhandelt werden musste. Gerade was die Finanzkontrolle angeht, kann es nicht sein, dass eine zu laxe Finanzmarktaufsicht dazu führt, dass sich Krisen gegebenenfalls wiederholen.
({2})
Auch der Beitritt zur EU kann kein Selbstläufer sein; vielmehr müssen die Konvergenzkriterien nachhaltig erfüllt
werden. Eine langfristige Einhaltung des EU-Stabilitätspaktes muss gewährleistet werden. Das sind die Lehren,
die wir aus aktuellen Krisen zu ziehen haben.
Wir ermutigen die isländische Regierung, den Dialog
mit Großbritannien und den Niederlanden fortzuführen,
um einen fairen Interessenausgleich auch in der IcesaveProblematik zu finden. Island ist sehr wohl bereit - das
kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht immer an -,
die angelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Es geht dabei nur um die Konditionen. Wir wünschen uns, dass die
niederländischen und britischen Partner dies auch würdigen und man sich bald auf einen fairen Interessenausgleich einigen kann.
({3})
Am Ende sei gesagt: Wir begrüßen das Beitrittsgesuch der Isländer. Wer dort war, spürt, dass dieses Land
zur Wertegemeinschaft der Europäischen Union gehört.
Es ist eine Bereicherung. Es ist ein Land in einer Krise;
aber es wird aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube,
am Ende steht ein positives Ergebnis. Als Liberale wäre
uns das eine große Freude.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Eruption, die wir in der letzten Woche am Eyjafjallajökull
({0})
in Island erlebt haben, weiß jeder - auch der, der diesen
Namen nicht aussprechen kann -, wo dieses Land liegt.
Wir alle haben gemerkt, wie stark wir doch von der Natur abhängig sind, wie sie unsere Zivilisation beeinflussen und welche Folgen das haben kann.
Rechtzeitig vor der heutigen Debatte hat der Vulkan
seine Aktivitäten etwas eingestellt, damit wir wohlgesonnener werden. Aber eine Eruption ist geblieben - die
ist immer noch da -, nämlich die Eruption, die ein ungezügelter Finanzkapitalismus in Island in der westlichen
Welt, ja nahezu in allen Ländern dieser Erde hervorgerufen hat. Diese Betroffenheit macht deutlich, was durch
ungezügelte Finanzmärkte passieren kann. Deshalb ist es
notwendig, aus der Geschichte, in die Island hineingeraten ist, den Schluss zu ziehen: Eine Finanzpolitik, die
nur auf Zaster und Zinsen, Rendite und Reibach ausgerichtet ist, kann ganze Länder in den Abgrund führen
und zerstört Gesellschaften. Das darf nie wieder passieren.
({1})
Wir brauchen daher eine klare Politik, die hier zügelt,
die hier regelt, die auch diesen Teil der freien Wirtschaft
ein Stück weit an die Leine legt. Das ist eine Herausforderung für diese Bundesregierung, aber auch für die Entscheidungen auf europäischer Ebene, die zu treffen sind.
Der europäische Gedanke in Island ist nicht erst in der
oder durch die Krise entstanden. Island ist uns schon viel
länger verbunden. Halldor Laxness, der isländische Literaturnobelpreisträger, der morgen 108 Jahre alt geworden wäre, sagte einmal:
Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen an
dem, was sie einen könnte.
2 344 Kilometer trennen den Deutschen Bundestag vom
isländischen Parlament, vom Althing. Dazwischen liegen ein breites Meer und unterschiedliche Auffassungen.
Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man mit den
schützenswerten Walen umgeht. Es gibt in Island aber
auch eine andere Fischereipolitik, von der die Europäische Union meines Erachtens nach etwas lernen könnte;
sie ist dort nämlich schon seit langem ökologisch und
nachhaltig orientiert. Es gibt dort eine Nutzung regenerativer Energien für die Energieversorgung von nahezu
100 Prozent. Es gibt dort auch eine Tradition der Demokratie, die im Jahr 930 in Thingvellir begonnen hat und
die auf ihrer Wegstrecke - ich sage das auch für die jungen Frauen, die heute im Rahmen des Girls’ Day zu Gast
bei der SPD-Fraktion sind - seit 1915 das Frauenwahlrecht hat.
({2})
Was uns in Europa eint, das ist, dass Island zur europäischen Familie gehört. Die langjährige Mitgliedschaft
in vielen Gremien ist von meinen Vorrednern schon genannt worden. Die nahezu vollständige Übernahme vieler europäischer Regelungen in Island ist allgemein bekannt. Island ist Gründungsmitglied der NATO, aktiver
Mitstreiter bei der OSZE, arbeitet mit uns im Polizeiund Justizbereich zusammen und ist, gerade was Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht,
ein Vorbild. Island ist aber auch bei der Sozialstaatlichkeit ein Vorbild. Island kann Motor für ein soziales
Europa werden. Die Gewerkschaften in Island haben
2008 auf ihrem Kongress mit einer Mehrheit von 290 zu
6 Stimmen beschlossen, Mitglied in der EU werden zu
wollen und auch den Euro einzuführen; denn sie wissen,
dass nur in einem gemeinsamen Markt soziale Sicherheit
gestaltet werden kann.
Ich sage Ihnen eines: Europa wird wirklich nur sein,
wenn es auch ein soziales Europa ist.
({3})
Es ist ebenso wichtig, auch auf die tausendjährigen kulturellen Beziehungen hinzuweisen. Die ersten Bischöfe
Islands haben ihre Ausbildung vor gut 1 000 Jahren im
Bistum Bremen erhalten. Das, was uns bis heute kulturell miteinander verbindet, ist das große Interesse der Isländer an der germanischen Sprache und ist das große
Interesse der Deutschen an der Edda und den Sagas. Im
nächsten Jahr wird Island das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse sein. Dort werden die engen kulturellen
Bindungen nochmals deutlich.
Die Perspektiven sind gut - sie sind bereits genannt
worden -: Wir müssen die arktische Region nachhaltig
und erhaltend gestalten und dürfen nicht nur allein ökonomische Prinzipien herrschen lassen. Auch über außenund sicherheitspolitische Fragen muss gemeinsam diskutiert werden. Das soziale Europa - ich habe es gesagt bekäme durch einen Beitritt Islands einen Schub.
Deutschland ist aus isländischer Sicht ein guter und
verlässlicher Partner. Man fand es sehr sensibel - das
habe ich in Island erfahren können -, wie Deutschland in
der internationalen Finanzkrise gehandelt hat. Island ist
von uns nicht, wie in Großbritannien unter Bezugnahme
auf ein Anti-Terror-Gesetz, zu Zahlungen verpflichtet
worden. Nein, wir sind hier anders vorgegangen. Was
man bei Island beachten und verstehen muss, ist, dass Island erst seit 1944 eine freie Republik ist. Man muss also
auch das Selbstbewusstsein respektieren und die Menschen so annehmen, wie sie sind. Ich glaube, für uns in
Deutschland ist es gut, wenn Island in die Familie der
europäischen Mitgliedstaaten aufgenommen wird und
wir dann gemeinsam eine werteorientierte Außenpolitik
betreiben, auf die so oft hingewiesen wird.
Man muss einmal die Frage stellen: Was ist hierbei
die Schlussfolgerung? Die Schlussfolgerung ist: Märkte
brauchen Regeln. Sozialstaatlichkeit hält die Gesellschaft zusammen. Freiheit kann nur dann entstehen,
wenn aus guter Arbeit auch gutes Einkommen erwächst.
Bildung muss frei und für alle zugänglich sein, egal aus
welchem Elternhaus man kommt. Der Zugang zu Bildung darf nicht vom Einkommen der Eltern, von der
Ethnie oder von der Rasse abhängen. Hier kann man
sehr viel von Island lernen.
({4})
Wie die anderen Kolleginnen und Kollegen will auch
ich mit einem Appell an Sie schließen. Da die Zustimmung zu einem Beitritt Islands auf der Wegstrecke der
offenen Entscheidungsphase in der Europäischen Union
abgenommen hat, müssen wir Mut machen und über die
Europa-Union helfen, damit wir bald zu einer mehrheitlichen positiven Einschätzung des EU-Beitritts in der isländischen Gesellschaft kommen; denn so darf es nicht
weitergehen. Dabei müssen auch die Kontakte der Parteien und Fraktionen hier in diesem Haus mit denen aus
dem isländischen Parlament verbessert werden. Man
wundert sich, warum die eine oder andere Partei in Island gegen einen Beitritt ist. Ich will daher mit einem Zitat aus der Edda von Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert - ein alter Skalde - schließen: „Hast du einen
Freund, dem du fest vertraust, geh oft, ihn aufzusuchen,
denn Gesträuch wächst und starkes Gras auf dem Weg,
den kein Wanderer geht.“ - Deswegen ist es wichtig, als
Parlamentarier gerade in diesen Fragen in Kontakt zu
treten und die Kontakte auszubauen.
Abschließend will ich die Bundesregierung auffordern, im Europäischen Rat Motor dafür zu sein, dass die
Verhandlungen schnell aufgenommen werden können
und dass Island nicht mehr nur zur europäischen Familie
gehört, sondern baldmöglichst Vollmitglied in der Europäischen Union ist.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn wir heute darüber reden, so entscheiden wir doch nicht über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union. Wir entscheiden aber sehr wohl
über die Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt. Das ist eine echte Premiere. Bisher waren wir erst
nach Abschluss der Verhandlungen beteiligt und durften
Beitrittsakten zustimmen, an deren Verhandlungen wir
nicht beteiligt waren und deren Ergebnis wir nicht ändern konnten. Jetzt sind wir erstmals vor Beginn der Verhandlungen beteiligt. Noch bevor die Bundesregierung
im Europäischen Rat der Aufnahme von Verhandlungen
zustimmt, muss der Bundestag um Einvernehmen gebeten werden. Das wollen wir heute im Sinne einer Aufnahme der Verhandlungen erreichen.
({0})
Es zeigt sich, dass unsere Begleitgesetzgebung zum
Vertrag von Lissabon, die wir im letzten Jahr beschlossen haben, wirkt. Ich will der historischen Wahrheit Genüge tun und betonen, dass diese Initiative einst von der
CDU/CSU ausgegangen ist. Wir haben bereits zwei Legislaturperioden zuvor, nämlich im Januar 2005, einen
entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich freue mich, dass
unsere Position im Zuge des Lissabon-Vertrages eine
Mehrheit in diesem Hause gefunden hat.
Nicht ganz zustimmen kann ich der Kritik, die hier
vor allem vonseiten der SPD geäußert worden ist, dass
man schneller hätte beraten müssen. Die Kommission
hat ihre Stellungnahme, mit der sie die Aufnahme von
Verhandlungen empfiehlt, am 24. Februar vorgelegt. Gerade einmal zwei Monate später verabschieden wir im
Bundestag eine substanziierte Stellungnahme, mit der
wir der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen. Was
wollen Sie eigentlich mehr? Entweder will man schnelle
Entscheidungen, dann darf man im Zweifel die Abgeordneten nicht fragen; oder man will parlamentarische
Mitwirkung, dann muss man dafür auch Zeit einräumen.
({1})
Wir sind der Meinung: Parlamentarische Beratung
braucht Zeit; Demokratie insgesamt braucht Zeit. Auch
ein Europa der Bürger braucht Zeit. Wir nehmen uns
diese Zeit. Das ist richtig so.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
den Eindruck, dass auch die isländische Bevölkerung
durchaus Zeit braucht für diesen Verhandlungsprozess.
Es gibt dort zwar eine Mehrheit für die Einführung des
Euro. Aber 70 Prozent der Bevölkerung lehnen derzeit
einen Beitritt zur Europäischen Union ab. Es hat sich in
den letzten Monaten in Island erst noch herumsprechen
müssen, dass man nicht Ja zum Euro, aber Nein zur
Europäischen Union sagen kann. Es zeigt sich, dass in
Island unter dem Eindruck der Finanzkrise und eines
wachsenden Haushaltsdefizits sowie angesichts von
Bankeninsolvenzen kurzfristig die Überzeugung entstanden ist, man könne sich mit dem Euro stabiler aufstellen.
Dies zeigt auch der Blick nach Irland, das als Mitglied
der Euro-Zone deutlich besser aus der Wirtschafts- und
Finanzkrise herausgekommen ist. Der Beitritt selbst erfordert natürlich eine langfristige Bindung an die Europäische Union. Da sind einige Fragen neu zu beantworten.
Gleichwohl gilt: Island ist seit Jahrzehnten auf das
Engste mit der Europäischen Union verbunden. Wir unterstützen das Ziel einer EU-Mitgliedschaft Islands. Die
politischen Kriterien sind zweifellos erfüllt. Island ist
eine der ältesten Demokratien der Welt. Fragen nach
Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellen sich
nicht. Auch der gemeinschaftliche Besitzstand ist in weiten Teilen bereits übernommen. Island gehört nach dem
Beitritt im Jahr 1970 der Europäischen Freihandelszone
seit nunmehr 40 Jahren an. Island ist Gründungsmitglied
des Europäischen Wirtschaftsraumes, der 1994 geschaffen wurde. Auch die Zusammenarbeit von Polizei und
Justiz funktioniert seit vielen Jahren völlig reibungslos.
Viele Fragen, die Gegenstand der Verhandlungen sein
werden, werden sich also sehr schnell beantworten lassen.
Island ist ohne Zweifel eine funktionierende Marktwirtschaft. Aber wie wir in unserem Koalitionsantrag
ganz bewusst formulieren: Vor der Bankenkrise hatte Island die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den
Marktkräften im Europäischen Wirtschaftsraum standzuhalten. Nach der Bankenkrise ist es erforderlich, dass die
Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
standzuhalten, auch in Bezug auf die Europäische Union
als Ganzes möglich wird. Hier gibt es Defizite. Die
Staatsverschuldung ist im letzten Jahr auf 125 Prozent
gewaltig gestiegen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei
14,4 Prozent. Das bedeutet, dass Island gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen vor sich hat.
Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kriterien für die Konvergenz in der Euro-Zone nur dann relevant werden, wenn es um den Beitritt zur Euro-Zone
geht. Es sind keine expliziten Kriterien für die Aufnahme in die Europäische Union. Natürlich muss die offene Frage, wie der Schaden der niederländischen und
der britischen Sparer reguliert wird, beantwortet werden.
Sehen Sie es mir nach, dass ich mir folgenden Kalauer
heute nicht verkneifen kann: Bislang haben die Geschädigten nur Asche bekommen; aber sie wollen natürlich
Kohle sehen. Wichtig ist allerdings, dass die wirtschaftlichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfüllt
sein müssen. Deswegen sind die noch offenen Fragen
kein Hindernis für die Aufnahme von Verhandlungen.
Im Gegenteil: Der Prozess der Beitrittsverhandlungen
kann zur wirtschaftlichen Stabilisierung Islands selbst
beitragen.
Die wichtigsten Fragen in diesem Beitrittsprozess
umfassen sicherlich die Fischereipolitik bis hin zum
Walfangverbot. Ich kann die Position Islands gut nachvollziehen, da es hier um erhebliche Kompetenzübertragungen auf die Europäische Union in Bereichen geht,
die für Island von existenzieller Bedeutung sind.
Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass Behörden der Europäischen Union in der Alltagspolitik
keine anonymen und autokratischen Entscheidungen
treffen. Hierfür muss aber im Alltagsgeschäft der Europäischen Union Transparenz herrschen, Bürgernähe
praktiziert und das Prinzip der Subsidiarität ernst genommen werden. Ich meine, das würde es den Isländern
erleichtern, bei den schwierigen Themen „Fischerei“
und „Walfangverbot“ Zugeständnisse zu machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es
für richtig, dass wir diese Debatte über die Aufnahme
von Verhandlungen mit Island über einen Beitritt zur Europäischen Union zum Anlass nehmen, die Erweiterungsstrategie der Europäischen Union insgesamt auf
den Prüfstand zu stellen. Es ist hier schon angesprochen
worden: Es gab immer wieder politische Rabatte. Deswegen war es notwendig, in unserem Antrag darauf hinzuweisen, dass erst die Beitrittskriterien strikt erfüllt sein
müssen, bevor man über einen Beitrittstermin sprechen
kann. Es gibt insoweit keinen Automatismus.
Island selbst wird das Tempo der Verhandlungen bestimmen. Die Europäische Union wird die Fortschritte
bewerten. Ich stimme zu, Herr Kollege Link, dass wir
keine Koppelungsgeschäfte mit der Aufnahme Islands
verbinden dürfen. Wir müssen jeden Staat gesondert behandeln. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union, dass wir ein Kandidatenland nicht in
Haftung für die Erfüllung sonstiger Zwecke der Europäischen Union, für die Vornahme bestimmter Vertragsänderungen oder für andere Kandidatenländer nehmen.
({2})
Wir unterstützen die Aufnahme von Verhandlungen.
Ich setze darauf, dass die Bundesregierung bereit ist,
eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag
über die Fortschritte und über den weiteren Zeitplan der
Verhandlungen zu pflegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Veronika Bellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Aus Überlieferungen ist bekannt, dass die isländische Hauptstadt Reykjavik übersetzt so viel wie „rauchende Bucht“ heißt und die Isländer ihre Vulkane als
„Eingänge zur Hölle“ bezeichnen. So weit muss man
nicht gehen; aber es sind in den letzten Tagen nun wirklich viele mehr oder weniger gut gelungene Sprachbilder
in Bezug auf Island gebraucht worden.
({0})
Es ist uns jedoch allen klar geworden, dass die Bezeichnung „Naturgewalten“ wohl ihre Berechtigung hat. Denn
die Natur hat europäisch, ja sogar global Gewalt ausgeübt.
Eine ganz andere Form der Gewalt, nämlich die gesetzgeberische, ist das, was uns hier in unserem Hause beschäftigt und was auch Mittelpunkt der heutigen Debatte
ist. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
wurde von den Fraktionen und den Facharbeitsgruppen
sehr intensiv beraten und ist eine gute Arbeitsgrundlage.
Insofern brauchen wir uns gerade von Herrn Roth kein zu
geringes Engagement vorwerfen zu lassen.
({1})
Ganz im Gegenteil: Wir haben uns sehr zeitig und sehr
intensiv damit befasst.
({2})
- Ich lobe Sie gleich noch, Herr Roth. Also nehmen Sie
sich mal wieder zurück.
Aber auch die Anträge der anderen Fraktionen sind
von der gleichen Grundintention geprägt, nämlich sich
positiv in Richtung Island zu artikulieren. Deshalb habe
ich auch keine Zweifel, dass wir heute ein Einvernehmen
zur Aufnahme von Verhandlungen mit Island über den
Beitritt zur EU herstellen können. Damit hat die Bundesregierung rechtzeitig - ich betone: rechtzeitig - den notwendigen parlamentarischen Rückhalt, um im Europäischen Rat ihre Zustimmung zu den Verhandlungen über
die Aufnahme Islands in die EU zu geben.
Insofern verstehe ich nicht, warum die Opposition in
den letzten Tagen und Wochen sozusagen im Galopp
durch diese Vorberatungen hindurch wollte. Für meine
Begriffe ist es besser, einen kleinen Schritt zu gehen und
voranzukommen, als durch zu große Schritte ins Stolpern zu geraten. Wir haben nun wirklich lange genug um
die Mitspracherechte in den Angelegenheiten der Europäischen Union gerungen; meine Vorredner haben es
sehr oft betont. Jetzt haben wir sie, und wir wollen verantwortlich damit umgehen, weil genau das für die Akzeptanz europapolitischer Entscheidungen bei den Bürgern wichtig ist. Keiner, aber auch wirklich keiner hätte
etwas davon gehabt, wenn wir nur durch die Thematik
gehastet wären und irgendetwas erzwungen hätten.
({3})
Ich bin davon überzeugt, dass es der Würde eines Beitrittslandes - sei es auch noch so klein - nicht gerecht
würde, wenn wir uns nicht ausreichend mit ihm befassen
würden. Zudem entspricht es nicht der Würde unseres
Hauses, die Ausschüsse, die noch Beratungsbedarf haben,
({4})
unter Druck zu setzen und ihnen zu sagen: Geht nicht!
Wir haben bis zum Fristablauf und zur Befassung des
Europäischen Rates zwar noch ausreichend Zeit, aber
wir wollen - vor wem auch immer - glänzen und müssen dafür eure parlamentarischen Rechte leider ein wenig einschränken.
Diese Hast und auch diese in der Vergangenheit so oft
vorgetragene blinde Europa-Euphorie war gestern.
({5})
Heute sind gerade bei geplanten Beitritten Realitätssinn
und ein ganzes Stück Entschleunigung gefragt. Übereilte
Zusagen entziehen den Verhandlungspartnern nur Sicherheit. Für ein kleines beitrittswilliges Land bedeutet
es Sicherheit, wenn es auf Grundlage eines einstimmigen Ratsbeschlusses, der auf stabilen Fundamenten entsprechender Beschlüsse in den Nationalstaaten steht, auf
gleicher Augenhöhe mit der großen EU über den Beitritt
verhandelt. Zu dieser sehr ehrlichen und offenen Aussage habe ich bei unseren Gesprächen in Island absolut
keinen Widerspruch gehört.
Island kann Europa bereichern, Europa kann Island
bereichern. Das Land gilt als sehr umweltfreundlich. Wir
können gerade im Hinblick auf erneuerbare Energien,
eine moderne Fischereipolitik und nachhaltiges Wirtschaften unheimlich viel von ihm lernen.
({6})
Island ist bereits heute weitgehend in den Wirtschaftsund Rechtsraum der EU integriert. Das Land gehört zum
Anwendungsbereich des Schengener Abkommens und
nimmt am EU-Binnenmarkt teil. Rechtsstaatlichkeit und
Marktwirtschaft sind gesetzt, ebenso die Achtung der
Menschenrechte. Herr Thönnes hat es schon angesprochen: Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte Islands beschäftigt, dann erfährt man, dass dort bereits seit
dem Jahr 930 Parlamente gewählt wurden. Damit hat das
Land eine sehr tief verwurzelte demokratische Tradition.
Wir trauen diesem Land auch zu - das verlangen wir
auch, wenn es zum Beitritt kommt -, dass es die Ziele und
Verpflichtungen der politischen Union, also den gemeinschaftlichen Besitzstand, übernimmt. Deshalb sind Anpassungen in den Bereichen Fischerei, kommerzieller
Walfang - darüber wurde schon viel gesprochen -, Landwirtschaft, Regionalpolitik, Kapitalverkehr und Finanzdienstleistungen notwendig. Damit werden die Kopenhagener Kriterien erfüllt; so sieht es zumindest die
Kommission. Auf die Konvergenzkriterien trifft das allerdings nicht zu - Herr Silberhorn hat es schon angesprochen -: Mit einer Schuldenstandsquote von 125 Prozent
und einem Haushaltsdefizit von 14,4 Prozent ist das Land
weit vom Euro-Raum entfernt.
Deutschland hat den Ausbau der Beziehungen zwischen Island und der EU bis hin zu einer Vollmitgliedschaft immer begrüßt, nur waren die Isländer bisher sehr
zurückhaltend. Diese Zurückhaltung löste sich erst mit
Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Island in
ziemliche Turbulenzen gestürzt hat. Lieber gestern als
heute wäre man dem Euro-Raum beigetreten und erst
dann der EU. Als klar wurde, dass der Mechanismus genau andersherum verläuft - erst der Beitritt zur EU, dann
zur Währungsunion -, dass für Island im Beitrittsprozess
trotz Krise dieselben Kriterien, Bedingungen und Verfahren wie für jeden anderen beitrittswilligen Staat gelten, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben würde,
ebbte die Euphorie erheblich ab. Hinzu kamen schwierige Verhandlungen über Rückzahlungsforderungen Großbritanniens und der Niederlande; dabei ging es um
Schulden der isländischen Direktbank Icesave bei diesen
Ländern in Höhe von immerhin 3,9 Milliarden Euro.
Die Isländer sind beim Thema EU-Beitritt zwischen
Pro und Kontra hin und her gerissen. Deshalb kommt es
nicht nur auf die Verhandlungsweise der EU an, sondern
auch darauf, ob und wie gut der isländischen Regierung
die Argumentation für einen EU-Beitritt in der Öffentlichkeit gelingt. Ich denke, dass die isländische Ministerpräsidentin nicht unbedingt schlagende Argumente anwendet, wenn sie auf solche Darstellungen wie auf
einem Wandteppich im Kabinettssaal der isländischen
Regierung zurückgreift: Hier hat sie einen Knüppel in
der Hand und drischt dem Finanzminister - ich glaube,
er ist von den Grünen - so lange auf den Kopf ein, bis
sich bei ihm zwölf Europasterne um den Kopf drehen.
({7})
Die Isländer werden in ein paar Jahren nach Ablauf
der Verhandlungen in einem Referendum beweisen können, wie sie den EU-Beitritt sehen. Dann werden wir sehen, ob wir mit der heutigen Einvernehmenserklärung
hinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen
Weg gelegt haben oder ob das alles - jetzt nutze ich doch
ein Sprachbild mit dem Vulkan - ein Tanz auf dem Vulkan gewesen ist. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr,
dass die Isländer auch hier neue Wege gehen und an ihre
wichtigste Industrie denken, an die Fischereiindustrie.
Denn die Fischer - so sagt ein altes Sprichwort - suchen
ihre Fische dort, wo sie sind, und nehmen jeden Tag einen neuen Weg, um sie ausfindig zu machen. So kann es
sein, dass der Weg von gestern nicht der Weg zu den Fischen von heute ist.
Jeden Tag einen neuen Weg gehen und Mut zum Beitritt - das wünsche ich den Isländern und auch uns.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 17/1464.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1190
mit dem Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik
Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungs-
antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191
zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun-
deskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März
2010 in Brüssel. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1059 mit dem Ti-
tel „Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die
Europäische Union eröffnen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Ent-
schließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1172 zu der bereits genannten
Regierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mit
dem Titel „Rechte des Bundestags nach den Begleitge-
setzen zum Vertrag von Lissabon wahren - hier: Einver-
nehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen mit Island herstellen“ für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Effektivere Arzneimittelversorgung
- Drucksache 17/1201 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Faire Preise für wirksame und sichere Arzneimittel - Einfluss der Pharmaindustrie begrenzen
- Drucksache 17/1206 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversorgung verbessern - Positivliste einführen Arzneimittelpreise begrenzen
- Drucksache 17/1418 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
dieser Aussprache nicht bewohnen wollen, den Saal zu
verlassen, damit die anderen ungestört folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der
SPD-Fraktion.
({3})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragen
heute unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung vor. Was ist
der Hintergrund unserer Vorschläge? Der Hintergrund ist
der, dass es in der Gesundheitspolitik in den letzten Wochen zu einem völligen Stillstand gekommen ist. In den
letzten Wochen ist viel geredet worden, zum Teil auch
sehr aufgeregt. Aber de facto ist seitdem nichts passiert.
({0})
Sie haben von einer großen Kopfpauschale gesprochen, aber es gab kein Konzept. Frau Merkel hat Minister Rösler gebeten, dieses Thema nicht immer wieder zu
erwähnen. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass
kein Geld da ist. Herr Söder hat ebenso wie Herr
Seehofer darauf hingewiesen, dass kein politisches Mandat vorhanden ist. Was ist übrig geblieben? Es gibt kein
Geld, kein Konzept und keinen politischen Willen. Es ist
schlicht nichts übrig geblieben.
({1})
- Keine Sorge, zu Ihnen komme ich gleich.
Sie haben dann über eine kleine Kopfpauschale philosophiert. Es war von einem Betrag in Höhe von 29 Euro
die Rede. Herr Rösler hat das halbherzig dementiert.
Auch hierfür gilt: Es gab nie ein Konzept, es gab kein
Geld und keine Einigkeit, gar nichts.
({2})
Das Einzige, was in der Diskussion übrig geblieben ist:
Man hört aus Kreisen der Regierungskommission bzw.
von Herrn de Maizière, dass der Beitragssatz nach der
Wahl in Nordrhein-Westfalen angehoben werden soll.
({3})
Eine Beitragssatzerhöhung ist alles, was nach diesem
Buhei übrig geblieben ist. Das ist zu wenig.
({4})
Ich fasse dies, wie ich glaube, fair zusammen - auch
wenn das eine Enttäuschung für jedermann und jede
Frau ist -, wenn ich sage: Es ist nichts passiert.
Welche Strategie könnte dahinterstecken? Die Strategie - sofern man überhaupt eine erkennt - könnte allenfalls die sein, dass man versucht, sich über die Wahl in
Nordrhein-Westfalen zu retten, um dann unbeliebte Vorschläge zur kleinen, mittelgroßen oder großen Kopfpauschale zu bringen. Sollte dies die Strategie sein, dann ist
sie nicht aufgegangen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem
man eine solche Pauschale hätte beschließen können, hat
man es nicht gewagt. Demnächst ist die schwarz-gelbe
Regierung in Nordrhein-Westfalen weg, dann kann man
sie nicht mehr beschließen.
({5})
In der Summe: Als man sie hätte beschließen können,
hat man es nicht gewagt. Jetzt, da man möglicherweise
den Mut aufbringt, ist die Zeit abgelaufen. Hat es eine
Strategie gegeben, so ist sie nicht aufgegangen.
({6})
Ich komme zum Handwerk: Es ist ja viel über das gesundheitspolitische Handwerkszeug der schwarz-gelben
Koalition geschrieben worden. Ich gehe einmal kurz auf
den Vorschlag der kleinen Kopfpauschale ein, der halbherzig dementiert wurde. Frau Flach, was käme dabei
heraus?
({7})
- Frau Flach, das ist auch für Sie lehrreich. Konzentrieren Sie sich.
({8})
Was hätten wir dann? Wir hätten einen Arbeitgeberbeitrag, wir hätten einen Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten
eine kleine Prämie, wir hätten einen Finanzausgleich
zum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten
einen allgemeinen Steuerzuschuss, und wir hätten einen
Finanzausgleich für die Prämie.
({9})
Wir hätten im Prinzip sieben Elemente auf der Einnahmeseite. Das wäre dann das komplizierteste Gesundheitssystem in Europa. Das gesamte Buhei hätte nur den
Hintergrund, dass man den Arbeitgeberbeitrag festfrieren will. Es wäre ein reines Umlagesystem.
({10})
Ich bringe in Erinnerung: Die FDP hat uns über Jahre
hinweg mit dem Hinweis genervt, dass die Gesundheitspolitik nur überleben könnte, wenn ein kapitalgedecktes
System eingeführt würde. Davon ist jetzt keine Rede
mehr.
({11})
Ich habe das immer für falsch gehalten. Alles, was wir
jetzt hören, ist: Beitragssatzerhöhung. Außerdem kommt
es vielleicht zu einem Umstieg von einem relativ einfachen und gerechten Umlagesystem zu einem komplizierten und ungerechten Umlagesystem. Das ist alles, was
Sie uns bisher hier anbieten können.
({12})
- Herr Lanfermann, überlassen Sie es bitte uns, die Dinge
vorzubringen, die wir für relevant halten. Ich komme
gleich zu den Arzneimitteln.
({13})
Wenn wir hier Handwerk und Stillstand beklagen, dann
tut Ihnen das weh. Sonst würden Sie sich nicht beschweren, Herr Lanfermann.
({14})
Nun zur Pharmaindustrie: Der einzige brauchbare
Vorschlag ist die Einführung eines Zwangsrabattes von
16 Prozent. Der kommt aber zu spät.
({15})
So werden die Preiserhöhungen, die wir derzeit beobachten, einen Teil dieses Rabattes wegfressen. Das gilt
übrigens auch, wenn er rückwirkend eingeführt wird.
({16})
Wir erwarten, dass es zu Preisverhandlungen für neue
Arzneimittel kommt. Der Weg über IQWiG wäre ein
kompliziertes, bürokratisches Verfahren ohne Einsparpotenzial.
Was hören wir also auch in diesem Bereich? Bürokratie pur ohne eine relevante Einsparung. Ihnen laufen die
Beiträge quasi davon. Im nächsten Jahr werden 15 Milliarden Euro fehlen. Wir hören nicht einen einzigen Vorschlag, wie diese Deckungslücke geschlossen werden
soll.
({17})
Herr Kollege Lauterbach, darf ich Sie kurz unterbrechen? Der Kollege Lanfermann würde Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne, Herr Lanfermann.
Vielen Dank. - Herr Kollege Lauterbach, ich gehe ein
wenig zurück: Sie haben gesagt, die Erhöhung des Ra3530
batts auf 16 Prozent käme zu spät, weil wir gerade Preiserhöhungen erlebt hätten. Man hätte das stattdessen irgendwie rückwirkend festsetzen müssen.
Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Eckpunktepapier,
das mittlerweile sehr weit verbreitet ist, mit der Einführung einer Rabatterhöhung zum 1. August 2010, wie angekündigt, auch ein Preismoratorium festgelegt wird,
das auf die Preissituation am 1. August 2009 zurückgeht,
weil es insbesondere in den Monaten August und September 2009 eine Reihe von Preiserhöhungen gegeben
hat?
({0})
Das ist durchaus bekannt. Meine Belehrung bestand
lediglich darin,
({0})
dass zu Jahresbeginn infolge Ihrer Ankündigung Preiserhöhungen stattgefunden haben und derzeit von den
Krankenkassen die erhöhten Preise bezahlt werden, dieses Geld also weg ist und gemäß Ihrem Vorschlag nicht
zurückgefordert werden soll. Bevor ich Ihnen Ihren eigenen Vorschlag erkläre, Herr Lanfermann, frage ich Sie:
Ist Ihnen klar, dass das Geld, das die Kassen in dieser
Periode aufgrund der Erhöhung in den Monaten Januar
und Februar mehr haben zahlen müssen, für die Kassen
verloren ist? Ist Ihnen klar, dass dieses Geld durch Ihren
Vorschlag nicht zurückgefordert werden kann? Dieses
Geld ist schlicht weg. Das läuft Ihnen durch die Hand.
Dieses Geld können Sie auch durch eine rückwirkende
Festlegung und ein Preismoratorium nicht festhalten.
Das sage ich dazu.
({1})
- Ich habe den Vorschlag ja verstanden, wie auch Sie,
Herr Spahn. Die Rückfrage kam ja von Herrn
Lanfermann, der Probleme hat.
({2})
Herr Lanfermann hat ja Probleme.
({3})
Es ist richtig, wir machen den gleichen Vorschlag. Ich
sage nur, dass selbst dieser Vorschlag - das ist der einzige Vorschlag, den Sie bisher gemacht haben; daher
können wir nicht viel diskutieren - Ihnen nicht viel Geld
bringt. Sie stehen nachher mit leeren Händen da.
Ich komme zum Abschluss. Ich bringe noch ein letztes Beispiel zum Handwerk. Da wird der Vorschlag gemacht, die Mangelversorgung bei Hausärzten dadurch zu
verbessern - das müssen Sie sich einmal vorstellen! -,
dass der Numerus clausus für Medizinstudenten abgeschafft wird. Was zeigt das? Das zeigt die Vorurteile des
Ministers. Der Minister scheint zu denken, dass man für
die Hausarzttätigkeit nicht so schlau sein muss.
({4})
Darüber hinaus scheint er zu denken, dass diejenigen, die
einen guten Numerus clausus haben, keine guten Hausärzte sein können.
({5})
Das sind die Vorurteile, die sich hier zeigen. Kein einziger zusätzlicher Hausarzt wird aufs Land kommen. Die
Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich.
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege
Lauterbach.
Ich komme zum Schluss. - Die Vorschläge, die wir
bisher gehört haben, bringen allesamt nichts. Bisher
herrscht Stillstand auf hohem Niveau. Man kann nur abwarten, bis sich die FDP wieder aus dieser wichtigen sozialpolitischen Disziplin zurückzieht.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Lauterbach, bei aller Wertschätzung, Sie
haben es jetzt geschafft, Ihre ganze Redezeit zu dem
Thema „Effektivere Arzneimittelversorgung“, das Sie
hier beantragt haben, mit Belehrungen, zugegebenermaßen professoraler Art, zu füllen und dabei das Wort
„Arzneimittel“ nur zweimal zu benutzen; ansonsten haben Sie nichts, aber auch gar nichts zum Inhalt des Antrags, den Sie gestellt haben und den wir hier beraten,
gesagt.
({0})
Ich glaube, Sie wissen auch, warum Sie Ihren eigenen
Antrag nicht erwähnen: Er ist nämlich längst überholt
({1})
durch Regierungshandeln.
({2})
- Ja, Handeln.
({3})
- Vor allem ist das mehr, als elf Jahre lang nur irgendetwas zu erzählen.
Sie von Rot-Grün haben elf Jahre lang nacheinander
die Gesundheitsministerin gestellt
({4})
und immer davon geredet, dass Sie jenseits von kurzfristigen Strukturveränderungen die Preisbildung von Arzneimitteln in Deutschland langfristig verändern wollen,
aber das haben Sie in elf Jahren nicht geschafft. Jetzt
sind Sie in der Opposition insgesamt, insbesondere SPD
und Grüne, erschrocken, dass es nun gerade eine bürgerliche Koalition ist, die das, was Sie elf Jahre lang angekündigt, aber nicht geschafft haben, nun wenige Monate
nach Regierungsantritt schafft.
({5})
Das ist Ihr eigentliches Problem.
({6})
Was werden wir tun? Erstens. Wir werden - darüber
haben Sie gesprochen; auch das wird in Ihren Anträgen
erwähnt - kurzfristig Sparmaßnahmen ergreifen; das ist
nichts Neues, das hat es auch bei früheren Regierungen
gegeben. Sie haben das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung erwähnt: Im nächsten Jahr werden zwischen 10 und 15 Milliarden Euro erwartet. Das ist das
größte Defizit in der Geschichte der Krankenversicherung. Natürlich muss die Pharmaindustrie da einen Solidaritätsbeitrag leisten. Das werden wir in Form eines gesetzlich vorgeschriebenen Herstellerrabattes bewirken,
der mit allen anderen Maßnahmen zusammen mindestens 1,5 bis 2 Milliarden Euro Sparwirkung allein für das
nächste Jahr bringen wird; diese Sparwirkung wird es
auch in den Jahren darauf geben.
({7})
Das ist ein erster wichtiger Beitrag zu Einsparungen bei
den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.
Zweitens - jetzt kommt das Entscheidende, was bei
vergangenen Reformen auf dem Arzneimittelmarkt nicht
gelungen ist - werden wir langfristig die Strukturen so
verändern, dass nicht der Arzneimittelhersteller nach
Zulassung einseitig die Preise festlegt, die dann auch gezahlt werden müssen - so ist es bisher in Deutschland
üblich -, sondern die Preise in Zukunft an den tatsächlich wissenschaftlich nachgewiesenen Zusatznutzen von
Arzneimitteln gekoppelt sein werden. Es wird nur für
tatsächlich bewiesenen Zusatznutzen in Zukunft mehr
Geld geben.
({8})
Das ist das eigentlich Neue. Davon haben Sie elf Jahre
geredet. Das werden wir jetzt tun. Sie stört, dass wir es
tun und nicht Sie, nachdem Sie dazu nicht die Kraft hatten.
({9})
Wir haben zudem eine Verhandlungslösung vorgesehen. Das heißt, die Hersteller verhandeln mit den Krankenkassen, und zwar in genau vorgegebenen Zeitabläufen
von maximal 15 Monaten mit einer Schiedsamtslösung.
Sie werfen uns vor, dass wir solche Instrumente ergreifen.
Ich halte das unter den gegebenen Umständen für die
beste Lösung. Wir wollen nämlich keine staatliche Preisfestsetzung. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Gesundheitswesen. Wir wollen Verhandlungslösungen, bei
denen die Partner jeweils begründen müssen, welche Vorstellung sie haben. Wir wollen aber auch nicht, dass sich
die Verhandlungen unendlich in die Länge ziehen. Deswegen haben wir klare zeitliche Rahmen vorgegeben. Es
ist doch ein großer Unterschied, ob nach spätestens
15 Monaten tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vorliegt oder ob es - so ist es heute - nach oben offene Preisfestsetzungen für die ganze Zeit des Patentes gibt.
Eins ist uns dabei ganz wichtig, nachdem hier immer
wieder von der sogenannten vierten Hürde bei der Zulassung die Rede ist: Wir in der christlich-liberalen Koalition legen großen Wert darauf, dass es dabei bleibt, dass
Patientinnen und Patienten - auch in der gesetzlichen
Krankenversicherung und nicht nur in der privaten Krankenversicherung - einen direkten Zugang zu neuen Medikamenten bekommen;
({10})
denn mit neuen Medikamenten ist auch die Hoffnung
etwa von Krebspatienten, von MS- oder Parkinson-Patienten - stellen Sie sich vor, es gäbe endlich ein Medikament gegen die Geißel Demenz - auf Leidminderung
verbunden. Deswegen wollen wir weiterhin ab Zulassung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, einen Zugang
der Patientinnen und Patienten zu dieser Versorgung.
Auch das ist für uns ein wichtiger Punkt bei dieser anstehenden Reform.
({11})
Im Übrigen - ich bin gespannt auf die weiteren Reden, auch auf die der Opposition ({12})
fand ich es bemerkenswert, Herr Kollege Lauterbach,
wie sprachlos Sie im Grunde in Bezug auf Ihren eigenen
Antrag gerade sechs Minuten lang gewesen sind. Sie haben über alles Mögliche geredet, über alles, was Ihnen
eingefallen ist, bis hin zur ärztlichen Versorgung im
ländlichen Raum. Das ist ein wichtiges Thema. Aber ich
weiß nicht, was das in einer Debatte zur effektiven Arzneimittelversorgung, die Sie selbst beantragt haben, eigentlich soll.
Sie wissen ganz genau - das gilt im Übrigen auch für
die Anträge der übrigen Oppositionsfraktionen; ich bin
schon gespannt auf Ihre Reden -,
({13})
dass wir vieles von dem, was Sie fordern - zum Teil
richtigerweise -, nicht nur in Worten vor uns hertragen,
sondern auch in Taten umsetzen werden.
({14})
Die ersten Dinge werden zum 1. August in Kraft treten;
wir bringen sie jetzt in den Gesetzgebungsprozess ein.
Der zweite Teil des Gesetzes, in dem es um die Eckpunkte geht, wird zur Sommerpause hin beraten und
zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten.
Genauso wie wir im Bereich der Arzneimittelpreisfindung langfristige Lösungen angestrebt haben und jetzt
auch finden werden - nicht nur kurzfristige, wie in der
Vergangenheit, sondern langfristige, nachhaltige Lösungen -, werden wir Lösungen bei der ärztlichen Versorgung suchen und finden - es ist gut, dass die Debatte darüber begonnen hat -, und genauso nachhaltig werden
wir eine Lösung für die dauerhafte, breitere, gerechtere
Finanzierung des Gesundheitswesens finden.
({15})
Wir machen das Schritt für Schritt. Wir machen es
fundiert. Wir werden vieles von dem, was Sie über Jahre
erzählt haben, jetzt mit christlich-liberalem Geist, auf
christlich-liberaler Basis umsetzen,
({16})
und zwar schneller, als es Ihnen lieb ist, weil damit die
ganzen Überschriften, die Sie gerne in der Gegend herumposaunen, und damit wahrscheinlich auch manche
der vielen Debatten, die Sie hier Woche für Woche beantragen, ohne substanziell wirklich Neues vorzutragen,
überflüssig werden.
({17})
Das ist das eigentliche Problem, Herr Kollege
Lauterbach: Sie reden, wir handeln.
({18})
Aber Sie wollen jede Woche aufs Neue reden und das
Gleiche erzählen. Unsere Taten werden Ihren Worten - ({19})
- Immerhin haben alle aufgepasst.
({20})
Jetzt habe ich es: Unsere Taten werden Ihre Worte Lügen
strafen. So wollte ich es sagen.
({21})
Alles Gute.
({22})
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident, vielen Dank. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Nach so viel Humor will ich versuchen,
wieder ein bisschen Ernst in diese Debatte zu bringen.
Vor Ostern ist es ja laut durch den Blätterwald gerauscht:
Der FDP-Gesundheitsminister will die Pharmakonzerne
entmachten, hieß es. Die Branche jaulte natürlich zunächst auf. Aber der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie hat nur trocken kommentiert, da wolle
der Minister die Unternehmen wohl zu etwas zwingen,
was sie sich selbst ausgedacht haben,
({0})
weil das Verhandlungskonzept in weiten Teilen von den
Verbänden vorgelegt worden war.
({1})
Uns als Parlament liegt das Konzept der Bundesregierung noch nicht vor. Aber nach dem, was bisher so
durchgesickert ist, lieber Kollege Spahn, scheint es für
uns in einigen Punkten tatsächlich zustimmungsfähig zu
sein.
({2})
Das gilt insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertung
und die Orientierung an internationalen Vergleichspreisen; das steht auch in unserem Antrag. Diese Schritte
sind alleine aber keineswegs ausreichend, um den
Selbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie zu
schließen.
({3})
Solange die Pharmaunternehmen selbst die Preise festlegen und über die Studien entscheiden, mit denen Nutzen
und Risiken belegt werden, so lange werden wir die Arzneimittelausgaben nicht in den Griff bekommen. Ihr
Preisstopp in Kombination mit einem zusätzlichen
Zwangsrabatt von 10 Prozent schafft zwar kurzfristig etwas Luft, aber dann setzen die Hersteller zukünftig die
Preise für neue Produkte entsprechend höher an, zumal
Sie ihnen ja weiterhin für das erste Jahr oder für
15 Monate gestatten wollen, diese Mondpreise zu kassieren. Außerdem - das haben wir gelernt - werden die
Unternehmen dafür zu sorgen wissen, dass dann entsprechend mehr Medikamente verordnet werden. Dem müssen wir im Interesse der Versicherten einen Riegel vorschieben.
({4})
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen, IQWiG, hat vor zwei Jahren in einer
Studie festgestellt, dass nirgends in Europa so viel für
Medikamente ausgegeben wird wie bei uns, gleichzeitig
deutsche Ärzte weniger Zeit für die Patienten aufwenden
als ihre Kollegen im Ausland. Zwischen diesen beiden
Fakten gibt es einen Zusammenhang: Viele Patienten erleben, dass sie im Wartezimmer sitzen müssen, während
die freundliche Dame oder der freundliche Herr von der
Pharmaindustrie dem Doktor gerade die neuesten Medikamente vorstellt. Ärzte berichten, dass dies keine Informationsgespräche sind, sondern dass es um knallhartes
Marketing geht. Die Erfolge dieses Marketings zahlen
die Kassen mit jährlich steigenden Arzneimittelausgaben. In Polen zum Beispiel dürfen Pharmareferenten
nicht mehr während der Sprechstunden in die Arztpraxen. Warum regeln wir das nicht ähnlich?
({5})
Das Deutsche Ärzteblatt stellt fest, dass die Pharmaindustrie in großem Stil Studien vortäuscht, manipuliert
oder unterdrückt, um Medikamente von zweifelhafter
Wirksamkeit und unzureichender Sicherheit an den
Mann oder die Frau zu bringen. Die großartige Innovationskraft der forschenden Pharmaindustrie, der Sie,
Kollege Spahn, gerade wieder das Wort geredet haben,
({6})
ist in Wahrheit allzu oft eine Schimäre, die benutzt wird,
um hohe zweistellige Umsatzrenditen zu rechtfertigen.
({7})
Wirkliche Neuerungen zum Nutzen der Patienten sind
viel seltener, als die Lobbyisten uns glauben machen
wollen.
({8})
- Es gibt welche; aber sie sind deutlich seltener, als immer behauptet wird.
Wenn sich, wie die FDP sagt, Leistung wieder lohnen
soll, dann müssen die Medikamentenpreise konsequent
am Nutzen für die Kranken festgemacht werden.
({9})
Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.
({10})
Die Linke fordert außerdem ein verbindliches öffentliches Register für Arzneimittelstudien.
({11})
Damit hätten wir ein Instrument, um Manipulationen in
der Bewertung neuer Therapien entgegenzuwirken.
Vor weniger als einem Jahr hat ein gewisser
Dr. Philipp Rösler, damals niedersächsischer Wirtschaftsminister, einen Beschluss unterzeichnet, in dem
die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln sehr
kritisch gesehen und gefordert wird, die Interessen der
pharmazeutischen Industrie nicht zu beschädigen. Erleben wir gerade einen echten Perspektivenwechsel, oder
ist das eher Wahlkampfhilfe für Ihren Parteifreund
Andreas Pinkwart in NRW, auch um die Mehrheit im
Bundesrat für die schwarz-gelbe Kopfpauschale nicht zu
verlieren?
Eine kurze Bemerkung zu dem Antrag der SPD. Wir
haben bei dem Beitrag des Kollegen Lauterbach eben
gemerkt, dass er dazu wenig zu sagen hatte.
({12})
Der Vorwurf, die jetzige Bundesregierung sei schuld an
den Zusatzbeiträgen etlicher Krankenkassen, wird auch
durch Wiederholung nicht wahr.
({13})
Erinnern wir uns: Zusatzbeiträge, Praxisgebühr, Sonderbeitrag von 0,9 Prozent, Zuzahlungen, das alles wurde in
Ihrer Regierungszeit auf den Weg gebracht. Da können
Sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
({14})
Was Ihnen jetzt zu den Arzneimittelpreisen einfällt,
unterscheidet sich leider nur wenig von den Ideen aus
dem Ministerium. Ihnen fehlt da wohl der Mut, die untauglichen Konzepte aus der eigenen Regierungszeit
über Bord zu werfen und noch einmal ganz neu nachzudenken.
Deswegen lade ich Sie dazu ein, den Antrag der Linken zu unterstützen und mitzuhelfen, dass die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten endlich über die Interessen der Aktionäre gestellt werden.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Daniel Bahr.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Der Kollege Lauterbach hat den Eindruck erweckt, als ob die steigenden Arzneimittelausgaben allein
nach dem Herbst 2009 entstanden seien. Jetzt wollen wir
uns einmal kurz daran erinnern, welche Situation die
neue Bundesregierung, die neue Koalition im Herbst
2009 vorgefunden hat: Die Ausgaben für Arzneimittel
liegen mittlerweile deutlich über den Ausgaben für die
ambulante Versorgung. Das ist in den letzten Jahren der
Verantwortung der SPD für das Gesundheitsministerium
entstanden.
({0})
Im Herbst 2009 betrug das Defizit in der gesetzlichen
Krankenversicherung 8 Milliarden Euro, und auch für
2011 wird ein Milliardendefizit erwartet, das allerdings
noch nicht beziffert werden kann. Auch dieses Defizit ist
in der Verantwortung der SPD für die Gesundheitspolitik
entstanden.
Wenn hier der Eindruck erweckt wird, die neue Bundesregierung sei angesichts dieser Milliardenlasten untätig geblieben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass
der Steuerzahler eine Kraftanstrengung unternehmen
musste, damit das Defizit von 8 Milliarden Euro auf unter 4 Milliarden Euro gedrückt werden konnte, auch um
einen besonderen Beitrag für den Arbeitsmarkt, für die
Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.
Das gerät bei der SPD immer ein bisschen in Vergessenheit. Dabei ist das ein großer Beitrag, der hier zur Stabilität auch der Finanzierung im Gesundheitswesen geleistet wird.
({1})
Es kommt etwas Zweites hinzu. Die Koalition hat von
Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass wir im Gesundheitswesen natürlich auch zu Einsparungen kommen und alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen
Beitrag dazu leisten müssen. Lieber Herr Kollege
Lauterbach und Frau Kollegin Bender, die gleich noch
das Wort ergreifen darf, was uns von vergangenen Regierungen aber unterscheidet, ist, dass wir nach der Bundestagswahl zu Beginn der Legislaturperiode eben nicht
als Erstes ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz machen,
({2})
durch das kurzfristig irgendwo Geld eingespart wird und
kurzfristig zusätzliche Instrumente eingeführt werden.
Stattdessen sorgen wir für einen Dreiklang bei diesem
Arzneimittelpaket: Ja, wir brauchen kurzfristig wirksame Maßnahmen, aber wir brauchen sie nicht alleine,
sondern wir brauchen auch strukturelle Maßnahmen, die
uns helfen, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, und
wir brauchen auch deregulierende Maßnahmen.
Wir haben mittlerweile einen Instrumentenkasten von
über 20 Instrumenten, mit denen der Arzneimittelmarkt
reguliert werden soll, und wir stellen doch gemeinsam
fest, dass es uns nicht gelingt, die Arzneimittelausgaben
so zu begrenzen, dass wir auf ein vergleichbares Niveau
wie in anderen Ländern in Europa kommen. Mittlerweile
haben wir im Arzneimittelbereich Instrumente, die sich
widersprechen und bei denen auch keiner mehr durchblickt. Dadurch wird die Versorgung vor Ort ganz klar
belastet. Der Arzt weiß gar nicht mehr, was er verordnen
soll, weil er Angst hat, in Regress genommen zu werden.
Der Patient blickt bei diesen vielen Instrumenten gar
nicht mehr durch und hat die Sorge, dass er das Medikament, das ihm hilft, gar nicht mehr bekommt.
Deswegen wollen wir mit diesem Paket dazu beitragen, dass wir erstens kurzfristig zu Einsparungen für die
Beitragszahler kommen, dass wir zweitens Strukturelles
auf den Weg bringen, um zu einer fairen Preisbildung zu
kommen, und dass wir drittens am Ende mit weniger Instrumenten auskommen, die aber natürlich wirksamer
als die bisherigen Instrumente sein müssen. Das ist das
Ziel, das wir mit dem Arzneimittelpaket verfolgen, das
wir vorgelegt haben.
({3})
Es sind natürlich einige Vorschläge dabei, die zum
Teil auch in Ihren Anträgen stehen, auch wenn Sie, Herr
Kollege Lauterbach, dazu anscheinend nicht reden, sondern lieber mit anderen Debatten ablenken wollen. Gemeinhin denkt man ja, dass man, wenn man als Regierung Vorschläge der Opposition aufgreift, Applaus dafür
bekommt, aber wahrscheinlich haben Sie lieber verschwiegen, dass der eine oder andere Vorschlag von Ihnen durchaus auch aufgegriffen wurde.
({4})
Schauen Sie sich einmal den kurzfristigen Bereich an.
Mit dem erhöhten Herstellerrabatt auf 16 Prozent tragen
wir dazu bei, dass das Niveau der Arzneimittelpreise
dem Niveau in der Schweiz entspricht und damit kurzfristig auch Einsparungen für die Beitragszahler entstehen.
Aber in einem wesentlichen Punkt unterscheiden wir
uns: Die christlich-liberale Koalition will erreichen, dass
es für Innovationen und neue Medikamente weiterhin einen offenen Zugang zur Versorgung gibt. Wir wollen
keine vierte Hürde, das heißt, wir wollen verhindern,
dass Arzneimittel, die neu zugelassen und wirksam sind,
erst einen aufwendigen Prozess durchlaufen müssen, bis
sie in die Anwendung beim Patienten kommen. Wir wollen, dass der offene Zugang für Innovationen erhalten
bleibt. Das sehen wir in unseren Vorschlägen auch weiterhin vor.
Dieser offene Zugang für neue Medikamente und für
Innovationen darf aber kein Freifahrtsschein für die einseitige Preisbildung der Pharmaunternehmen sein, sondern wir wollen, dass die Pharmaunternehmen quasi in
einer Bewährungszeit nachweisen sollen und müssen,
dass dieses neue Medikament einen wirklichen Fortschritt darstellt und dass deswegen auch ein höherer
Preis gerechtfertigt ist. Deswegen schaffen wir mit unserem Weg der fairen Verhandlungen zwischen den Krankenkassen und den Arzneimittelherstellern eine faire
Preisbildung, bei der berücksichtigt wird, dass wirkliche
Innovationen auch einen entsprechenden Preis verdienen, und gleichzeitig bringen wir die Interessen der Beitragszahler und die Interessen der pharmazeutischen Industrie in Einklang.
({5})
Deswegen ist es unser Ziel, mit den Eckpunkten im
Arzneimittelpaket dafür zu sorgen, dass den Menschen
im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arzneimittel zur Verfügung stehen, dass die Preise und die Verordnung von Arzneimitteln wirtschaftlich und kosteneffizient sind und dass verlässliche Rahmenbedingungen
für Innovationen, für die Versorgung der Versicherten
und für die Sicherung von Arbeitsplätzen entstehen.
({6})
Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die Wahlfreiheit des Patienten gewährleistet ist.
Sie sagen: Wenn es jetzt zu Rabattverhandlungen zwischen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen käme,
dann würden die Arzneimittelhersteller Mondpreise
bzw. überhöhte Preise verlangen und sich das dann abhandeln lassen. - Herr Lauterbach ist immer wieder mit
dem Beispiel des Teppichhändlers durch die Medien gelaufen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie dieses auswendig gelernte Beispiel heute wieder vortragen, aber
wahrscheinlich reichte die Zeit nicht mehr. Ich wundere
mich nun, weil die SPD diese Verhandlungen im Rahmen der Rabattverträge bei Generika einmal selbst mit
eingeführt hat. Dabei haben wir festgestellt, dass Verhandlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittelherstellern zu Einsparungen für die Beitragszahler führen. Weil es aber nicht nur einseitig um Preisdrücken
geht, wollen wir auch dafür sorgen, dass es einen fairen
Rahmen für Arzneimittelhersteller und Krankenkassen
gibt. Der beste Rahmen, der faire Bedingungen für Verhandlungen gewährleistet, ist das Wettbewerbs- und
Kartellrecht. Das wollen wir auch im Arzneimittelbereich bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassen
und Arzneimittelherstellern vorrangig anwenden, weil
wir faire Bedingungen für Krankenkassen und Arzneimittelhersteller wollen.
({7})
Aber wir wollen auch Wahlfreiheit für die Versicherten gewährleisten. Sie haben die Rabattverträge angesprochen. Ich habe in der Praxis, zum Beispiel in der
Apotheke oder in vielen Gesprächen, erlebt, dass das
Verständnis und die Akzeptanz der Bürgerinnen und
Bürger groß sind. Sie finden es gut, wenn die Preisverantwortung nicht länger beim verordnenden Arzt, sondern bei den Krankenkassen und Arzneimittelherstellern
liegt und wenn Krankenkassen in Verhandlungen mit
Arzneimittelherstellern günstigere Preise heraushandeln,
wovon sie als Beitragszahler profitieren. Wenn ein Patient bereit ist, die Differenz für ein teureres Arzneimittel zu zahlen, weil ihm dieses Mittel lieber ist - aus welchen Gründen auch immer; es können ganz individuelle
Gründe sein, etwa weil man es angenehmer findet oder
besser verträgt -, dann wollen wir ihm die Möglichkeit
bieten, mit einer Aufzahlung dieses Medikament zu bekommen statt jenes, das die Krankenkasse mit dem Hersteller in einem Rabattvertrag ausgehandelt hat. Das
trägt dazu bei, dass die Akzeptanz bei Einsparungen im
Arzneimittelbereich auch bei den Patienten und Beitragszahlern erhöht wird. Deswegen wollen wir eine
Mehrkostenregelung einführen.
({8})
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Lauterbach?
Meine Redezeit ist abgelaufen, aber wenn der Präsident mir das gestattet, gerne.
Der Kollege Lauterbach hatte auch anderthalb Minuten mehr.
({0})
Anderthalb Minuten? Ich bin gerade bei 20 Sekunden.
Herr Bahr, sehen Sie nicht die Gefahr, wenn diese Regelung eingeführt wird und der Patient oder der Kunde,
wie Sie ihn sehen, das Medikament wechseln kann,
wenn er die Differenz zu dem im Rabattvertrag vorgesehenen Mittel zahlt, dass dann der Apotheker und der
Arzt plötzlich einen Anreiz haben, das teuere Medikament anzubieten? Der Patient oder Kunde kann
überhaupt nicht bewerten - machen wir uns doch nichts
vor -, welcher Hersteller beispielsweise den Wirkstoff
Diazepam am besten herstellt.
Plötzlich ist der Patient, der ältere Mensch, der auf
diese Mittel angewiesen ist, der Kunde. Wir haben mit
der Union gemeinsam die Naturalrabatte dichtgemacht,
weil wir diese Gefahr einer halblegalen Rückfinanzierung, um es einmal so zu sagen, von Mitteln bei Apothekern und Ärzten vermeiden wollten. Wir wollten als eine
Art Verbraucherschutz vermeiden, dass der gleiche
Wirkstoff teurer verkauft wird, nur weil der Patient nicht
in der Lage ist, zu erkennen, dass es der gleiche Wirkstoff ist und in der Regel keinen Unterschied macht. Damit öffnen wir die Tür für eine Art der Abzocke, die
auch ein unethisches Geschäft ist.
Bitte.
Herr Kollege Lauterbach, das ist der Unterschied in
dem Gesellschaftsbild, das wir beide haben, der uns
trennt. Wir gehen vom mündigen Patienten aus,
({0})
der auch im Gesundheitswesen für sich entscheiden
kann, was er haben möchte.
Der Anreiz besteht übrigens auch für den Patienten
wie für den Apotheker und den Arzt. Wenn eine Krankenkasse mit einem Arzneimittelhersteller einen Vertrag
geschlossen hat, dann ist es für den Patienten möglich,
dieses Medikament ohne Zuzahlung zu bekommen. Er
profitiert davon, dass die Krankenkasse mit dem Arzneimittelhersteller günstigere Preise ausgehandelt hat.
Nur dann, wenn der Patient ein anderes Medikament
haben möchte - aus welchen individuellen Gründen
auch immer er es für sich besser findet; wir können nicht
immer beurteilen, was besser ist; vielleicht empfindet
der Patient es für sich als besser und ist bereit, diese Differenz zu tragen -, soll er nach der Mehrkostenregelung
auch die Freiheit haben, das Medikament zu wählen, das
er will.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer
Herangehensweise: Wir wollen den Patienten nicht in
eine Standardversorgung pressen, die ihm vorgegeben
wird, sondern wir wollen dem Patienten die Möglichkeit
geben, selbst zu entscheiden, welche Versorgung er wählen möchte.
({1})
Das ist ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wir
lassen uns davon prägen, dass der Patient und Bürger
mündig genug ist und selbst die Entscheidung treffen
kann, weil er sich informieren und beraten lassen und
das, was er für seine Gesundheit braucht, selbst viel besser beurteilen kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
die Worte des Staatssekretärs hört und an die Überschriften denkt, die der Minister produziert hat, dann könnte
man meinen, der Gesundheitsminister der FDP habe sich
vom Beschützer der Pharmaindustrie zum Rambo gewandelt, der das Preismonopol der Pharmaindustrie
bricht. Wenn man die Aufschreie der Frau Yzer vom
Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller hört,
die sogleich den Untergang des pharmaunternehmerischen Abendlandes beschwört, dann könnte man fast geneigt sein, dem Minister auf die Schulter zu klopfen und
ihm zu sagen: Das machst du schon richtig.
({0})
Aber wir halten einmal Folgendes fest: Um die Pharmaindustrie muss man sich keine Sorgen machen. Die
Renditen in diesem Bereich sind hoch genug. Wenn der
Chef von Boehringer Ingelheim via Interview in der FAZ
sagt, die Pläne des Ministers seien absolut unterstützenswert, dann kann dies zweierlei bedeuten: Entweder hat
ein Pharmachef begriffen, dass es darauf ankommt, langfristig zu denken und die Forschung tatsächlich auf echte
Innovationen auszurichten.
({1})
- Das wäre die gute Nachricht, Frau Flach.
({2})
Es kann aber auch bedeuten - so etwas muss die Opposition immer im Auge haben -, dass er glaubt, dass den
starken Worten des Ministers im Gesetz vor allem heiße
Luft folgen wird. Genau dies befürchten wir.
Was ist denn die Aufgabe, meine Damen und Herren?
Gesundheitspolitik muss Rahmenbedingungen setzen,
die tatsächlich dazu führen, dass es Innovationen im Gesundheitswesen und insbesondere auf dem Arzneimittelmarkt gibt, nicht aber Mondpreise, die nur dem Solidarsystem schaden und den Menschen nichts nützen. Hier
gibt es bei Ihren Eckpunkten einfach weiße Stellen.
Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Erstens. Bei Ihnen
setzen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr weiterhin völlig frei die Preise fest. Danach soll verhandelt
werden. Nur, was wird denn ein Hersteller tun, der seinen Aktionären verpflichtet ist? Er wird doch nach wie
vor versuchen, im ersten Jahr möglichst viel Gewinn in
dem Vertrauen darauf hereinzuscheffeln, dass ihm dies
schon bleiben wird.
({3})
Dagegen, meine Damen und Herren, braucht man ein
Mittel, und zwar eines, das die Grünen gar nicht erfunden haben, weil es dieses Mittel in den Nachbarländern
schon gibt: einen Regress. Wenn sich also bei der vollständigen Kosten-Nutzen-Bewertung herausstellt, dass
der Preis im Verhältnis zum Mehrnutzen überteuert ist,
dann muss der Hersteller regresspflichtig sein. Nur so
verhindert man, dass im ersten Jahr nach wie vor Mondpreise genommen werden.
({4})
Außerdem muss die Bewertung des Nutzens bereits
parallel zum Zulassungsverfahren durchgeführt werden.
Es nützt nichts, wenn man erst danach damit anfängt;
denn nur so wird sich auch das Studiendesign in dem
Sinne ändern, dass man in der Phase III nicht nur gegen
Placebos, sondern auch gegen die Standardtherapie
prüft.
({5})
Nur damit wird man herausbekommen, was tatsächlich
der Mehrnutzen ist.
Zweitens. Nach Ihren Eckpunkten sollen die Hersteller jetzt ein Dossier vorlegen. Das ist zwar schön, aber
da besteht die Gefahr, dass dies mehr oder weniger Verkaufsbroschüren werden. Ich brauche doch Qualität und
echten Nutzen nicht nur für Medikamente, sondern auch
für die Unterlagen, die die Unternehmer vorlegen müssen. Dafür brauche ich ein verpflichtendes Studienregister.
({6})
Wir müssen wissen, welche Studien sie überhaupt machen. Außerdem brauchen wir zum Design der vorzulegenden Studie verpflichtende Absprachen mit dem
Gemeinsamen Bundesausschuss bzw. dem IQWiG. Das
kann nicht ins Belieben der Hersteller gestellt sein.
({7})
Drittens. Sie wollen auch in Zukunft nicht verhindern,
dass es noch nutzlose oder im Vergleich zur Standardtherapie sogar schädlichere Arzneimittel geben kann, die
verordnungsfähig sind. Dagegen hilft nur eine Positivliste. Wir brauchen ein solches Instrument für Qualität
und Transparenz. Dies nützt den Patientinnen und Patienten; davor dürfen Sie sich nicht drücken.
({8})
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Lotter von der FDP-Fraktion?
Bitte.
Herr Lotter.
Verehrte Frau Kollegin Bender, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass es für die Erstellung eines
Dossiers durchaus sehr bewährte Verfahren gibt - etwa
das sogenannte schottische Verfahren -, die eigentlich
sehr treffsicher sind - sie haben eine Treffsicherheit von
über 70 Prozent, was die Innovation angeht -, und dass
dies eigentlich ein Werkzeug ist, das sehr verlässlich und
sehr gut anzuwenden ist?
Darauf, dass Sie, Herr Kollege, das schottische Verfahren anwenden wollen, werden wir zurückkommen;
denn bei der schottischen Entsprechung zum NICE ist es
so, dass das Arzneimittel erst dann zulasten des Gesundheitsdienstes verordnungsfähig ist, wenn tatsächlich die
Kosten-Nutzen-Bewertung abgeschlossen ist. Wenn Sie
das britische System wollen, dann werden Sie unsere
Unterstützung finden, allerdings nur dann, wenn Innovationen tatsächlich für alle gleich zugänglich bleiben. Ich
glaube, da haben wir in Deutschland einen Vorteil, den
wir nicht abschaffen wollen.
({0})
Wir wollen eine vorläufige Nutzenbewertung, die zur
Verordnungsfähigkeit führt, aber eben auch eine endgültige Kosten-Nutzen-Bewertung mit der Möglichkeit des
Regresses, wenn der bis dahin vom Hersteller festgelegte Preis überteuert war.
({1})
Jetzt sage ich noch etwas zu den Rabattverträgen.
Was wir eben vom Staatssekretär gehört haben, hört sich
so wunderschön patientenverträglich an.
({2})
Man kann Geld mitbringen, und dann bekommt man ein
Arzneimittel, das nicht rabattiert ist. Sagen Sie doch
gleich, dass Sie die Rabattverträge abschaffen wollen.
({3})
Dann gibt es Arzneimittel erster und zweiter Klasse, und
die Patienten können Geld mitbringen. Dann aber nutzt
dem Hersteller sein Rabattangebot nichts mehr, weil er
die Grundlage dessen, nämlich den breiten Marktzugang, nicht mehr realisieren kann. Weiterhin müssen Patienten, die ein bestimmtes Arzneimittel wollen, Geld
mitbringen. Das ist Zweiklassenmedizin. Das setzt die
Rabattverträge de facto außer Kraft. Dazu müssen Sie
stehen, und dann werden wir darüber streiten.
Aber wenn Sie in Sachen Rabattverträgen etwas tun
wollen, dann können Sie das tun. Da gibt es durchaus
Handlungsbedarf. Ich meine diejenigen Rabattverträge,
die von Originalherstellern über die Dauer der Patentlaufzeit hinaus geschlossen werden, um den Wettbewerb
durch Generikahersteller zu verhindern. Da ist Handlungsbedarf, und dafür würden Sie unsere Unterstützung
haben.
({4})
Ich sage: Zu Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Vorschläge schauen Sie in die Nachbarländer oder fragen
Sie uns, die Opposition. Wir haben gute Vorschläge.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die
Diskussionsbeiträge der Opposition zu den Fragestellungen höre, dann ist Gesundheitspolitik bei der christlichliberalen Koalition am besten aufgehoben. Dafür brauchen wir Sie und Ihre Ratschläge nur bedingt.
({0})
Die Gesundheitspolitik ist eine der wichtigsten gesellschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der
Zukunft. Ist gerade in der ersten Hälfte des Lebens die
Bildungspolitik von herausragender Bedeutung, so ist es
sicherlich die Gesundheitspolitik für die zweite Lebenshälfte. Gerade in einer Situation, in der ein Versicherter
zum Patienten wird, also in einer Lebenskrise - das sind
häufig extreme Krankheitsfälle -, will jeder von uns die
Gewissheit haben, dass ihm geholfen wird, dass alles getan wird, damit er eine Perspektive auf Heilung hat oder
zumindest seine Lebenssituation verbessert wird. Dabei
spielt die Arzneimittelversorgung eine nicht unerhebliche Rolle. Ich möchte, dass auch in Zukunft jeder von
uns Zugang zu den besten und wirksamsten Arzneimitteln hat. Notwendige Voraussetzung hierfür sind leis3538
tungsstarke Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren; denn exzellente Arzneien setzen
exzellente Forschung voraus, und da ist Deutschland
Weltspitze.
({1})
Ich will, dass wir hier Weltspitze bleiben. Ich will, dass
Forschung und Entwicklung hier stattfinden, und ich
will, dass es sich hier in Deutschland auch für Pharmaunternehmen lohnt, zu investieren.
Wer neue, gute Ideen und Produkte auf den Markt
bringt, soll auch einen größeren Gewinn als derjenige
machen können, der althergebrachte Produkte anbietet.
Das Bessere soll sich durchsetzen. Das ist der Kernpunkt
unserer Arzneimittelpolitik, der Politik der christlichliberalen Koalition. Wir wollen gute Leistung belohnen
und nicht schlechte. Gutes Geld für gute Leistung. So
einfach ist das. Wir wollen bei neuen Medikamenten in
Zukunft nur noch dann mehr bezahlen, wenn ein echter,
tatsächlich bewiesener Zusatznutzen vorliegt, nicht allerdings für einen bloß scheinbaren, behaupteten.
Genau diesen Weg beschreiten wir mit der Umsetzung der Eckpunkte, die die christlich-liberale Koalition
vorgelegt hat. Entscheidend hierbei ist für mich, dass wir
die Balance zwischen Innovation auf der einen Seite,
Frau Bender, und Bezahlbarkeit auf der anderen wahren.
Dazu sind die Dinge, die Sie ansprechen, etwa die Positivliste, sicherlich nicht geeignet; sie gehören in die Mottenkiste der Staatsmedizin. Sie haben keine sinnvollen
Ansätze und schaden insbesondere dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Entscheiden sollte
nicht der Staat, sondern allein der Arzt im Zusammenwirken mit den Patienten.
({2})
Wir müssen die Kostendynamik im Blick behalten.
Nur dadurch schaffen wir es, dass sämtliche Patientinnen und Patienten einen schnellen Zugang zu unseren
fortschrittlichen Medikamenten haben.
Ich will nicht verschweigen: Natürlich brauchen wir
auch kurzfristige Entlastungsmaßnahmen. Dazu dient
beispielsweise, den Abschlag für Arzneimittel ohne
Festbetrag von derzeit 6 Prozent auf 16 Prozent zu erhöhen. Das kann allerdings gerade bei generikafähigen
Arzneimitteln ohne Festbetrag dazu führen, dass es hier
zu einer Kumulation von Abschlägen auf 26 Prozent
kommt. Das ist sicherlich eine unangemessen hohe Belastung. Da werden wir mit den entsprechenden Regelungen abhelfen. Damit tragen wir auch dem Umstand
Rechnung, dass die Preise im generikafähigen Markt im
Gegensatz zu den Preisen im patentgeschützten gesunken sind.
Dies zeigt: Mit unseren Eckpunkten haben wir eine
ausgewogene Lösung gefunden, die den Interessen der
Patienten genauso gerecht wird wie denen der Industrie.
Diese Eckpunkte werden wir zügig umsetzen. Ich lade
alle konstruktiven Kräfte ein, uns in diesem Prozess zu
begleiten.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Bahr hat vorhin so
schön geschildert, in welcher Lage er die Kassen vorgefunden hat. Man kann durchaus sagen, dass die gesetzliche Krankenversicherung in diesem Jahr in eine schwierige Lage kommt. Maßgeblich verantwortlich dafür sind
die seit Jahren steigenden Arzneimittelausgaben. Diese
Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Das war auch der
Stand der Dinge im letzten Jahr. Nicht umsonst haben
der Schätzerkreis und die Krankenkassen davor gewarnt
und Alarm geschlagen.
Schauen wir uns das Ganze einmal an: Allein im Februar sind die Arzneimittelausgaben im Vergleich zum
Vorjahr um 5,5 Prozent gestiegen. Sie haben vorhin von
Ihren Taten gesprochen. Was hat die Bundesregierung
denn getan, seit sie diesen Zustand im letzten Jahr vorgefunden hat?
({0})
- Ich komme jetzt auf Ihre Taten zu sprechen. - Sie waren erst einmal vollauf damit beschäftigt, Steuergeschenke an Hoteliers zu verteilen; das war die erste Aufgabe, die Sie erledigt haben.
({1})
Außerdem haben Sie monatelang über die Kopfpauschale gestritten, anstatt diejenigen Defizite zu beseitigen, die Sie angeblich vorgefunden haben.
Was hat das Bundesministerium für Gesundheit im
letzten Jahr getan? Man hat mit dem Institutsleiter des
IQWiG erst einmal eine pharmakritische Stimme aus
dem Weg geräumt.
({2})
Das war eine der Taten, die Sie im letzten Jahr begangen
haben; daran sollte man einmal erinnern. Anschließend
sind Sie zu den Arzneimittelherstellern gegangen und
haben sich Tipps geholt, wie man die Ausgaben für Arzneimittel senkt. Das finde ich auch sehr interessant.
({3})
Da machen Sie den Bock zum Gärtner.
Dabei ist der Minister tatsächlich als - das muss man
ihm zugestehen - bissiger Tiger abgesprungen. Ich will
an folgenden Satz von ihm erinnern - er hat mich schwer
beeindruckt -: „Wir wollen das Preismonopol der Pharmaindustrie brechen.“ Das Einzige, was Sie brechen,
sind Ihre Wahlversprechen; das muss man einmal deutlich sagen. Landen werden Sie mit Ihren derzeitigen
Vorschlägen allenfalls als zahnloser Bettvorleger der
Pharmaindustrie. Von Ihren Vorschlägen wird nichts übrig bleiben.
({4})
Sie präsentieren uns immer wieder das gleiche Schauspiel: Sie kündigen große Reformen an, und anschließend werden sie von Ihrem Koalitionspartner infrage gestellt. Grundsätzlich könnte man sich an diesem
Schauspiel ergötzen, wenn man nicht wertvolle Zeit damit verschwenden würde.
({5})
Schlimmer noch: Sie haben der gesetzlichen Krankenversicherung für das erste Halbjahr 2010 finanziellen
Schaden zugefügt. Sie hätten Ihre Vorschläge schon zum
Ende des Jahres 2009 umsetzen können.
({6})
Sechs Monate später kommen Sie dann mit der Erhöhung des Herstellerrabatts - zugegebenermaßen ein guter kurzfristiger Vorschlag - und einem Preismoratorium. Das hätten Sie schon früher haben können. Sie
brauchten aber sechs Monate, um sich das auszudenken.
({7})
Sie haben damit der gesetzlichen Krankenversicherung
einen finanziellen Schaden zugefügt, und der geht auf
Ihre Rechnung, den können Sie uns nicht anlasten.
({8})
Jetzt sage ich eins: Das passt Ihrer Koalition auch gut
in den Kram; denn hinter diesem Zaudern und Zögern
steckt eiskaltes Kalkül - wenn Sie mich fragen. Sie wollen das Problem der gesetzlichen Krankenversicherung
eskalieren. Sie wollen, dass das umlagefinanzierte System an die Wand fährt,
({9})
um Ihre fixe Idee einer Kopfpauschale umsetzen zu können.
({10})
Diese wollen Sie dann als Wundermittel für die gesetzliche Krankenversicherung aus dem Hut zaubern.
So blind werden die Menschen nicht sein; sie werden
auf diese Kopfpauschale nicht hereinfallen. Sie werden
spätestens am 9. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen von
den Wählerinnen und Wählern die Quittung dafür bekommen.
({11})
Die SPD steht und kämpft auch in der Zukunft für die
gesetzliche Krankenversicherung, weil sie uns nicht egal
ist. Uns ist auch nicht egal, dass die Ausgaben aus dem
Ruder laufen
({12})
oder dass weitere Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben müssen. Wir wollen, dass die gesetzliche Krankenversicherung auch in Zukunft ihren Versicherten wirksame und innovative Medikamente bezahlen kann.
Deshalb müssen die Qualität und die Wirtschaftlichkeit
der Arzneimittelversorgung verbessert werden.
Greifen Sie deshalb unsere Vorschläge für eine effektive Arzneimittelversorgung auf.
({13})
Das ist zum einen die Positivliste, das sind zum anderen
europäische Durchschnittspreise, und das ist die Teilung
des finanziellen Risikos zwischen Krankenkassen und
Pharmaindustrie bei innovativen Krebstherapien. Und
zur Zulassung von neuen Arzneimitteln gehört eine Kosten-Nutzen-Bewertung. Das ist wichtig, und nur damit
werden Sie das Preismonopol tatsächlich brechen.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Weshalb haben wir heute eine Debatte über das
Thema Arzneimittelversorgung? Hintergrund: Die
Union hat gemeinsam mit der FDP im März 2010 ein
Eckpunktepapier zur Arzneimittelversorgung vorgelegt,
das bei den Versicherten, bei der Presse und bei den
Krankenversicherungen begeisterten Widerhall gefunden hat.
({0})
Frau Nahles kritisiert das Papier als Mogelpackung,
taucht in die Versenkung ab und lässt ihre Arbeitsgruppe
Gesundheitspolitik damit allein. Hier stellt sich jetzt die
Frage: Was machen wir mit dem Eckpunktepapier? Sie
schauen sich das scheinbar etwas genauer an, sehen, dass
da gar nicht so viel enthalten ist, was Sie kritisieren
könnten, übernehmen das in vielen Punkten, garnieren es
mit einer Positivliste und denken, irgendwie kämen Sie
damit durch. In der Debatte heute haben Sie mehr oder
weniger überhaupt nichts Konkretes zu Ihrem Papier gebracht.
({1})
Es ist schon bezeichnend, dass die Partei der Linken
sagt, dass einiges aus unserem Papier zustimmungsfähig
sei.
({2})
Sie konnten sich dazu nicht durchringen.
Auch die Grünen haben mit unserem Papier Schwierigkeiten gehabt. Sie hatten vier, fünf Wochen Zeit, sich
das Papier anzuschauen. Sie haben auch wenig gefunden, was Sie kritisieren können
({3})
- das sage ich auch ganz offen -, haben aber zumindest
inhaltlich einige Punkte in Ihrem Papier, über die wir
hier in der Debatte und bei den Anhörungen sicher sprechen können.
Was ist der Hintergrund unseres Eckpunktepapieres?
Wichtig ist uns als Union, dass wir eine qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung sicherstellen können,
aber zu vernünftigen Preisen, und vor allem, dass wir
auch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationen
und Arbeitsplätze schaffen. Deshalb haben wir zu einem
relativ frühen Zeitpunkt unser Papier vorgelegt. Das
werden wir auch konsequent umsetzen.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stecken
in einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Aufträge sind im Maschinenbau teilweise um 50 Prozent zurückgegangen. Wir haben eine hohe Zahl an Kurzarbeitern. Wir sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht so
weit vorangekommen, wie wir uns das erhofft haben. All
das hat unmittelbare Auswirkungen auf das System der
gesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen dürfen
wir die Frage, wie wir die Finanzprobleme lösen, nicht
nur im Zusammenhang mit der Einnahmeseite debattieren, sondern wir müssen auch schauen: Was können wir
auf der Ausgabenseite tun?
Es war und ist vollkommen richtig, zunächst einmal
beim Thema Arzneimittel anzusetzen; denn die Arzneimittelindustrie ist im Gegensatz zu vielen anderen relativ
gut durch die Krise gekommen. Schließlich liegen die
Umsatzrenditen einiger Pharmaunternehmen bei weit
über 20 Prozent. Daher ist es richtig, dass die Arzneimittelindustrie ihren Solidarbeitrag leistet.
({5})
Ich will auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht um
Pharma-Bashing. Es geht nicht darum, dass wir die Arzneimittelindustrie an den Pranger stellen und sagen wollen: Ihr seid an der schwierigen Situation im System der
gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Finanzierung schuld. Arzneimittel leisten einen wesentlichen Beitrag bei der Therapie und beim Behandlungserfolg. Ich verstehe nicht, wenn immer wieder kritisiert
wird, dass der Arzneimittelblock der zweitgrößte Block
bei den Ausgaben im GKV-System ist. Vom Handauflegen alleine ist noch keiner gesund geworden. Wenn wir
so weit sind, können wir sicherlich auch die Preise senken. Das sage ich auch ganz klar in Richtung der Ärzte.
Die Pakete und Maßnahmen, die wir auf den Weg bringen, sind im Einzelnen schon vorgestellt. Ich möchte darauf gar nicht weiter eingehen.
Ich möchte zum Schluss meiner Rede zwei Aspekte
ganz gezielt aufgreifen.
Bei dem ersten Aspekt geht es um Rabattverträge. Es
hat immer geheißen, die Union sei für eine Abschaffung
der Rabattverträge. Das war überhaupt nicht der Fall.
Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Substitutionspflicht aufgehoben wird.
({6})
- Das stimmt doch überhaupt nicht. Sie haben doch die
Möglichkeit, die Rabattverträge in Selektivverträge, in
Versorgungsverträge und Ähnliches zu integrieren. Das
wäre durchaus möglich gewesen. Wir aber haben uns mit
der FDP geeinigt,
({7})
dass wir die Rabattverträge weiterentwickeln. Was wir
wollen, ist, die Souveränität und Eigenverantwortung
der Patienten zu stärken. Das ist ein ganz wesentliches
Ziel.
({8})
- Darum brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu
machen.
Ich möchte einen zweiten Aspekt anbringen. Wir sollten das Thema Arzneimittelpreise und Arzneimittelkosten nicht nur im Zusammenhang mit der gesetzlichen
Krankenversicherung prüfen. Es ist wichtig - das gebe
ich an das Ministerium weiter -, zu prüfen, ob es möglich ist, im Bereich der privaten Krankenversicherung
Einsparungen zu erreichen. Wir werden uns in den
nächsten Tagen und Wochen damit beschäftigen, wie wir
das erreichen können.
Als Fazit bleibt am Ende übrig: Es gibt Kritik vonseiten der Pharmahersteller, und es gibt Kritik von Herrn
Lauterbach. Beides zeigt mir sehr deutlich, dass wir auf
dem richtigen Weg sind.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1201, 17/1206 und 17/1418 an die
Vizepräsidentin Petra Pau
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die
Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen
- Drucksachen 17/1291, 17/1457 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von Anfang an hat die Bundesregierung im Zuge der internationalen Finanzmarktkrise darauf gedrungen, auf
internationaler Ebene zu Vereinbarungen zu kommen,
mit denen auch die Vergütungssysteme für den Bankenund Versicherungsbereich in Angriff genommen werden.
Die Bundesregierung hat auf solche Vereinbarungen gedrungen. Der Finanzstabilitätsrat hat auf internationaler
Ebene Ergebnisse vorgelegt, die von den G 20, also den
20 führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt, gebilligt
worden sind. Mit dem Gesetzentwurf, den wir dem Parlament heute vorlegen, setzt die Bundesregierung diese
internationalen Vereinbarungen, auf die sie gedrängt hat,
in Rekordzeit in innerdeutsches Recht um.
({0})
Darüber sind wir uns im Klaren: Mit der Regulierung
der Vergütungspraktiken im Finanzbereich muss eine wesentliche Ursache der Finanzmarktkrise angegangen werden, nämlich die übermäßige Übernahme von Risiken
durch die Finanzmarktakteure selbst. Die gängigen Vergütungsstrukturen im Finanzsektor - darüber besteht Einvernehmen - haben zur Verschärfung der Situation auf
den internationalen Finanzmärkten beigetragen. Denn
eine Vergütungspolitik, die auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtet ist und die einseitigen Erfolg belohnt, ohne
Misserfolg hinreichend zu sanktionieren, verleitet dazu,
den langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolg
aus dem Blick zu verlieren.
({1})
Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass die
durch eine verfehlte Vergütungspolitik gesetzten Fehlanreize zu Risiken nicht nur für die Stabilität einzelner Unternehmen, sondern auch für die gesamte internationale
Finanzmarktarchitektur führen können. Deshalb setzen
wir diesen internationalen Ansatz schnellstmöglich in
deutsches Recht um. Bei dem Gesetzentwurf handelt es
sich um den letzten Schritt eines dreistufigen Maßnahmenpaketes der Bundesregierung.
In einem ersten Schritt haben sich bereits im Dezember 2009 acht große deutsche Banken und die drei größten deutschen Versicherungsunternehmen freiwillig zur
Umsetzung dieses internationalen Standards verpflichtet.
In einem zweiten Schritt hat ebenfalls im Dezember
2009 die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht durch zwei aufsichtsrechtliche Rundschreiben
nachgesteuert und den Instituten diese internationalen
Regelungen zur Auflage gemacht. Jetzt geben wir dem
Ganzen eine rechtssichere, gesetzgeberische Unterlage.
Wir ändern durch das vorliegende Gesetz das Kreditwesengesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz. Banken
und Versicherungen werden nun angemessene, transparente und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtete Vergütungssysteme vorweisen müssen. Die näheren
Einzelheiten werden wir durch zwei Rechtsverordnungen zeitnah regeln.
Durch dieses Gesetz schaffen wir jetzt die Möglichkeit, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation eines
Finanzinstituts - sei es eine Bank, sei es ein Versicherungsunternehmen - unangemessen hohe Bonuszahlungen unterbunden werden können. Hierzu wird die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht befähigt, im
Falle der Unterschreitung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu untersagen oder auf einen bestimmten Anteil des Jahresergebnisses zu beschränken.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Deutschland gehört mit der heute vorgelegten Umsetzung internationaler Anforderungen zur führenden Ländergruppe.
Dies hat eine Überprüfung durch den Finanzstabilitätsrat
ergeben, deren Ergebnisse kürzlich veröffentlicht wurden. Aber ich sage sehr deutlich: Was wir heute als Gesetzentwurf vorlegen, ist nur ein Stein eines Mosaiks, zu
dem sehr viele Elemente gehören, die bereits in parlamentarischer Arbeit sind. Auch die Bundesregierung arbeitet daran und wird dem Parlament in Kürze dazu weitere Gesetzentwürfe vorlegen. Ich möchte an dieser
Stelle erwähnen, dass im Parlament zurzeit über die
Neuregelung der Aufsicht über die Ratingagenturen beraten wird. Die Bundesregierung arbeitet an einem Insolvenz- und Restrukturierungsrecht für Banken, das wir
mit einer Fondslösung koppeln wollen. Dabei ist eine
Bankenabgabe vorgesehen, mit der risikoadjustiert Vorsorge für die Zukunft getroffen werden soll. Mit den
Eckpunkten, die wir in diesem Bereich vorgelegt haben,
befinden wir uns im Vorfeld der IWF-Tagung in einem
bemerkenswerten internationalen Einklang, wie wir feststellen konnten.
({2})
Der IWF wird jetzt erste Vorschläge in Washington vorlegen, die in Richtung Abgabenlösung zielen. Die Bundesregierung hat dazu schon ein Eckpunktepapier vorgelegt.
Heute wird ein wichtiger Stein in ein Mosaik eingefügt, zu dem viele weitere Mosaiksteine kommen werden.
Ich bitte um zügige Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs der Bundesregierung, mit dem internationale Standards in Rekordzeit umgesetzt werden sollen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die „chronische Bonitis“ der Banker ist noch lange nicht
verheilt. Britische Medien haben jetzt berichtet, dass
Goldman Sachs für das erste Quartal Boni in Höhe von
3,5 Milliarden Pfund auszahlen will. Zu Risiken und Nebenwirkungen schauen Sie sich einfach einmal an, was
die US-Börsenaufsicht SEC ermittelt hat. Die Börsenaufsicht wirft Goldman Sachs vor, Anleger mit einem Finanzprodukt getäuscht und um mehr als 1 Milliarde Dollar gebracht zu haben.
({0})
Wenn das richtig ist, dann war das ein kriminelles Verhalten.
({1})
Investmentbanker werden mit extremen Gehältern
eingekauft, um mit extrem riskanten Produkten extreme
Gewinne zu erwirtschaften. Das erinnert letztendlich an
Drogendealer. Der Unterschied liegt einzig und allein
darin, dass deren Geschäft durch Gesetz verboten ist und
ihre Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die auf dem
Finanzsektor.
({2})
Wir müssen feststellen: Die Superboni, die Gehaltsexzesse gehen weiter. Im Jahre 2006 schütteten allein die
großen Wall-Street-Banken Boni von umgerechnet rund
25 Milliarden US-Dollar aus. Mit solchen Summen
könnte man ein Land wie Griechenland - immerhin ein
10-Millionen-Volk - nachhaltig sanieren. Dies zeigt die
Dimension und den Wahnsinn solcher Vergütungssysteme.
Die weltweite Finanzkrise, die inzwischen zu einer
Wirtschafts- und Staatenkrise wurde, hat nicht nur eine
Ursache, sondern ist das Ergebnis verschiedener Faktoren. Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang
ist ein vollkommen verfehltes Vergütungs- und Anreizsystem in der Finanzbranche, wie es in den vergangenen
Jahren praktiziert wurde. Dies sind Exzesse, die sich in
keiner Weise an individueller Leistung, beruflicher Erfahrung, Ausbildung oder Können orientieren.
Häufig argumentieren die Banker, geringere Gehälter
seien im Kampf um die besseren Köpfe ein Nachteil. Sie
würden die Dynamik der Branche bremsen und damit
der ganzen Wirtschaft schaden. Eine solche Argumentation ist falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass ein Großteil der besten Universitätsabsolventen in diesen Bereich gehen und nicht dorthin, wo sie
gesellschaftlich Nützliches leisten könnten. Dies ist,
volkswirtschaftlich gesehen, eine Verschwendung von
Humankapital. Es gibt überhaupt keinen ökonomischen
Grund, diese Gehaltsexzesse zu akzeptieren.
({3})
Gier lässt sich ökonomisch nicht legitimieren.
Die besonders aggressiven Vergütungssysteme der
letzten Jahre haben Banker dazu angespornt, unvertretbar
hohe Risiken zum Schaden der Gesamtökonomie einzugehen. Die schnelle Rendite und Superprofite konnten
nur durch ganz hohe Risiken im Eigenhandel, bei Verbriefungen und durch exotische Produkte erreicht werden. Die Vergütung setzte an ganz vielen Punkten falsche
Anreize, etwa bei den Finanzmarktgurus, die riskante
Produkte entwickelten, bei den Ratingagenturen, die
umso mehr verdienten, je mehr Papiere sie mit einer möglichst hohen Benotung ausstatteten, bei Anlageberatern,
die ihren Kunden die vermeintlich sicheren und guten
Produkte untergeschoben haben, letztlich auch deswegen,
weil sie hierfür Provisionen bekamen.
Bei der G 20 und dem Financial Stability Board hatte
man sich auf multilaterale Standards für verantwortungsvolle und transparente Vergütungssysteme geeinigt.
Es ist richtig, dies nun verbindlich in Gesetzesform zu
gießen und nicht nur auf die vorliegende Selbstverpflichtung der großen deutschen Banken und der größten Versicherungsunternehmen zu vertrauen. Dieses Gesetz ist
die Fortführung der neuen Vergütungsregeln für Vorstände, die wir noch in der Großen Koalition mit dem
Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in
Kraft gesetzt haben.
Es ist grundsätzlich richtig, wenn die Vergütungssysteme angemessen und transparent gestaltet werden sollen
und sich an einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung ausrichten, also nicht mehr nur den kurzfristigen
Gewinn zum Maßstab der Vergütung machen. Feste Vergütungsbestandteile müssen gestärkt, variable zurückgedrängt werden.
Der Gesetzentwurf stärkt die Eingriffsrechte der
BaFin. Sie soll die Möglichkeit erhalten, im Falle der
Unterschreitung oder der drohenden Unterschreitung bestimmter aufsichtsrechtlicher Kapitalanforderungen die
Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu untersagen, auch bei Rechtsansprüchen aus bestehenden Arbeitsverträgen. Dies ist richtig; denn es kann nicht sein,
dass sich im Extremfall einzelne Personen üppige Boni
genehmigen, während die Allgemeinheit ein Institut mit
Steuermitteln stützen muss.
Mit diesem Gesetz wird die wichtige Aufsichtsfunktion der BaFin gestärkt; dies ist richtig so. Wir halten es
auch für richtig, Aufsichtsratsmitglieder einzubeziehen.
Variable Vergütungsbestandteile für Aufsichtsratsmitglieder vermag ich sowieso nicht nachzuvollziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
jetzt ein paar Worte zu den Schwachstellen des Gesetzentwurfes sagen. Unserer Meinung nach müssen angemessene Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn ein
Unternehmen gegen das Gebot verstößt, solide Vergütungspraktiken zu implementieren. Sie fehlen aber.
Darüber hinaus ist es notwendig, zu überlegen, welcher Personenkreis erfasst werden soll. Problematisch ist
es, wenn hier nicht differenziert wird. Das Problem ist
nicht der einfache Sachbearbeiter oder der Pförtner. Das
Problem sind die Häuptlinge, nicht die Indianer. Hier
wird nicht entsprechend differenziert. Außerdem möchte
ich daran erinnern, dass wir in Deutschland Tarifautonomie haben. Wir müssen sie entsprechend stärken.
Ich bin ferner davon überzeugt, dass sich mancher
Anreiz eines abenteuerlichen Bonisystems erübrigen
würde, wenn wir deren steuerliche Absetzbarkeit begrenzen und einschränken würden.
({4})
Wir Sozialdemokraten haben dies schon in der letzten
Legislaturperiode gefordert, sind aber am Veto der
Union gescheitert.
({5})
Wenn wir die Absetzbarkeit einschränken würden, würden wir verhindern, dass der normale Steuerzahler diesen Boni-Irrsinn mitfinanziert. Dies ist nicht vorgesehen;
das bedauern wir sehr.
({6})
Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir sind es der ökonomischen Stabilität unseres Landes schuldig, hinreichende Regeln zu schaffen, die die Finanzbranche ernsthaft an den Kosten der Krise beteiligt, neue wahnwitzige
Spekulationen und Krisen verhindert. Wir brauchen deshalb Vergütungssysteme, die nicht einen Irrwitz befördern, bei dem sich wenige auf Kosten von Millionen
maßlos bereichern. Wir sollten die Krankheit der „chronischen Bonitis“ im Finanzsystem dauerhaft ausrotten.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der italienische Dichter Dante Alighieri hat einmal gesagt:
Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du
die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun
übernimmst.
Im Hinblick auf die Bewältigung der Finanzkrise befinden wir uns am Beginn eines solchen Weges, der zu einer neuen Verantwortungskultur führt; sie ist das Ziel
dieser christlich-liberalen Koalition.
Ich möchte einen Blick auf die tragende Säule der
Realwirtschaft werfen. Die tragende Säule der Realwirtschaft ist der Mittelstand. Der Mittelstand arbeitet erfolgreich. Der Mittelstand muss nicht staatlich gestützt
werden. Er trägt vielmehr durch seine erfolgreiche Arbeit dazu bei, die Basis für die Stützungsmaßnahmen,
die in der Finanzwirtschaft notwendig geworden sind, zu
schaffen.
({0})
Der Mittelstand haftet persönlich, Herr Kollege Binding,
und das ist der Unterschied. Ich kenne viele Unternehmen, die in der Rechtsform eines Einzelunternehmens
arbeiten, obwohl ihre Mitarbeiterzahl im dreistelligen
Bereich liegt. Die Verantwortungskultur, die im Mittelstand, im Kern unserer Wirtschaft, vorhanden ist, gilt es,
auf die Finanzbranche zu übertragen.
({1})
Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Sie hat sich
auf den Weg dazu gemacht. Das Kabinett hat die Verdopplung der Verjährungsfristen von fünf auf zehn Jahre
bei Haftungsfällen in diesem Umfeld beschlossen. Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereitet hier
entsprechende Maßnahmen vor. Aber es geht eben nicht
nur darum, den Haftungsfall zu regeln, sondern auch darum, dafür zu sorgen, dass der Haftungsfall nach Möglichkeit erst gar nicht eintritt. Dazu haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Es geht noch um etwas anderes.
Ich möchte Otto Fürst von Bismarck zitieren, der einmal
gesagt hat: „Die Politik hat nicht zu rächen, was geschehen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder geschehe.“ Manchmal habe ich in diesem Haus ein bisschen das Gefühl, dass es ein klein wenig um Rache geht,
was natürlich aus der Emotionalität heraus verständlich
ist, uns aber nicht weiterbringt.
({2})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist - Herr Staatssekretär Koschyk hat es schon gesagt - ein Teil eines gesamten Maßnahmenkataloges, den wir hier einbringen. Ein
Gesetzentwurf betreffend das Rating befindet sich in der
Beratung. Zur Bankenabgabe liegen Eckpunkte vor. Am
Insolvenzrecht wird gearbeitet. Schlussendlich wird der
gesamte Finanzmarkt neu reguliert. Der vorliegende Gesetzentwurf zielt auf den nachhaltigen Unternehmenserfolg ab. Da möchte ich wieder an den Mittelstand
erinnern. Das sind Familienunternehmen, die in Generationen und nicht in Quartalen denken. Das macht sie so
stabil und so erfolgreich.
({3})
Mit der vorgesehenen Transparenz bei den Vergütungssystemen sorgen wir dafür, dass die Eigentümer,
die Aktionäre der Unternehmen - häufig sind es Aktiengesellschaften -, ihrer Verantwortung nachkommen und
genauer schauen können, welches Vergütungssystem es
in dem Unternehmen gibt, an dem sie beteiligt sind. Wir
wollen positive und negative Vergütungsparameter, weil
dort, wo ein Bonus ist, logischerweise auch immer ein
Malus sein muss. Es gibt zudem die Eingriffsmöglichkeiten der BaFin, die die Rückzahlung von Boni veranlassen kann, wenn ein Unternehmen in eine Schieflage
gerät. Nicht, dass es so läuft wie auf der „Titanic“, wo
die Musik bis zum Letzten gespielt wurde.
Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf an die gute
Praxis des SoFFin an, durch den bei den Unternehmen,
an denen der Staat beteiligt ist bzw. die gestützt wurden,
Gehaltsgrenzen eingeführt wurden. Diese Grenzen werden - wir haben das an den Fällen gesehen, die jetzt aufgetreten sind - nachhaltig eingehalten. Wer sich als Manager an diese Grenzen nicht halten möchte, hat auf dem
Arbeitsmarkt sicherlich die Möglichkeit, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen. Der Steuerzahler ist jedenfalls nicht dafür verantwortlich, dass hier exzessiv Boni
gezahlt werden.
Die einzelnen Regelungen dieses Gesetzentwurfs
werden wir uns sicherlich im Zuge der Beratungen genau anschauen müssen. Da teile ich das, was der Kollege
Zöllmer gesagt hat. Das Problem sind nicht die Indianer,
sondern die Häuptlinge. Es geht nicht um den Bankberater, der beispielsweise für den Abschluss einer Lebensversicherung eine Provision erhält. Das Problem ist weiter oben, oberhalb der Schalterhalle, angesiedelt. Wir
müssen schauen, dass wir mit dem Gesetz nicht über das
Ziel hinausschießen. Unser Ziel ist, die Verantwortungskultur in der Finanzbranche insgesamt zu stärken.
Ich möchte mit einem Zitat von Antoine de SaintExupéry - Kollegin Kressl mag ihn sehr gerne - schließen: „Mensch sein heißt verantwortlich sein“. Wenn alle
in der Finanzbranche öfter daran gedacht hätten, gäbe es
die bestehenden Probleme wahrscheinlich nicht.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Entfesselung der Finanzmärkte und die
absurd überhöhten Renditeansprüche waren und sind
eine zentrale Ursache der momentanen Finanz- und
Wirtschaftskrise. Die frei vor sich hin flottierenden Finanzmärkte haben Vermögenden Renditen im zweistelligen Bereich ermöglicht, wodurch die Umverteilung von
unten nach oben maßgeblich beschleunigt wurde. Banker wurden durch Bonuszahlungen üppig belohnt, wenn
sie die vorgegebenen Renditeziele erreichten, was freilich nur durch hochriskante Geschäfte möglich war. Da
wundert es nicht wirklich, dass viele Finanzmarktakteure nur noch von der Tapete bis zur Wand dachten,
sprich: sich allein am kurzfristigen Profit orientierten
und jegliches Risikomanagement wegdrückten.
Das Kasino war eröffnet, der unregulierte Zock an der
Tagesordnung. Eine Orientierung am gesamtwirtschaftlichen Interesse war schlichtweg out. Für Manager, Vorstände, Geschäftsleiter und Aufsichtsräte im Finanz- und
Versicherungssektor gab es eine reine Win-win-Situation. Gingen ihre Spekulationen auf, wurden sie mit hohen Boni beglückt. Bei Misserfolg wurden sie dadurch
belohnt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten, keine
Malusregelungen gab.
Die Zeche müssen wieder einmal die Bürgerinnen
und Bürger zahlen. Dies war und ist von dieser Regierung und der Vorgängerregierung genauso gewollt. Dieser Zustand ist aber schon seit langem unhaltbar.
({0})
Denn so, wie es bislang läuft, ist es doch kein Wunder,
dass langfristiges, soziales und nachhaltiges Wirtschaften aus dem Blick gerät. Auch im Gesetzentwurf dominiert trotz gegenteiliger Behauptungen die einzelwirtschaftliche Betrachtung und nicht nachhaltiges
volkswirtschaftliches Handeln. Was wird sich durch dieses Gesetz konkret ändern? Eine Bank, zu deren Geschäftsmodell es zum Beispiel gehört, auf den Niedergang anderer Unternehmen Wetten abzuschließen, wird
wohl nicht daran gehindert, so zu agieren wie bisher. Die
Bank ist nun höchstens ein bisschen mehr vor ihren eigenen Managern geschützt. In der Öffentlichkeit glänzt sie
im schönsten Lichte. Immerhin darf sie sich jetzt als
„nachhaltig ausgerichtet“ bezeichnen. Das zieht Kunden
und damit frisches Geld an.
Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf enthalten. Wir warten gespannt auf die konkrete Ausgestaltung mittels zweier Rechtsverordnungen.
Ich zweifle aber daran, dass die kommenden Einzelregelungen für klare Einschnitte sorgen und so die Verursacher der Krise nachhaltig zur Verantwortung gezogen
werden. Für mich gilt: Das Festgehalt muss die Grundlage jeder Entlohnung sein. Boni müssen strikt begrenzt
werden, zum Beispiel auf 10 Prozent vom Festgehalt.
Die Linke betont: Die Vergütung höherer Lohngruppen
darf nie zum Nachteil anderer Lohngruppen erfolgen
und nie durch Personalabbau gegenfinanziert werden.
({1})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, meine Fraktion und ich vermissen bei Ihnen alles in
allem ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung
der Finanz- und Wirtschaftskrise.
({2})
Was Sie anbieten, sind kleine Mosaiksteinchen, mehr
nicht. Die strukturellen Probleme, die vor allem durch
die Verselbstständigung der Finanzsphäre ausgelöst wurden, lösen Sie damit allein jedenfalls nicht. Vielmehr
brauchen wir ein Gesamtpaket, das von der strikten Regulierung des Finanzsektors und seiner Unterwerfung
unter gesellschaftliche Kontrolle über ein dauerhaftes
Zukunftsprogramm für Bildung, Verkehr und die Energiewende sowie zwei Millionen neuer Jobs bis hin zu einer viel gerechteren Verteilung von Einkommen und
Vermögen reicht.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage nach den Boni und den Finanzmärkten ist eigentlich ein Aufregerthema. Leute, die vor kurzem ihr
Institut in den Sand gesetzt haben und dazu beigetragen
haben, dass die Finanzmärkte wackeln, verdienen daran
teilweise Millionen. Es sieht so aus, als wäre nichts gewesen.
Wenn man diese Debatte verfolgt, hat man aber nicht
den Eindruck, dass wir es mit einem Aufregerthema zu
tun haben. Woran liegt das? Das liegt daran, dass dieser
Gesetzentwurf im Endeffekt aus einem Satz besteht bzw.
in einem Satz zusammengefasst werden könnte, der relativ nüchtern ist: Die Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde darf die Vergütungsmodelle von Banken und Versicherungen überprüfen. Das ist der Kern. Wesentlich
mehr beschließen wir nicht, wenn wir dieses Gesetz verabschieden.
({0})
Es stellen sich verschiedene Fragen: Erstens. Ist es
ausreichend, nur dies zu tun? Der Staatssekretär hat gesagt, dass es auch noch anderes gibt, dass das nur ein
Baustein ist. Wichtig aber ist, dass zentrale Bausteine an
dieser Stelle von Ihnen nicht vorgesehen sind; Herr
Zöllmer sagte das schon. Wir sind der Meinung, dass wir
auch steuerrechtlich etwas tun müssen, um Gehaltsexzessen vorzubeugen und zu verhindern, dass die Allgemeinheit daran beteiligt wird.
({1})
Zweitens kann man sich fragen: Warum verlagert der
Gesetzgeber praktisch alle konkreten Fragen in eine Verordnung und überlässt sie dem Bundesministerium bzw.
der Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde? Ich meine,
dass wir konkrete Rahmenbedingungen, wie sie auf europäischer Ebene schon vereinbart worden sind, in das
Gesetz hineinschreiben sollten und nicht alles auf den
Verordnungsgeber übertragen, also dahin auslagern sollten, wo wir als Parlament nichts mehr zu sagen haben.
Nachher, wenn es auf den Finanzmärkten wieder kracht,
wird es heißen: Wer ist denn verantwortlich? Natürlich
haben wir in diesem Parlament eine Verantwortung.
Deswegen sollten zentrale Regelungen auch im Gesetz
stehen und nicht ausgelagert werden.
({2})
Vom Bundesrat wurden interessante Vorschläge in die
Diskussion eingebracht. Ich meine, es lohnt sich, diese
aufzugreifen. Der erste Vorschlag ist, dass wir uns nicht
nur der Frage der Stabilität widmen - sorgen die Boni
dafür, dass viel zu riskant gewirtschaftet wird? -, sondern auch mit der Frage befassen, ob die Vergütungssysteme - es geht also um das, was Einzelne in den Banken
verdienen - dazu beitragen, dass den Kunden die falschen Produkte verkauft werden und die Beratung falsch
läuft. Ich finde diesen Vorschlag sehr gut. Wir sollten ihn
dringend aufgreifen; denn wir wissen, dass nicht nur
Verkaufslisten, sondern manchmal auch Anreizsysteme
dazu führen, dass ein Bank- oder Versicherungsberater
falsch berät und die Kunden auf die falschen Produkte
zurückgreifen. Deswegen sollten wir diesen Vorschlag
des Bundesrates unbedingt aufgreifen.
Der Bundesrat führt interessanterweise noch zwei andere Punkte an, die ich wichtig finde. Ich möchte anregen, auch diese aufzugreifen. Der eine Punkt ist, dass
wir nicht-finanzielle Aspekte bei der Vergütung in den
Vordergrund stellen sollten, zum Beispiel die Kundenzufriedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit. Der andere
Punkt, den der Bundesrat anführt, ist die Frage: Bekommen Männer und Frauen eigentlich gleich viel Geld für
gleiche Arbeit? Dass das nicht so ist, ärgert uns Grüne
schon seit langem, und zwar bei uns nicht nur die
Frauen, sondern auch die Männer; das ist der Unterschied.
({3})
Ich finde den Vorschlag, dieses Thema aufzugreifen, gut.
Ich finde es sehr interessant, dass der Bundesrat vorschlägt, das im Rahmen dieses Gesetzentwurfs zu behandeln. Da sind offensichtlich auch ein paar unionsgeführte Länder dabei gewesen. Vielleicht gab es an der
Regierung beteiligte Grüne, die sie dazu ermutigt haben.
Das werden wir uns noch einmal anschauen.
Auf jeden Fall sollten wir die Aspekte, die der Bundesrat angeführt hat, aufgreifen und uns die Fragen stellen: Reicht das Geplante aus? Wollen wir als Gesetzgeber wirklich die gesamte Verantwortung für die wichtige
Frage der Vergütungssysteme auf den Verordnungsgeber, das heißt auf die Administration, auslagern? Ich
meine: Nein. Das ist etwas, das wir als Parlament selbst
zu leisten haben.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gesetz, dessen Entwurf der Staatssekretär gerade vorgelegt
hat, verpflichtet die Finanzdienstleister und die Versicherungen dazu, angemessene Vergütungsstrukturen vorzuhalten. Es ermächtigt die Aufsichtsbehörden, in Schieflagen die Auszahlung von variablen Vergütungen zu
verbieten oder zumindest zu begrenzen. Wie Sie schon erwähnt haben, werden damit Regeln zügig umgesetzt, die
vom Financial Stability Board erlassen worden sind. Das
ist zu begrüßen.
({0})
Es ist - auch das hat der Staatssekretär gesagt - ein Teil
eines größeren Projektes zur Sicherung der Regulierung
des Finanzmarktes, mit dem wir alle uns hier befassen.
Wir können das jetzt beliebig ausführen. Wir können
über die Regulierung des Derivatemarkts, die Regulierung von Hedgefonds, die Neuordnung der Aufsichtsstrukturen oder verschiedene Eigenkapitalregelungen
debattieren. Aber Ihr Vorwurf greift ins Leere; denn es
wird eine Menge getan. Das alles ist nicht immer in nur
einem Satz zu erklären. Ich denke, dass es uns gut tun
würde, ein bisschen Seriosität in dieser Debatte zu haben.
({1})
Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, weil die Erfahrungen in den letzten Jahren gezeigt haben, dass Unternehmenspolitik teilweise zu sehr auf kurzfristige Anreize gesetzt hat und dass Bonusstrukturen - im Übrigen
für Manager und Mitarbeiter - dazu geführt haben, dass
eine erhöhte Risikobereitschaft in der Finanzdienstleistungsbranche bestand. Diese Risikobereitschaft war
letztlich ein Grund für die Krise. Deswegen ist es richtig,
dass wir trotz der Selbstverpflichtung der Finanzdienstleister, zumindest der großen Finanzdienstleister, gesetzliche Regelungen schaffen und für die Ermächtigung
sorgen, die Einhaltung dieser Regelungen zu beaufsichtigen.
Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass dieser Gesetzentwurf einhellig auf Zustimmung stößt. Wir nehmen aber auch die Kritik zur Kenntnis. Dies ist die erste
Lesung; wir werden die Kritik ernst nehmen und aufgreifen. Natürlich müssen wir uns fragen, inwieweit das einen Eingriff in die Tarifautonomie oder die Vertragsfreiheit darstellt. Aber wir sind der Meinung, dass dieser
Eingriff aufgrund des volkswirtschaftlichen Schadenpotenzials durch falsche Vergütungssysteme gerechtfertigt ist.
({2})
Natürlich müssen wir fragen, ob es richtig ist, dass die
Versicherungen einbezogen werden. Wir sagen Ja, weil
die Versicherungen auf ähnlichen Feldern wie die Finanzdienstleister im Bankenbereich operieren. Wir sagen Ja, weil auch große Versicherungen wie AIG, die
systemisch sind, in den USA in Schieflage geraten sind.
Wir sagen Ja, weil wir an der Diskussion über die Einmalbeträge bei den Lebensversicherungen sehen, dass
die Grenze zwischen Banken- und Versicherungsaktivitäten durchaus fließend ist. Wir nehmen auch die Kritik
der Menschen ernst, die sagen, dass es zu viel oder zu
wenig Regulierung gibt. Ich glaube, im vorliegenden
Gesetzentwurf ist ein guter Maßstab gesetzt worden, indem man die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Angemessenheit“ definiert hat. Diese werden in Form von Rechtsverordnungen noch umgesetzt werden müssen. Sie
werden durch das Handeln der Aufsichtsbehörden gelebt
werden müssen. Wir als Union werden das eng begleiten. Insofern ist alles erst einmal gut.
Die eigentliche Frage wird durch diesen Gesetzentwurf aber nicht beantwortet. Sie lautet: Warum verdienen
einige Banken so viel Geld, dass sie solche enormen Vergütungen zahlen können? Warum hat die Deutsche Bank
letztes Jahr einen Gewinn von rund 5 Milliarden Euro gemacht hat, während Daimler einen Verlust von über
2 Milliarden Euro gemacht hat? Warum beträgt das Durchschnittsgehalt bei der Deutschen Bank 150 000 Euro und
bei Daimler 54 000 Euro? Welches ist der Grund dafür,
dass Spitzenleistungen im Technologiebereich anscheinend geringer bewertet werden als im Finanzdienstleistungsbereich? Diese Frage sollten wir uns stellen. Ich
weiß, dass diese Vergleiche nicht ganz fair und nicht ganz
richtig sind.
({3})
Aber wir müssen uns diese Frage stellen. Ich möchte versuchen - wohlgemerkt versuchen -, diese Frage zu beantworten. Der erste Versuch einer Antwort lautet - das ist
uns allen bekannt -: Es gibt eine Entkopplung von Risiko
und Haftung. Es ist so, dass bestimmte Risiken letztendlich vom Staat zu tragen sind, aber die Chancen bei den
Instituten, insbesondere bei Fonds und Hedgefonds, bleiben.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen und
eine weitere Frage stellen, über die wir bisher nicht genügend diskutiert haben. Das ist die Frage nach dem
Wettbewerb. Wettbewerb kann nur funktionieren, wenn
es mehrere bzw. viele Marktteilnehmer gibt. Ist das im
Investmentbankingbereich der Fall, oder ist es nicht vielmehr so, dass es nur wenige Marktteilnehmer gibt, die
den Markt unter sich aufteilen? Ganz ehrlich: Wer ist
denn überhaupt noch in der Lage, hier in Deutschland
bzw. in Europa eine internationale Finanzierung, einen
Börsengang oder eine Anleihe zu organisieren? Ganz
ehrlich: Wie viele Akteure gibt es noch, die auf dem Derivatemarkt tätig sind und dort tatsächlich Marktmacht
ausüben? Ich sage: Wettbewerb ist wichtig. Wettbewerb
braucht vernünftige Strukturen. Wettbewerb führt zu fairen Preisen. Wettbewerb führt zu fairen Gewinnen, und
Wettbewerb führt auch zu fairen Vergütungsstrukturen.
Das ist ein Punkt, den wir bedenken müssen. Das ist
auch deswegen ein wichtiger Punkt, weil dann, wenn es
nur weinige Marktteilnehmer gibt, dies immer dazu
führt, dass wir in die Too-big-to-fail-Problematik hineinkommen. Ich kann uns nur aufrufen, diesen Gesetzentwurf zum Anlass zu nehmen, ergebnisoffen - ich habe
noch keine Lösung und bin noch nicht zu einem Ergebnis gekommen - darüber zu diskutieren, ob die Wettbewerbsstrukturen im Bereich des Investmentbankings
vernünftig sind. Den Bereich der Privatkunden und der
kleinen Geschäftskunden nehme ich davon ausdrücklich
aus. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderen
Staaten nämlich zwei zusätzliche Säulen: die Volksbanken und die Sparkassen. Ich glaube, hier ist der Wettbewerb einigermaßen vernünftig organisiert.
Zusammenfassend kann man sagen: Das Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, ist kein Allheilmittel. Es wird nicht
verhindern, dass eine Finanzkrise 2.0 ausbricht. Wir wissen genau, dass wir viele Bausteine brauchen. Ich denke,
dieses Gesetz ist ein solcher Baustein, ein vernünftiger
Baustein. Die Regulierung in diesem Bereich wird dazu
beitragen, dass der Finanzmarkt ein wenig sicherer wird,
nicht nur für die Anleger, sondern auch für den Steuerzahler. Deswegen wird die Union dieses Gesetzesvorhaben konstruktiv und zügig vorantreiben.
Danke schön.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 17/1291 und 17/1457 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeitslose mit einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen
- Drucksache 17/1205 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute öffentlich geförderte Beschäftigung Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit
und Ein-Euro-Jobs
- Drucksache 17/1397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle
werden sich daran erinnern, dass sich die Arbeitsuchenden in den letzten Monaten eine Menge haben bieten lassen müssen. Sie mussten sich als faule und dekadente Sozialschmarotzer beschimpfen lassen. Ich finde es wirklich
unerträglich, dass sowohl Ministerpräsident Koch als
auch Vizekanzler Westerwelle ihre gesammelten Vorurteile ausgebreitet haben, um Arbeitslosengeld-II-Bezieher zu diffamieren.
({0})
Aber um das gleich zu sagen: Auch die Eingebung einer
Berliner Grünen-Abgeordneten finde ich hundsmiserabel.
Grundsätzlich muss klar sein, dass eines gilt: Der soziale Arbeitsmarkt ist ausdrücklich nicht dafür da, vermeintlich faule Arbeitsuchende auf Trab zu bringen. Wer
hier diesen Zungenschlag hineinbringt, dem geht es um
alles Mögliche, aber nicht um die Betroffenen. Wenn es
darum geht, Zwangsdienste zu etablieren, damit Menschen davon abgehalten werden, in einer Notsituation
ihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, dann
kann ich nur sagen: Das ist eine infame Strategie. Diese
Strategie werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({1})
Fakt ist erstens: Derzeit fehlen in Deutschland ungefähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fakt ist zweitens:
Fast alle Arbeitslosen sind absolut erpicht darauf, einen
Job zu finden und so schnell wie möglich aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Fakt ist drittens - das sage ich denjenigen, die immer von Zwangsmaßnahmen sprechen -: Es gibt derzeit bei weitem nicht
genügend Arbeitsplätze im sogenannten gemeinnützigen
Sektor. Die Nachfrage ist um ein Mehrfaches höher als
das Angebot.
In genau dem Moment, als der Vizekanzler lautstark
dafür plädiert hat, jeden Arbeitslosen zu irgendeinem gemeinnützigen Job zu zwingen, hat die Bundesarbeitsministerin die wenigen Programme, die es für Langzeitarbeitslose im gemeinnützigen Sektor überhaupt gibt,
abgeschafft oder ausgetrocknet.
({2})
Das Programm „Kommunal-Kombi“ ist vollständig abgeschafft worden, und das Programm „JobPerspektive“
wird genau bei den Jobcentern beschnitten, bei denen es
besonders gut funktioniert hat. Das alles geht bei dieser
Bundesregierung zusammen: Der Vizekanzler brüllt laut
und fordert einen sozialen Arbeitsmarkt, und die Bundesarbeitsministerin stellt diesen parallel dazu ein. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
Wir wissen, dass ungefähr 400 000 Langzeitarbeitslose unter den derzeitigen Bedingungen kaum eine
Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Ich frage Sie: Welchen Sinn soll es machen, diese
Menschen immer wieder in das Auf und Ab von Maßnahmekarrieren zu zwingen? Sechs Monate einen 1-EuroJob, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht eine Trainingsmaßnahme, dann wieder arbeitslos, das demotiviert
die Betroffenen. Das ist teuer. Das ist schlecht und bringt
der Gesellschaft gar nichts. Was wir brauchen, ist ein verlässlicher zweiter Arbeitsmarkt, der den Langzeitarbeitslosen tatsächlich eine Perspektive gibt. Die Grünen haben
einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es geht um
sinnstiftende Beschäftigung. Es geht um zusätzliche Beschäftigung und um Beschäftigung, von der die Gesellschaft profitiert. Das Ganze muss nach dem Prinzip der
Freiwilligkeit organisiert sein. Es muss dezentral, kommunal organisiert sein, und es muss sich um sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln.
Wir müssen weg von diesem Programm-Hopping. Wir
brauchen in diesem Bereich eine verlässliche Basis.
Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ununterbrochen, Frau Präsidentin.
Dann sollten Sie Schlussfolgerungen ziehen.
Ich komme sofort zum Schluss. - Wir haben Ihnen
mit dem Aktiv-Passiv-Transfer einen Vorschlag gemacht, wie man diese Beschäftigungsverhältnisse finanzieren kann. Damit wird die Parole, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren, endlich mit Inhalt gefüllt. Ich
finde, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, ihre
Motivation, ihre Talente und ihr Engagement einzubringen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Grünen möchten, wie aus ihrem Antrag hervorgeht,
dass für gute öffentlich geförderte Beschäftigung gesorgt
wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, als
Erstes müssen wir feststellen, dass Sie während Ihrer
Regierungszeit die Weichen offenbar nicht richtig gestellt haben. Sonst hätte nicht eine ganze Generation mit
Langzeitarbeitslosigkeit so viel Erfahrung machen müssen. Sie hätten bei der Gesetzgebung doch die Vorgabe
machen können, dass jungen Menschen nach einer bestimmten Frist eine Tätigkeit zugewiesen werden muss.
Sie haben das unbestimmt gelassen, mit der Folge, dass
viele junge Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit gelandet sind.
Wir werden uns verstärkt um die Alleinerziehenden
kümmern. Es ist unsere Arbeitsministerin, die die Alleinerziehenden aus der Langzeitarbeitslosigkeit herausholen wird.
({0})
- Einzelheiten werden morgen hier im Haus erörtert.
Für die christlich-liberale Koalition ist klar: Nach unserem christlichen Menschenbild hat Arbeit einen hohen
Stellenwert. Wir wissen, wie wichtig Arbeit für den
Menschen ist. Was uns von den Grünen und den Roten
jeder Couleur unterscheidet, ist von zentraler Natur: Wir
wollen die Menschen an Arbeit heranführen und - wann
immer möglich - in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.
Dabei sind wir uns im Klaren, dass es Menschen gibt,
die den gesamten Weg nicht schaffen. Für diesen Personenkreis werden wir Wege finden, dass sie es zumindest
in eine öffentliche geförderte Beschäftigung schaffen.
Wir wollen die Menschen aber nicht in den Kreislauf
zwischen Arbeitslosigkeit und öffentlich geförderter Beschäftigung schicken, nach dem Motto: per Drehtüreffekt von der Arbeitslosigkeit in die nächste öffentliche
Beschäftigung und zurück.
({1})
Diesen Kreislauf wollen wir durchbrechen.
({2})
Ihnen von den Grünen ist das leider nicht gelungen.
Wir wollen nicht so viel Lehrgeld zahlen, wie Sie es mit
der Ich-AG getan haben. Sie haben viel Geld, das wir
heute bräuchten, ohne gute Ergebnisse verbraten.
Seit 2005 sind durch die unionsgeführte Bundesregierung viele Programme zur Förderung der Langzeitarbeitslosen auf den Weg gebracht worden, wie zum
Beispiel der Beschäftigungszuschuss für Langzeitarbeitslose, der Jobbonus, die JobPerspektive und der Qualifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierung
von jüngeren Menschen unter 25 Jahren mit Vermittlungshemmnissen.
Für den Monat März 2010 hat die Bundesagentur für
Arbeit mitgeteilt, dass die Zahl der Arbeitslosen, welche
länger als zwei Jahre ohne Job sind, auf circa 405 000
gesunken ist.
({3})
Das sind im Vergleich zum Vorjahresmonat 12,6 Prozent
weniger. Die Wirtschaftsweisen hatten uns angesichts
der größten Wirtschafts- und Finanzkrise weitaus
schlechtere Prognosen erstellt.
({4})
- Das können auch Sie ruhig einmal zur Kenntnis nehmen.
({5})
Das zeigt uns, dass die bisherigen Maßnahmenpakete
zur Bekämpfung der Krise durch die unionsgeführten
Bundesregierungen richtig eingesetzt wurden und Wirkung zeigen.
({6})
Mit dem Beschäftigungschancengesetz werden wir
jetzt den nächsten Schritt gehen, und wir werden den
Mut haben, das Konzept der Bürgerarbeit, das Sie immer
in die Ecke gelegt haben und das für Sie immer ein
Randthema war, umzusetzen. Wir werden die Bürgerarbeit aktivieren. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Jobcenter nach jahrelangen Unsicherheiten endlich funktionieren, dann werden wir uns mit der Bürgerarbeit hier im
Bundestag befassen.
Das Instrument der Bürgerarbeit wurde vom sachsenanhaltinischen Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haseloff
und der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit
Sachsen-Anhalt-Thüringen entwickelt. Die Bürgerarbeit
hat sich in Sachsen-Anhalt als ein erfolgreiches Modell
zur nachhaltigen Reduzierung der Langzeitarbeitslosigkeit bewährt. Durch das Konzept der Bürgerarbeit sollen
vorrangig Langzeitarbeitslose in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden, die auf
dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Das
alles geht allerdings nicht zum Nulltarif. Daher wird
nicht alles sofort gehen, dafür aber seriös.
({7})
Es gibt durchaus auch Erfolgsmodelle, wie zum Beispiel ein kommunales Modell im Landkreis MarburgBiedenkopf. Im Rahmen des dortigen Modellprojekts
mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz wurden Langzeitarbeitslose gestärkt und aus der sozialen Isolation heraus und zurück in die Gesellschaft geführt. Zusätzlich
wurden arbeitsplatz- und existenzsichernde Beratungsangebote geschaffen, die mittelfristig die Überwindung
der Hilfebedürftigkeit zum Ziel haben. Besonders interessant im Hinblick auf Ihre Anträge ist die Erfolgsquote
bei den über 50-Jährigen. Viele ältere Arbeitslose konnten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
({8})
Schauen Sie sich an, was es in den letzten Jahren mit
den Ferienjobs für Kinder von Arbeitslosengeld-II-Empfängern auf sich hatte.
({9})
Was war das für ein Theater! Nichts ging; in diesem
Sommer geht es. So verhindert man eine Hartz-IV-Kultur.
({10})
So stellen wir nun die Weichen im Interesse der Menschen in unserem Land. Dass Ihnen das nicht gefällt,
kann ich sehr gut verstehen.
({11})
Mit der Umsetzung des Beschäftigungschancengesetzes
werden sich die Arbeitsmarktchancen für Langzeitarbeitslose, für Alleinerziehende und für Ältere über 50 in
der nächsten Zeit weitgehend verbessern.
Meine lieben Kollegen von den Linken und von den
Grünen, es wäre deshalb schön, wenn Sie allein schon
aus diesem Grund das Beschäftigungschancengesetz,
welches unsere Ministerin morgen hier vorstellen wird,
unterstützen würden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Kollege Michael Groschek für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn hier angekündigt wird, dass morgen ein Entwurf
eines Beschäftigungschancengesetzes eingebracht wird,
dann wird uns und den Betroffenen angst und bange.
Denn wir erinnern uns an das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es droht Ungemach, heißt das auf Deutsch
gesagt.
({0})
Wir sollten uns an den Ausgangspunkt der heutigen
Diskussion erinnern. Das war das Rezept „Mit Demagogie gegen Demoskopie“. Das war der Versuch des FDPVorsitzenden, der im Nebenamt Außenminister ist, den
freien Fall in Umfragen umzukehren.
In dieser Stunde hätten wir uns im Sinne der Betroffenen sehr gewünscht, liebe Kollegin, wenn ein Sturm der
Entrüstung, gesteuert durch Ihr christliches Menschenbild, auch durch die CDU/CSU gegangen wäre. Was
aber war? Schweigen im Walde. Das macht uns betroffen.
({1})
Was war unsere Antwort? Unsere Antwort war der soziale Arbeitsmarkt als freiwillige Inanspruchnahme eines sozialen Rechts auf Integration statt als angedrohte
Zwangsmaßnahme. Das unterscheidet uns. Ich will Ihnen eines zugutehalten: Viele von Ihnen werden sicherlich Schwielen an den Fingern haben vom vielen bußfertigen Beten mit dem Kruzifix in der Hand, weil Sie so
etwas mitmachen, was Ihnen von Ihrem Koalitionspartner serviert wird.
({2})
Lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir glauben,
dass das Recht auf Arbeit für alle gelten muss, und zwar
auf gute und fair bezahlte Arbeit. Arbeit ist Ausdruck einer Würde im Menschenbild, wie wir es haben. Gute und
fair bezahlte Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass jemand
ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben gestalten
kann.
Deshalb sagen wir, dass gerade diejenigen, die mehrfach benachteiligt sind, nicht als abgeschrieben und abgeschoben gelten dürfen. Sie dürfen nicht deklassiert
und demagogisch verfolgt werden. Gerade sie brauchen
eine reale Chance. Dazu passt das Aushungern der
JobPerspektive und das Abschaffen von KommunalKombi nicht. Das ist der Weg in die Sackgasse und nicht
in die soziale Integration.
({3})
Der soziale Arbeitsmarkt ist das eine. Mehr soziale
Sicherheit am Arbeitsmarkt ist das andere. In der Realität erfolgt jede zweite Neueinstellung befristet. Über
1 Million Menschen sind moderne Tagelöhner mit einem
Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Wir haben in diesem Land 1,4 Millionen Aufstocker und mehr als
2,5 Millionen Menschen, die auf Zeit- und Leiharbeit
angewiesen sind.
Wenn man diese Realität sieht, dann müssen Sie das
doch als Einladung zur Schaffung von Fairness am Arbeitsmarkt und als Einladung dazu, am Arbeitsmarkt
Recht und Ordnung zu schaffen, verstehen. Deshalb halten wir neben der Diskussion um den sozialen Arbeitsmarkt die Überprüfung der vorhandenen arbeitsmarktpolitischen Instrumente für notwendig.
Wir haben uns darangemacht, die Überprüfung durchzuführen und Weiterentwicklungen und Korrekturen auf
den Weg zu bringen. Das ist ein sehr intensiver Diskussionsprozess in unserer Partei.
Wir laden Sie ein, sich vor einer Entscheidungsfindung diesem Diskussionsprozess anzuschließen.
({4})
Kollege Groschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schiewerling?
Ja, wenn die Zeit angemessen gestoppt wird.
Das ist doch selbstverständlich.
Herr Kollege Groschek, Sie haben gerade behauptet,
das arbeitsmarktpolitische Instrument JobPerspektive sei
abgeschafft worden.
({0})
Können Sie mir bestätigen, dass dieses arbeitsmarktpolitische Instrument nach wie vor besteht, dass auch in diesem Jahr die Mittel dafür geflossen sind und dass die
Absicht besteht, es beizubehalten?
Lassen Sie mich die Frage mit einer Feststellung ergänzen: Wenn Sie sozusagen unterschwellig behaupten,
man bekomme Schwielen an den Händen, wenn man
Kruzifixe festhält und betet, sollten Sie sich bewusst
sein, dass Sie damit viele Menschen in Deutschland
missachten, die aus ihrer religiösen Grundeinstellung heraus viel konkrete Hilfe für arbeitslose Jugendliche und
Erwachsene leisten.
Lieber Kollege, lenken Sie nicht ab. Ich denke, Sie
wissen, dass ich das zitierte christliche Menschenbild
fast jedem von Ihnen und in extenso denen zugestehe,
die als christliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
eine Gruppe in Ihrer Fraktion sind. Deshalb kann ich das
Leid dieser Menschen angesichts der arbeitsmarktfeindlichen und arbeitslosenfeindlichen Demagogie von
Westerwelle verstehen, und deshalb glaube ich, dass
viele bußfertig sein werden, weil sie trotz ihres christlichen Menschenbildes eine solche Regierung mittragen
müssen; denn die Demagogie gegen die Langzeitarbeitslosen war und bleibt nach meiner festen Überzeugung
unchristlich, lieber Kollege.
Eine zweite Erwiderung auf Ihr Anliegen: Ja, ich
weiß, die JobPerspektive gibt es noch. Aber ich weiß
auch, dass diese Bundesarbeitsministerin, die ansonsten
immer als symbolträchtige Madonna des Arbeitsmarktes
durch die politische Landschaft geführt wird,
({0})
900 Millionen Euro bei Arbeitsförderungsmaßnahmen
gesperrt hat und die JobPerspektive eben nicht als adäquates Instrument ansieht, sondern sie über den Tag hinaus aushungern will, weil Sie ein anderes Instrumentarium und eine andere Perspektive sehen. Dass wir Sie
hier so kritisch beäugen, hängt auch mit Ihrem Chefhaushälter zusammen, der auf die Frage, wo denn die
Konsolidierungspakete seien, die er stemmen müsse,
antwortete, dass Frau von der Leyen wohl ein Drittel bis
50 Prozent dieser Konsolidierungsmaßnahmen werde
stemmen müssen. Angesichts dessen wissen wir doch,
wohin die Reise möglicherweise gehen wird. Diese
Reise werden wir nicht mitmachen, weil sie sich gegen
die Interessen der arbeitslosen Menschen in diesem
Lande richtet.
({1})
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Schiewerling?
Ja.
Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass die Mittel für
die JobPerspektive - jetzt komme ich auf den sachlichen
Gehalt zurück und versuche, Sie dahin zu bringen, dass
Sie auch sachlich antworten - insgesamt nicht gekürzt,
sondern in Deutschland anders verteilt worden sind, und
können Sie mir zustimmen, dass 900 Millionen Euro
entsperrt worden sind, sodass diese Mittel der Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stehen?
({0})
Lieber Herr Kollege, dass die 900 Millionen Euro
entsperrt worden sind, ist doch nicht das Ergebnis Ihrer
mutigen christdemokratischen Intervention, sondern Ergebnis einer sozialdemokratischen Ansage. Das ist Fakt
eins.
({0})
Zweiter Punkt: Wir haben ganz aktuell ein Schreiben
einer Trägerorganisation aus Aachen bekommen, in dem
darauf hingewiesen wird, wie in Nordrhein-Westfalen
durch die Umverteilung, die in vielen Regionen
Deutschlands einer Kürzung gleichkommt, Benachteiligungen entstehen. Da helfen kein Laumann und auch
kein Rüttgers im Blaumann. Nordrhein-Westfalen wird
von dieser Bundesregierung sozial- und strukturpolitisch
über den Leisten gezogen, lieber Kollege.
({1})
Das Wort hat eigentlich der Kollege Groschek. Ich
sehe allerdings eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Hubertus Heil. Wenn Sie diese zulassen, Kollege
Groschek, füge ich gleich vorsorglich hinzu, dass dies
die letzte Frage ist, die ich innerhalb dieses Redebeitrages zulasse,
({0})
weil wir eine Verabredung haben, die besagt, dass wir
Redebeiträge nicht auf diese Weise verdoppeln oder verdreifachen wollen.
Lassen Sie die Frage des Kollegen Heil zu?
Gerne.
Bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. - Es ist nicht üblich, Zwischenfragen bei Abgeordneten der eigenen
Fraktion zu stellen. Dies weiß ich sehr wohl, und wir
wollen dies auch nicht dauernd machen. Aber die Frage
des Kollegen Schiewerling hat mich ein bisschen dazu
provoziert, noch einen Aspekt hinzuzufügen.
Herr Kollege Groschek, die Entsperrung hat gestern
im Haushaltsausschuss stattgefunden, weil wir dies im
Rahmen der Jobcenterreform durchgedrückt haben.
Aber noch nicht durch ist, wie eigentlich auch verabredet, Herr Schiewerling, die Entfristung von 3 200 Jobvermittlern. Dies muss bis zum 5. Mai im Haushaltsausschuss passieren.
({0})
Aber ich frage Sie, Herr Groschek, in Bezug auf den
9. Mai und die Situation danach bei all dem, was wir im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wie es denn
zu werten ist, wenn der Kollege Barthle, haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, jetzt
schon einmal ankündigt, dass für die Konsolidierung im
Jahre 2011 im Rahmen von 10 Milliarden Euro Frau von
der Leyen die Hälfte bis ein Drittel, also 3 bis
5 Milliarden Euro, aufbringen soll. Diese Frage treibt
uns um. Der Eingliederungstitel umfasst fast 6 Milliarden Euro. Dies wäre in vielen Bereichen das Ende einer
aktiven Arbeitsmarktpolitik, und alles, was über eine
Jobvermittlungsoffensive gesagt wird, wäre hohles Geschwätz, wenn es keine Unterlegung gibt. Diesen Aspekt
wollte ich Ihnen noch in Frageform mit auf den Weg geben.
({1})
Danke, Herr Kollege Heil. Ich hatte schon das denkwürdige Vergnügen, im Rahmen meiner Antwort auf
eine Frage seitens der CDU darauf hinzuweisen, dass offensichtlich der arbeitsmarktpolitische Heiligenschein
von Frau von der Leyen getrübt werden wird. Sie haben
sich bislang nicht dazu geäußert. Das wäre interessant
gewesen. Aber es gibt sicherlich noch Gelegenheit, darüber zu reden, ob denn gerade die Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik der große Steinbruch wird, um die Haushaltskonsolidierung à la Bundesregierung zu schultern.
Aber kommen wir auf das eigentliche Thema zurück.
Wir wollen mehr soziale Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt. Dazu zählen für uns nach wie vor anständige
Löhne - auf Deutsch gesagt: gesetzliche Mindestlöhne -,
von denen jeder leben kann, der Vollzeit arbeitet. Wir
wollen soziale Leitplanken bei der Zeit- und Leiharbeit,
weil da ein riesiger Sozialmissbrauch stattfindet. Wir
wollen den Anspruch auf Berufsausbildung, statt einer
ganzen Generation nur die Perspektive eines Praktikums
zu bieten. Wir betonen, dass die Qualifizierung auch in
der Arbeitsmarktpolitik eine Schlüsselfunktion hat. Das
betrifft auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Arbeit. Sie hinkt hinter den Abmachungen, die getroffen
wurden, hinterher. Wir brauchen ein besseres Betreuungsverhältnis, sonst wird es keine gescheite Perspektive
am Arbeitsmarkt geben, und wir brauchen letztendlich
eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit hin
zu einer Arbeitsversicherung mit einem Recht auf bestmögliche individuelle berufliche Qualifizierung und Beratung für jeden. Das wäre unsere Perspektive.
({0})
- Es gibt nicht nur Koalitionen mit Ihnen als Hemmschuh. Vielleicht gibt es auch einmal eine Fortschrittskoalition mit einem Partner, der nicht so schwerfällig ist,
wie Sie es an unserer Seite gewesen sind.
({1})
Zu den beiden vorliegenden Anträgen haben wir Folgendes anzumerken: Wir glauben, dass der Grünen-Antrag eine gute Diskussionsgrundlage für die weiteren
Ausschussberatungen ist. Der Antrag der Linkspartei ist
sehr stark von der Vorstellung geprägt, man könne Glück
und Erfolg mit Methoden von gestern erreichen. Er ist
von dem Duktus geprägt: Früher war alles besser. Wir
aber haben die Einsicht, dass im Heute und Morgen kein
Platz für das Gestern ist. Das ist das große Problem.
Wir werden Arbeitsmarktinstrumente weiterentwickeln müssen. Eine pauschale Schuldzuweisung für alle
Nöte des Arbeitsmarktes an die Bundesregierung können
selbst wir nicht mittragen. Die Zuständigkeit dieser Bundesregierung geht nicht so weit, dass man sie für alles
und jedes verantwortlich machen kann. Es reicht, die
politische Verantwortung für die Maßnahmen zu betonen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Frau
von der Leyen vertritt nach außen eine fortschrittliche
Arbeitsmarktpolitik, trägt aber nach innen dazu bei, dass
die Arbeitsmarktförderung zum Steinbruch für die Haushaltskonsolidierung wird. Wir werden die Situation auch
nach dem 9. Mai sehr kritisch verfolgen. Wir lassen Sie
nicht entkommen. Die Rhetorik vom christlichen Menschenbild korrespondiert eben nicht mit der Demagogie,
die der Demoskopie geschuldet ist, und sie nützt nicht
den Arbeitslosen in diesem Land.
({2})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst
viele Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir möchten dabei niemanden aufgeben, und
wir möchten niemanden zurücklassen.
({0})
Mit den beiden Anträgen, die heute zur Beratung vorliegen, soll ein anderer Weg gegangen werden. Ihre Befürworter geben faktisch einen Teil der Menschen auf.
Deshalb werden wir diesen beiden Anträgen nicht zustimmen.
({1})
Hannelore Kraft hat dies Anfang März dieses Jahres im
Spiegel deutlich zum Ausdruck gebracht - Zitat -:
Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel
unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen
regulären Job finden.
Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenen
Menschen.
({2})
Sie klassifiziert sie ab, und sie schreibt sie ab.
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen
Ihnen und uns. Die empirische Wirklichkeit mag einen
zwar zu einer solch bedauernswerten Schlussfolgerung
verleiten; das bedeutet aber noch längst nicht, dass man
diese empirische Wirklichkeit normativ festschreiben
darf.
({3})
Wir wollen niemanden aufgeben. Wir sind der Überzeugung, dass wir durch kluge Politik im Sinne der Menschen jedem eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
bieten können. Bei der Integration von Langzeitarbeitslosen müssen alle Kräfte auf eine umfassende Vermittlungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsoffensive konzentriert werden. Dazu hat das Kabinett gestern wichtige
Maßnahmen beschlossen. Diese Bundesregierung nimmt
sich jetzt vor allem der Alleinerziehenden sowie der jungen und älteren Arbeitnehmer an. Das - nicht die Ausweitung der öffentlichen Beschäftigung - ist der richtige
Schritt in die richtige Richtung.
({4})
Öffentliche Beschäftigung darf es nur als Ausnahme unter eng definierten Bedingungen geben; denn sie ist nicht
nur teuer, sondern sie gefährdet auch reguläre Beschäftigung.
({5})
So kommt ein im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung erstelltes Gutachten zu dem Ergebnis, dass - ich zitiere „öffentlich bereitgestellte Beschäftigung zwangsläufig
teurer ist als die Subventionierung eines Beschäftigungsverhältnisses am ersten Arbeitsmarkt, denn zusätzlich
zum Ausgleich der geringen individuellen Produktivität
muss noch die Anpassung der Arbeitsabläufe finanziert
werden“.
Dass ein sogenannter sozialer Arbeitsmarkt, ein Schattenarbeitsmarkt, sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängt, zeigt uns die Erfahrung mit den sogenannten 1-Euro-Jobs. Dies belegt auch der einschlägige
Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008.
Bei 80 Prozent der 1-Euro-Jobs wurde beanstandet, dass
sie nicht zusätzlich, sondern anstelle von Tätigkeiten ausgeübt wurden, die eigentlich durch reguläre Beschäftigung abgedeckt werden müssten, wodurch reguläre
Beschäftigungsverhältnisse im ersten Arbeitsmarkt gefährdet wurden bzw. verhindert worden ist, dass dort neue
Arbeitsplätze entstanden sind.
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Pothmer?
Gerne, Frau Pothmer.
Herr Kober, Sie haben sich hier sehr kritisch über die
Wirkung von öffentlich geförderter Beschäftigung geäußert und gesagt, jede öffentlich geförderte Beschäftigung
verdränge Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Wie
stehen Sie zu dem Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden
Westerwelle, Arbeitslose zum Schneeschippen heranzuziehen? Wie wahrscheinlich auch Sie wissen, finanziert
unser Staat normale Arbeitsplätze in der Straßenreinigung. Würde das Konzept, das Herr Westerwelle vorschlägt, Ihren hier vorgeschlagenen Vorstellungen nicht
zuwiderlaufen?
Liebe Kollegin Pothmer, ich habe mich nicht generell
für einen solchen Beschäftigungsmarkt ausgesprochen.
Ich habe gesagt: „unter eng definierten Bedingungen“.
Wir von der FDP sind der Auffassung, dass diese eng definierten Bedingungen vor allen Dingen so gestaltet werden müssen, dass diese Beschäftigungsverhältnisse der
Qualifizierung der Menschen dienen.
({0})
- In der Tat bin ich der Auffassung, Frau Pothmer, dass
es einen eingeschränkten, kleinen Personenkreis gibt, für
den Tätigkeiten wie Schneeschippen oder Straßenreinigung als Qualifizierungsmaßnahme dienen können.
({1})
Das entscheidet der Kollege Kober. Das wäre dann
aber die letzte Frage, die ich zulasse. Wie Sie wissen, haben Sie in dieser Debatte schon gesprochen.
Kollege Kober, lassen Sie noch eine Frage zu?
Ja. - Frau Pothmer, bitte.
Sie erinnern sich aber durchaus auch daran, dass Ihr
Parteivorsitzender Westerwelle vorgeschlagen hat, alle
Langzeitarbeitslosen unmittelbar zu einer Tätigkeit auf
dem sozialen Arbeitsmarkt heranzuziehen?
({0})
Frau Pothmer, daran erinnere ich mich nicht. Ich
glaube, selbst in Berlin lag nicht so viel Schnee, dass es
notwendig gewesen wäre, alle Langzeitarbeitslosen mit
Schneeschippen zu beschäftigen. - Vielen Dank.
Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, sind volkswirtschaftlich schädlich und verdecken, dass Sie Menschen Chancen auf reguläre Arbeit
im ersten Arbeitsmarkt vorenthalten. Fachleute stellen
fest, dass es fast keine Jobs für einen sozialen Arbeitsmarkt gibt, die nicht reguläre Beschäftigung verdrängen.
Straßenreinigung durch öffentlich geförderte Arbeitskräfte verdrängt andere Reinigungsunternehmen vom
Markt. Die Übernahme der Pflege von Grünflächen, die
einmal Frau Künast vorgeschlagen hat, verdrängt Gärtnereien. Diese Liste ließe sich noch länger fortführen. So
wird durch öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen letzten Endes sogar die Arbeitslosigkeit ausgeweitet.
Arbeitsgelegenheiten wie 1-Euro-Jobs sollten nach
Auffassung der FDP nur dort angeboten werden, wo sie
der Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt dienen. Sie müssen der
Qualifizierung der Betroffenen dienen. Wir müssen darauf achten, dass Menschen nicht in einen zweiten Arbeitsmarkt abgeschoben werden, sondern dass sie für
den ersten Arbeitsmarkt aktiviert und qualifiziert werden.
({0})
In unserem Konzept des liberalen Bürgergeldes, also
eines gesetzlichen Mindesteinkommens, stellen wir sicher, dass auch die Menschen im ersten Arbeitsmarkt ausreichend Einkommen zum Leben haben, deren Fähigkeiten und Begabungen vorübergehend oder auf Dauer nicht
auszureichen scheinen, um ein solches durch eigene Kraft
vollständig selbst zu erwirtschaften. Hier sind staatliche
Mittel viel sinnvoller eingesetzt als in einem sogenannten
sozialen Arbeitsmarkt oder in öffentlich geförderter Beschäftigung.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für
Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Groschek, ich muss Ihnen
schon empfehlen, einmal über unseren Antrag nachzudenken. Vielleicht kommen Sie dann doch zu dem
Schluss, dass die Hartz-Gesetzgebung menschenunwürdig ist und dass Sie da einen Fehler gemacht haben. Ich
empfehle Ihnen das auf jeden Fall.
({0})
Meine Damen und Herren, 1990 haben wir mit ABM
mit einer Bezahlung in Anlehnung an den damaligen
ÖTV-Tarifvertrag angefangen. Dann gab es einige Novellen, und mit Einführung des SGB II gab es dann noch eine
Pauschale von 900 Euro. Außerdem wurden diese unsäglichen 1-Euro-Jobs erfunden. Mit diesen 1-Euro-Jobs
sind die anderen sinnvollen Maßnahmen mehr und mehr
zurückgefahren worden. Die Rutschbahn der Löhne
wurde in Gang gesetzt. Das alles wird von der Politik bewusst nicht gestoppt, und das ist unerträglich.
({1})
Ob Menschen Arbeit haben oder nicht, ist eine zutiefst demokratische Frage. Denn es geht hier vor allem
um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Politik hat dieses Problem bisher sträflich vernachlässigt und
damit Hunderttausende Menschen ins soziale Abseits
gestellt.
Die Antwort der Bundesregierung auf das immer weiter wachsende Problem der Langzeiterwerbslosigkeit sind
bisher nur Beleidigungen von Herrn Westerwelle und
verschärfte Sanktionen für erwerbslose Menschen. Aber
wo - das frage ich Sie, meine Damen und Herren - sind
denn die Arbeitsplätze, die Sie seit 15 Jahren - egal in
welcher Koalition - den Menschen versprochen haben?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Fast 1 Million Menschen waren im März 2010 seit über einem Jahr
ohne reguläre Arbeit. Insbesondere viele Ältere haben
wenig Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Arbeitsmarkt. Daneben haben wir viele Erwerbslose, die bereits seit mehreren Jahren ohne Arbeit sind. Diese Ausgrenzung hat bei den arbeitslosen Menschen viele
körperliche und seelische Spuren hinterlassen. Hier ist
der Staat in der Pflicht, zu handeln.
({2})
Die Linke legt dafür das Konzept einer guten öffentlich geförderten Beschäftigung vor. Dieses ist Bestandteil eines Zukunftsprogramms, mit dem wir 2 Millionen
reguläre Arbeitsplätze in der Wirtschaft und im öffentlichen Bereich schaffen wollen.
Gute öffentlich geförderte Beschäftigung heißt für uns:
Wir wollen mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu Mindestlohnbedingungen oder mit tariflicher Entlohnung schaffen - und
das basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.
Die Hartz-Gesetze, die Sie hier in diesem Saal mit
Ausnahme der Linken eingeführt haben, sind zuallererst
darauf ausgerichtet, Erwerbslose zu disziplinieren. Die
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind fatal. Es gibt
einen Erdrutsch bei der Zahl der regulären sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze und einen Vormarsch
von Billigjobs. Das muss gestoppt werden!
({3})
Nun hat Frau von der Leyen unter dem schönen Titel
der „Bürgerarbeit“ eine Reform der Arbeitsmarktpolitik
und eine Vermittlungsoffensive angekündigt. Meine Damen und Herren, das ist nichts Neues. Begreifen Sie
doch endlich, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, von
denen die Menschen in Würde leben können!
({4})
Aber natürlich wird die Bundesregierung ihre Pläne
erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen öffentlich
machen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob damit
durch die Hintertür ein Arbeitszwang eingeführt werden
soll, wie das eigentlich schon verschiedene Unionspolitiker in der Vergangenheit gefordert haben. Das stößt auf
unseren entschiedenen Protest, und das werden wir nicht
hinnehmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias
Zimmer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es
scheint ja nun doch so zu sein, dass der Wahlkampf in
Nordrhein-Westfalen seine langen Schatten auch auf dieses Haus wirft. Was der Kollege Groschek als Generalsekretär der SPD in Nordrhein-Westfalen hier abgeliefert
hat - er ist in Rambo-Manier argumentativ durchgesaust -,
({0})
zeugt von einer gewissen Nervosität, und das, lieber Karl
Schiewerling, ist unter dem Strich doch eine ganz positive Botschaft.
({1})
Kritisiert wurde von Ihnen ein gewisser Mangel an
Wahrhaftigkeit. Einen solchen - das will ich der Rede
voranstellen - habe ich auch dem Antrag der Linken ein
wenig entnommen. Ich will an dieser Stelle nur zwei
Beispiele bringen:
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die falsche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser und der vergangenen Regierung habe zu der Arbeitslosigkeit beigetragen. Wahr ist: Von 2005 bis 2008 ist die
Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen auf 2,9 Millionen gesunken.
({2})
Hätten Sie das in Ihrem Leben irgendwann einmal fertiggebracht, hätte der Kölner Dom dauergeläutet.
({3})
Sie beklagen darüber hinaus, dass Stellen im öffentlichen Dienst abgebaut werden, und erwecken damit so
ein bisschen den Eindruck, als ob Sie, wenn Sie es denn
könnten, Stellen im öffentlichen Dienst schaffen würden.
Ich habe mir das einmal angeschaut. Von 2005 bis 2008
verzeichnet Berlin den höchsten Abbau von Stellen im
öffentlichen Dienst, nämlich einen Abbau um
3,8 Prozent.
({4})
In Brandenburg, Herr Kollege, wird geplant,
11 000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen.
({5})
Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei Ihnen
ein Realitätsschock eintritt. Das hat mit den Blütenträumen, die Sie hier sonst verkünden, nichts zu tun.
({6})
Eine Sache war für mich sehr überraschend, als ich
mir die Zahlen angeschaut habe. Es gab ein Bundesland,
das einen leichten Anstieg der Stellenzahl in der öffentlichen Verwaltung hatte, nämlich Bayern. Das finde ich
ganz positiv; denn die Bayern haben gesagt: Wir stellen
mehr Lehrer ein.
({7})
Das ist angesichts der Tatsache, dass wir die Bildungsrepublik ausbauen wollen, das richtige Signal.
({8})
Meine Damen und Herren von den Linken, in Ihrem
Antrag ist die Rede davon, dass 500 000 öffentlich geförderte Beschäftigungsstellen zu schaffen sind. Wie Sie
auf die Zahl gekommen sind, erschließt sich mir nicht.
Vielleicht haben Sie einfach die Zahl von den Grünen
genommen und noch 100 000 draufgelegt. Man kann ja
eine gewisse Reserve einbauen; das ist wohl nie falsch.
({9})
Es ist in Ihrem Antrag in keiner Weise begründet, wie
Sie auf die Zahl von 500 000 kommen. Diese Zahl und
das, was Sie heute Morgen hier mit Ihrem Antrag zur guten Arbeit vorgelegt haben, scheint mir auf Folgendes
hinzudeuten: Sie betrachten den Staat lediglich als eine
Art Kuh, die man sowohl melken als auch schlachten
kann.
Liebe Frau Pothmer, ich will ganz deutlich sagen: Ich
teile die Intention in Ihrem Antrag, für Langzeitarbeitslose etwas zu tun, und ich teile auch ausdrücklich Ihre
Auffassung, dass die meisten Arbeitsuchenden lieber
heute als morgen wieder eine Arbeitsstelle wollen.
({10})
Das wollen wir ermöglichen, weil auch wir der Meinung
sind, dass Missbrauch kein Volkssport ist - es geht um
eine ganz begrenzte Ausnahmesituation - und dass die
meisten Menschen arbeiten wollen, weil Arbeit eine
Form von Anerkennung mit sich bringt. Auch das wollen wir ermöglichen. Deswegen bin ich der Idee eines
öffentlich geförderten Sektors persönlich nicht abgeneigt.
({11})
Ich bin aber sehr dafür, diese Förderung an sehr enge
Kriterien zu knüpfen. Das erste Kriterium ist die Integration in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Zweiklassengesellschaft und keine Stigmatisierung von Arbeitsuchenden, sondern wir wollen, dass die Integration
in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Das ist ein Punkt,
den ich im Antrag der Linken vermisst habe. Wir wollen
keine Dauersubventionierung und Verstetigung dieser
Subventionen, sondern eine zeitliche Begrenzung. Wir
wollen außerdem eine genaue Eingrenzung der Zielgruppe. Das heißt, wir wollen mit einem öffentlich geförderten Sektor vor allen Dingen diejenigen, die mehrere Vermittlungshemmnisse aufweisen, fördern und
nicht, wie es die Linken vorsehen, den Übergang in die
Rente unterstützen.
Auch das ist sehr wichtig: Wir brauchen eine sehr
enge Betreuung. Ich will es einmal mit dem Begriff „fürsorgliche Belagerung“ umschreiben. Denn nur das führt
dazu, die Qualifikation zu verbessern und die Defizite
auszugleichen. Wir wollen eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, die unter dem Motto „Fordern und Fördern“ steht. Am Ende soll nicht der betreute, sondern der
selbstständige Mensch stehen. Wir wollen keine Verdrängungseffekte für reguläre Arbeit. Kriterium muss
die Zusätzlichkeit sein.
({12})
Wir wollen weiterhin eine sorgfältige und regional differenzierte Auswahl der Beschäftigungsfelder. Das heißt,
zusätzliche Beschäftigung müsste beispielsweise in
Frankfurt am Main anders aussehen als in MecklenburgVorpommern.
({13})
Gleichwohl muss ich sagen, dass wir an dieser Stelle
eine ganze Reihe von Instrumenten haben. Die Laufzeit
des Programms „Perspektive 50plus“ wurde gestern vom
Bundeskabinett verlängert. Alleinerziehende, die HartzIV-Leistungen bekommen, würden einen Anspruch auf
einen gesonderten Ansprechpartner erhalten. Wir wollen
- auch das ist im Koalitionsvertrag festgelegt - das Instrument der Bürgerarbeit in die Arbeitsmarktpolitik zusätzlich einführen. Mit den Modellprojekten haben wir
gute Erfahrungen gemacht. Diese Maßnahmen führen
nicht zu Mehrkosten, und Verdrängungseffekte sind vermeidbar. Wenn Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds an der Stelle zur Verfügung stehen, dann ist es
umso besser.
Meine Bitte an das Ministerium ist daher: Neben den
Maßnahmen, die bereits beschlossen sind, sollte die Idee
der Bürgerarbeit zügig angegangen werden. Noch in diesem Jahr sollte, wenn möglich, ein erster Entwurf vorgelegt werden, damit wir für die Integration der Langzeitarbeitslosen etwas tun können.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1205 und 17/1397 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP
Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität haben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eisenbahnsicherheit verbessern
- Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544,
17/1459 Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Enak Ferlemann.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Erstes möchte ich mich herzlich dafür
bedanken, dass sich die Fraktionen des Hauses so intensiv mit der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in
Deutschland und darüber hinaus beschäftigen. Ich
möchte direkt an den Anfang stellen, dass für die Bundesregierung die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland absolute Priorität hat. Daran gibt es keine Abstriche, auch wenn die Oppositionsfraktionen in ihren
Anträgen versuchen, hier und da vielleicht ein anderes
Bild aufzuzeigen. Wegen der Probleme, die zugegebenermaßen im letzten Jahr stärker als sonst bei der Fahrzeugtechnik auftraten - allerdings europaweit, nicht nur
in Deutschland -, jetzt das gesamte System Eisenbahn
schlechtzureden, geht am Sachverhalt sicherlich völlig
vorbei.
Dadurch wird das Verkehrsmittel, das mit weitem Abstand das sicherste Landverkehrsmittel ist, zu Unrecht
schlechtgemacht. Unser Land ist auf die Leistungen der
Eisenbahnunternehmen, die diese jeden Tag für Millionen Reisende und im Zusammenhang mit dem Transport
von Millionen Tonnen Güter erbringen, angewiesen. Wir
können mit Recht stolz sein auf die Qualität, mit der
diese Leistungen erbracht werden, und auf das hohe
technische Niveau, das unsere Eisenbahnunternehmen
erreicht haben und gewährleisten.
Ein technisches System wie das der Eisenbahn ist
aber nichts Statisches. Es lebt von Weiterentwicklung,
neuen Erkenntnissen und Innovationen. Deshalb sind
das technische Regelwerk und die technischen und betrieblichen Vorschriften so angelegt, dass Weiterentwicklungen berücksichtigt werden. Zurzeit sind wir in
einer Phase, in der neue Erkenntnisse zum Verhalten des
Materials - ich nenne als Beispiel das Stichwort „Radsatzwellen“ - vorliegen und entsprechende Prüfungen
erfolgen. Da dies nicht allein ein nationales Thema ist,
hat die Europäische Eisenbahnagentur von der Kommission den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Sektor,
das heißt den Eisenbahnunternehmen, der Bahnindustrie
und den nationalen Sicherheitsbehörden, diese Aspekte
aufzuarbeiten und eine gemeinsame europäische Strategie für die Fahrzeuginstandhaltung zu entwickeln.
Ich habe damit aufgezeigt, dass wir uns bei den Eisenbahnen mit der Liberalisierung des europäischen Eisenbahnverkehrsmarktes, die wir sehr begrüßen, und der
Harmonisierung der technischen Bedingungen nicht
mehr allein im nationalen Bereich, sondern vor allem europaweit bewegen. Dies gilt natürlich für die Leistungen
im Verkehrsmarkt, aber zunächst auch für die rechtlichen Grundlagen. Die Europäische Kommission hatte
im Zuge der Errichtung eines Binnenmarktes für Eisenbahnverkehrsdienste erkannt, dass ein gemeinsamer
Rahmen für die Regelung der Eisbahnsicherheit geschaffen werden muss. Dazu hat sie mit der Richtlinie 2004/
49/EG vom 29. April 2004 über die Eisenbahnsicherheit
in der Gemeinschaft europäisches Recht geschaffen. Von
besonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung des
Inhalts von Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbescheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der Aufgaben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie der
Untersuchung von Unfällen. Diese Richtlinie wurde in
Deutschland am 16. April 2007 mit der Novellierung des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie des Gesetzes
über die Eisenbahnverkehrsverwaltung in nationales
Recht umgesetzt. Diese Novelle bildet nunmehr, aufbauend auf dem im deutschen Eisenbahnrecht bewährten
System der Aufgabenabgrenzung zwischen den Eisenbahnunternehmen, den Herstellern, den Haltern und insbesondere den Aufsichtsbehörden, die Grundlage für die
Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in
Deutschland.
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich in den letzten Monaten intensiv mit der
Frage auseinandergesetzt: Ist die Sicherheit im Schienenverkehr gewährleistet, und was muss gegebenenfalls
verbessert werden? In einer intensiven Aussprache mit
der Deutschen Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt im
Dezember letzten Jahres sowie in einer Anhörung mit
Vertretern der DB AG und des Verbandes Deutscher
Verkehrsunternehmen, der Bahnindustrie, der Eisenbahnaufsicht und des Konzernbetriebsrats der DB AG
am 3. März dieses Jahres sind alle Aspekte ausführlich
erörtert worden.
Ich kann die Ergebnisse für mich so zusammenfassen:
Für die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland bestehen umfassende Regelungen in den nationalen gesetzlichen Vorschriften auf der Basis des europäischen
Rechts zur Sicherheit der Eisenbahnen in der Gemeinschaft. Die Serie von gefährlichen Ereignissen mit Radsatzwellen bei ICE-Zügen und bei Güterwagen sowie die
Probleme bei der S-Bahn in Berlin haben gezeigt, dass
die Übertragung der Aufgaben der Sicherheitsbehörde
auf das Eisenbahn-Bundesamt und auch die Einrichtung
einer Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes
der richtige und sachgerechte Weg für schnelle und effektive Reaktionen der staatlichen Aufsicht sowohl im
nationalen Bereich als auch bei der notwendigen Umsetzung auf europäischer Ebene waren. Ich darf mich an
dieser Stelle ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Behörden für die exzellente Arbeit in
den vergangenen Monaten bedanken.
({0})
Aber diese Ereignisse sowie die hierzu im Ausschuss
durchgeführte öffentliche Expertenanhörung haben einen deutlichen Handlungsbedarf im Bereich der Rechte
und Pflichten der Betriebsleiter, im Bereich der Fahrgastrechte, im Bereich der Verantwortung von Eisenbahnunternehmen und Herstellern sowie bei der Harmonisierung der Vorschriften auf europäischer Ebene
aufgezeigt. Diese Folgerungen sind im Antrag der Koalitionsfraktionen sehr zutreffend dargestellt. Ich darf mich
dafür ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedanken. Die Bundesregierung wird den ihr erteilten Auftrag
für ein Konzept zur Weiterentwicklung der Sicherheit
der Eisenbahnen in Deutschland, wenn er heute so beschlossen wird, zügig erfüllen. Ich denke, dass wir im
zweiten Halbjahr dieses Jahres das Gesetzgebungsverfahren dazu durchführen können.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Uwe
Beckmeyer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir beraten hier heute vier Anträge, die sich mit
dem Thema Bahnsicherheit beschäftigen. Sie spiegeln
ein bisschen wider, welche Diskussionen in den letzten
vier Monaten insbesondere in der Fachöffentlichkeit geführt wurden. Es gibt seit langem eine ernst zu nehmende Diskussion über die Achsproblematik bei den
verschiedenen Modellreihen des ICE und die im Winter
so anfällige Konstruktion der ICE-Fahrzeuge der zweiten und dritten Generation. Wir führen in Deutschland
eine generelle Debatte über die häufigen Zugausfälle,
die wir in den Wintermonaten erlebt haben und die sowohl die Mobilität als auch das Netz betreffen. Darüber
hinaus führen wir eine heftige Diskussion über die chaotischen Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn. All das ist
die Grundlage, auf der wir aktuell diskutieren.
Bahnchef Grube war mehrfach im Verkehrsausschuss
zu Gast. Wir haben im Verkehrsausschuss extra ein Expertengespräch zum Thema Bahnsicherheit durchgeführt. Ich denke, allein das zeigt, dass sich alle Fraktionen sehr intensiv darum gekümmert haben.
Nachdem alle Oppositionsfraktionen einen Antrag
vorgelegt hatten, haben schließlich auch Sie, meine sehr
geehrten Damen und Herren von der Koalition, sich bereit gefunden, einen Antrag vorzulegen. Respekt! In
Kenntnis der öffentlichen Debatte, der Anträge der Oppositionsfraktionen und der Forderungen in der Öffentlichkeit meldeten Sie sich Ende März zeitlich als letzte
mit Ihrem Antrag zu Wort. Ich habe den Worten des
Staatssekretärs entnommen, dass sein Haus möglicherweise Formulierungshilfen gegeben hat; allerdings halte
ich das für sehr bedenklich.
Wir hatten die Hoffnung, dass der zeitliche Verzug
nicht nur mit dem Prozess der Abstimmung in der Koalition zu tun hat, sondern auch mit der Qualität des Antrags. Doch weit gefehlt - ich will es vorsichtig formulieren -: Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist leider
der mit Abstand nicht beste. Man könnte es auch anders
sagen.
Weshalb wende ich mich besonders Ihrem Antrag zu?
Der gestrige Mehrheitsbeschluss im Ausschuss, der mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen zustande gekommen ist, hat offenbart, dass Ihr Antrag wohl auch heute
eine Mehrheit finden wird. Sie wollen ein Konzept zur
Weiterentwicklung der Gewährleistung der Sicherheit
der Eisenbahn in Deutschland. So weit, so gut. Das wollen wir hier alle. Doch was ist Ihre Top-eins-Forderung
zur Lösung der Probleme? Die Forderung nach einer
Stärkung der Verantwortung und der Rechte des Betriebsleiters von Eisenbahnverkehrsunternehmen. Alle
Achtung! Jetzt ist also die schwache Position des Betriebsleiters in den Eisenbahnverkehrsunternehmen
möglicherweise an der Sicherheitsproblematik im gesamten Schienenverkehr schuld. Dazu gibt es in der
Fachöffentlichkeit nur ungläubiges Kopfschütteln. Die
Betriebsleiter sind Angestellte der Eisenbahnverkehrsunternehmen. Sie haben auch die Wettbewerbsfähigkeit
und die wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen
im Auge zu behalten. Bei den Betriebsleitern anzusetzen, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen.
Ich vermisse Antworten und Positionen der Koalitionsfraktionen: Was sagen Sie zur Einhaltung der Wartungsintervalle und der Sicherheitsbestimmungen der
Hersteller durch die jeweiligen Nutzer? Was sagen Sie
zur Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes? Was sagen
Sie zu einer raschen Auswertung der Unfallprüfberichte
durch das EBA? Was sagen Sie zu einer ausführlichen
Unfallstatistik zur Art der Unfälle und deren Folgen?
Was sagen Sie zu einer Verpflichtung zur Schadensmeldung an den Hersteller? Was sagen Sie zur Notwendigkeit eines Datentransfers zwischen Hersteller und Nutzer
während der Betriebsphase, zum Beispiel bei Wartungsarbeiten? Was sagen Sie zu längeren Garantiezeiten ohne
Ausschlussklauseln für Teilprodukte? Was sagen Sie zu
alldem? - Nichts. Was wollen Sie politisch durchsetzen?
({0})
Beim Bundesverkehrsminister gewinnt man den Eindruck, es habe immer derjenige recht, der zuletzt bei ihm
war: Laut Welt vom 8. Februar 2010 waren noch die
Hersteller schuld an den ICE-Schäden: Sie hätten nicht
die nötige Qualität geliefert und die DB AG habe nichts
für die Probleme gekonnt. Laut Frankfurter Rundschau
vom 12. März 2010 - ein Monat später - lag der
Schwarze Peter auf einmal doch bei der DB AG, weil sie
die falschen Fahrzeuge bestellt habe.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
es ist entscheidend, dass man in dieser Frage nicht nur
Meinungen hinterherläuft, sondern sich selbst eine Meinung bildet. Der Minister erläuterte einem erstaunten
Publikum, dass er beim Besuch der Bahnindustrie etwas
dazugelernt habe, nämlich den Unterschied zwischen
„dauerfest“ und „zeitfest“. Das wiederum, meine sehr
geehrte Damen und Herren, bringt den Begriff „sattelfest“ in die Debatte.
Trotzdem gelang es nicht, die Bahnindustrie zu besänftigen. Es gebe keinen Grund für eine Änderung des
Eisenbahngesetzes, sagten Sie der Financial Times
Deutschland im April.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
diese Strategie des BMVBS ist schlicht falsch. Man
kann es nicht jedem recht machen. Allen Beteiligten das
Blaue vom Himmel zu versprechen, hilft nicht. Mal sind
Sie auf der Seite der Bahnindustrie, dann wieder auf der
Seite der DB AG. Es muss ein schlüssiges Konzept her.
Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich bitte, einfach
einmal unseren Antrag zu lesen.
Fest steht doch eines: Seit 1994 ist der Personalbestand in den DB-Instandhaltungswerken halbiert worden. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten dort
beträgt 45 Jahre. Bei der Wartung im Personenverkehrsbereich besteht eine Auslastung von 100 Prozent. Zusätzlich müssen Zeitarbeitskräfte den jeweiligen Mehrbedarf an Arbeitskräften ausgleichen.
Im Expertengespräch des Ausschusses benannte der
Vertreter des Konzernbetriebsrates einen weiteren wichtigen Punkt: die Ausdünnung der Fahrzeugflotte bei der
DB AG. Die Sicherheitsreserven im Fahrzeugbestand
sind in den vergangenen Jahren reduziert worden. Ich
glaube, darüber müssen wir gemeinsam reden. Bei Zugausfällen infolge von Wartungsarbeiten wie bei den ICEZügen fehlt ein ausreichender Ersatzbestand zur reibungslosen Fortführung des Schienenverkehrs. Das ist
auch ein wesentliches Problem. Hinzu kommt: Qualitätsstandards werden im DB-Konzern - das haben wir
gelernt - unterschiedlich gehandhabt.
Während in einzelnen Sparten - Personenfernverkehr,
Regionalverkehr - nach ISO-Standards zertifiziert und
auf einem hohen Qualitätsniveau geprüft wird, besteht in
anderen Sparten eine unzureichende Auditierung. Im
Güterverkehr besteht nach wie vor ein geringes Qualifizierungsregime. Bei der S-Bahn hat es jahrelang überhaupt nicht stattgefunden.
Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Die Sicherheit im Schienenverkehr muss oberste Priorität haben und ist ein nicht verhandelbares Gut. Wir haben in
unserem Antrag konkrete Vorschläge unterbreitet, und
wir hoffen und erwarten, dass diese auch von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung aufgenommen
und bei ihrer zukünftigen Politik berücksichtigt werden.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick
Döring das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat: Die Sicherheit im Schienenverkehr ist nicht
verhandelbar, darüber besteht Konsens bei den Beratungen im Ausschuss und auch zwischen den Fraktionen;
zumindest habe ich es so empfunden. Aber neben der
vorgetragenen Einigkeit gibt es natürlich Unterschiede
zwischen den Anträgen der Koalition und den Anträgen
der Oppositionsfraktionen. Der entscheidende Unterschied ist, dass wir zwischen dem unterscheiden können,
was Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbieten und dazu Schienenfahrzeuge verwenden, leisten
müssen, was die Unternehmen, die diese Fahrzeuge
bauen und warten, leisten müssen und was am Ende über
die Aufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt und das
Allgemeine Eisenbahngesetz in diesem Hause politisch
und gesetzgeberisch gemacht werden muss. Ich habe der
Rede von Uwe Beckmeyer aufmerksam zugehört; er
sprach als eine Mischung aus Verkehrspolitiker und Vorstand eines Eisenbahnunternehmens. Wir haben hier
aber nur die eine Rolle, nämlich die des Gesetzgebers,
deshalb wird die Koalition das regeln, was sie regeln
kann und muss. Wir werden aber keineswegs versuchen,
die Dinge zu regeln, die andere zu regeln haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({0})
In der heutigen Debatte geht es darum, dass niemand
die Augen davor verschließt, dass in einigen Teilbereichen von Verkehrsunternehmen, auch bundeseigener
Verkehrsunternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, beispielsweise bei der S-Bahn Berlin, ganz offensichtlich Führungs- und Verantwortungsversagen vorgelegen hat, dass Menschen, die die Verantwortung hatten,
die Wartung der S-Bahn in Berlin regelkonform und
nach dem Pflichtenheft des Herstellers und des Eisenbahn-Bundesamtes zu organisieren, dieser Aufgabe nicht
nachgekommen sind.
({1})
Dafür wurden sie zur Verantwortung gezogen. Natürlich
haften die Mitarbeiter und die Leitung des Unternehmens. Zu glauben, dass der Deutsche Bundestag oder gar
der Bundesverkehrsminister in der Lage sein könnte
- egal, unter welcher Regierung, zumal der Vorfall bei
der S-Bahn Berlin unter einer anderen Koalition stattgefunden hat; insofern müssten andere zur Verantwortung
gezogen werden -, jede Entscheidung eines Unternehmens per Gesetz zu regeln, ist weltfremd. Wir wissen inzwischen, dass es bei der S-Bahn Berlin ein solches Führungs- und Verantwortungsversagen gegeben hat. Das
Unternehmen trägt dafür die Verantwortung, es hat die
Konsequenzen gezogen, was bis in die Führung des Unternehmens zu spüren war. Es gab dort keine gesetzgeberischen Probleme, sondern es ist ein rein operatives Handeln in den Unternehmen gewesen. Wir sollten in diesem
Fall klar trennen, wer für was verantwortlich ist.
({2})
Zum Kern der Sache. In Teilen des Hauses wird behauptet, Versagen bei den Sicherheitsstrukturen eines Eisenbahnunternehmens sei damit zu begründen, dass dieses Unternehmen privatwirtschaftlich geführt wird.
Wenn das so ist, dann dürften Sie in kein Flugzeug einer
in Deutschland operierenden Fluggesellschaft einsteigen
- denn sie sind alle privatwirtschaftlich organisiert -,
noch dürften sie sich an vielen anderen Lebensbereichen
des öffentlichen Lebens beteiligen. Es gibt in der Sicherheitsphilosophie keinen Unterschied zwischen privaten
und staatlichen Unternehmen. Wer das behauptet, handelt fahrlässig gegenüber denjenigen, die sich täglich mit
Verkehrsmitteln privater Unternehmen fortbewegen. Es
gibt keinen Unterschied. Ganz im Gegenteil: Die Sicherheit im Luftverkehr ist nicht den Bürokraten und Politikern zu verdanken, sondern dem außerordentlich hohen
Engagement der Unternehmen, und das, obwohl sie gewinnorientiert arbeiten. Das ist nämlich kein Widerspruch. Es lohnt sich, Ihnen das in jeder Debatte erneut
beizubringen.
({3})
Kollege Uwe Beckmeyer hat gefragt, was die Koalition eigentlich will. Wir bleiben dabei: Wir wollen, dass
diejenigen, die dicht dran sind, beispielsweise die Betriebsleiter, mehr Rechte bekommen, damit sie sich im
Bereich der Sicherheitsanforderungen durchsetzen können. Wir wollen, dass das Eisenbahn-Bundesamt so stark
und selbstbewusst ist, dass es noch schneller handeln
kann. Deshalb hat es dort einen Stellenaufwuchs gegeben. Gleichzeitig wollen wir, dass im Allgemeinen Eisenbahngesetz das geregelt wird, was zu regeln ist. Im
Gesetz ist nicht zu regeln, ob die Eisenbahnunternehmen
die Hersteller in ihre Wartungsanlagen lassen. Das alles
kann man aber privatrechtlich regeln.
Wir sollten überprüfen, warum all das, was in allen
anderen Verkehrsbereichen - im Automobilbereich, im
Luftfahrtbereich und in der Seeschifffahrt - zwischen
den Herstellern, den Wartungsbetrieben und den Betreibern der Verkehrsmittel privatwirtschaftlich organisiert
wird, durch bürgerlich-rechtliche Verträge, ausgerechnet bei der Bahn nicht so stark ausgeprägt ist? Muss man
das Allgemeine Eisenbahngesetz oder andere Regelungen ändern? Diese Fragen werden wir in den nächsten
Wochen erörtern. Ich appelliere an die Verantwortung
der Bahnindustrie und der Bahnunternehmen, dass sie
ihre Regelungslücken schließen, was durch entsprechende Verträge gewährleistet werden kann. Der Staat
muss das tun, was ihm auferlegt ist. Das gilt ebenso für
die Unternehmen. Darauf legt diese Koalition großen
Wert.
Es gibt keinen Unterschied zwischen den Sicherheitswünschen der Opposition und der Koalition. Es gibt
vielleicht einen etwas anderen Weg der Umsetzung.
Aber ich bin mir sicher, dass wir am Ende die gewünschte Rechtssicherheit schaffen, dass wir starke Akteure haben und dass wir beweisen können, dass es nicht
auf die Rechtsform des Verkehrsunternehmens ankommt, ob Sicherheit herrscht, sondern dass es zu den
Grundpfeilern unserer Verkehrspolitik gehört, dass sich
jeder, der sich in der Verkehrswirtschaft engagiert, nach
den Sicherheitsvorschriften zu verhalten hat, unabhängig
davon, ob es sich um ein privates oder ein öffentliches
Unternehmen handelt.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte noch einmal betonen, dass mit der Pannenserie
bei der Berliner S-Bahn, die Ende 2008 begonnen hat,
vor unseren Augen ein beispielloser Niedergang eines
funktionierenden öffentlichen Nahverkehrssystems stattgefunden hat. Dieser Niedergang hatte zwei zentrale
Gründe: Erstens gab es eine Menge Probleme mit Rädern und Radachsen, die zu schwach und nicht ausreichend dimensioniert waren. Zweitens - das ist das Entscheidende gewesen - sind die Wartungskapazitäten, die
der Bahn zur Verfügung stehen, systematisch heruntergefahren worden. Warum? Weil die S-Bahn Berlin jährlich Zigmillionen Euro Gewinn an die Muttergesellschaft Deutsche Bahn AG abzuführen hatte.
({0})
Ich glaube, dass man an diesem Beispiel wie in einem
Brennglas sehen kann, worin zentrale Probleme der
Bahnsicherheit bestehen,
({1})
auch im Fernverkehr, bei den ICE, und im Güterverkehr.
Eines der größten und schwersten Unglücke der Eisenbahngeschichte, die Entgleisung des ICE bei Eschede
1998, hatte genau diesen Grund: Die Radachsen, die Räder waren den Belastungen nicht gewachsen.
({2})
24 Radsatzwellenbrüche und 31 Radreifen- und Radscheibenbrüche im In- und Ausland sind seit 2000 bekannt geworden. Die Konsequenz, die man aus diesen
Feststellungen bereits 2004 in einer Studie gezogen hat,
ist, dass das Material anders ausgelegt sein muss, dass
man stärkere, dauerfeste Teile braucht. Im japanischen
Fernverkehrssystem und auch beim TGV in Frankreich
wird genau diese Schlussfolgerung gezogen. Dort wird
ein stärkeres Material eingesetzt. Die Deutsche Bahn AG
wählt diesen Weg nicht.
({3})
Die Deutsche Bahn AG hat sich entschieden, die Radachsen einer engmaschigen Kontrolle zu unterziehen, sie
mit Ultraschallgeräten zu prüfen und auf feine Haarrisse
und Kerben zu untersuchen.
({4})
- Und, wenn nötig, auszutauschen. Völlig richtig.
({5})
Sie setzt aber nicht auf ein System, das garantiert, dass
diese Räder und Radachsen bis zum Lebensende eines
Zuges halten.
({6})
Sie müssen einfach stärker sein. Aber damit sind sie natürlich auch teurer, und das ist genau der Grund, warum
die Deutsche Bahn AG dieses stärkere Material nicht bestellt hat. Das hat übrigens auch Verkehrsminister
Ramsauer genau so veröffentlicht.
({7})
Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Börsenorientierung des Unternehmens dafür verantwortlich ist, dass
an dieser Stelle gespart wird.
({8})
Nun stellen wir fest, dass offensichtlich auch die
Werkstattkapazitäten nicht nur bei der S-Bahn, sondern
insgesamt so stark heruntergefahren wurden, dass sie
nicht mehr ausreichen, um das Herausfliegen einer ICETür zu verhindern. Wann hat es das in der Zuggeschichte
jemals gegeben? Das muss man sich einmal vorstellen:
Eine Schraubenmutter löst sich. Die löst sich doch nicht
einfach so, sondern sie löst sich, weil der Wagen nicht
richtig gewartet worden ist.
({9})
Da darf auf keinen Fall gespart werden. Aus unserer
Sicht ist die zentrale Forderung, dass sich die Deutsche
Bahn AG ganz klar auf einen sicheren Verkehr, auf einen
ausreichend gewarteten Fahrzeugpark orientiert und
nicht darauf, mehr Gewinn zu machen.
({10})
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Döring zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Leidig, sind Sie bereit, zuzugestehen,
dass bezüglich der Untersuchung des tragischen Unglücks mit der herausgerissenen ICE-Tür erstens die Ermittlungen des Eisenbahn-Bundesamtes andauern, zweitens in alle Richtungen ermittelt wird, auch in Richtung
Fremdeinwirkung/Sabotage? Und sind Sie bereit, zuzugestehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Erkenntnisse aus dem Eisenbahn-Bundesamt haben, wie es
zu diesem tragischen Unglück gekommen ist, bevor Sie
hier weiter verbreiten, es handele sich bei diesem Unfall
um einen Wartungsfehler?
({0})
Zumindest hat man gelesen, dass es eine lockere
Schraubenmutter war.
({0})
Ich denke, so etwas muss in einer Werkstatt festgestellt
und geklärt werden.
({1})
Ich möchte dazu, dass Sie in Ihrem Antrag fordern,
die Verantwortung und Rechte der Betriebsleiter zu stärken, feststellen, dass wir der Meinung sind, dass die Verantwortung da nicht an der richtigen Stelle abgeladen
wird. Ein Betriebsleiter, der permanent dem Renditedruck des Unternehmens ausgesetzt ist, wird in ständigem Widerstreit stehen zwischen den notwendigen umfangreichen Sicherheits- und Wartungsarbeiten und der
Vorgabe, dass die Züge schnell wieder in Betrieb kommen. Das wird übrigens auch von denjenigen, die sich da
fachlich auskennen, genauso geschildert.
Es geht darum, der Deutschen Bahn AG eine andere
Richtung zu geben. Genau darin besteht die Verantwortung der Politik. Wir wollen nicht das operative Geschäft
betreiben, sondern wir wollen eine Bürgerbahn und
keine Börsenbahn. Wir wollen, dass die Sicherheit im
Mittelpunkt steht und nicht die Gewinne. Wir wollen
nicht Arriva in Großbritannien aufkaufen, sondern wir
wollen sicher reisen und das Gefühl haben, dass wir
auch in Zukunft gern in die Bahn steigen.
({2})
Frau Kollegin, Sie müssten dringend zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. - Ein erster Schritt, um diesen
Kurs der Bahn zu ändern, wäre, den Aufsichtsrat anders
zu besetzen.
Frau Kollegin, Sie müssten schon zum Ende gekommen sein.
Warum kann man nicht vonseiten der Bundesregierung, die das alleinige Berufungsrecht hat, eine Bahnsicherheitsfachkraft in den Aufsichtsrat berufen? Das ist
unser Vorschlag.
Frau Kollegin.
Die Lieferanten von Rädern und Radachsen sollten
nicht in diesem Aufsichtsrat sitzen.
Danke.
({0})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in diesem Winter und schon davor
eine ganze Reihe von verblüffenden Ereignissen bei der
Bahn erleben dürfen: Achsen sind gebrochen, Radscheiben sind gebrochen, und Güterzüge sind entgleist. Wenn
man nach den Ursachen für all diese Ereignisse geschaut
hat, musste man feststellen: Bei der S-Bahn gab es massive Schlamperei und einen Abbau der Wartungskapazitäten, beim ICE weiß man eigentlich immer noch nicht
ganz genau, warum die Achse gebrochen ist.
Wir hatten einen wunderschönen parlamentarischen
Abend mit vielen Experten, die alle nicht wirklich darlegen konnten, warum der sogenannte dauerfeste Stahl
doch nicht dauerfest ist und ob das einfach falsch konstruiert worden ist. Wir erlebten einen wunderbaren
Streit zwischen der DB AG und der Bahnindustrie, wer
denn jetzt eigentlich schuld sei. Dies ist für Nichtfachleute kaum nachvollziehbar. Wir haben, wie gesagt, erlebt, dass Züge entgleist sind. Ich denke zum Beispiel an
das Güterzugunglück bei Fürth. Als man genauer hingeschaut hat, hat man festgestellt, dass die Schrauben, die
die Gleise befestigen sollten, lose waren, weil sie offensichtlich seit vielen Jahren nicht mehr genauer überprüft
worden sind.
Das heißt, wir können zwei Dinge beobachten: Auf
der einen Seite ist die Wartung zurückgefahren worden,
auf der anderen Seite ist der Unterhalt der Infrastruktur
zurückgefahren worden. Jetzt können wir uns lange und
ausführlich über gesetzliche Regelungen streiten. Sicher
gibt es im Detail gesetzgeberischen Nachholbedarf, aber
es ist auch schon dargelegt worden, dass selbstverständlich nicht hinter jedem einzelnen Mitarbeiter der Gesetzgeber stehen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht um
ein x-beliebiges Unternehmen. In welchem Unternehmen treten denn all diese Probleme auf? In einem Unternehmen, das sich zu 100 Prozent in öffentlichem Eigentum befindet,
({0})
in einem Unternehmen, das im Schnitt über Regionalisierungsmittel, über Zuschüsse zur Infrastruktur rund
10 Milliarden Euro Steuergelder bekommt. Jetzt ist hier
schon zu Recht gesagt worden, dass die Gewährleistung
von Sicherheit nicht unbedingt davon abhängt, ob es sich
um ein öffentliches oder privates Unternehmen handelt.
Als gutes Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften genannt worden.
Aber bei der Bahn gab es eine ganz spezielle Fehlentwicklung. Was ist in diesem Unternehmen passiert? In
diesem Unternehmen wurde und wird noch immer ein
Kurs verfolgt, der mehr oder weniger auf einen Börsengang hinausläuft. Im Zuge des Anstrebens eines Börsengangs hat man beim extrem langlebigen System Eisenbahn
etwas ganz Einfaches gemacht, um die Gewinnerwartungen zu erhöhen: Man hat schlichtweg weniger in die Infrastruktur und in die Wartung investiert. Was ist der Effekt? Man spart natürlich kurzfristig Geld, und das
Ganze schaut finanziell besser aus. Warum hat man das
derart rücksichtslos gemacht, auch ohne auf den langfristigen Wert des Unternehmens zu achten? Weil es ein
bestimmtes Datum gab, auf das man hingearbeitet hat.
({1})
Man hat darauf hingearbeitet, das Unternehmen spätestens 2008 an die Börse zu bringen. Das ist auch der Unterschied zu einem privaten, zu einem schon privatisierten Unternehmen. Diesem Ziel hat man alles andere
untergeordnet.
({2})
Man hat zum Beispiel der S-Bahn Berlin die Vorgabe
gemacht, einen bestimmten Gewinn abzuliefern: zuerst
50 Millionen Euro, dann 80 Millionen Euro und im nächsten Jahr 130 Millionen Euro. Das waren harte Vorgaben.
Wenn von unten Einspruch geäußert und gesagt wurde,
dass diese Gewinnvorgaben nicht realisierbar sind, dann
hieß es: Ihr setzt diese Gewinnvorgaben um, komme, was
da wolle. - Das ist auch an den Aussagen verschiedener
Mitarbeiter deutlich geworden. Das heißt, die Börsenorientierung hatte mit den Problemen bei der Sicherheit
durchaus zu tun. Letztendlich hat der Eigentümer versagt,
weil er nicht klargemacht hat, was er erwartet.
({3})
Was passiert im Moment? Wir sehen, dass die Entwicklung weiterhin in diese Richtung geht. 2,7 Milliarden Euro werden für den Kauf von Arriva ausgegeben.
Dieses öffentliche Unternehmen ist an 130 Standorten in
den Bereichen Luftfrachtlogistik, Straßenlogistik und
Seefrachtlogistik tätig. Dorthin verschwindet das Geld.
Dieses Geld sollte bei der Schiene reinvestiert werden.
Dann gäbe es auch nicht mehr in diesem Umfang Sicherheitsprobleme. Als Regierung, als Vertreter des Eigentümers ist es Ihre Aufgabe, dies umzusetzen.
Danke.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Ulrich Lange.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Leidig, Kollege Hofreiter, ich habe Angst.
Ich habe ganz große Angst, wenn ich morgen in einen
Zug steige, um in meinen Wahlkreis zu fahren. Wenn ich
mir die Probleme vor Augen halte, die Sie gerade aufgezählt haben, bleibe ich besser in Berlin oder suche mir
ein anderes Verkehrsmittel.
Ich glaube, es ist gut, dass wir uns über das wichtige
Thema Bahnsicherheit unterhalten. Aber die Debatte
zeigt auch, wie differenziert und unterschiedlich unsere
Ansätze in vielen Punkten sind. Die Bahn ist und bleibt
trotz alledem, was gerade beschrieben wurde, das sicherste Verkehrsmittel; das bitte ich festzuhalten. Wer
gehört hat, was Sie gesagt haben, müsste sonst nämlich
glauben, dass man in Deutschland in keinen Zug mehr
steigen kann.
({0})
- Ja, Herr Kollege Hofreiter, ich habe wirklich Angst.
Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Absolute
Sicherheit wird es in einem Unternehmen mit über
200 000 Beschäftigten und bei über 5 Millionen Passagieren pro Tag - ich brauche die ganze Liste wohl nicht
aufzuzählen - nicht geben. Dass wir uns alle um die
größtmögliche Sicherheit im Eisenbahnverkehr bemühen, dürfte unstreitig sein. Ich glaube, auf die vielen Probleme, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, ob
bei der S-Bahn Berlin oder mit ICE-Radsatzwellen,
brauche ich nicht einzugehen. Aber eines funktioniert
natürlich nicht - das haben wir auch in der Anhörung im
Ausschuss deutlich gemacht -: das Schwarzer-PeterSpiel zwischen DB AG und Bahnindustrie. Das können
wir nicht hinnehmen.
({1})
Im Übrigen ist es so, dass die Übertragung dieser Angelegenheit auf das EBA und die Einrichtung einer
Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes der
richtige Ansatz war. Das EBA hat einen guten Job gemacht. Die neue Koalition setzt auf eine komplette Neuorientierung, nicht auf Panikmache.
Kollege Beckmeyer, wenn ich Ihnen richtig zugehört
habe, haben Sie in Ihrer Rede neben der üblichen Presseschau die Ausdünnung der Flotte, der Werkstätten
usw. angesprochen. Mit dieser Bilanz des Gespanns
Mehdorn/Tiefensee haben Sie 4 000 Tage SPD-Verkehrspolitik aufgezählt. Überlegen Sie also vorher, was
Sie uns erzählen wollen! Ansonsten wird das Ganze zum
Bumerang.
({2})
Mit Peter Ramsauer, lieber Kollege Pronold, haben
wir einen ausgezeichneten neuen Verkehrsminister. Das
hat er nicht nur bei der Aschewolke bewiesen, das zeigt
er auch, wenn er die Fehlleistungen des Ministeriums
Tiefensee, insbesondere in der Bahnpolitik, korrigieren
muss.
({3})
- Natürlich.
Sie haben den Antrag der Koalitionsfraktionen sicherlich gelesen. Er ist in vielen Punkten konkreter als der
Antrag der SPD. Sie wollen eine dynamische Sicherheitsüberprüfung usw. Dazu steht aber nicht viel in Ihrem Antrag.
Frau Kollegin Leidig, Sie haben von der guten alten
Bahn geschwärmt. Natürlich; denn Sie wollen die Bahn
nicht in private Hände geben, meinen, der Staat könne
das Unternehmen besser führen. Sie haben auch von der
alten DDR-Reichsbahn geschwärmt. Ich glaube nicht,
dass ein Modell für die Zukunft ist, dass wir wieder in
solchen Zügen sitzen wollen.
({4})
Für uns steht der Neuanfang mit Dr. Grube und
Dr. Peter Ramsauer fest. Bahnpolitik wird im Verkehrsministerium gemacht und nicht wie bei Mehdorn am
Potsdamer Platz. Das ist für uns als Politiker das Entscheidende.
({5})
Der Kunde muss im Mittelpunkt stehen. Pünktlichkeit,
Sicherheit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit, das ist
das, was die Fahrgäste von der Deutschen Bahn und von
den anderen Bahnunternehmen erwarten. Ich bin mir sicher, dass wir hier auf einem guten Weg sind.
Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Die Bahn
setzt ihre Ankündigungen um, ob es um den Vorstandsposten für die Technik geht oder um die 6 Milliarden
Euro für die Nachfolger der IC- und ICE-Züge und vieles mehr. Der Dienstleistungsanspruch steht im Mittelpunkt. Die Sicherheit ist das höchste Gut. Wir alle sind
der Sicherheit verpflichtet, wissen aber: Absolute Sicherheit im Verkehr kann und wird es nie geben.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/1459.
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1162
mit dem Titel „Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/655 mit dem Titel „Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität haben“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU und FDP. Dagegen gestimmt hat die Fraktion der
SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1016 mit dem
Titel „Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen bei
Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Fraktion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/544 mit dem Titel „Eisenbahnsicherheit verbessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Die Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen angenommen, dagegen haben Bündnis 90/
Die Grünen gestimmt, und enthalten haben sich SPD
und Linke.
Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten
- Drucksachen 17/244, 17/1458 Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Dr. Daniel Volk
Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im Anschluss namentlich ab.
Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, dazu eine
halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
({1})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD stellt hier heute einen Antrag, dass die Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Schichtarbeit für alle Zeiten unangetastet bleiben soll. Man
wundert sich geradezu, dass Sie nicht beantragen, dass
wir das ins Grundgesetz hineinschreiben.
({0})
Es ist ein reines Wahlkampfmanöver der SPD. Sie
versuchen hier wider besseres Wissen, die Union als Partei hinzustellen, die die Abschaffung der Steuerfreiheit
der Zuschläge will. Nur: Die Union plant gar keine Abschaffung der Steuerfreiheit dieser Zuschläge.
({1})
Das würde im Übrigen auch unserem Ansatz widersprechen, der besagt: Wir wollen für die Menschen in
Deutschland mehr Netto vom Brutto.
({2})
Diese Debatte heute hat schlicht und ergreifend zwei
Ursachen. Die eine ist: Wir stehen kurz vor den Wahlen
in Nordrhein-Westfalen. Die andere ist: Es liegt ein Gutachten vor, in dem die Ergebnisse der Beurteilung der
Steuerfreiheit der Zuschläge schwarz auf weiß niedergelegt wurden.
Es war Ihr Finanzminister Peer Steinbrück, der im
Juli 2007 ebenjenes Gutachten in Auftrag gegeben hat.
({3})
Das Ergebnis dieses Gutachtens hinsichtlich der Steuerbefreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen
können Sie jetzt nachlesen. In diesem Gutachten, das
von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde,
steht: Durch die Steuerfreiheit wird das Gerechtigkeitsprinzip verletzt. Verteilungspolitisch werden Besserverdienende mit dieser Steuerbefreiung sogar stärker begünstigt. - Dort steht auch schwarz auf weiß: Die durch
die Steuerbefreiung der Zuschläge induzierte Anreizwirkung widerspricht dem Ziel des Schutzes der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. - So lautet
das eindeutige Ergebnis dieser Studie, die von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde.
Ich will nochmals klarstellen, damit das auch jeder
hier kapiert: Die Union und auch die christlich-liberale
Koalition insgesamt planen trotz dieses Ergebnisses
keine Streichung dieser Steuerfreiheit.
({4})
Ihrem Antrag, der hinsichtlich des Gestaltungswillens in
der Steuerpolitik ja eine Bankrotterklärung ist, werden
wir trotzdem nicht zustimmen.
({5})
Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätzlich nur vertretbar, wenn er mit einer Steuerreform kombiniert wird, und in diesem besonderen Fall müssen zusätzlich Tarifvereinbarungen hinzukommen, durch die
die Schlechterstellung zum Beispiel gerade der Krankenschwestern vermieden wird.
({6})
Wir wollen ein Einkommensteuerrecht, das Leistung
belohnt, statt sie zu bestrafen.
({7})
Ihr Antrag, den wir heute beraten, will aber eine Ausnahmevorschrift zementieren und damit eine die Arbeitnehmer begünstigende Rechtsfortbildung grundsätzlich verhindern.
Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen
und die breite Mitte der Gesellschaft entlasten will, die
in diesem Land seit Jahren die Lasten tragen muss, der
muss wie wir das Ziel haben, ein leistungsgerechtes, einfacheres und transparenteres Einkommensteuerrecht zu
gestalten.
({8})
Das bedeutet nicht zwangsläufig die Abschaffung der
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertagsund Nachtarbeit. Es ist auch in keiner Weise Bestandteil
unseres Regierungsprogramms. Das bitte ich Sie zur
Kenntnis zu nehmen.
Ich finde Ihren Antrag nicht nur unnötig, sondern
auch regelrecht anmaßend. Nicht nur, dass Sie wie immer in typischer SPD-Manier den Menschen in diesem
Land vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen
haben,
({9})
nein, jetzt versuchen Sie auch noch, zukünftigen Politikergenerationen Vorschriften zu machen.
({10})
Was ist denn, meine Damen und Herren von der SPD,
wenn in fünf, zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren eine
andere Politikergeneration der SPD eventuell auf die
Idee kommt, dass das Ergebnis der von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegebenen Studie vielleicht doch Bestandteil einer großen Steuerstrukturreform werden soll?
Was ist, wenn eine SPD-Politikergeneration genauso wie
das Gutachten eines Tages feststellt, dass die Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge eine verbesserte
Steuertransparenz und eine gleichmäßigere Einkommensteuerverteilung mit sich bringen würde? Was ist, wenn
eine zukünftige SPD-Politikergeneration wirklich eine
arbeitnehmerfreundliche Politik machen will?
({11})
Die meisten von Ihnen werden dann wahrscheinlich
nicht mehr in diesem Parlament sein. Aber Ihren Nachfolgern wird man vorwerfen müssen, dass sie umgefallen sind. Ich weiß, dass Sie das nicht stört. Aber für uns
in der Union hat das mit seriöser Politik nichts zu tun.
({12})
Deshalb werden wir Ihrem populistischen und kurzsichtigen Antrag heute nicht zustimmen.
({13})
Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Um eines klarzustellen: Die SPD steht zur Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und
Nachtarbeit. Das war, ist und bleibt auch so, um das ganz
klar zu sagen.
({0})
Das galt auch für die Zeit, als Hans Eichel Bundesfinanzminister war, und es galt für die Zeit, als Peer
Steinbrück Bundesfinanzminister war. Denn als die Wissenschaftler dieses Gutachten vorgelegt haben, hat Peer
Steinbrück über den Sprecher des Ministeriums gleich
klipp und klar erklären lassen, dass er der Letzte wäre,
der an dieser Regelung etwas ändern würde.
({1})
Auch das müssen Sie erwähnen, wenn Sie darauf verweisen, wer die Studie in Auftrag gegeben hat.
({2})
Das gehört zur Redlichkeit dazu, wenn man hier eine
Rede hält.
Was uns umtreibt und alarmiert, sind die Aussagen,
die von der FDP zu hören sind. Noch im Dezember hat
der haushaltspolitische Sprecher und Parlamentarische
Geschäftsführer der FDP, Fricke, gesagt: An dieses
Thema müssen wir ran.
({3})
Erst vor ein paar Tagen hat Herr Pinkwart in NordrheinWestfalen gesagt, dass diese Regelung auf den Prüfstand
muss.
({4})
Das können wir nicht zulassen. Deswegen wollen wir
heute Klarheit von Ihnen, wo Sie bei diesem Thema stehen. Deswegen haben wir auch eine namentliche Abstimmung beantragt.
({5})
Zur FDP muss man an dieser Stelle ganz klar sagen:
Sie kommen langsam Stück für Stück herunter, in den
Umfragewerten, aber auch in dem Größenwahn, was
Steuersenkungen anbelangt. Am Wochenende war ich
unterwegs und habe festgestellt, dass Sie langsam verhöhnt und verspottet werden. Am Nachbartisch in der
Gaststätte wurde gesagt: Kennst du eigentlich das dreistufige Steuermodell, das die FDP angestrebt hat? - Na
klar: 35 Milliarden Euro Steuersenkungen wurden vor
der Bundestagswahl versprochen. Im Koalitionsvertrag
waren es noch 24 Milliarden Euro. Jetzt sind es noch
16 Milliarden Euro.
({6})
Das ist das dreistufige Steuermodell der FDP.
({7})
Weil Ihnen langsam dämmert, dass dies alles nicht zusammenpasst, sagen Sie jetzt, wir bräuchten ein fünfstufiges Modell. Na klar, die nächste Stufe wird nach der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zünden, und die
fünfte Stufe wird dann kommen, wenn Sie sagen, Sie
hätten leider kein Geld für Steuersenkungen. So sieht
Ihre Steuerpolitik aus.
({8})
So langsam dämmert Ihnen auch, dass Sie nicht immer
noch mehr Schulden machen können. Der Kollege
Wissing hat gestern im Finanzausschuss gesagt: Die
Schuldenbremse ist ja viel härter, als wir ursprünglich
gedacht haben.
({9})
Sie merken langsam, dass das alles nicht zusammenpasst. Deshalb kommen Sie jetzt auf die Idee, das Thema
Subventionen wieder aus der Schublade zu ziehen. Dieses Thema ist schon richtig. Mir fällt auch ein Subventionstatbestand ein, bei dessen Abschaffung wir sofort
mitmachen würden, nämlich der Subventionstatbestand,
den Sie hier im Dezember eingeführt haben: die Steuervergünstigung für Hoteliers.
({10})
Ihre Steuerpolitik und Ihre Vorschläge, die Sie jetzt vor
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen präsentieren,
zielen doch auf eines ab: Dem Hotelier wird gegeben,
dem Nachtportier wird genommen. So sieht es doch de
facto aus.
({11})
Das ist die Rechnung, die Sie aufmachen, wenn Sie sagen, die Steuervergünstigungen für diejenigen, die
nachts, am Sonntag und am Feiertag arbeiten, gehörten
auf den Prüfstand.
({12})
Jetzt müssen wir noch einmal über diejenigen reden,
um die es eigentlich geht. Es geht um 20 Millionen Erwerbstätige. Fast jeder Zweite hat heutzutage in
Deutschland nachts, am Sonntag oder am Feiertag zu arbeiten. Oft sind es Leute, die einen harten Job machen,
die dafür sorgen, dass die Maschinen, die Bänder nicht
stillstehen, die in der Pflege oder im Gesundheitswesen
tätig sind, Menschen, auf die wir letztendlich nicht verzichten können. Wir sind der Meinung, dass diese außergewöhnlichen Belastungen, die die Menschen eingehen,
auch honoriert gehören. Das muss man auch ganz klar
sagen. Deswegen finde ich es schade, dass Sie davon reden, dies alles gehöre auf den Prüfstand. Sind Sie es
nicht, die immer „mehr Netto vom Brutto“ sagen?
({13})
Das passt doch überhaupt nicht zusammen.
Ich will einmal erwähnen, was dies de facto ausmacht. Wir haben es einmal ausrechnen lassen. Ein Chemikant mit zwei Kindern verliert etwa 4 800 Euro im
Jahr, wenn diese Zuschläge besteuert werden. Ein
Schichtarbeiter bei Infraserv - das haben wir von der
Gewerkschaft erfahren - verliert bis zu 4 300 Euro im
Jahr. Das darf doch wohl nicht wahr sein; das ist doch
nicht mehr Netto vom Brutto, sondern das Gegenteil.
Sie schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern auch den Unternehmen; denn es
heißt ja immer wieder, wenn diese Steuerfreiheit falle,
müsse dies von den Tarifpartnern ausgeglichen werden.
Das will ich einmal sehen, wenn Einbußen von
20 Prozent und mehr von den Tarifpartnern ausgeglichen
werden sollen. Das geht überhaupt nicht. Die Gewerkschaften sind nicht so stark, und die Unternehmen können es gar nicht finanzieren. Was heißt in diesem Zusammenhang eigentlich Arbeitgeber? Es sind ja vielfach
Arbeitgeber, die sich als öffentliche Hand zusammenfassen lassen: die Städte und Gemeinden, die Kreise, die
Sie mit Ihrer Gesetzgebung in den Ruin treiben.
({14})
Wenn Sie das jetzt auf den Prüfstand stellen wollen,
ist das in meinen Augen nichts anderes als ein Anschlag
auf die soziale Balance unserer Arbeitsgesellschaft. Deswegen verlangen wir an dieser Stelle ein klares Bekenntnis, dass Sie an der Schraube „Steuerfreiheit für Zuschläge“ nicht drehen wollen. Nicht mehr und nicht
weniger verlangen wir von Ihnen. Wir wollen hier wissen, wo Sie stehen, und deswegen wird es nachher eine
namentliche Abstimmung geben.
({15})
Wenn Sie sagen, Sie bräuchten mehr Einnahmen, um
Ihre geplanten Steuersenkungen durchführen zu können,
dann habe ich noch eine gute Idee, wie Sie zu mehr Einnahmen kommen.
({16})
Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Wenn die
dortige Landesregierung gesagt hätte: „Jawohl, wir erwerben diese Steuer-CD“, dann hätten wir entsprechend
mehr Einnahmen generieren können, und zwar durch
diejenigen, die die Steuerehrlichkeit leider mit Füßen
treten, weil sie ihre Gelder ins Ausland schieben, zum
Beispiel in die Schweiz, nach Liechtenstein oder in andere Länder. Das wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen.
({17})
Ich möchte ganz deutlich sagen: Die SPD steht zur
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Nacht- und
Feiertagsarbeit, weil die Menschen es verdient haben.
Wir wollen wissen, wo Sie stehen. Deswegen sind wir
auf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, die
nachher stattfindet, gespannt.
Herzlichen Dank.
({18})
Der Kollege Dr. Daniel Volk spricht für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Gerster, dass die SPD sich wieder
einmal zum Beschützer der Schichtarbeiter aufschwingt,
({0})
die in der elfjährigen Regierungsverantwortung der SPD
eher zu den Verlierern der Steuerpolitik gehörten,
({1})
ist schon sehr verwunderlich.
({2})
Im Jahr 2005 sind Sie mit dem Versprechen zur Bundestagswahl angetreten, die Mehrwertsteuer nicht zu erhöhen. Das war ein ganz schön gigantischer Wahlbetrug.
Sie haben es bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen
belassen, weil Ihr Finanzminister Steinbrück durch die
Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent viel besser abkassieren konnte, und zwar insbesondere bei den mittleren und unteren Einkommensschichten; denn die trifft
das am stärksten. Schon dies belegt die fehlende Glaubwürdigkeit der Sozial- und Steuerpolitik der SPD. Eine
Mehrwertsteuererhöhung ist die unsozialste Art der
Steuerpolitik, um es klar zu sagen.
({3})
Ich finde es schon sehr interessant, dass die Steuerfreiheit der Schichtzulagen durch ein Papier aus dem
SPD-geführten Finanzministerium infrage gestellt
wurde; denn es stellt sich die Frage, warum ein SPD-Minister das überhaupt begutachten lässt. Es war also ein
SPD-Finanzminister, der diese Debatte angeheizt hat.
({4})
Für uns Liberale - das möchte ich hier ganz klar sagen steht eine Änderung bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen nicht auf der Tagesordnung.
({5})
Schauen Sie einmal in unser Wahlprogramm. Schauen
Sie in unser Steuerkonzept. Nirgends ist von einer Abschaffung der Steuerfreiheit der Schichtzulagen die
Rede.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen von der SPD halten wir das, was
wir vor der Wahl gesagt haben, auch ein.
({7})
Arbeit muss sich wieder lohnen in diesem Land. Mit
diesem Versprechen sind wir im Wahlkampf 2009 angetreten. Daran werden wir uns messen lassen. Die ersten
Schritte sind getan. Für die nächsten haben wir umfangreiche Vorschläge gemacht.
Als Erstes ist unser Steuerreformkonzept zu nennen.
Wir wollen, dass sich Arbeit für alle Menschen in diesem Land wieder lohnt. Deswegen wollen wir vor allem
diejenigen entlasten, die in der Vergangenheit unter
SPD-Verantwortung in besonderem Maße und über Gebühr belastet wurden.
({8})
Dazu zählen nach unserer Ansicht insbesondere die unteren und mittleren Einkommensschichten. Nach Jahren
der Dauer- und Zusatzbelastung durch rote Regierungsbeteiligungen werden wir den Bürgern nun etwas von ihrem Geld zurückgeben. Wir Liberale wollen eben einen
anderen Weg gehen. Wir wollen Deutschland zu einem
Land des Aufstiegs machen.
({9})
Deshalb wollen wir einen fairen Steuer- und Sozialstaat.
Wir wollen solide Staatsfinanzen im Interesse nachfolgender Generationen.
({10})
Ein fairer Steuer- und Sozialstaat stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und erhöht die empfundene
Steuergerechtigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, bildet die
finanzielle Grundlage jedes staatlichen Handelns
({11})
und sollte nicht durch eine ungerechte Steuersystematik
torpediert werden.
Wenn einem Arbeitnehmer in Deutschland mit einem
monatlichen Einkommen von ungefähr 3 000 Euro von
einer Lohnerhöhung netto weniger als die Hälfte bleibt,
dann stimmt etwas mit der Steuergerechtigkeit nicht.
({12})
Genau dort werden wir ansetzen. Nachdem wir die Familien im Umfang von 4,6 Milliarden Euro entlastet haben, werden wir nun den Mittelstandsbauch abbauen.
Durch eine Umgestaltung des Steuertarifs in einen
Stufentarif kann die Ungerechtigkeit weitgehend beseitigt werden.
({13})
Mit unserem Stufentarif werden genau die Berufsgruppen entlastet, von denen Sie behaupten, sie schützen
zu wollen; in Wirklichkeit haben Sie sie aber immer
mehr belastet.
({14})
Bei unserem Stufentarif wird die halbtags tätige Krankenschwester mit 12 000 Euro Jahreseinkommen bei der
Lohnsteuer um fast 21 Prozent entlastet.
({15})
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll zulassen?
Nein. - Der verheiratete Polizist mit einem Jahreseinkommen von 30 000 Euro wird bei unserem Stufentarif
um mehr als 11 Prozent entlastet. Er wird nur noch
209 Euro im Monat an Steuern zahlen.
({0})
Sie hingegen haben gerade diese Berufsgruppen in den
letzten Jahren regelmäßig zur Kasse gebeten.
({1})
Es ist schon verwunderlich, dass dieser Antrag ausgerechnet von der SPD kommt, hat doch vor allem Ihre
Partei so viel an Glaubwürdigkeit verspielt, und das
nicht erst seit Wochen, sondern seit Jahren.
({2})
Sie haben vor Wahlen oft viel versprochen und hinterher
wenig davon gehalten. Auch Sie wollten einmal den
Mittelstandsbauch abschaffen. Auch Sie wollten einmal
die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Auch Sie wollten einmal das Gesundheitssystem reformieren. Auch Sie woll3568
ten einmal gerechte Steuern. Aber nichts davon haben
Sie umgesetzt, da Ihre Wahlversprechen eben nur eine
sehr geringe Halbwertszeit haben. Das ist eine unehrliche und unglaubwürdige Politik.
({3})
Allein aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag
die Zustimmung verweigern.
({4})
Es kann sowieso niemand erahnen, wann Sie Ihre Meinung wieder ändern. Die christlich-liberale Koalition
hingegen handelt. Mit unserer Politik sorgen wir für Verbesserungen in Deutschland, und zwar für alle Menschen.
Vielen Dank.
({5})
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Gutting hat hier eine völlig neue Weisheit verkündet: Das Steuersystem soll Leistung belohnen. - Ihr Steuersystem belohnt den Besitz hoher Vermögen und die Bezieher hoher und höchster
Einkommen. Das ist die Realität; das ist Ihr Leistungsbegriff.
({0})
Ich sage Ihnen - ich glaube, so steht es in jedem Ökonomielehrbuch -: Steuern dienen in erster Linie dazu, das
Gemeinwesen zu finanzieren. Steuern sollen nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Genau deshalb ist die Steuerfreiheit von Sonntags-, Nachtund Feiertagszuschlägen gerechtfertigt.
({1})
Ob unsere gesundheitliche Versorgung sichergestellt ist,
ob wir die Zeitung bekommen, weil Drucker nachts arbeiten, ob Busfahrer und Straßenbahnfahrer nachts tätig
sind - das alles ist von großer Bedeutung für unser Gemeinwesen; dies gewährleistet sein Funktionieren. Angesichts des zusätzlichen Aufwands, den Menschen in
Kauf nehmen, wenn sie zu ungewöhnlichen Arbeitszeiten tätig sind, ist es gerechtfertigt, dass ein Teil ihres
Einkommens von der Steuer befreit wird. Deshalb unterstützen wir den Antrag der SPD.
({2})
Ich sage Ihnen hier noch einmal: Der Skandal in diesem Lande ist, dass viele Menschen von der Steuerbefreiung oft nichts haben, weil Arbeitsverträge vielfach
nicht mehr tariflich gebunden sind, weil Verkäuferinnen
oftmals abends arbeiten müssen. Manche kommen erst
um 23 Uhr aus dem Geschäft, ohne für ihre Nachtarbeit
Zuschläge zu bekommen. Wir fordern von Ihnen, sich
diesem Problem endlich zu stellen und den Mindestlohn
gesetzlich zu verankern. Eine solche Vereinbarung sucht
man in Ihrem Koalitionsvertrag aber leider vergebens.
Zum FDP-Steuerkonzept. Herr Volk, was steht wirklich in Ihrem Papier? Sie haben geschrieben, dass alle
Ausnahmen von der Einkommensteuerpflicht zur Disposition gestellt werden sollen. Natürlich ist die Steuerfreiheit von Zuschlägen eine Ausnahme. Also stellen Sie sie
zur Disposition. Sagen Sie doch bitte wenigstens hier die
Wahrheit!
({3})
Einmal ganz nebenbei gesagt: Sie laufen immer
durchs Land und sagen, die Sozialabgaben seien zu
hoch. Wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge abschaffen, dann ist natürlich auch dieser Teil des Einkommens sozialversicherungspflichtig. Damit würden sich
auch für die Unternehmen die Sozialenabgaben erhöhen.
Irgendwie wissen Sie auch nicht, was Sie wollen.
({4})
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Gerade für Krankenschwestern - das gilt auch für viele andere Berufe, in
denen wenig gezahlt wird - ist die Steuerfreiheit für
Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge wichtig für
die Aufbesserung ihres Einkommens. Wir wissen, dass
gerade deshalb viele in diesen Bereichen arbeiten - so
sie einen Arbeitsplatz bekommen -, weil sie sich dann
darüber freuen können, dadurch wenigstens ein kleines
bisschen mehr zu verdienen.
({5})
Wir sagen Ihnen: Die derzeitige Regelung ist richtig, sie
ist wichtig und gesellschaftlich gerechtfertigt. Wenn Sie
Subventionen streichen wollen, dann fangen Sie bei Ihrem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Hotelübernachtungen an, der in einer völlig sinnlosen Form verankert wurde.
Noch ein Letztes, Herr Volk, da Sie meine Zwischenfrage vorhin nicht zugelassen haben. Sie haben hier wieder die Unwahrheit gesagt. Sie haben nur den von Ihnen
vorgeschlagenen Stufentarif berücksichtigt. Nach Ihrem
Gesamtkonzept - falls es jemals Wirklichkeit werden
wird - müssten insbesondere die Bezieherinnen und Bezieher niedriger Einkommen - um bei Ihrem Beispiel der
Krankenschwester mit einem Einkommen von 12 000
Euro zu bleiben, das Sie hier angeführt haben - durch
die Streichung der steuerlichen Regelung des Arbeitnehmerpauschbetrages mehr Steuern zahlen als jetzt. Dabei
habe ich noch nicht mal eingerechnet, dass Sie am liebsten auch noch die Zuschläge nicht mehr steuerfrei stellen
wollen.
Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Sorgen Sie dafür,
dass die Leistung aller, die in unserem Land arbeiten,
auch ordentlich bezahlt wird, sodass sie dann auch Steuern zahlen können, und lassen Sie die Finger von der
Steuerfreiheit der Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge.
Vielen Dank.
({6})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist ein interessanter Vorwurf vonseiten der FDP, dass
das Wahlkampf sei, wenn man wissen möchte, was Sie
vorhaben. Ist es denn nicht Wahlkampf, wenn wir auf
jede Frage zu den Finanzierungsmöglichkeiten - wir hatten das ja gestern in der Aktuellen Stunde - ausweichende Antworten bekommen? Wir wissen, dass im Finanzministerium schon vorbereitet wird, was nach der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen alles kommen
soll, aber man traut es sich natürlich nicht aufzuschreiben.
({0})
Ist das kein Wahlkampf? - Ich glaube, sauber ist es, vor
der Wahl zu sagen, was geplant ist, und nicht erst hinterher die Katze aus dem Sack zu lassen. Das ist es aber,
was Sie vorhaben.
({1})
- Ja, ich erinnere mich sehr gut an die Podiumsdiskussionen im Bundestagswahlkampf, wo von der FDP auf jedem Podium gesagt wurde: Diese 35 Milliarden Euro
kommen. Das können wir uns leisten. Wir haben gar
kein Haushaltsloch. Das wird alles kommen. - Inzwischen sind Sie bei der Hälfte des Betrages angelangt.
Warum sind Sie da? - Weil es schon damals falsch war,
was Sie im Wahlkampf gesagt haben. Das passiert jetzt
wieder.
({2})
Die lustige Erfahrung, die wir mit Ihnen machen, ist
- deswegen haben wir genau bei diesem Thema ganz
große Befürchtungen -: Sie ziehen die Themen Vereinfachung und Bürokratieabbau immer dann aus der Tasche,
wenn es gerade in Ihr Konzept passt - und das ist das
Konzept der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft.
({3})
Wir haben doch gehört, wie wichtig Ihnen die Vereinfachung und der Bürokratieabbau waren, als es darum
ging, ob wir eine zusätzliche Ausnahme bei der Umsatzsteuer einführen. Was zählte da der Bürokratieabbau? Gar nichts zählte er, weil es Ihre Klientel betraf. Wir haben ganz großes Misstrauen - nicht nur wir, sondern
auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land - gegenüber einer Partei, die immer am falschen Ende die
Systematik entdeckt.
({4})
Denken wir einmal zurück! Wir wissen sehr gut, wie
eine schwarz-gelbe Regierung mit großen Löchern umgeht. In der Frage „Wie finanzieren wir die Wiedervereinigung?“ hat Schwarz-Gelb durch eine hohe Verschuldung die Zukunft und durch die Anhebung der
Sozialversicherungsbeiträge die Masse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer belastet - mit hoher Arbeitslosigkeit als Folge.
({5})
Ich befürchte, Sie werden genau das wiederholen, und
das lassen wir nicht zu.
({6})
Wir haben heute genau gehört, dass man sich im Endeffekt nicht festlegen will. Wo immer es um die Frage
geht „Wie finanziert man das?“, weichen Sie aus. Die
Debatte gestern zur Finanzierung der FDP-Vorschläge
war doch bezeichnend. Wo waren denn die Antworten?
Sie haben verschiedene Vorschläge gemacht. Sie wollen
mit der Kopfpauschale eine Entsolidarisierung im Gesundheitssystem. Die Solidarität soll ins Steuersystem.
Da kommt sie aber nie an. Das machen wir nicht mit. Sie
sagen nicht, was der Ersatz für die Gewerbesteuer sein
soll.
({7})
Wenn man unter all Ihre Vorschläge einen Strich macht,
stellt man fest: Da ist ein ganz großes Loch; es fehlen
über 80 Milliarden Euro. Wir haben die große Befürchtung, dass in dieses Loch von 80 Milliarden Euro die
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertagsund Nachtarbeit - 2 Milliarden Euro - gehen soll; das
werden Sie brauchen, wenn Sie nachher den Strich darunter machen. Sie werden damit die Entsolidarisierung
weiterführen. Es wird wieder so sein, wie wir es von Ihnen kennen: Entlastung oben, Belastung unten. Das werden wir nicht zulassen. Deswegen können wir dem Antrag der SPD heute nur zustimmen.
({8})
Der Kollege Peter Aumer spricht für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“ - ein Antrag, der
durchaus seine Berechtigung hätte, wenn jemand aktuell
daran denken würde, diese Steuerfreiheit abzuschaffen.
({0})
Was Sie hier zum Thema machen, Herr Pronold, ist in
der christlich-liberalen Koalition kein Thema.
({1})
Anträge wie dieser aus rein politischem Aktionismus heraus sind nicht zielführend. Im Gegenteil: Sie schaden in
einer ausgewogenen Debatte über eine zukunftsgerichtete und nachhaltige Politik.
Im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition
steht ein klares Bekenntnis zu einer soliden und zielgerichteten Haushalts- und Finanzpolitik, eine klare Ausrichtung also auf Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Grundgesetzlicher Handlungsrahmen hierfür
ist die Schuldenbremse. Sie wird bis 2016 und darüber hinaus große Anstrengungen von uns allen verlangen.
Diese Anstrengungen sind wichtig, um unserem Staat und
den nachfolgenden Generationen neue Perspektiven und
Spielräume zu geben. Vor diesem Hintergrund wirkt Ihr
Antrag, meine Damen und Herren der SPD, wie eine reine
Schauveranstaltung, wie Populismus pur.
({2})
Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Augenscheinlich wollen Sie die Bösen von CDU/CSU und
FDP in die unsoziale Ecke stellen
({3})
- genau, ja ({4})
und die SPD als die großen Retter - von was auch immer herausstellen. Welch kurzfristig gedachte Oppositionspolitik! Ja, in die Opposition gehören Sie, meine Damen
und Herren!
({5})
In Ihrer Antragsbegründung wird vor allem deutlich,
dass Sie die bisherigen Maßnahmen der christlich-liberalen Koalition nicht verstehen und nicht verstehen wollen.
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das zum
1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurden Familien, Unternehmen und Erben entlastet.
({6})
Gerade das waren auch die Ziele dieses ersten Maßnahmenpakets der Bundesregierung. Diese Ziele in die Tat
umzusetzen, ist auch aller Anstrengungen wert, Herr
Schick, denn die Familien sind die Keimzellen unserer
Gesellschaft; man muss immer das Ganze sehen, Herr
Dr. Schick.
({7})
Die Unternehmen sind mit ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für den Erfolg unseres Landes und für das
erfolgreiche Schultern dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation gemeinsam verantwortlich.
Es wird auch weiter steuerliche Entlastungen geben,
insbesondere für die unteren und mittleren Einkommensbereiche sowie für Familien mit Kindern. Die Steuerschätzung im Mai wird zeigen, welche Potenziale möglich sind. Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachung
des Steuerrechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt,
und dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und FDP.
({8})
Gerade in Zeiten knapper Staatskassen ist es grundsätzlich richtig, über Subventionen zu diskutieren und
diese zu überprüfen. Wie vorhin schon gehört, war es
doch der Bundesfinanzminister der SPD, Herr Steinbrück,
der in einer Untersuchung die größten Subventionstatbestände im Steuerrecht hinterfragen ließ. Die Ergebnisse,
meine Damen und Herren von der Opposition, müssten
Sie eigentlich kennen, zumal dann, wenn man Mitglied
des Finanzausschusses ist.
Das deutsche Steuerrecht muss sich für den Erhalt
von Arbeitsplätzen im internationalen Standortwettbewerb um Investitionen behaupten, muss den sozialen
Ausgleich sicherstellen und vor allem von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern als gerecht empfunden
werden.
({9})
Beispiele hierfür sind der Sparerfreibetrag, die RiesterFörderung und eben auch die Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.
Diese wird von der Bevölkerung anerkannt und geschätzt. Das wird auch durch die Politik der christlich-liberalen Koalition gewürdigt werden. Gerade deshalb
steht die Aufhebung der Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit überhaupt
nicht zur Diskussion. Eine Abschaffung ist mit uns nicht
zu machen.
({10})
Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen; denn unantastbar sollte in Deutschland nur eines sein: die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1458, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/244 abzulehnen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Ver-
langen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? - Das scheint mir
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt unsere Beratungen fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung des Finanzplanungsrates
- Drucksache 17/983 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({0})
- Drucksache 17/1465 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({1})
Dr. Gesine Lötzsch
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Es soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
({2})
- Das ist ein wirklich interessantes Thema. Denjenigen,
die die Debatte miterleben möchten, empfehle ich, dies
im Sitzen zu tun. Denjenigen, die sich aktuell für andere
Dinge interessieren, empfehle ich, den Saal zu verlassen.
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Mühe, für
eine interessierte Zuhörerschaft zu sorgen. Dass Sie das
1) Ergebnis Seite 3572 D
Gesetz zur Übertragung von Aufgaben auf den Stabilitätsrat interessant finden, freut mich.
({0})
Ich werde in meiner Rede versuchen, Ihnen die interessanten Teile davon nahezubringen.
Die Debatte im Vorfeld hat gezeigt, dass das, was
jetzt ansteht, die Folge von dem ist, was wir vor ungefähr einem Jahr beschlossen haben. Im Mai 2009 haben
wir nämlich im Bundestag die Föderalismuskommission
abgeschlossen, indem wir die Schuldenbremse in der
Verfassung verankert haben. Wer sich vor kurzem die
Reden zum Haushalt, aber auch die Reden am heutigen
Tag angehört hat, der weiß, dass das Wort „Schuldenbremse“ in annähernd jeder zweiten Rede vorgekommen
ist.
Nicht nur zwei Drittel des Deutschen Bundestags,
auch zwei Drittel des Bundesrates und mittlerweile fast
zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger halten die
Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtigkeit angesichts der Schulden, die wir anhäufen, für das
wichtigste Thema dieser Legislaturperiode.
({1})
In einer Umfrage sagen 62 Prozent der Bürger, ihre
größte Angst sei nicht der Verlust des eigenen Arbeitsplatzes oder das Entstehen von Umweltschäden.
62 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten große bzw.
sehr große Angst vor den Folgen der nicht nur im Bund,
sondern auch in den Ländern und Kommunen angehäuften Schuldenlast. Wir hatten in der Vergangenheit ausreichend Gelegenheit, über die Situation der Kommunen zu
reden.
Die Schuldenbremse ist bei der Haushaltskonsolidierung eigentlich das letzte Instrument. Das Verschuldungsproblem entsteht nicht erst mit Überschreiten der
Schuldenbremse, sondern ist bereits im Vorhinein absehbar. Das hat sich durch die Wirtschaftskrise nicht geändert: Sie hat die Verschuldungssituation verschärft, aber
nicht begründet.
({2})
Schon in der Vergangenheit wurden die Haushalte
überwacht. Es gab einen Finanzplanungsrat, der eigentlich langfristig Konzepte der Haushaltskonsolidierung
erstellen sollte. Der Finanzplanungsrat gab Empfehlungen für eine Koordinierung der Finanzplanungen des
Bundes, der Länder und der Gemeinden, insbesondere
für eine gemeinsame Ausgaben- und Defizitpolitik. Er
erörterte die Vereinbarkeit der Haushalte von Bund und
Ländern mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt.
Heute lösen wir den Finanzplanungsrat auf und übertragen Teile seiner Aufgaben auf den neuen Stabilitäts3572
rat. Das Wort an sich zeigt schon, dass der Stabilitätsrat
weitaus mehr Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten als der Finanzplanungsrat haben wird. Das Wort
„Finanzplanung“ sagt noch nichts über eine Konsolidierung aus. Das Wort „Stabilität“ hingegen bezeichnet die
Fähigkeit eines Systems, sich wiederherzustellen, nach
einer Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren.
Wir brauchen nicht nur eine Finanzplanung, sondern
wir brauchen auch Stabilität. Deswegen ist die Entscheidung richtig, dem Stabilitätsrat die Aufgabe der Überwachung zu übertragen; sie ist von den Sachverständigen in
der Anhörung einstimmig als guter Schritt in die richtige
Richtung bezeichnet worden.
({3})
- Genau das werden wir tun, Herr Kollege. Der Stabilitätsrat wird nämlich jährlich über die Haushaltslage des
Bundes und der einzelnen Länder beraten. Selbstverständlich hat er das Recht, darauf hinzuweisen, wenn der
Haushalt einen Stand erreicht, der weit vor Greifen der
Schuldenbremse eine Notlage signalisiert.
({4})
Der Stabilitätsrat entwickelt mit der entsprechenden
Gebietskörperschaft, bei der eine Haushaltsnotlage festgestellt wird, ein Sanierungsprogramm, wobei der Bund
oder das Land das Verfahren in eigener Verantwortung,
aber unter Beobachtung des Stabilitätsrates durchführt.
Sind die Sanierungsanstrengungen unzureichend, kann
der Stabilitätsrat zu einer verstärkten Haushaltssanierung
auffordern.
({5})
Dabei hilft es, dass es Kennziffern geben wird, die die
Haushaltsdaten vergleichbar machen. Das ist heute nicht
so: Wir können die Schuldenstandsquote, die Zinsquote
und die Schulden gar nicht von Land zu Land oder zwischen Bund und Ländern vergleichen, weil es unterschiedliche Kennziffern gibt, je nachdem, ob die Buchführung doppisch oder kameralistisch durchgeführt
wird. Das zu ändern, ist die erste Aufgabe des Stabilitätsrates.
Wir haben den Stabilitätsrat im Vergleich zum Finanzplanungsrat gestärkt, indem wir das Einstimmigkeitsprinzip aufgegeben haben. Der Finanzplanungsrat
konnte nur einstimmig Beschlüsse fassen; der Stabilitätsrat kann dies mit einer Zweidrittelmehrheit. Das gilt
für Beschlüsse gegen ein Land, aber auch umgekehrt:
Zwei Drittel der Länder können den Bund ermahnen und
ihn auffordern, seine Haushaltskonsolidierung stärker
voranzutreiben. Das ist ein erheblicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Regelung beim Finanzplanungsrat.
Hinzu kommt, dass die Berichte veröffentlicht werden. Die aktuelle Situation in Griechenland, aber auch
die Reaktionen auf den ersten blauen Brief der Europäischen Union an Deutschland haben gezeigt, dass gerade
die öffentliche Debatte dazu beiträgt, dass man bei der
Konsolidierung der Haushalte nicht nachlässt; Bürgerinnen und Bürger kommen ihrer Kontrollpflicht, ihrem
Kontrollrecht sehr wohl nach und üben hinsichtlich der
Konsolidierung Druck auf die Politiker aus.
Wir sind damit nicht am Ende. Ich gebe zu: Wir haben
im Stabilitätsratsgesetz noch keine Maßnahme dazu beschlossen, was passieren soll, wenn sich ein Land oder
der Bund längerfristig gegen Sanierungsmaßnahmen
stellt oder in seinen eigenen Sanierungsbemühungen
nachlässt. Es gibt also keine Sanktionen. Ich bin aber optimistisch, dass wir in diesem Augenblick gar keine
Sanktionen brauchen; denn die Debatten in diesem
Haus, aber auch im Bundesrat und in den Kommunen
zeigen, dass der Ernst der Situation eindeutig angekommen ist, sowohl bei Politikerinnen und Politikern
({6})
- auch bei der FDP, lieber Kollege; da bin ich ganz sicher ({7})
als auch bei den Bürgern. Ich bin sicher, dass wir die
Konsolidierung gemeinsam fortführen werden. Ich
glaube deshalb, dass wir zurzeit auf Sanktionierungsmechanismen verzichten können; vielleicht müssen wir irgendwann darauf zurückkommen.
Im Moment bin ich froh, dass sich der Stabilitätsrat
nächste Woche konstituiert und dann seine Aufgaben
wahrnimmt. Ich wünsche allen Beteiligten in diesem
neuen Gremium alles Gute und möglichst wenige Sanierungsfälle. Ich bin sicher, dass der Rat einen wesentlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 10 zurück und
gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses bekannt. Es ging um die Steuerfreiheit der
Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit,
Drucksachen 17/244 und 17/1458. Abgegeben wurden
570 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 308 Kolleginnen
und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 262 Kolleginnen und Kollegen, Enthaltungen gab es nicht. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec
Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 570;
davon
ja: 308
nein: 262
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen
({1})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
({5})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
kardt
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
({8})
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({9})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({10})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({11})
Nadine Müller ({12})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({18})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Johannes Singhammer
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({19})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({20})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({21})
Peter Weiß ({22})
Sabine Weiss ({23})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({24})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Sylvia Canel
Helga Daub
Dr. Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec
Miriam Gruß
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({25})
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({26})
Michael Link ({27})
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({28})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({29})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
({30})
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({31})
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
kardt
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Lothar Binding ({32})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann
({33})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({34})
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({35})
Hubertus Heil ({36})
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({37})
Frank Hofmann ({38})
Christel Humme
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({40})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({41})
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({42})
Michael Roth ({43})
Marlene Rupprecht
({44})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({45})
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
({46})
Werner Schieder ({47})
Ulla Schmidt ({48})
Silvia Schmidt ({49})
Carsten Schneider ({50})
Olaf Scholz
Swen Schulz ({51})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff
({52})
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Konstantin Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Jan Korte
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({53})
Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Ec
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({54})
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
kardt
Priska Hinz ({55})
Ulrike Höfken
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({56})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({57})
Ingrid Nestle
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Elisabeth Paus
Tabea Rößner
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Ich gebe jetzt dem Kollegen Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion das Wort.
({58})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, die Frage des Finanzplanungsrates ist unstrittig. Dem ursprünglichen
Gesetzentwurf hätten wir auch zugestimmt. Nicht unstrittig ist allerdings eine maßgebliche Veränderung des
Gesetzes, die Sie am gestrigen Tag im Haushaltsausschuss vorgenommen haben. Sie haben nämlich dieses
Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates genutzt,
({0})
um eine maßgebliche Änderung am Konjunkturprogramm vorzunehmen. Sie haben es missbraucht. Das haben Sie entgegen allen Empfehlungen getan, die sowohl
der Präsident des Bundesrechnungshofes als auch der
Bauindustrieverband, Sie selbst und die Bundesregierung, vertreten durch das Bundesfinanzministerium, gegeben haben.
Worum geht es? Im Konjunkturprogramm war festgelegt: 10 Milliarden Euro an Investitionen gehen an die
Gemeinden. Sie müssen diese Mittel aber kofinanzieren,
sodass wir auf 13 Milliarden Euro kommen. Da geht es
nun um einen Effekt der Zusätzlichkeit. Das war Bedingung. Diese Bedingung haben wir im Haushaltsausschuss des Bundestages vor ungefähr einem Jahr eingefügt. Heute geschieht Folgendes: Genau diese
Bedingung, die wir mit vier Fraktionen - die Linke hat
nicht zugestimmt - eingefügt haben, streichen Sie nach
dem Willen und auf Druck des Bundesrates wieder. Warum?
({1})
Zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz, wie Sie Ihr
Klientelbegünstigungsgesetz genannt haben, gab es formelle Zusagen der Bundeskanzlerin, dass Sie dies für die
Länder ändern werden, damit sie diesem unsinnigen Gesetz zustimmen, das zu mehr Steuerunsicherheit und
Steuerausfällen geführt hat. Meine Damen und Herren,
das war eine Erpressung, der Sie nachgegeben haben.
Das ist eine Kastration des Bundestages, und es ist finanzwirtschaftlich ein Desaster.
({2})
Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Frau Kollegin
Tillmann, ich habe gerade eine Pressemitteilung vom
24. Februar 2010 herausgeholt, die vom Tenor her richtig ist. Unter der Überschrift „Zusätzlichkeitskriterium
ist verantwortungsvoll!“ schreiben Sie - ich zitiere, weil
das alles stimmt, was Sie schreiben -:
Die neue Initiative der Länder im Bundesrat, Investitionen in Kommunen auch dann aus dem Konjunkturprogramm zu fördern, wenn sie nicht zusätzlich sind, hat die Bundesregierung in ihrer heutigen
Kabinettssitzung zu Recht zurückgewiesen.
({3})
Nur zusätzliche Investitionen erfüllen den Sinn und
Zweck des Konjunkturprogramms, neue Aufträge
zu generieren und dadurch die krisenbedingte
Nachfragelücke zumindest teilweise zu schließen.
Auch das ist richtig.
({4})
„Die Streichung des Zusätzlichkeitskriteriums
würde zu einer Ungleichbehandlung führen. Kommunen, die ihre Maßnahmen bereits durchfinanziert
haben, wären gegenüber Kommunen, die sich mehr
Zeit gelassen haben, benachteiligt“, so Tillmann.
Es tut mir leid, Sie haben damit vollkommen recht; nur
machen Sie mit diesem Gesetz, zu dem Sie jetzt eben
kein Wort gesagt haben, genau das Gegenteil. Ich finde,
dafür sind Sie der deutschen Öffentlichkeit eine Erklärung schuldig.
({5})
Carsten Schneider ({6})
Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das peinlich ist.
Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde das nicht
machen wollen. Ich hätte das auch nicht gemacht. Ich
hätte so etwas auch nicht zugesagt. Ich hätte auch das
erste Gesetz, mit dem das in Verbindung steht, nicht gemacht. Aber es zieht sich wie ein roter Faden durch die
Finanzpolitik dieser Regierung, dass Sie kein Konzept
haben, dass wirtschaftliche Effekte, die zu einer Stärkung von wirtschaftlicher Tätigkeit führen, im Hintergrund stehen. Im Gegenteil: Sie betreiben Klientelbegünstigung. Das, was an guten Maßnahmen noch da war
- wir laufen jetzt sogar Gefahr, dass diese Hilfen, die wir
gegeben haben, verfassungswidrig sind -, konterkarieren
Sie. Ich finde, es ist eine bittere Stunde für den Bundestag, eine bittere Stunde für den Haushaltsausschuss. Ich
kann nur hoffen, dass das in dieser Tendenz mit Ihnen
nicht so weitergeht. Aber meine Hoffnung wird wahrscheinlich trügen.
Vielen Dank.
({7})
Otto Fricke hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Kollege Schneider,
Ihr Beitrag war wunderbar. Als Lateiner kann ich nur sagen: Spes saepe fallit, aber nicht immer. Was Sie sagen,
ist gar nicht so falsch. Aber wenn Sie schon analysieren,
wie es zu der Situation gekommen ist, dann wollen wir
doch einmal festhalten, dass es auch im Rahmen der
Föderalismuskommission II nicht gelungen ist, die Frage
zu beantworten, wer für welche Steuereinnahmen zuständig ist und wer im Windschatten bei welchen Steuereinnahmen wie vorgeht.
({0})
Sie haben recht - ich bestätige das ausdrücklich -: Es
gab eine Absprache mit dem Bundesrat. Nun können Sie
fragen: Wie kann man so etwas nur machen? Darauf antworte ich: Eine Absprache, die dafür gesorgt hat, dass
wir eine Kindergelderhöhung bekommen, ist mir manches wert, bei dem ich in den sauren Apfel beißen muss.
Sie sagen, dass es Ihnen das nicht wert ist. Das halte ich
schlichtweg für falsch.
({1})
Grundsätzlich ist die Notwendigkeit dieses Gesetzes,
was den ursprünglichen Titel angeht, unbestritten. Die
Abschaffung ist richtig. Die ungeklärte Frage, Frau Kollegin Tillmann, ob das mit der Schuldenregelung funktioniert oder nicht, hängt von allen verantwortlichen
Politikern ab,
({2})
nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und
Kommunen. Es wird aber auch davon abhängen - das
möchte ich den Bürgern sagen -, ob wir eine Gesellschaft
haben, die es nicht nur akzeptiert, dass gespart werden
soll, sondern die ebenso akzeptiert, dass - entsprechend
der jeweiligen Leistungsfähigkeit - auch in Bereichen
gespart wird, die einen selber betreffen. Jede Regierung
und jede Fraktion will sparen. Wenn es aber konkret
wird - seien wir ehrlich -, sieht es anders aus.
({3})
Ich finde die Reaktionen schon interessant: Die SPD
ist seit einiger Zeit nicht mehr in Regierungsverantwortung. Die Grünen waren sieben Jahre lang an der Regierung beteiligt. Auch Sie haben Schulden gemacht.
({4})
Seien Sie wenigstens so ehrlich und erkennen Sie das
Kernproblem der Verschuldung an!
Zum Verhalten der Länder. Die Länder müssen - ich
finde es gut und ehrenwert, dass fünf Vertreter der Länder hier sind - für ihren Teil kämpfen. Mir wäre es lieber, die Länder hätten eigene Steuerrechte und würden
sagen: Bürger, weil wir diese oder jene Ausgaben für
richtig halten, wollen wir von euch die entsprechenden
Steuern. - Diejenigen, die besser sparen, werden bei den
Bürgern anders ankommen als diejenigen, die schlechter
sparen. Das gilt ebenso für den Bund. Sie werden sehen,
dass das Sparen irgendwann belohnt wird.
Die FDP kann sich etwas klarer positionieren als die
CDU/CSU, die dieses Konjunkturpaket in der Großen
Koalition beschlossen hat. Wir haben es abgelehnt. Dieses Konjunkturpaket ist der falsche Ansatz gewesen. Das
zeigt sich jetzt deutlich.
({5})
Wenn wir uns genauer anschauen, was passiert, stellen
wir fest, dass in dem Jahr, in dem die Wirtschaft wieder
wächst, all die Ausgaben, die im Konjunkturpaket vereinbart wurden, prozyklisch wirken. In dem Jahr, in dem
sie hätten helfen sollen, haben sie nicht geholfen. Das ist
der Fehler.
Das Schönste im ganzen Gesetzgebungsprozess war
der Sachverständige, der von den Grünen geladen
wurde. Er hat sehr deutlich gesagt - daran sieht man,
dass die Grünen in der Opposition viele Dinge richtig
machen, zum Beispiel die richtigen Sachverständigen
auswählen -, es sei falsch gewesen, das Konjunkturpaket
überhaupt zu verabschieden. Er hat wörtlich gesagt: Die
bessere Alternative wären Steuersenkungen gewesen.
({6})
Insofern bin ich sehr froh, wenn der Sachverständige das
vielleicht noch genauer darstellen wird und Sie ihm
möglicherweise folgen.
({7})
Warum? Herr Schneider hat eben gesagt, wir hätten
keinen Plan. Das zu behaupten, ist sehr leicht, vor allem
dann, wenn man selber keinen hat. Aber Herr Kollege
Schneider, wenn man daran glaubt, dass dieses Land die
Wirtschaftskrise besser als manch andere Länder überwinden kann, dann muss man sich an das halten, was
auch SPD und Grüne im Zuge der Agenda 2010 gemacht
haben: Man muss Reformen auf den Weg bringen. Das
kann man in dem Bereich machen, in dem Sie es gemacht haben - wovon Sie jetzt aber nichts mehr wissen
wollen -, oder man kann diejenigen entlasten, von denen
man erwartet, dass sie mit dafür sorgen, dass das Wachstum gesteigert wird.
({8})
Für uns in der Koalition sind das ganz wesentlich die unteren und mittleren Einkommen, die wir als FDP prozentual am stärksten entlasten wollen. Das ist der Unterschied zwischen uns: Sie sehen das absolut. Sie sind
bereit, den Menschen absolut möglichst viele Steuern
wegzunehmen. Wir hingegen wollen möglichst viele
Menschen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, prozentual von ihrer jeweiligen Steuerschuld entlasten.
({9})
Das ist der Unterschied zwischen unseren beiden Parteien: Bei Ihnen bedeutet Gerechtigkeit, dass man denjenigen ungerecht behandeln darf, der viel leistet und viel
verdient, und dass man sich um denjenigen, der wenig
leistet, in anderer Weise kümmert.
Nach meiner Ansicht ist es so, dass wir bei der Frage
der Zusätzlichkeit einen Kompromiss schließen, der für
meine Fraktion sicherlich nicht angenehm ist; aber an
Verträge hält man sich. Das gilt für die Länder - auch
das will ich deutlich sagen - nicht so ganz; denn die Verwaltungsvereinbarung, die die Länder zur Zusätzlichkeit
getroffen haben - das möchte ich kritisch anmerken -,
beinhaltete eigentlich genau das, was mit dem Kompromiss rückgängig gemacht worden ist.
Ich komme noch kurz zur Härtefallregelung, weil
auch sie Teil des Gesetzentwurfs ist. Wir setzen das Bundesverfassungsgerichtsurteil bezüglich der Punkte, bei
denen eine offensichtliche Ungerechtigkeit vorliegt - sie
sind uns von der SPD im Bereich Hartz IV vorgegeben
worden -, mehr oder weniger eins zu eins um. Dieses
Problem lösen wir jetzt. Ich hoffe - ich habe leider
nichts davon gehört -, dass auch seitens der Opposition
anerkannt und für richtig gehalten wird, dass den betroffenen Hartz-IV-Empfängern damit vorläufig - das ist
kein endgültiger Status - Rechtssicherheit gegeben wird,
dass es eine gesetzliche Regelung gibt, die deutlich zum
Ausdruck bringt: Hartz-IV-Empfänger, wenn bei dir ein
besonderer Härtefall vorliegt, kümmert sich diese Koalition eindeutig und klar darum, dass du nicht ins Bodenlose fällst.
({10})
Die Dinge, die es in elf Jahren SPD-Regierungsbeteiligung nicht gab, werden nunmehr endlich geregelt. Das
halten wir für eine richtige Lösung.
({11})
Ein letzter Punkt ganz schnell zum Schluss:
({12})
Der eigentliche Streit und das verfassungsrechtlich
größte Problem befindet sich - ich sage das ganz bewusst - nicht in diesem Gesetzentwurf. Das ist das Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofs. Auch wenn wir an
vielen Stellen Streit haben, Herr Kollege Schneider, so
hoffe ich doch, dass wir uns bezüglich der verfassungsrechtlichen Streitigkeiten, die jetzt vonseiten der Länder
kommen, einig sind. Wenn die Länder sagen: „Bund, du
darfst uns zwar Geld geben, aber du darfst nicht mit deinem Rechnungshof kontrollieren, ob wir das Geld richtig verwenden“, können wir nur hoffen, dass klar wird:
Wer Geld gibt, hat auch das Recht, zu kontrollieren, ob
es richtig ausgegeben wird.
Herzlichen Dank.
({13})
Katja Kipping hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei diesem Gesetzentwurf handelt es sich um ein sogenanntes
Omnibusgesetz, in dem ganz verschiedene Regelungen
behandelt werden. Ich möchte mich für die Linke vor allen Dingen zur Härtefallklausel im Bereich Hartz IV äußern.
Diese Klausel soll vor dem Hintergrund eines Bundesverfassungsgerichtsurteils eingeführt werden. Das
Gericht hat uns verpflichtet, sicherzustellen, dass es im
Härtefall auch Leistungen über den Regelsatz hinaus
gibt. Es geht hier also um nicht weniger als die Umsetzung eines verfassungsmäßigen Auftrages. Ich finde, es
ist fraglich, ob der vorliegende Gesetzentwurf diesem
Anspruch gerecht wird.
({0})
In den Beratungen war häufig von Rechtssystematik
und unbestimmten Rechtsbegriffen die Rede. Bei dieser
Regelung geht es aber auch um menschliche Schicksale,
zum Beispiel um folgenden Fall, von dem mir ein Ver3578
treter des Arbeitslosenverbandes erzählte: Eine Alleinerziehende, die ein Kind hat, das asthmakrank ist und eine
Allergie hat und wegen dieser Allergie einen besonderen
Ernährungsbedarf hat, der mehr Geld kostet, was vom
Hartz-IV-Regelsatz nur schwer zu bestreiten ist, hörte
von diesem Urteil, schöpfte Hoffnung und hat einen Antrag gestellt. Der Antrag ist abgelehnt worden. - Angesichts solcher Meldungen finde ich es fraglich, ob die
Entscheidungen der Jobcenter wirklich immer im Geiste
des Verfassungsgerichtsurteils sind.
In dem nun vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, ein
Härtefall liege nur dann vor, wenn der Bedarf nicht
durch Einsparungsmöglichkeiten beim Hartz-IV-Regelsatz gedeckt werden kann. Meine Damen und Herren,
wo leben Sie denn? Glauben Sie denn ernsthaft, dass
beim Arbeitslosengeld II noch so viel Luft ist, dass man
locker etwas sparen kann? Glauben Sie das ernsthaft?
Die Linke meint: Nein, das ist nicht möglich. Deswegen
meinen wir, dass der Regelsatz generell erhöht werden
muss.
({1})
Herr Fricke, auch die juristischen Sachverständigen
haben in der Anhörung an der Formulierung zu den Einsparungsmöglichkeiten kein gutes Haar gelassen. Überflüssig und irreführend - das waren die Aussagen von
Klaus Lauterbach vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt. Generell muss man sagen, dass die Stellungnahmen
zur Anhörung und die Wortmeldungen der Sozialverbände an dem Vorschlag von Schwarz-Gelb kein gutes
Haar gelassen haben.
({2})
Ich finde es frappierend, dass Sie trotzdem trotzig darauf
beharren. Das ist Ausdruck höchster Ignoranz.
Wir als Linke haben die Anregung der Sachverständigen ernst genommen. Wir haben sie aufgegriffen und einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht.
({3})
Nun existiert bei der Bundesagentur für Arbeit ein
Katalog mit Beispielen für Härtefälle. Solch ein Katalog
kann niemals abschließend sein; das ist mir bewusst.
Aber es ist sehr auffällig, dass in diesem Katalog ganz
wichtige Beispiele, auf die die Sozialverbände hingewiesen haben, fehlen. Beispielsweise fehlen nichtverschreibungspflichtige Medikamente im Fall von Neurodermitis oder HIV-Erkrankungen sowie Mehrbedarfe für
Brillen und orthopädische Sonderbedarfe. Es fehlen
auch Mehrkosten, wenn Unverträglichkeiten für spezielle Lebensmittel wie Laktose vorliegen.
Dringend müssten vor allem besondere Schulbedarfe
ergänzt werden.
({4})
Immerhin - das besagt ja auch das Bundesverfassungsgericht - gibt es einen völligen Ermittlungsausfall im
Hinblick auf kinderspezifische Bedarfe. Solange wir
also im Kinderregelsatz die Schulbedarfe nicht klar eingerechnet haben, müssten zumindest bis zu dieser Regelung Schulbedarfe als Härtefall ergänzt werden.
({5})
Nun haben Sie, Herr Fricke, nur ein Argument für die
vorliegende Formulierung genannt, nämlich dass
Rechtssicherheit geschaffen wird. Schön wäre es. Bei
der Anhörung gab es keinen Sachverständigen, der bestätigt hat, dass damit Rechtssicherheit geschaffen wird.
Das Freundlichste, was in diesem Zusammenhang zu hören war, sagte der Direktor des Sozialgerichtes in Potsdam, Graf von Pfeil:
Der Gesetzentwurf verhält sich … in gewisser
Weise neutral: Er schafft weder Klarheit noch Unklarheit …
Umgangssprachlich würde ich sagen, dass es sich um
einen „Hinischani-Gesetzentwurf“ handelt: hilft nichts,
schadet aber auch nicht. Für diese Form von Rechtssicherheit können Sie sich wirklich kräftig auf die Schultern klopfen.
({6})
Halten wir fest: Die vorliegende Formulierung schafft
für die Betroffenen kein Mehr an Rechtssicherheit. Insofern kann man den Betroffenen nur empfehlen, im Zweifelsfall einen Antrag zu stellen. Denn nach Aussage aller
Sachverständigen ist der Einzelfall entscheidend. Man
kann den Betroffenen nur sagen: Kämpfen Sie um Ihre
Rechte!
Herzlichen Dank.
({7})
Alexander Bonde hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates hatte als unspektakuläre, breit zustimmungsfähige Veranstaltung begonnen, weil es sich
um die logische Umsetzung einer Grundgesetzregelung
handelt. Wenn man einen Rat nicht mehr braucht, sollte
man ihn auch abschaffen. Jetzt haben Sie aber etwas daraus gemacht, was Sie selber als Omnibusgesetz bezeichnen.
({0})
Als Freund des öffentlichen Nahverkehrs und des deutschen Fahrzeugbaus muss ich sagen, dass es eine Beleidigung für jeden Omnibus ist, mit diesem Gesetzentwurf
verglichen zu werden.
Sie haben, um andere Gesetzgebungsprozesse abzukürzen, im laufenden Verfahren zwei Punkte draufgeAlexander Bonde
packt. Sie haben das draufgepackt, was Sie für die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bei
der Härtefallregelung halten. Ich will Ihnen offen sagen:
Die Anhörung im Haushaltsausschuss, die auch zu diesem Punkt sehr intensiv stattgefunden hat, ist für Sie voll
nach hinten losgegangen. Es ist klargeworden, dass Ihre
Umsetzung nicht den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht. Es ist klargeworden, dass Sie
mit Ihrer Katalogisierung von Positiv- und Negativbeispielen, statt auf Öffnungsklauseln zu setzen, mehr
Rechtsstreitigkeiten provozieren, als uns allen lieb sein
kann. Damit helfen Sie den Betroffenen nicht. Deshalb
ist der erste Teil des Gesetzentwurfes durchgefallen.
({1})
Am Schlimmsten haben Sie es allerdings bei der Veränderung des Konjunkturpakets der Großen Koalition
getrieben. Nachdem Sie ihn monatelang bestritten haben, wollen Sie nun den schmutzigen Hinterzimmerdeal
der Kanzlerin mit dem Bundesrat umsetzen. Ich will daran erinnern: Es gab viele Beteuerungen dieser Koalition, niemals habe man den Ländern unter der Hand
etwas zugesichert, damit sie Ihrem Wachstumstrullalagesetz zustimmen. Wir erinnern uns: MövenpickSpende, Umsetzung der Entlastungen für Hoteliers und
Ähnliches.
({2})
Man darf ja nicht vergessen, um was es hier geht und
was Sie über Ihre schmutzige Veranstaltung möglich gemacht haben.
Am 22. Januar dieses Jahres hat Kollege Koschyk,
Staatssekretär im Finanzministerium, im Finanzausschuss zugegeben, man werde bei der Zusätzlichkeit
etwas ändern. Staatssekretär Kampeter, ebenfalls im
Finanzministerium, hat das Stunden später im Haushaltsausschuss dementiert. Am 10. Februar dieses Jahres
hat die Koalition den entsprechenden Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung plant. Am 24. Februar hat die
Koalition den Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung
plant. Am 4. März hat die Koalition diesen Tagesordnungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man
angeblich keine Veränderung plant. Jedes Mal hat man
sich auf aktuelle Beschlüsse des Kabinetts berufen. In
dieser Woche haben Sie zurückgenommen, was Sie immer dementiert haben, und offen zugegeben: Das war
eine Bestechung der Länder, damit sie den Weg für das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz freimachen.
In der Anhörung haben Sie gehört: Selbst der Präsident des Bundesrechnungshofes hält die heute von Ihnen
vorgelegte Regelung für verfassungswidrig. Die einzige
Grundlage, die der Bund für Zuweisungen an die Kommunen hat - ich halte es für falsch, dass das die einzige
Grundlage ist -, war die Hürde, ein Investitionsprogramm auf den Weg zu bringen. Es geht darum, in einer
wirtschaftlich schwierigen Situation Investitionen zu tätigen. Durch die Streichung der summerischen Zusätzlichkeit fällt das weg, und Sie machen eine verfassungswidrige Zuweisung an die Kommunen. Wie absurd ist
die Gesetzgebung unter dieser schwarz-gelben Koalition
inzwischen eigentlich geworden?
({3})
Die Argumentation, dass man etwas für die Kommunen tun muss, ist richtig. Aber sagen Sie doch offen: Es
hätte den Kommunen viel mehr geholfen, wenn Sie auf
Ihre Steuergeschenke verzichtet und die Kommunen in
die Lage versetzt hätten, mit ihren regulären Steuereinnahmen zu operieren, und offen mit den Kommunen darüber diskutiert hätten, wie wir sie wieder auf eine tragfähige Finanzbasis stellen können. Es nützt Ihnen gar
nichts, an dieser Stelle ein paar wenigen Kommunen
durch Umwegfinanzierungen zu helfen, wenn Sie ihnen
gleichzeitig den Saft abdrehen: mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, mit Ihren Kommissionen, mit dem
Anschlag auf die Gewerbesteuer und dem großen Anschlag der FDP mit einer Einkommensteuerreform, alles
zulasten der Kommunen. Dieses Paket, das eine vermeintliche Entlastung bringen soll, ist auch noch eine
Bestechung der Länder, und zwar dafür, dass die Länder,
die eigentlich der Anwalt der Kommunen sein müssten,
diesem absurden Spiel auf Kosten der Kommunen zustimmen.
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist nicht einmal einer Koalition wie Ihrer würdig. Es ist auch nicht
würdig, wie hier mit Beschlüssen des Parlaments und
mit dem Grundgesetz dieser Republik umgegangen
wird.
({4})
Das ist wirklich ein schwarzer Moment in der Parlamentsgeschichte.
({5})
Peter Götz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ob man will oder nicht, die weltweite Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise schlägt auch bei den Städten, Gemeinden und Kreisen für jeden inzwischen sichtbar zu. Deshalb besteht hier Handlungsbedarf. Wir alle wissen: Die
internationale Krise ist noch lange nicht überwunden.
Auf allen politischen Ebenen sind die Einnahmen weggebrochen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allem
in sozialen Bereich. In diesem Jahr wird für die kommunalen Haushalte bundesweit ein Defizit von 12 Milliarden Euro erwartet. Die Gewerbesteuereinnahmen, Herr
Kollege Bonde, sanken 2009 um fast 20 Prozent gegenüber 2008.
({0})
Richtig ist aber auch: 2007 und 2008 waren gute
Jahre für die Kommunen, die besten seit Bestehen der
Bundesrepublik Deutschland. Viele konnten investieren,
Schulden abbauen und Rücklagen bilden. Gleichzeitig
haben die Städte, Gemeinden und Kreise begonnen, den
durch rot-grüne Politik entstandenen kommunalen Investitionsstau Zug um Zug abzubauen.
({1})
In Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung war
daran nie zu denken.
({2})
Damals lag der kommunale Saldo ohne globale Krise
jahrelang im Minus - 2003 waren es über 8 Milliarden
Euro -, und damals gab es keine weltweite Finanzmarktkrise. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn
die weltweite Finanzmarktkrise auf uns zugekommen
wäre und Sie noch an der Regierung gewesen wären.
({3})
Es ist notwendig, dass wir den Kommunen helfen.
({4})
Durch das Zukunftsinvestitionsgesetz, über das wir
jetzt sprechen, hat der Bund mit über 10 Milliarden Euro
einen erfolgreichen Beitrag zur Sicherung wertvoller Arbeitsplätze im Baugewerbe und im heimischen Handwerk geleistet.
({5})
Zusätzliche Investitionen in die energetische Sanierung
von Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten tragen zum Klimaschutz - der müsste Ihnen von den Grünen immer ein Anliegen sein - und gleichzeitig zur Verbesserung der Bildungsinfrastruktur bei.
Ein Weiteres kommt hinzu: Die Wirtschaftlichkeit
kommunaler Einrichtungen wird erhöht. So spart eine
energetisch sanierte Schule in Zukunft erhebliche Betriebskosten. Das heißt, die geförderten Investitionen
führen nicht zu Folgekosten, sondern entlasten die kommunalen Haushalte bereits nach wenigen Jahren spürbar
und gleichzeitig nachhaltig. Dies führt zu einer Stärkung
der Gemeindefinanzen und zu einer Verbesserung der
kommunalen Infrastruktur.
({6})
Herr Kollege Fricke, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unser Ziel war und ist, einen sinnvollen Weg zwischen
Konjunkturimpuls auf der einen Seite und Stabilisierung
der öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite zu gehen. Genau das ist mit diesem Konjunkturpaket gelungen. Dabei hat übrigens die Vereinfachung der Ausschreibungsbedingungen bei Vergaben geholfen.
Der gewünschte konjunkturelle Impuls des Konjunkturpakets ist inzwischen nahezu vollständig eingetreten.
Der Erfolg des Ansatzes, über kommunale Investitionen
zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beizutragen, Herr Kollege Schneider, ist für jeden
sichtbar, der mit offenen Augen durch das Land geht.
({7})
Die kommunalen Investitionsplanungen sind inzwischen so weit fortgeschritten, dass selbst bei einer
Lockerung der Kriterien keine Änderungen mehr vorgenommen würden, so zumindest der Deutsche Städtetag
bei der Anhörung diese Woche.
({8})
- Vielleicht haben Sie die Stellungnahme des Deutschen
Städtetages nicht gelesen, dafür kann ich nichts, sie war
aber Gegenstand der Beratungen am vergangenen
Montag.
Ab Januar nächsten Jahres können Länder und Kommunen ihr Investitionsverhalten ohnehin frei gestalten.
Durch die Streichung des sogenannten statistischen Zusätzlichkeitskriteriums - nur darum geht es - werden
keine spürbaren nachteiligen gesamtwirtschaftlichen
Entwicklungen erwartet.
({9})
Der Wegfall dieser Bestimmung wird aber zu erheblichen administrativen Erleichterungen und damit zu einer
deutlichen Entlastung von bürokratischem Aufwand
beim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen,
aber auch bei den statistischen Ämtern führen; auch das
muss man bei dieser Gelegenheit sagen dürfen.
({10})
Unabhängig von der heute zu beschließenden Gesetzesänderung muss sich der Deutsche Bundestag um die
katastrophale Finanzlage der Kommunen kümmern. Die
von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble einberufene Gemeindefinanzkommission prüft - das ist richtig und gut
so - mögliche Alternativen zu der sehr konjunkturabhängigen Gewerbesteuer. Viele Kämmerer wollen weg von
der großen Schwankungsbreite und hin zu einer Verstetigung der Einnahmen.
Ich fordere Sie auf, gemeinsam und unvoreingenommen an dem Reformwerk für die Stärkung der Gemeindefinanzen mitzuwirken, und zwar bei den Einnahmen
und bei den Ausgaben und Aufgaben. Nicht blinde Blockade, sondern konstruktive Mitarbeit ist auf diesem Gebiet gefordert.
({11})
Auch die anstehende Steuerstrukturreform darf nicht
auf dem Rücken der Städte und Gemeinden erfolgen.
Wir wollen nicht, dass Kindergärten geschlossen werden
müssen und Schulen nicht mehr renoviert werden können. Wir müssen vielmehr alles tun, um die kommunalen
Finanzen auf ein solides Fundament zu stellen.
({12})
Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mit
dem großen ehrenamtlichen Engagement in den Räten
hat sich bewährt. Sie darf nicht zu einer Worthülse verkommen.
({13})
Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung
durch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir mit
unserer kommunalfreundlichen Politik für die Städte,
Gemeinden und Kreise viel durchgesetzt.
({14})
Wir lassen die Kommunen auch in schwierigen Zeiten
nicht im Stich.
({15})
Die heute zu verabschiedende kleine Korrektur im
Zukunftsinvestitionsgesetz liegt im kommunalen Interesse. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank.
({16})
Angelika Krüger-Leißner hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen nicht auch so geht
wie mir: Wenn ich die Bundesarbeitsministerin, Frau
von der Leyen, beobachte, muss ich staunen, wie sie von
Thema zu Thema fliegt wie ein fleißiges Bienchen von
Blüte zu Blüte. Gestern Kurzarbeit, letzte Woche Rente,
übermorgen Jobcenterreform, einmal die Alleinerziehenden, dann jüngere Arbeitslose, jeder wird hier bedient.
Heute nun die Härtefallregelung im SGB II.
Bei genauerem Hinsehen entdeckt man allerdings,
dass viele Themen sehr oberflächlich, gar lieblos abgetan werden oder das, was vollmundig angekündigt worden ist, herzlos abgelegt wird. So ergeht es mir auch bei
diesem Gesetzentwurf zur Aufnahme einer Härtefallregelung in das SGB II.
Ich habe es begrüßt, dass uns das Gericht den Auftrag
erteilt hat, hier eine neue gesetzliche Regelung zu treffen. Aber mit dem, was die Bundesarbeitsministerin von
der Leyen hier vorgelegt hat, können wir nicht zufrieden
sein, und Sie hätte es besser machen können.
({0})
Selbst Ihre Sachverständigen haben den Gesetzentwurf in der Anhörung am Montag höchst unterschiedlich
bewertet. Sie alle haben bestätigt, dass es keine dringende Notwendigkeit für diese vorgeschlagene gesetzliche Regelung gibt. Es sieht also alles nach einem
Schnellschuss aus. Es kann aber doch nicht sein, dass
wir Menschen in Härtesituationen mit Schnellschüssen
abspeisen.
({1})
Durch die Anhörung wurde deutlich gemacht: Eile ist
in der Sache überflüssig und sogar schädlich. Wir haben
Zeit bis zum Jahresende. Fakt ist, dass das Urteil an dieser Stelle sehr eindeutig ist. Der bessere Weg wäre gewesen, hier zu einer Übergangslösung zu kommen. Sie hätten hier den Weg mit einer vorläufigen Härtefallregelung
in Anlehnung an die Regelung in § 28 SGB XII beschreiten können. Das ist übrigens auch der Vorschlag
der meisten Sachverständigen gewesen.
Ich bedauere - und bitte den Staatssekretär auch, das
mit ins Haus zu nehmen -, dass die Ministerin diesem
klugen, pragmatischen Vorschlag vieler Sachverständigen nicht gefolgt ist; denn mit ihrem Gesetzentwurf hat
sie nur eine unausgereifte Minimallösung vorgelegt,
durch die die Lebenssituation der Menschen nicht wirklich verbessert wird. Was wir brauchen, ist eine systematische, saubere und stimmige Lösung. Ich gebe zu, dass
wir dazu etwas mehr Zeit brauchen, aber die haben wir.
Ein weiteres Argument für meinen vorgeschlagenen
Weg wurde auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit
als zweckmäßig angesehen, nämlich, in der Übergangszeit wertvolle Erfahrungen in der Praxis zu typischen
Härtefällen zu sammeln und in die gesetzliche Regelung
einzubeziehen. Zudem erscheint es mir auch sinnvoll,
die erforderliche Neubemessung der Regelsätze im Zusammenhang mit der Härtefallregelung zu sehen und
dies auch zeitlich zu verknüpfen. Vielleicht wäre es Ihnen dann gelungen, den Handlungsrahmen des Urteils
voll auszuschöpfen. So ist das nur Stückwerk.
Für mich ist es wichtig, dass wir eine transparente Regelung bekommen, die den Einzelnen und den vielen
Mitarbeitern in den Jobcentern und den Optionskommunen Klarheit bringt. Mit Ihrem restriktiven Negativkatalog kommen wir nicht weiter. Keiner kann heute sagen,
was letztendlich als Härtefall anerkannt wird, und niemand hat einen Negativkatalog gefordert. Ich plädiere
deshalb für einen offenen, positiven, nicht abschließenden Katalog mit konkreten Fallbeispielen.
Gleichzeitig gebe ich Ihnen noch einen Auftrag mit
auf den Weg.
({2})
- Wir werden über diesen Punkt noch eine ganze Weile
reden; nehmen Sie das einmal auf! - Ob der Bewilligungszeitraum von sechs Monaten angesichts dieser
Problemfälle gerechtfertigt ist, bitte ich Sie zu überprüfen. Warum denn eigentlich nicht länger?
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja. Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen?
Wenn es ein Satz ist, dann ja, sonst nicht.
Ja, ich versuche das.
Wenn es ein kurzer ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
Fazit ziehen: Der Gesetzentwurf zur Härtefallregelung
ist unnötig und bewirkt nichts, er bringt auch keinen
Mehrwert
Frau Kollegin.
- und vor allen Dingen hilft er dem Einzelnen nicht.
Darum stimmen wir dem nicht zu. - Das war jetzt aber
doch ein zusammenhängender Satz.
({0})
Das war aber jedenfalls kein kurzer.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaf-
fung des Finanzplanungsrates.
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/1465, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/983 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs-
anträge vor. Über diese stimmen wir zuerst ab.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/1474. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zuge-
stimmt haben die einbringende Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die
Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD hat sich ent-
halten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1473. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der
Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und große Teile der Frak-
tion Die Linke und Ablehnung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Enthaltungen gab es in der Fraktion Die Linke.1)
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthalten möchte sich
niemand? - Damit ist der Gesetzentwurf in der Ausschussfassung in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen. Abgelehnt haben
die Oppositionsfraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möge, erhebe
sich bitte. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen mit
dem gleichen Abstimmungsverhältnis wie vorher.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Fraktion der
SPD
Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen Konditionen für Kurzarbeit verbessern
- Drucksachen 17/523, 17/1446 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Peter Weiß
hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Man kann von einem deutschen Arbeitsmarktwunder
sprechen: 5 Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts,
kaum Anstieg der Arbeitslosigkeit“, so der Sachverstän-
dige Professor Dr. Gerhard Bosch von der Universität
Duisburg-Essen am Montag in einer Anhörung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales. Das Institut der deut-
schen Wirtschaft hat vor kurzem eine Ausarbeitung vor-
gelegt mit der Aussage: Deutsche Arbeitnehmer am
geringsten von der Krise betroffen.
Um über das, so die Formulierung, „Jobwunder Deutsch-
land“ zu sprechen, war die Bundesarbeitsministerin
Ursula von der Leyen zum G-20-Gipfel nach Washington
eingeladen. Allem Krisengerede zum Trotz: Mit dem
Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und insbesondere mit den Regelungen zur Kurzarbeit
1) Anlage 2
Peter Weiß ({0})
hat der Staat unter großer internationaler Beachtung mutig und entschlossen gehandelt und auf die Herausforderungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise reagiert.
Zunächst einmal ist festzustellen: Wir Deutschen können stolz darauf sein, dass wir in dieser Krisensituation
so klar, mutig und entschlossen gehandelt haben.
({1})
Ohne die Regelung zur Kurzarbeit, die die Betriebe in
einem beachtlichen Umfang genutzt haben, hätte es zu
Massenentlassungen kommen müssen. Die Betriebe wissen aber, es lohnt sich, qualifiziertes Personal zu halten,
statt zu entlassen, um für die Zeit nach der Krise besser
aufgestellt zu sein. Ich habe keinen Zweifel, dass sich
dieses Verhalten der deutschen Betriebe nach dem Anspringen der Konjunktur auszahlen wird.
Im Mai 2009 bezogen 1,5 Millionen Beschäftigte
Kurzarbeitergeld. Das war der Höchststand. Die Bundesagentur rechnet für das laufende Jahr 2010 im Durchschnitt mit 700 000 Beziehern von Kurzarbeitergeld und
für 2011 zurückgehend mit 400 000 bis 500 000. Diese
Zahlen zeigen: Mittlerweile geht es in vielen Branchen
der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts; aber viele Betriebe brauchen trotzdem nach wie vor das Instrument
der Kurzarbeit und stecken nach wie vor mitten in der
Krise.
Deshalb wäre es töricht, diese Brücke Kurzarbeit abzureißen, die die Unternehmen über das Tal der Krise führen soll. Deshalb hat die neue Bundesregierung sofort
nach ihrem Antritt bereits die Rechtsverordnung in Kraft
gesetzt, nach der nicht für die im Gesetz vorgesehenen
6 Monate, sondern insgesamt für 18 Monate Kurzarbeitergeldbezug möglich ist. Gestern hat das Bundeskabinett
mit dem Beschäftigungschancengesetz die weitere gesetzliche Initiative auf den Weg gebracht, die Sonderregelung zu verlängern, die wir in der Krise geschaffen und
eigentlich bis zum Ende 2010 begrenzt haben. Diese Regelung besagt, dass ab dem siebten Monat Kurzarbeitergeldbezug die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Prozent von der Agentur für Arbeit übernommen werden,
womit die Betriebe zusätzlich finanziell entlastet werden.
Mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir weitere Sonderregelungen verlängern, die bis
Ende 2010 befristet waren, zum Beispiel die Regelung,
dass wir in die Kurzarbeiterregelung Beschäftigte von
Leiharbeitsunternehmen einbeziehen, oder die Regelung
zur Entgeltsicherung. Letztere bedeutet, dass dann, wenn
jemand trotz Kurzarbeit leider entlassen wird, das Arbeitslosengeld nicht nach dem zuletzt bezogenen Kurzarbeitergehalt, sondern nach seinem zuletzt bezogenen vollen Gehalt berechnet wird. Auch der Ausbildungsbonus
für Lehrlinge insolventer Betriebe wird bis Ende 2013
verlängert.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fachleute, mit denen wir am Montag diskutiert haben, gehen
davon aus, dass wir damit weiterhin dafür sorgen, dass
die Arbeitslosigkeit nicht sprunghaft um 300 000 Personen ansteigt.
Aber wir haben nicht nur die Regelungen zur Kurzarbeit verlängert, womit wir dafür sorgen, dass eine tragfähige Brücke in Beschäftigung nach der Krise möglich
wird, sondern wir denken auch an diejenigen, die bereits
leider arbeitslos sind, vor allem an diejenigen, die schon
lange arbeitslos sind. Deshalb hat die Koalition gestern
im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die
bislang gesperrten Mittel in Höhe von 900 Millionen
Euro für den Eingliederungstitel freigegeben;
({2})
denn wir wollen nicht, dass der mittelfristig beginnende
Aufschwung an den Beziehern von Arbeitslosengeld II
vorbeigeht. Deshalb wollen wir auch für sie neue Chancen auf neue Arbeit eröffnen. Die Bundesministerin für
Arbeit und Soziales hat ein Konzept vorgelegt, nach dem
wir die zusätzlichen Mittel, die jetzt freigegeben worden
sind, vor allen Dingen dafür einsetzen wollen, dass jungen Menschen unter 25 Jahren sofort ein Jobangebot gemacht werden kann,
({3})
dass wir stärker noch Alleinerziehenden helfen, insbesondere dann, wenn das Betreuungsproblem für die Kinder
nicht gelöst ist, und dass wir die Beschäftigungschancen
älterer Arbeitsloser mit dem Programm „Perspektive
50plus“ verbessern.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem
Beschäftigungssicherungsgesetz, mit der Verlängerung
der Regelungen zur Kurzarbeit in das nächste und übernächste Jahr hinein, um die Krise durchzustehen,
Herr Kollege.
- und mit den zusätzlichen Initiativen, die es möglich
machen sollen, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger Wege
in die Arbeit finden können, setzt diese Koalition ein
deutliches Zeichen.
Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kommen.
Das wollte ich, Frau Präsidentin.
Das ist gut.
Wenn Sie mir den richtigen Schwung noch erlaubt
hätten, wäre ich jetzt zum Ende gekommen.
Man weiß es nicht sicher.
({0})
Mit beiden Programmen verfolgt die Koalition ein
zentrales Ziel. Es heißt: Raus aus der Krise. Wir wollen,
dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen starken Schutzschirm durch die Politik behalten, dass unsere Unternehmen eine Zukunftsperspektive
haben,
Herr Kollege!
- damit, wenn der Aufschwung kommt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von diesem Aufschwung tatsächlich profitieren.
Vielen Dank.
({0})
Willi Brase hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner hat auf
das Erfolgsmodell der Kurzarbeit hingewiesen.
({0})
Sie gestatten, dass ich noch einmal klar und deutlich
zum Ausdruck bringe, dass es der Arbeitsminister Olaf
Scholz war, der aufgrund des Zusammenwirkens mit Gewerkschaften und Arbeitgebern und der Rückkopplung,
die wir über unsere Betriebe und die Betriebsräte aufgenommen haben, gefragt hat: Wie kann ein solches Instrument so ausgestattet werden, dass es in der Praxis vernünftig wirkt? Wenn man es richtig betrachtet, dann
muss man sagen: Das war ein Bündnis für Beschäftigte
und Zukunft.
({1})
Es war deshalb ein Bündnis für Beschäftige und Zukunft, weil es das Ziel war, dass nicht die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für die Zockerei am Kapitalmarkt und die damit verbundenen Risiken und Krisen zu
bezahlen haben.
({2})
Deshalb haben wir es auf den Weg gebracht. Die Union
ist mitgegangen. Es war ein guter Weg. Es war ein Weg,
den Sozialdemokraten richtig und vernünftig gepflastert
haben.
({3})
Man darf zu Recht sagen, Herr Weiß: Bei Abnahme
des Bruttosozialprodukts um 5 Prozent und fast keinem
Anstieg der Arbeitslosenzahl scheint dieses Mittel in seiner Flexibilität und Wirkung ein Erfolgsmodell zu sein.
Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir wollen,
dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes auch in Zukunft gilt. Wir sind nämlich nicht so
blauäugig, zu glauben, dass die Krise schon in den
nächsten Monaten vorbei ist.
({4})
Dieses Modell hat 500 000 Jobs gerettet; das konnten
wir überall nachlesen. Dieses Modell hat den Arbeitnehmern und den Unternehmen Sicherheit gegeben, und es
hat den Blick in die Zukunft der betroffenen Unternehmen sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht ganz so sehr getrübt, wie wir es im Rahmen der Finanzkrise erlebt haben. Deshalb wollen und werden wir
dies weiterführen.
Ich erlaube mir vor dem Hintergrund der Anhörung
des zuständigen Ausschusses auf die finanziellen Auswirkungen der Krise auf dieses Instrument hinzuweisen.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in einer Studie untersucht und deutlich dargestellt, dass im Jahre 2009 die
Kosten für die Agentur für Arbeit circa 4,7 Milliarden
Euro betrugen. Bei den Unternehmen kam es zu Kosten
in Höhe von circa 5 Milliarden Euro. Bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kam es zu Einkommensverlusten in Höhe von circa 3 Milliarden Euro. Diese
Kosten sind, wenn man so will, relativ gleichmäßig verteilt.
Wenn wir ehrlich sind und sagen, dass die Wirtschaftskrise aufgrund der Finanzkrise entstanden ist,
dann wird es langsam Zeit, dass endlich diejenigen, die
sie verursacht haben, dafür bezahlen.
({5})
Eigentlich müssten wir diese Kosten - weit über
10 Milliarden Euro - den Finanzjongleuren vor die Füße
werfen und es dort abholen; Stichwort Finanztransaktionssteuer. Das wäre ein gutes und wirksames Instrument, und es wäre besser als die geplante Bankenabgabe.
({6})
Wir wollen die Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate; das sehen Sie in unserem Antrag. Bereits im November/Dezember 2008, als
die Diskussion darüber, dass die kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht den Bach runtergehen sollen, richtig losging, haben wir erkannt, dass es sehr
wichtig ist, dass die sogenannten Remanenzkosten, also
die Kosten für die sozialversicherungspflichtigen Beschäftigen, übernommen werden. Es war genauso wichtig und notwendig, dies mit der Qualifizierung zu verbinden. Bei der Qualifizierung ist mir aufgefallen, dass
bei der Anhörung nur wenige Sachverständige darauf
hingewiesen haben - teilweise hat man es in diesen Wochen aus der Politik gehört; erst sollte das Kurzarbeitergeld nicht verlängert werden; jetzt hat man es gemacht -,
dass eine mögliche Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes den notwendigen Strukturwandel behindern könnte. Eine mögliche Verlängerung, die gerade
den Beschäftigen und den Unternehmen Sicherheit bringen würde, könnte also einen notwendigen Strukturwandel verhindern.
Wenn man sich das genauer anschaut, muss man einiges feststellen - das haben die Sachverständigen teilweise getan -: Es gab im verarbeitenden Gewerbe trotz
Kurzarbeit Entlassungen. Innovation findet doch nicht
nur statt, wenn Unternehmen Beschäftigte entlassen und
sie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen. Im Gegenteil: Innovationen in den Betrieben finden statt, wenn
es eine entsprechende Innovationskultur gibt. Grundlage
dafür ist häufig eine sichere Beschäftigung. Es bedeutet
ein Stück Zukunftssicherung, zu wissen, dass man in den
nächsten Jahren für den gleichen Arbeitgeber arbeiten
kann. Diejenigen, für die das gilt, sind doch viel eher bereit, sich in betriebliche Belange einzubringen und einen
Beitrag zu Wandel und Fortschritt zu leisten.
({7})
Die Kurzarbeit hat dazu geführt, dass nicht entlassen
worden ist und dass darüber hinaus die Ausbildung nicht
eingestellt wurde, obwohl nach den Zahlen des Statistischen Bundesamtes 2009 ein Minus von 7,6 Prozent zu
verzeichnen war. Die Befürchtung, dass 2009 aufgrund
der Finanz- und Wirtschaftskrise massiv weniger ausgebildet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind der
Auffassung, dass gute Ausbildung, vor allen Dingen im
verarbeitenden Gewerbe, ein wesentlicher Beitrag zur
Innovationsfähigkeit und Innovationskraft im Mittelstand ist.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Betriebe in
unserer Republik haben, was Qualifizierung angeht, immer noch schwach ausgeprägte eigene Vorstellungen
über ihren Qualifizierungsbedarf und keine Weiterbildungsstrategie; darüber haben wir an anderer Stelle
mehrfach diskutiert. Um dem entgegenzuwirken, sind
Maßnahmen und Aktivitäten durchgeführt worden,
Stichwort „WeGebAU“. Wenn man sich das Ganze anschaut, dann erkennt man, dass es nichts mit dem Strukturwandel zu tun hat, dass die Kurzarbeiterregelung verändert wird.
Ich will auf Folgendes hinweisen: Qualifizierungen,
die für die Beschäftigten sinnvoll und gut sind, sind so
zu organisieren, dass sie möglichst nachhaltig wirken. Es
ist aber nun einmal so, dass Kurzarbeit abgebaut wird,
wenn ein Unternehmen mehr Aufträge bekommt. Das ist
für die Erwachsenenbildung, qualifizierungspolitisch gesehen, manchmal etwas nachteilig. In diesem Bereich
braucht man längere Zeiten. Das spricht nicht gegen eine
Kurzarbeiterregelung, sondern im Prinzip dafür, und
deshalb wollen wir sie aufrechterhalten.
Die betriebliche Weiterbildungsstrategie wäre der
Qualifizierung von Kurzarbeitern sicherlich förderlich,
wenn wir sie schon umfassender hätten durchsetzen können. Alle Debatten, auch die im zuständigen Ausschuss,
und alle Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass
Deutschland hier noch ein Stück zurückliegt. All das
spricht nicht gegen, sondern für die Verlängerung der
Kurzarbeiterregelung. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen
Sie dem Antrag der Fraktion der SPD zu. Für uns geht es
um ein Bündnis für die Sicherung der Beschäftigung,
also um gute Zukunftsaussichten. Wenn Arbeitnehmer
wissen, dass sie nicht entlassen werden, dann ist das
auch für die Unternehmen und für die Zukunft in
Deutschland gut.
({9})
Eben hat der geschätzte Kollege Bonde von den Grünen bezogen auf die Debatte zu einem anderen Tagesordnungspunkt von einem schwarzen Moment im Parlament gesprochen. Ich sage: Das ist ein grüner
Augenblick mit einer roten Zuversicht. Stimmen Sie dieser Regelung deshalb zu. Wir haben sie auf den Weg gebracht. Sie wird auch weiterhin benötigt.
Vielen Dank.
({10})
Kollege Johannes Vogel ist der nächste Redner für die
Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist richtig, was gerade gesagt wurde: Die Kurzarbeit
ist in der Tat ein sehr wertvolles Instrument in der Krise
gewesen. Ganz wesentlich hat sie dazu beigetragen, dass
das Ausland neidisch auf das sogenannte deutsche Jobwunder schaut. Was den Arbeitsmarkt angeht, scheint
unser Land trotz der schwersten Rezession in der Geschichte dieser Republik erfreulich gut davongekommen
zu sein. Das ist in der Tat ein Lob und auch einen Dank
wert an unseren geschätzten Koalitionspartner, aber
auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an
Sie und den ehemaligen Minister Scholz.
Nur, Arbeitspolitik, die in der Krise gut war, muss
korrigiert werden, wenn sie auch nach der Krise noch
gut sein soll. Ein Instrument wie die Verlängerung der
Kurzarbeit, das in der Krise wertvoll war, kann nach
Ende der Krise durchaus schädlich sein, weil dadurch
Strukturen konserviert und Arbeitsplätze gefährdet werden.
({0})
Niemand kann bestreiten, dass es am Konjunkturhimmel Zeichen der Besserung gibt. Wie wir alle wissen,
unterscheidet sich das von Branche zu Branche. Ich
glaube, das ist ein Grund, bei dem Thema Kurzarbeit
maßvoll zu agieren, sowohl was die Verlängerung der
Sonderregeln bei der Kurzarbeit als auch was die sogenannte Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge
angeht. Man muss nämlich auch etwas anderes synchronisieren: das Ende der Krise und das Ende der Sonderregelungen für die Kurzarbeit.
({1})
Johannes Vogel ({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe das Gefühl, diese Herausforderung haben Sie nicht
begriffen. Das zeigt sich in meinen Augen in zwei Punkten, nämlich zum einen darin, dass Sie gar nichts zur
Konzernklausel sagen. Die Konzernklausel privilegiert
ohne Not große Unternehmen gegenüber kleinen. Sie
war falsch und systemwidrig.
Genauso falsch ist in meinen Augen zum anderen der
Zeitraum von 36 Monaten, den Sie uns hier vorschlagen.
Das hat auch die Anhörung, die wir am letzten Montag
im Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführt haben, ganz klar gezeigt. Ich zitiere nur zwei Sachverständige aus der Anhörung:
Die OECD sagt:
Unsere Vorhersagen gehen aber davon aus, dass wir
uns bereits in einer beginnenden Aufschwungphase
befinden und dass man im jetzigen Augenblick vorsichtig sein sollte mit der Verlängerung und insofern auch eine stärkere Eigenbeteiligung vorzusehen ist.
Das IAB, das wir alle gern zitieren, weil wir alle wissen, dass das ein sehr seriöses Institut ist, sagt:
Eine Verlängerung der maximalen Bezugsfrist des
konjunkturellen Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate
zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Signal für eine
mittelfristig gewährte Subvention missverstanden
werden und das Risiko von Strukturverhärtungen
eher erhöhen. Auch mit der Frist von 24 Monaten
oder heute 18 Monaten dürften die meisten Betriebe
ausreichend Zeit haben.
({3})
- Ich habe jetzt zwei herausgegriffen, liebe Frau Kollegin.
Man kann also festhalten: Ausgerechnet das Merkmal, das Ihren Antrag auszeichnet, die Frist von 36 Monaten, wurde von zwei seriösen Instituten kritisiert.
Deswegen ist sinnvoller, was wir machen, nämlich
eine maßvolle Bezugsdauer von 18 Monaten zu wählen
und die Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge
15 Monate lang zu gewähren. Wir steigen schrittweise
aus diesem Instrument aus.
Es bleibt bei sinnvollen Maßnahmen, wie zum Beispiel der vollen Erstattung bei Qualifizierungsmaßnahmen. Wir haben aber im Gegensatz zu Ihnen eine klare
Exit-Strategie und haben verstanden, dass ein Instrument
in einer Krise gut sein kann, aber nach der Krise irgendwann auch vernünftig auslaufen muss, wenn es im Interesse der Menschen wirken soll.
Mir fällt dazu Ihr Ex-Kanzler Schröder ein. Ich
glaube, man kann für die Kurzarbeit sagen: Wir werden
nicht alles anders machen als Sie, aber vieles besser. Ich
glaube, das ist genau die richtige Antwort. Deshalb werden wir Ihren Antrag auch ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Betriebsräte und Geschäftsleitungen haben gehandelt, nicht Sie, Herr Weiß. Sie haben höchstens
die Rahmenbedingungen geschaffen, aber sonst nichts.
({0})
Gehandelt haben andere.
Die Krise zeigt, dass nur eine konsequente Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze schafft und sichert. Statt
immer längere Arbeitszeiten für den einen und gar keine
für den anderen, muss Arbeit gerechter verteilt werden.
Kurzarbeit ist nämlich nichts anderes als Arbeitszeitverkürzung mit Teillohnausgleich.
({1})
Das mit der Kurzarbeit haben zum Glück mittlerweile
auch die CDU, die FDP und Frau von der Leyen verstanden. Wir unterstützen die Forderung der SPD in ihrem
Antrag zur Kurzarbeit und werden diesem zustimmen.
Uns geht er aber noch nicht weit genug. Es erfordert
nur gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dass
die gerechte Verteilung von Arbeit der richtige Hebel für
mehr Beschäftigung ist.
({2})
Hier gibt es in Ihren Vorschlägen noch einigen Raum für
Verbesserungen.
Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er-Jahren
für eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft hat. Arbeitszeitverkürzung bedeutet nicht nur Kurzarbeit, sondern
sie bedeutet auch, die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte
zum Beispiel auf eine 35-Stunden-Woche zu verkürzen;
sie bedeutet, Überstunden zu begrenzen; und sie bedeutet, Altersteilzeit einzuführen.
({3})
Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie, und sie wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Da schlagen Sie gleich
mehrere Fliegen mit einer Klappe.
Vor dem Hintergrund knapper Arbeit ist es auch völlig irrsinnig, die Menschen mit 67 Jahren noch in den
Betrieben zu beschäftigen.
({4})
Nehmen Sie die Entscheidung zur Rente mit 67 wieder
zurück!
Für die Linke ist klar: Die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen bei Kurzarbeit ist ebenfalls richtig
und muss fortgesetzt werden. Hierbei sind wir ganz auf
Ihrer Seite.
({5})
Die Regierung hat lange genug gebraucht, sich dazu
durchzuringen, Klarheit zu schaffen. Damit wurden viele
Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben absolut verunsichert.
Die tarifliche Kurzarbeit, wie sie in der Metall- und
Elektroindustrie ausgehandelt wurde, wäre ebenfalls ein
richtiger Schritt und eine Ergänzung zur konjunkturellen
Kurzarbeit gewesen. Sie fehlt in den Vorschlägen der
SPD und der Regierung aber komplett. Hier müssten
noch Hausaufgaben gemacht und Nachbesserungen vorgenommen werden.
({6})
Die Idee, Kurzarbeit für die Qualifizierung der Beschäftigten zu nutzen, klingt bestechend und einfach; allerdings funktioniert sie in der Praxis nur schwer. Das
belegt im Grunde die sinkende Zahl von Bildungsmöglichkeiten während der Kurzarbeit. Erstens ist es für Bildungsträger schwierig, passende Maßnahmen aus dem
Boden zu stampfen. Zweitens ist es schwierig, in den
Betrieben dafür zu sorgen, dass Leute auch bereit sind,
daran teilzunehmen.
Hinzu kommt noch: Wenn die Kurzarbeit endet, endet
auch die Weiterbildung, weil am nächsten Tag wieder
voll gearbeitet werden muss. Das bedeutet: Wenn man
da etwas erreichen will, muss man über Qualifizierung
für die Zeit nach dem März 2012 reden, also über Qualifizierung als Daueraufgabe und nicht nur als Maßnahme
bei Kurzarbeit.
({7})
Noch ein Punkt bleibt in Ihren Vorschlägen unerwähnt. Sie lassen die Beschäftigten in der Kurzarbeit mit
dem Progressionsvorbehalt in die Steuerfalle laufen. Damit ist gemeint, dass das Kurzarbeitergeld zwar erst einmal lohnsteuerfrei ist, die Beschäftigten aber im nächsten Jahr hohe Steuernachzahlungen leisten müssen. Das
können sie sich aber gar nicht leisten. Wovon auch? Sie
sind schon in Kurzarbeit, erhalten weniger Lohn und
können dementsprechend keine Rücklagen bilden.
Korrigieren Sie bitte Ihre Steuerungerechtigkeiten!
Das ist im Interesse der Beschäftigten.
({8})
Sorgen Sie für mehr Steuergerechtigkeit, und haben Sie
den Mut zu konsequenter Arbeitszeitverkürzung! Nur so
können Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden.
Vielen Dank.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun
aber los! - Alle Fraktionen im Hause sind der Auffassung - das ist schon hinreichend deutlich geworden -,
dass in einer Krisensituation mit Nachfrageeinbrüchen
die Kurzarbeit ein richtiges und solidarisches Instrument
ist, um Arbeitslosigkeit abzufedern.
({0})
Da nehmen wir als Grüne uns auch keineswegs aus; das
haben wir immer deutlich gemacht. Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitgeber - das hat die Anhörung
gezeigt - bilden hier eine Phalanx.
Kurzarbeit ist ein Instrument der Untertunnelung, und
zwar der Untertunnelung einer Krise. Wir sollten uns
aber schon die Frage stellen, wie lang denn aus unserer
Sicht dieser Tunnel sein soll, ob nicht irgendwann auch
Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein muss, und wie
wir schnellstmöglich aus diesem Tunnel wieder herauskommen. Wir müssen von dieser Art von Subventionierung tatsächlich wieder wegkommen; denn die Krise,
mit der wir es zu tun haben, ist nicht eine einfache Nachfragekrise; es ist eine Strukturkrise, und das Kurzarbeitergeld wirkt prinzipiell strukturkonservierend.
({1})
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darüber auseinandersetzen, wie wir es erreichen, dass wir nicht Strukturen konservieren, also Subventionen in einen Bereich
geben, der nach dem Ende der Krise ohne die Subventionen nicht konkurrenzfähig wäre.
({2})
Es geht nicht an, dass wir erst Geld für Kurzarbeit ausgeben und nachher doch Arbeitslosigkeit finanzieren müssen.
({3})
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind für die
Weiterführung des Kurzarbeitergeldes. Aber auch in Ihrem Beitrag, Herr Brase, haben Sie überhaupt nicht begründen können, warum Sie hier und heute eine Verlängerung der Bezugszeit auf 36 Monate beschließen
wollen.
({4})
Sie sollten wenigstens die vom IAB vorgeschlagene
Überprüfungsklausel in bestimmten Phasen aufgreifen.
Aber es ist falsch, jetzt einfach die Bezugsdauer auf 36 Monate zu verlängern, und das, ohne zwischendurch hinzuschauen. Das halte ich für nicht verantwortbar.
({5})
Ich will hier einen weiteren kritischen Punkt aufgreifen, den Herr Brase schon angesprochen hat, und zwar
die Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Die
Bundeskanzlerin hat hier in vielen Reden immer wieder
gesagt, wir müssten darauf achten, dass wir Deutschen
aus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hineingegangen sind. Eines der ganz großen Defizite des deutschen Arbeitsmarktes ist die ungenügende Qualifizierungs- und Weiterbildungskultur. Was liegt denn näher,
als in einer solchen Situation die Krise als Chance zu
nutzen, dieses Defizit zu beseitigen? Warum nutzen wir
die derzeit nicht gebrauchten Arbeitszeitpotenziale nicht
für Weiterbildung? Diese Verknüpfung wird zurzeit nur
ungenügend angewandt. Nur 10 Prozent aller Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter nutzen die Kurzarbeit, um parallel eine Weiterbildung zu machen.
({6})
- Herr Weiß, in der Anhörung ist gesagt worden, dass
man dieses Defizit ganz deutlich sehen kann.
Nach sieben Monaten wird das Kurzarbeitergeld gezahlt, ohne dass noch irgendwelche Anstrengungen für
Weiterbildung unternommen werden müssen. Der Vertreter der Bundesagentur für Arbeit hat gesagt: Man
kann genau sehen, wie dieser Tatbestand den Qualifizierungsanreiz dämpft. - Deswegen ist dieser Ansatz
falsch. Wenn wir den Gesetzentwurf der Bundesregierung im Ausschuss beraten, dann bitte ich Sie darum,
dass wir einmal sehr ernsthaft und seriös darüber sprechen sollten, ob diese Regelung nicht korrigiert werden
muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, aus diesen beiden Gründen, also Verlängerung der
Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und unzureichende
Verknüpfung des Kurzarbeitergeldes mit der Weiterbildung, werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren
Antrag enthalten.
Ich danke Ihnen.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Paul
Lehrieder das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Herr Kollege Brase, Sie haben vorhin
ausgeführt, die Kurzarbeit, wie sie derzeit geregelt ist, sei
während der Zeit unserer gemeinsamen Koalition - mittlerweile sind wir geschiedene Koalitionspartner - eingeführt worden. Wir haben das Kurzarbeitergeld mit der
FDP fortgeführt. Ich hätte bei dieser Feststellung durchaus auch den Applaus der SPD erwartet. Denn das Kurzarbeitergeld ist eine gute und richtige Maßnahme. Wir
haben vorhin von mehreren Rednern gehört, dass uns
dieses Kurzarbeitergeld europaweit - ich möchte sagen:
weltweit - bei der Bewältigung der Krise einen Vorsprung verschafft hat.
({0})
Wir müssen uns bei all denen, die dafür den Schweiß der
Edlen und Gerechten vergossen haben, bedanken.
Meine Damen und Herren, es besteht im Übrigen
Konsens in diesem Hause darüber, dass die Kurzarbeit
das probate, das richtige Mittel für die Bewältigung der
Krise ist. Auch die Unternehmen haben erkannt, dass sie
qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer sinnvollerweise möglichst lange halten und ihnen nicht ohne
Not kündigen sollten, um so dieses Tal der Krise mithilfe
der Verlängerung der Bezugsdauer für das Kurzarbeitergeld zu überbrücken.
Das konjunkturelle Kurzarbeitergeld - die Vorredner
haben dies bereits ausgeführt - hat einen bedeutenden
Anteil daran, dass die Unternehmen in Deutschland in
der Wirtschaftsflaute ihre Arbeitnehmer halten konnten.
Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich aber derzeit ab: Unternehmen sind einerseits in vielen Bereichen
an der Grenze der Belastbarkeit in Bezug auf die Haltekosten angekommen; die wirtschaftliche Erholung andererseits beginnt nur langsam. Außerdem stellen die Unternehmen, die von der Krise betroffen sind, keine
homogene Gruppe dar. Manche Unternehmen erreicht
die Krise erst in den nächsten Monaten. Sie wird sie über
das Jahr 2010 hinaus vor Herausforderungen stellen. Andere Unternehmen bauen bereits jetzt ihren Mitarbeiterbestand wieder auf. In den nächsten Monaten wird sich
deshalb herausstellen, welche Entwicklung in welcher
Sparte dominieren wird.
Bis spätestens Ende Juni dieses Jahres, also Kündigungstermin zum Jahresende, wird der Entwicklung und
den finanziellen Möglichkeiten entsprechend durch die
Unternehmen flexibel und kurzfristig reagiert werden
müssen. Es hat sich erwiesen: Das Instrument des verlängerten Bezugs von Kurzarbeitergeld hat sich arbeitsmarkt- und wirtschaftspolitisch als Kernstück des gelungenen Krisenmanagements bewährt. Daher soll es
erfolgreich fortgeführt werden.
Die Forderung der SPD, liebe Freunde, in der entsprechenden gesetzlichen Regelung die Angabe „24 Monate“ pauschal durch die Angabe „36 Monate“ zu ersetzen und eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember
2011 vorzusehen, schießt indes über das Ziel hinaus. Die
Kurzarbeit darf nicht dazu führen, dass ein notwendiger
Strukturwandel verhindert wird; darauf haben hier die
Kollegin Pothmer und die sehr weise OECD bereits in
der Anhörung am Montag hingewiesen.
({1})
Deshalb ist die Verlängerung der Dauer des Bezugs von
Kurzarbeitergeld auf 36 Monate, liebe Genossen von der
SPD, abzulehnen. Die BDA hat in der Anhörung am
Montag argumentiert, dass eine Verlängerung der Bezugsfrist auf 36 Monate eine nicht zu rechtfertigende
Belastung der Arbeitslosenversicherung ist.
Mit Kabinettsbeschluss von gestern wurde das Beschäftigungschancengesetz als bessere Lösung auf den
Weg gebracht. Es ist gut, dass wir unbeschadet des Antrags der SPD ein sehr aktives Arbeitsministerium haben, das die dahinterstehende Idee unverzüglich in die
Tat umgesetzt hat. Dies zeichnet unsere Arbeitsministerin Frau von der Leyen aus.
({2})
Die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Sonderregelung zum Kurzarbeitergeld soll bis zum 31. März 2012
verlängert werden. Eine Ausnahme ist die Konzernklausel; diese wollen wir nicht fortführen.
Im Einzelnen: Der Arbeitgeber bekommt für die ersten sechs Monate 50 Prozent der von ihm allein zu tragenden Sozialversicherungsbeiträge von der BA in pauschalierter Form erstattet. Frau Pothmer, natürlich ist die
Qualifizierung gerade in den ersten sechs Monaten während des Bezugs von Kurzarbeitergeld ein großes Ziel.
({3})
Nur, es gibt Branchen - da sollten wir uns kein X für
ein U vormachen -, in denen eine Qualifizierung keinen
Sinn macht.
({4})
Beispielsweise der Lkw-Fahrer einer Spedition hat den
Führerschein Klasse CE. Er braucht zur Qualifizierung
während des Bezugs von Kurzarbeitergeld keinen Führerschein der Klasse A zu machen; denn er kann mit seinem Führerschein bei steigendem Wirtschaftswachstum
wieder ganz normal weiterarbeiten. Für den Fernfahrer
macht eine Weiterqualifizierung während des Bezugs
von Kurzarbeitergeld daher verständlicherweise keinen
großen Sinn. Aber es gibt Branchen - Frau Pothmer, da
sind wir nahe beieinander -, da macht eine Weiterqualifizierung durchaus Sinn, und dort wird sie auch in Anspruch genommen. Es gibt aber Branchen, in denen man
die Koppelung der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge an eine Fortbildung als schikanös empfinden
und sagen müsste: Warum kann ich meine Mitarbeiter
nicht sinnvoll fortbilden? Ich habe nicht die Möglichkeit, diese Kosten übernommen zu bekommen.
Ich hätte noch einiges zu sagen; aber ich merke,
meine Redezeit geht allmählich zu Ende. Ich will die
Zeit nicht wie die anderen Kollegen über Gebühr strapazieren.
({5})
Lehnen Sie den Antrag der SPD ab. Sie können versichert sein: Mit der Verlängerung der Dauer des Bezugs
von Kurzarbeitergeld tun wir das in der jetzigen wirtschaftlichen Situation Wichtige, Erforderliche, Notwendige, aber auch Ausreichende. Wenn die Krise überwunden ist, werden wir in dieser christlich-liberalen
Koalition zu gegebener Zeit die richtigen Maßnahmen
auf den Weg bringen. Da dürfen Sie volles Vertrauen zu
uns haben. Ich bitte Sie, an unseren sehr weisen Beschlüssen mitzuwirken.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, mir immer
wieder einmal die Frage zu stellen: Was haben sich Kollegen eigentlich dabei gedacht, wenn sie einen Antrag in
den Deutschen Bundestag einbringen?
({0})
Ich hatte regelrecht die Nöte des Antragsschreibers in
der SPD-Fraktion vor meinem geistigen Auge, der sich
die Frage gestellt haben muss: Was kann man da eigentlich bringen, um noch irgendwie aufzufallen? Nach dem
Motto „Viel hilft viel“ hat man einfach einmal in den
Topf gegriffen und eine Verlängerung der Bezugsfrist
auf 36 Monate an die Spitze eines Antrags gestellt.
Herr Brase hat reklamiert, dass Herr Scholz das alles
ganz toll gemacht habe. Dies fand ich insofern bemerkenswert, als Sie sich in anderen Zusammenhängen
nicht mehr so gerne an die Tätigkeit Ihrer Arbeitsminister in den vergangenen elf Jahren erinnern. Ich habe mir
einmal angeschaut, wie das alles zu Ihrer Zeit gewesen
ist. Die Regelfrist umfasst, wenn es keine Nutzung der
Verordnungsermächtigung nach § 182 SGB III gibt,
sechs Monate. Sie wird in der Regel tatsächlich durch
Verordnung verlängert. Siehe da, Herr Brase, während
der gesamten Zeit Ihrer Regierung gab es Verlängerungen, aber nicht in dem Umfang, wie Sie es von Norbert
Blüm damals übernommen hatten. Ende 1998 haben Sie
die von Blüm per Verordnung durchgesetzte Verlängerung der Bezugszeit von sechs auf 24 Monate übernommen. Dann wurde die Bezugszeit immer wieder per Verordnung geändert: Unter Riester betrug sie zunächst
24 Monate und wurde dann auf 15 Monate gekürzt. Unter Clement stieg die Bezugsdauer auf 18 Monate und
sank wieder auf 15 Monate. Bei Müntefering sank die
Bezugszeit schließlich auf nur noch zwölf Monate. Erst
unter Scholz ist die Bezugsdauer wieder gestiegen: Sie
wurde erst auf 18 und dann auf 24 Monate verlängert.
Eines verstehe ich nicht: Wenn Sie sich denken, dass
es richtig ist, jetzt in die Vollen zu gehen und eine Verlängerung der Bezugszeit auf 36 Monate zu fordern, warum ist Ihnen dieser Gedanke dann nicht in den letzten
elf Jahren gekommen?
({1})
Ich finde das nicht sehr überzeugend. Es wirkt ein bisschen so, als sei das Ganze aus der Not geboren.
({2})
- Nein, Herr Brase. Sie wollen jetzt, am Ende einer
Krise - Gott sei Dank bewegen wir uns langsam auf das
Ende zu -, noch einmal so richtig in die Vollen gehen,
wo wir mittlerweile dosiert und abgewogen entschieden
haben, die Bezugszeit von 24 auf 18 Monate zu senken.
Auch bei der Beitragserstattung haben wir eine Regelung mit Augenmaß gefunden, im Sinne einer Exit-Strategie. Sie wollen aber mit dem groben Hammer noch
eins draufsetzen. Das macht aus unserer Sicht einfach
keinen Sinn.
({3})
Die Regelung, die die Koalition am letzten Freitag vereinbart hat und die wir morgen hier in erster Lesung behandeln wollen, wurde mit Augenmaß getroffen.
Ich bin froh, dass es Klarstellungen gegeben hat, zum
Beispiel bei der tariflichen Kurzarbeit. Frau Krellmann
hat das heute nicht angesprochen; vielleicht wird sie es
morgen früh in der Debatte tun. Aus unserer Sicht war
klar, dass es beim tariflichen Kurzarbeitergeld keine Tarifpolitik zulasten der Beitragszahler geben soll. Für uns
war wichtig, dass die Konzernklausel, die es in der bisherigen Regelung gab - § 421 t SGB III -, herausgenommen wurde. Man muss ehrlich sagen, dass das Tor
zur Kurzarbeit hier viel zu weit offen gewesen ist.
({4})
All das wurde jetzt mit Augenmaß angepasst. Wir
sind auf einem guten Weg und werden auch die weiteren
Monate der Krise mit dem Instrument der Kurzarbeit abwettern. Die Unternehmen haben ihre Segel im Sturm
der Wirtschafts- und Finanzkrise heruntergenommen.
Ich denke, wir werden am Ende der Krise erleben, dass
die Unternehmen ihre Segel wieder hochziehen und
Fahrt aufnehmen. Wir müssen nämlich immer bedenken:
Es kommt jetzt darauf an, darüber nachzudenken, wie
die konjunkturelle Erholung mit geeigneten Maßnahmen
nach vorn gebracht werden soll. Das wird mehr und
mehr auf die Agenda rücken.
Für heute ist damit genug gesagt. Herr Brase, wir
werden das Thema morgen früh sicherlich weiter diskutieren. Ich hoffe, dass Sie dann auch das Wort ergreifen.
Dann können wir uns an dieser Stelle austauschen. Ich
wünsche Ihnen jetzt - was wünsche ich Ihnen jetzt eigentlich? - einen schönen Abend und verabschiede mich
an dieser Stelle.
Bis morgen.
({5})
Herr Kollege Kolb, ich muss allerdings darauf hinweisen, dass es zum Erholen noch etwas zu früh ist.
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen - Konditionen für Kurzarbeit
verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1446, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/523 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes ({1})
- Drucksachen 17/718, 17/995 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 17/1219 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel,
Klaus Barthel, Claudia Bögel, Kathrin Senger-Schäfer
und Tabea Rößner.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1219, den Gesetz-
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/718
und 17/995 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/1455. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken und
Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstützen
- Drucksache 17/1403 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Klimaschutz und gerechten Handel mit
Lateinamerika und der Karibik voranbringen
- Drucksache 17/1419 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu debattieren. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({5})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wir beschäftigen uns heute mit dem anstehenden Gipfeltreffen EU-Lateinamerika-Karibik am 18. Mai 2010 in
Madrid. Dieses Gipfeltreffen findet unter dem Eindruck
der Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeitsbestrebungen in Lateinamerika statt. Damals begann der
Kampf um die Befreiung von Kolonialismus, Unterdrückung und Ausbeutung. Heute, 200 Jahre später, geht es
um die sogenannte zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas, die Unabhängigkeit von imperialer Einmischung,
von aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftsbeziehungen, und den Schuldendienst. Die Menschen in Lateinamerika erkämpfen sich ihre wirtschaftliche, soziale,
ökologische und kulturelle Souveränität.
({0})
Ein neues Selbstbewusstsein geht von diesem Kontinent aus, genauso wie viele alternative politische Ansätze, von denen wir lernen können, zum Beispiel neue
demokratische Verfassungen, die auch per Referendum
abgestimmt werden - im Gegensatz zur Europäischen
Union -, die also Menschen direkt an Politik beteiligen.
Es geht um solidarische Wirtschaftsbeziehungen und gegenseitige Unterstützung, um Verstaatlichung der natürlichen Ressourcen für Armutsbekämpfung - alles Facetten eines sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts.
In Bolivien zum Beispiel geht heute ein großer internationaler Klimagipfel der Völker mit mehr als 20 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt zu Ende.
Dort gibt es interessanterweise keine Straßenschlachten
mit der Polizei wie beim Umweltgipfel in Kopenhagen;
denn die sozialen Bewegungen und Umweltgruppen sind
Teil des Gipfels und nicht ausgesperrt wie in Kopenhagen. Sie können also ihre Ideen und ihre Kritik einbringen. Davon können wir konkret lernen.
({1})
Leider hat die Bundesregierung keine offizielle Vertretung zu diesem wichtigen Ereignis geschickt.
Was macht nun die Europäische Union angesichts
dieser Entwicklung in Lateinamerika? Anstatt diese Entwicklung zu stärken und zu unterstützen, versucht sie,
über neue Freihandelsabkommen - aktuell mit Kolumbien, Peru und Zentralamerika - ihre wirtschaftliche und
politische Dominanz in Lateinamerika auszubauen und
solidarische, alternative Politikansätze zu boykottieren.
Das alles ist in der sogenannten Global Europe Strategy
der EU-Kommission schriftlich festgehalten. Sie steht
für den weltweiten Ausbau der Macht europäischer
Konzerne. Dazu gehören auch diese neuen Freihandelsabkommen mit Lateinamerika. Es geht dabei um Marktöffnung und ungehinderten Zugang zu Energie und Rohstoffen. Es geht auch um Militärkooperation und den
Export zum Beispiel von Atomtechnologie. In diesem
aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer, aber nur
wenige Gewinner geben. So warnt zum Beispiel die kolumbianische Viehzüchterföderation - ich zitiere -:
… das geplante Freihandelsabkommen zerstört die
Produktion von Fleisch, Milch und deren Erzeugnisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und
bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen
Regionen und für 400 000 Familien den Ruin.
Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Umweltgruppen und fordert den Stopp dieser Freihandelsabkommen.
Stattdessen brauchen wir solidarische Handelsabkommen, die den Interessen der Bevölkerung Lateinamerikas
entsprechen und eine Entwicklung fördern, die Armutsbekämpfung, Klimaschutz, Sicherung sozialer Standards
- auch hier in Europa - und den Ausbau der Rechte von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich macht.
({2})
Für uns ist es ein weiterer Skandal, dass in Madrid ein
Handelsabkommen mit dem kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe unterzeichnet werden soll, in dessen
Amtszeit massive Menschenrechtsverletzungen vonseiten der kolumbianischen Armee begangen wurden, Hunderte von Gewerkschaftern getötet und viele Menschen
von ihrem Land vertrieben wurden. In unseren Augen ist
es völlig inakzeptabel, dass mit einem solchen Mann ein
Handelsabkommen unterzeichnet wird. Er gehört eigentlich vor den Internationalen Strafgerichtshof.
({3})
Die spanischen Bewegungen haben deswegen eine Initiative ins Leben gerufen, die Präsident Uribe in Madrid
als persona non grata - unerwünschte Person - erklärt.
Wir werden uns am alternativen Gegengipfel in Madrid
beteiligen. Er nennt sich „enlazando alternativas“ und
richtet sich gegen die Politik der EU.
({4})
Auf dem Gegengipfel wird für eine selbstbestimmte,
zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas gekämpft, die
den Menschen Hoffnung, Gerechtigkeit und Würde zurückgibt.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin Anette Hübinger.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! In Madrid
werden sich am 17. und 18. Mai dieses Jahres zum
sechsten Mal die Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas, der Karibik und Europas treffen, um sich über
die globalen Zukunftsfragen auszutauschen und gemeinsame Handlungswege zu erörtern. Diese Gipfeltreffen
beruhen auf langen, freundschaftlichen Beziehungen
zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik, die
vor mehr als zehn Jahren in eine strategische Partnerschaft zwischen diesen beiden Regionen mündeten. Die
gemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen wie Freiheit
und Chancengleichheit und unsere gemeinsame demokratische Überzeugung sind eine gute Grundlage für
diese vertiefte Zusammenarbeit, die auch Assoziierungsund Freihandelsabkommen vorsieht.
({0})
Das diesjährige Treffen in Madrid wird diese strategische Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. Das
Thema des Gipfels lautet: „Eine neue Phase der bi-regionalen Zusammenarbeit: Innovation und Technologie für
eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion“. Er
schließt an den Gipfel in Lima vor zwei Jahren an und
stellt sich gleichzeitig aktuellen Herausforderungen. Sowohl die aktuelle Situation als auch die zukünftige Entwicklung Haitis, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie
die Klimaverhandlungen stehen auf der Tagesordnung.
Die Staaten Lateinamerikas sind derzeit bei der Bewältigung der großen globalen Probleme unserer Zeit
wie Klimawandel und bezüglich der Nutzung der natürlichen Ressourcen für Europa ein wichtiger Gesprächsund Handelspartner. Vertreter Lateinamerikas sitzen in
jeder Verhandlungsrunde, in der es um diese entscheidenden Zukunftsthemen geht. Viele Staaten Lateinamerikas konnten in den letzten Jahren ein kräftiges Wirtschaftswachstum verzeichnen. Selbst die weltweite
Wirtschafts- und Finanzkrise hat keine der früher sehr
oft anfälligen Volkswirtschaften aus der Bahn geworfen.
Im Schnitt schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt
der lateinamerikanischen Staaten 2009 um 2,5 Prozent,
und für 2010 sagt der Internationale Währungsfonds ein
mittleres Wachstum von 3 Prozent voraus. Trotz oder gerade wegen dieser positiven wirtschaftlichen Entwicklungen wird die Bewältigung des wachsenden sozialen
Ungleichgewichts entscheidend für weiteres wirtschaftliches Wachstum sein. Die Bekämpfung der Armut
bleibt für die Demokratien in Lateinamerika ein Schlüsselfaktor.
Die EU und Deutschland wollen den Staaten Lateinamerikas und der Karibik bei der Bewältigung dieser
Aufgaben helfen. Dazu dienen neben den allgemeinen
Zollpräferenzen Freihandelsabkommen, wie sie nunmehr mit Peru und Kolumbien in Madrid zum Abschluss
gebracht werden sollen. Diese Freihandelsabkommen
bieten die Möglichkeit, Märkte in Europa zu erschließen,
durch die ein weiteres Wirtschaftswachstum generiert
werden kann. Der Zugang zu den europäischen Märkten
ist eine logische Konsequenz unserer Entwicklungszusammenarbeit. Denn was nutzt es, den ökologischen Anbau von Kakao und Kaffee zu unterstützen und den
Kleinbauern damit Hoffnung zu machen, wenn wir den
Absatz dieser fair gehandelten Produkte in Europa nicht
zu guten Bedingungen ermöglichen?
({1})
Diese Abkommen beinhalten die Verpflichtung zur Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie die Einhaltung von internationalen Standards hinsichtlich Umwelt und Arbeit. Das schließt die Gründung
von Gewerkschaften - sie sind abgesichert - ebenso wie
die Achtung indigener Rechte und die Einbindung der
indigenen Bevölkerung ein.
Wenn wir von Lateinamerika und der Karibik sprechen, dann sehen wir uns einer Vielzahl von Staaten und
Völkern gegenüber, die in ihrer Ausprägung, ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich ihrer politischen Vorstellungen kaum unterschiedlicher sein
könnten. Daher gestalten sich Verhandlungen über Assoziierungsabkommen zwischen regionalen lateinamerikanischen Zusammenschlüssen wie dem Mercosur, der
Andengemeinschaft oder Zentralamerika und der EU als
äußerst langwierig und oft schwierig. Während die Assoziierungsverhandlungen zwischen Zentralamerika und
der EU fortgesetzt werden, haben Bolivien und Ecuador
als Staaten der Andengemeinschaft die Verhandlungen
über ein Freihandelsabkommen abgebrochen. Mit Kolumbien und Peru wurde weiterverhandelt, weil der peruanische Präsident García zu Recht darauf verwies,
„mit denen zu beginnen, die es auch ernsthaft wollen“.
Lateinamerika birgt eine der größten biologischen
Schatzkammern der Welt, die durch kurzfristige Interessen leider höchst gefährdet ist. Deshalb wird der Klimaund Ressourcenschutz ebenso wie die Zusammenarbeit
im Innovations- und Technologiebereich auf der Agenda
in Madrid stehen. So sind sowohl die Entwicklung und
die breite Anwendung von Technologien im Bereich erneuerbarer Energien als auch die Energieeffizienz
Schlüsselfaktoren, um den Klimawandel einzudämmen,
den steigenden Energiebedarf zu decken, aber auch um
zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger
Entwicklung zu gelangen. Dies erfordert eine verstärkte
und umfangreiche Technologiekooperation zwischen
Lateinamerika und Europa. Am 29. und 30. April wird
ein EU-Lateinamerika-Karibik-Forum zur Energiepolitik in Berlin stattfinden, das nicht nur den Gipfel in Madrid vorbereitet soll, sondern das auch der Vorbereitung
der Weltklimakonferenz in Cancún dient.
Insbesondere Brasilien als neuntgrößte Volkswirtschaft mit einem Bruttoinlandsprodukt, das über dem
von China und Indien liegt, kommt dabei eine zunehmend bedeutende Rolle zu, und zwar sowohl als Impulsgeber in Lateinamerika selbst als auch aufgrund der
Übernahme internationaler Verantwortung in wichtigen
Politikbereichen. Mit den kürzlich entdeckten Erdölund Erdgasvorkommen könnte Brasilien zu einem sehr
wichtigen internationalen Energielieferanten aufsteigen.
So wird es 2010 und 2011im Rahmen des Deutsch-Brasilianischen Jahres der Wissenschaft, Technologie und
Innovation zahlreiche Veranstaltungen und Begegnungen zwischen Wissenschaftlern und Forschern sowohl
auf deutscher als auch auf brasilianischer Seite geben,
die die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Wissenschaft vertiefen und ausbauen werden. Das ist gelebte
Partnerschaft; denn nur eine gemeinsame Forschung
wird uns bei der Beantwortung globaler Fragen weiterbringen.
({2})
Nun zu den Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke. Sehr geehrte Damen und Herren
von der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit,
dass Sie sich eingestehen, dass die Politik, die Sie mit
diesem Antrag wieder verfolgen und in anderen Staaten
unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt.
({3})
Sie gaukeln in Ihrem Antrag wieder einmal vor, Lateinamerika und die Karibik sprächen mit einer Stimme, verweigerten sich den Freihandelszielen der EU und wiesen
- ich zitiere - „die Vorstellung von einem europäischen
Vorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zurück“. Die Abkommen mit Mexiko, Chile, Brasilien,
demnächst mit Peru und Kolumbien und die Verhandlungen mit Zentralamerika beweisen das Gegenteil. Die EU
oktroyiert ihren Partnern auch nichts auf. Jeder ist frei,
Abkommen zu schließen oder nicht. Dies ist am Beispiel
von Bolivien und Ecuador leicht zu erkennen. Aber gewollte Partnerschaften dürfen nicht an gegenteiligen
Auffassungen Einzelner scheitern. Das Selbstbestimmungsrecht der lateinamerikanischen Staaten, das Sie
richtigerweise immer wieder betonen, beinhaltet das
Recht, Beziehungen - auch im militärischen Bereich zu den USA zu unterhalten.
Dass die Hilfseinsätze der Vereinigten Staaten, die
Entsendung einer Gendarmeriemission der EU und die
Aufstockung der UN-Mission MINUSTAH in Ihrem
Antrag als sicherheitspolitische und militärische Instrumentalisierung bezeichnet werden, ist abwegig. Ebenso
abwegig ist, die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Lage der politischen Häftlinge und der Gefangen aus Gesinnungsgründen in Kuba vom 11. März dieses Jahres als einen aggressiven Akt gegen Kuba zu
bezeichnen. Diese Beispiele zeigen, durch welche Brille
Sie die Welt betrachten: eine Brille, die Elend, Not und
Herabsetzung ausfiltert.
({4})
Daher lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab.
Ebenso lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ab. Dieser Antrag enthält zwar viele gute Ansätze, insbesondere bei den Themen Klima, Umwelt,
Energie und Menschenrechte, die wir ähnlich sehen. Jedoch werden Forderungen erhoben, die die Aufhebung
der Hermesbürgschaft für den Export deutscher Atomtechnologie und den Weiterbau von Angra 3 in Brasilien
betreffen, worüber in Deutschland schon längst entschieden wurde und was unseres Erachtens auf europäischer
Ebene nicht geändert werden sollte, da jeder Staat souverän über seine Energieversorgung entscheiden kann.
({5})
Dem Gipfel in Madrid wünsche ich eine rege politische Diskussion mit dem Ergebnis einer engen und tiefen Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika
und der Karibik und gute Fortschritte bei den globalen
Fragen unserer Zeit.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dass ein EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel stattfindet
- und das bereits zum sechsten Mal -, ist an sich schon
etwas Besonderes. Es gibt weit und breit keine vergleichbare Einrichtung, die die Europäische Union mit
einer ganzen Großregion eines anderen Kontinents zusammenbringt. Allein das ist aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion nicht nur ein einmaliger, sondern auch ein
vorbildlicher Ansatz in der internationalen Politik. Deswegen ist es gut, dass wir uns hier im Bundestag schon
im Vorfeld damit befassen. Ich finde es schade, dass die
Bundesregierung nicht von sich aus darlegt, wie sie sich
auf dieses Ereignis vorbereitet und mit welchen Vorstellungen und Initiativen sie nach Madrid reist.
({0})
Das ist umso bedauerlicher, als der Bundesaußenminister immer wieder sein besonderes strategisches Interesse an Lateinamerika bekundet hat. Uns hätte jenseits des inflationären Großsprechs, den er gerne pflegt,
interessiert, welche Grundzüge eine solche Strategie hat.
Uns hätte insbesondere interessiert, ob die Bundesregierung weiterhin der Meinung ist, dass unsere Außenpolitik im Wesentlichen Außenhandelspolitik ist. Dieser Eindruck hat sich gerade im Zuge der Reise des
Bundesaußenministers nach Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien deutlich verfestigt. Die Delegation,
die er dorthin mitgenommen hat, und die ganzen Begleitumstände waren im Grunde eine Karikatur von Außenpolitik. Die Grenzen von Außenpolitik, Außenhandelspolitik, puren Verkaufsveranstaltungen und
persönlichen Interessen einiger Delegationsmitglieder
wurden hoffnungslos vermischt.
({1})
- Das wurde von niemandem bestritten. Die Reden, die
er dort gehalten hat, kann man nachlesen. Sie widersprechen diesem Eindruck nicht, sondern untermauern ihn.
({2})
Wir sagen: Wer Lateinamerika oder andere Regionen
der Welt nur als Absatzmarkt für den deutschen Handels- und Leistungsbilanzüberschuss betrachtet, der hat
weder die Ursachen der Wirtschaftskrise - sie haben gerade mit dieser Art von Standortpolitik und den daraus
entstehenden Ungleichgewichten zu tun - noch die Ziele
einer gleichberechtigten Partnerschaft als Grundlage jeder internationalen Politik verstanden.
({3})
Wer wie Herr Westerwelle in seinen Reden Brasilien und
andere Länder zu Rohstofflieferanten - auch Frau
Hübinger konnte sich das Wort „Schatzkammer“ nicht
verkneifen - degradieren will und wer wie diese Bundesregierung schamlos Sonderinteressen gewisser Konzerne
bedient, die dort Großstaudämme und Atomkraftwerke
bauen wollen,
({4})
der hat jeden Anspruch verloren, von Partnerschaft, der
Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, vernünftiger Energiepolitik und einer breiten politischen Gesamtstrategie zu reden.
({5})
Uns ist der Ansatz des Antrags der Grünen, etwa in
den Punkten 2 bis 15, wesentlich sympathischer. Dort
werden die Klimaziele betont und dem Export und dem
Ausbau der Kernenergie eine Absage erteilt. Auch viele
weitere Punkte dieses Antrags können wir unterschreiben. Aber der Antrag der Grünen hat eine entscheidende
Schwäche, genauso wie der Antrag der Linken: Er verliert sich in 34 Einzelpunkten, in Details.
({6})
Bei den Linken sind es - durchnummeriert - ungefähr
genauso viele. Früher gab es Zettelkästen. Heute gibt es
digitale Nachschlagewerke, die Sie offenbar nach dem
Motto „Jetzt schauen wir einmal, was wir alles zum
Stichwort Lateinamerika finden“ genutzt haben: Haiti,
Kuba, Honduras, Venezuela, Freihandelsabkommen,
ALBA und Mercosur, indigene Bevölkerung, Vereinte
Nationen, Nachhaltigkeit, Doha, Menschenrechte usw.
({7})
Das alles ist richtig und wichtig. Bei den Linken ist der
Zettelkasten natürlich noch mit der reflexartigen GutBöse-Semantik eines ziemlich aufgesetzten Antikolonialismus versehen.
({8})
Man kann diese Sichtweisen, diese Sympathien und Antipathien durchaus teilen und zu bestimmten Einschätzungen und Schlussfolgerungen kommen. Aber - das
gilt in Teilen auch für den Duktus der Grünen - man
kann nicht von Selbstbestimmung der Menschen in Lateinamerika und von Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe reden und gleichzeitig Zensuren geben und Ratschläge erteilen, die letztlich wieder in Bevormundung
münden.
Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen nicht ständig
mit Vorbedingungen und Vorhaltungen Gespräche und
Verhandlungen führen. Gerade dann, wenn man nicht
schon im Vorfeld Blockaden aufbaut, kann man konsequent für Menschenrechte, für Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte und gegen Gewalt eintreten und dabei auch
Erfolg haben. Im Übrigen habe ich es satt, dass man immer mit zweierlei Maß misst, je nach Macht und Größe
des Gegenübers und je nach eigener Interessenlage. Damit meine ich auch die Haltung der Grünen gegenüber
Kuba; diesen Punkt kann man nachlesen. Die entscheidende Kritik an beiden Anträgen ist, dass sie keine Alternativen zur Regierungspolitik darstellen. Wenn
Westerwelle sagt: „Außenhandel und nochmals Außenhandel, alles andere ist nachrangig“, dann kann die Antwort darauf keine Spiegelstrichorgie sein, mit der Folge,
dass man den Regelwald vor lauter Bäumen und Regentropfen nicht mehr sieht, so wichtig der einzelne Baum
auch sein mag. Wenn wir über den Dialog zweier großer
Weltregionen sprechen, dann kann man keine Liste einzelstaatlicher Probleme aufstellen. Ich möchte einmal
sehen, wie Sie von den Linken und den Grünen auf einer
solchen Konferenz, die zwei Tage dauert, all diese Kataloge abarbeiten wollen.
({9})
Ein solcher Ansatz ist von vornherein zum Scheitern
verurteilt.
({10})
Worum geht es auf diesem Gipfel im Jahr 2010? Wir
sind nicht im Jahr eins nach der Wirtschaftskrise, sondern noch mitten in dieser Krise. Wir müssen uns mit unseren Partnern darüber verständigen, welches die Ursachen dieser Krise sind, wie wir sie gemeinsam
bekämpfen und was wir mit Blick auf die G 20 und die
internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank tun
wollen, zum Beispiel hinsichtlich der Finanzmärkte oder
des Schutzes der Rohstoffmärkte vor Spekulation zulasten von Erzeugern und Verbrauchern.
Wir müssen über Klima und Energie sprechen. Beide
Seiten können und müssen eine zentrale Rolle spielen.
Wir müssen die Probleme und Strukturen herausarbeiten, bei denen Europa wie Lateinamerika besondere Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten haben. Ich
nenne hier zum Beispiel den Drogenhandel, der in Lateinamerika ganze Staaten gefährdet und auch in Europa
seine gefährlichen Entsprechungen - Stichwort „Mafia“ findet.
Wir haben wie keine andere Konstellation die große
Chance, zwischen der EU sowie Lateinamerika und der
Karibik eine Debatte über eine soziale und ökologische
Wirtschaft voranzutreiben. Wir können nicht nur debattieren. Es gibt tatsächlich die Chance, Alternativen zu
realisieren, gerade wenn es um den Zusammenhang von
Verteilung, Wachstum, Beschäftigung, Modernisierung
und Nachhaltigkeit geht. Diese vielbeschworenen Gemeinsamkeiten können den Weg weisen. Auf eine Diskussion, die sich zielgerichtet auf das Wesentliche konzentriert, würden wir uns freuen. Die beiden Anträge,
die uns vorliegen, können dazu einen Beitrag leisten,
nicht mehr, aber auch nicht weniger.
({11})
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Marina
Schuster das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Kollege Barthel, ich muss mich über Ihre
Ausführungen schon sehr wundern. Sie holzen hier. In
der Sache selbst nehmen Sie zu den einzelnen Punkten
aber gar nicht Stellung. Sie kritisieren eine Reise, bei der
Sie gar nicht dabei waren. Ich war bei der Lateinamerika-Reise von Außenminister Westerwelle dabei. Ich
finde, es hätte zur politischen Fairness gehört, sich zu erkundigen - Sie hätten sich mit Ihrem Kollegen Klaus
Brandner unterhalten können; er war bei dieser Reise dabei und hat von wesentlichen Punkten berichtet -, bevor
Sie hier Anschuldigungen erheben.
Wenn Sie uns vorwerfen, wir ließen Lateinamerika
außer Acht, dann lassen Sie uns einmal in das Jahr 1999
zurückgehen. In diesem Jahr wurde die strategische Partnerschaft zwischen der EU und Lateinamerika ins Leben
gerufen. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was hat die
SPD getan, um diese Partnerschaft mit Leben zu erfüllen?
({0})
Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass wir ressortübergreifend eine neue Lateinamerika-Politik ins Leben rufen werden, weil Lateinamerika in der Vergangenheit links liegen gelassen wurde. Wie Sie sich in dieser
Debatte eingelassen haben, ist ein starkes Stück.
({1})
Wir konnten bei dieser Reise erkennen, dass bei den
Gesprächspartnern in den Ländern, die wir besucht haben, großes Interesse besteht, mit der EU enger zusammenzuarbeiten. Es liegt im wohlverstandenen europäischen Interesse, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Europa und Lateinamerika haben ein gemeinsames Wertefundament. Das ist eine gute Basis für Kooperation.
Ich bin der Kollegin Hübinger sehr dankbar, dass sie
zum Beispiel das Deutsch-Brasilianische Jahr der Wissenschaft erwähnt hat. Wir haben auf dieser Reise unter
anderem die größte deutsche Auslandsschule besucht.
Dabei konnten wir uns davon überzeugen, dass sich
deutsche Schulen großer Beliebtheit erfreuen und
Deutschland in der Region großes Ansehen genießt. Der
Wunsch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, ist weit
verbreitet. Das können wir nur unterstützen. Es muss
deshalb bei dem EU-Lateinamerika-Gipfel darum gehen,
konkrete Erfolge zustande zu bringen. Das unglaubliche
Potenzial, das eine Zusammenarbeit der EU mit Lateinamerika hat, ist viel zu lange vernachlässigt worden. Ich
bin froh, dass es uns - Dirk Niebel und Staatsministerin
Conny Pieper sind hier - gelungen ist, die Kehrtwende
zu schaffen und Lateinamerika endlich den Stellenwert
zu geben, den es verdient.
({2})
Zu einem Lateinamerika-Konzept gehören natürlich
Wirtschafts- und Handelsthemen. Die anstehenden Handelsabkommen sind angesprochen worden. Aber natürlich geht es auch um Fragen der Nichtverbreitung von
Nuklearmaterial und um die Bekämpfung von Drogenhandel und Kriminalität sowie um Fortschritte bei der
Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen und bei der
kulturellen Zusammenarbeit. Es ist richtig: Es hat beim
Mercosur interne Probleme gegeben, die dazu geführt
haben, dass die Kooperation zwischen den Ländern nicht
vorankam. Ich bin allerdings hoffnungsfroh, dass der
Streit durch den Schiedsspruch des IGH beigelegt werden konnte. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungen
mit dem Mercosur zügig zu einem Abschluss kommen.
Der Bundesaußenminister hat bei seiner Lateinamerika-Reise deutlich gemacht - ich glaube, dieser Ansatz
ist ganz wichtig -, dass wir die Länder Lateinamerikas
als gleichberechtigte Partner wahrnehmen und sie unterstützen sollen, international - etwa bei den Vereinten
Nationen oder bei den G 20 - mehr Verantwortung zu
übernehmen, wie im Fall Brasilien.
({3})
Es muss eben auch klargemacht werden: Man wünscht
sich eine engere Kooperation innerhalb der Weltwirtschaft, den Abschluss der Doha-Runde, aber auch Freihandels- und Assoziierungsabkommen.
Jetzt komme ich noch kurz zu den Anträgen.
In dem Antrag der Grünen stehen einige Forderungen
zur Umwelt- und Klimapolitik. Was mich sehr gewundert hat, ist, dass Sie zwar sehr ausführlich zur Atomkraft und zu Atomkraftwerken Stellung nehmen, ich in
dem Antrag aber keinen einzigen Satz dazu finde, wie
Sie sich zu den vielen Staudammprojekten verhalten, die
Lula plant, nämlich unter anderem das Projekt Belo
Monte. Ich hoffe, dass Herr Hoppe, der ja nach mir das
Wort hat, dazu Stellung nimmt.
({4})
Zum Antrag der Linken. Zu der Rede ist nicht viel zu
sagen; denn Sie haben die üblichen Ressentiments gegen
die USA bedient.
({5})
Ich finde es unglaublich, dass Sie dem Westen und den
USA in Ihrem Antrag eine militärische Besetzung Haitis
unterstellen. Glauben Sie denn wirklich, dass der Aufbau
nach einer solchen Naturkatastrophe mit gutem Zureden
funktioniert?
({6})
Ich finde in Ihrem Antrag auch kein Wort zu Menschenrechtsverletzungen in Kuba und zu Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit unter Chávez. Hier
kann ich nur meiner Kollegin Hübinger recht geben:
Dort sind Sie auf einem Auge blind.
Ich kann für die FDP-Fraktion nur sagen: Wir sehen
die Zusammenarbeit mit Lateinamerika als große
Chance an. Wir wünschen uns eine enge Kooperation,
von der beide Seiten profitieren, und ich freue mich auf
die Politik unserer Bundesregierung; denn sie wird der
Region endlich die Bedeutung geben, die sie verdient.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thilo
Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Kollegin Schuster, Sie haben mich gerade angesprochen und uns vorgeworfen, dass in unserem Antrag
etwas fehlt. Ich kann das gerne nachliefern und sagen,
dass wir die brasilianischen Megastaudammprojekte
sehr kritisch sehen.
Hier wird aber ein Dilemma deutlich: Der Kollege
Barthel sagt, wir hätten hier eine Spiegelstrichorgie
durchgeführt und es seien viel zu viele Forderungen in
unserem Antrag. Er selber hat dann aber noch andere
Forderungen nachgeliefert. Wir hatten zum Beispiel
nichts zur Drogenbekämpfung gesagt. Das ist ja nun
wirklich ein Dilemma.
Wir könnten unseren Antrag spielend noch um sehr
viele andere Punkte ergänzen, die wichtig wären. Ich
finde es aber mit Verlaub gesagt auch ein bisschen seltsam, keinen eigenen Antrag vorzulegen und den Linken
und den Grünen vorzuwerfen, sie würden zu viele Forderungen stellen. Das geht nun auch nicht.
({0})
Nun aber zurück zum EU-Lateinamerika-Gipfel. Es
gibt mittlerweile alle zwei Jahre ein solches Gipfeltreffen. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, versammeln sich und beschwören die gemeinsamen Werte.
Sie verabschieden eine Schlusserklärung, in der meistens leider nicht viel steht, und dann gibt es noch das Familienfoto. Ein Ritual! Ich hoffe, dass sich das in Madrid
nicht wiederholen wird; denn es gibt ja wirklich große
Herausforderungen. Einige Kolleginnen und Kollegen
haben sie beschrieben.
Man könnte die vielbeschworene strategische Partnerschaft doch endlich mit Leben füllen, beispielsweise
mit gemeinsamen Initiativen für den Klimaschutz. Mexiko und Brasilien haben hierfür doch interessante Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es gilt jetzt, diese aufzugreifen. Was macht aber die Bundesregierung? Sie
verhandelt ernsthaft über Hermesbürgschaften für neue
Atomkraftwerke.
({1})
Was machen die Niederländer? Sie planen in Eemshaven
eines der größten Kohlekraftwerke der Welt, das mit
Kohle aus Kolumbien befeuert werden soll.
Hat Europa die Zeichen der Zeit denn noch immer
nicht erkannt? Setzt Europa denn noch immer auf eine
verfehlte, risikoreiche und umweltschädliche Energiepolitik?
({2})
Wir fordern mit unserem Antrag, endlich neue Wege
zu gehen. Vamos adelante! Geht gemeinsam vorwärts,
vorwärts mit einem ehrgeizigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Hier liegt die Zukunft.
({3})
Neue Wege sind auch in der Handelspolitik notwendig. Die spanische Ratspräsidentschaft hat unglaublich
Druck gemacht, und mit heißer Nadel wurden Freihandels- und Assoziierungsabkommen gestrickt, die alle
dann in Madrid feierlich unterzeichnet werden sollen.
Wenn man sich die aktuellen Versionen zum Beispiel
des Abkommens mit Peru und Kolumbien oder mit Zentralamerika ansieht, dann fällt auf, dass die Europäische
Union immer noch auf den Dreiklang Deregulierung,
Privatisierung, Liberalisierung setzt, als ob es nie eine
große Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte.
({4})
Soziologische und ökologische Aspekte und Menschenrechtskriterien fallen allesamt hinten runter
({5})
oder sind bestenfalls noch in unverbindlichen Präambeln
zu finden; es gibt keine Sanktionsmechanismen.
Wie sehr die Exportinteressen alles dominieren, sieht
man daran, dass man sich nicht davor scheut, wieder mit
Honduras zu verhandeln. Der Kollege Klaus Riegert und
ich sind gemeinsam in Honduras gewesen und haben mit
dem weggeputschten Präsidenten Zelaya und dem wie
auch immer neu gewählten Präsidenten Pepe Lobo gesprochen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich
plädiere nicht dafür, die neue Regierung total zu boykottieren. Aber bevor man die Entwicklungszusammenarbeit wieder startet und bevor man die neue Regierung als
Verhandlungspartner akzeptiert, hätte man darauf bestehen müssen, dass sie tatsächlich zu einer Verbesserung
der Lage beitragen und ihre Versprechen einhalten. Leider ist das Gegenteil passiert. Deshalb hätte man sie
nicht so schnell als Verhandlungspartner akzeptieren
dürfen.
({6})
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der selbstverständlich das Große und Ganze umfasst und der zum Beispiel
auch die Empfehlungen der Stiglitz-Kommission, in der
Frau Wieczorek-Zeul mitgearbeitet hat, mit nach vorne
bringen will.
({7})
- Nein, es sind nicht nur kleine Spiegelstriche. Die Kritik geht ins Leere, Herr Barthel. Wir sollten keine Piesepampelei betreiben. Nennen Sie mir einen Punkt, mit
dem Sie nicht zufrieden sind, und geben Sie sich einen
Ruck, diesem Antrag zuzustimmen, statt leere Rhetorik
zu bringen!
({8})
Ich wollte noch etwas ansprechen, das auch nicht
stimmt. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen,
egal in welchem Land sie geschehen, ob in Kolumbien
oder auf Kuba. In dem Punkt unterscheiden wir uns von
dem Antrag der Linken, den wir in vielen Passagen unterstützen können. Aber an einigen Stellen ist erkennbar,
dass die ideologische Zerrbrille aufgesetzt worden ist,
mit der man dann über Menschenrechtsverletzungen auf
Kuba hinwegsieht. Wenn man das nachbessern würde,
dann könnte man zusammenkommen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Pardon, ich komme zum letzten Satz. - Wir haben einen Antrag vorgelegt, der auf eine nachhaltige und wirklich ökologische und soziale Entwicklung setzt, der die
Menschen in den Mittelpunkt rückt und zeigt, dass wir
nicht auf dem einen oder anderen Auge blind sind.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1403 und 17/1419 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
- Drucksachen 17/719, 17/996 3598
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0})
- Drucksache 17/1257 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Elvira Drobinski-Weiß
Karin Binder
Ulrike Höfken
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Elvira Drobinski-Weiß, Erik
Schweickert, Karin Binder, Ulrike Höfken und die Parla-
mentarische Staatssekretärin Julia Klöckner.1)
Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1257, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/719 und 17/996 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ist
jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1456. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
und Gegenstimmen der Fraktion Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Markus Kurth, Birgitt Bender, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Antidiskriminierungspolitik un-
terstützen - 5. Gleichbehandlungsrichtlinie
der EU nicht länger blockieren
- Drucksache 17/1202 -
1) Anlage 4
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Norbert
Geis, Markus Grübel, Christel Humme, Florian
Bernschneider, Dr. Ilja Seifert und Jerzy Montag.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend liegen soll. - Damit sind Sie einverstanden, wie
ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“
- Drucksache 17/1400 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Strobl
({4}), Dorothee Bär, Dr. Angelica Schwall-Düren,
Patrick Kurth ({5}), Dr. Lukrezia Jochimsen und
Claudia Roth ({6}).
In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-
sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
ber 2006 wurde die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.
Die bisherige Stiftungsarbeit hat gezeigt, dass die
Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungs-
spektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine
2) Anlage 5
Thomas Strobl ({0})
Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stiftungsrat angezeigt erscheinen lassen. Die zentrale Neuerung des Gesetzentwurfs ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legislative, statt sie wie bisher der
Exekutive anheimzustellen. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich und objektiviert den Berufungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener
Gruppen, wie etwa die Kirchen und den Zentralrat der
Juden, bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten
Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja,
gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung.“
Dagegen übrigens zu polemisieren, wie es etwa die
Linke tut, ist entlarvend und bestätigt die Probleme, die
man in ihren Reihen mit dem Objektivitätsgebot und
Wahrhaftigkeitspostulat offensichtlich hat. Geradezu
unverschämt aber ist die Behauptung, diese Probleme
lägen im Gegenteil bei uns, und wir wollten Geschichtsverfälschungen vornehmen, indem wir mehr Sitze für
den Vertriebenenverband forderten, nämlich sechs von
den insgesamt 21 Plätzen. Dass aus linker Sicht offensichtlich in einem Stiftungsrat für Vertreibung ausgerechnet die Betroffenen nicht angemessen, also mit wenigstens einem knappen Drittel, vertreten sein sollen, ist
schon bizarr. Es ist typischer Ausdruck ideologischen
Scheuklappendenkens. Die Linke verdreht mit ihrer Kritik am DHM-Konzept bewusst Ursache und Wirkung;
denn eher die bisherige Unterrepräsentanz der Vertriebenen stand einer objektiven Geschichtsbetrachtung im
Weg, keinesfalls deren nun angestrebte Korrektur. Mit
ihrer Fundamentalkritik beweist die Linke einmal mehr,
dass ihr im politischen Tageskampf jede Faktenverbiegung recht ist, wenn sie davon zu profitieren glaubt. Das
aber lassen wir ihr nicht durchgehen.
Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist ausgewogen, die verschiedensten Gruppierungen und Belange werden berücksichtigt, und alle Chancen sind gegeben, von der Vergangenheit ein im höchsten Maße
objektives Bild für die Nachwelt zu entwerfen. Und nur
dann können wir aus der Geschichte lernen, wenn bei
ihrer Darstellung Objektivität waltet. Historiker, so
heißt es, sind mächtiger als Götter. Sie können sogar die
Vergangenheit verändern. Mit diesem hintersinnig-ironischen Urteil, das von Geschichtsprofessoren stammt,
wird auf das Problem der Ausdeutbarkeit vergangener
Ereignisse verwiesen. Dass dabei unter Umständen historische Wahrhaftigkeit zu kurz kommt und „erkenntnisleitende Interessen“ des Betrachters eine verfälschende
Rolle bei der Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge spielen können, erlebt man leider allzu oft. Und
angesichts des Eifers, mit dem sich momentan die extremistische Linke anschickt, in der Debatte um die Novelle
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches
Historisches Museum“ die Wortführerschaft an sich zu
reißen, liegt der Verdacht nahe, dass hier „erkenntnisleitende Links-Interessen“ im Spiel sind. Hier soll offenbar eine Deutungshoheit über eine wichtige Frage deutscher Geschichte angestrebt werden, die den Linken
einfach nicht zukommt, deren historische „Wahrhaftigkeit“ nachgewiesenermaßen selbst in eigener Sache
mehr als fragwürdig ist. Denn man braucht ja kaum daran zu erinnern, dass die Linke oft genug Fakten beliebig verändert, geschichtliche Dokumente manipuliert
hat, wann immer es ihr in den Kram passte. Wer kennt
nicht die berühmten historischen Fotografien von kommunistischen Parteitagen, auf denen unliebsam gewordene Parteigenossen, die ursprünglich abgebildet waren, nachträglich fürs Geschichtsbuch wegretuschiert
wurden, weil sie plötzlich unerwünscht waren und aus
der Erinnerung getilgt werden sollten? Wahrheit ist für
Kommunisten stets veränderlich, situationsbezogen und
nur in einer Hinsicht „fest“: als beliebte Worthülse für
Propagandazwecke.
Nicht zuletzt deshalb hieß ja auch die Staatszeitung
der Sowjetunion Prawda, also „Wahrheit“, obwohl sie
selten Wahres enthielt, das Volk in politischen Dingen
systematisch belog und sogar den Wetterbericht
fälschte. Man kann so weit gehen und sagen: Je mehr die
Kommunisten von Wahrheit sprechen, desto sicherer
kann man sein, dass nun garantiert eine Lüge folgt. Wie
etwa bei Ulbrichts berüchtigtem „Versprechen“ vom
Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu
bauen.“ Und ausgerechnet die Nachfolger der so gestrickten DDR-Kommunisten wollen nun beurteilen, was
historische Wahrheit in der Vertriebenenproblematik
ist? Das erscheint fast als Witz, und man könnte darüber
lachen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Deshalb
stelle ich hier in aller Ernsthaftigkeit klar: Für mich und
für alle Demokraten ist die historische Wahrheit etwas
Absolutes und nicht verhandelbar. Auch auf dem Gebiet
der Geschichte fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion dem
strikten Objektivitätsgebot liberal-pluralistischer Provenienz verpflichtet. Mit Karl Popper sind wir der Meinung, dass die Wahrheit nur bei einem fairen Wettbewerb der Meinungen darstellbar ist und keine einzelne
Partei sich anmaßen darf, zu glauben, die Wahrheit von
vornherein zu kennen, ja, sie für sich gepachtet zu haben.
Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
stand in den letzten Monaten medial oftmals in der Kritik. Inhaltlich wurde vor allem die mangelnde Ausgewogenheit bei der Zusammensetzung des wissenschaftlichen Beirats kritisiert. Nachdem wir deshalb im März
drei bedauerliche Austritte aus dem wissenschaftlichen
Beirat zu vermelden hatten, nehmen wir diese Kritik
dankbar auf und beraten heute eine Novellierung des
DHM-Gesetzes. Vorab möchte ich jedoch nicht versäumen, Folgendes anzumerken: Etwas zu voreilig, aber
doch stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, erfolgt in Momenten, in denen Stiftungen oder ähnliche Einrichtungen, die aufgrund politischer Entscheidungen eingesetzt wurden, ins Kreuzfeuer der Kritik
geraten, der Fingerzeig auf diejenigen, die es - auf gut
Deutsch - verbockt haben: die Politiker. Im aktuellen
Fall ist die Entscheidung, wer in den wissenschaftlichen
Beraterkreis berufen wird, aber nicht Sache des Kulturstaatsministers gewesen, sondern Sache des StiftungsraZu Protokoll gegebene Reden
tes. Nun müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Stiftung ihre bedeutende Arbeit auf einem sicheren
Fundament fortführen kann, und daher bitte ich Sie
heute um konstruktive Zusammenarbeit zur Novellierung des DHM-Gesetzes. Diese Novellierung ist rein organisatorischer und nicht inhaltlicher Natur. Um die
Qualität der Arbeit der Stiftung zu garantieren, wird
eine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Stiftungsrates und des wissenschaftlichen Beirates vorgeschlagen.
Auch wenn wir als Deutsche beim Thema Vertreibung
ganz besondere Verantwortung tragen, ist es trotzdem
kein rein deutsches Thema. Die Stiftung trägt das Wort
im Titel: Versöhnung. Und so muss unser gemeinsames
Ziel lauten. Um es zu erreichen, ist gerade die Einbindung der Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung.
Daher halte ich es für richtig, die Stiftung personell
möglichst breit aufzustellen und mit Experten zu besetzen, die aus möglichst unterschiedlichen Ländern und
Kontexten kommen, sodass die gesamte Vielfalt des Betrachtungsgegenstandes aufgegriffen und bearbeitet
werden kann. Darüber hinaus muss es uns ein Anliegen
sein, dass sich möglichst viele Gruppen und Länder eingebunden und zur Mitarbeit aufgerufen fühlen. Die Ausgestaltung der weiteren Arbeit der Stiftung ist eine große
Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die Gestaltung
der Formalien auf den Weg zu bringen, sodass diese Arbeit mit neuer Motivation aufgenommen werden kann.
Ein Mitglied des Stiftungsbeirates hat vor kurzem den
Wunsch nach einem Neustart der Stiftungsarbeit in einem konstruktiven Klima geäußert. Diesem Wunsch
schließe ich mich gerne an und bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass auch wir in einem ergebnisorientierten Geiste unseren Teil dazu beitragen.
Bei dem vorliegenden Entwurf zur Gesetzesänderung
ist vor allem das Vorspiel der Skandal. Erika Steinbach
hat es geschafft, die Regierungskoalition zu erpressen.
Sie ist nur bereit, auf einen Sitz im Stiftungsrat zu verzichten, wenn bestimmte Bedingungen ihres Verbandes
erfüllt werden. Union und FDP haben mit Erika
Steinbach als Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen
verhandelt, als sei der BdV eine Bundestagsfraktion.
Dabei geht es hier doch um eine öffentlich-rechtliche
Stiftung und nicht um eine Institution des BdV.
Hinzu kommt noch, dass der BdV bereits in den Gremien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
gut vertreten ist. Die bisherige Präsenz von Wegbegleitern Erika Steinbachs über das Zentrum gegen Vertreibungen im wissenschaftlichen Beirat hat unter Wissenschaftlern bereits zu erheblichen Irritationen geführt. So
haben sich der polnische Historiker Tomasz Szarota und
die tschechische Historikerin Kristina Kaiserová bereits
zurückgezogen. Der Zentralrat der Juden ist ebenfalls
höchst alarmiert.
Selbstverständlich müssen Vertriebenenvertreter in
den Gremien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ vertreten sein. Wir brauchen sie und ihre Erfahrungen, ihre Fragen, ihre Anregungen. Der BdV aber
sollte dazu beitragen, dass das ihm entgegengebrachte
Misstrauen abgebaut wird. Dies entstand aus verschiedenen Gründen. Ich nenne hier nur die unklaren Mitgliederzahlen sowie die NS-Verstrickung von früheren BdVFunktionären. In der Machbarkeitsstudie zur Aufarbeitung dieses Kapitels wird offensichtlich der Versuch einer Bagatellisierung der NS-Verstrickung von BdVFunktionären unternommen. Pikant ist diese Geschichte
zudem, da der Direktor der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, Herr Professor Kittel, beim IfZ
diese Studie koordiniert hat. Die Geschichte des BdV
muss aufgeklärt werden; sonst verlieren nicht nur seine
Funktionäre, sondern auch die Stiftung noch mehr an
Glaubwürdigkeit. Wenn schon jetzt eine Dominanz des
BdV zu Irritationen führt, wie soll dann mit dem neuen
Gesetzentwurf die Versöhnung - diesen Auftrag hat die
Stiftung ja ebenfalls - mit Polen, Tschechen und anderen
Opfern des Zweiten Weltkriegs funktionieren?
Ich möchte kurz auf die einzelnen Änderungsvorschläge der Gesetzesvorlage eingehen:
Erstens. Mir ist schleierhaft, warum zukünftig sechs
Vertreter des BdV im Stiftungsrat sitzen sollen. Ich bekomme viel Post von Vertriebenen, die sich eben nicht
vom BdV vertreten fühlen. Diese Menschen haben keine
Stimme in der Stiftung. Vertriebene müssen im Stiftungsrat vertreten sein; aber angesichts vieler ungeklärter
Fragen beim BdV frage ich mich, warum nicht auch andere Vertriebenenverbände einbezogen werden. Das
Adalbertus-Werk, das sich seit der Nachkriegszeit für
Versöhnung einsetzt, bzw. deren Dachverband, die Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Vertriebenenorganisationen, AKVO, wären an einer Mitarbeit interessiert.
Es gibt genügend deutsche Vertriebenenorganisationen,
die mit ihrem Engagement für die Versöhnung einen Sitz
im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
verdient hätten. Man könnte, wenn man nun neu über
den Stiftungsrat nachdenkt, auch überlegen, ob nicht
auch alternative Projekte, die sich mit dem Thema befassen, eingebunden werden, zum Beispiel die Partnerstädte Görlitz/Zgorzelec, die ein gemeinsames Projekt
zum Thema Vertreibungen vorgestellt hatten, oder auch
einen Vertreter des „Zentrums gegen Krieg“ des WillyBrandt-Kreises.
Ich habe in letzter Zeit viel mit Wissenschaftlern gesprochen, die mir wichtige Denkanstöße gegeben haben.
Eine Idee möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Die
Kirchen und der Zentralrat der Juden sind im Stiftungsrat vertreten. Es gibt allerdings keinen muslimischen
Vertreter. Dabei könnte gerade dieser eine Brücke von
der Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesellschaft zu aktuellen integrationspolitischen Debatten
bauen. Es wäre eine Chance, auch Schulklassen mit
multiethnischer Zusammensetzung stärker für die Ausstellung zu interessieren und einen Bogen zur eigenen
Wirklichkeit zu spannen. Es ließen sich am Beispiel der
Integration der Ostdeutschen dann hervorragend Probleme thematisieren und diskutieren, die der - jugendliche - Besucher von Dauer- und Wechselausstellungen
der Stiftung in seiner eigenen Lebenswelt entdecken und
aus denen er für seinen gegenwärtigen und zukünftigen
Alltag lernen kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zweitens. Eine Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates
durch den Deutschen Bundestag statt einer Bestellung
durch die Bundesregierung kann ich als Abgeordnete eigentlich nur begrüßen. Aber hier lauert leider eine Gefahr: Durch die Abstimmung im Gesamtpaket wird man
im Zweifel die eigenen Vertreter ablehnen müssen, wenn
eine andere vorgeschlagene Person nicht zustimmungsfähig ist. Dies ist für die SPD-Fraktion nicht akzeptabel.
Drittens. Die Erweiterung des wissenschaftlichen
Beirats begrüße ich. Jetzt geht es darum, hochrangige
und kompetente Wissenschaftler für die Mitarbeit zu gewinnen. Dabei müssen ausgewiesene Experten für die
Vertreibungsgeschichte sowie Historiker mit dem
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg und Holocaust, außerdem Museumspädagogen und neue ausländische Vertreter gefunden werden.
Grundsätzlich muss die Koalition einsehen, dass mit
dem sogenannten Kompromiss, der mit Frau Steinbach
erzielt wurde, kein Vertrauen gewonnen wurde. Vielmehr
stecken wir mitten in einer Krise. Dies habe ich auch bei
der letzten Stiftungsratssitzung deutlich zu machen versucht. Nur ein Neuanfang der Stiftungsarbeit, bei der
auch kritische Fragen gestellt werden, kann das Projekt
positiv voranbringen. Das ist nicht nur meine Meinung,
sondern die vieler Wissenschaftler, die das Projekt beobachten. Deren Stimmen wurden bisher nicht gehört.
Internationale Expertengremien arbeiten seit Jahren intensiv insbesondere im Bereich der deutsch-polnischen
und der deutsch-tschechisch-slowakischen Historikerkommissionen an der Thematik der Vertreibungen. Es
wäre engstirnig und provinziell, auf diese Ressourcen zu
verzichten.
Es muss deutlich werden, dass es sich bei der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ um eine öffentlichrechtliche Einrichtung handelt, die unabhängig und auf
der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse arbeitet und nicht als verlängerter Arm der Präsidentin
des BdV.
Die Stiftung muss endlich in einen ernsthaften Dialog
mit unseren europäischen Nachbarn eintreten. Wir brauchen dringend mehr Transparenz. Wir brauchen einen
offenen Diskurs über die Ausrichtung der Stiftung und
deren Ausstellung, und wir brauchen eine ernst gemeinte Auseinandersetzung über die offenen und kritischen Fragen.
Wir müssen uns fragen, wie das Verhältnis von Holocaust und Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Weltkrieges darzustellen ist. Wir müssen klären, wie Versöhnung im Zusammenhang mit dem Thema Vertreibungen
steht. Wir müssen aufhören, vom Jahrhundert der Vertreibungen zu reden, sonst relativieren wir den Holocaust! Dies darf aus Respekt gegenüber den Opfern des
Nationalsozialismus nicht geschehen; das sind wir außerdem auch unserer historischen Verantwortung schuldig.
In den letzten Monaten bestimmten leider hauptsächlich Personaldebatten die Diskussion über das Gesetz
zur Stiftung „Deutsches Historisches Museum“. Da
diese nun ausgeräumt sind, hat die christlich-liberale
Koalition mit dem nun vorgelegten Änderungsgesetz den
wichtigen Schritt zur sachlichen Debatte über die Stiftung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ getan. Damit haben wir jetzt die Möglichkeit, die Inhalte und die
Ziele der Stiftung in dieser Frage noch einmal deutlich
zu machen. Deshalb gilt: Wir wissen um die deutsche
Schuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einen
fürchterlichen Krieg begonnen hatte, in bis dahin unbekanntem Ausmaß Verbrechen stattfanden und das Deutsche Reich furchtbares Leid über Europa gebracht hatte.
Wir wissen aber auch um die Schrecken der Vertreibung
aus der Heimat, um die schrecklichen Folgen, die eine
Flucht mit sich bringt. Gerade deswegen ist es wichtig,
ein Symbol, einen Anlaufpunkt als Mahnung und Zeichen zu haben, als Aufzeig für die Jugend stellvertretend
für alle Vertreibungen in der Welt; denn nicht nur die
Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
wird thematisiert, sondern auch die Schicksale von Vertriebenen anderer Nationen sollen mit einbezogen werden. Die Stiftung ist eben nicht rein national ausgerichtet, was die Opposition völlig zu Unrecht moniert hatte.
Aber: Es darf in der gesamten Diskussion über Krieg
und Kriegsfolgen nicht um Aufrechnung gehen. Das verbietet sich. Die Verbrechen der Deutschen werden nicht
kleiner durch Verbrechen an Deutschen. Und: Die Verbrechen der Deutschen rechtfertigen nicht die Verbrechen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen. Leid und Schuld sind immer
individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Naziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen
und auch weiterhin besitzen müssen. Aber auch die Vertreibung ganzer Bevölkerungsschichten aus den ursprünglichen Heimatregionen war eine Schuld, die nicht
vergessen oder verharmlost werden soll. Man muss auch
dieser Taten gedenken, dafür sensibilisieren, und dafür
dient diese Stiftung. Sie hat aus meiner Sicht die große
Aufgabe, die Urteilsfähigkeit vor allem junger Menschen aufrechtzuerhalten. Wir gedenken ja nicht nur, um
zu erinnern, sondern auch, um urteilsfähig zu bleiben.
Mit dem Änderungsgesetz wird nichts an dem Ziel der
Stiftung geändert. An dem Stiftungszweck, im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wach zu halten, wird nicht gerüttelt. Es
werden lediglich einige verwaltungstechnische Änderungen eingeführt, die allerdings einen entscheidenden
Beitrag zu einer sinnvollen Ausgestaltung der Stiftung
und zur Optimierung der Funktions- und Arbeitsweise
leisten. Durch die Erhöhung der Mitgliederzahl des Stiftungsrates von 13 auf 21 Mitglieder schaffen wir die
Möglichkeit, vor allem den wissenschaftlichen Beraterkreis zu verstärken. Bis zu 15 Mitglieder, statt bisher 9,
aus diesem wichtigen Umfeld tragen in Zukunft wertvolle Arbeit und Beiträge in die Arbeit des Rates hinein.
Diese Aufstockung trägt der enormen Komplexität und
geschichtspolitischen Bedeutung der Aufgabenstellung
und des Meinungsspektrums Rechnung. Die Mitglieder
des Stiftungsrates sollen in Zukunft nicht mehr durch die
Zu Protokoll gegebene Reden
Patrick Kurth ({0})
Bundesregierung, sondern durch den Deutschen Bundestag gewählt werden. Auf diese Weise können übergeordnete politische Belange berücksichtigt werden. Außerdem ist die demokratische Legitimation und Akzeptanz
der gewählten Mitglieder erheblich erhöht, wenn die gewählten Volksvertretern, über die Zusammensetzung im
Zuge einer transparenten Debatte entscheiden. Auch die
Tatsache, dass die Stiftung unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums verbleibt, ist ein außerordentlich wichtiges Zeichen. Auf diese Weise bleibt auch
in Zukunft die staatliche Verantwortung für das Projekt
gewährleistet. Außerdem wird so jeglichen Vorwürfen,
einzelne Gruppen hätten einen dominierenden Einfluss,
frühzeitig der Wind aus den Segeln genommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann sich sehen lassen. Wir haben damit eine sehr gute Grundlage für eine
erfolgreiche Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ geschaffen. Dies gilt insbesondere für das
Ziel der Versöhnung. Durch das breite und internationale wissenschaftliche Fundament wird sichergestellt,
dass im Ergebnis eine tiefgründige, neutrale und vollständige Aufarbeitung geleistet wird, die frei von Vorurteilen und Einseitigkeit ist. Damit wird die Akzeptanz bei
allen Beteiligten gestärkt. Es handelt sich um ein sehr
sensibles historisches Thema. Dieser Sensibilität tragen
die jetzt vorgelegten Rahmenbedingungen in angemessener Weise Rechnung. Es ist ein kluges und weitsichtiges Konzept erarbeitet worden, das die Interessen aller
Beteiligten angemessen berücksichtigt. Insbesondere
die Sorgen unserer polnischen Freunde, die Aufarbeitung könnte allzu revisionistische Aspekte beinhalten,
räumt das vorgelegte Konzept wirksam aus. Jetzt gilt es,
dass die Stiftungsorgane so schnell wie möglich gebildet werden und die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, damit
65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das
Kapitel „Flucht und Vertreibung“ eine angemessene
Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit erfährt.
Spät am Abend dieses langen Plenartages, mit zu
Protokoll gegebenen Reden, haben wir über einen Gesetzentwurf zu beschließen, der für die Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“, die in ihrer bisherigen Struktur gescheitert ist, einen Neuanfang ermöglicht.
„Der Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungsspektrums“ soll noch besser Rechnung getragen
werden als bisher. Und wie soll dies geschehen? Indem
Stiftungsrat und wissenschaftlicher Beraterkreis vergrößert und „das Berufungsverfahren für den Stiftungsrat
modifiziert werden“ soll.
Modifiziert - was heißt das? Sie erinnern sich: Bisher
gab es ein zweistufiges Berufungsverfahren für die Mitglieder des Stiftungsrates. Die beteiligten Institutionen
- Bundestag, Glaubensgemeinschaften, der BdV usw. schlugen ihre Mitglieder nur vor. Die Regierung
- sprich: das Bundeskabinett - ernannten. Es wurde
also über jedes einzelne Mitglied des Stiftungsrates abgestimmt. Nur, wer einstimmig von der Regierung berufen wurde, konnte im Gremium seine Arbeit aufnehmen.
An dieser Bestimmung ist die Personalie Erika
Steinbach gescheitert. Damit so etwas in Zukunft nicht
wieder passiert, bestimmt das neue Gesetz, dass nunmehr der Bundestag die Stiftungsratsmitglieder wählt.
Das soll folgendermaßen vor sich gehen:
Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der
nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt werden kann.
Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt - diese
„Paketlösung“ ist ein übler Mehrheitstrick der Koalition. Diese „Paketlösung“ verhöhnt das Parlament,
seine Mitbestimmung und seine Kontrollaufgabe bei einer Bundesstiftung.
Die Linksfraktion war von Anfang an gegen die Errichtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen:
Erstens war sie wegen ihrer Konzeption dagegen. Wir
haben immer gefragt, wer sich - nach der Definition der
Stiftung - mit wem versöhnen soll. Nun haben wir vom
Gründungsdirektor der Stiftung erfahren, dass es vor allem um eine „Versöhnung der Deutschen miteinander“
gehen soll. Das ist nicht hinnehmbar für eine Institution
der Erinnerung an einen Weltkrieg und seine Folgen.
Zweitens. Wir haben nie verstanden, dass der Sitz der
Stiftung ausgerechnet Berlin sein soll, der Ort, von dem
all die mörderischen Verbrechen ausgegangen sind, die
schließlich auch zu dem Elend von Flucht und Vertreibung geführt haben.
Drittens. Wir haben nie verstanden, wieso in einer
Bundesstiftung - einer Stiftung des Bundes wohlgemerkt, nicht einer Verbandsstiftung - dem Bund der Vertriebenen als weitaus größte Gruppe eine derart dominierende Rolle eingeräumt wird. Das haben wir schon
nicht verstanden, als im alten Stiftungsrat 3 von 13 Sitzen dem BdV zugesprochen wurden. Nun bekommt er
6 von 21 Sitzen; das heißt, an der Gewichtung hat sich
durch das neue Gesetz überhaupt nichts verändert.
Fazit: Das neue Gesetz trägt der Komplexität der
Aufgabenstellung dieser Stiftung in keiner Weise „besser
Rechnung“. Im Gegenteil, es vermehrt nur die Zahl der
Ämter und Sitze in der Stiftung und degradiert das Parlament zu einem Zustimmungsapparat für eine völlig undemokratische „Paketlösung“. Schlimmer hätte es eigentlich nicht kommen können - unverfrorener nach all
der öffentlichen Diskussion im In- und Ausland auch
nicht.
Wie gesagt: Wir haben bisher der Errichtung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht zugestimmt und für die neue gesetzliche Regelung gilt dies
erst recht.
Claudia Roth ({0}) ({1})
Der Gesetzentwurf zur Vertriebenenstiftung ist faktisch eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition.
Monatelang ließ die Kanzlerin den Konflikt mit dem
Bund der Vertriebenen und Frau Steinbach treiben, ohne
sich zu den erpresserischen und undemokratischen Ansprüchen von Frau Steinbach auch nur zu äußern, geZu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({2}) ({3})
schweige denn hier politisch zu entscheiden. Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich
weg und riskierte damit eine Verschlechterung der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Der
nun vorliegende Gesetzentwurf, der den Konflikt vorgeblich lösen will, ist tatsächlich ein Ausdruck der
Schwäche und Handlungsunfähigkeit der Regierung
Merkel.
Der Konflikt drehte sich im Kern um Frau Steinbachs
Anspruch, Mitglieder des Stiftungsrats in der mit Steuermitteln finanzierten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ benennen zu können, ohne weitere demokratische Legitimation durch die politisch Verantwortlichen.
Natürlich dachte Frau Steinbach bei der Benennung von
Stiftungsratsmitgliedern an erster Stelle an sich selbst,
was die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern unerträglich belastet hätte.
Um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen, beschloss
die Regierungskoalition einen faulen Kompromiss, der
uns in Form des Gesetzentwurfs nun vorliegt. Damit
Frau Steinbach von ihrem Anspruch ablässt, musste die
Zahl der Stiftungsratsmitglieder aus den Reihen des
Bundes der Vertriebenen verdoppelt werden. Um das
Einknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zu
kaschieren, musste die Regierung dann eine noch weitergehende Vergrößerung des Stiftungsrats vornehmen,
von 13 auf die jetzt vorgeschlagenen 21 Mitglieder. Die
Erfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erweiterung die
Handlungsfähigkeit eines solchen Gremiums sich nicht
verbessert, sondern die Abläufe dadurch komplizierter
werden.
Die Unfähigkeit der Bundesregierung, die Probleme
mit dem Stiftungsrat zu lösen, brachte sie zu einer Flucht
aus der Verantwortung. Wie Sauerbier ging sie mit der
Verantwortung für die Stiftungsratsbenennung hausieren. Auch das BKM und Kulturstaatsminister Neumann
waren zeitweise in der Diskussion. Nun soll der Bundestag entscheiden. Was auf den ersten Blick wie eine Demokratisierung des Verfahrens aussieht, erweist sich
beim Blick in die Details als eine ziemlich fragwürdige
Operation. Ja, der Bundestag soll entscheiden - weil die
Bundesregierung sich damit ein Problem vom Hals
schaffen will. Und in einem Entscheidungsverfahren,
das dem zweifelhaften Motto „Friss, Vogel, oder stirb“
folgt. Der Bundestag soll nur über einen Gesamtvorschlag für eine Liste der Stiftungsratsmitglieder abstimmen können. Wenn zum Beispiel vom Bund der Vertriebenen wiederum ein inakzeptabler Kandidat
vorgeschlagen wird, dann kann der Bundestag nur die
Gesamtliste ablehnen. Ich kenne dieses Verfahren noch
sehr gut aus dem Europaparlament, aus Zeiten einer
sehr mangelhaften demokratischen Legitimation. Damals wurden so unliebsame Kandidaten auf kaltem Wege
durchgedrückt. Und genau das versucht man nun auch
in diesem Gesetzentwurf.
Was das Projekt der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ jetzt braucht, ist kein in Gesetzesform gegossener fauler Kompromiss. Stattdessen ist die inhaltliche Ausrichtung der Stiftung neu zu überdenken. Dabei
ist insbesondere die Frage zu stellen, ob und wie die Stiftung nach dem von Frau Steinbach provozierten Konflikt
ihrem Zweck der Versöhnung mit den Nachbarländern
überhaupt noch gerecht werden kann.
Sehr besorgt macht mich auch, dass sich inzwischen
die ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung zurückgezogen haben. Ohne eine angemessene Beteiligung von renommierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nachbarländern kann die
Stiftung nicht im Sinne der Zielsetzung funktionieren.
Die Stiftung braucht - wie gesagt - keinen faulen
Kompromiss, sondern ein ernsthaftes Nachdenken im
Bundestag und seinen Ausschüssen über einen grundlegenden Neustart des Projekts. - Vielen Dank!
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/1400 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die europäische Schutzanordnung
({1})
({2})
Ratsdok. 17513/09
- Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Marco Buschmann
Ingrid Hönlinger
Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll genommen werden: Dr. Jan-Marco
Luczak, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma
und Jerzy Montag.
Die von zwölf Mitgliedstaaten ergriffene Initiative für
die Europäische Schutzanordnung dient im Kern der
Umsetzung eines Teilbereiches des Stockholmer Programms. Ziel der Initiative ist, den grenzüberschreitenden Schutz der Opfer von Straftaten gegen Wiederholungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer
innerhalb des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu verbessern.
Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. In einem gemeinsamen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss die
Freizügigkeit der Bürger gewährleistet sein. Es gilt hier
der alte Satz: Ohne Sicherheit keine Freiheit. Diese
muss in Europa auch über Grenzen hinweg gewährleistet sein.
Die Richtlinie sieht daher vor, dass Verbote oder Verpflichtungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates
zum Schutz einer gefährdeten Person gegen eine gefährdende Person erlassen wurden, in anderen Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
ebenfalls Wirkung entfalten, wenn die gefährdete Person
sich dorthin begeben will.
So sehr wir dieses Ziel auch begrüßen, muss man bei
den Detailfragen doch genau hinsehen. Wir haben das
getan und nutzen daher nun die dem Bundestag gegebene Möglichkeit, über eine Stellungnahme nach Art. 23
Abs. 3 GG unsere Bedenken deutlich zu machen und
über unsere Aufforderungen an die Bundesregierung auf
die Diskussion auf europäischer Ebene entsprechend
Einfluss zu nehmen. Ich freue mich insofern, als nach
Aussage des Staatssekretärs Stadler im Rechtsausschuss
diese Woche unsere - durchaus von anderen Mitgliedstaaten geteilten - Bedenken zwischenzeitlich auch bei
der Kommission angekommen zu sein scheinen.
Lassen Sie mich einige Bedenken näher erläutern.
Zweifel bestehen nach unserer Auffassung zunächst daran, ob die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV
einen ausreichenden Kompetenztitel vermittelt. Die
Union darf nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bekanntlich nur dann Maßnahmen ergreifen, wenn das europäische Recht eine entsprechende Zuständigkeit enthält. In Art. 82 AEUV geht es um die
justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In vielen
Mitgliedstaaten werden Maßnahmen gegen Gewalttäter
zum Schutze der Opfer aber nicht in strafrechtlichen
Verfahren verhängt, sondern gründen auf verwaltungsrechtlichen Titeln, oder es wird - wie in Deutschland
nach dem Gewaltschutzgesetz - zivilrechtlicher Schutz
gewährt. Wenn nun aber verwaltungs- oder zivilrechtliche Maßnahmen in Rede stehen, können diese nicht
ohne Weiteres auf Grundlage eines Kompetenztitels im
Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
einem Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zugeführt werden.
Auch der Bundesrat teilt diese Bedenken hinsichtlich
der Rechtsgrundlage und hat daher gegen den Richtlinienentwurf Subsidiaritätsrüge erhoben. Diese umfasst
neben der eigentlichen Subsidiaritätsfrage als solcher
auch die - gleichsam logisch vorgeschaltete - Frage
nach der Zuständigkeit der Union. Es ist Aufgabe der
Bundesregierung - nicht zuletzt nach den deutlichen
Worten des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr
zum Lissabonner Vertrag -, sicherzustellen, dass die
Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht überdehnt, sondern insbesondere im grundrechtssensiblen
strafrechtlichen Bereich strikt einhält.
Auch gibt es bereits eine Reihe von anderen Rechtsakten der Europäischen Union, deren Anwendungsbereich sich zumindest teilweise mit dem der vorgeschlagenen Richtlinie für die Europäische Schutzanordnung
überschneidet. Auch hier sind Mechanismen der gegenseitigen Anerkennung vorgesehen. Wieso sollten wir dies
also gleichsam doppelt regeln?
Wir fragen uns aber vor allem: Wird das von uns geteilte Ziel, ein besserer grenzüberschreitender Schutz
von Gewaltopfern, mit der vorgesehenen Richtlinie
wirklich befördert und verbessert? Erreicht man mit der
Europäischen Schutzanordnung wirklich einen schnelleren und effektiveren Schutz? Sieht man sich die Details
der vorgeschlagenen Regelung an, kommen hier Zweifel
auf. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Richtlinienentwurf ein sehr komplexes, mehrstufiges Verfahren
vorsieht: Es gibt ein schwieriges Zusammenspiel der jeweils zuständigen Behörden von Anordnungs- und Vollstreckungsstaat, damit die zugunsten einer gefährdeten
Person getroffene Schutzmaßnahme und die auf dieser
Grundlage erlassene Europäische Schutzanordnung in
einem anderen Mitgliedstaat geprüft, anerkannt und
dann eine eigene Schutzmaßnahme nach dessen nationalem Recht erlassen werden kann. Hinzu kommen die
existenten Sprachbarrieren und die daher notwendigen
Übersetzungsleistungen.
Insgesamt handelt es sich um einen Vorschlag, der
sehr starr, wenig flexibel und daher ineffektiv ist. Zumindest in Deutschland ist Schutz auch für Menschen aus
anderen Staaten der Europäischen Union schneller und
effektiver unmittelbar über das deutsche Gewaltschutzgesetz zu erreichen - oftmals binnen weniger Stunden -,
ohne dass es einer Anerkennung von Maßnahmen anderer Mitgliedstaaten bedarf. An der Erforderlichkeit bzw.
Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Regelungen
zur Europäischen Schutzanordnung bestehen also ernst
zu nehmende Zweifel.
Wir sind der Auffassung, dass vor allem der Aspekt
der zügigen Übermittlung und Anerkennung derjenigen
Informationen im Vordergrund stehen sollte, die etwa
ein nationales Gericht für den Erlass einer Schutzmaßnahme nach nationalem Recht benötigt. Das Opfer einer
Straftat soll im Vollstreckungsstaat nicht ein neuerliches
Verfahren anstrengen und durchlaufen, insbesondere
keine neuen Beweise erheben müssen. Hier kann es einen echten Effektivitätsgewinn geben.
Die aufgezeigten Bedenken greift unsere Stellungnahme auf und weist zugleich auf die Möglichkeiten hin,
wie man durch die zügige Übermittlung der für eine
Schutzmaßnahme notwendigen Fakten und deren gegenseitige Anerkennung einen besseren grenzüberschreitenden Opferschutz erreichen kann. Hierfür bitte ich um
Ihre Zustimmung.
Die Initiative für eine Europäische Schutzanordnung
ist ausdrücklich zu begrüßen und steht in mehrerlei Hinsicht für eine fortschrittliche Entwicklung.
Zuerst einmal in der Sache selbst. Menschen, die zu
Opfern geworden sind, finden erweiterten Schutz, und
solche, die befürchten müssen, zum Opfer zu werden, bekommen ein deutlich höheres Maß an Sicherheit geboten, als dies bisher der Fall ist. Das ist vor allem für
Frauen, die gewalttätige Übergriffe fürchten müssen
und diese oft in der Vergangenheit schon erleiden mussten, eine deutliche Verbesserung. Ich will aber auch
diejenigen Fälle nicht unerwähnt lassen, in denen Ermittlungsbehörden darauf angewiesen sind, Sicherheitsgarantien abzugeben, um die Aufklärung von VerZu Protokoll gegebene Reden
brechen durch Zeugenaussagen überhaupt erst zu
ermöglichen. Auch diese Fälle sind wichtig.
Der Schutz, den staatliche Organe bisher ermöglichen konnten, endete allzu oft an nationalstaatlichen
Grenzen. Was dabei oft übersehen wird: Auch die Souveränität der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers,
die bzw. der auf Schutz angewiesen ist, endet ebenfalls
dort. Erst die Möglichkeit, die Grundfreiheit der Freizügigkeit tatsächlich verwirklichen zu können, bedeutet
eine echte Gleichstellung derjenigen Frauen und Männer, die schon vorher dadurch benachteiligt waren, dass
sie erst um Schutz staatlicher Organe nachsuchen mussten, um Leib und Leben nicht länger unkalkulierbaren
Gefahren aussetzen zu müssen. Die Grundrechte in
Form der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Freizügigkeit sind elementare Bürgerrechte, deren verlässliche Ausübung unter staatlicher Garantie steht. Freizügigkeit nicht nur national, sondern, wenn schon nicht
weltweit, so doch EU-weit gewährleisten zu können, bedeutet somit einen spürbaren Abbau faktischer Diskriminierung bzw. Benachteiligung.
Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehene Möglichkeit für den Anordnungsstaat, eine Europäische Schutzanordnung erlassen zu können, die vom Vollstreckungsstaat anzuerkennen und umzusetzen ist, bedeutet dabei
nicht nur einen praktikablen Weg der Umsetzung. Gegenüber der bilateralen Anerkennung von Rechtstiteln
bedeutet sie auch einen Abbau von bürokratischen
Hemmnissen. Der Fortschritt, der mir als Europapolitikerin besonders am Herzen liegt, ist der Fortschritt der
europäischen Zusammenarbeit. Wir haben uns im Fall
der Europäischen Schutzanordnung europaweit das gemeinsame Ziel gesetzt, Gewalt noch effektiver zu ächten
und zu bekämpfen.
Insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zeigt, dass Entscheidungen, die vor dem Hintergrund nationaler Rechtsordnungen und Traditionen ergehen, von anderen Staaten respektiert und umgesetzt
werden. Die Erweiterung des gewohnten Rechtsrahmens
wird durch die Europäische Union erst ermöglicht. Nur
auf nationalstaatlichem Wege könnte das Ziel, in einem
internationalen Raum effektiven Schutz für Leib und Leben zu gewährleisten, überhaupt nicht verwirklicht werden. Auch wenn niemandem zu gönnen ist, von der Europäischen Schutzanordnung profitieren zu müssen, zeigt
sich hier doch der Mehrwert an Lebensqualität, den
Europa seiner Bevölkerung bietet.
Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig,
dass die von den Mitgliedstaaten erwählte Rechtsgrundlage Fragen aufwirft. Diese Haltung wird im Übrigen
von der Europäischen Kommission geteilt. Hier wird sogar eine Klage erwogen, um die formale Rechtmäßigkeit
der Richtlinie notfalls zu erzwingen. Es ist deshalb gut,
dass der Bundestag diesen Punkt in seiner Stellungnahme deutlich formuliert hat. Der Weg, gemeinsam
eine Stellungnahme nach Art. 23 GG abzugeben und der
Bundesregierung damit für die Beratungen und Verhandlungen im Rat unsere Bedenken und Anregungen
mit auf den Weg zu geben, ist daher genau richtig. So
können wir uns als Parlament aktiv in die europäischen
Verhandlungen einbringen.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir das gemeinsam
fraktionsübergreifend hinbekommen hätten. Das hat die
unkoordinierte Abstimmung der Koalition im Rechtsausschuss verhindert. Ich hoffe sehr, dass das in Zukunft anders wird. In europäischen Fragen, und darüber waren
wir uns im Rechtsausschuss erfreulicherweise über
Fraktionsgrenzen hinweg einig, werden wir als Deutscher Bundestag umso mehr Gehör finden, je einiger wir
auftreten. Daher sollte eine gemeinsame Stellungnahme
bei inhaltlich unstrittigen Themen zukünftig nicht an Abstimmungsschwierigkeiten scheitern. Wir sollten gemeinsam die neuen Instrumente nutzen, die den nationalen Parlamenten mit dem Vertrag von Lissabon an die
Hand gegeben wurden, und uns nicht gegenseitig Steine
in den Weg legen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist deshalb in der gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses als
größte Oppositionsfraktion ihrer Verantwortung für die
europäische Einigung nachgekommen und hat dem Antrag der Koalition zugestimmt. Ich hoffe sehr, dass wir
zukünftig dazu kommen, uns mehr um die Sache als um
Verfahrensabläufe zu kümmern. Damit wir, Regierung
ebenso wie Opposition, unserer Verantwortung für die
Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Europas gerecht werden, wie sie sich beispielhaft in der Europäischen Schutzanordnung manifestieren.
Der Rechtsausschuss empfiehlt Ihnen, zu der Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Europäische Schutzanordnung
eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes abzugeben. Als Koalitionsfraktionen haben wir dieses Vorgehen im Rechtsausschuss vorgeschlagen, weil
wir es für wichtig halten, dass sich der Deutsche Bundestag an der Rechtsetzung in der Europäischen Union
beteiligt. Denn was dort beschlossen wird, findet nicht
auf einem fernen Planeten „Brüssel“ statt, der mit unserem Leben hier in Deutschland nichts zu tun hat. Wir als
Parlament sind vielmehr im Regelfall verpflichtet, die
dort beschlossenen Vorgaben umzusetzen. Damit wir
nicht zum bloßen Ausführungsorgan der Rechtsetzungsorgane der Europäischen Union werden, müssen wir uns
als deutsche Parlamentarier frühzeitig in die Debatten
in Brüssel einbringen.
Wir als FDP-Bundestagsfraktion begrüßen es daher
sehr, dass der Deutsche Bundestag von dem Instrument
einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG in der
neuen Legislaturperiode verstärkt Gebrauch macht. Dabei geht es uns nicht darum, die Bundesregierung durch
strikteste Vorgaben auf europäischer Ebene manövrierunfähig zu machen. Aber wenn der Deutsche Bundestag
die Punkte zusammenträgt, die ihm bei den Verhandlungen besonders wichtig erscheinen, kann dies das Gewicht der deutschen Position in Europa nur verstärken.
Die Initiative zur Einführung einer Europäischen
Schutzanordnung ist dabei ein Fall, in dem wir unser
Gewicht in die Waagschale werfen sollten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Ziel der Initiative eint uns sicher alle hier im
Parlament. Denn das Ziel der Initiative ist es, dafür zu
sorgen, dass der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt
nicht an den Landesgrenzen aufhört. Das ist ein Thema,
dessen wir uns annehmen müssen. Denn der Schutz der
Rechtsgüter des Einzelnen ist ein wesentlicher, wenn
nicht der wesentliche Auftrag des Staates. Dieser Schutz
vor potenzieller Gewalt muss - unter Wahrung der
Grundrechte - effizient und schnell sein. Ist er nämlich
nicht schnell und effizient, dann kann potenzielle Gewalt
in reale Gewalt umschlagen.
Genau aber bei dieser Effizienz und Schnelligkeit fangen bereits unsere Zweifel an der derzeitigen Ausgestaltung der vorgeschlagenen Europäischen Schutzanordnung an. Diese verlangt nämlich zunächst, dass eine
Schutzmaßnahme eines Mitgliedstaates der EU vorliegt.
Auf dieser Grundlage kann der Mitgliedstaat eine Europäische Schutzanordnung erlassen. Diese wird dann an
den neuen Aufenthaltsstaat der gefährdeten Person geschickt. Dort muss sie anerkannt und umgesetzt werden,
indem der neue Aufenthaltsstaat eine Schutzanordnung
nach seinem Recht erlässt.
Das sind ganz schön viele Zwischenschritte - dabei
muss es doch aber schnell gehen! Zudem sind diese
Schritte unserer Ansicht nach nicht einmal erforderlich,
denn bei anderen Rechtsakten brauchen wir für die gegenseitige Anerkennung doch auch keine europäische
Anordnung; die Entscheidungen der Mitgliedstaaten
werden direkt weitergeleitet und anerkannt. Deswegen
bitten wir die Bundesregierung in unserer Stellungnahme, auf europäischer Ebene anzuregen, dass zum
Opferschutz ein Mitgliedstaat dem anderen die Informationen über den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt
übermittelt, die er hat und die dem anderen Mitgliedstaat die Grundlage geben können, nach seinem Recht
für den erforderlichen Schutz zu sorgen.
Das scheint unserer Meinung nach auch deshalb angebracht zu sein, da die Mitgliedstaaten hier ganz unterschiedliche Systeme für den Schutz von Opfern potenzieller Gewalt vorhalten. Wir haben uns im deutschen
Recht mit dem Gewaltschutzgesetz für ein zivilrechtliches Vorgehen entschieden. Andere Mitgliedstaaten gehen hier mit den Mitteln des Strafrechts oder des Verwaltungsrechts vor. Die Weiterleitung des Lebenssachverhaltes macht es unabhängig vom dogmatischen Charakter der jeweils im Mitgliedstaat einschlägigen Vorgehensweise schnell und effizient möglich, den begehrten
Schutz zu gewähren.
Schließlich haben wir weitere Bedenken. Diese mögen sich zunächst sehr technisch anhören. Denn es geht
um die Frage, ob die Europäische Union überhaupt die
Kompetenz besitzt, die Initiative in der Weise auf den
Weg zu bringen, wie es angedacht ist. Die Europäische
Schutzanordnung, wie derzeit vorgeschlagen, soll nämlich einheitlich der strafrechtlichen Zusammenarbeit zugeordnet werden.
Damit überdehnen wir den Begriff des Strafrechts,
wie ihn die Kompetenzordnung der Europäischen Union
vorsieht. Denn Strafrecht betrifft die Verfolgung bereits
begangener Straftaten. Der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt betrifft allenfalls künftige Straftaten und
ist mithin eine Frage der Gefahrenabwehr. Diese verorten wir jedenfalls nach deutschem Verständnis nicht im
Bereich des Strafrechts, sondern im Bereich des Gefahrenabwehrrechts.
Eine solche durch die Initiative unterstellte Erweiterung des kompetenzrechtlichen Strafrechtsbegriffs um
den Bereich der Gefahrenabwehr verunklart die Zuständigkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und
Mitgliedstaaten.
Wollten wir aber nicht mit dem Vertrag von Lissabon
mehr Transparenz schaffen, insbesondere mehr Transparenz, wer für was zuständig sein soll, ob die EU oder
die Mitgliedstaaten? Hat uns nicht das Bundesverfassungsgericht aufgegeben, dass die neue Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten im
Vertrag von Lissabon strikt eingehalten werden muss?
Hat das Gericht nicht sogar ausdrücklich ausgesprochen, dass hier gerade im Strafrecht besondere Aufmerksamkeit gefordert ist? Der Vertrag ist gerade einmal ein paar Monate in Kraft, und schon wird versucht,
Maßnahmen unter den Begriff des Strafrechts zu packen,
die dort so nicht hingehören.
Natürlich hätten wir diese Bedenken auch im Wege
der Subsidiaritätsrüge geltend machen können, einschließlich der Kompetenzverstöße; denn als FDP-Bundestagsfraktion vertreten wir die Auffassung, dass auch
Kompetenzverstöße im Wege der Subsidiaritätsrüge geltend gemacht werden können. Da wir aber, wie geschildert, nicht nur kompetenzrechtliche, sondern vor allem
inhaltliche Bedenken gegen den Vorschlag haben, haben
wir uns für den Weg der Stellungnahme nach Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes entschieden. Lassen Sie uns
unserer Position in Europa Nachdruck verleihen - für
einen kompetenzrechtlich sauberen Weg, der schneller
zu unserem gemeinsamen Ziel führt, nämlich einem
schnellen und effizienten Schutz für Opfer potenzieller
Gewalt!
NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor einigen Tagen in einem „FAZ“-Interview Oskar Lafontaine
als „Ideologen“ bezeichnet, und wir können davon ausgehen, dass diese Charakterisierung nicht freundlich gemeint war. Ich bin weit davon entfernt, den Begriff „Ideologie“ als Schimpfwort zu gebrauchen; allerdings
halte ich ideologische Verbohrtheit im politischen Entscheidungsprozess für wenig erstrebenswert.
Während mir Oskar Lafontaine bei dieser Einschätzung sicher zustimmen würde, teilt die CDU diese Auffassung offenbar nicht. Anders kann ich mir jedenfalls
nicht erklären, warum die Union im Fall der Stellungnahme zum EU-Richtlinienentwurf über die Europäische Schutzanordnung die Chance auf interfraktionelle
Einigkeit hat verstreichen lassen, obwohl diese leicht zu
erzielen gewesen wäre. Denn die Linke war trotz einiger
Bedenken in Detailfragen bereit, sich der Entschließung
der Koalitionsfraktionen insgesamt anzuschließen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Ziel der Richtlinie - grenzüberschreitender, europaweiter Opferschutz - stellen wir nicht infrage, wohl
aber dessen Umsetzung. Erreicht werden soll der Schutz
durch eine sogenannte Europäische Schutzanordnung.
Das soll folgendermaßen funktionieren: Eine Person ist
zum Beispiel in Deutschland Opfer von Stalking geworden und hat eine Verfügung erwirkt, nach der sich der
Stalker auf 300 Meter nicht nähern darf. Will das Opfer
nach Frankreich umziehen, kann es in Deutschland eine
Europäische Schutzanordnung beantragen. Diese soll
nun in Frankreich dafür sorgen, dass dort vergleichbare
Schutzmaßnahmen ergriffen werden, ohne dass Sachverhalt oder Rechtsfolgen erneut geprüft werden müssen.
Die Regierungsfraktionen haben hierzu Bedenken
formuliert, die wir in mehreren Hinsichten teilen: Wie
die Koalition bezweifeln auch wir die Anwendbarkeit
der Rechtsgrundlage der Richtlinie, und wie die Koalition stellen auch wir die Verhältnismäßigkeit der Richtlinie infrage, da das Verfahren kompliziert ist und
Rechtsschutz auf direktem Wege im jeweiligen Land
möglicherweise schneller zu erreichen wäre.
Unsere Kritik geht aber noch weiter: Die Richtlinie
geht davon aus, dass in allen Ländern ausreichende
Schutzmaßnahmen bestehen. Das halte ich für fraglich.
Bevor über eine Anerkennung von Entscheidungen
nachgedacht werden kann, sollten zunächst einheitliche Mindeststandards eingeführt werden. Genauso
müsste sichergestellt sein, dass bei einem solchen Verfahren rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden, insbesondere deshalb, weil dieser Bereich in vielen Mitgliedstaaten als Strafverfahren konzipiert ist.
Bei der Zusammenarbeit in Strafsachen sind laut Bundesverfassungsgericht aber besonders strenge Maßstäbe für die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen anzulegen.
In ihrer Entschließung gehen CDU/CSU und FDP
über diesen Punkt hinweg. Sie lehnen zwar die Schutzanordnung selbst ab, wollen jedoch die ihr zugrunde liegenden Fakten anerkennen. Gerade die Sachverhaltsbestimmung ist aber keine verfahrensrechtliche Kleinigkeit, sondern wesentlicher Kern dessen, was Grundlage
der Anordnung sein soll. Eine ungeprüfte Anerkennung
wäre deshalb ebenfalls problematisch.
Trotz der Bedenken in diesem Punkt war die Linke
zugunsten einer interfraktionellen, gemeinsamen Stellungnahme des Bundestages bereit, die Entschließung
zu unterstützen, zumal ich die Diskussionen im Rechtsausschuss als erfreulich produktiv und auf die Sache
konzentriert erlebt habe und auch Positionen der Opposition in die Stellungnahme eingeflossen sind und zumal
den Regierungsfraktionen nach eigenem Bekunden an
einem geschlossenen Meinungsbild der Parlamentarier
sehr gelegen war. Was wäre also näherliegend gewesen
als ein gemeinsamer Antrag? Nichts, sollte man meinen wäre da nicht die Sache mit der ideologischen Verbohrtheit: Gemeinsame Initiativen mit der Linken schließen
die Christdemokraten ausdrücklich aus.
Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben eine europäische Gesetzgebungsinitiative gestartet,
mit der Schutzanordnungen, wie sie bei uns in Deutschland nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen werden,
europaweit und grenzüberschreitend vollstreckt werden
können. Der Vorschlag beinhaltet, dass solche nationalen Schutzanordnungen vom Erlassstaat in eine Europäische Schutzanordnung umgewandelt und sodann im
Vollstreckungsstaat in eine nationale Schutzanordnung
rückumgewandelt werden.
Niemand von uns wendet sich im Grundsatz gegen einen grenzüberschreitenden Opferschutz. Dieser ist
wichtig, wenn gewährleistet werden soll, dass von Gewalt betroffene Personen auch tatsächlich von ihrem
Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Dies
ist nach bisher schon bestehenden europäischen Regelungen nicht ausgeschlossen; Verbesserungen sollten
bei tatsächlichem Bedarf beherzt in Angriff genommen
werden.
Uns Grünen ist es als überzeugten Europäern wichtig, den mit dem Lissabon-Vertrag auf eine neue Stufe
angehobenen Prozess der europäischen Integration
nicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns als den deutschen Gesetzgeber gleichermaßen auf
unsere Verantwortung für die europäische Integration
wie auch auf unsere Verantwortung zum Schutz der nationalen staatlichen Identität Deutschlands als demokratischer Rechtsstaat verpflichtet. Beidem gerecht zu
werden bedeutet insbesondere, den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen, also über
die Kompetenzen der Europäischen Union und ihre
Grenzen zu wachen. Nicht zuletzt bewahren wir damit
die Idee der Europäischen Union vor einer Glaubwürdigkeitsauszehrung bei den europäischen Bürgerinnen
und Bürgern. Diese wollen, dass sich europäische Gesetzgebungskompetenz durch eine strikte Bezugnahme
auf das Primärrecht der Europäischen Union legitimiert. Dieses beinhaltet neben dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung auch und insbesondere die
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit bei der Überprüfung der jeweils in Angriff genommenen Maßnahmen. Nicht zuletzt der Lissabon-Vertrag
selbst hat insoweit für die nationalen Parlamente, also
den Deutschen Bundestag, Rechte und Pflichten der Mitwirkung statuiert.
Es ist deshalb unsere Pflicht, die Frage zu stellen, ob
die Initiative der Mitgliedstaaten für eine Europäische
Schutzanordnung eine Kompetenzgrundlage im Lissabon-Vertrag hat. Die dem Entwurf zugrunde gelegte
Rechtsgrundlage, Art. 82 AEUV, betrifft die justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen. Diese Rechtsgrundlage
kollidiert mit deutschem Verfassungsrecht nur dann
nicht, wenn die europäische Kompetenz restriktiv und
keinesfalls extensiv ausgelegt wird. Im Kern geht es um
ein einheitliches Vorgehen der Strafverfolgung in bestimmten Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität.
Der Schutz vor Straftaten, insbesondere präventive
Schutzmaßnahmen auch im Zivil- und Verwaltungsrecht,
lassen sich beim besten Willen nicht unter Bezugnahme
auf Art. 82 AEUV als Aufgaben der Europäischen Union
darstellen. Für Schutzmaßnahmen nach dem deutschen
Gewaltschutzgesetz sind nicht Straf-, sondern Zivilgerichte zuständig, und Voraussetzung ist nicht unmittelZu Protokoll gegebene Reden
bar und nicht ausschließlich eine Straftat gegen das Opfer.
Die Initiative einiger Mitgliedstaaten für eine Europäische Schutzanordnung gründet sich auf einer unzulässigen Ausdehnung des Begriffs der „justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen“ in den Bereich der
Prävention, die wir nicht unterstützen können. Nach einigem Zögern scheint auch die Kommission diese kritische Haltung zu teilen. Sie will notfalls eine gerichtliche
Klärung dieser Frage vor dem EuGH erzwingen.
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Grünen unterstützen alle sinnvollen und zielführenden Maßnahmen zum Opferschutz, aber nicht um den Preis einer
Verletzung des europäischen Rechts und der damit einhergehenden Beschneidung der Gesetzgebungskompetenz des Bundestages. Gerade weil wir den Erfolg der
europäischen Einigung wollen, pochen wir darauf, die
durch die europäischen Verträge vorgegebenen Kompetenzen strikt einzuhalten und zu verteidigen.
Des Weiteren wirkt das vorgeschlagene Instrument
recht aufwendig und wirft die Frage auf, ob sein Einsatz
überhaupt zu einer Erleichterung führt, was letztendlich
zu der Frage der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit
führt. Aus einem allein deutschen Blickwinkel mag es
tatsächlich so sein, dass eine nach Deutschland kommende gefährdete Person schneller eine neue Schutzanordnung erwirken kann. Es erscheint aber mehr als
zweifelhaft, ob dies auch in allen anderen Mitgliedstaaten so einfach der Fall ist. Aber es geht der Initiative ja
gerade darum, den Opfern in allen Mitgliedstaaten einen gleichwertigen Schutz zu gewähren.
Wir Grünen teilen die Kritik an der Initiative für eine
Europäische Schutzanordnung, die im Vorschlag von
CDU/CSU und FDP für einen Beschluss nach Art. 23
GG vorgetragen wird, insbesondere an der zweifelhaften
Rechtsgrundlage und an der Rechtsauffassung des Juristischen Dienstes des Rates, sowie die Bedenken im
Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Maßnahme.
Wir werden dem Antrag dennoch aus zwei Gründen
nicht zustimmen: Der eine Grund ist die Verfahrensweise. Es war vereinbart worden, diesen Antrag überfraktionell zu gestalten, um ihm, insbesondere auf europäischer Ebene, mehr Gewicht zu verleihen. Dies setzt
aber voraus, dass es einen Diskurs in der Sache gibt,
was wiederum voraussetzt, dass ein Minimum an Zeit
vorhanden ist, um solche Diskussionen führen zu können. Leider wurde von der Koalition die Chance vertan,
diesen Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen. Dies
wiegt umso schwerer, als gerade in Fragen europäischer
Gesetzgebung ein einheitliches Auftreten des gesamten
Bundestages vonnöten ist.
Der zweite Grund ist inhaltlicher Art. In Punkt 3 des
Darstellungsteils des Antrags wird behauptet, dass in
bisherigen Rahmenbeschlüssen, die sich mit der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen beschäftigen, 2008/947/JI und 2009/829/JI, der
Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit voll verwirklicht wäre. Dies ist jedoch schlicht falsch, denn die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit und infolgedessen
die Ablehnung der Anerkennung wird für gut 30 Deliktgruppen explizit ausgeschlossen. Wir haben uns, früher
gemeinsam mit der FDP und einigen in der SPD, gegen
diesen Ausschluss des Grundsatzes der beiderseitigen
Strafbarkeit in europäischen Rechtsakten gewandt und
die Abschaffung, zumindest aber eine Präzisierung der
Deliktgruppen gefordert. Es ist schade und unverständlich, weshalb die Koalition hier den Text nicht verbessert und die Fakten nicht richtig darstellt.
Des Weiteren wird im Forderungspunkt 5 des Antrags
die Bundesregierung aufgefordert, für den Fall, dass die
Initiative für eine Europäische Schutzanordnung nicht
zu verhindern ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass jeder
Vollstreckungsstaat in vollem Umfang den Einwand fehlender beiderseitiger Strafbarkeit erheben darf. Dies
macht aber bei einer Schutzanordnung keinen Sinn, die,
wie auch bei uns in Deutschland, gar nicht notwendigerweise mit einer Straftat begründet sein muss.
Wir Grünen werden deshalb dem Antrag der Koalition nicht zustimmen und uns der Stimme enthalten.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1461, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung ({0})
- Drucksache 17/1411 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Manfred Kolbe, Martin
Gerster, Frank Schäffler, Richard Pitterle und Jerzy
Montag.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1411 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 6
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Den Sport in Europa voranbringen
- Drucksache 17/1406 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann,
Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sport in der Europäischen Union - Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen
- Drucksache 17/1420 Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Martin Gerster,
Joachim Günther, Jens Petermann, Viola von CramonTaubadel und des Parlamentarischen Staatssekretärs
Dr. Christoph Bergner.
In wenigen Tagen kommen die Sportminister Europas
zum ersten Mal offiziell zu einem Ministertreffen zusammen. Das ist Anlass für unseren Antrag „Den Sport in
Europa voranbringen“. Wir wollen, dass Deutschland
eine aktive Rolle einnimmt und Motor für eine abgestimmte, gemeinsame europäische Sportpolitik wird.
Schon bei der Debatte über das „Weißbuch Sport“ der
EU, aber auch bei anderen Debatten hatten wir als
Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker ja einhellig darauf gedrängt, dass wir uns als Parlamentarier - und
auch die Bundesregierung - frühzeitig in die Ausgestaltung dieser durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffenen Kompetenz des EU-Parlaments und der EU-Kommission einbringen. So hatten wir es auch in unserem
Antrag aus der letzten Legislaturperiode zur gesellschaftlichen Bedeutung des Sports beschlossen. Daran
wollen wir festhalten - zumindest die SPD-Fraktion! Unser Antrag trägt den veränderten Bedingungen des
Sports auf europäischer Ebene Rechnung. Schon seit vielen Jahren - und spätestens seit dem sogenannten
Bosman-Urteil - ist jedem klar, dass die europäische
Dimension, insbesondere für den Profisport, an Bedeutung gewonnen hat und in Zukunft noch wichtiger werden wird. Aber auch für den Breitensport ist die nunmehr gegebene europäische Kompetenz ein Meilenstein
für den Sport in Europa. Wir leben schon seit langem
nicht mehr in einer Welt, die vor allem national bestimmt
ist, sondern in einer zunehmend globalisierten Welt.
Nicht zuletzt der Vulkanausbruch in Island und die damit
verbundenen weitreichenden Einschränkungen im europäischen Flugverkehr haben uns wieder einmal vor Augen geführt, wie nah wir aneinandergerückt sind. Und
wie bei allen Veränderungen ergeben sich daraus Chancen, die wir nutzen sollten - aber auch Risiken, die wir
nicht außer Acht lassen dürfen. Zunächst zu den Chancen, die sich aus einer europäischen Sportpolitik ergeben werden. Viele Bereiche sind schon im „Weißbuch
Sport“ angeführt und sollten durch die Sportpolitik der
EU aufgegriffen und konkretisiert werden. Ich will hier
nur einige wenige Punkte nennen. So muss beispielsweise die Förderung des Ehrenamts und dessen Schutz
um eine europäische Dimension erweitert werden. Wir
in Deutschland haben ja sehr gute Erfahrungen mit unseren Förderungen des Ehrenamts gemacht. Ohne diese
Menschen, die jedes Jahr dem Sport Millionen von Arbeitsstunden unentgeltlich zur Verfügung stellen, wäre
unser Land um vieles ärmer. Wir sollten den europäischen Einigungsprozess mit den Mitteln des Sports unterstützen. Wem, wenn nicht dem Sport mit seinen global
gültigen Regeln und seiner niedrigen Zugangsschwelle,
kann es gelingen, Brücken zu bauen? Wir müssen verstärkt Jugendbegegnungen im Bereich des Sports möglich machen und jungen Erwachsenen die Chance geben, Erfahrungen außerhalb ihrer Heimatländer zu
machen, in dem sie sich beispielsweise ehrenamtlich engagieren oder multinationale, sportbezogene Ausbildungsmöglichkeiten wahrnehmen. Eine abgestimmte europäische Sportpolitik stärkt die Rolle der EU auch auf
dem internationalen sportpolitischen Parkett. Wenn Europa hier mit einer Stimme spricht, wächst auch der Einfluss der Europäer in der internationalen Sportpolitik.
Europäische Sportpolitik muss auch bedeuten, grenzübergreifend voneinander zu lernen und Gutes aus dem
Bereich des Sports innerhalb Europas zu verbreiten.
Moderne Konzepte von „bewegter Schule“, bewährte
Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen und
Vereinen, Rahmenbedingungen für den Sport für Menschen mit Behinderungen, motivierende Bewegungs-angebote für die älteren Bürgerinnen und Bürger unserer
Gesellschaft usw. - in den vielfältigsten Bereichen des
Sports kann man in Europa hervorragende Ansätze finden. Um eine möglichst aktive Bevölkerung zu bekommen, muss nicht jedes Land das Rad neu erfinden. Der
Blick über die Landesgrenze und ein intensiver europäischer Austausch sind wichtig. Noch gibt es auch in den
Rahmenbedingungen, die der Sport in den einzelnen
Ländern Europas vorfindet, große Unterschiede, wie
auch in vielen anderen Politikbereichen. Daher muss
eine europäische Sportpolitik auch dazu führen, auf
lange Sicht in allen europäischen Staaten gute Voraussetzungen für den Sport zu sichern. Dazu gehört eine
moderne Infrastruktur genauso wie ausreichende finanzielle Förderung und ein rechtlicher Rahmen, der dem
Sport vernünftige Gestaltungsfreiheit lässt. Allerdings
sieht sich der Sport auch Risiken ausgesetzt, die nicht
nur national begrenzt werden können. Die Dopingbe3610
kämpfung kann nur international erfolgreich sein! Solange Ermittlungsergebnisse nicht problemlos von einem Land ins nächste gegebenen werden, solange
Sportler in einem Land wegen Dopingvergehen gesperrt
sind und im anderen Land antreten können und solange
die Sanktionen für Dopingsünder nicht einheitlich abschreckend geregelt sind, können Anti-Doping-Bemühungen nicht erfolgreich sein.
Der Sport sieht sich auch anderen Manipulationsversuchen ausgesetzt: Wettbetrug, Bestechung und dubiose
Praktiken bei der Spielervermittlung sind nur einige der
Gefahren, denen auf europäischer Ebene begegnet werden muss. Eine europäische Sportpolitik muss also
Chancen für den Sport nutzen und ausbauen, neue Wege
eröffnen und die Benefits des Sports fördern. Sie muss
aber auch klare Grenzen setzen und gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, die den Risiken für den Sport
Einhalt gebieten. Ich erwarte, dass sich die Bundesregierung in allen Bereichen aktiv einbringt, auch wenn
die Koalitionsfraktionen heute nicht mit eigenen Vorschlägen für das erste formelle Sportministertreffen aufwarten. Daher sehe ich der Berichterstattung des Bundesministeriums des Innern im Sportausschuss über
dieses Treffen mit Interesse entgegen.
Noch kurz zum Antrag der Grünen. Ich denke, wir
sind da in ganz vielen Bereichen sehr nah beieinander und nicht nur wir, sondern ich denke auch das ganze
Haus. Daher möchte ich nur zwei Punkte anmerken.
Zum einen vermisse ich bei Ihrem Antrag einen Hinweis
auf die Verantwortung Europas für den außereuropäischen Raum. Die Europäische Union ist eine Erfolgsgeschichte, um die uns die anderen Regionen zum Teil
durchaus beneiden, die aber auf jeden Fall im Rest der
Welt sehr intensiv beobachtet wird. Ich glaube, dass wir
als Europäer mit all unserer Wirtschaftsmacht ein wesentliches Interesse, ja sogar eine Pflicht haben, uns
miteinander für andere einzusetzen - und dies nicht zuletzt im und durch den Sport. Leider haben die Grünen
diesen Aspekt nicht in ihrem Antrag. Zum Zweiten habe
ich eine Frage, da ich einen Punkt in Ihrem Antrag nicht
verstehe: Unter Punkt B Ziffer 6 fordern Sie ein Lizenzvergabesystem für Sportvereine. Ich glaube, da stimmt
einfach die Begrifflichkeit nicht. Wahrscheinlich meinen
Sie eine Zertifizierung bzw. die Schaffung eines Zertifikats für Vereine, die sich in der von Ihnen beschriebenen
Weise um die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie
und Gewalt verdient machen. Sollte dies so sein, dann
unterstützen wir das natürlich; da führt dann aber der
von Ihnen gewählte Begriff in die Irre. Auch für die Aufklärung solch kleinerer Missverständnisse wird unsere
Sportausschusssitzung gut sein. Ich freue mich auf die
Fortsetzung der heute begonnenen Diskussion in diesem
Gremium.
Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dass
mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine Kompetenz auf europäischer Ebene für den Sport geschaffen
wurde. Mit der Verankerung im Primärrecht fällt der
Sport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereich
der Europäischen Union. Dies bietet eine Reihe von
Chancen für den Sport. Um hier nur einige Punkte zu
nennen:
Mit der Kompetenz der EU im Bereich der Sportpolitik lässt sich eine verbesserte Koordinierung der Dopingbekämpfung auf internationaler Ebene erreichen.
Aber auch auf Mitgliedstaaten innerhalb der EU, die die
UNESCO-Anti-Doping-Konvention noch nicht unterschrieben haben, kann eingewirkt werden.
Die Bestimmungen des WADA-Anti-Doping-Codes
und der Anti-Doping-Konvention des Europarates wie
auch der UNESCO-Anti-Doping-Konvention sollen
nicht nur im Bereich des Profisports, sondern ebenso im
Bereich des Breitensports Anwendung finden. Natürlich
stehen dabei ganz besonders das gesundheitliche Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen im Fokus der
Präventionsmaßnahmen.
Die neugeschaffene Kompetenz eröffnet uns weiterhin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körperlichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Jugendlicher, und bessere Möglichkeiten der Gewaltbekämpfung durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit.
Ein Kernanliegen der europäischen Sportpolitik
sollte auch die Rolle des Sports für ein gesundes und fittes Leben sein. Wir haben mittlerweile weltweit das Problem einer steigenden Anzahl von sogenannten Wohlstandserkrankungen wie Adipositas oder Diabetes, die
inzwischen einen großen Teil der Kosten unseres Gesundheitssystems verursachen. Mit ausreichend Bewegung und einer guten Ernährung müssen diese Herausforderungen angepackt werden.
Ebenso werden sich die Möglichkeiten verbessern,
Sportwettbetrug zu bekämpfen. Wettbetrug ist natürlich
schädlich und bringt den Sport allgemein zusätzlich zur
Dopingproblematik in ein schlechtes Licht. Jedoch sollten Sportwetten nicht allgemein als Ursache für dieses
Übel angesehen werden. Ich möchte an dieser Stelle
deutlich betonen, dass Sportwetten einen wichtigen Pfeiler für die Sportfinanzierung darstellen, auch im Bereich
des Breitensports. Die eingebrachten Anträge gehen in
die richtige Richtung, doch vergessen Sie einmal mehr,
dass das Geld für Ihre Forderungen auch irgendwo herkommen muss.
Deshalb fordern wir Liberalen seit langer Zeit die Liberalisierung des Sportwettenmarktes. Werfen wir doch
einen Blick auf Deutschland: Das Beratungsunternehmen Goldmedia hat in seiner im April 2010 veröffentlichten Studie eine umfassende Erhebung über die
Größe des deutschen Glücksspielmarktes vorgelegt.
Diese zeigt unter anderem, dass trotz der Nichtzulassung
privater Sportwettenanbieter in 2009 insgesamt 7,9 Milliarden Euro an Wetteinsätzen platziert worden sind.
Damit entfällt der übergroße Marktanteil von 94 Prozent
auf in Deutschland nichtregulierte Angebote: 2,4 Milliarden Euro auf die nach wie vor existierenden stationären Wettshops, 3,9 Milliarden Euro auf Onlineanbieter und weitere 1,0 Milliarden Euro auf den
Schwarzmarkt, der in sogenannten Hinterzimmern und
mobilen Kassen bzw. Läufergeschäften zu finden ist. Im
Gegensatz dazu kann die staatliche Sportwette Oddset/
Zu Protokoll gegebene Reden
Joachim Günther ({0})
Toto gerade einmal einen Umsatz durch Spieleinsätze
von 240 Millionen Euro verzeichnen. Die Diskrepanz
könnte kaum größer sein. Das staatliche Monopol und
das Internetverbot sind gescheitert.
Die Marktzahlen zeigen ganz klar, dass Verbraucher
Verbote nicht akzeptieren und zeitgemäße Glücksspielprodukte nachfragen. In der derzeitigen Situation hat
der Staat jedoch keine Kontrolle über diesen Graumarkt
und schöpft zudem die steuerlichen Potenziale nicht ab.
Was bedeutet das für Europa? Mit der Einführung einer Kompetenz der Europäischen Union im Bereich des
Sports ist es nicht getan. Diese Kompetenz muss mit Leben erfüllt werden. Mit der Aufhebung der Reglementierung für Sportwetten europaweit könnten zusätzlich zu
dem für das Jahr 2012 geplanten ersten EU-Sportförderprogramm zusätzliche finanzielle Mittel zur Förderung des Sports und gesundheitspräventiver Maßnahmen erschlossen werden.
Die Zuständigkeit der EU im Bereich Sport ist erst
mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember 2009 formalisiert worden. Vor diesem Hintergrund wird am 10. Mai in Madrid das erste Treffen der
Sportminister der Europäischen Union stattfinden. Dass
großer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. Sowohl im Weißbuch der Europäischen Kommission zum
Sport als auch in der Entschließung des Europäischen
Parlaments zu diesem Dokument wird ein Aspekt betont,
der in Deutschland auf Bundesebene leider immer noch
ein Stiefkind ist: die Förderung des Breitensports. In
Deutschland ziehen sich die Verantwortlichen bei diesem Thema gern auf eine einzige Aussage zurück: Sportförderung sei Sache der Länder und Kommunen. Die
Linke hält dem schon lange entgegen, dass dieses Land
endlich ein Sportförderungsgesetz des Bundes braucht,
damit Länder und Kommunen endlich ihre diesbezüglichen Aufgaben befriedigend erfüllen können. Statt ihre
Hausaufgaben zu machen und ein solches Gesetz auf
den Weg zu bringen, streichen die Haushälter der
schwarz-gelben Koalition lieber eines der wenigen Programme, das auf die Förderung des Breitensports ausgerichtet war: den Goldenen Plan Ost. Die Kommunen
werden nun mit ihren vielerorts maroden Sportstätten
mehr denn je allein gelassen. Das ist wahrlich nicht im
Sinne der europäischen Idee im Bereich des Sportes. Für
zweifelhaft halte ich auch die strikte Trennung zwischen
Breiten- und Leistungssport bei der Bekämpfung von
Dopingpraktiken. Die Grenzen sind hier fließend. Ja, es
ist absolut notwendig, den Kampf gegen Doping auf
europäischer Ebene zu harmonisieren. Ausreichen wird
dies in der globalisierten Welt des Sports jedoch nicht.
Zurück zu den fließenden Grenzen: Wie glaubwürdig
ist ein lautstark propagierter Kampf gegen Doping im
Spitzensport, wenn das Doping im Alltag - ob im Sport,
in Schule oder Universität - längst alltäglich ist? In den
USA nimmt jeder fünfte Student konzentrationssteigernde Mittel, die sich ebenso im Sport etabliert haben.
Und von umfangreichen Doping- und Drogenfunden in
deutschen Fitnessstudios wird bekanntermaßen regelmäßig berichtet. Hier gilt es anzusetzen, um das gesellschaftliche Bewusstsein nicht allein auf Dopingpraktiken im Leistungssport zu fokussieren. Im Übrigen
beginnen so gut wie alle negativen Erscheinungen bereits im Amateursport, sodass schon hier angesetzt werden muss, um Probleme anzugehen. Ich verweise auf den
Themenkomplex Rassismus, Homophobie und Gewalt
im Sport. Diese Bedrohungen zeigen sich insbesondere
im Fußball, und das bereits in den unteren Ligen. Für
lesbische Sportlerinnen und schwule Sportler bietet die
Umgebung des Spiels offenbar eine Atmosphäre, in der
sie große Scheu haben, zu ihrer Homosexualität zu stehen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Fanprojekte
zu unterstützen, die sich der Aufklärung verschrieben
haben. Gleiches gilt für rassistische Angriffe gegen
Menschen anderer Hautfarbe oder Religion. Auf diesem
Problemfeld sind vor allem grenzüberschreitende Netzwerke dringend nötig. Es ist eine gesamteuropäische
Aufgabe, sicherzustellen, dass Diskriminierung im Sport
wirksam bekämpft wird. In dem „Tatort“ aus Bremen
mit dem Titel „Endspiel“ wird diese Problemstellung
exemplarisch genauso aufgegriffen wie eine andere
schwerwiegende Entwicklung im Sport: Talentierte minderjährige Sportler werden aus ihren meist armen Heimatländern von Spieleragenten mit verheißungsvollen
Versprechen in die EU gelockt. Oft aber reicht ihr Talent
nicht aus für den ganz großen Sport, und sie geraten fern
der Heimat allein gelassen auf die schiefe Bahn. Deshalb ist es unbedingt notwendig, dass die diesbezüglichen Gesetze und Vorschriften umgesetzt werden. Die
FIFA verbietet Transfers von Spielern unter 16 Jahren,
nur wird diese Regelung längst nicht strikt genug angewandt. Im Vertrag von Lissabon ist verankert, dass die
EU verpflichtet ist, für den Schutz der körperlichen und
seelischen Unversehrtheit, insbesondere der jüngeren
Sportlerinnen und Sportler, zu sorgen. Hier haben die
Mitgliedstaaten, gerade auch Deutschland, ihre Hausaufgaben längst nicht erledigt. Dies sind nur einige ausgewählte Handlungsfelder aus dem Sportbereich, auf
denen einerseits die Europäische Union gefordert ist,
andererseits die konkrete Umsetzung aber in der Verantwortung der Mitgliedstaaten liegt. Zwar hat die EU mit
dem Vertrag von Lissabon erstmals Kompetenz im Bereich Sport erhalten, doch wirkt dies nur unterstützend,
koordinierend und ergänzend. Handeln muss jetzt die
Bundesregierung!
Der Sport war für die EU bisher bestenfalls eine Nebensache. Wer Sport auf die Europabühne bringen
wollte, musste sich argumentativer Hilfskonstruktionen
bedienen. Sport gehörte zu den Politikfeldern, die von
der nationalen Politik dauerhaft gepachtet schienen.
Diese Pachtregelung hat der Vertrag von Lissabon verändert. Die Möglichkeiten zur Förderung von Sportprojekten und - noch wichtiger - die systematische Einbeziehung des Sports in andere EU-Politiken und
Förderprogramme sind seit Inkrafttreten des LissabonVertrags möglich. Der Startschuss für eine Sportpolitik
in der EU fiel zwar schon mit dem „Adonnino-Bericht“
an den Europäischen Rat vom Juni 1985, der erstmals
Zu Protokoll gegebene Reden
die gesellschaftliche Rolle des Sports hervorhob. Aber
nun kann die Europäische Union erstmals eigene Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführen.
Das begrüße ich ausdrücklich.
Worum es jetzt aber geht, ist doch offenkundig: Wir
müssen die neuen Regelungen auch anwenden, oder
- um im Bild zu bleiben -: Europa muss das neu gewonnene Politikfeld auch bestellen. Und eben bei dieser Bestellung sehen wir erhebliche Defizite, die endlich behoben werden müssen. Ich sage bewusst „müssen“; denn
der Sport ist es wert, dass sich Europa - und dazu gehören eben auch die nationalen Parlamente - im Sinne des
Lissabon-Vertrages engagiert. Dabei hoffe ich - und das
betone ich als Mitglied einer proeuropäischen Partei -,
dass es uns gelingt, den Sport für die Herausbildung einer europäischen Identität zu nutzen. Natürlich ist uns
hier die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit des Sports
bei der Identitätsbildung von Nationen oder Regionen,
von ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen bekannt.
Sport kann eine ganze Nation, eine Stadt oder eine Region verbinden, er kann aber auch spalten und trennen.
Dieser Realität müssen wir uns bewusst sein, wenn wir
Sport zu einem Instrument der Förderung einer europäischen Identität machen. Und: Wir sollten uns auch keiner Illusion hingeben. Gerade im Sport findet Identitätsbildung häufig durch Abgrenzung statt. Der europäische
Integrationsprozess ist jedoch ein Gegenentwurf zu einer Abgrenzungsstrategie. Wer sich das bewusst macht,
kann wohl auch die Größe der Aufgabe erkennen.
Was fordern wir konkret? Die Bundesregierung muss
eine Position für eine kohärente, nachhaltige europäische Sportpolitik entwickeln. Und natürlich geht es auch
hier darum, dass sie sich für diese Maßnahmen und für
eine angemessene finanzielle Ausstattung des für 2012
geplanten ersten EU-Sportförderprogramms einsetzt.
Ein solches Programm ist sicher eine große Aufgabe.
Umso wichtiger ist es, sich zu konzentrieren und Prioritäten zu setzen. Aus meiner Sicht sollte die Bekämpfung
von Rassismus, Homophobie und Gewalt in der europäischen Sportpolitik ganz oben auf der Agenda stehen.
Diese Prioritätensetzung passt hervorragend zum europäischen Politikentwurf. Die Überwindung von nationalen Egoismen, Rassismus und Gewalt war und ist das
Kernanliegen des europäischen Projekts. Das sollte
auch in der Sportpolitik deutlich werden. In diesem Kontext sollte die EU Fanprojekte fördern, Präventionsarbeit im Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Gewalt unterstützen und einen grenzüberschreitenden
Wissenstransfer organisieren sowie die Forschung stärker auf diese Problemfelder fokussieren.
Es ist eine Aufgabe der EU, die Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden, Sportorganisationen
und weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
zu verbessern. In diesen Kontext passt die ureigene Aufgabe des Sports - seine Förderung der Integration. Hier
kann das traditionelle Instrument des Jugendaustauschs
eine neue Funktion bekommen. Das EU-Programm „Jugend in Aktion“ soll auch über 2013 hinaus fortgeführt
werden. Der Sport soll darin stärker als bisher berücksichtigt werden. Die Möglichkeiten des Sports zur Integration sollen durch die Förderung wissenschaftlicher
Untersuchungen und den Austausch von bewährten Verfahren besser genutzt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein Konzept für ein von den Mitgliedstaaten
der EU finanziertes europäisches Jugendwerk der interkulturellen Begegnung und des Sports nach dem Vorbild
des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen
Jugendwerkes auszuarbeiten.
Es sollen Programme von der EU entwickelt und finanziert werden, die der Integration von Menschen mit
Behinderung dienen. Die UN-Konvention über die
Rechte für Menschen mit Behinderung soll in allen Mitgliedstaaten der EU auch im Sportbereich konsequent
umgesetzt werden. Die EU soll Projekte unterstützen,
die sich für die Integration von Frauen und Mädchen,
speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, durch
den Sport einsetzen. Netzwerke zum Austausch bewährter Verfahren in diesem Bereich sollen unterstützt werden.
Ein weiteres wichtiges Feld ist die Bekämpfung von
Doping. Hier brauchen wir erstens ein europäisches
Kontrollsystem und zweitens geeignete Präventionsmaßnahmen, und zwar sowohl für den Profi- als auch für den
Breitensport. Das gilt für Erwachsene, aber besonders
für Jugendliche und - bezüglich der Prävention - auch
für Kinder.
Die EU muss den Kampf gegen Korruption in Sportorganisationen und gegen Sportwettbetrug wirksam unterstützen. Auch hier geht es um den Aufbau von Netzwerken zum Austausch bewährter Maßnahmen. In
Kooperation mit den Sportorganisationen, den Sportwetten- und Glücksspielanbietern und den Mitgliedstaaten soll ein gemeinsamer Rahmen entwickelt werden,
der gewährleistet, dass illegale Wettpraktiken verhindert werden.
Last, but not least: Die europäische Sportpolitik muss
sich an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung orientieren. In der Praxis heißt dies: In Europa sollen Sportgroßveranstaltungen nur noch klimaneutral ausgerichtet werden. Die Sportakteure in der EU sollen dazu
ermutigt werden, am System für Umweltmanagement
und Umweltbetriebsprüfung teilzunehmen. Es sollen
Projekte entwickelt und unterstützt werden, die das Bewusstsein der Menschen für Umwelt- und Naturschutz
bei der Sportausübung in der freien Natur fördern und
ihnen Handlungsempfehlungen geben.
Ich kenne natürlich die Einwände gegen ein stärkeres
EU-Engagement im Sport. Dazu gehört auch der Hinweis auf die unterstützende und koordinierende Rolle,
die die EU in erster Linie spielen soll, und dass es hier
um Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten
geht. Nach meiner Auffassung ist Sport aber ein so wichtiges Feld, dass jedes weitere Engagement willkommen
sein muss. Es ist ja offensichtlich: Die nationalen Aktivitäten reichen nicht aus. Deshalb mein Appell: Nutzen
wir die Möglichkeiten der EU und verstärken wir das
Engagement gegen die negativen Begleiterscheinungen
im Sport! Verbinden wir die Ideale der europäischen Einigung mit den Anliegen des Sports! Dazu ist auch ein
gut strukturierter Meinungsaustausch zwischen allen
Zu Protokoll gegebene Reden
staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Sportbereich der Mitgliedstaaten und in Europa sowie der Kommission von großer Bedeutung. Um diese Bedeutung
auch personell zu unterstreichen, sollte auf jeden Fall
der zuständige deutsche Minister beim ersten formellen
Treffen der europäischen Sportminister am 10./11. Mai
ein klares Zeichen setzen. Er sollte zeigen, welche Bedeutung er dem Sport in Europa beimisst. Dieses Zeichen wäre ganz einfach: Er müsste am Treffen der Sportminister teilnehmen. Bisher ist er dazu offensichtlich
nicht bereit. Das Fernbleiben des Ministers wäre ein
Fehler. Genau diesen Fehler sollte die Bundesregierung
nicht machen.
Der Vertrag von Lissabon hat uns die lang erwartete
und nicht zuletzt vom Deutschen Bundestag immer wieder geforderte Kompetenz der Europäischen Union im
Sport gebracht.
Der Weg bis zu dieser Kompetenz war beschwerlich.
So wurde der Sport durch die Aufnahme der sogenannten Gemeinsamen Erklärung zum Sport in das Amsterdamer Vertragswerk erstmalig in den Vertragstexten
der Europäischen Union berücksichtigt. Dieser Erklärung kam aber lediglich politische Bedeutung zu. Auch
die Erklärung von Nizza, in der sich die Europäische
Union im Jahr 2000 zu sportfreundlichen Entscheidungen verpflichtete, sowie die Erklärung zum Sport, die
der Europäische Rat 2008 anlässlich der französischen
Ratspräsidentschaft verabschiedete, stellten politische
Absichtserklärungen dar. Spätestens nach dem BosmannUrteil bestand wiederholt die Sorge, die europäische
Rechtsprechung könnte mangels spezifischer europarechtlicher Rahmensetzungen die Besonderheiten des
Sports nicht hinreichend berücksichtigen.
Mit dem von der Kommission 2007 im Anschluss an
die deutsche Ratspräsidentschaft veröffentlichten Weißbuch Sport hat die EU-Kommission diesbezüglich eine
wichtige Initiative ergriffen. Der Aktionsplan Pierre de
Coubertin, der mit 53 konkreten Maßnahmen aktuelle
sportpolitische Fragestellungen aufgriff, stellt einen
Versuch dar, europäische Gestaltungsräume zu öffnen.
Nun hat die Europäische Union eine Kompetenz im
Sport, und es gilt, nicht nur diese Kompetenz mit Leben
zu füllen, wie die Antragsteller richtig betonen, sondern
auch die Beachtung des Subsidiaritätsgedankens einzufordern.
Dabei sollte uns klar sein, dass Art. 165 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV,
dieser lediglich eine unterstützende Kompetenz zuweist,
die keinerlei Spielraum für Harmonisierung im Recht
der Europäischen Union lässt. Die Union kann nur ergänzend zu den Mitgliedstaaten handeln. Sie muss also
das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sports
beachten.
Art. 165 AEUV stellt allerdings keine generelle Ausnahmevorschrift für den Sport dar, die dazu führen
würde, dass die allgemeinen Regelungen des EU-Rechts
wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder das Wettbewerbsrecht von nun an keine Anwendung mehr auf den
Sport finden. Allerdings wird bei der Überprüfung von
Maßnahmen, die den Sport betreffen, in Zukunft verstärkt auf die Besonderheit des Sports zu achten sein.
Hier gilt es, zukünftig Ansatzpunkte zu entwickeln, die
der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gerecht
werden.
Das Initiativrecht für Maßnahmen unter dem neuen
Sportartikel liegt bei der Europäischen Kommission.
Die Kommission hat angekündigt, im Herbst 2010 eine
Mitteilung mit dem Titel „EU-Agenda zur Politikgestaltung und Kooperation im Sport“ vorzulegen, die, an das
Weißbuch Sport anknüpfend, aktuelle sportpolitische
Themen festlegt, mit denen sich die Kommission befassen möchte. Zudem wird sie zu diesem Zeitpunkt auch
das erste EU-Sportprogramm mit Fördermaßnahmen
für die Jahre 2012/2013 vorschlagen. In der zweiten
Jahreshälfte 2011 will die EU-Kommission dann ein
Förderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen.
Zu der neuen EU-Sportagenda und dem Förderprogramm für 2012/2013 hat die Kommission einen Konsultationsprozess gestartet. Die Mitgliedstaaten wurden
bereits auf dem informellen Sportministertreffen, das
diesen Dienstag und Mittwoch in Madrid stattgefunden
hat, angehört. Leider konnte ich, wie die Mehrzahl meiner europäischen Kollegen, aufgrund des eingeschränkten Flugverkehrs an diesem Treffen nicht persönlich teilnehmen. Ein ausführlicher Bericht über das informelle
Ministertreffen wird dem Bundestag in Kürze zugeleitet.
Eine weitere Anhörung ist dann für den formellen Ministerrat am 10. Mai 2010 geplant, an dem ich voraussichtlich teilnehmen werde. Neben dieser Abfrage bei den
Mitgliedstaaten führt die Europäische Kommission zurzeit auch eine für alle offene Konsultation über die Internetseite der Sport Unit durch, die noch bis 1. Juni
2010 andauert. Dies ist eine weitere Möglichkeit, die
Vorschläge der Kommission zu beeinflussen.
Die inhaltlichen Vorstellungen der EU-Kommission
im Hinblick auf die für Herbst 2010 geplanten Maßnahmen liegen Ihnen mit dem sogenannten Non-Paper der
Kommission zur Umsetzung der neuen EU-Kompetenz
für den Sport, das dem Deutschen Bundestag mit den
weiteren Vorbereitungsunterlagen für das informelle
Sportministertreffen zugeleitet wurde, vor.
Mit der neuen EU-Sportagenda will die Kommission
folgende, in Art. 165 AEUV erwähnte Bereiche abdecken: erstens die soziale und erzieherische Funktion des
Sports, zweitens insbesondere auf Ehrenamt basierende
Sportstrukturen, drittens Fairness und Offenheit im
Sport, viertens die körperliche und seelische Unversehrtheit von Sportlern sowie fünftens den Dialog und
Zusammenarbeit mit Interessenvertretern im Sport.
Als mögliche Prioritäten für ein Sportförderprogramm 2012/2013 schlägt die Europäische Kommission
die soziale Eingliederung im und durch Sport, gesundheitsfördernde körperliche Betätigung, allgemeine und
berufliche Bildung im Sport, Anti-Doping, vorbildliche
Organisationsformen, den strukturierten Dialog mit der
Sportbewegung und Sportökonomie und Statistiken vor.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag der Europäischen Kommission grundsätzlich zu. Allerdings
können wir zum einen den vorgeschlagenen Überwachungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmechanismus
zur Umsetzung der EU-Leitlinien für körperliche Aktivität auf EU-Ebene nicht unterstützen. Dies würde nur zu
zusätzlichem bürokratischem Aufwand führen. Zum anderen sehen die Bundesländer, übrigens auch die von
der SPD geführten, keinerlei Notwendigkeit für Aktionen auf EU-Ebene zur Unterstützung der Rolle des
Sports in der Bildung. Es bleibt für uns ein wichtiges Anliegen, den Kompetenzen der Länder angemessen Rechnung zu tragen. Es sei mir gestattet, angesichts der umfänglichen Forderungen in den Anträgen, auf unsere
Schwerpunkte zu verweisen:
Anti-Doping. Hier könnten wir uns als konkrete Maßnahmen die weitere Unterstützung eines EU-Netzwerks
der nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Einrichtung einer Anti-Doping Monitoring Task Force in Europa zur Überwachung der Entwicklung von DopingSubstanzen vorstellen. Die Taskforce könnte mit der
WADA zusammenarbeiten. Ich weise an dieser Stelle
aber auch darauf hin, dass die europaweite Koordinierung in Sachen Doping-Bekämpfung in erster Linie in
den Aufgabenbereich des Europarates fällt. Dieser verfügt auch über eine eigenständige Anti-Doping-Konvention, die mit 50 Mitgliedstaaten eine deutlich größere
Reichweite hat als die Europäische Union. Zudem sind
die Dopingkontrollsysteme bereits über den WADACode und die dazugehörigen Standards harmonisiert.
Duale Karriere und Mobilität von im Sport Beschäftigten. Eine konkrete Maßnahme wäre die Förderung
der gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungen und
Lizenzen zwischen den Mitgliedstaaten.
Förderung des Ehrenamts im Sport. Konkret könnten
hier in Umsetzung der Studie zur Freiwilligenarbeit in
der Europäischen Union Maßnahmen zur Gewinnung
von Freiwilligen im Sport entwickelt werden.
Integration durch Sport. Die Bundesregierung wird
sich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am
Sport - sei es im Breiten-, Freizeit- oder Spitzensport EU-weit nachhaltig verbessert werden. Dementsprechend halten wir es auch für wichtig, dass die UN-Konvention über die Rechte für Menschen mit Behinderung
in allen Staaten der Europäischen Union auch im Sportbereich umgesetzt wird. Wir begrüßen daher auch, wenn
die Union Programme entwickelt und finanziert, die der
Integration von Menschen mit Behinderung dienen. Gleiches gilt - vor dem Hintergrund der Erfahrungen in
Deutschland - auch im Hinblick auf Projekte, die im Bereich des Sports die Integration von Frauen und Mädchen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund,
fördern sollen.
Gesundheitsförderliche Bedeutung von Sport. Sportliche Betätigung und Bewegung im Alltag sind wesentliche Elemente eines gesunden Lebensstils. Mit dem Nationalen Aktionsplan „IN FORM - Deutschlands
Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“
werden vielfältige Aktivitäten vorgenommen, die auch
im europäischen Kontext von Interesse sind.
Schließlich begrüßen wir, dass die Europäische Kommission aufgrund der Besonderheit des Sports die Notwendigkeit für Handlungsanweisungen zu spezifischen
Themen sieht. Hier hat die Bundesregierung mit der Kabinettsinitiative „Sport und Wettbewerb“ die Klarstellung der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts auf
den Sport gefordert. Die Erstellung von Leitlinien nach
Konsultation des Netzwerks der europäischen Kartellbehörden, ECN, könnte als erster Anwendungsfall für den
Kommissionsvorschlag dienen.
Ich hoffe, ich konnte einen ersten Überblick über die
aktive Beteiligung der Bundesregierung an der Ausfüllung der ersten EU-Kompetenz im Sport geben. Ich bin
gerne bereit, in der nächsten Sitzung des Sportausschusses näher auf Vorschläge einzugehen, die den Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern oft
beträchtlich überschreiten. Ich darf angesichts der langen Forderungskataloge der beiden Anträge von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen darauf hinweisen, dass es
in der Sache weniger auf die Zusammenstellung langer
sportpolitischer Stichpunktlisten als vielmehr auf eine
den Belangen des Sports förderliche Kompetenzgestaltung ankommt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1406 und 17/1420 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Auch hier frage ich, ob Sie damit einverstanden sind. Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Auswärtigen Dienst europäisch, handlungsfähig und modern gestalten
- Drucksache 17/1204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu
Protokoll genommen: Roderich Kiesewetter, Karl
Holmeier, Dietmar Nietan, Oliver Luksic, Dr. Diether
Dehm und Manuel Sarrazin.
Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen
Dienstes, EAD, ist eine großartige Gelegenheit, ganz-
heitliches und verlässliches auswärtiges Handeln der
Europäischen Union zu fördern. Kohärenz und Kontinui-
tät sind hier die Stichworte. Der EAD muss ein leis-
Zu Protokoll gegebene Reden
tungsfähiges und innovatives Instrument zur Unterstüt-
zung der Aufgaben der Hohen Vertreterin werden. Er
sollte auch den Präsidenten des Europäischen Rates
sowie die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer je-
weiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungen
unterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusam-
menarbeiten. Der Vertrag von Lissabon stellt die Euro-
päische Union auf ein neues institutionelles Fundament,
das die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und au-
ßen stärkt und ihre demokratische Legitimation über das
Europäische Parlament und die nationalen Parlamente
deutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten
- und damit auch Bundestag und Bundesrat - erhalten
bessere Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen der
Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle und
bei institutionellen Entscheidungen. Ich betone das be-
sonders, weil die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009
diese demokratische Kontrolle angemahnt hat. Auch in
der Außenpolitik ist der Wille der Menschen maßgeblich
für das Handeln der Europäischen Union. Die Men-
schen in Deutschland wollen, dass die Union eine Rolle
in der Welt spielt, dass sie für unsere Werte einsteht. In
einer Umfrage, die die „BBC“ am 19. April veröffent-
licht hat, haben 76 Prozent der befragten Deutschen ge-
sagt: Die EU hat einen positiven Einfluss in der Welt. Zu
den wichtigsten institutionellen Reformen des Vertrages
von Lissabon gehört die Schaffung des Amtes eines Ho-
hen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheits-
politik, der zugleich Vizepräsident der Europäischen
Kommission ist, sowie Vorsitzender des Rates für Aus-
wärtige Angelegenheiten und Außenbeauftragter des
Europäischen Rates. Der Europäische Auswärtige
Dienst, EAD, unterstützt den hohen Vertreter in allen
Aufgaben. Die Hohe Vertreterin Catherine Ashton wurde
am 19. November 2009 vom Europäischen Rat für das
Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicher-
heitspolitik nominiert und übt diese Funktion seit dem
Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember
2009 aus. Nun gilt es, die Idee des Europäischen Aus-
wärtigen Dienstes mit Leben zu füllen. Die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion unterstützt mit ganzer Kraft die
Schaffung eines leistungsfähigen Europäischen Auswär-
tigen Dienstes, weil damit das außenpolitische Handeln
der Union kohärenter und effizienter gestaltet werden
kann. Sie unterstützt auch die vom Europäischen Parla-
ment geforderte Anlehnung des EAD an die EU-Kom-
mission, damit das Europäische Parlament seine Kon-
trollrechte wahrnehmen kann. Wer die demokratische
Legitimation der Europäischen Union stärken will, muss
auch den diplomatischen Dienst der Union so organisie-
ren, dass die wirksame parlamentarische Kontrolle
durch das Europäische Parlament gegeben ist. Die Ar-
beiten zur Schaffung eines Europäischen Auswärtigen
Dienstes befinden sich in ihrer heißen Phase, aber Sorg-
falt muss vor Eile gehen; denn es sind noch Fragen of-
fen, die gelöst werden müssen. Hierzu gehören neben
der Anbindung des EAD vor allem die Reichweite seiner
Kompetenzen und Instrumente, die Ausbildung und
Laufbahnplanung, die Personalrekrutierung und Perso-
nalfinanzierung sowie die Klärung der künftigen Bezie-
hungen zwischen dem Auswärtigen Dienst der Europäi-
schen Union und den nationalen Botschaften der
Mitgliedstaaten. Es wäre wenig erfreulich, wenn natio-
nale Botschaften und EAD-Vertretungen bei ihren Auf-
gaben miteinander konkurrierten, anstatt sich zu ergän-
zen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist auch zu
gewährleisten, dass das nationale Personal nicht nur
aus den auswärtigen Diensten gewonnen wird, sondern
auf die Kompetenz auch der anderen Ressorts zurückge-
griffen wird. Zudem geht es uns um Vermeidung von
Doppelstrukturen, um Zusammenlegung statt Zersplitte-
rung von Fähigkeiten, sodass sämtliches Außenhandeln
der EU in den angesprochenen Bereichen im EAD zu-
sammengefasst ist. Aktuell befinden wir uns in der Ab-
stimmung zu vielen offenen Detailfragen, wie die Anhö-
rung am gestrigen Mittwoch gezeigt hat. Ich sage es
noch einmal: Sorgfalt muss vor Eile gehen! Wir sollten
uns aber die Grundzüge und unsere Ansprüche an den
EAD nochmals vor Augen führen, um uns nicht in den
Detailfragen zu verlieren.
Erstens: Zuständigkeitsbereich. Der EAD sollte so
aufgebaut sein, dass der Hohe Vertreter seinen im Ver-
trag festgelegten Auftrag in vollem Umfang erfüllen
kann. Zur Gewährleistung der Kohärenz und einer bes-
seren Abstimmung des auswärtigen Handelns der Union
sollte der EAD auch den Präsidenten des Europäischen
Rates sowie den Präsidenten und die Mitglieder der
Kommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Auf-
gaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützen
und eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.
Zweitens: einheitliche Ressorts. Der EAD sollte sich
aus einheitlichen geografischen und thematischen Res-
sorts für alle Regionen und Länder zusammensetzen, die
unter der Aufsicht des Hohen Vertreters die gegenwärtig
von den zuständigen Diensten der Kommission und des
Ratssekretariats wahrgenommenen Aufgaben fortführen
müssen. Im EAD wird es zwar geografische Ressorts ge-
ben, die sich aus allgemeiner außenpolitischer Sicht mit
den Bewerberländern befassen, aber die Erweiterung
wird in der Zuständigkeit der Kommission verbleiben.
Für die Handels- und Entwicklungspolitik im Sinne des
Vertrags sollten weiterhin die betreffenden Mitglieder
und Generaldirektionen der Kommission zuständig blei-
ben, aber gemeinsam mit der Hohen Vertreterin die stra-
tegischen Ziele bestimmen.
Drittens: ESVP und Krisenbewältigungsstrukturen.
Damit der Hohe Vertreter die Europäische Sicherheits-
und Verteidigungspolitik, ESVP, leiten kann, sollten die
Direktion Krisenmanagement und Planung, CMPD, der
Stab für die Planung und Durchführung ziviler Opera-
tionen, CPCC, und der Militärstab, EUMS, Teil des
EAD sein, wobei die Besonderheiten dieser Strukturen
zu berücksichtigen sind. Ihre jeweiligen Aufgaben, Ver-
fahren und Einstellungsbedingungen sollten beibehalten
werden. Das EU-Lagezentrum, SitCen, sollte in den
EAD eingegliedert werden, aber so, dass das Lagezen-
trum auch weiterhin andere relevante Dienstleistungen
für den Europäischen Rat, den Rat und die Kommission
erbringen kann. Diese Strukturen werden eine Einheit
bilden, die der direkten Aufsicht und Verantwortung der
Hohen Vertreterin unterstellt ist. Die Ausarbeitung der
Maßnahmen im Zusammenhang mit dem GASP-Haus-
Zu Protokoll gegebene Reden
halt und dem Stabilitätsinstrument - Sondermaßnahmen
und Interimsprogramme - sollte dem EAD übertragen
werden. Nur so kann die Hohe Vertreterin ihre Aufgaben
im Bereich der Krisenbewältigung effektiv erfüllen.
Beim Entscheidungsprozess wird sich gegenüber der
derzeitigen Gestaltung nichts ändern, da der Rat, GASP,
und die Kommission - Stabilitätsinstrument - auch wei-
terhin die Beschlüsse fassen. Die technische Umsetzung
dieser Instrumente sollte in den Händen der Kommis-
sion liegen. Wichtig ist uns von der CDU/CSU, dass die
zivilen und militärischen Instrumente der Krisenvor-
sorge, also der Prävention, wie auch der Krisenbewälti-
gung ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich um
eine „Werkzeugkiste“ im Sinne des modernen, erweiter-
ten Begriffs der vernetzten Sicherheit. Deshalb lehnen
wir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab, eine
eigenständige Generaldirektion ausschließlich für zivile
Krisenprävention zu schaffen. Das ist nur zusätzliche
Bürokratie und widerspricht allen Anforderungen an ein
zeitgemäßes Krisenmanagement. Hier gehören zivile
und militärische Verfahren und Fähigkeiten untrennbar
zusammen. Mit einer „Militarisierung“ der europäi-
schen Außenpolitik hat die Eingliederung der Arbeits-
einheiten für Krisenprävention und Krisenbewältigung
nichts zu tun. Wir haben auch bei der öffentlichen Anhö-
rung zum EAD im Auswärtigen Ausschuss am 21. April
gesehen: Die „Militarisierungs-Experten“ haben keine
Sachargumente, sondern nur ein Schlagwort. Die Mili-
tarisierung ist ein polemisches Schlagwort, die Praxis
sieht anders aus. In der Praxis braucht die EU die ganz-
heitliche zivile und militärische Fähigkeit, Sicherheit zu
schaffen, damit ein Konflikt durch Vermittlung ent-
schärft werden kann, Stichwort „Werkzeugkiste“. Wenn
es nach den Militarisierungsexperten ginge, könnten wir
nur zuschauen, statt einer Krise wirksam zu begegnen.
Viertens: Rechtsstellung und Personalausstattung.
Der EAD sollte einen Organisationsstatus haben, der
seine einzigartige Rolle und Funktion im EU-System wi-
derspiegelt und unterstützt. Der EAD sollte ein von der
Kommission und dem Ratssekretariat getrennter Dienst
eigener Art, „sui generis“, sein. Die notwendigen An-
passungen der Haushaltsordnung, der Kommissionsver-
ordnung über die Durchführungsbestimmungen zur
Haushaltsordnung sowie des Beamtenstatuts sollten zü-
gig umgesetzt werden. Der EAD wird sein Personal aus
drei Quellen beziehen: aus den Fachabteilungen des Ge-
neralsekretariats des Rates und denen der Kommission
sowie aus den Mitgliedstaaten. Alle drei Kategorien die-
ses Personals sollten gleichbehandelt werden, was auch
bedeutet, dass sie für sämtliche Verwendungen unter
gleichwertigen Bedingungen in Betracht kommen. Da-
mit haben sie dieselben Möglichkeiten, Rechte und
Pflichten - zum Beispiel Funktionen, Verantwortlichkei-
ten, Beförderung, Dienstbezüge, Urlaub, Sozialleistun-
gen - wie das Personal aus den beiden anderen Berei-
chen. Gerade die Gleichbehandlung des aus drei
Quellen stammenden Personals ist das Grundprinzip
der Einstellungs- und Personalpolitik des EAD. Die
Hohe Vertreterin allein nimmt die Funktion der Anstel-
lungsbehörde für das EAD-Personal einschließlich der
EU-Delegationen wahr. Auch für die Aufbauphase sollte
ein Einstellungsverfahren vorgesehen werden, an dem
die Mitgliedstaaten, die Kommission und das General-
sekretariat des Rates beteiligt werden. Dies schafft die
nötige Transparenz. Es ist uns wichtig, darauf hinzuwei-
sen, wie bedeutsam die geografische Streuung bei der
Herkunft des EAD-Personals und auch der Grundsatz
der adäquaten Präsenz von Staatsangehörigen aus allen
EU-Mitgliedstaaten im EAD sind. Zumindest ein Drittel
des Personals des EAD soll, sobald der EAD seinen vol-
len Umfang erreicht hat, aus Bediensteten aus den Mit-
gliedstaaten bestehen. Darüber hinaus sollte, soweit
möglich, Mobilität zwischen dem EAD und der Kommis-
sion sowie dem Generalsekretariat des Rates hinsicht-
lich des Personals aus diesen Organen gewährleistet
werden. Gerade der personelle Austausch zwischen na-
tionalen auswärtigen Diensten und dem EAD erhöht die
Expertise und schafft ein besseres Verständnis für euro-
päisches und nationales Handeln. Ich sehe eine wirkli-
che Chance, dass ein europäischer „Esprit de Corps“
die europäischen Diplomaten inspiriert und motiviert.
Fünftens: zu entscheidende Fragen. A) Grundsatzfra-
gen. Die EAD ist eine Institution „sui generis“, deren
Strukturen auf ihre Rolle zugeschnitten sind und von
Kommission und Rat und auch von den Mitgliedstaaten
nicht dupliziert werden sollen. B) Beteiligung des Euro-
päischen Parlaments. Wir brauchen die parlamentari-
sche Haushaltskontrolle und zusätzlich die besonderen
im Rahmen der GASP vorgesehene Anhörung - Art. 36
EUV - bei einzelnen strategischen Entscheidungen. C)
Vertretung der Hohen Vertreterin. Offen ist, ob die Hohe
Vertreterin durch einen Generalsekretär - so Ashton-
Entwurf - oder durch als Sonderbeauftragte ernannte
politische Repräsentanten - so EP - vertreten werden
soll, insbesondere gegenüber dem EP und Drittstaaten.
Wichtig ist, dass die Vertretung im Sinne einer starken
und handlungsfähigen HV erfolgt und trotzdem ad-
äquate Ansprechpartner für Parlament, Rat und Kom-
mission gefunden werden. Hier fordern wir pragmati-
sche, vor allem effiziente Lösungen. Derzeit können wir
uns nur eine politische Stellvertretung vorstellen. Dies
sollte nicht der Generalsekretär sein, dies würde die
Stellung der Hohen Vertreterin eher schwächen. D) Auf-
gabenumfang. Der EAD sollte aus einheitlichen geogra-
fischen und thematischen Referaten bestehen, die die
zurzeit von der Kommission und vom Ratssekretariat
durchgeführten Aufgaben übernehmen: Hier gilt es, be-
reits auf der Dezernats- und Abteilungsebene zivile und
militärische Fähigkeiten zu vernetzen. Die Organisa-
tionselemente für Krisenprävention und Krisenmanage-
ment dürfen somit nicht von den Strukturen des EAD ge-
trennt sein, sondern müssen im EAD auf Arbeitsebene
zusammengeführt werden. Dies ist unsere feste Überzeu-
gung. E) Programmierung. Fraglich ist die Rolle, die
der EAD bei der Programmierung des Europäischen
Entwicklungsfonds und des Instrumentes für die Ent-
wicklungszusammenarbeit sowie für die Nachbar-
schafts- und Partnerschaftspolitik spielen soll. Je inte-
grativer, umso besser. F) Personalauswahl. Die
Mitgliedstaaten sind auf allen Ebenen des EAD angemessen zu berücksichtigen. Die ganzheitliche Zusammenarbeit zwischen geografischen und thematischen
Ressorts im EAD ist uns wichtig. Gleichzeitig gilt es, ein
spezielles Augenmerk auf die besonderen Bedingungen
Zu Protokoll gegebene Reden
für die Einbeziehung der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, ESVP, und der Krisenbewältigungsstrukturen in den EAD zu richten. Es darf nicht zu
Doppelarbeit zwischen der Kommission, dem Generalsekretariat des Rates und dem EAD kommen.
Ich fasse für die CDU/CSU zusammen: Der EAD
muss nahe der Kommission angesiedelt sein, um die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament zu gewährleisten. Doppelstrukturen sind aus Effizienz- und Kostengründen zwingend zu vermeiden. Im
Sinne des erweiterten, vernetzten Sicherheitsbegriffs
sind bereits auf Arbeitsebene die zivilen und militärischen Krisenvorsorge- und Krisenbewältigungsmechanismen zusammenzufassen, also: „eine Werkzeugkiste“.
Die Vertretung der HV in Angelegenheiten des EAD ist
pragmatisch und wirkungsvoll zu gestalten, es sollten
politische Vertreter in ausreichender Anzahl sein, die
auch von den nationalen Parlamenten und Drittpartnern, wie beispielsweise dem Golfkooperationsrat, akzeptiert werden. Unser deutsches Personal sollte direkt
entsandt werden. Es sollte die gleichen Rechte und
Pflichten haben wie die originären Beamten der EU. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bildung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und sein Aufwachsen
aufmerksam und konstruktiv begleiten. Die Europäische
Union garantiert den Menschen in Europa seit ihrer
Gründung Frieden und Wohlstand. Die Union baut auf
Demokratie, Menschenrechte und die Grundsätze der
sozialen Marktwirtschaft. Weltweit können wir diese
Werte nur verteidigen und verbreiten, wenn die Staaten
Europas nach außen als echte Union auftreten. Europas
Diplomaten werden für 500 Millionen Bürger Europas
sprechen. Sie werden unsere Werte und Ziele weltweit
vertreten. 76 Prozent der Deutschen sagen, dass Europa
eine positive Rolle in der Welt spielt. Wie alle diese Menschen wollen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
dass der Europäische Auswärtige Dienst die starke
Stimme Europas in der Welt wird.
Mit dem Vertrag von Lissabon, auf den wir lange hingearbeitet haben, wurde eine neue Ära in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union eingeläutet. Wir haben mit diesem Vertrag endlich die Möglichkeit zu einem kohärenten auswärtigen
Handeln der Europäischen Union.
Diese Möglichkeit spiegelt sich in erster Linie in der
Funktion des neu geschaffenen Amtes des Hohen Vertreters bzw. der Hohen Vertreterin der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik wider - der Britin Catherine
Ashton. Nach dem Vertrag ist es die Aufgabe der Hohen
Vertreterin, Sorge für ein einheitliches, kohärentes und
wirksames Vorgehen der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu tragen. Lady
Ashton ist damit das maßgebende außen- und sicherheitspolitische Gesicht Europas in der Welt.
In Anbetracht der Bedeutung dieser Funktion ist es
unerlässlich, dass Lady Ashton die maximal mögliche
Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zukommt. Ich begrüße daher ausdrücklich die eindeutige
Positionierung der Bundesregierung und insbesondere
des Bundesaußenministers, der Lady Ashton wiederholt
öffentlich sein Vertrauen zugesagt und um Unterstützung für sie geworben hat. Ich verweise hier nicht zuletzt
auf seinen Besuch im Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union.
Um diesen bedeutsamen Auftrag auch organisatorisch und personell bewerkstelligen zu können, sieht der
Vertrag die Einrichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, vor, auf den sich die Hohe Vertreterin
bei ihrer Aufgabenerfüllung stützt. Da die Organisation
und Arbeitsweise des EAD nicht durch den Vertrag
selbst, sondern durch einen Ratsbeschluss näher bestimmt wird, kommt diesem eine wegweisende Bedeutung
beim Aufbau der einheitlichen, kohärenten und wirksamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu. Hier
will gut Ding Weile haben, denn die Einrichtung eines
solch bedeutenden Dienstes zieht enorm viele Detailfragen nach sich und birgt ein nicht zu unterschätzendes
Konfliktpotenzial. Es gilt, die vielen verschiedenen Interessen von Mitgliedstaaten, Rat, EU-Kommission und
EU-Parlament miteinander in Einklang zu bringen und
dabei dennoch eine starke Einrichtung zu schaffen.
Orientierungsmaßstab für die institutionelle Einbindung des EAD muss dabei der Auftrag der Hohen Vertreterin sein; denn diese soll der Dienst letztlich stützen.
Dies zugrundegelegt, muss der EAD organisatorisch unabhängig von der Kommission und dem Ratssekretariat
sein. Gleichwohl darf dies nicht zu einer vollständigen
Kontrolllosigkeit des EAD führen. Um eine hinreichende
demokratische Legitimation sicherstellen zu können,
muss er vielmehr zwingend einer gewissen Kontrolle
durch das Europäische Parlament und auch durch den
Rat unterliegen. Eine Kontrolle durch den Rat sichert
letztlich auch einen Einfluss der nationalen Parlamente.
Hierauf müssen wir dringend achten, denn es geht darum, die gerade erst mit dem Vertrag von Lissabon eingeräumten Rechte der nationalen Parlamente und des
Europäischen Parlaments nicht sofort wieder zu beschneiden. Wenn wir dabei nicht auf der Hut sind, beweisen wir, dass wir aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nichts gelernt haben.
Des Weiteren muss vor der Arbeitsaufnahme des EAD
eindeutig geklärt sein, wer bzw. welche Institution zugunsten des EAD welche Kompetenzen und Aufgaben
abgibt. Dies ist eine besonders schwierige Herausforderung; denn freiwillig gibt so schnell keine Institution
ihre Kompetenzen ab. Genau das ist jedoch zur Vermeidung unnötiger Doppelstrukturen und überflüssiger Bürokratie zwingend notwendig.
Dies sage ich nicht nur an die Adresse der Kommission gerichtet, sondern bewusst auch mit Blick auf die
Mitgliedstaaten. Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn,
wenn wir zu den nationalen diplomatischen Diensten
noch einen europäischen hinzubekommen. Hier müssen
wir die sich bietenden Synergieeffekte unbedingt nutzen.
Alles andere lässt sich auch den Bürgerinnen und Bürgern nicht glaubhaft vermitteln. Wenn wir ernsthaft von
Bürokratieabbau sprechen, müssen wir ihn auch ernsthaft betreiben. So ist vor diesem Hintergrund beispielsZu Protokoll gegebene Reden
weise fraglich, ob jeder Mitgliedstaat mehrere konsularische Vertretungen in anderen Staaten haben muss oder
ob es nicht effizienter wäre, sich hier teilweise auf den
EAD zu stützen.
In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich
die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Personal
für den EAD aus den unterschiedlichen Institutionen
und den verschiedenen Mitgliedstaaten gleich behandelt
und eingesetzt wird. Es müssen sich also sowohl die
Kommission wie auch der Rat und die einzelnen Mitgliedstaaten personell angemessen im EAD vertreten sehen.
Vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt Europas ist es für eine hinreichende Legitimation des EAD
und dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch dringend
erforderlich, dass jeder Bürger in seiner Muttersprache
mit Vertretern des EAD in Kontakt treten kann. Eine angemessene Vertretung der Interessen aller Unionsbürger
nach außen ist anders nicht möglich. Zudem muss sich
bei der Einrichtung des EAD endlich niederschlagen,
dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache in
der Europäischen Union ist. Ihr muss daher eine herausgehobene Stellung eingeräumt werden. Es kann nicht
sein, dass verschiedene Dokumente nur in Englisch oder
Französisch verfügbar sind, sondern hier brauchen wir
eine angemessene Berücksichtigung der deutschen
Sprache.
Der EAD ist ein Dienst zur Wahrnehmung nicht nur
von außen-, sondern eben auch von sicherheitspolitischen Aufgaben. In ihm werden daher zivile aber auch
militärische Aspekte gleichermaßen eine wichtige Rolle
einnehmen. Wenn es tatsächlich unser Ziel ist, einen
starken Auswärtigen Dienst zu etablieren, mit dem wir
einheitlich und geschlossen in der Welt auftreten können, dürfen wir uns nicht auf den einen oder anderen Bereich versteifen. Wir müssen die zivilen und militärischen Bereiche miteinander vernetzen. Wir dürfen uns
auch nicht nur auf Krisenprävention konzentrieren, wie
im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefordert, sondern wir brauchen einen weiten Aktionsradius,
der sowohl präventive Maßnahmen wie auch Maßnahmen zur aktiven Krisenbewältigung umfasst.
Europa steht mit der Einrichtung des EAD vor einer
bedeutenden Herausforderung. Die Pflöcke, die mit der
Einrichtung dieses Dienstes eingeschlagen werden, sind
eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft der
Europäischen Union, ihrer Institutionen und der Mitgliedstaaten. Der Deutsche Bundestag hat die schwierige Aufgabe, im Hinblick auf den Ratsbeschluss sowohl
seine eigenen Interessen und Einflussmöglichkeiten sicherzustellen wie auch eine verantwortungsvolle Entscheidung zur Etablierung eines starken Europäischen
Auswärtigen Dienstes zu treffen. Wir werden daher in
den kommende Wochen genau hinsehen und den Prozess
zum Aufbau des EAD aktiv begleiten.
Mit dem Vertrag von Lissabon und der Berufung von
Lady Catherine Ashton in das neue Amt der Hohen Vertreterin hat die Europäische Union zwei weitere wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik, GASP, getan. Um jetzt ein noch
größeres Maß an Kohärenz zu erlangen, wird es entscheidend sein, ob es der EU bald gelingen wird, den im
Lissabon-Vertrag vorgesehenen Europäischen Auswärtigen Dienst - kurz EAD - als einen effizienten, unabhängigen und loyalen Dienst der Hohen Repräsentantin
an die Seite zu stellen. Denn je länger sich der momentan vorherrschende Eindruck festsetzen wird, dass die
Einrichtung des EAD eher einem Gezerre zwischen
Kommission, Rat und Mitgliedstaaten um Macht, Einfluss und Posten gleicht, desto größer wird die Gefahr,
dass sich die EU weiter in einer aus globaler Sicht außenpolitisch irrelevanten Wahrnehmung verlieren wird.
Gerade jetzt ist also politische Führung in der EU gefragt. Gerade jetzt bedarf es EU-Mitgliedstaaten, die
dem kleinkarierten Streit ihre eigenen, ambitionierten
Vorschläge entgegensetzen. Das wäre die Chance für
Deutschland, sich wieder als Motor der europäischen
Integration zu bewähren. Doch das, was wir bisher von
der derzeitigen Bundesregierung in der Frage des EAD
zur Kenntnis nehmen durften, ist eine einzige große Enttäuschung. Lediglich eine konkrete Initiative gibt es zu
vermelden: Der Bundesaußenminister ließ in einem
Brief an Lady Ashton keinen Zweifel aufkommen, dass
ihm die angemessene Verwendung der deutschen Sprache im zukünftigen EAD sehr am Herzen liegt. Es spricht
Bände, dass man jedoch über die - zugegebenermaßen
nicht unwichtige - Sprachenfrage hinaus in den bisherigen öffentlichen Beiträgen von Herrn Westerwelle keine
weiteren ambitionierten Vorschläge für den EAD vernehmen konnte.
Natürlich hat sich der Bundesaußenminister auch zu
vielen Verfahrensfragen geäußert und seine Unterstützung für Lady Ashton beteuert. Aber wo bleibt ihr Anspruch, Herr Westerwelle, sich bei diesem wegweisenden Projekt um den viel gerühmten großen Wurf zu
bemühen? Wie sehen Ihre konkreten Vorschläge für
einen EAD aus, der die EU und deren Hohe Repräsentantin in die Lage versetzt, dem großen Ziel einer kohärenten Außenpolitik näherzukommen? Für eine EU, die
zunehmend mit einer Stimme spricht, wenn es um die
großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel,
Armut, Hunger, Unterdrückung, Terrorismus oder Verbreitung von Massenvernichtungswaffen geht? Herr
Bundesaußenminister, Sie reden gerne von einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
aus einem Guss. Doch wann werden Sie endlich konkret?
Jetzt wäre die Zeit, eine politische Debatte zu führen
für einen EAD, der so gut strukturiert und mit den besten
Mitarbeitern aus Kommission, Rat und den Diplomatischen Corps der Mitgliedstaaten ausgerüstet ist, dass er
der Hohen Vertreterin nicht nur in der EU, sondern gerade in der Welt sichtbar den Rücken stärkt. Jetzt und
nur jetzt finden wir Rahmenbedingen vor, die gerade danach rufen, in der GASP einen großen Schritt voranzugehen. Jetzt haben wir endlich die Administration in den
USA, die wir uns so lange gewünscht haben: offen für
multilaterale Ansätze, bereit zur Kooperation mit den
Europäern, ambitioniert in Fragen der RüstungskonZu Protokoll gegebene Reden
trolle und Sicherheitspolitik. Die NATO arbeitet an
neuer Strategie, in der auch die EU Mitgliedstaaten innerhalb des Bündnisses eine größere Rolle spielen könnten. Der russische Präsident Medwedjew zeigt großes
Interesse an neuen Initiativen für ein gemeinsames
Europa der Stabilität, Sicherheit und Kooperation. Mit
einem ambitionierten und loyalen EAD an ihrer Seite
könnte die Hohe Vertreterin Lady Ashton mit und für die
EU eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die
große Chance zu nutzen, die EU zu einem wichtigen Akteur in einem gemeinsamen Agieren mit den USA und
der Russischen Föderation zu entwickeln. Das Fenster
einer solchen einmaligen Gelegenheit wird sich möglicherweise bald wieder schließen, wenn wir uns in der
EU weiter mit uns selbst beschäftigen, anstatt die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, die europäische Zukunft zu gestalten.
Vor ein paar Tagen bin ich von politischen Gesprächen mit unseren amerikanischen Freunden aus den
USA zurückgekehrt. Sie alle haben mich gefragt, was
mit der EU los sei? Viele fragten mich, ob die Bundeskanzlerin zu einer EU-Skeptikerin geworden sei? Und
diejenigen von ihnen, die uns durchaus freundlich gesonnen sind, erklärten mitleidig, dass sie ja Verständnis
dafür hätten, dass wir in der EU noch nicht so weit
seien. Was für ein verheerendes Bild, wenn man bedenkt,
dass US-Außenministerin Clinton vor einigen Wochen
Europa sogar eine direkte Partnerschaft mit den USA in
sicherheitspolitischen Fragen angeboten hat.
Mir scheint, dass nicht nur die Bundesregierung, sondern auch viele andere EU-Mitgliedstaaten bei ihrem innereuropäischen Geplänkel um ihren Einfluss auf den
EAD völlig übersehen, dass die Welt nicht darauf wartet,
bis sich die EU in der Lage sieht, mit einem effizienten
EAD eine kohärente Außenpolitik zu betreiben. In dieser
Situation ist es schon bitter, zu sehen, dass es ausgerechnet der Bundesregierung an ambitionierten, aber realisierbaren Konzepten fehlt, wie Europa als globaler Akteur aussehen soll und welche positiv verstärkende Rolle
dabei ein gut aufgestellter EAD spielen könnte. Wo ist
Deutschlands Vorschlag, den Doppelschlüssel bei der
Programmierung der EU-Instrumente so zu gestalten,
dass das letzte Wort immer beim EAD und der Hohen
Vertreterin bleibt, wenn sich diese nicht mit dem zuständigen Kommissar auf gemeinsame Programmziele einigen kann? Wo ist Deutschlands Konzept für eine Personalrekrutierungsstrategie, die aus Kommission, Rat und
Mitgliedstaaten die wirklich besten Kräfte in den EAD
bringt? Wir hoffen im Übrigen sehr, dass die Bundesregierung hier mit gutem Beispiel vorangehen wird.
Schicken Sie unsere besten Diplomatinnen und Diplomaten in den EAD!
Wie sieht die Initiative der Bundesregierung aus, um
einen vernünftigen Kompromiss in der Debatte über den
Personalschlüssel der aus Kommission, Rat und Mitgliedstaaten zu entsendenden Mitarbeiter des EAD zu
erwirken? Sollten wir nicht das große Potenzial der
Kommission und ihrer Generaldirektionen effektiver
nutzen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, dass der
EAD nicht lediglich zum verlängerten Arm der Kommission werden darf? Warum unterstützen Bundesregierung
und CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht den guten Vorschlag für politisch legitimierte Stellvertreter der Hohen
Vertreterin im EAD, den ihr Parteifreund Elmar Brok
gemeinsam mit dem früheren belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstadt vorgelegt hat? Mit unserem
deutschen Modell von Staatsministern und Staatssekretären könnten sie doch auf eine erfolgreiche Alternative
verweisen.
Auf all diese Fragen wünschen sich viele Kolleginnen
und Kollegen in diesem Hause und auch ich substanzielle Antworten. Wahrscheinlich könnten wir zu all diesen Fragen sogar ein weitgehendes Einvernehmen zwischen den Regierungsfraktionen und den Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD herstellen. Doch wie
schon in der Frage des Beitritts von Island zur EU nutzt
die Bundesregierung die Möglichkeiten der Beteiligung
des Bundestages nur taktisch und nicht im Sinne eines
gestärkten gemeinsamen Agierens von Parlament und
Regierung. Auch dies ist wieder eine große Chance, die
Sie, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußenminister, unnötig vergeben haben.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal betonen:
Mir geht es mitnichten darum, die bisherigen Entwicklungen im EAD schlechtzureden, ganz im Gegenteil.
Noch nie hatten wir bessere Rahmenbedingungen für
eine tiefgreifende Fortentwicklung der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Wir haben den
Vertrag von Lissabon und das Amt einer Hohen Vertreterin für europäische Außenpolitik ins Leben gerufen. In
den USA und in Russland gibt es den ernstgemeinten
Wunsch nach stärkerer Kooperation mit den Europäern.
Und wir alle wissen, dass dem nicht immer so war. Ein
ambitionierter, gut strukturierter EAD, der der Hohen
Vertreterin loyal zuarbeitet und mit einer hohen politischen Legitimation - auch aus dem Europäischen Parlament - ausgestattet ist, würde angesichts dieser
Rahmenbedingungen sehr viel erreichen können. Doch
dafür bedarf es politischer Führung und politischen
Muts. Beides scheint in dieser Bundesregierung jedoch
nicht vorhanden zu sein. Beides würde ich dieser Bundesregierung allerdings von Herzen wünschen, weil es
gut wäre für Europa und deshalb auch gut für unser
Land.
Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen
Dienstes unter der Leitung der Hohen Vertreterin für die
Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet ein neues Kapitel
in der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion will eine effiziente und kohärente Koordinierung der Politikfelder
der europäischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik. Die Einrichtung des EAD als neues außenpolitisches Instrument stellt hierfür eine einzigartige
Chance dar, die wir nicht verstreichen lassen dürfen.
Die Europäische Union soll, wo immer möglich, mit einer Stimme in der Welt sprechen können. Die FDP-Bundestagsfraktion steht für einen starken und schlagkräftigen EAD, der die Interessen der EU nach außen
bestmöglich vertreten kann. Lady Ashton hat daher unsere volle Unterstützung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Europäische Auswärtige Dienst stellt jedoch aufgrund seiner Stellung im europäischen politischen Koordinatensystem und der Einbeziehung verschiedener
Elemente und Aufgabenfelder eine Institution sui generis dar. Schon jetzt kann man sagen, dass es für die Zukunft unvermeidbar sein wird, ihn einer ständigen Adaption und Weiterentwicklung unterziehen zu müssen,
beispielsweise angesichts zukünftiger eventueller Neuzuschnitte der Generaldirektionen der Europäischen
Kommission.
Lassen Sie mich, bevor ich mich mit dem nun vorliegenden Entwurf der Hohen Vertreterin im Einzelnen befasse, kurz vorwegschicken, dass die FDP-Bundestagsfraktion es außerordentlich begrüßt, dass die Hohe
Vertreterin der Bitte des Bundesaußenministers nachgekommen ist und klargestellt hat, dass die deutsche Sprache für die Personalauswahl und das Verfassen von Dokumenten des EAD von großer Bedeutung sein wird.
Dies war ein besonderes Anliegen der Bundesregierung,
und die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich ausdrücklich bei Herrn Minister Dr. Westerwelle für dessen
richtige und wichtige Initiative. Deutschland soll jedoch
nicht nur sprachlich, sondern auch personell im EAD
eine Rolle spielen. Angesichts der nach dem vorliegenden Entwurf hohen Zahlen der Beamten aus der Europäischen Kommission als auch des Ratssekretariats im
EAD stellt sich für mich die Frage, wie die Bundesregierung wird sicherstellen können, dass Deutschland in
ausreichendem Maße im EAD repräsentiert sein wird.
Dies ist aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ein
zentraler Punkt bei den kommenden Verhandlungen.
Es ist angesichts des komplexen Aufbaus des EAD
sehr erfreulich, dass die Hohe Vertreterin bereits Ende
März ihren Vorschlag unterbreitet und diesen nun durch
einen weiteren Annex ergänzt hat. Diese Dokumente
können nun als konkrete Grundlage für die weitere Diskussion dienen. Der Entwurf der Hohen Vertreterin
zeichnet sich durch das Bemühen aus, im Sinne eines Interessenausgleichs möglichst viele der gemachten Vorschläge und Anregungen seitens der verschiedenen
Akteure zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufassen. Dies gilt sowohl für die personelle Struktur als
auch für die sachlichen Kompetenzen des EAD.
Meines Erachtens kommt es bei den nun folgenden
Debatten entscheidend darauf an, sicherzustellen, dass
der Europäische Auswärtige Dienst handlungsfähig ist.
Dazu müssen insbesondere seine Kompetenzen und
seine Stellung im EU-Koordinatensystem klar vereinbart
werden. Nur so wird er die mit seiner Errichtung verbundenen Erwartungen erfüllen können. Insbesondere
sollten die mit seiner Schaffung möglichen und auch beabsichtigten Synergieeffekte umfassend genutzt werden.
Insbesondere sollte vermieden werden, bereits vergemeinschaftete Politiken in den Bereich der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP
zurückzuführen. Daneben spricht sich die FDP-Bundestagsfraktion für eine flexible Ausübung konsularischer
Tätigkeiten für EU-Bürger, insbesondere was die Schaffung gemeinsamer Visastellen angeht, aus. Es wird den
Bürgern nicht zu vermitteln sein, falls sie sich angesichts
eines immer enger zusammenwachsenden Europas in
konsularischen Angelegenheiten nicht an die EU-Delegationen wenden könnten. Hier sollten manche Mitgliedstaaten europäischer denken und handeln.
Daneben darf es auf keinen Fall dazu kommen, dass
der EAD durch ein Übermaß an Doppelstrukturen zwischen den Institutionen in Brüssel in seiner Handlungsfähigkeit gelähmt wird. Eine realistische Einschätzung
gebietet zwar festzustellen, dass sich Doppelstrukturen
aufgrund der sogenannten Doppelhut-Funktion der Hohen Vertreterin nicht vollständig vermeiden werden lassen. Allerdings müssen diese auf ein absolut notwendiges Minimum begrenzt bleiben und dürfen nicht die
durch den Vertrag von Lissabon beabsichtigten Synergieeffekte für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik zunichtemachen. Die vorgeschlagene Doppelschlüsselregelung für die Zusammenarbeit zwischen der
Hohen Vertreterin und den Generaldirektionen Außenbeziehungen und Erweiterung gehen hier in die richtige
Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in den
weiteren Beratungen mit der Europäischen Kommission
und dem Europäischen Parlament nachdrücklich für
solche effektive Regelungen einsetzen.
Ich komme nun zu einigen Punkten des Entwurfs, die
in der Diskussion von besonderer Bedeutung sind und
zum großen Teil auch über Fraktionsgrenzen hinweg kritisch gesehen werden.
Zuallererst muss natürlich die Finanzierung des EAD
abschließend geklärt werden. Der Entwurf schweigt sich
hierüber leider weitgehend aus. Hier gibt es noch Klärungsbedarf, wie die für den EAD notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden sollen.
Bezüglich der personellen Struktur des EAD sehen
auch wir insbesondere die Frage nach der politischen
Vertretung von Lady Ashton. Nach Ansicht der FDPBundestagsfraktion ist eine politische Stellvertretung
der Hohen Vertreterin insbesondere gegenüber dem Europäischen Parlament und Regierungsmitgliedern erforderlich. Hier ist momentan noch viel im Fluss und ungeklärt. Je nachdem, aus welchem Kreis die Vertreter
benannt werden sollen, stellt sich hier aus meiner Sicht
jedenfalls generell die Frage nach der politischen Legitimation. Natürlich bedarf die Hohe Vertreterin bei der
Erfüllung ihrer umfangreichen Aufgaben der Unterstützung aus ihrem Stab. Allerdings muss hierbei beachtet
werden, dass sich hierdurch die kompetenzrechtlichen
Koordinaten nicht zu weit verschieben. Der FDP-Bundestagsfraktion ist es ein wichtiges Anliegen, dass Baroness Ashton die zentrale Figur für die Führung des EAD
und das Bild einer kohärenten gemeinsamen Außenpolitik ist und auch bleibt.
Für dieses Ziel stellt sich auch zentral die Frage nach
einem von der Hohen Vertreterin ausgehenden einheitlichen Weisungsstrang. Dies gilt sowohl für die politische
Arbeit in Brüssel als auch gegenüber den in den EU-Delegationen tätigen Beamten der Europäischen Kommission. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht das durch den
Entwurf vorgesehene geteilte Weisungsrecht für die EUDelegationen äußerst kritisch. Unseres Erachtens ist es
für eine kohärente Außenpolitik unerlässlich, dass die
Weisungsstränge des EAD eindeutig verlaufen. Alle WeiZu Protokoll gegebene Reden
sungen, auch solche, die zunächst in den Generaldirektionen der Europäischen Kommission in Bereichen der
Gemeinschaftszuständigkeit entworfen werden, müssen
durch den EAD bzw. die Hohe Vertreterin an die EU-Delegationen erteilt werden.
Ein besonders wichtiger Punkt für die Kollegen aus
dem Europäischen Parlament, aber auch für uns hier ist
naturgemäß die Frage nach der parlamentarischen
Kontrolle des EAD. Auch hier liest sich der Entwurf aus
meiner Sicht eher vage. Ich halte es für außerordentlich
wichtig, dass hier eine vernünftige Balance zwischen
parlamentarischem Kontrollrecht einerseits und der
Funktionsfähigkeit des EAD andererseits gefunden wird.
Es ist beispielsweise richtig und notwendig, dass das
Europäische Parlament auch über das Mittel der Haushaltskontrolle die Verwendung der finanziellen Mittel
für und durch den EAD überwachen kann. Natürlich
steht die Hohe Vertreterin als Mitglied der Europäischen
Kommission dem Europäischen Parlament gegenüber in
Rechenschaftspflicht. Allerdings darf es nicht zu einer zu
starken Detailkontrolle kommen, die zu einer Behinderung des EAD in seiner täglichen Arbeit führt. Ich freue
mich daher, dass das Europäische Parlament, beispielsweise was die Frage nach der Ernennung von Delegationsleitern angeht, mittlerweile auf die Hohe Vertreterin zugekommen ist und anstatt des ursprünglich
geforderten Zustimmungserfordernisses nun die Leiter
der EU-Delegationen nach Amtsantritt zu einer Anhörung in das Europäische Parlament einladen möchte.
Für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, GASP, und der Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik, ESVP, also die nicht vergemeinschafteten Aufgabenfelder der Hohen Vertreterin,
steht dem Europäischen Parlament gemäß Art. 36 EUV
nur ein Konsultationsrecht zu. Ich teile daher die Bedenken einiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments
bezüglich der Regelung, dass jene Teile des EAD, in denen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik geplant und ausgeführt wird, der Hohen Vertreterin
direkt unterstellt sein sollen. Ich hielte es für besser,
wenn auch diese Politikbereiche wie die übrigen Generaldirektionen in den Abstimmungsprozess einbezogen
werden würden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, bin
ich der Meinung, dass auch der Bundestag hier seiner
Verantwortung bei der Frage nach einer parlamentarischen Kontrolle nachkommen sollte.
Aus all diesen genannten Gründen glaube auch ich
nicht, dass der vorgegebene Zeitplan einzuhalten sein
wird. Es bedarf weiterer Beratungen, sowohl hier in
Berlin als auch in Brüssel. Hier sollte man sich meines
Erachtens aber nicht unter zeitlichen Druck setzen. Alle
offenen Fragen müssen ausführlich geklärt werden. Der
Zeitfaktor darf nicht wichtiger sein als die Qualität des
Ergebnisses.
Einige der von mir genannten Punkte und Bedenken
finden sich auch in dem vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wieder. Die FDP-Bundestagsfraktion wird die kommenden Verhandlungen über
den Aufbau des EAD weiterhin aufmerksam beobachten
und konstruktiv begleiten. Ich bin sicher, dass wir auch
über Fraktionsgrenzen hinweg uns über einige Punkte
werden verständigen können.
Im Vertrag von Lissabon, Art. 27 Abs. 3 EUV, wurde
die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, EAD, vertraglich festgeschrieben, der den Hohen
Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Gestaltung und Umsetzung einer „kohärenten“ europäischen Außenpolitik unterstützen soll. Zwar spitzen sich
seit der Amtsübernahme von Catherine Ashton als Hoher Vertreterin weitgehend abgeschottet und unbeachtet
von der deutschen wie europäischen Öffentlichkeit die
Kontroversen über den EAD zu. Der eng gesteckte Aufbauzeitplan lässt sich daher nicht mehr einhalten. Dennoch nimmt der Dienst immer schärfere - und beunruhigen-de - Konturen an. Bei den Kontroversen geht es
nicht nur um Rivalitäten zwischen EU-Institutionen.
Diese spielen eine wichtige Rolle, doch geht es um
Grundsätzlicheres: Zur Debatte steht - erstens - die
politische Ausrichtung der EU-Außenpolitik. Zweitens
geht es um die entscheidende Frage der demokratischen
Kontrolle dieser zentralen EU-Behörde. Die Linke ist
der Ansicht - wie auch eine wachsende Zahl von europa, sicherheits- und entwicklungspolitischen Expertinnen
und Experten -, dass der Aufbau des EAD zu einer qualitativ neuen Stufe der Militarisierung der EU-Außenund Sicherheitspolitik führt. Wir sind zudem überzeugt,
dass alle derzeitigen Pläne zum EAD als funktional unabhängiger Einrichtung - als „Institution sui generis“ dem Motiv folgen, wirksame demokratische Kontrollmechanismen von vornherein auszuschließen. Die mangelnde parlamentarische Kontrolle des EAD wurde auch
von den Berichterstattern des EP wiederholt kritisiert.
Lassen Sie mich diese Punkte näher ausführen: Mit dem
Aufbau des EAD verabschiedet sich die EU endgültig
vom Selbstverständnis als „Zivilmacht“. Nach Jahren
der eher schleichenden Militarisierung - zum Beispiel
durch den Auf- und Ausbau militärischer Kriseninterventionskräfte wie den EU-Battle-Groups und der zunehmenden Entsendung bewaffneter Missionen im Rahmen von Peacekeeping-Einsätzen nach Kapitel VII der
UN-Charta - bekennt sich die EU offen zum Militär als
Instrument zur Wahrung eigener ({0})Interessen. Die EU verfolgt mit dem EAD das Ziel, ihre Interessen künftig „wirksamer“ und unter Einsatz aller Mittel
weltweit zu vertreten bzw. durchzusetzen. Ausdrücklich
werden hierzu neben diplomatischen, politischen und
wirtschaftlichen Instrumenten auch Militär und Nachrichtendienste gezählt. Dies spiegelt sich im institutionellen Aufbau des EAD wider, der bestehende militärische und nachrichtendienstliche Strukturen - den EUMS,
EU-Militärstab, das PSK, Politische und Sicherheitspolitische Komitee, und das Sitcen, Situation Center, - unter seinem „Dach“ vereint, um den Dienst „schlagkräftiger“ zu machen. Dadurch wird die - in Deutschland
wie der EU - bisher aus gutem Grund eingezogene Trennung militärischer und nachrichtendienstlicher Institutionen aufgehoben. Es ist, vorsichtig formuliert, sehr
verwunderlich, dass der Antrag der Grünen auf diesen
Aspekt mit keinem Wort eingeht. In die gleiche Richtung
weist die geplante Zusammenführung militärischer
Zu Protokoll gegebene Reden
Strukturen mit denen der zivilen Konfliktbearbeitung im
neuen Planungsdirektorat für Krisenmanagement, Crisis Management Directorate, CMPD. Damit gehören
unabhängige zivile Einsatzplanungen der Vergangenheit
an. Die Gefahr ist groß, dass Instrumente der zivilen
Konfliktbearbeitung immer weniger als Alternative in
politische und operative Planungen einfließen, sondern
diese zum „Appendix“ militärgestützter Krisenintervention werden. Und dies ungeachtet der eindeutig negativen Bilanz zurückliegender Militäreinsätze. Vor dieser
Entwicklung warnen nicht nur Friedensbewegung und
kritische Friedensforschung. Sehr deutlich äußerte sich
unter anderem Alain Délétroz von der International Crisis Group, einem Thinktank, der militärische Interventionen nicht grundsätzlich ablehnt: „Die Kapazität der
EU zur Konfliktverhütung und zur Friedenssicherung
hat [durch die Einrichtung des EAD] einen herben
Schlag erlitten.“ Dies gilt auch für die EU-Entwicklungspolitik, die ebenfalls eng mit dem EAD verzahnt
werden soll. Im aktuellen EU-Ratsbeschluss wird zwar
die vollständige Unterstellung der Entwicklungszusammenarbeit, EZ, unter den EAD abgelehnt und eine enge
Abstimmung mit der Kommission bei Programmplanung, -durchführung und -finanzierung eingefordert.
Dennoch setzt sich damit programmatisch und institutionell die „Versicherheitlichung“ der EZ fort, das heißt
ihre Unterordnung unter eine sicherheitspolitische und
militärische Logik. Kritische Beobachter - und auch die
Linke - befürchten, dass über die „Mitverantwortung“ EU-Ratsbeschluss - des EAD und unter anderem über
das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit und
den Europäischen Entwicklungsfonds es zu einer deutlichen Verschiebung der Mittelzuweisungen zuungunsten
der „klassischen“ EZ kommt und immer mehr Gelder direkt oder indirekt in sicherheitsrelevante Programme
fließen. Hier, wie die Grünen, nur den Ausbau präventiver und ziviler Instrumente innerhalb der vorgesehenen
Strukturen zu fordern und auf „politische Kohärenz“ zu
pochen, erweckt in Anbetracht der Erfahrungen mit der
Nichtumsetzung entwicklungspolitischer Kohärenzgebote den Eindruck von Naivität - wenn man gutgläubig
sein will. Lassen Sie mich zum zweiten Kritikpunkt kommen: dem systematischen Ausschluss demokratischer
Kontrollmöglichkeiten. Dies betrifft sowohl die Beteiligung am Aufbau des Dienstes wie auch die parlamentarische Überwachung seiner Tätigkeit. Sowohl der
Ashton-Vorschlag als auch der Ratsbeschluss verweisen
auf die Art. 27 und 36 EUV. Doch sind dadurch weder
Transparenz noch wirksame Kontrollen durch das EP
gewährleistet. Bereits in der Aufbauphase sind lediglich
Unterrichtungen und Anhörungen des EP vorgesehen,
während das Vorschlagsrecht bei der Hohen Vertreterin
und die Entscheidung bei der Kommission und - vor allem - dem Europäischen Rat liegen. Dieses strukturelle
Demokratiedefizit besteht fort, wenn der EAD arbeitsfähig ist. Im letzten Ratsbeschluss findet sich kein Hinweis
mehr auf Einflussmöglichkeiten des EP bei Personalentscheidungen im EAD. Und ob das Parlament über die
Haushaltspolitik die Politik des Dienstes wird beeinflussen können, ist äußerst fraglich. Die parlamentarischen
Rechte beschränken sich somit auf Unterrichtungen
durch den Hohen Vertreter. Die Formulierung im Art. 36
EUV, nach der „die Auffassung des EP gebührend berücksichtigt“ werden soll, gibt dem Parlament keinerlei
politisch bindende Instrumente an die Hand, um Planung und Arbeit des EAD wirksam beeinflussen oder
korrigieren zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass
HV und EAD die programmatische Ausgestaltung und
Durchführung der EU-Außenpolitik entscheidend prägen werden, ist diese mangelhafte politische „Rückbindung“ und Rechenschaftspflicht gegenüber den Parlamenten - gegenüber dem EP wie den Parlamenten der
Mitgliedstaaten - ein nicht hinnehmbarer Skandal. Auch
in diesem Punkt bleiben die Forderungen der Grünen an
die Bundesregierung somit auf halber Strecke stehen.
Eine nicht näher ausgeführte „Beteiligung“ des EP zu
fordern, ist in keiner Weise ausreichend. Wir lehnen daher sowohl den EAD als auch den Antrag der Grünen
ab.
Die Regierungsvertreterinnen und Vertreter der EU-Mitgliedstaaten streben an, bereits am kommenden Montag
eine grundsätzliche politische Einigung über die zukünftige Struktur des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu
erzielen. Ein ambitioniertes Ziel, wird doch in Brüssel
und den Hauptstädten auf Hochtouren über die konkrete
Ausgestaltung, Arbeitsweise, Aufgabenteilung und Personal- und Haushaltsfragen gerungen. Rat und Kommission nutzen die Errichtung des EAD für Kämpfe um
Macht und Einfluss und verhalten sich dabei - meiner
Einschätzung nach - nicht konstruktiv. Das Wesentliche
scheint dabei ein wenig aus dem Blickwinkel zu geraten.
Ich will hier ganz klar sagen, dass wir Grüne in dem
neuen Amt des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik und dem EAD immer eine großartige
Chance für eine moderne, kohärente und effektive EUAußenpolitik gesehen haben - und dies immer noch sehen! Es gibt einige grundlegende Prämissen, die der
EAD unserer Meinung nach erfüllen muss, um einer europäischen Außenpolitik, wie sie Art. 21 des EU-Vertrags, EUV, beschreibt, gerecht zu werden. Der EAD
muss modern, wertegebunden, effektiv und in seinem
Selbstverständnis „europäisch“ sein. Europa ist eine Zivilmacht. Wir wollen eine klare Priorität des EAD auf
Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung. Modern sein heißt für uns, den Herausforderungen des
21. Jahrhunderts zu entsprechen: Klimawandel, Armutsbekämpfung, Umgang mit fragiler Staatlichkeit, gerechter Zugang zu natürlichen Ressourcen und die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen - um nur einige zu
nennen - sind grundlegende Handlungsfelder dafür.
Diese Herausforderungen können nur in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft gelöst werden. Daher erwarten wir vom EAD einen wichtigen Beitrag zur Stärkung eines effektiven Multilateralismus.
Außerdem muss er sich zu den Millenniumsentwicklungszielen bekennen und die Bekämpfung von Armut
und Hunger maßgeblich vorantreiben. Im Geiste „europäisch“ bedeutet für uns, dass die Hohe Vertreterin allein weisungsbefugt gegenüber allen Bediensteten des
EAD sein muss. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass
sich unter den Bediensteten ein europäischer „Esprit de
Corps“ entwickelt. Dafür ist wichtig, dass sich der EAD
Zu Protokoll gegebene Reden
und seine Bediensteten mit den Zielen des Art. 21 Abs.1,
EUV identifizieren und sie nach außen vertreten. Ich
könnte mir sogar vorstellen, dass die EAD-Bediensteten
bei Aufnahme ihrer Tätigkeit einen Eid auf den Vertrag
von Lissabon schwören. Aber das sind bisher nur Gedankenspiele. Klar ist aber, dass alle EAD-Bediensteten
dem EU-Personalstatut unterstellt sein müssen. Zudem
muss der Dienst sich an seine Pflichten gegenüber dem
Europäischen Parlament halten und Rechenschaft ablegen. Letztendlich kann der EAD nur effektiv, kohärent
und stark sein, wenn die Hohe Vertreterin stark ist. Der
Begriff der Kohärenz aus dem EU-Vertrag bedeutet für
mich, dass die Interpretation der Rolle der Hohen Vertreterin einen deutlichen Mehrwert für die EU und ihr
außenpolitisches Handeln bedeutet. Zudem setzten wir
uns für einen finanziell eigenständig budgetierten EAD
ein, der der strengen haushälterischen Kontrolle des EP
untersteht. Die Aufgabenteilung zwischen EU-Kommission und EAD muss vorab eindeutig geklärt sein. Das
bringt mich zu dem nun vorliegenden Vorschlag von
Lady Ashton. Während im Bereich der Entwicklungspolitik mit der sogenannten Doppel-Schlüssel-Lösung eine
- auf den ersten Blick - passable Lösung gefunden
wurde, ist unklar, unter welche Verantwortung das Stabilitätsinstrument - das einzig wirklich schnelle Krisenreaktionsinstrument der EU - fällt. Eine Ansiedlung unter die
Krisenmanagementstrukturen, so wie sie im Vorschlag
von Ashton vorgesehen sind, wäre fatal. Dies ist nicht
der einzige Schwachpunkt in Ashtons Vorschlag. Besorgniserregend und vollkommen kontraproduktiv ist die
Sonderstellung, die die Krisenmanagementstrukturen
des Rates im EAD einnehmen sollen. Ohne jegliche Anbindung an andere für diesen Bereich relevante Strukturen sollen diese Einheiten dem direkten Befehlsstrang
und sogar der täglichen Koordinierung durch die Hohe
Vertreterin und dem Generalsekretär unterstellt sein.
Mit Sorge beobachten wir auch die angedachten Rekrutierungsvorhaben hierfür. Es spricht nichts dafür, Beamte im Krisenmanagementbereich gesondert zu behandeln. Konfliktprävention und Friedensunterstützung,
das heißt Konfliktnachsorge, Wiederaufbau und Mediation, spielen im vorliegenden Entwurf keine Rolle. Krisenmanagement wird somit einseitig auf militärische
Strukturen reduziert. Das ist weder dem EUV noch den
Anforderungen an eine moderne Außenpolitik angemessen. Stattdessen fordern wir die Einrichtung einer Generaldirektion „Peace-Building and Civilian Crisis Management“ im EAD, unter der sich die oben genannten
Krisenmanagementstrukturen einordnen. Offen ist auch
die Frage nach der politischen Vertretung der Hohen
Vertreterin. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel
fordern zu Recht eine politische Verantwortung vor dem
Europäischen Parlament. Kritisch betrachten wir auch
die machtvolle Stellung des Generalsekretärs im Vorschlag von Frau Ashton. Diese Machtposition würde ermöglichen, dass sich dieser zum eigentlichen Strippenzieher entwickelt und die Hohe Vertreterin zur
Marionette verkommt. Eine weitere Gefahr besteht in
dem Versuch einiger Mitgliedstaaten, bereits vergemeinschaftete Politikbereiche über den Umweg des EAD zurückzuerobern. Diese sich abzeichnende Tendenz einer
Rückabwicklung von gemeinschaftlichen in zwischenstaatliche Strukturen stellt eine komplette Fehlentwicklung dar. Der EAD und die Hohe Vertreterin bedeuten
einen Fortschritt in der europäischen Integration, und
das muss sich auch in der konkreten Umsetzung widerspiegeln. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass der EAD wirklich modern, wertegebunden und europäisch wird. Verhindern
Sie, dass die EU dem Vorwurf ausgesetzt wird, sie würde
ihre Rolle als Zivilmacht im EAD verkennen!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Die Überweisung ist somit beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßstäben
- Drucksache 17/1407 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Clemens Binninger, Gerold
Reichenbach, Jimmy Schulz, Jan Korte und
Dr. Konstantin von Notz.
Das Europäische Parlament hat am 11. Februar 2010
gegen das SWIFT-Abkommen gestimmt, das die EU-Innen- und Justizminister im November 2009 unterzeichnet haben. Deshalb ist es jetzt notwendig geworden, ein
neues Abkommen mit den USA zu verhandeln. Die Kommission hat hierzu im März einen Entwurf für das neue
Verhandlungsmandat formuliert, der seither mehrfach
überarbeitet und nachgebessert wurde. Der JI-Rat soll
das Mandat morgen beschließen, sodass die Verhandlungen mit unseren amerikanischen Partnern aufgenommen werden können.
Dass Zahlungsverkehrsdaten ein zentraler Ansatzpunkt bei der Aufklärung der Terrorfinanzierung sind
und dazu beitragen, terroristische Netzwerke zu identifizieren, steht außer Frage. Auch, dass wir dabei der Kooperation mit unseren Partnern bedürfen, dürfte unstrittig sein. Genauso dürfte es auch Konsens in diesem
Hause sein, dass wir dabei bestmögliche Datenschutzstandards und Vorkehrungen gegen den Missbrauch von
Daten brauchen und sicherstellen müssen. Das war die
Position der Koalition in der vergangenen Legislaturperiode, und das ist auch die Position der christlich-liberalen Koalition. Der Bundesinnenminister hat beim Be3624
schluss zum SWIFT-Abkommen im vergangenen Jahr
großen Wert darauf gelegt. Er hat in den aktuellen Gesprächen zum neuen Verhandlungsmandat zahlreiche
Verbesserungen in Bezug auf den Datenschutz erreicht,
und auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit den
USA wird der Datenschutz ein zentrales Anliegen sein,
zentral für die europäische Seite wie auch für unsere
amerikanischen Partner.
Der Antrag der SPD zum Verhandlungsmandat, der
heute vorgelegt wird, enthält indes nicht viel Neues.
Eine ganze Reihe von Forderungen wurde schon auf Basis des alten Abkommens berücksichtigt, etwa die enge
Beschränkung auf Zwecke der Terrorismusbekämpfung,
das Vorliegen eines begründeten Verdachts, das Verbot
von Data-Mining, kein Zugriff auf Daten von sogenannten SEPA-Zahlungen. Diese und weitere Datenschutzvorkehrungen waren bereits in der Vergangenheit Gegenstand der Zusammenarbeit der EU mit den USA in
diesem Feld. Unter anderem 2007 haben die Vereinigten
Staaten solche wesentlichen Zusicherungen zum Datenschutz gemacht. Diese Zusicherungen wurden seinerzeit
von der EU begrüßt.
Peer Steinbrück hat als Vertreter des Rates der EU
seinerzeit zusammen mit Kommissionsvizepräsident
Frattini dem US-Finanzministerium ausdrücklich für
die Kooperation in Sachen Datenschutz und Datensicherheit gedankt. In ihrem Schreiben - im Amtsblatt der
EU nachzulesen - formulieren sie:
Wir danken Ihnen für Ihre Mitwirkung in dieser
Frage; sie zeigt, wie sehr wir gemeinsam entschlossen sind, die bürgerlichen Freiheiten zu wahren,
den Terrorismus zu bekämpfen und für ein reibungsloses Funktionieren des internationalen Finanzsystems zu sorgen.
Das ist der Weg, den wir auch in Zukunft gemeinsam
mit den Vereinigten Staaten als Partner beschreiten werden - Bekämpfung des Terrorismus, verbunden mit dem
Schutz von Daten und bürgerlichen Freiheiten. Ich
warne davor, zu unterstellen, die Amerikaner hätten kein
Interesse an Datenschutzfragen. Gerade beim Datenschutz, der ja auch im Mittelpunkt des SPD-Antrages
steht, wurden in Kooperation mit den Vereinigten Staaten wesentliche Fortschritte erreicht.
Schauen wir uns doch einmal die Entwicklung in diesem Bereich an. Erst gab es - zu Regierungszeiten von
Rot-Grün - überhaupt kein Abkommen, keine konkreten
Regelungen, was die Abfrage von Bankdaten zur Terrorbekämpfung anging. Ein großer Fortschritt waren dann
die Zusicherungen zum Datenschutz, die die USA unter
deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 gemacht haben. Dazu gehörte auch, dass der französische Richter
Bruguière im Auftrag der EU als unabhängige Persönlichkeit die Einhaltung der Zusicherungen vor Ort in
den USA überprüft hat. Zu seinem Auftrag gehörte auch,
den Nutzen des US-Programms für die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit auch in der EU zu bewerten. Er legte seinen ersten Bericht 2008 vor, in dem er in
beiden Punkten - Datenschutz und Nutzen - zu einem
positiven Fazit kommt und gleichzeitig zusätzliche
Empfehlungen für die weitere Verbesserung des Datenschutzes macht. Seit dem Januar 2010 liegt jetzt der
neue Bruguière-Bericht vor, der unterstreicht, dass zusätzliche Verbesserungen in Sachen Datenschutz von
amerikanischer Seite umgesetzt wurden und dass die
Zusammenarbeit mit den USA bei der Nutzung von Zahlungsverkehrsdaten auch weiterhin von großer Bedeutung bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist. Bei aller Kritik, die es in Deutschland in den
letzten Monaten gab, gilt es auch, diese unabhängige
Einschätzung eines angesehenen Fachmanns anzuerkennen.
Das 2009 geschlossene SWIFT-Abkommen, das jetzt
nicht mehr zur Anwendung kommt, hatte umfassende
und verbindliche Datenschutzstandards festgeschrieben.
Ich bin sicher, dass wir auch mit dem neuen Verhandlungsmandat, über das wir hier debattieren, ein hohes
und noch weiter verbessertes Datenschutzniveau erreichen werden.
Hier wurde schon im Vorfeld bei den Mandatsverhandlungen Wichtiges erreicht. Deutschland hat sich bei
den Verhandlungen aktiv und sehr erfolgreich eingebracht. Zahlreiche deutsche Nachbesserungsvorschläge
wurden im aktuellen Mandatsentwurf bereits aufgegriffen. Ganz besonders weise ich auf die Forderungen hin,
die Innenminister de Maizière beim JI-Rat am 25. Februar vorgegeben hat: Beschränkung der an die USA zu
übermittelnden Daten, strikte Zweckbindung der Daten,
Beschwerdemöglichkeiten und gerichtlicher Rechtsschutz für die Betroffenen. Eine weitere zentrale Forderung wurde zumindest teilweise aufgegriffen, nämlich
die Forderung, die Daten über einen kürzeren Zeitraum
aufzubewahren. Der Kommissionsvorschlag sah hier ursprünglich in Übereinstimmung mit der bisherigen Regelung und den Aufbewahrungsfristen der Banken nach
internationalen Standards eine Höchstspeicherdauer von
fünf Jahren vor. Auf unsere Forderung hin wurde - zusätzlich zu dieser absoluten Höchstgrenze - ergänzt,
dass die Speicherdauer im Abkommen „so kurz wie
möglich“ angelegt sein soll. Das sind greifbare Verbesserungen im Mandatsentwurf, die mit Blick auf den vorliegenden Antrag auch die SPD-Fraktion begrüßen
dürfte.
In diesem Zusammenhang möchte ich vor einem
Punkt warnen: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir beim Datenschutz das Bestmögliche erreichen können, wenn wir nur mit möglichst weitgehenden
Forderungen in die Verhandlungen gehen. Das gerade
ist nicht der Fall. Wir isolieren uns dann vielmehr zunehmend von unseren Partnern in der Europäischen
Union, und am Ende haben wir dann selbst bei denjenigen erhebliche Probleme, mit denen wir uns gemeinsam
für bessere Datenschutzstandards beim SWIFT-Abkommen einsetzen. Deshalb wäre es sehr problematisch,
wenn wir - wie der SPD-Antrag empfiehlt - fordern
würden, nur deutsche Datenschutzmaßstäbe und die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als
Standards in das Verhandlungsmandat einzubringen.
Wie soll Deutschland seinen Partnern in der EU erklären, dass gerade die deutschen Standards das Maß aller
Dinge sein sollen? Für das Abkommen zwischen der EU
und den USA kann nicht allein deutsches Recht der
Zu Protokoll gegebene Reden
Maßstab sein, sondern EU-Recht. Alleingänge in diesem
Bereich verhindern mehr, als dass sie am Ende nutzen.
Ich möchte dem Bundesminister des Innern und dem
Ministerium ausdrücklich für eine kluge Verhandlungsführung danken, mit der deutliche Verbesserungen beim
Mandat zustande kommen werden und gleichzeitig eine
vernünftige und erfolgversprechende Basis für die Verhandlungen mit den USA erreicht wird.
Die Bundesregierung hat in ihren Koalitionsvertrag
geschrieben:
Bei den Verhandlungen zum SWIFT-Abkommen
werden wir uns für ein hohes Datenschutzniveau …
und einen effektiven Rechtsschutz einsetzen.
Dass daraus nichts geworden ist, haben wir erlebt.
Am 30. November 2009 unterzeichneten die europäischen Innen- und Justizminister das SWIFT-Abkommen.
Mit einer Enthaltung der deutschen Bundesregierung
bei der Abstimmung wurde erst die Annahme des Abkommens im Rat ermöglicht, obwohl es den in der
schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung genannten Voraussetzungen für eine Zustimmung nicht genügte.
Zum Glück war für das Inkrafttreten des Abkommens
jedoch die Zustimmung des Europäischen Parlaments
erforderlich, welches - nebenbei gesagt - viel zu spät in
den Verhandlungsprozess einbezogen worden war; auch
der Deutsche Bundestag wurde ja erst in einem späten
Stadium informiert. Das Nein des EU-Parlaments am
11. Februar 2010 zum SWIFT-Abkommen stellt für Bundesinnenminister de Maizière und die gesamte schwarzgelbe Koalition eine Klatsche dar; denn wenn die Bundesregierung zu ihrer Enthaltung feststellt, dass Grundrechte nicht genügend geschützt sind, wäre es ihre
Pflicht gewesen, das Abkommen zu verhindern.
Die Entscheidung des EU-Parlaments, dieses zusammengeschusterte Abkommen abzulehnen, ist richtig und
ein Sieg für den Schutz der Bürgerrechte in Europa gewesen. Dennoch bleibt die Zusammenarbeit mit den
USA im Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Das
rechtfertigt aber nicht die schrittweise Aushebelung von
Grundrechten europäischer Bürger.
Jetzt hat die Europäische Kommission am 24. März
2010 einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat zu
SWIFT vorgelegt. Mit dem neuen Verhandlungsmandat
wird sich der EU-Ministerrat am 23. April 2010, also
morgen, befassen. Der Antrag der SPD-Fraktion ist
somit ein Hilfsangebot für die Bundesregierung und ihre
Bundesminister de Maizière und LeutheusserSchnarrenberger. Er ist aber auch ein Glaubwürdigkeitstest für die FDP. Wir wollen der Bundesregierung
dabei helfen, dass die Bundesjustizministerin mit ihrer
Meinung nicht wieder über Europa ausgehebelt wird.
Darum, und auch weil wir der verstärkten Verantwortung, die der Vertrag von Lissabon und wir als Gesetzgeber dem Parlament gegeben haben, gerecht werden sollen!
Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die beiden Bereiche Innen- und Justizpolitik vergemeinschaftet und es
wurde erreicht, dass das Europäische Parlament endlich
mitentscheiden darf. Die Unterzeichnung des ersten
SWIFT-Abkommens missachtete das Europäische Parlament, und das Ganze einen Tag vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags!
Man muss es sich noch einmal vor Augen führen, dass
der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin
zwei unterschiedliche Meinungen vertreten haben diese vertraten sie leider nur unverbindlich in der
Presse, nicht aber hier im Parlament. Dass eine Enthaltung bei der Entscheidung einer Zustimmung gleichkommt, das wusste jeder. Bundesinnenminister de
Maizière sagt, dass ein nicht vollständig befriedigendes
Abkommen besser für die Bürger sei als kein Abkommen,
Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
sagt im Gegensatz, dass diese Entscheidung Millionen
von Bürgerinnen und Bürgern in Europa verunsichert.
Ja, wo ist denn da der rote Faden der Bundesregierung,
wo sind die vorlauten Aussagen der FDP hin? Aus den
eigenen Reihen haben sowohl Union als auch FDP
herbe Kritik vernehmen müssen, aber nicht nur von den
eigenen Parteifreunden, auch der zentrale Kreditausschuss, der BDI und viele mehr kritisierten das von ihnen vorangetriebene Datenschutzdumping.
Und nachdem das Abkommen durch eine große und
fraktionsübergreifende Mehrheit im Europäischen Parlament abgelehnt wurde, herrscht das gleiche Bild. Die
Bundesjustizministerin jubelt geradezu auf ihrer Homepage mit der Stärkung für die Demokratie und den Datenschutz in Europa, auf der des Innenministers kein
Wort zu der Entscheidung. Dazu fällt mir nur ein: Mit
Zank und Streit kommt man nicht weit!
Mit unserem heutigen Antrag wollen wir sichergehen,
dass das neue SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechts- und Datenschutzmaßnahmen zustande kommt. Sowohl die Justiz- als auch die Innenminister der Europäischen Union stehen in der Pflicht,
sowohl Transparenz, einen effektiven Rechtsschutz und
eine enge Begrenzung der Zwecke als Leitlinien zu verankern.
Für die anstehenden Verhandlungen muss gelten,
dass der Staat die Sicherheit seiner Bürgerinnen und
Bürger zu schützen hat. Doch muss er dabei grundrechtliche und menschenrechtliche Garantien beachten, also
insbesondere den Datenschutz. Wir fordern die Bundesregierung daher mit unserem Antrag auf, dass sie ihre
Zustimmung zum Verhandlungsmandat wie auch zu einem Abkommen davon abhängig macht, dass die Regelungen datenschutzrechtlichen Maßstäben genügen. Neben den genannten Punkten von Transparenz und
Rechtsschutz fordern wir eine genaue und abschließende Begrenzung nach Art und Umfang der zu übermittelnden Daten, das Verbot der Übermittlung an Drittstaaten sowie Löschungs- und Berichtigungsansprüche.
Außerdem müssen der Ratifizierungsbedarf geklärt und
der Bundestag fortlaufend unterrichtet werden. Dies gilt
auch für die weiteren Verhandlungen. Das Abkommen
Zu Protokoll gegebene Reden
und eventuelle Anhänge sind der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Von meinen sozialdemokratischen Kollegen aus dem
Europaparlament höre ich, dass - und da kann ich meinen Kollegen nur zustimmen - das Problem des massenhaften Datentransfers und der zu langen Speicherzeiten
im neuen Verhandlungsmandat nach wie vor ungelöst
und einfach nur unzureichend ist. Ebenso fehlen strikte
Auflagen, die die Weitergabe der Daten an Drittstaaten
regeln. Es kann nicht sein, dass Millionen Daten von
Bürgern einfach an die USA weitergegeben werden und
diese dann auch noch fünf Jahre gespeichert werden sollen. Wir fordern in unserem Antrag die Löschung der
übermittelten Daten spätestens nach Ablauf eines Jahres; wenn die Daten für die festgelegten Zwecke nicht
erforderlich sind, fordern wir eine unverzügliche Löschung.
Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dem
vorliegenden Mandatsentwurf so auf europäischer
Ebene wieder nicht zugestimmt werden kann. Eines darf
man einfach auf keinen Fall vergessen: Ein neues Abkommen zur Übermittlung von Bankdaten an die USA
muss unbedingt bestimmte Mindestanforderungen des
Daten- und Rechtsschutzes sicherstellen. Nicht umsonst
hat Anfang März das Bundesverfassungsgericht die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten
durch den Staat gekippt - obwohl diese Daten nur sechs
Monate bis zwei Jahre lang aufbewahrt werden sollten.
Da auch bei SWIFT umfangreiche Datenpakete ohne
konkreten Verdachtsansatz gesammelt werden sollen,
kann man eindeutige Parallelen zur Vorratsdatenspeicherung sehen. SWIFT wäre somit ein guter Kandidat
für Verfassungswidrigkeit, wenn eine fünf Jahre lange
Speicherung vereinbart wird.
Abstriche bei den Datenschutzbestimmungen darf es
im Verhandlungsmandat nicht geben. Dafür steht die
SPD, dafür steht unser Antrag!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bekennen Sie Flagge für den Datenschutz,
und schauen Sie sich auch einmal an, was Ihre Kolleginnen und Kollegen aus Bayern und Thüringen als Antrag
in den Bundesrat eingebracht haben! Dieser ist der SPD
zwar nicht konkret und ausführlich genug; aber es zeigt
Ihnen den richtigen Weg auf. Nur mit einem ehrgeizigen
Mandat kann Europa auf Augenhöhe mit den USA verhandeln und den massenhaften Datentransfer zukünftig
unterbinden.
Die gestiegene Verantwortung unseres Parlaments
durch die Verträge von Lissabon, die Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichtes und unsere eigene Gesetzgebung dazu macht es geradezu zwingend notwendig, dass der Deutsche Bundestag den deutschen
Einfluss auf das Verhandlungsmandat und die Verhandlungen zu einem neuen SWIFT-Abkommen nicht den Zufälligkeiten des Koalitionsgerangels in der Bundesregierung überlässt, sondern der Bundesregierung klare
Vorgaben macht.
Ich kann Sie deshalb nur auffordern, unserem Antrag
in den Beratungen zu folgen und den darin enthaltenen
Forderungen im Interesse des Schutzes der Bürgerrechte
Geltung zu verschaffen.
Die USA sind unser wichtigster Partner im Kampf gegen den Terrorismus. Um in diesem Kampf erfolgreich
zu sein, ist die Kooperation zwischen den Partnern äußerst wichtig. Aber auch diese Kooperation hat ihre
Grenzen. Wenn Kooperation heißt, Bürgerrechte aufs
Spiel zu setzen, dann ist sie an dieser Stelle nicht zielführend. Denn dann fördern wir den Kampf nicht, sondern
haben ihn bereits verloren.
Das neue Verhandlungsmandat für ein neues SWIFTAbkommen, das am Freitag im Rat der EU-Innen- und
Justizminister verabschiedet werden soll, bedeutet
potenziell die Übermittelung von Millionen Daten von
EU-Bürgern. Das ist keine leichte Sache und muss sehr
ernst genommen werden. Wie bei jeder Maßnahme zur
Terrorismusbekämpfung müssen Erforderlichkeit und
Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Die Anforderungen, die das europäische Recht in diesem Zusammenhang stellt, sind von höchster Wichtigkeit und müssen
eingehalten werden.
Das neue Mandat, das die Kommission am 24. März
vorgestellt hat, stellt gegenüber dem vom Parlament
abgelehnten Interimsabkommen eine erhebliche Verbesserung dar. Wir sind froh, dass zum Beispiel der Terrorismusbegriff an die Definition in Art. 1 des Rahmenbeschlusses, 2002/475/JI, angeglichen ist und dass SEPADaten ausgeschlossen sind. Trotz dieser Verbesserungen
ist das Mandat aber weiterhin unzureichend und enthält
noch verschiedene besorgniserregende Eingriffe in Bürgerrechte.
Der Transfer von Millionen Daten unbeteiligter Bürger in großen Datenpaketen ist inakzeptabel. Es kann
nicht sein, dass aufgrund eines einzelnen Verdachtsfalls
die Kontobewegungen Hunderter oder Tausender ausgeliefert werden! Der Grund dafür ist, dass SWIFT die
Datenpakete weder öffnen noch lesen kann. Aber dennoch können wir solche technischen Gründe nicht akzeptieren, denn der Transfer dieser großen Pakete kann
im Nachhinein nicht mehr berichtigt werden. Aufsicht
und Kontrolle kommen zu spät, wenn das Datenschutzrecht schon verletzt ist. Weiterhin sollen natürlich möglichst wenig Daten übermittelt werden, und jede Übermittlung muss an eng gesteckte Bedingungen geknüpft
sein. Die Daten müssen auf europäischer Seite kontrolliert und nicht explizit angeforderte Daten müssen aussortiert werden. Damit diese Kontrolle europäischem
Recht unterfällt, sollte mit diesen Aufgaben eine europäische Behörde betraut werden. Eine solche Behörde
muss hinsichtlich ihrer rechtlichen Aufsichtsfähigkeiten
klar definiert sein.
Weiterhin sind die vorgesehenen Sperrfristen in keiner Weise akzeptabel. Die Speicherfrist soll unter
Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten auf deutlich weniger
als fünf Jahre begrenzt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Außerdem brauchen wir strikten Daten- wie auch
Rechtsschutz. Schließlich geht es um europäische Bürger, und wir dürfen keine Regelungen akzeptieren, die
europäische Standards unterschreiten. Das bedeutet
Transparenz im Sinne von Information über Daten, Korrektur unrichtiger Daten, Löschung und Entschädigung
für zu Unrecht betroffene Bürger. Sehr wichtig ist zudem
die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vor US-Gerichten. Schließlich dürfen Daten nur dann an Drittstaaten weitergegeben werden, wenn dort erstens ein vergleichbares Datenschutzniveau herrscht und zweitens
eine spezifische Anfrage gestellt wird. Keinesfalls denkbar ist eine anlasslose Weitergabe der Daten.
Völlige Transparenz ist unabdingbar. Das gesamte
Abkommen muss publiziert werden, geheime Anlagen
darf es nicht geben. Weiterhin muss eine regelmäßige
Überprüfung stattfinden zusammen mit Vertretern von
Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten. Es ist zu evaluieren, wie die Daten genutzt werden und inwiefern die
Datensammlung für den Kampf gegen den Terrorismus
überhaupt zweckmäßig ist. Der Antrag der SPD enthält
einige wichtige Ziele; von diesen hat Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den momentanen
Verhandlungen allerdings wesentliche bereits erreicht.
Interessant ist an dieser Stelle Folgendes: Die Verhandlungen über das SWIFT-Abkommen wurden unter deutscher Ratspräsidentschaft 2007 vom damaligen SPDFinanzminister Steinbrück aufgenommen, zum Zeitpunkt
der Bundestagswahl waren sie bereits weitestgehend abgeschlossen. Wir hätten uns also viel Mühe ersparen
können, wenn die SPD in den Verhandlungen seinerzeit
ein paar von ihren eigenen Zielen aus dem jetzt vorgelegten Antrag durchgesetzt hätte. Leider war die SPD
damit nicht sehr erfolgreich. Die Justizministerin hat in
den letzten Wochen mehr geschafft als die SPD in zwei
Jahren.
Zum Schluss noch einmal das Entscheidende: Wir
dürfen nicht abweichen von dem, was wir im Koalitionsvertrag beschlossen haben, nämlich ein hohes Datenschutzniveau im SWIFT-Abkommen! Ich habe großes
Vertrauen in unsere Justizministerin, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dass sie sich durchsetzt und damit dafür sorgen wird, dass nichts Geringeres als die Sicherheit der Daten unserer Bürger bewahrt wird.
Wäre das SWIFT-Abkommen, über das wir heute reden, schon vorher öfter ein Thema im Parlament gewesen, dann wäre vielen Leuten viel Arbeit erspart worden.
Tatsächlich ist das Abkommen durch die EU-Innen- und
Justizminister ohne Konsultation des Europaparlaments
entstanden und von diesem, als es dann mitentscheiden
durfte, sofort einkassiert worden - zu Recht, wie wir finden. Ich freue mich, dass das EU-Parlament mit deutlicher Mehrheit dafür gesorgt hat, diesen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheits- und Grundrechte aller EUBürgerinnen und Bürger zu beenden. Dem massiven
Druck der USA und einiger EU-Mitgliedsländer haben
sich die EU-Parlamentarier nicht gebeugt, sondern sie
haben sich für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger
der EU und gegen die Fortsetzung des Marsches in den
Überwachungsstaat ausgesprochen. In ihrer Durchsetzungsfähigkeit unterscheiden sie sich damit deutlich von
der FDP, die es nicht einmal schaffte, den Innenminister
dazu zu bewegen, die Koalitionsvereinbarung umzusetzen. Bürgerrechtspartei FDP? - Fehlanzeige!
Nach der Ablehnung durch das Europaparlament
wird nun fleißig daran gearbeitet, das SWIFT-Abkommen halbwegs an existente Datenschutzrichtlinien der
EU anzupassen. Da kann man sich so viel Mühe geben,
wie man will: Das SWIFT-Abkommen wird eine Datensammlung auf Vorrat bleiben. Immer noch würden vertrauliche Bankdaten aller EU-Bürgerinnen und Bürger
verdachtsunabhängig auf Vorrat gespeichert. Dieses
Vorgehen ist nicht verhältnismäßig; das sehen nicht nur
wir so. Zur Verhältnismäßigkeit von Vorratsdatenspeicherungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits
mehr als deutliche Worte gefunden, die man nicht einfach übergehen sollte.
Ein weiterer Punkt, den die Linke kritisiert, ist die bis
heute nicht belegbare Notwendigkeit des SWIFT-Abkommens. Bis heute wurde von keiner unabhängigen
Stelle überprüft, wie effektiv das Abkommen im Kampf
gegen den Terror ist, wie viele Terrornetzwerke damit
aufgespürt wurden, ob Anschläge damit verhindert werden konnten oder ob in irgendeiner Form die Terrorgefährdung seit der Abfrage von Bankdaten bei SWIFT minimiert wurde. Das Gegenteil ist offenbar der Fall:
Noch vor nicht allzu langer Zeit hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt, das SWIFT-Abkommen
bringe mehr Sicherheit bei der Terrorbekämpfung. Dabei hat er sich ganz sicher nicht auf das BKA als Quelle
berufen. Dieses kam zu dem Schluss, dass zur Bekämpfung politisch motivierter Kriminalität „kein fachlicher
Bedarf bzw. kein operatives Interesse an der Nutzung
des SWIFT-Datenbestandes zum Zwecke einer systematischen anlassunabhängigen Recherche“ bestehe. Das
interne BKA-Papier, das von mehreren Medien zitiert
wurde ging sogar noch weiter:
Die aus fachlicher Sicht zu erwartenden Erkenntnisse aus einem systematischen und umfangreichen
Abgleich der SWIFT-Daten rechtfertigen - zumindest für den Bereich der Finanzierung des Terrorismus - aus hiesiger Sicht nicht den mit der Datenrecherche verbundenen erheblichen materiellen und
personellen Aufwand.
Aber in den aktuellen Verhandlungen und in der Positionierung der Bundesregierung spielt dies offenbar
keine Rolle. Zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit
wäre eine Evaluation von unabhängiger Seite dringend
geboten.
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der
SPD verlieren. Man könnte bei Lektüre des Antrages
denken, die SPD habe in der Opposition den Datenschutz wiederentdeckt. Das klingt alles erst einmal
schön und gut. Doch die Vorratsdatenspeicherung
bleibt erhalten, und die Sinnhaftigkeit eines neuen
SWIFT-Abkommens wird auch nicht hinterfragt. Auch
Informationspflichten in eine neue Regelung einzubringen, nutzt den Betroffenen nichts, wenn sie den Schaden
schon haben. Das bisherige Verfahren, angefangen von
Zu Protokoll gegebene Reden
der SWIFT-Datenabfrage durch US-Behörden nach dem
11. September 2001 bis hin zu den mit der EU geschlossenen Abkommen, war nicht nur intransparent, sondern
entsprach weder nationalen noch europäischen Datenschutzbestimmungen. Die SPD muss sich meiner
Meinung nach den Vorwurf gefallen lassen, mit dem vorliegenden Antrag dieses Verfahren mithilfe von Datenschutzkosmetik im Nachhinein zu legitimieren.
Das SWIFT-Abkommen ist vom EU-Parlament perfekt korrigiert worden, als die Parlamentarier es beerdigten. Dabei sollte es bleiben. Deshalb hat die Linke
den Antrag gestellt, auf ein weiteres Abkommen zu verzichten und die Bundesregierung aufzufordern, sich in
diesem Sinne auf europäischer Ebene einzusetzen.
Bereits kurz nach dem Anschlägen vom 11. September
2001 verlangten die USA von dem Monopolisten für die
Abwicklung von internationalen Finanztransaktionen,
dem Unternehmen SWIFT, die Kontobewegungsdaten
von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern herauszugeben - ein unmittelbares Ergebnis von Bushs damaligem Krieg gegen Terror. Der CIA bekam die Daten, und
alles blieb zunächst geheim. Eingeschlossen waren auch
Überweisungen innerhalb der EU und Eilanweisungen
innerhalb Deutschlands. Nur um die Dimension zu verdeutlichen: Über SWIFT werden täglich im Durchschnitt fast 15 Millionen Transaktionen und Transfers
mit einem Volumen von etwa 4,8 Billionen Euro abgewickelt. Das SWIFT-Netzwerk in Belgien bündelt Überweisungsdaten von 9 000 Banken aus über 200 Ländern.
Erst als dieser Vorgang 2006 herauskam und allen
bewusst wurde, in welcher Dimension die Kontobewegungsdaten von 500 Millionen von Europäerinnen und
Europäern über Jahre an die USA abgeflossen waren,
begann eine öffentliche Diskussion. Und der Aufschrei
war groß. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der FDP
erwachten damals aus einem bürgerrechtlichen Dornröschenschlaf - immerhin ging es ja um Bankdaten! Es
waren insbesondere grüne Anträge, mit denen die Befassung in diesem Parlament vorangebracht wurde. Die
Öffentlichkeit war sich weitgehend einig, dass die stattfindenden SWIFT-Datentransfers an die USA rechtswidrig waren und dass die Daten der Bürgerinnnen und
Bürger vor dem Zugriff der US-Geheimdienste geschützt
werden müssten, um die für den Umgang mit diesen Informationen notwendigen Grundrechtsstandards zu
wahren. Zunächst verlor sich die Empörung der Bürgerinnen und Bürger angesichts des Wartens auf die Entscheidung der belgischen Datenschutzbehörde. Die EUInnenminister, darunter der damalige deutsche Innenminister Schäuble, ließen nicht locker. Sie wollten ein
Abkommen mit den USA aushandeln, mit dem der Zugriff auf die Daten legalisiert werden könnte. Dabei
wurden nicht einmal ansatzweise die erforderlichen
Standards zum Schutz dieser hochsensiblen Bankdaten
erreicht. Das Europäische Parlament verweigerte deshalb im März 2010 zu Recht am Ende seine Zustimmung.
Es war eine Sternstunde des Europaparlaments und der
Beginn eines neuen Selbstbewusstseins, das deutlich
über den Fall SWIFT hinausstrahlt.
Interessant ist der Rückblick auf das damalige Verhalten der jetzigen Bundesregierung. In der Abstimmung
am 28. November 2009 wurde sie ihrer Verantwortung
nicht gerecht und enthielt sich bei der Abstimmung im
EU-Ministerrat. Praktisch hat sie aber zugestimmt.
Dies, obwohl es der FDP gelungen war, eine glasklare
Formulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.
Die FDP, allen voran die selbsternannte Freiheitsstatue
Westerwelle, hatte jedoch nicht den Schneid, die Koalitionskarte zu ziehen. Bundesinnenminister de Maizière
versemmelte seinen Einstand, zumindest für den Bereich
der „öffentlichen Sicherheit“. Die selbsternannte Bürgerrechtspartei FDP war hier schon kurz nach dem
Regierungsantritt bei ihrem ersten Belastungstest umgefallen. Die Justizministerin setzte sich nicht durch, ihr
Parteivorsitzender schloss sich ihrer damals geäußerten
Kritik an SWIFT nicht an. Trotz aller Bekenntnisse für
mehr Datenschutz hatte die schwarz-gelbe Bundesregierung die massive Kritik aus dem EU-Parlament, dem
Bundesrat sowie von Datenschützern und Bürgerrechtsorganisationen in den Wind geschlagen. Wenn es Ihnen
Ernst gewesen wäre mit mehr Datenschutz und Bürgerrechten, dann hätten Sie nicht unsinnigste Steuersenkungen durchgesetzt, sondern bei SWIFT die Koalitionskarte gezogen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP.
Dafür hat das Engagement aber nicht gereicht. Gut,
dass die Bürgerrechte beim Europäischen Parlament so
viel besser aufgehoben waren als bei der Bundesregierung.
Wir stehen jetzt vor der Aushandlung eines neuen
Verhandlungsmandats. Die SPD hat sich in den vergangenen Jahren wahrlich nicht hervorgetan mit Vorstößen
zum Schutz der Grundrechte im Feld der öffentlichen
Sicherheit. Jetzt - wir haben lange auf so etwas von Ihnen gewartet - legen Sie einen Antrag vor, der grundsätzlich Lob verdient. Die dort aufgezählten Standards
fassen den Stand der Datenschutzdiskussion gut zusammen. Wir stellen uns klar gegen jegliche Bestrebungen,
die hohen Datenschutzstandards aufzuweichen oder zu
schwächen. Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass das kommende Mandat so bürgerrechtsfreundlich als irgend möglich ausgestaltet wird. Es besteht kein Zeitdruck, auch wenn einige darüber klagen,
der Datenfluss an die USA sei gegenwärtig gestoppt.
Das Bundeskriminalamt erklärte höchstselbst unlängst,
es könne mit den Finanztransaktionsdaten nichts anfangen und halte deren Wert in der Terrorismusbekämpfung
für nicht maßgeblich. Wir werden natürlich auch in diesem Verfahren sorgsam beobachten, ob in der Koalition
weitere bürgerrechtliche Rollen rückwärts drohen oder
sie gar Gefahr läuft, noch einmal umzukippen. Das sind
wir den Bürgerinnen und Bürgern und dem Schutz ihrer
Daten und schuldig.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1407 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({0}), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten
und Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern erlassen
- Drucksache 17/796 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Alois Gerig, Petra Crone,
Dr. Christel Happach-Kasan, Sabine Stüber und Cornelia
Behm.
Die Waldpolitik der CDU/CSU ist darauf ausgerichtet, den Wald in unserem Land zu erhalten, damit er auch
in Zukunft seine unterschiedlichen Aufgaben gut erfüllen kann. Im Mittelpunkt unserer Waldpolitik stehen folgende Ziele: Wir wollen erstens den Wald schützen, weil
er für das Klima, die Luftqualität, das Landschaftsbild
und die biologische Vielfalt überragende Bedeutung hat.
Zweitens treten wir dafür ein, dass sich die Menschen
am Wald erfreuen und den Wald zur Erholung nutzen
können. Drittens sind uns gute Rahmenbedingungen für
die Forstwirtschaft wichtig, weil Holz ein unverzichtbarer nachwachsender Rohstoff ist.
In einer Waldpolitik, die sich an diesen Zielen ausrichtet, sind auch Naturwälder erwünscht. Naturwälder
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihrer natürlichen
Entwicklung überlassen wurden und Eingriffe des Menschen weitgehend unterbleiben. So leisten Naturwälder
einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz, weil sie sich
gut als Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzenarten eignen. Zudem kann in einem Naturwald beobachtet werden, wie sich der Wald ohne direkte Eingriffe des
Menschen entwickelt. Aus diesen Beobachtungen lassen
sich wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Waldbewirtschaftung gewinnen.
Die Große Koalition hatte 2007 das Ziel formuliert,
dass rund 5 Prozent der Waldflächen in Deutschland bis
2020 in Naturwald umgewandelt werden sollen. In dem
zur Debatte stehenden Antrag fordert die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, eine
Reihe konkreter Maßnahmen umzusetzen, um dieses Ziel
zu erreichen.
Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, diesem Antrag
zuzustimmen. Um Wälder aus der Nutzung zu nehmen
und in Naturwälder umzuwandeln, bestehen bereits geeignete Instrumente. Zu nennen wäre die Unterschutzstellung von Waldflächen sowie der Vertragsnaturschutz
zwischen der zuständigen Naturschutzbehörde und dem
Waldbesitzer. Das geforderte Moratorium für die Privatisierung von bundeseigenen Waldflächen ist für mich
nicht nachvollziehbar. Der Bund hat in den vergangenen
Jahren auf die Privatisierung von schützenswerten Flächen verzichtet und rund 70 000 Hektar, darunter
umfangreiche Waldflächen, dem Projekt Nationales Naturerbe zur Verfügung gestellt. Obwohl sich nur ein geringer Anteil des Waldes in Bundeseigentum befindet,
hat der Bund einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet,
den Naturwald in Deutschland zu fördern.
Gegen den Antrag spricht außerdem, dass er einseitig
auf die Naturwälder ausgerichtet ist. Erforderlich ist
vielmehr ein umfassendes Konzept. Nicht nur der Erhalt
der biologischen Vielfalt, sondern auch der Ausbau erneuerbarer Energien und der Klimawandel stellen die
Waldpolitik vor große Herausforderungen. Die Bundesregierung hat angekündigt, im Herbst die „Waldstrategie 2020“ vorzulegen und im kommenden Jahr mit der
Umsetzung zu beginnen. Die Waldstrategie soll die
Frage beantworten, wie der Wald der Zukunft aussehen
soll. Die nicht leichte Aufgabe besteht darin, den Wald
zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und
den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten.
Im Zusammenhang mit der Waldstrategie wird auch
über Naturwälder zu reden sein. Meines Erachtens
sollte sich die Waldpolitik nicht starr auf die Erreichung
des 5-Prozent-Ziels ausrichten. Stattdessen sollten die
wirklich schützenswerten Waldflächen identifiziert und
für den Naturschutz gesichert werden. Zwar sind Naturwälder wichtig, doch ist zu berücksichtigen, dass auch
bewirtschaftete Wälder zum Erhalt der biologischen
Vielfalt beitragen. Voraussetzung für eine nachhaltige
Waldbewirtschaftung zum Nutzen von Mensch und Natur
ist, dass sowohl die forstwirtschaftlich tätigen Unternehmen als auch die Forstverwaltung genügend und gut
ausgebildete Fachkräfte einsetzen.
Die CDU/CSU wird darauf achten, dass beim Thema
Naturwald das richtige Augenmaß beibehalten wird. So
wünschenswert Naturwälder grundsätzlich sind, so notwendig ist es, die Produktion des nachwachsenden Rohstoffes Holz nicht durch zu viele Naturwälder einzuschränken. Neben der stofflichen Nutzung wird auch die
energetische Nutzung von Holz zunehmen - es ist also
mit steigender Holznachfrage zu rechnen. Deutschland
hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 18 Prozent der
genutzten Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu
gewinnen. Wenn zu viele Waldflächen stillgelegt werden,
gefährden wir die Erreichung unserer ehrgeizigen Klimaschutzziele.
In der Ende 2007 beschlossenen nationalen Strategie
zur biologischen Vielfalt hat sich Deutschlands Regierung ehrgeizige Ziele gesetzt. 430 Maßnahmen und
330 Ziele sollen den Erhalt der Biodiversität in Deutschland leisten. Biologische Vielfalt hat existenzielle Bedeutung. Die Anstrengungen zu deren Erhalt erstrecken
sich unter anderem auf den heimischen Wald als Lebens3630
raum für eine Vielzahl von Gemeinschaften aus Flora
und Fauna. Circa 4 300 Pflanzen- und Pilzarten und
mehr als 6 700 Tierarten leben in den Wäldern Deutschlands.
Ein wichtiges Ziel aus der Strategie für das Ökosystem Wald ist die Herausnahme von 5 Prozent der Wälder
aus der Nutzung bis zum Jahr 2020. So wichtig die Biodiversitätsstrategie bereits auf dem Papier ist, naturschutzrelevante Wirkungen entfaltet sie erst in ihrer konkreten Umsetzung. Daher begrüße ich es, dass die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag von der Bundesregierung wissen will, wie genau
das 5-Prozent-Ziel von Wäldern mit natürlicher Waldentwicklung erreicht werden soll. Die Forderung nach
einem Maßnahmenplan mit konkretem Zeitfenster ist daher zu unterstützen.
Es trifft bei der SPD-Bundestagsfraktion auf Unverständnis, wenn in den letzten Monaten durch Äußerungen mancher politischer Akteure der Eindruck entsteht,
dass die Marke von 5 Prozent zur Disposition stünde
bzw. mit der Tendenz nach unten verhandelbar sei.
Deutschland hat sich zum Schutz seiner Floren- und
Faunendiversität durch eine ressortübergreifende Kabinettsstrategie verpflichtet und sollte sich seiner Vorbildfunktion für andere Länder bewusst sein und entsprechend handeln. Es geht also bei den anstehenden
Beratungen in den Ausschüssen nicht um das „Ob überhaupt“, sondern wie das 5-Prozent-Ziel konkret erreicht
werden kann. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
ist hierfür ein Beitrag. Gemeinsam mit den Diskussionen
zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes und mit dem
Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten - Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen“ erhoffe
ich mir für die nächsten Wochen, dass die Ergebnisse
der parlamentarischen Beratungen einen nennenswerten Beitrag für die Pflege und den Erhalt unseres Waldes
leisten werden.
Deutschland ist zu 30 Prozent bewaldet. Davon sind
nach Erhebungen des Bundesamtes für Naturschutz zwei
Drittel keine naturnahen und nur 9 Prozent altersgemischte Wälder. Auch unsere Kulturgeschichte verliert,
wenn nur 2,3 Prozent aller Bäume älter als 160 Jahre
sind. Bei diesen Daten ist es nachvollziehbar, wenn Tier-,
Pflanzen- und Pilzarten überproportional gefährdet
sind, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder spezialisiert sind.
Doch wie hoch ist der Anteil naturnaher Wälder in
Deutschland schon heute? Die Regierung hat bisher
keine Aussagen über den Anteil des naturbelassenen
Waldes machen können. Es ist zu begrüßen, dass das
Bundesamt für Naturschutz ein Forschungs- und Entwicklungsvorhaben starten wird, an dessen Ende Zahlen
stehen werden, sozusagen eine Eröffnungsbilanz. Wir
wollen eine halbe Million Hektar Wald aus der Nutzung
nehmen. Wo stehen wir? Wie viel Naturwald brauchen
wir noch? In einem zweiten Schritt muss dann geklärt
werden, welche Flächen und artreichen Biotope die
Vielfalt an Flora und Fauna in Deutschland abbilden.
Nach der Identifizierung der verschiedenen Lebensraumtypen muss sichergestellt werden, dass alle heimischen Waldgesellschaften in ausreichender Biotopgröße
in den 5 Prozent Berücksichtigung finden.
Bevor dieses Ziel nicht erreicht ist, muss Abstand von
Privatisierungen bundeseigener Waldflächen genommen werden. Auch der Privatwald wird bei der Umsetzung des 5-Prozent-Ziels seinen Beitrag leisten müssen.
Insofern ist die Idee eines „Deutschen Naturwalderbes“
eine gute Diskussionsgrundlage für alles Weitere. Die
unterschiedlichen Schutzzwecke des Waldes können dem
Waldbesitzer Pflichten und Beschränkungen auferlegen.
Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Feststellung öfter Erwähnung findet.
Die Erkenntnis, dass Klimawandel, Landnutzung und
biologische Vielfalt unentrinnbar verbunden sind, nimmt
glücklicherweise zu. Sie bedingen sich lokal, regional,
global. Deshalb ist die Zielmarke von 5 Prozent Wald
mit eigener Entwicklung auch für den Klimaschutz so
immens wichtig. Wir bekommen durch die Vorgänge in
Naturwäldern die Antworten auf die Frage: Was macht
die Natur selbst im Hinblick auf den Klimawandel? Ungestörte Wälder besitzen durch die unablässige Anpassung an ihre Umwelt natürliche Abwehrkräfte, zum
Beispiel gegen Schädlinge oder Krankheiten. Die dynamischen Prozesse laufen ohne menschlichen Einfluss ab,
und der Wald befindet sich im ökologischen Gleichgewicht. Die hier angesprochene kontinuierliche Anpassung an die Umwelt ist heute eine andere als vor
150 Jahren, und die Wachstums- und Lebensvorgänge
im Wald brauchen ihre Zeit. Wir sind aufgefordert und
verpflichtet, dem Ökosystem diese Zeit zu geben. Spätestens bei dieser Erkenntnis wird klar, dass der Nutzungsverzicht nicht vorläufig, sondern dauerhaft angelegt
werden muss, gekennzeichnet durch Verbindlichkeit und
Rechtssicherheit.
Die Abläufe im Naturwald geben uns wertvolle Hinweise für den naturnahen Waldbau auf ökologischer
Grundlage, der dem Wald als Ökosystem am besten gerecht wird. Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich
daher zu einer ordnungsgemäßen, nachhaltigen und naturnahen Bewirtschaftung des Waldes nach den Grundsätzen der guten fachlichen Praxis. Wir sind der Meinung, dass dies die beste Garantie für ein stabiles
Ökosystem ist, und daher gehören diese Grundsätze einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung in das Bundeswaldgesetz.
Bundesminister Röttgen hat zur Eröffnung des Jahres
der biologischen Vielfalt Anfang dieses Jahres angekündigt, ein „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ aufzulegen. Eine konkrete Umsetzung des Beschlossenen zum
Schutz der Natur sei wichtig. Wir nehmen ihn beim Wort.
Das ökologische Gleichgewicht wurde an mancher
Stelle empfindlich gestört. Nun ist es unser aller Pflicht,
die Waldbestände zu schützen, also Ernst zu machen mit
der Schaffung natürlicher Wälder.
Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschland
ist Wald. Wälder haben daher für die Biodiversität und
den Artenschutz eine besondere Bedeutung. Die AusforZu Protokoll gegebene Reden
mung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ist in einem
waldreichen Land wie Deutschland von besonderer Bedeutung. Die großen Holzvorräte in unseren Wäldern
haben ein hohes Nutzungspotenzial. Holz ist zurzeit unser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Dies gilt für
die rohstoffliche Nutzung genauso wie für die energetische Nutzung. Die nachhaltige Nutzung von Holz bildet
das Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung. Eine Fokussierung der Bewirtschaftung der Wälder allein auf
die Belange der Ökologie oder der Ökonomie wird dem
Anspruch an eine nachhaltige Entwicklung nicht gerecht. Wälder sind CO2-Senken. Sie sind nach dem
Kioto-Protokoll anerkannt. Die Nutzung von Holz im
Bau sowie für die Herstellung von Möbeln und die Erzeugung von Wärme und Strom aus Rest- und Durchforstungsholz liefern einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz und stärken gleichzeitig die regionale Wirtschaft.
Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem
Koalitionsvertrag eindrücklich zu einer verstärkten Nutzung des Rohstoffes Holz bekannt. Gleichzeitig sind wir
im Begriff, das Bundeswaldgesetz zu novellieren, um die
Bedingungen für die privaten und öffentlichen Waldbesitzer zu verbessern und die Nutzung von Kurzumtriebsplantagen im Sinne einer nachhaltigen Gewinnung von
Biomasse zu ermöglichen. Die Wälder bieten zahlreichen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes
Einkommen, insbesondere im strukturschwachen ländlichen Raum. Insgesamt sind hierzulande in der Forstwirtschaft einschließlich der nachgelagerten Bereiche
Holzwirtschaft, Papierindustrie und Holzgroßhandel
nach Schätzungen des Deutschen Forstwirtschaftsrates,
DFWR, etwa 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. Die
Bedeutung des Clusters „Forst und Holz“ hat inzwischen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Deutschlands eine deutlich höhere Wertigkeit erhalten als noch
vor wenigen Jahren. Das Cluster erwirtschaftete 2008
einen Gesamtumsatz von 168 Milliarden Euro.
In unserem dicht besiedelten Land haben Wälder zugleich eine besondere Bedeutung für die naturnahe Erholung sowie für die Naherholung. Repräsentative Umfragen in Großstädten ergeben, dass der Erholungsraum
Wald das am häufigsten genutzte Freiraumelement darstellt. Der sonntägliche Waldspaziergang gehört bei vielen Familien zu den besonders beliebten Freizeitaktivitäten. Durch die vielgestaltige Nutzung der Wälder
ergeben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Waldbesitzern, Erholungssuchenden und dem Naturschutz.
Die letzte Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass die
Waldbesitzer insgesamt ihre Wälder sehr verantwortlich
bewirtschaften. Zahlreiche FFH-Gebiete liegen in Privatwäldern sowie in Körperschaftswäldern und zeigen,
dass auch eine erwerbsorientierte Bewirtschaftung vereinbar ist mit den Zielen des Naturschutzes sowie mit
dem Erhalt der Biodiversität.
Besondere Anforderungen des Naturschutzes können
andere Nutzungsmöglichkeiten einschränken. Dazu gehört insbesondere der totale Verzicht auf Holzeinschlag.
Wo aus Sicht des Naturschutzes zur Sicherung der Biodiversität Bewirtschaftungsauflagen erteilt werden, die
über die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes
hinausgehen, beispielsweise Nutzungsverzicht in ausgewählten Altwaldstandorten, müssen die Waldeigentümer, zum Beispiel mit den Instrumenten des Vertragsnaturschutzes, für solche Nutzungseinschränkungen
finanziell entschädigt werden. Ansprüche der Gesellschaft an eine ausschließlich naturschutzorientierte Bewirtschaftung der Wälder müssen von der Gesellschaft
finanziert werden, nicht vom einzelnen Waldbesitzer. Wir
setzen uns im Naturschutzbereich auch künftig vordringlich für Maßnahmen auf freiwilliger Basis und für den
Vertragsnaturschutz ein. Der Naturschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Waldland Deutschland hat gerade die Forstwirtschaft zur Sicherung der
biologischen Vielfalt beigetragen. Der deutsche Wald
erfüllt die Ziele der Nationalen Strategie zur Sicherung
der biologischen Vielfalt bereits zu über 80 Prozent und
hat damit eine Vorreiterrolle.
Nach unserer Einschätzung hat die deutsche Forstwirtschaft im internationalen Vergleich Vorbildcharakter. Deutschland hat sich in der Nationalen Strategie zur
biologischen Vielfalt dazu bekannt, 5 Prozent der Waldfläche bis zum Jahr 2020 einer natürlichen Waldentwicklung zu überlassen. Wir wollen in Zusammenarbeit
mit den Bundesländern die Erfassung der Flächen, auf
denen schon jetzt auf eine Holznutzung verzichtet wird,
verbessern. Es gibt bereits geeignete Instrumente, um
das beschriebene Ziel umzusetzen. Aus diesem Grund
halten wir die Schaffung neuer Instrumente für nicht erforderlich. Der Erhalt der waldlichen Biodiversität in
Deutschland ist nur bei der Verfolgung eines integrativen Bewirtschaftungsansatzes auf ganzer Fläche möglich. Auf vielen Flächen gilt: Schützen durch Nützen. Die
Stilllegung wertvoller Einzelflächen ist ein wirksames
Instrument, die Biodiversität lokal zu schützen. Dadurch
werden auch umliegende, nachhaltig bewirtschaftete
Flächen in ihrer Biodiversität gestärkt. Wir lehnen die
pauschale Stilllegung von Waldflächen ab, die mit der
Erreichung des 5-Prozent-Ziels begründet wird, und befürworten die Stilllegung von Waldflächen, die nach
fachlichen Kriterien ausgewählt wird. Dabei stehen insbesondere Altwaldflächen im Fokus. Im Hinblick auf die
derzeit in der Vorbereitung befindliche „Waldstrategie
2020“ und den Bericht zur Umsetzung der Nationalen
Strategie zur biologischen Vielfalt halten wir die von
Bündnis90/Die Grünen geforderten Maßnahmen für wenig durchdachte Schnellschüsse, die nicht geeignet sind,
die Ziele bei der Schaffung des nationalen Naturwalderbes zu erreichen.
Naturwalderbe in Deutschland schaffen - warum ist
das wichtig? Weil es direkt unsere Zukunftsfrage berührt: Wie schaffen wir die Anpassung an die Klimaveränderung, an die Wasserverknappung und an die immer
noch rückläufige Biodiversität?
Uns fehlen nicht die Visionen von einem intakten
Naturhaushalt und auch nicht die erforderlichen Kenntnisse. Das alles wird in der 2007 von der Bundesregierung beschlossenen nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt aufgezeigt. Die Konsequenz zum klaren
Handeln ist es, was fehlt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für den Wald bedeutet die nationale Strategie, dass
sich Vielfalt, Struktur und Dynamik der heimischen Wälder bis zum Jahre 2020 weitgehend verbessern sollen.
Die Frage nach dem Wie bleibt offen. Bisher ist leider
kein roter Faden erkennbar. Immerhin ein substanzielles
Ziel wurde festgeschrieben: „2020 beträgt der Flächenanteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung
5 Prozent der Waldfläche.“ Das ist erst einmal eine
starke Aussage, aber auch hier erkennt man keine konkrete Herangehensweise. Die Bundesregierung benötigt
offensichtlich einen Fahrplan, der die zeitlichen und inhaltlichen Schritte vorgibt, um das Ziel zu erreichen,
5 Prozent der deutschen Waldflächen bis 2020 als Naturwalderbe dauerhaft dem Prozess einer natürlichen
Entwicklung zu überlassen. Deshalb unterstützen wir
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Das Ziel - die Schaffung von 5 Prozent Naturwalderbe - steht für uns außer Frage, und wir folgen den Argumenten des Antrages weitgehend. Als vordringliche
Aufgabe sehen wir für ein so weitreichendes Vorhaben
ein Umsetzungskonzept. So wollen wir auch das Wort
„zeitnah“ in dem Antrag durch einen konkreten Zeitpunkt ersetzen, bis zu dem eine Bestandsaufnahme der
bisher dauerhaft aus der Nutzung genommenen Wälder
vorgelegt wird. Die Größen der Waldareale mit ihren
charakteristischen Lebensraumtypen bilden für uns die
Grundlage für ein Umsetzungskonzept.
Es gibt noch viele Fragen zur Herangehensweise und
zu den Maßnahmen. Diese hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag angesprochen. Neben den
Maßnahmen zur Erreichung des Naturwalderbezieles
muss die Bundesregierung auch die berechtigten Befürchtungen der Holzwirtschaft aufgreifen. Neben sinkenden Umsätzen werden steigende Holzimporte aus
schutzwürdigen Wäldern anderer Länder erwartet, womit wiederum nur ein Verschieben von Problemen stattfinden wird.
Für die Zeit bis zur Schaffung eines deutschen Naturwalderbes gebietet schon der gesunde Menschenverstand, die weitere Privatisierung bundeseigener Wälder
auszusetzen - von berechtigten Ansprüchen abgesehen.
Eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern und
Kommunen muss gefunden werden.
Die Zusammenfassung der Naturwalderbeflächen in
einem eigenen Pool begrüßen wir sehr, sehen aber zu
dessen Verwaltung die Gründung eines eigens dafür vorgesehenen Dachverbandes als nicht erforderlich an.
Sinnvoll ist doch, eine geeignete, bereits bestehende
Struktur mit dieser Aufgabe zu betrauen.
Die alte Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer nationalen Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis
2020 5 Prozent der deutschen Wälder mit einer natürlichen Entwicklung zu erreichen, wobei unter „natürlicher Entwicklung“ „aus der Nutzung genommen“ oder
„stillgelegt“ zu verstehen ist. Bei gut 11 Millionen Hektar Wald in Deutschland sind das etwa 550 000 Hektar.
Da bei den Staatswäldern der Anteil 10 Prozent betragen soll, wären das bei einem Staatswaldanteil von
33,3 Prozent im Jahr 2002 etwa 370 000 Hektar.
Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort
auf unsere Kleine Anfrage zur Schaffung eines Naturwalderbes auf 5 Prozent der bundesdeutschen Waldfläche zum Festhalten an diesem Ziel bekannt. Ich weiß
nicht, wie ernst diese Aussage gemeint gewesen ist. Gemessen am politischen Handeln kann man den Eindruck
gewinnen, dass die Bundesregierung nur pro forma daran festhält. Sie hat trotz mehrfacher Nachfragen bisher
keinerlei Angaben dazu gemacht, mit welchen Maßnahmen sie dieses Ziel erreichen will. Daher legen jetzt wir
einen Fahrplan vor, wie für Mitteleuropa typische Wälder und alle in den deutschen Wäldern lebenden Arten
auf entsprechend ausgewählten Flächen geschützt werden können.
Vonseiten der Waldbesitzer wird vielfach argumentiert, der Schutz der biologischen Vielfalt im Wald bedürfe keiner stillgelegten Wälder. Schließlich genügten
ordnungsgemäß bewirtschaftete Forsten ohnehin allen
Ansprüchen, die man aus Sicht des Naturschutzes an den
Wald stellen sollte. Wobei mancher meint, das würde bereits heute gelten. Andere meinen demgegenüber, das
würde zumindest dann gelten, wenn die Ansprüche des
Naturschutzes flächendeckend in die Waldbewirtschaftung integriert sind, also ein integrierter Naturschutz im
Wald betrieben wird. Jedoch hat jüngst die dritte Tagung
zur Waldstrategie 2020 belegt, dass nichts davon zutrifft.
Bedroht sind vor allem die Arten, die an die Altersund Absterbephasen von Bäumen und an Totholz gebunden sind. Um diese zu schützen, bedarf es eines Mindestanteils an nutzungsfreien Wäldern, in denen sich pro
Hektar mehr als 30 bis 60 Kubikmeter an Totholz ansammeln. Deshalb ist der dauerhafte Nutzungsverzicht
für besonders schutzwürdige Waldökosysteme so wichtig.
Sollte Deutschland den erheblichen Vorbehalten in
der Forst- und Holzwirtschaft gegen den Nutzungsverzicht in diesem 5-Prozent-Anteil der deutschen Wälder
nachgeben, macht sich die deutsche Politik international unglaubwürdig, wenn sie andererseits den Erhalt
von Urwäldern und damit den Verzicht auf die Nutzung
eines Teils der Wälder dieser Welt fordert. Schon aus
diesem Grund sind wir verpflichtet, ein nationales Naturwalderbe zu schaffen.
Doch seit zweieinhalb Jahren hat es die Bundesregierung unterlassen, für Klarheit darüber zu sorgen, wie
viel Hektar Naturwald es in Deutschland tatsächlich bereits gibt. Auch das nährt den Eindruck, dass es die Bundesregierung mit diesem Ziel nicht wirklich ernst meint.
Dabei könnte man das recht unbürokratisch erreichen, indem zum Beispiel eine Dachorganisation gegründet wird, in die Institutionen und Waldbesitzer ihre
stillgelegten Waldflächen ohne Verzicht auf ihr Eigentum einbringen können. Diese Dachorganisation hätte
die Aufgabe, einen einheitlichen Standard für die Anerkennung als verbindlich und dauerhaft nutzungsfreie
Wälder festzulegen. Außerdem hätte sie den Überblick
Zu Protokoll gegebene Reden
über den aktuellen Bestand. Die Unsicherheit über den
Zielerreichungsgrad hätte dann ein Ende.
Zur Beruhigung der Privatwaldbesitzer möchte ich
sagen: Bündnis 90/Die Grünen gehen davon aus, dass
das Naturwalderbe überwiegend aus Wäldern im öffentlichen Eigentum bestehen wird. Denn Nutzungsverzicht
ist im Privatwald weder durch Ordnungsrecht noch
durch Vertragsnaturschutz dauerhaft abzusichern. Nutzungsverzicht per Ordnungsrecht ohne eine Entschädigung käme einem enteignungsgleichen Eingriff in das
Privateigentum gleich. Statt einmalig Entschädigungen
oder dauerhaft Prämien an Privatwaldbesitzer zu zahlen, dürfte es meist sinnvoller sein, die betreffenden Wälder zu erwerben.
Angesichts der vorliegenden Zahlen und Rahmenbedingungen kommen wir Bündnisgrüne zu der Einschätzung, dass zur Schaffung des Naturwalderbes noch
erhebliche Flächen fehlen, vielleicht sogar mehrere
Hunderttausend Hektar. Daher wird der Bund auch
Wälder erwerben müssen.
In diesem Zusammenhang wäre es kontraproduktiv,
wenn der Bund 165 000 Hektar Bundeswald zunächst
privatisieren würde, nur um anschließend wieder Wald
für das Naturwalderbe ankaufen zu müssen. Daher fordern wir ein Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern. Das ist für eine Übergangszeit auch
ohne Gesetzesänderung möglich, auch wenn die bundeseigenen Waldbesitzer allesamt gesetzliche Privatisierungsaufträge haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/796 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Tom Koenigs, Marieluise Beck
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umgang mit Guantánamo-Häftlingen
- Drucksache 17/1421 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Auch damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Rüdiger
Veit, Serkan Tören, Ulla Jelpke, Volker Beck und des
Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Ole Schröder.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen.
Für heute sind alle Abstimmungen und Debatten erledigt.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich für das lange Ausharren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 23. April 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen einen schönen und angenehmen Abend.