Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe heute Morgen vor Eintritt in die Tagesordnung
nichts zu verkünden, was zur Förderung der Motivation
oder zur Behinderung der Tagesordnung geeignet sein
könnte.
Also kommen wir sofort zu den Tagesordnungspunk-
ten 23 a, b und d:
a) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die
Entwicklung der Streitkräftepotenziale 2009
({0})
- Drucksache 17/445 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschland muss deutliche Zeichen für eine
Welt frei von Atomwaffen setzen
- Drucksache 17/1159 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Keul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen
- Drucksache 17/1167 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Wünscht jemand dazu eine spontane streitige Debatte mit Kampfabstimmung? - Auch das ist nicht der Fall. Wir steuern
offenkundig auf ein außerordentlich friedfertiges Wochenende zu.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Außenminister Dr. Guido Westerwelle.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einem Jahr hat Präsident Obama mit seiner berühmten Prager Rede ein wichtiges Signal für die weltweite
Abrüstung gegeben. Die unkontrollierte Weiterverbreitung von atomaren Waffen ist wohl eine der größten
Bedrohungen unserer Sicherheit. Diese Gefahr einzudämmen, ist eine Überlebensfrage. Deswegen sind Abrüstung und Rüstungskontrolle für die ganze Menschheit
von enormer Bedeutung. Es ist die große Menschheitsherausforderung.
({0})
Das Jahrzehnt hat gerade erst begonnen, und man darf
an dieses Thema nicht zu gelassen herangehen. Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, bei dem sich noch entscheiden wird, ob es ein Jahrzehnt der Aufrüstung oder
der Abrüstung werden wird.
({1})
Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung.
Deswegen war es mir wichtig, den Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung gleich zu Jahresbeginn diesem Hohen Hause, dem Deutschen Bundestag, vorzulegen.
Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass
Abrüstung und Rüstungskontrolle zentrale Bausteine einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft sind.
Redetext
Dies war für die Bundesregierung vom ersten Tag an
Leitfaden ihrer Politik, und dies ist auch der Kompass
für die kommenden Jahre.
Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens, wie es
genannt wird, hat im letzten Jahrhundert dazu beigetragen, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht
noch einmal in Krieg und Zerstörung versunken ist.
Aber einiges, was während des Kalten Krieges richtig
war, ist heute überholt.
({2})
Die Abschreckungswirkung nuklearer Waffen wird zunehmend von der wachsenden Gefahr der Verbreitung
nuklearer Waffen überschattet.
({3})
Wir laufen Gefahr, dass sich in zehn Jahren die Zahl der
nuklear bewaffneten Länder womöglich verdoppelt, darunter Länder, die wir heute noch gar nicht auf dem
Schirm haben. Wir laufen Gefahr, dass nicht nur Staaten
Nuklearwaffen besitzen, sondern auch Terroristen.
Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Anliegen von gestern; sie sind drängende Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft. Abrüstung ist kein naiver
Idealismus. Abrüstungspolitik ist auch nicht weltfremd;
im Gegenteil: Es wäre weltfremd, Abrüstungspolitik
jetzt zu unterlassen.
({4})
Es ist kein Zufall, dass sich heute auf beiden Seiten des
Atlantiks Außenpolitiker für nukleare Abrüstung und für
eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, die in ihrer aktiven
Zeit als Politiker und Staatsmänner mit guten Gründen
für die Abschreckung eingetreten sind. Helmut Schmidt,
Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Egon
Bahr fordern dasselbe wie Henry Kissinger, Sam Nunn,
George Shultz und William Perry.
Im letzten September haben die Staats- und Regierungschefs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den
Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen vorgezeichnet. Ich
erinnere an die Resolution 1887 vom 24. September
2009. Sie haben in einer historischen Sitzung unter Leitung von Präsident Obama allen Staaten ins Stammbuch
geschrieben, diesen Weg der Abrüstung jetzt entschlossen zu gehen. Damit ist auch deutlich, dass Abrüstung
kein deutscher Sonderweg ist, sondern in die Politik der
Völkergemeinschaft eingebettet ist.
({5})
Das Nachfolgeabkommen zum START-Vertrag
zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und
Russland ist jetzt zum Greifen nahe. Wir setzen darauf,
dass die anstehenden ganz aktuellen Gespräche zu einem
Ergebnis führen können, sodass in wenigen Tagen - wir
hoffen darauf - vielleicht auch ein Abschluss möglich
wird. Ein erfolgreicher Abschluss wäre das Signal, dass
die beiden führenden Atommächte, die mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen besitzen, ihre Abrüstungsverpflichtung ernst nehmen. Das Abkommen könnte auch
den Weg für weitere Verhandlungen ebnen, die das
Thema einer Reduzierung der Zahl der sogenannten taktischen Nuklearwaffen einschließen sollten.
Der Nichtverbreitungsvertrag schreibt drei elementare Prinzipien fest: erstens die Verpflichtung zur Nichtverbreitung, zweitens das Gebot allgemeiner und vollständiger Abrüstung und drittens übrigens auch das
unbestrittene Recht aller Staaten auf zivile Nutzung der
Kernenergie. Der Vertrag beruht auf einem gegenseitigen Versprechen. Der Selbstverpflichtung zur Nichtverbreitung steht die Selbstverpflichtung der Atomwaffenstaaten zur Abrüstung gegenüber. Es sind zwei Seiten
derselben Medaille.
({6})
Die Überprüfungskonferenz vor fünf Jahren - Sie
wissen es - scheiterte. Die Welt darf nicht noch einmal
fünf Jahre verstreichen lassen. Wir wollen einen Erfolg
bei der Überprüfungskonferenz im Mai in New York,
wir brauchen ein erneutes Bekenntnis aller Vertragsstaaten zu den Rechten und Pflichten des Vertrages, und wir
wollen einen Aktionsplan mit konkreten Schritten für
eine Stärkung der drei Grundprinzipien des Vertrages,
die ich eben benannt habe. Dafür wird sich die Bundesregierung einsetzen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, bis
heute hat der Iran den Nachweis nicht erbracht, dass
sein Nuklearprogramm ausschließlich friedliche Ziele
verfolgt. Ein nuklear bewaffneter Iran wäre nicht nur regional wie ein Funken im berühmten Pulverfass. Ein nuklear bewaffneter Iran würde auch das gesamte globale
Nichtverbreitungsregime gefährden. Das können und
das werden wir als Völkergemeinschaft nicht hinnehmen.
({7})
Alle Staaten, die außerhalb des Nichtverbreitungsvertrages Atomwaffenfähigkeit erlangt haben, bleiben aufgerufen, auf nukleare Bewaffnung zu verzichten und
dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Das Nichtverbreitungsregime wird durch jeden einzelnen Beitritt
stärker.
Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt
brauchen wir aber mehr als den Nichtverbreitungsvertrag. Beim Außenministertreffen der G 8 am kommenden Dienstag in Ottawa können wir dafür die Grundlage
schaffen. Die G 8 vereinen mit den USA, mit Russland,
Frankreich und Großbritannien vier der fünf ständigen
Mitglieder des Sicherheitsrates. Das sind zugleich vier
der fünf anerkannten Atommächte. Ich werde mich in
Ottawa für eine gemeinsame Position der G 8 zur Abrüstung und zur Rüstungskontrolle einsetzen. Wenn die G 8
mit einer Stimme sprechen, dann können wir für Abrüstung und Nichtverbreitung Beachtliches erreichen.
Nötig ist auch ein weltweit verbindliches Vertragsregime, um waffenfähiges Material konsequent zu kontrollieren, bevor es einer militärischen Verwendung zugeführt wird. Nur so können wir ausschließen, dass
Nuklearmaterial in die falschen Hände gerät. Auf dem
Nukleargipfel in Washington wird sich die Bundeskanzlerin dafür einsetzen.
Wir brauchen Fortschritte aber auch beim Atomwaffenteststopp-Abkommen. 182 Staaten haben dieses
Abkommen unterzeichnet, 151 haben es ratifiziert. Obwohl die überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft dieses Abkommen will, ist es bis heute nicht in
Kraft. Wir appellieren an die Staaten, deren Beitritt für
das Inkrafttreten noch notwendig ist, dass sie diesen
längst überfälligen Schritt endlich tun.
({8})
Abrüstung und Rüstungskontrolle, unsere Verteidigungsfähigkeit und eine verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik sind unverzichtbare Bestandteile der
umfassenden Sicherheits- und Friedenspolitik der Bundesregierung. Das Nordatlantische Bündnis ist und
bleibt das Fundament unserer Sicherheit. Die zentrale
Aufgabe der NATO bleibt das gegenseitige Versprechen
aller Bündnispartner zu Beistand und zu gemeinsamer
Verteidigung. Ich sage das ausdrücklich, weil das für
viele Staaten von großem Interesse ist und weil sie auch
bei dieser Frage Sicherheit und ein klares Bekenntnis erwarten. Art. 5 des Washingtoner Vertrages ist auch in
Zukunft Rückgrat des Bündnisses.
({9})
Die Zukunftsfähigkeit der NATO bestimmt aber auch
über die Zukunftsfähigkeit aller Bündnispartner. Daher
ist es so wichtig, dass die NATO die richtigen Antworten
auf die veränderte globale Sicherheitssituation findet.
Bis zum NATO-Gipfel in Lissabon im November erarbeitet das Bündnis ein neues strategisches Konzept. Die
NATO muss wieder zu einem politischen Ort werden, an
dem wir uns mit unseren Verbündeten über die gesamte
Bandbreite gemeinsamer Sicherheitspolitik verständigen. Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören auch in
die NATO.
({10})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ich habe gemeinsam mit meinen Kollegen aus
den Niederlanden, aus Belgien, Luxemburg und Norwegen eine Debatte angestoßen, damit das entscheidende
Zukunftsthema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ wieder zum festen Bestandteil der Bündnispolitik wird. Wir
werden uns Ende April in Tallinn für diese Position im
Bündnis einsetzen.
Ohne eine enge Partnerschaft mit Russland ist die
europäische Sicherheitsarchitektur bestenfalls unvollständig. Deutschlands Sicherheit ist am besten gewährleistet, wenn es eine umfassende Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok gibt. Deswegen ist die Kooperation
mit Russland so wichtig. In der Frage der Raketenabwehr sollten wir keine Mühe scheuen, gemeinsame und
kooperative Lösungen zu finden. Ich bin auch zuversichtlich, dass wir über die Reduzierung und Abschaffung taktischer Nuklearwaffen sprechen können und
sprechen werden.
({11})
Das setzt einen Prozess voraus, der mit mehr Transparenz beginnt, Vertrauen aufbaut und in nachprüfbaren
vertraglichen Vereinbarungen münden kann und soll.
Diese Waffen sind Relikte des Kalten Krieges, sie haben
keinen militärischen Sinn mehr, sie schaffen keine Sicherheit, und sie haben deshalb nach Auffassung der
Bundesregierung auch keine Zukunft.
({12})
Aber auch das muss klar hinzugefügt werden: Dass wir
über den Abzug der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen nur innerhalb des Bündnisses und mit unseren
Verbündeten gemeinsam entscheiden, ist eine Selbstverständlichkeit.
({13})
Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sind das
Gebot unserer Zeit, weil diese Waffen mit ihrem Vernichtungspotenzial die gesamte Menschheit bedrohen.
Es liegt aber auf der Hand, dass wir darüber die konventionelle Abrüstung nicht vernachlässigen dürfen. Nukleare Abrüstung darf nicht dazu führen, dass konventionelle Kriege wieder leichter führbar werden. Deswegen
gehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüstung nach Auffassung der Bundesregierung Hand in
Hand.
({14})
Wir brauchen einen offenen Dialog zwischen der NATO
und Russland, um den Vertrag über Konventionelle
Streitkräfte in Europa, den KSE-Vertrag, neu zu beleben
und an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen.
({15})
Dass die Stimme Deutschlands in den internationalen
Debatten zur Abrüstung gehört wird, ist auch der über
Jahrzehnte gewachsenen Glaubwürdigkeit deutscher
Friedenspolitik zu verdanken. Mit diesem Pfund, das wir
uns in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland
gemeinsam erarbeitet haben, können wir heute wuchern.
Ich mache mir keine Illusionen - ich weiß, dass Sie das
genauso sehen -, dass der Weg einfach sein wird. Abrüstung und vertragliche Rüstungskontrolle sind dicke Bretter, die wir beharrlich bohren werden. Ich freue mich,
dass die Bundesregierung dabei auf die breite Unterstützung dieses Hohen Hauses bauen kann. Ich danke allen
Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/
CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und natürlich auch den Kollegen meiner eigenen Fraktion, die
diesen Kurs deutscher Sicherheits- und Friedenspolitik
mit Rat und Tat unterstützen. Den interfraktionellen Antrag, der die überwältigende Mehrheit dieses Hohen
Hauses hinter sich vereint, verstehen wir in der Bundesregierung als Auftrag und als Verpflichtung. Es ist gut
und richtig - es ist auch wichtig für unsere Bürger, dies
zu wissen und zu sehen -, dass wir in diesen Schicksalsfragen ein gemeinsames Fundament in diesem Hohen
Hause haben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Das Wort erhält nun die Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte als Allererstes einen ganz herzlichen Dank an
alle die, die bei diesem Antrag mitverhandelt haben, aussprechen. Ich danke, obwohl es ungewöhnlich ist, meinem Kollegen Roderich Kiesewetter, der sich in der Tat
bemüht hat, viele Hürden aus dem Weg zu schaffen.
Herzlichen Dank dafür! Herzlichen Dank aber auch an
Frau Malczak, die mit dafür gesorgt hat, dass der eine
oder andere über seinen Schatten gesprungen ist. Ich
denke, das ist das Kennzeichen dieses Antrags. Wir sind
einen großen Schritt in der parlamentarischen Meinungsbildung vorangekommen, und dies in einer schwierigen
Situation, in der es unterschiedliche Grade an Zustimmung zu dem gegeben hat, was der Herr Minister soeben
ausgeführt hat. Wir haben es schwer gehabt. Ich habe gesagt, das ist gleichzeitig eine Zangen- und eine Steißgeburt. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen,
wenn auch in allerletzter Minute vor der Sitzung aller
Fraktionen.
Ich bin sehr froh; denn bei allen Abstrichen oder Zugeständnissen, die der eine oder andere hat machen müssen, ist es ein Antrag, der in der Tat dazu beitragen kann,
die Bundesregierung in der augenblicklichen Situation
zu leiten. Ich sage ausdrücklich „zu leiten“, weil es auch
da Unterschiede gab, wie sich in den Diskussionen gezeigt hat. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir ganz wichtige Punkte gemeinsam, über alle Fraktionen hinweg, beschließen können. Aus allen Fraktionen gab es Anträge.
Diese werden im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung beraten werden.
Wir haben gerade am heutigen Tage das Glück, sagen
zu können: Jawohl, START steht kurz vor der Unterzeichnung. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen, auch
wenn es nur der erste Schritt in dem bedeutenden Prozess der Abrüstung nuklearer Waffen ist. Wir wissen,
dass viele weitere Schritte folgen müssen, sei es bilateral
zwischen Russland und den USA, sei es ausgeweitet auf
andere Nuklearwaffenstaaten der P 5. Schon da fangen
gewisse Schwierigkeiten an. Wie wir von unserem direkten Nachbarn Frankreich wissen, ist dies dort eine viel
schwierigere Frage als bei uns.
Diejenigen, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht
unterzeichnet haben - der Minister hat es erwähnt -,
aber über Nuklearwaffen verfügen, müssen, wenn wir
Global Zero, Abrüstung auf null, wirklich wollen, in der
Endphase einbezogen werden. Deshalb haben wir in
dem vorliegenden Antrag den Appell an diese Staaten
formuliert, zumindest ihre Waffen nicht weiter aufzustocken, die Produktion von Spaltmaterial zu beenden und
sich dem Atomteststoppvertrag anzuschließen. Wir wissen, dass Präsident Obama den Atomteststoppvertrag in
den USA ratifizieren lassen will. Wir wissen aber auch,
dass es da noch eines Stückes Arbeit bedarf. Wir werden
von uns aus ein bisschen Unterstützung leisten müssen,
damit diese wichtige Ratifikation zustande kommt.
Die Verhandlungen in Genf über einen Stopp der Produktion von Spaltmaterial stocken, weil sich Pakistan
dem entgegenstellt, obwohl ein fast fertig ausgearbeiteter Vertrag vorliegt, der sich schon seit Jahren in den
Schubladen befindet. Es wird eine ganz wichtige Aufgabe sein, das zu befördern. Wir sind dazu bereit.
In diesem Zusammenhang wird die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die im Mai
stattfindet, ein ganz wichtiger Punkt sein. Dabei geht es
um die Frage, wie es der Herr Minister formuliert hat:
Wird es Aufrüstung geben, oder wird es Abrüstung geben? Diese Überprüfungskonferenz sollte so ausfallen,
dass sich die Teilnehmerstaaten auf ein wegweisendes
Abschlussdokument einigen können, das das aufnimmt,
was wir schon einmal erreicht hatten, liebe Freunde. Mit
den 13 Schritten im Jahre 2000 hatten wir etwas erreicht,
was wir heute wieder haben niederschreiben müssen.
In diesen 13 Schritten ist unter anderem ein ganz
wichtiger Punkt enthalten. Dazu will ich ein paar Worte
sagen. Das betrifft nicht nur die Strategie der USA, sondern auch die der NATO und Russlands. Ich glaube, es
wäre gut, wenn man partnerschaftlich dazu käme, im
Dialog zwischen Russland und den USA - mit dem
Signal, das von der Nuclear Posture Review ausgeht das Richtige zu tun und auch Russland dazu zu bewegen,
den Nuklearwaffen einen geringeren Stellenwert zuzuschreiben. Das ist der Kernpunkt unserer Diskussion.
Es wird die Zukunft der Abrüstung bestimmen, ob es
uns und auch der NATO gelingt, von der Atomwaffenstrategie Abstand zu nehmen. Es geht nicht nur um die in
Deutschland oder anderen europäischen Staaten gelagerten Atomwaffen, sondern es geht auch darum, ob sich
die NATO bei der Verteidigung auf einen Mix aus Atomwaffen und konventionellen Waffen stützt oder ob die
NATO bereit ist, den Stellenwert von Atomwaffen herabzustufen. Bevor es überhaupt dazu kommt, auf Atomwaffen ganz zu verzichten, ist es wichtig, zu sagen, dass
die Atomwaffen nur noch der Abschreckung gegen Nuklearwaffen dienen, als Restposten sozusagen. Auch
Obama hat darauf hingewiesen: Solange es Nuklearwaffen gibt, werden wir Abschreckung noch brauchen. Aber
wenn es uns nicht gelingt, die Rolle von Atomwaffen in
den Strategien zu minimieren, wird es nicht zu einem
völligen Verzicht kommen. - Deshalb ist mein großer
Appell an die Bundesregierung, ein solches Vorgehen
durch Verhandlungen in den NATO-Gremien zu unterstützen und voranzutreiben.
Ich bin nicht ganz pessimistisch. Wir haben eine Unterrichtung von einem der zwölf Apostel bekommen, der
einer Gruppe angehört, die eine neue Strategie vorbereitet. Ich hatte den Eindruck, dass man auch in dieser StraUta Zapf
tegie empfehlen wird, das Ziel der völligen nuklearen
Abrüstung festzuschreiben. Das hat - auch für die augenblickliche Planung - Konsequenzen. Ich bitte herzlich darum, Taten folgen zu lassen.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, um den wir gerungen haben. Vonseiten der nichtgebundenen Staaten wird
die Drohung ausgesprochen, dass sie sich im Rahmen
der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag einem Abschlussdokument verweigern werden, falls
es keine Resolution für eine atomwaffenfreie Zone im
Nahen und Mittleren Osten geben sollte. Ich glaube
- auch dieser Punkt ist wichtig -, dass das Ziel, das mit
dieser Resolution angesteuert wird, eines der schwierigsten ist, weil es sich hierbei, wenn es um Abrüstungsfragen und um Sicherheit geht, um die allerschwierigste
Region handelt.
Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es nicht
nur um die nukleare Abrüstung geht, sondern auch um
eine Verabredung zur Rolle der konventionellen Streitkräfte. Das betrifft nicht nur den KSE-Vertrag - wir wissen es sehr zu schätzen, dass dieses Thema wieder auf
den Tisch des Hauses gebracht wird -, sondern auch den
Nahen und Mittleren Osten. Das betrifft natürlich auch
die Regionen Indien und Pakistan, in denen die beiden
Mächte derzeit derart aufrüsten, dass man das Schaudern
bekommen kann. Wenn wir generell über den Jahresabrüstungsbericht sprechen, sollten wir das im Blick behalten. Wir stehen auch in diesem Bereich in der Pflicht, auf
weitere Abrüstung hinzuwirken. Das betrifft natürlich
auch die eigenen Lieferungen, die nicht maßlos zur konventionellen Aufrüstung beitragen sollten.
Lassen Sie mich einen letzten Punkt erwähnen. Die
Proliferationsgefahr, die mit der zivilen Nutzung von
Nukleartechnologie verbunden ist, ist uns bewusst.
Wenn man sich vorstellt, welche möglichen weiteren
Gefahren durch die Verbreitung der Nukleartechnologie
und durch das dadurch anfallende Nuklearmaterial - sei
es Abfall, sei es Material zur Wiederverwertung - auch
in Bezug auf die illegale oder die terroristische Verwendung entstehen, dann glaube ich, dass es höchste Zeit ist,
dass wir darüber reflektieren, und zwar nicht nur in Bezug auf die Sicherung dieser Materialien - demnächst
soll auf dem Gipfel in Washington darüber beraten werden -, sondern auch in Bezug auf die Frage, wie wir im
Zuge einer solchen Entwicklung gewährleisten können,
dass eine sogenannte Fuel Bank etabliert wird. Es wird
nicht leicht sein, anderen Staaten zu sagen: Ihr dürft dieses Material, das ihr für die Reaktoren verwenden wollt,
nicht selbst herstellen; wir wollen das unter internationaler Kontrolle machen. - Dies wäre aber ein wichtiger
Schritt. Wir kennen das aus den ganz schwierigen Diskussionen mit Iran.
Wenn ich noch ein Problem auftischen soll, das völlig
ungelöst ist, muss ich an Nordkorea erinnern. Die
Sechs-Parteien-Gespräche müssen von uns unterstützt
werden. Es muss eine Lösung gefunden werden, damit
dieses Land, das sich aus dem Atomwaffensperrvertrag
quasi abgeseilt hat, in die Vertragsgemeinschaft zurückkehrt. Es muss eingebunden werden und sich an einer
friedlichen Lösung all jener Probleme, die ich angerissen
habe, beteiligen.
Nochmals herzlichen Dank an alle für die gute Kooperation. Das lässt mich für die Zukunft dieser Legislaturperiode hoffen.
Herzlichen Dank.
({0})
Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier heute nicht nur über den
Jahresabrüstungsbericht 2009 der Bundesregierung, sondern wir sprechen auch über einen fraktionsübergreifenden Antrag, der von vier Fraktionen dieses Hauses aus
fünf Parteien vorgelegt wird. Ich denke, das ist ein gutes
Signal für die Öffentlichkeit, für unsere Bevölkerung.
Wir sind froh, dass wir heute - ich nenne es einmal so diese Osterbotschaft senden können. Herzlichen Dank
an alle Beteiligten, insbesondere an Frau Hoff, Frau Zapf
und Frau Malczak! Wenn ich diese drei Namen nenne,
könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass Abrüstung
weiblich geworden ist. Aber ich denke, dass alle, auch
die Herren des Hauses, dahinterstehen.
Wir setzen damit ein klares Zeichen für eine überlegte
Abrüstung. Der fraktionsübergreifende sicherheitspolitische Antrag hat die beteiligten Fraktionen über
mehrere Monate hinweg an die Grenze des Auslotbaren
gebracht. Das zeigt aber auch, mit welcher Ernsthaftigkeit wir darüber gesprochen haben. Es ist gut, dass unser
Koalitionsvertrag bei einem Großteil des Parlaments für
Übereinstimmung und gemeinsames Handeln sorgt. Viele
Formulierungen finden sich im gemeinsamen Antrag
wieder. Das macht Mut für künftige sicherheitspolitische
Initiativen, zum Beispiel für die G-8-Initiative „Globale
Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen“.
Bei aller Hoffnung und ohne die für Deutschland
manchmal typische rosa Brille möchte ich aus Sicht der
Union ein paar Punkte ansprechen.
Bei Abrüstung geht es natürlich auch um unsere deutschen Interessen, um die Klärung unserer sicherheitspolitischen Interessen, einschließlich der Festigung der
transatlantischen Bindung und der europäischen Verwurzelung. Es geht um Grundwerte wie Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Wohlfahrt. Es geht aber
auch um die Glaubwürdigkeit unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir alle wissen, dass unsere heutige
Initiative nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem
großen Ziel ist. Selbst Obama hat gesagt, dass es bis zu
einer nuklearwaffenfreien Welt möglicherweise eine Generation dauern kann.
({0})
Deshalb sollten wir bei allem Elan schon jetzt auch an
konventionelle Abrüstung und an Integration von konventioneller und nuklearer Abrüstung denken. Die Ernennung von Victoria Nuland als US-Sonderbeauftragte
für konventionelle Abrüstung ist ein hoffnungsfrohes
Zeichen dafür, wie ernst unser wichtigster Bündnispartner auch die konventionelle Abrüstung nimmt.
Es ist Auffassung der Union, dass der politische
Zweck der nichtstrategischen Atomwaffen in Europa entfallen ist. Aber wenn wir diese Abrüstung wollen, dann
muss sie im Bündnis abgestimmt sein, dann müssen wir
schrittweise vorgehen - mit den USA, ohne einseitige
Vorleistungen -, dann muss das im Zuge der Überarbeitung des strategischen Konzepts der NATO geschehen
- Frau Zapf hat das eben angesprochen - und unter Einbeziehung - das ist uns von der Union ganz besonders
wichtig - aller nichtstrategischen Atomwaffen in Europa,
auch der russischen.
({1})
Nukleare und konventionelle Abrüstung unter Anpassung des KSE-Vertrags ist der Einstieg in eine koordinierte Abrüstung. Wir sollten dabei auch die Wahrnehmung der baltischen Staaten und unseres polnischen
Nachbarn hinsichtlich der Bedrohungslage ernst nehmen. Die haben nämlich einen etwas anderen Bezug zur
Geschichte. Deshalb müssen wir sie frühzeitig in unsere
Überlegungen einbeziehen.
({2})
Wie stellen wir uns das konkret vor? Wir bleiben in
der NATO und in der Europäischen Union fest verankert. Beiden Wertegemeinschaften verdanken wir unsere
Sicherheit, unseren Wohlstand, aber auch unser Gewicht
in der Welt. Die Einigung bei START, also hinsichtlich
der Reduzierung der strategischen Atomwaffen, zwischen den USA und Russland, die wohl in den nächsten
14 Tagen bevorsteht, ist vielversprechend. Wir müssen
alle Kraft auf die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai setzen und in diesem Jahr versuchen, endlich die Ratifizierung des Teststoppvertrags
zu erreichen - es fehlt immer noch die Ratifizierung
durch neun Staaten -, damit dieser Vertrag in Kraft treten kann.
Der Fahrplan des Abzugs nichtstrategischer Atomwaffen aus Deutschland und Europa hat abgestimmt im
Bündnis zu erfolgen, auch mit den fünf Staaten, in denen
sie zurzeit noch gelagert sind. Wenn diese Nuklearwaffen keine militärische Rolle mehr spielen, sollten wir das
auch in unsere Gespräche mit der Türkei einbeziehen. Es
gibt ja auch schon Überlegungen, wie man diese Atomwaffen unter internationale Kontrolle stellen könnte. Ich
denke an die Vorschläge, die bei der IAEO vorliegen.
Parallel zum Abrüstungsfahrplan brauchen wir - Frau
Zapf hat es vorhin angesprochen - die Aufrechterhaltung
einer nuklearen Rückversicherung im strategischen Konzept der NATO. Warum? Solange es noch Atomwaffen
gibt, solange es noch andere Massenvernichtungswaffen
auf der Welt gibt - das strategische Konzept enthält allerdings ein deutliches Zeichen der Rückführung der Bedeutung der Nuklearwaffen - und solange die Gefahr der
Proliferation nicht gebannt ist, brauchen wir als letzte
Rückversicherung wenige Nuklearwaffen im Bündnis.
Früher hieß das Abschreckung. Diese sollten wir erst
dann aufgeben, wenn keine Staaten mehr mit Atomwaffen drohen können. Denn außerhalb Europas ist die Lage
nicht sonderlich erquicklich.
Wenn wir den Blick in den Abrüstungsbericht wagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen wir: Nordkorea ist unberechenbar. Atommächte wie Pakistan und
Indien befinden sich nicht gerade in Friedensverhandlungen. Die Gefahr nuklearer Rüstung im Iran hat unabsehbare Konsequenzen, beispielsweise für das Bedrohungsgefühl Israels, Saudi-Arabiens und der Türkei.
Sicherheitspolitik hat nicht immer nur mit klaren Fakten
zu tun. Sicherheitspolitik hat viel mit Psychologie und
Bedrohungswahrnehmung zu tun. Auch daran können
wir arbeiten. Im Abrüstungsbericht ist davon die Rede,
dass in Syrien möglicherweise geheime nukleare Aktivitäten aufwachsen. Die IAEO hat hierzu Überlegungen.
Wir Deutschen arbeiten intensiv an der Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs. Es gibt also ganz viele
Ansatzpunkte für Abrüstung, nicht nur im militärischen
Bereich.
Wir werben für Transparenz und Kooperationsmaßnahmen, für Verifikation für alle Massenvernichtungswaffen. Deshalb sollten wir noch stärker auf einen Erfolg
bei der Genfer Abrüstungskonferenz hinwirken. Unsere
Wertegemeinschaft gilt es gegen die Bedrohung durch
Massenvernichtungswaffen zu schützen. Aber wie leisten wir das ohne Nuklearwaffen? Auch darüber sollten
wir uns als Parlament Gedanken machen. Es gibt eine
Lösung; darüber werden wir debattieren müssen: Wir
sollten darauf hinarbeiten, dass die geplante Raketenabwehr der NATO gegen Massenvernichtungswaffen für
alle offen ist, die daran mitwirken wollen. Sie richtet sich
gegen unberechenbare Staaten im Mittleren und Fernen
Osten, Staaten, die sich nicht an den Nichtverbreitungsvertrag halten bzw. den Teststoppvertrag verletzen. Eine
partnerschaftliche und nicht ausgrenzende Raketenabwehr schafft Transparenz und Vertrauen, insbesondere
mit Blick auf Russland und China.
({3})
Wir sollten deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen,
intensiver über Sicherheitspolitik und sicherheitspolitische Architekturen nachdenken, weit über unsere nationalen Befindlichkeiten hinaus. Wir brauchen die breite
Debatte. Wir können es auch offen ansprechen: Wir haben es mit dem Ende des Kalten Krieges versäumt, diese
wertegeleitete Debatte in Deutschland mit Blick auf unsere sicherheitspolitischen Interessen zu führen. Das
Weißbuch von 2006 ist gut, die Konzeption der Bundeswehr von 2004 auch. Aber wir haben das nicht in die Öffentlichkeit getragen. Wir sollten weiter und breiter in
der Öffentlichkeit darüber diskutieren. Der Anstoß kann
von uns ausgehen.
({4})
Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir dürfen die Debatte nicht blauäugig führen. Gutmenschentum ist in der
Sicherheitspolitik fehl am Platz. Hier zählen Fakten, Bedrohungswahrnehmungen, strategische Interessen, historische Zusammenhänge und psychologische Befindlichkeiten. Aber es geht auch um Glaubwürdigkeit und
verlässliche Stärke. Wir brauchen eine Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen und ihrer Ursachen mit Blick auf Terrorismus, Aufrüstung und unkontrollierte Verbreitung, also Proliferation. Es gilt der
Grundsatz: Je weniger Nuklearwaffen, desto geringer die
Gefahr, dass dieses Material in terroristische Hände fällt.
Unsere heutige Abrüstungsinitiative ist dann sinnvoll
und erfolgversprechend, wenn wir uns über unsere deutschen Sicherheitsinteressen glaubwürdig und vor allem
auch für unsere Bündnispartner nachvollziehbar verständigen. Das bezieht die Frage der transatlantischen Abstimmung mit ein. Abrüstung kann somit nur gesamteuropäisch wirksam sein, und sie muss für nukleare und
konventionelle Waffen gelten. Wir sollten auch daran
denken, mit Russland über die baldige Wiederaufnahme
der Verhandlungen über den KSE-Vertrag zu sprechen,
pragmatisch und offen.
({5})
Als Rahmen bieten sich hierzu die NATO oder die
OSZE an. Wir berücksichtigen dabei auch die Sicherheitsbedürfnisse unserer östlichen Nachbarn. Wir sollten
Anreize für Abrüstung schaffen, nicht Misstrauen für
neue Aufrüstung. Abrüstung kostet viel Geld; darüber
müssen wir uns im Klaren sein. Erst langfristig schafft
sie freie Ressourcen, zum Beispiel für Bildung und Forschung. Wir brauchen aber auch Mittel zur Sicherung
der Nukleararsenale.
Auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigen
Ziels Global Zero brauchen wir - ich glaube, da sind wir
uns einig - die Festlegung einer möglichst geringen Anzahl von Kernwaffen als Restversicherung, und zwar
möglichst außerhalb Europas. Wenn wir dies wollen,
auch als Parlament, müssen wir uns darüber im Klaren
sein, was das im Hinblick auf die Mitbestimmung, die
Teilhabe bedeutet. Auch das ist ein Punkt, über den zu
diskutieren ist. Ein zügiges Wegverhandeln der nichtstrategischen Atomwaffen nach dem START-Folgeabkommen ist sicherlich möglich. Mit diesem Vorschlag machen
wir unsere deutschen Interessen klar - pragmatisch und
konstruktiv. Wir gehen im Bündnis Hand in Hand.
Wir sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit dem
schlichten und euphorischen Ruf nach Abrüstung, nach
Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ist es allein
nicht getan. Wenn wir ernsthafte Abrüstungsbemühungen wollen, die dauerhaft erfolgreich sind, stehen wir
erst am Anfang eines langwierigen und mühsamen Prozesses.
Unser Koalitionsvertrag weist den richtigen Weg. Wir
setzen ihn auch in der Sicherheitspolitik erfolgreich um.
Dennoch: Visionen schaffen keine Sicherheit. Aber sie
schaffen Zielmarken. Sie ermöglichen einen Fahrplan.
Aber der Fahrplan braucht Haltestellen. An diesen Haltestellen sollten Meilensteine der Abrüstung stehen, nicht
auf Visionen beruhend, sondern auf klaren Fakten, ordentlichen Verhandlungen, gegenseitigem Respekt. Das
ist möglich, wenn wir die Interessen unserer Nachbarn,
auch die Befindlichkeiten unserer ferneren Nachbarn,
und die historischen Zusammenhänge kennen. Wir brauchen für glaubwürdige Abrüstung Vertrauen, Verlässlichkeit und Transparenz.
Abrüstung mit Frieden zu verwechseln, ist ein schwerer Fehler. Abrüstung ist wichtig. Aber die Geschichte
lehrt, dass zumeist nicht Abrüstung zu Frieden führt,
sondern dass friedliche Zusammenarbeit erst einmal zu
geringerem Misstrauen, dann zu weniger Angst und
dann zu Abrüstung führt. Das hat kein Geringerer als
Richard von Weizsäcker festgestellt.
Abrüstung führt dann zum Erfolg, wenn sie kein
Selbstzweck ist, sondern wenn sie überlegt, mit den Partnern abgestimmt und mit einem klugen Plan erfolgt, immer mit Blick auf unsere eigenen Interessen, über die
wir uns national, in Europa und im Bündnis sehr ordentlich verständigen müssen.
Unser gemeinsamer Antrag ist ein richtiger und zügiger Schritt. Entscheidend ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass unsere Abrüstungsziele mit unseren Interessen zusammenpassen. Populismus ist fehl am Platz, aber
harte Arbeit umso willkommener. Packen wir es an!
Herzlichen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Täglich
sterben 500 Menschen weltweit in bewaffneten Konflikten. Das sind etwa 32 Menschen in den anderthalb Stunden, in denen wir heute über Abrüstung diskutieren.
Nicht wenige von ihnen sterben durch deutsche Waffen,
durch Schusswaffen, die in Deutschland oder mit deutscher Lizenz produziert wurden.
Die Atommächte dieser Welt besitzen nach wie vor ein
nukleares Potenzial, das ausreicht, die Menschheit mehrfach zu vernichten. Trotzdem wird weiter aufgerüstet.
Weltweit wird die unglaubliche Summe von 1 500 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Abrüstung ist demnach eine entscheidende Frage, eine Überlebensfrage für
die Menschen auf diesem Planten. Abrüstung ist eine
drängende politische Aufgabe, der wir uns alle stellen
müssen. Atomare und konventionelle Waffen müssen abgerüstet werden, ganz egal, ob es um Kleinwaffen oder
Großwaffensysteme geht.
({0})
Die Linke ist deshalb für Abrüstung und den Stopp von
Rüstungsexporten.
({1})
Die Bundesregierung redet viel von Abrüstung. Herr
Westerwelle hat gerade wieder den Beitrag Deutschlands
für den Frieden in der Welt gelobt. Das ist völlig unglaubwürdig, solange die Bundeswehr immer mehr für
Kriege aufrüstet. Es ist verlogen, solange Waffen in nahezu alle Regionen dieser Welt geliefert werden. Abrüstungspolitik sieht anders aus.
({2})
Auch im Lissabon-Vertrag wird die Doppelmoral
bei der Rüstung hochgehalten. Der Vertrag regelt seit
dem letzten Dezember die rechtlichen Grundlagen auch
für die Außenpolitik der Europäischen Union. In dem
Vertrag wird nur ein einziges Mal das Wort „Abrüstung“
erwähnt. In Art. 41 und in Art. 42 geht es um „Missionen außerhalb der Union“. Diese Missionen umfassen
- Art. 43 - sogenannte „Abrüstungsmaßnahmen“ in
Drittstaaten, die mit militärischen Mitteln durchgeführt
werden sollen. Gemeint ist also eine gewaltsame Abrüstung anderer Länder. Im selben Vertrag verpflichtet die
EU ihre Mitgliedstaaten zu weiterer Aufrüstung. Die EU
legt dabei auch fest, wie dies mit der Europäischen Verteidigungsagentur abgewickelt wird. Hier wird schamlos
europäische Machtpolitik betrieben. Abrüstung wird es
so nicht geben.
({3})
Das schwedische Institut SIPRI hat gerade wieder
festgestellt: Das Volumen des Rüstungshandels ist in
den letzten Jahren weltweit um 22 Prozent gewachsen.
Zusammen exportieren alle EU-Staaten inzwischen mindestens so viele Waffen wie die USA. Deutschland hat
daran einen ganz erheblichen Anteil: Deutschland hat
seine Ausfuhren in diesem Bereich in den letzten fünf
Jahren verdoppelt. Deutschland ist damit Europameister
beim Handel mit dem Tod und liegt weltweit auf Platz 3.
({4})
Um wenigstens etwas Licht in die dunklen Rüstungsgeschäfte zu bringen, haben wir bereits im Dezember
2008 beantragt, dass der Rüstungsexportbericht spätestens im zweiten Quartal des Folgejahres vorgelegt wird,
statt, wie es bisher häufig der Fall ist, erst über ein Jahr
später.
({5})
Parlamentarische Kontrolle und Debatte über Rüstungsexporte sind ein wichtiger Beitrag zur Abrüstung.
Rüstungsexporte sind ein doppeltes Problem: Zum einen schaffen Waffen keinen Frieden, zum anderen fehlt
das Geld, das für Waffen ausgegeben wird, an anderer
Stelle. So haben auch deutsche Waffenverkäufe ihren
Anteil an dem gigantischen Staatsdefizit in Griechenland. Deutsche Rüstungsunternehmen beliefern sowohl
Griechenland als auch die Türkei, nahezu ausgewogen.
Sie profitieren von den Spannungen zwischen diesen
beiden Nachbarstaaten. Auch Südafrika und Pakistan
werden mit deutschen Rüstungsprodukten beliefert.
Diese Länder haben große ökonomische und soziale Probleme. Wenn Waffen gekauft werden, fehlt das Geld für
Bildung, für Gesundheit, für Soziales. Deutsche Waffen
gehen nach wie vor an Länder, die die Menschenrechte
systematisch missachten, zum Beispiel an Saudi-Arabien. Sie gehen an Länder, die in Kriege und Bürgerkriege verwickelt sind, an Länder, die sich diese Waffen
eigentlich gar nicht leisten können.
Für Rüstungsunternehmen ist das in der Regel kein
Risiko; denn die Exporte werden mit staatlichen Hermesbürgschaften bestens abgesichert. Die Linke ist gegen öffentliche Garantien für Rüstungsgeschäfte.
({6})
Die Linke ist für Konversion. Die Linke ist gegen Geschäfte mit dem Tod. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist
unsere Devise.
({7})
Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Jahresabrüstungsbericht 2009 zeigt die helle
Seite der deutschen Außenpolitik. Doch es gibt auch
eine ziemlich düstere: die der deutschen Rüstungsexporte. Den Rüstungsexportbericht legt die Bundesregierung nicht gerne vor. Bisher liegt der Rüstungsexportbericht weder für das Jahr 2009 noch für das Jahr 2008
vor. Das ist ein Skandal.
({0})
Bevor ich auf diese dunkle Seite der deutschen Außenpolitik zu sprechen komme, möchte ich mich zunächst einem Lichtblick der deutschen Abrüstungspolitik widmen. Den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD,
der FDP und der Grünen ist es gelungen, sich auf einen
gemeinsamen Antrag zur nuklearen Abrüstung zu einigen. Wir Abgeordnete führen in diesem Hohen Hause
leidenschaftliche, teilweise erbitterte Debatten zu allen
möglichen Themen, und häufig ist das auch gut so.
Trotzdem ist es wirklich einmalig, dass sich heute das
gesamte Parlament zu einem atomwaffenfreien Deutschland und zu dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekennt.
({1})
Die Entstehung des interfraktionellen Antrages kann
durchaus als schwierige Geburt bezeichnet werden. Deshalb möchte ich mich bei Frau Zapf, bei Herrn
Kiesewetter und bei Frau Hoff, die sich immens bemüht
haben, dafür bedanken, dass wir dieses tolle Unterfangen
auf die Beine gestellt haben. Mit diesem Antrag ist der
Irrglaube aus dem Kalten Krieg, dass Atomwaffen für
die Sicherheit unerlässlich sind, endlich aus den Köpfen
aller hier verbannt.
Doch für uns ist es nur ein Teilsieg der Vernunft. Dass
bei der Ausarbeitung dieses Antrages nicht alle Fraktionen beteiligt wurden, zeigt, dass die ideologischen und
parteipolitischen Scheuklappen nicht ganz abgelegt werden konnten. Der Ausschluss der Linken, obwohl in der
Sache eigentlich Konsens herrscht, ist aus Sicht der Grünen eine verpasste Chance.
({2})
Wenn in einer so wichtigen Frage Einigkeit besteht, sollten wir gesamtparlamentarisch Geschlossenheit demonstrieren.
Meine Damen und Herren, die Kanzlerin kann jetzt
auf ihrer Reise zum Gipfel in die USA ebenso wie der
Außenminister auf seinen Reisen statt einer Kontroverse
- das kommt häufig vor - einen Konsens mitnehmen,
der Ansporn und Mahnung ist. Abrüstung muss ein
Grundpfeiler für die deutsche Außenpolitik im Dienste
des Friedens sein. Diese Außenpolitik darf sich nicht
verstecken, weder vor den USA noch vor der NATO.
Deshalb sollten wir hier nicht zu vorsichtig sein und uns
nicht zu sehr wegducken. Sie sind doch auch sonst nicht
so kleinlaut, Herr Minister. Vertreten Sie diese Anliegen
doch noch offensiver, statt immer nur auf die Bündnisverpflichtungen zu verweisen und die nukleare Abrüstung damit zu verknüpfen.
({3})
Wer glaubt, die nukleare Bedrohung habe sich mit
dem Ende des Kalten Krieges erledigt und sei nur noch
ein gruseliges Kapitel in den Geschichtsbüchern, unterliegt einem gefährlichen Irrtum. Die von Atomwaffen
ausgehende Gefahr für den Frieden und die Sicherheit
in der Welt hat eine völlig neue, besorgniserregende
Qualität erreicht. Derzeit existieren weltweit 23 000 atomare Sprengköpfe, von denen schätzungsweise 11 000
rund um die Uhr abschussbereit sind.
Eine zunehmende Zahl von Staaten ist dabei, ihre nukleare Enthaltsamkeit infrage zu stellen. Der Mythos,
dass Atomwaffen ein Potenzmittel für mehr Macht und
zugleich eine Immunspritze für mehr Sicherheit sind,
verleitet aufstrebende Mächte und jene, die es werden
wollen, dazu, ihre Hände nach der vermeintlichen Wunderwaffe auszustrecken. Tonnen von waffenfähigem Nuklearmaterial lagern teilweise an ungesicherten Orten,
oft nur geschützt durch Maschendrahtzaun. Mit dem
Wachstum von Information und Handel ist heute die Expertise für den Bau von Atomwaffen viel leichter verfügbar als jemals zuvor. Diese Bedrohungsskizze zeigt, dass
wir uns keine Versäumnisse leisten können; denn es ist
höchste Zeit, zu handeln.
({4})
Das starke Votum aus dem Parlament für den Abzug
der verbliebenen US-Atomwaffen in Büchel in Rheinland-Pfalz und für eine Stärkung der nuklearen Abrüstung kommt gerade noch rechtzeitig; denn im Mai dieses
Jahres findet die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages statt. Sie darf nicht scheitern wie vor
fünf Jahren.
Ein Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes
und der multilateralen Rüstungskontrolle würde ein
neues Zeitalter des Rüstungswettlaufes von mehr als nur
zwei Großmächten heraufbeschwören. Daher ist es ein
großer Schritt nach vorne, dass wir uns heute gemeinsam
für klare Vereinbarungen für weltweite nukleare Abrüstung, für Rüstungskontrolle, für vertrauensbildende
Maßnahmen und Transparenz aussprechen. Der gemeinsame Antrag enthält wirklich umfassende Forderungen
zur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt.
Für viele dieser Forderungen haben wir Grüne uns
schon seit Jahren stark gemacht. Das Parlament will,
dass die Bundesregierung für eine Verstärkung von Rüstungskontrolle und Abrüstung in der NATO eintritt, und
zwar offensiv. Wir stimmen für die Offenlegung von
Plutoniumbeständen und für die Einrichtung eines Kernwaffenregisters. Der Bundestag setzt sich für das weltweite Inkrafttreten des Atomteststopp-Abkommens ein.
Wir erteilen dem Einsatz von Atomwaffen seitens der
Atommächte gegenüber Nichtkernwaffenstaaten eine
klare Absage.
Dass dieser Forderungskatalog von der Mehrheit dieses Hauses mitgetragen wird, ist ein erstaunlicher Fortschritt. Doch bei allem gerechtfertigten Lob und bei aller
gerechtfertigten Freude über diesen Fortschritt dürfen
wir uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen.
({5})
Der interfraktionelle Antrag, so gut er auch ist, kann für
uns Grüne als Minimalkonsens nur ein Grundstein sein,
auf dem wir weiter aufbauen müssen. Wer den Bauplan
kennt, der weiß, dass es darüber hinaus noch viel zu tun
gibt.
Ich möchte drei Baustellen nennen, die für uns wesentlich sind.
Die erste Baustelle befindet sich in Deutschland. Wir
wollen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe nicht
länger warten als nötig. Nukleare Abrüstung beginnt vor
der eigenen Haustür. Deutschland kann und sollte sich
schon jetzt dafür einsetzen, dass die Ausbildung von
Bundeswehrsoldaten und die Bereitstellung von Trägermitteln für den Abwurf von Atomwaffen eingestellt werden, und damit dem Beispiel Kanadas und Griechenlands folgen, die ihrerseits vor Jahren die nukleare
Teilhabe beendet haben.
({6})
Die zweite Baustelle betrifft die NATO. Auch was die
Rolle von Atomwaffen innerhalb der NATO angeht, ist
aus grüner Sicht mehr drin. Zur Überwindung einer Politik der nuklearen Abschreckung muss die Ersteinsatzoption für Atomschläge endlich abgeschafft werden.
({7})
In der neuen NATO-Strategie, die im Herbst dieses
Jahres beschlossen wird, muss Abrüstung das Kernprinzip eines Bündnisses werden, das für Frieden und
Sicherheit stehen will. Das Bündnis muss sich außerdem
in Richtung atomwaffenfreies Europa bewegen und in
einem ersten Schritt den Abbau und vor allem auch die
Verschrottung aller US-Atomwaffen in Europa einleiten.
Die dritte Baustelle ergibt sich aus der Problematik
der doppelten Verwendung von Nuklearmaterial, für die
es nur eine grüne Lösung gibt. Die zunehmende Ausbreitung der zivilen Nutzung der Atomenergie steigert
auch die nukleare Gefahr, da immer mehr Staaten die Fähigkeiten zum Aufbau militärischer Nuklearprogramme
erwerben.
({8})
Deutschland muss sich national und weltweit für den
Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie einsetzen und stattdessen die Nutzung erneuerbarer Energien in der Welt fördern.
({9})
Aber stattdessen fördert die Bundesregierung den Export
von Atomtechnologie durch die Vergabe von Hermesbürgschaften wie unlängst für das Atomkraftwerk
Angra 3 in Brasilien. Wenn kurzfristiger Profit in Sicht
ist und die Atomlobby nach neuen Absatzmärkten
lechzt, ist Schwarz-Gelb gegenüber Sicherheitsrisiken
blind.
Damit sind wir auch schon bei den düsteren Seiten
der deutschen Außenpolitik angelangt. Der vor kurzem
erschienene Bericht des renommierten schwedischen
Friedensforschungsinstituts SIPRI bescheinigt Deutschland einen bitteren Exporterfolg, auf den auch in Zeiten
der Weltwirtschaftskrise niemand stolz sein kann. In den
vergangenen Jahren verdoppelte die deutsche Rüstungsindustrie ihre Exporte und baute ihren Weltmarktanteil
von 6 auf 11 Prozent aus. Das ist ein trauriger Rekord.
Dabei ist nicht nur erschreckend, wie viele Waffen
exportiert werden, sondern vor allem auch, wohin sie exportiert werden. Denn die Bundesregierung betreibt ihre
offensive Rüstungsexportstrategie auch in Krisenregionen. Eine Rüstungsexportpolitik, die sich der Rüstungsindustrie derart unterwirft, unterminiert alle Anstrengungen um Abrüstung. Sie verschließt die Augen
vor den verheerenden Folgen der weltweiten Aufrüstungsspirale für Sicherheit und Frieden in der Welt. Sie
ist unmoralisch und verantwortungslos. Abrüstung ist
ein unverzichtbarer Bestandteil einer nachhaltigen Sicherheits- und Friedenspolitik und muss daher industriepolitische Absichten übertrumpfen.
({10})
Ich stimme dem Minister zu: Nukleare Abrüstung
darf nicht zu konventioneller Aufrüstung führen. Aber
gerade deshalb müssen wir auch an die Rüstungsexporte
heran.
({11})
Mit anderen Worten: Konsequente und ehrliche Abrüstungspolitik erfordert eine restriktive Rüstungsexportpolitik und effektive Rüstungskontrolle. Dazu gehört auch, dass der Bundestag im Vorfeld und nicht wie
in der bisherigen Praxis unzulänglich und erst im Nachhinein informiert wird. Wir fordern eine unverzügliche
Vorlage der Rüstungsexportberichte für 2008 und 2009
und setzen uns für ein parlamentarisches Widerspruchsrecht ein.
({12})
Abschließend möchte ich festhalten: Unser heutiges
Bekenntnis für ein atomwaffenfreies Deutschland und
eine atomwaffenfreie Welt ist ein erster wichtiger
Schritt. Die Einigkeit in dieser Frage über die Parteigrenzen hinweg ist hierfür ein vielversprechender
Lichtblick. Wir Grüne wollen eine nachhaltige Sicherheits- und Friedenspolitik, zu der eine konsequente Abrüstungspolitik untrennbar dazugehört. Und mehr grünes
Licht vertreibt auch die hier noch bestehenden Schatten.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erhält die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte an dieser Stelle
meine große persönliche Freude darüber zum Ausdruck
bringen, dass es den Frauen und Männern in den verschiedenen Fraktionen gelungen ist, einen gemeinsamen
Antrag für den Deutschen Bundestag auf den Weg zu
bringen. Wir setzen damit ein starkes Signal, für das es
keinen besseren Zeitpunkt hätte geben können als das
Vorfeld der Überprüfungskonferenz des nuklearen
Nichtverbreitungsvertrages und des Gipfels zur nuklearen Sicherheit.
({0})
Der Deutsche Bundestag setzt hierdurch ein deutliches
Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen.
Der gemeinsame Antrag ist deshalb auch ein starkes
Mandat für den Bundesaußenminister, der damit seinen
beherzten und zukunftsweisenden Kurs in der Abrüstungspolitik national wie international fortsetzen kann.
Er gibt der Bundesregierung und dem Außenminister die
wichtige Rückendeckung des deutschen Parlamentes.
Deutschland steht in den kommenden Monaten vor
wichtigen internationalen Verhandlungen. Wir Parlamentarier wollen, dass insbesondere die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ein
Erfolg wird. Wir wollen auch, dass Deutschland hierbei
eine Vorreiterrolle übernimmt. Dies wird durch unseren
gemeinsamen Antrag sehr deutlich.
({1})
Das Ziel einer Welt frei von Atomwaffen ist eine Herkulesaufgabe. Kein Staat der internationalen Gemeinschaft kann es allein erreichen. Aber mit der Prager Rede
von Präsident Barack Obama wurden Möglichkeiten eröffnet, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen.
Die verantwortungsvolle Politik deutscher Staatsmänner
wie Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt während des Kalten Krieges hat maßgeblich dabei geholfen,
dass wir heute die Chance auf eine atomwaffenfreie Welt
nutzen können. Deutschland hat hierbei als Land, das
während des Kalten Krieges ein potenzielles Feld für einen Atomkrieg war, eine besondere Verantwortung. Deshalb nutzen wir diese Chance gemeinsam mit der Bundesregierung. Mit dem vorliegenden interfraktionellen
Antrag bekennt sich der Deutsche Bundestag zu dieser
gemeinsamen Verantwortung.
Für unsere Abrüstungsziele müssen wir aber auch
endlich die überkommenen militärischen Kalkulationen
des Kalten Krieges über Bord werfen. Wir werden die
Konflikte des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit den Strategien des 20. Jahrhunderts bewältigen können.
({2})
Es ist deshalb richtig, dass die christlich-liberale Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sich im
Rahmen der Ausarbeitung des neuen strategischen Konzepts und in enger Zusammenarbeit und Absprache mit
unseren NATO-Verbündeten für einen Abzug der letzten US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen.
Das Ziel einer umfassenden Abrüstung wird nicht
ohne neue Abkommen zu erreichen sein. Insbesondere
die USA und Russland sind hier in der Pflicht, da sich
der Großteil der noch bestehenden weltweiten Atomwaffenbestände im Besitz der amerikanischen und der russischen Streitkräfte befindet. Es ist deshalb eine große Erleichterung, dass es den Regierungen in Washington und
Moskau offensichtlich gelungen ist, den gordischen
Knoten im Ringen um ein Nachfolgeabkommen zum
START-Vertrag zu durchschlagen. Dies wäre auch ein
wichtiges Abrüstungssignal im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des NPT.
Die START-Nachfolge darf aber nicht der letzte
Abrüstungsschritt bleiben. Gerade im Bereich der substrategischen Atomwaffen müssen transparente und verifizierbare Rüstungskontrollvereinbarungen gefunden
werden. Diese Kategorie von Atomwaffen stellt eine besondere Gefahr dar, in die Hände von Terroristen oder
Proliferateuren zu fallen. Ein solches Risiko muss durch
neue Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und
Russland minimiert werden.
Die Abrüstung der bestehenden Nukleararsenale ist
aber nur eine Seite der Medaille, soll das Ziel einer
atomwaffenfreien Welt erreicht werden. Mehr noch, die
internationale Gemeinschaft steht vor der schwierigen
Aufgabe, die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten zu
verhindern. Die Konflikte um das iranische und das
nordkoreanische Atomprogramm zeigen, wie schwierig
dies ist. Sowohl ein nuklearbewaffneter Iran als auch
ein dauerhaft nuklearbewaffnetes Nordkorea würden
eine erhebliche Gefährdung der internationalen Sicherheit darstellen. Deshalb muss es oberstes Ziel der Weltgemeinschaft bleiben, diese Konflikte durch eine politische Lösung nachhaltig beizulegen.
({3})
Das Jahr 2010 wird ein weichenstellendes Jahr für das
Ziel einer Welt frei von Atomwaffen. Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu diesem Ziel. Mit dem heute eingebrachten Antrag haben wir als Parlament hierfür ein
wichtiges Zeichen gesetzt. Ganz herzlichen Dank dafür
an alle. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft auf diesem
Konsenswege eine vernünftige Abrüstungspolitik machen können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Rolf Mützenich für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich freue mich über den gemeinsamen
Antrag der vier Fraktionen. Ich würde gern das Augenmerk auf die Kolleginnen und Kollegen sowie die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes richten; denn sie haben
einen wichtigen Bericht über Abrüstung und Rüstungskontrolle vorgelegt. Ich finde, sie verdienen nicht
nur Aufmerksamkeit, sondern auch Respekt für die Arbeit, die sie bei der Erstellung dieses Berichts geleistet
haben. Ich freue mich, dass wir auf der Grundlage dieses
Berichtes in den nächsten Wochen und Monaten weiter
diskutieren können.
({0})
Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt, wir
hätten mit dem heutigen Tag einen guten Zeitpunkt gewählt, weil wir uns offensichtlich in den nächsten Tagen
einem Vertrag über die Begrenzung der strategischen
Atomwaffen näherten. Das ist ein wichtiger Schritt.
Aber nun kommt auf den amerikanischen und den russischen Präsidenten die große Aufgabe zu, im amerikanischen Senat und in der Duma um Zustimmung zu werben. Ich appelliere an den Deutschen Bundestag und die
Bundesregierung, zum Beispiel bei Gesprächen mit Senatoren in Washington für diesen Vertrag zu werben, um
deutlich zu machen, dass es im deutschen und im europäischen Interesse liegt, wenn die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen diesen Vertrag schnellstmöglich ratifizieren. Wir vom Deutschen Bundestag werden das
tun. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dem folgte.
({1})
Ich habe in der bisherigen Debatte ein bisschen den
Beitrag Europas zu Abrüstung und Rüstungskontrolle
vermisst. Ich finde, Europa kann eine Menge dazu liefern. Ich wünsche mir - wahrscheinlich stehen die Verhandlungen noch nicht vor dem Abschluss -, dass die
27 Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam nach
New York fahren und dort eine gemeinsame Verabredung zur Überprüfungskonferenz einbringen. Das wäre
ein wichtiges Signal; denn unter diesen Staaten wären
zwei Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates. Das wäre ein entscheidender Beitrag Europas, die Überprüfungskonferenz zum Erfolg zu führen.
Die Bundesregierung täte gut daran, bis zum Schluss intensiv daran zu arbeiten.
({2})
Wir unterstützen Sie, Herr Bundesaußenminister,
wenn Sie sagen, dass wir eine Universalisierung des
NPT-Vertrages brauchen. In der Tat fehlen noch immer
Staaten in diesem Vertrag. Wir müssen alles daransetzen,
auf der NPT-Konferenz die letzten Widerstände zu brechen und diesen Vertrag zu einem Erfolg der internationalen Politik zu machen. Ich glaube, gerade die neue Beauftragte der Europäischen Union, Frau Ashton, sollte
darüber nachdenken, ob sie der Abrüstung und Rüstungskontrolle mit einer eigenen Organisationseinheit im
Europäischen Auswärtigen Dienst eine stärkere Bedeutung geben sollte.
({3})
Der Lissabon-Vertrag enthält Hinweise, dass das eine
oder andere im Bereich des Militärischen aufgegriffen
worden ist. Mir behagte es aber viel mehr, wenn dies
auch die Abrüstung und Rüstungskontrolle beträfe.
Ich möchte auf Rüstungskontrolle und Abrüstung als
Instrumentarium der Politik aufmerksam machen. Dieses Instrument ist kein Selbstzweck - darauf wurde
schon hingewiesen -, sondern dient der Kooperation und
dem Dialog. Wir haben dieses Instrument richtigerweise
und klugerweise auch während des Kalten Krieges eingesetzt; denn es war sozusagen der erste Gesprächskanal, der sich zwischen den Blöcken entwickelt hat. Die
europäischen Staaten, aber auch andere, die vom Ende
des Kalten Krieges profitiert haben, sollten andere Regionen ermutigen, das Instrument der Abrüstung und
Rüstungskontrolle zu nutzen, um die notwendigen Dialogstrukturen in den Regionen wirksam zu machen. Was
beobachten wir? Um uns herum gibt es in der Welt die
größte Aufrüstung. Der SIPRI-Bericht hat darauf hingewiesen. Sie haben eben an den Doppelcharakter erinnert.
Aber der entscheidende Aspekt wird sein, Abrüstung
und Rüstungskontrolle sozusagen zur politischen Leitkultur in den Regionen weltweit zu machen. Ich finde,
dazu hätten wir eine Menge beizutragen. Wir dürfen
nicht nur Empfehlungen geben.
Wenn wir über die Universalisierung von Abrüstungsverträgen sprechen, möchte ich daran erinnern, dass
noch nicht alle Staaten den wichtigen Vertrag über das
Verbot von Streubomben unterzeichnen haben. Dieser
Vertrag ist ein ganz wichtiger Meilenstein, den wir in
den letzten Jahren erreicht haben. Ich ermutige Sie, andere Staaten darauf hinzuweisen. Es darf nämlich keine
Ausnahmetatbestände im Bereich von Abrüstung und
Rüstungskontrolle geben.
({4})
Das gilt dann natürlich auch für andere Staaten, die
sich zum Beispiel das Recht herausnehmen, im Bereich
der Urananreicherung eigene Rechte für sich zu reklamieren. Auch das müssen wir hier ganz offen benennen.
Dazu zählt zum Beispiel Brasilien.
({5})
Es entsteht nach meinem Dafürhalten eine große Gefahr,
wenn es nicht gelingt, diese Sonderrechte zu beseitigen.
Ich finde, dafür müsste auch die Bundesregierung zusammen mit den europäischen Partnern eine Menge tun.
Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, über
den wir zwar nicht so stark diskutiert haben, den ich aber
für höchstgefährlich halte. Die Volksrepublik China hat
dokumentiert, dass sie in der Lage und auch bereit ist,
Satelliten abzuschießen. Sie denkt im Zusammenhang
mit dem Weltraum auch die militärische Komponente.
Das ist eine große Gefahr und große Herausforderung.
Ich weiß, dass andere Staaten - die USA und Russland den Weltraum natürlich auch bereits für das Militär entdeckt haben, aber dass allein dieses Dokument gezeigt
worden ist, wonach auch die Volksrepublik China dazu
bereit ist, gibt eine Menge zu denken. Ich glaube, wir
sollten diese Besorgnis in Gesprächen auch mit der
Volksrepublik China immer wieder deutlich machen.
({6})
Ich unterstütze das, was viele meiner Vorrednerinnen
und Vorredner gesagt haben. Die NATO muss wieder
ein Forum für den Dialog über Abrüstung und Rüstungskontrolle werden.
({7})
Das ist nicht die Erfindung dieser Bundesregierung, sondern aller Bundesregierungen. Wir haben immer dafür
plädiert - und ich bin damals froh darüber gewesen, dass
Frank-Walter Steinmeier und der norwegische Außenminister vorgeschlagen haben -, dieses Forum innerhalb
der NATO zu entwickeln. Sie greifen das auf; ich finde
das richtig. Ich glaube, innerhalb des Bündnisses gibt es
dann auch eine Menge zu tun.
Herr Bundesaußenminister, ja, wir unterstützen Sie
darin, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland und
auch aus den anderen Ländern zu bringen. Das muss
man gemeinsam tun. Das kann dieses Parlament mit diesem wichtigen Antrag nicht allein, das kann man nur mit
den Partnern insgesamt erreichen.
Ich bitte Sie, dann gleichzeitig auch eine Gefahr mitzubenennen, die entsteht, wenn sich andere Staaten in
Europa melden und sagen: Na ja, dann nehmen wir diese
Waffen einmal in unsere Länder auf. Auch das müssen
wir diskutieren. Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie
zu den Plänen der US-Regierung, diese Waffen möglicherweise auch zu modernisieren, Stellung genommen
hätten. Auch das ist nach meinem Dafürhalten eine Herausforderung für Ihre ambitionierte Politik, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa zu
bringen; denn die Herkulesaufgabe wird doch eigentlich
erst dann bewältigt sein, wenn es uns gelingt, auch Russland zu überzeugen, die taktischen Atomwaffen einer
Verhandlungslösung zuzuführen. Das ist doch das große
Problem, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten.
({8})
Damit komme ich zu einer weiteren Herausforderung
in diesem Zusammenhang. Die Raketenabwehr lastet
sozusagen - das haben wir bei den Gesprächen zwischen
den USA und Russland doch gemerkt - wie ein Stein auf
der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deswegen unterstützen wir nicht nur das, was Sie gesagt haben, nämlich
die partnerschaftliche Öffnung hinsichtlich der Raketenabwehr, sondern ich glaube, ein wichtiger Bestandteil
muss sein, die Raketenabwehr zu einem Teil von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu machen.
({9})
Wir werden keinen ABM-Vertrag mehr erreichen,
aber ich finde, wir werden immerhin einen Dialog über
die Raketenabwehr eröffnen müssen, weil das, was wir
als defensiv betrachten, andere Staaten möglicherweise
als zusätzliche, begleitende Offensivoption ansehen.
({10})
Ich glaube, das ist die große Gefahr, der wir auch durch
Abrüstung und Rüstungskontrolle begegnen müssen.
Ich komme zum Schluss. Der Iran hat hier in der Diskussion immer wieder eine Rolle gespielt. Das, was dort
im Iran im Hinblick auf eine möglicherweise militärische Nutzung der Atomenergie geschieht, ist in der Tat
eine große Gefahr. Ich glaube, wir haben im Deutschen
Bundestag oft auch gemeinsam dafür appelliert, dass es
eine politische Lösung geben muss. Frau Hoff, ich danke
Ihnen dafür, dass Sie dies noch einmal ausdrücklich betont haben.
Ich will nur noch einmal daran erinnern: Wir dürfen
nicht alles, was in den letzten Tagen auch aus dem Iran
zu hören war, einfach beiseiteschieben. Ich finde schon,
dass wir das, was Teheran auf den Tisch gelegt hat, noch
einmal ernsthaft prüfen sollten.
({11})
Vielleicht sollte eine Eins-zu-eins-Begleitung dieses
Konzepts erfolgen. Es wäre fatal, wenn sich bei uns der
Eindruck vermitteln würde, dass es hinsichtlich einer
Verhandlungslösung jetzt sozusagen reicht. Wir brauchen die Verhandlungslösung in Zukunft. Wir brauchen
eine politische Lösung und nicht nur eine Drohkulisse.
Deswegen glaube ich, Abrüstung und Rüstungskontrolle
können uns bei der Lösung dieses Konfliktes helfen.
Die Errichtung atomwaffenfreier Zonen ist angesprochen worden.
Wenn wir darüber sprechen, wie man es schaffen
kann, dass die Welt in Zukunft ohne Atomwaffen auskommt, dann müssen wir - das will ich deutlich machen auch einen entsprechenden Appell an Israel richten. Das
zu sagen, gehört nach meinem Dafürhalten zu einer ehrlichen Debatte dazu.
({12})
Ich glaube, wir sollten den Mut aufbringen, auch dies zu
diskutieren. Die US-Administration hat es getan. Europa
könnte das auch tun.
Diese Abrüstungsdebatte ist gut. Die deutsche Außenpolitik darf sich allerdings nicht in Abrüstung und Rüstungskontrolle erschöpfen. Ich würde mir wünschen,
wenn mehr kommt. Wir haben Ihnen Angebote gemacht.
Wir werden auch in Zukunft weiter über den richtigen
Weg streiten.
Vielen Dank und alles Gute.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Abrüstung ist ein langer und ein beschwerlicher Weg. Es
gibt auf diesem Weg meist nur kleine, oft kaum wahrnehmbare Fortschritte und dazwischen immer wieder
schmerzhafte Rückschritte. Trotzdem lohnt es sich, diesen Weg zu gehen. Selbst wenn die Ziele aus heutiger
Sicht manchmal unerreichbar erscheinen, bedeutet schon
jeder kleine Schritt in die richtige Richtung einen Zugewinn an Sicherheit.
Der vorliegende Bericht dokumentiert die vielen kleinen Schritte und die großen Anstrengungen der Bundes3322
regierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle im
vergangenen Jahr 2009. Dafür möchte ich allen Regierungsorganisationen von ganzem Herzen danken. Genauso danken möchte ich aber auch allen Nichtregierungsorganisationen, die sich im vergangenen Jahr für
Frieden und Sicherheit in dieser Welt eingesetzt haben.
Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein Thema, das
uns auch hier im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend am Herzen liegt. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, mit einem gemeinsamen Antrag ein deutliches Signal aus diesem Parlament heraus für eine Welt
frei von Atomwaffen zu senden. Und das ist ein wichtiges Signal; denn gerade was die Frage der atomaren Abrüstung angeht, befinden wir uns momentan in einer
Phase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden.
Präsident Obama - das ist schon mehrfach hier erwähnt worden - hat in seiner wegweisenden Rede am
5. April letzten Jahres in Prag ein Bekenntnis zum Fernziel einer atomwaffenfreien Welt abgegeben. Mit der
Unterstützung der USA ist dieses Ziel ein ganzes Stück
näher gerückt. Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, dass es
auf dem Weg dorthin Fortschritte und keine Rückschritte
mehr gibt.
Ein klarer Rückschritt war das Scheitern der Überprüfungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Jahr 2005. Bei der nun anstehenden Überprüfungskonferenz im Mai brauchen wir endlich einen
Erfolg für den Atomwaffensperrvertrag.
Im Moment laufen auch die bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und Russland für ein START-INachfolgeabkommen. Ich würde mir wünschen, dass
von diesen beiden Ländern, die gemeinsam über 90 Prozent der weltweit verfügbaren Kernwaffen besitzen, mit
Blick auf die Konferenz im Mai baldmöglichst positive
Signale ausgehen.
({0})
Positive Signale aus den USA gab es auch, was den
Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen angeht. Die US-Regierung hat angekündigt, dessen
Ratifizierung im Senat voranzutreiben. Das würde den
Druck auf diejenigen Länder, die diesen Vertrag noch
nicht unterschrieben bzw. ratifiziert haben, weiter erhöhen.
Aber die besten Verträge nutzen nichts, wenn sie nicht
eingehalten und überprüft werden. Nehmen wir als Beispiel Syrien - das wurde heute noch nicht genannt -: Es
gibt klare Hinweise darauf, dass die von Israel im Jahr
2007 zerstörte Einrichtung ein noch im Bau befindlicher
Kernreaktor war. Syrien kooperiert immer noch nicht in
so genügendem Maße mit der IAEO, dass diese Vorwürfe ausgeräumt werden konnten. Wenn die Vorwürfe
stimmen, dann wäre das ein klarer Verstoß gegen den
Atomwaffensperrvertrag. Ich weiß nicht, was beunruhigender ist: die Existenz eines geheimen syrischen Nuklearprogramms an sich oder dass es über Jahre hinweg unentdeckt geblieben ist.
Den Risiken der Proliferation steht das legitime Interesse vieler Länder gegenüber, die Kernenergie zur
Energieversorgung zu nutzen. Ungeachtet der Diskussion in Deutschland ist die Kernenergie weltweit, aber
gerade im Nahen Osten und in den dort angrenzenden
Regionen, auf dem Vormarsch.
({1})
Waffenfähiges Material kann entweder durch die
Hochanreicherung von Uran oder in Wiederaufbereitungsanlagen für Plutonium hergestellt werden. Es muss
deswegen gelingen, den Betrieb solcher Anlagen von
dem Betrieb von Kernkraftwerken zu trennen. Auch
Deutschland hat dazu einen Vorschlag eingebracht. Wir
müssen jetzt international um die Akzeptanz der Multilateralisierung des Nuklearbrennstoffkreislaufs werben.
Die nukleare Abrüstung ist zwar die wichtigste, aber
bei weitem nicht die einzige Aufgabe, der wir uns bei
Abrüstung und Rüstungskontrolle stellen. Der Bericht
der Bundesregierung listet auch zahlreiche Anstrengungen im Bereich der konventionellen Abrüstung auf. Ich
möchte in diesem Bereich vor allem auf die Erfolge bei
der Ächtung von Streumunition hinweisen, die aufgrund von zahlreichen Blindgängern über Jahrzehnte
hinweg eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt.
Ende 2008 haben wir dazu die sogenannte Oslo-Konvention als einer der ersten mit unterzeichnet und im Juli
2009 als elfter Staat auch im Parlament ratifiziert. Im
Juni 2009 hat die Bundesregierung in Berlin eine Konferenz zur Zerstörung von Streumunition ausgerichtet.
Aufgrund der überwältigenden Teilnahme hat sie dem
Prozess politische Dynamik verliehen und ganz praktisch Wege zur technisch komplizierten Zerstörung dieser Munition aufgezeigt.
Das war wieder ein kleiner Schritt. Wir brauchen in
Zukunft eine Vielzahl solcher Schritte auf dem Weg zu
mehr Frieden und Sicherheit auf dieser unserer Welt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung muss doch zu Hause anfangen. Nehmen
wir die Waffenexporte. Ich finde es grauenhaft, dass
kein anderes Land in Europa so viel Waffen exportiert
wie Deutschland. Es ist kein totes Metall, das da verkauft wird, sondern diese Waffen töten, jeden Tag. In
praktisch jedem Krieg und in jedem Bürgerkrieg auf der
Welt werden deutsche Maschinengewehre eingesetzt,
manchmal auf beiden Seiten. Es ist verlogen, hier über
Abrüstung zu reden und gleichzeitig für viele Milliarden
Euro andere Länder aufzurüsten.
({0})
Wenn jemand sagt, an den Waffenexporten hingen
viele Arbeitsplätze, dann kann ich nur sagen: Wir wollen
Arbeit schaffen ohne Waffen.
({1})
Wir haben noch eine Vision. Wir haben die Vision einer
Welt, die frei ist von Waffen. Wir haben die Vision einer
Welt, die frei ist von Atomwaffen und Kriegen.
({2})
Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben: Wer Visionen
hat, soll zum Arzt gehen. - Ich weiß nicht, ob er das
wirklich ernst gemeint hat; falsch ist es auf jeden Fall.
Ich sage: Wenn jemand Visionen hat, dann soll er nicht
zum Arzt gehen, sondern auf die Straße,
({3})
jetzt zum Ostermarsch und jeden Tag, immer wieder, bis
wir endlich eine Welt ohne Atomwaffen und frei von
Kriegen haben.
({4})
Damit komme ich zu Ihrem Antrag zur atomaren Abrüstung. Erst einmal muss ich sagen: Ich finde ihn wirklich bemerkenswert.
({5})
Ich freue mich ganz aufrichtig, dass auch die CDU/CSU
jetzt die Forderung nach atomwaffenfreien Zonen unterstützt. Besonders freue ich mich, dass nun alle fünf Fraktionen im Bundestag dafür eintreten, dass endlich die
letzten US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden.
({6})
Aber da Sie selbst regieren, frage ich Sie: Wann?
Wenn Sie es wirklich wollen, kann das doch innerhalb
kürzester Zeit passieren. Nennen Sie ein konkretes Datum: Abzug aller amerikanischen Atombomben noch in
diesem Jahr. Punkt. Denn Abrüstung kann doch nur
funktionieren, wenn sie ganz konkret und ganz verbindlich ist.
Einiges in dem Antrag finde ich gut, sogar sehr gut;
anderes finde ich aber eher bedenklich. Sie wollen immer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen
verzichten. Wie kann das zusammengehen, wenn Sie einerseits eine atomwaffenfreie Welt fordern und andererseits immer noch daran festhalten, anderen Ländern mit
dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu drohen? Das passt
nicht zusammen.
In einem Punkt hat sich ein richtig kapitaler Fehler in
den Antrag eingeschlichen. Da kann ich nur sagen: Hätten Sie mal mit uns geredet! Wir haben vor fünf Monaten den ersten Antrag zur atomaren Abrüstung eingebracht. Dann haben Sie von den anderen vier Fraktionen
sich zusammengesetzt, ohne mit uns zu reden. Ich finde
das ziemlich kleinkariert, aber das ist Ihr gutes Recht.
Wenn ich jetzt diesen peinlichen Fehler in dem Antrag
sehe, muss ich sagen: Ein bisschen mehr Expertise hätte
Ihnen gutgetan.
({7})
Wenn ich den Antrag genau lese, komme ich zu dem
Schluss, dass Sie darin den engsten Verbündeten der
Bundesrepublik - England, Frankreich und den USA mit Sanktionen drohen. Dazu muss man eines wissen
- Herr Westerwelle hat es vorhin erklärt -: Der Atomwaffensperrvertrag kennt zwei Ländergruppen. Die einen haben Atomwaffen; die anderen haben keine Atomwaffen. Die einen haben sich verpflichtet, abzurüsten;
die anderen haben sich verpflichtet, überhaupt keine
Atomwaffen zu erwerben.
Es gibt fünf Länder, von denen wir ganz sicher wissen, dass sie ihre Verpflichtungen nach dem Atomwaffensperrvertrag nicht erfüllt haben. Das sind die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten China, Russland, England,
Frankreich und die USA. Seit Jahren tun sie nichts, aber
auch gar nichts für die atomare Abrüstung. Alle Experten in der Welt sind sich einig, dass das eine gravierende
Verletzung des Atomwaffensperrvertrages ist.
Jetzt fordern Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 10
Sanktionen gegen alle Länder, die den Atomwaffensperrvertrag verletzt haben.
({8})
Ich weiß nicht, wie das in London, Paris und Washington
aufgenommen wird.
({9})
Sie werden natürlich sagen: Die sind gar nicht gemeint. Wir meinen nur die Länder, die noch gar keine
Atomwaffen haben, die erst welche erwerben wollen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Diesen Unterschied kennt
das Völkerrecht nicht. Vor dem Völkerrecht sind alle
Verpflichtungen gleich. Danach haben die Atomwaffenstaaten nun einmal die Verpflichtung, abzurüsten, und
die haben sie gebrochen.
Das ist auch der Grund dafür, dass wir diesem Antrag
- ich muss sagen: leider - nicht zustimmen können.
({10})
Ich hätte es gern gesehen, dass wir als gesamter Bundestag diesem Antrag zustimmen. Aber mit diesem Punkt
zu den Sanktionen geht das nicht.
Sie meinen mit den Sanktionen natürlich den Iran.
Ich sage Ihnen: Da gehen Sie einen ganz gefährlichen
Weg. Wer jetzt immer mehr Sanktionen gegen den Iran
fordert, der kommt in eine Eskalation, die er nicht mehr
stoppen kann. Das Ganze erinnert mich fatal an das Jahr
2002. Damals wurden die Drohungen gegen den Irak
immer mehr verschärft, und am Ende hatten wir einen
Krieg, den keiner hier mehr stoppen konnte. Ich sage Ih3324
nen als jemand, der jahrelang auf dem Gebiet der Abrüstung gearbeitet hat, auch bei den Vereinten Nationen:
Hören Sie auf, mit Sanktionen zu drohen, und kehren Sie
an den Verhandlungstisch zurück!
({11})
Eine atomwaffenfreie Welt werden Sie nie, aber auch nie
mit Sanktionen und Drohungen durchsetzen, sondern
nur mit Verhandlungen.
Ich bedanke mich.
({12})
Das Wort erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Herr van Aken, es trifft sich gut, dass wir
direkt nacheinander reden. Ich möchte Ihnen erst einmal
entschieden widersprechen, was Ihre Einschätzung zum
Verhalten gegenüber dem Iran angeht. Ich bin wirklich
der festen Überzeugung, dass jetzt eine klare Sprache
und klare Handlungen gegenüber dem Iran notwendig
sind.
({0})
Es ist sehr viel Zeit verstrichen, die der Iran genutzt
hat, um sein Nuklearprogramm voranzutreiben und
gleichzeitig auch noch weitere Trägersysteme zu entwickeln. Vor dem Hintergrund sind die Weltgemeinschaft
und natürlich auch der Deutsche Bundestag gefordert,
klarzumachen, dass es uns nicht möglich ist, zu akzeptieren - so hat es der Minister schon gesagt -, dass der Iran
Nuklearwaffen besitzt.
({1})
Deshalb stemmen wir uns auch dagegen.
Wenn Sie denken, dass es einen einfacheren Weg gibt,
der nur Dialog beinhaltet, machen Sie es sich zu einfach.
Wir müssen die Option auf Sanktionen selbstverständlich realistisch vorantreiben, weil wir uns sonst von
vornherein um alle Handlungsoptionen bringen. Dagegen würde ich mich entschieden wehren. Reden allein
wird den Iran nicht überzeugen. Das haben wir schon in
den vergangenen Jahren gesehen. Israel macht sich zu
Recht sehr große Sorgen um seine Sicherheit. Das können wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte auf keinen Fall akzeptieren.
({2})
Ich bin froh darüber, dass wir in diesem Haus in einem breiten Konsens über das Thema Abrüstung diskutiert haben. Herr van Aken, geben Sie sich einen Ruck
und stimmen Sie diesem wirklich vernünftigen Antrag
zu, der auf einem breiten Konsens fußt.
({3})
- Ich rede ja gerade mit Ihnen. ({4})
Wir haben einen breiten Konsens hergestellt.
Sie haben einen Punkt herausgegriffen bzw. konstruiert, damit Sie wenigstens einen Grund, dagegenzustimmen, für Ihre Ablehnung vorweisen können. Ich fordere
Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Zeichen für Abrüstung zu! Gerade heute, vor den
anstehenden Konferenzen, ist es wichtig, dass wir deutlich machen, dass auch der Deutsche Bundestag ein klares Zeichen für Abrüstung in der Welt setzt. Stimmen Sie
deshalb bitte zu.
({5})
Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass es
trotz allen Bemühens - an dieser Stelle komme ich auf
Iran und Nordkorea zu sprechen - unterschiedliche Entwicklungen gibt:
In der westlichen Welt wird intensiv darüber diskutiert, wie es mit den Nuklearwaffen weitergehen soll; das
ist auch richtig so. In Amerika gibt es die Global-ZeroInitiative, die auch von deutscher Seite begleitet wird,
beispielsweise durch die Initiativen des Bundesaußenministers. Auch der frühere Bundesaußenminister
Genscher hat dies immer wieder angesprochen. Das alles
ist sehr wichtig und zeigt eine Vision von einer nuklearwaffenfreien Welt, die sicherlich sehr wünschenswert
ist.
Daneben stellen wir fest, dass Länder wie Iran und
Nordkorea davon nichts wissen wollen, sondern weiterhin im Verborgenen daran arbeiten, ein Nuklearprogramm voranzutreiben. Dass dies eines Tages auch eine
realistische Bedrohung für uns werden könnte, zeigen
Erkenntnisse darüber, dass die Trägertechnologien, die
im Iran erarbeitet werden, in fünf bis zehn Jahren eine
Reichweite von etwa 3 000 Kilometern haben könnten.
Wenn man sich überlegt, dass München nur rund
2 700 Kilometer vom Iran entfernt ist, dann wird klar:
Dieses Programm stellt unter strategischen Gesichtspunkten selbstverständlich auch für uns eine Bedrohung
dar. Der Iran entwickelt dieses Programm nicht, um
Deutschland heute einen Nuklearschlag anzudrohen,
sondern um strategisch in die Vorhand zu kommen und
damit die westliche Welt als Schutzmacht Israels auszuhebeln.
Vor diesem Hintergrund muss man trotz allen Wohlwollens in unserer heutigen Debatte berücksichtigen,
dass sich andere Staaten ganz anders verhalten. Deshalb
gehört zu dieser Diskussion trotz aller Visionen eine gehörige Portion Realismus. Daraus muss man in den
nächsten Wochen konkrete Schlussfolgerungen ziehen.
Ich werbe erneut dafür, dass der UN-Sicherheitsrat - am
besten gemeinsam mit China und Russland; denn nur
dann wird man effektiv und effizient sein - den Iran stärker unter Druck setzt. Ich glaube, dass es vor allem dann
gelingen kann, unsere Partner in China und in Russland
für dieses Projekt zu gewinnen, wenn wir an anderer
Stelle Ernst machen und sie in größerem Maße - Herr
Kollege Mützenich hat es gerade gesagt - in die Debatte
um die Nuklearwaffen einbeziehen.
Erfolgreich werden wir nur mit der NATO, also zusammen mit unseren Bündnispartnern, sein. Außerdem
müssen wir gemeinsam mit Russland einen vernünftigen
Weg finden, über die Nuklearwaffen zu diskutieren. Ich
bin der festen Überzeugung, dass das der richtige Weg
ist. Welches das richtige Diskussionsforum ist, das lasse
ich offen.
Damit verknüpft ist die Frage, wie man in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren verantwortungsbewusst Außenpolitik gestalten kann. Ich halte die im
Raume stehende Vision für richtig. Ich halte auch den
angestoßenen Prozess für richtig. Er muss gemeinsam
mit der NATO, mit unseren Verbündeten und darüber hinaus mit Russland fortgeführt werden, um Erfolge erzielen und eine emotionale Bindung an dieses Projekt erreichen zu können.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege van
Aken das Wort.
Herr Mißfelder, Sie haben gerade gesagt, wir hätten
nach einem Haar in der Suppe gesucht. Das lasse ich
nicht auf mir sitzen. Seit Jahren arbeite ich im Bereich
der Abrüstung - an der Universität, in NGOs, bei den
Vereinten Nationen. Sie können versichert sein, dass uns
die Abrüstung über alles geht. Ich habe lange nach einem Weg gesucht, wie wir diesem Antrag zustimmen
können. Eines ist klar: In Washington und überall auf der
Welt wird dieser Antrag völlig anders wahrgenommen,
wenn der gesamte Bundestag zugestimmt hat. Diese
Stärke hätte ich diesem Antrag gerne verliehen.
Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir sollten
uns einen Ruck geben, dann kann ich nur sagen: Sie von
der CDU/CSU-Fraktion waren diejenigen, die darauf bestanden haben, dass die Linke bei der Ausarbeitung des
Antrags nicht dabei ist.
({0})
Jetzt fällt Ihnen das auf die Füße. Sie haben diesen Antrag geschwächt.
({1})
Lassen Sie uns beim nächsten Mal zu fünft zusammensetzen. Gemeinsam bringen wir etwas zustande. Das
wird ein Signal an die Welt sein, das die Abrüstung
wirklich voranbringt. Das, was Sie jetzt machen, ist parteipolitisches Schmierentheater. Dafür bin ich nicht zu
haben. Mir geht es um die Abrüstung.
({2})
Zu einer kurzen Replik erhält der Kollege Mißfelder
jetzt Gelegenheit.
Ich möchte mich kurzfassen, Herr Präsident. - Herr
van Aken, wir haben hier die Gelegenheit, das öffentlich, transparent, sogar im Fernsehen und in Anwesenheit vieler Zuschauer auf den Rängen zu diskutieren.
Das heißt, wir gehen hier vernünftig miteinander um.
Wozu Sie uns jedoch nicht zwingen können, ist, mit der
SED-Nachfolgepartei gemeinsame Initiativen einzubringen.
({0})
Das wollen wir einfach nicht. Das ist der Grund, warum
wir mit Ihnen bei diesen wichtigen Themen nicht zusammenarbeiten wollen. Ich kann hier offen bekennen: Mit
Ihnen nicht!
({1})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Vielleicht wäre es im Zusammenhang mit
der Debatte über Abrüstung sinnvoll, wenn der eine oder
andere in diesem Haus auch sprachlich ein wenig abrüsten würde; denn all diese Themen eignen sich gar nicht
zu überwiegend emotionaler und polemischer Auseinandersetzung. Dafür sind sie zu ernst, und dafür sind sie in
vieler Hinsicht auch viel zu kompliziert.
Ich möchte mich jetzt mit dem Antrag der Grünen
auseinandersetzen. Mir ist der Widerspruch in der Rede
der Kollegin vom Bündnis 90/Die Grünen aufgefallen,
die, was Rüstungsexporte angeht, in alte Muster zurückgefallen ist, während sie in der Abrüstungsdebatte sehr
sachlich und zukunftsorientiert argumentiert hat. Die
Tatsache, dass wir als Bundestag die offiziellen Zahlen
bekommen, lange nachdem SIPRI sie schon veröffentlicht hat, GKKE uns die Stellungnahme zugeschickt hat
und Zahlen aus allen möglichen Himmelsrichtungen geliefert worden sind, ist unbefriedigend - das wissen auch
Sie selbst, Herr Außenminister -; aber das hat mit dem
Verfahren zu tun, mit dem gearbeitet wird. Ich bin sicher,
dass die Zahlen über Exporte Deutschlands, die SIPRI in
diesem Jahr veröffentlicht hat, vermutlich wieder nicht
stimmen und dass sich die Schlagzeilen, auf die so heftig
reagiert worden ist, relativieren werden. Es wird sich
weder die Verdoppelung der Zahlen herausstellen - davon gehe ich aus -, noch werden wir auf der Rangstufe
sein, die man uns jetzt bescheinigt.
Was geschieht tatsächlich? Tatsächlich gibt es eine
große Kontinuität in der deutschen Rüstungsexportpolitik, die sich an den sehr restriktiven Regelungen des
Jahres 2002 orientiert. Vieles von dem, was in den
nächsten Berichten stehen wird, ist im Übrigen auf Ver3326
träge zurückzuführen, die geschlossen worden sind, als
diese Regierung noch längst nicht im Amt war.
({0})
Es sind sogar Verträge dabei, die schon die vorhergehende Regierung geerbt hat.
Es empfiehlt sich, das Ganze sehr nüchtern zu betrachten. Der EU-Standpunkt, der zu einer gemeinsamen
Rüstungsexportpolitik in Europa führt, hat einen weiteren Fortschritt gebracht. Er hat die europäischen Exporte
zwar noch nicht deutlich reduziert, aber wir haben eine
Vergleichbarkeit, eine größere Transparenz. Der EUStandpunkt trägt außerdem dazu bei, dass sich die Rüstungswirtschaft in Europa stärker auf gemeinsame Ziele
fokussiert. Das sieht man an der deutschen Rüstungsexportpolitik: Rüstungsgüter gehen in der Regel an Mitgliedstaaten der EU und der NATO. Selbst SIPRI und
andere kritische Beobachter bestätigen, dass Deutschland beim Export in Staaten, die nicht Mitglieder der EU
oder der NATO sind, äußerst restriktiv ist. Auch das sollten wir einmal sagen. Wir müssen doch nicht so tun, als
wären wir da überhaupt nicht vorangekommen. Über die
Jahre hat sich die Transparenz immer weiter erhöht.
Die Verabschiedung des Antrags, der jetzt eingebracht wurde, würde dazu führen, dass der Jahresabrüstungsbericht - das erkennt, wer genau hinschaut und
weiß, wie ein solcher Bericht zustande kommt - in Zukunft später vorgelegt wird. Denn es gibt einen bestimmten Vorlauf für die Vorlage des Rüstungsexportberichts,
den man nicht einfach auflösen kann. Da gibt es einmal
die Genehmigungen; sie kann man ziemlich früh erfassen, weil das BAFA sie laufend ermittelt. Dann gibt es
die tatsächlichen Exporte. Die kann man erst im Nachhinein erfassen. Dazu benötigt man die abgeschlossenen
Dateien des Statistischen Bundesamtes. Sie auszuwerten, dauert ein bisschen länger; sie können eigentlich
nicht vor Mitte des Jahres vorliegen. Ein weiterer Aspekt
im Zusammenhang mit dem Rüstungsexportbericht ist
die Pflicht zur Meldung an das UN-Waffenregister. Auch
damit ist ein zeitliches Auseinanderfallen verbunden.
Natürlich geht es nicht, dass wir zwei, drei Jahre hinterherhinken. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass
der Bericht 2008, dessen Vorlage sich durch den Regierungswechsel verzögert hat - so etwas ist schon früher
vorgekommen -, jetzt an das Kabinett geht und uns anschließend zügig vorgelegt wird. Nach der Sommerpause, im dritten, spätestens im vierten Quartal, werden
wir auch den Bericht von 2009 vorgelegt bekommen. Ich
glaube, das ist richtig. Spätestens im Herbst des Folgejahres - das ist, wenn man alle Abläufe betrachtet, machbar - muss der Rüstungsexportbericht vorliegen.
Noch etwas kommt hinzu: Wir alle sollten bei den
Parlamentsdebatten darauf achten, dass nicht alles und
jedes auf die Tagesordnung kommt und wichtige Punkte
nicht im Stapel der Dinge, die nicht abgearbeitet werden
können, weil die Zeit nicht ausreicht, untergehen.
({1})
Ich wünsche mir auch, dass alle, die hier auftreten
und sich öffentlich zur Rüstungsexportpraxis melden,
dann, wenn der Bericht in den zuständigen Ausschüssen
behandelt wird, über ihn debattieren, konkret über seine
Einzelheiten sprechen und wirklich einen Dialog mit der
Regierung führen. In den vergangenen Jahren haben wir
immer wieder Folgendes erlebt: Im Ausschuss wurde der
Bericht durchgewinkt, und im Plenum fanden große Debatten statt. Das ist vor dem Hintergrund der Artikulationsfunktion des Parlaments zwar zu rechtfertigen; aber
mit sachlicher Arbeit, damit, wie wir mit dieser Frage
umgehen und wie wir zu einer weiteren restriktiven Praxis kommen, die mit unserer und der europäischen Außenpolitik übereinstimmt, hat dies nichts zu tun. Das ist
zu wenig.
({2})
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen für die
CDU/CSU-Fraktion zu: Wir werden einen solchen Antrag gemeinsam mit Ihnen einbringen, wenn die Bundesregierung nicht einhält, was sie für dieses Jahr versprochen hat. Aber ich bin sicher, dass sie ihre Versprechen
einhält.
Dieses Thema eignet sich nicht für Aufregungen. In
der Koalitionsvereinbarung steht, dass Abrüstung und
Rüstungskontrolle wichtig sind und dass dies ein zentraler Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur ist.
Wir können aufgrund der jetzt in Bewegung geratenen
internationalen Abrüstungsdiskussionen davon ausgehen,
Herr Kollege!
- dass es demnächst wieder Abrüstungsberichte gibt,
die keine Regierungsprosa enthalten nach dem Motto:
„Wir haben etwas aus den laufenden Prozessen, die wir
beobachten, zu berichten“, sondern substanzielle Fortschritte vorweisen, über die zu debattieren wir mit großer Freude hier zusammenkommen werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 17/445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf der Drucksache 17/1159 mit dem Titel
„Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei
von Atomwaffen setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist
Präsident Dr. Norbert Lammert
dieser Antrag mit den Stimmen der einbringenden Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit
breiter Mehrheit angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23 d. Hier
wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf der
Drucksache 17/1167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Dabei ist allerdings
die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim
Auswärtigen Ausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Auswärtigen Ausschuss die Federführung zu übertragen, abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Gegenstimmen sind erkennbar die Mehrheit. Damit ist dieser
Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den anderen Überweisungsvorschlag, die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie anzusiedeln, abstimmen. Wer stimmt
diesem Überweisungsvorschlag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieses Mal waren die Stimmen für den Überweisungsvorschlag in der Mehrheit,
und damit ist die Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland,
Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Vorratsdatenspeicherungen über den
Umweg Europa
- Drucksache 17/1168 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Wir können so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg ein
Zitat:
Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht
total erfasst und registriert werden darf, gehört zur
verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen
Zusammenhängen einsetzen muss.
So das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jahres. Das sind wahre Worte.
({0})
Das Gericht hat mit seinem Urteil die sogenannte Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt und damit der
Verfassungsbeschwerde einer breiten Bürgerrechtsbewegung, die über 34 000 Menschen umfasst - viele darunter aus meiner Fraktion -, stattgegeben.
Als Konsequenz aus diesem Urteil fordern meine
Fraktion und ich zwei Dinge.
Erstens. Die Bundesregierung muss sich auf der europäischen Ebene für eine vollständige Aufhebung der betreffenden Richtlinie einsetzen.
Zweitens. Darüber hinaus muss sie allen weiteren
Vorhaben, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen,
entschieden entgegentreten.
({1})
Schon in der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember letzten Jahres, zu der sich in Karlsruhe - das
kann ich Ihnen an dieser Stelle erneut nicht ersparen kein einziger Befürworter des Gesetzes eingefunden
hatte, wurde deutlich: Die anlasslose, massenhafte Speicherung individueller Kommunikationsdaten ist ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen und
Bürger. Die Speicherung - so das Gericht - sei geeignet,
„ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“ und könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“. Wenn sich selbst Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Union, gegen eine flächendeckende Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes aussprechen
und wie Frau Aigner lauthals gegen Google Street View
zu Felde ziehen, dann können Sie doch nicht allen Ernstes für eine flächendeckende und anlasslose Datenerfassung im Internet sein. Das ist ein echter Wertungswiderspruch.
({2})
Die jüngsten Erhebungen der Stiftung Warentest machen erneut deutlich: Wir haben nicht zu viel Datenschutz, sondern wir haben viel zu wenig Datenschutz.
Eine Regierung, die sich über die Datenskandale bei
Lidl, Google und der Deutschen Bahn echauffiert, aber
selbst Vorratsdatenspeicherung propagiert, ist unglaubwürdig und handelt datenschutzrechtlich schizophren.
({3})
Das gilt leider auch für den Innenminister. Seine Bemühungen, nach den Ministern Schily und Schäuble eher
bürgerrechtlich wahrgenommen zu werden, sind unglaubwürdig. Den Datenbrief im Munde führen, aber ein
Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in der Tasche tragen, das passt einfach nicht zusammen.
({4})
Noch einmal: Das Internet war nie ein rechtsfreier
Raum, und es ist auch durch das jüngste Urteil nicht
dazu geworden. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik,
PKS, aus dem Jahr 2007 - also vor der Vorratsdatenspeicherung erstellt - weist für alle in Deutschland erfassten
Straftaten eine Aufklärungsquote von 55 Prozent aus.
Bei Straftaten mit dem Tatmittel Internet kommt es - wie
gesagt: ohne Vorratsdatenspeicherung - zu der spektakulär guten Aufklärungsrate von 83 Prozent. So viel zu der
Mär vom rechtsfreien Raum Internet.
Nur als Randbemerkung: Die PKS weist für 2008,
also für das erste Jahr mit Vorratsdatenspeicherung, bei
Internetstraftaten eine Aufklärungsrate von 79,8 Prozent
aus. Das ist immer noch gut, aber schlechter als in dem
Jahr vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung.
({5})
Diese Zahlen können nicht verwundern, Herr Binninger;
denn aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt
sich,
({6})
dass die Vorratsdatenspeicherung bestenfalls bei 0,01 Prozent aller Straftaten von Nutzen sein kann. Auf gut
Deutsch heißt das, dass die Vorratsdatenspeicherung für
mindestens 99,9 Prozent aller Straftaten absolut nutzlos
ist.
({7})
Dafür wollen Sie, meine Damen und Herren von der
Union, die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland - so sagt das Bundesverfassungsgericht - aufbohren. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst
sein.
({8})
Das Internet ist ein grundrechtlich geschützter Freiheitsraum. Wir alle hier sind deswegen primär in der
Pflicht, diese grundrechtlichen Freiheiten zu schützen,
unter anderem Art. 10 des Grundgesetzes. Wir fordern
Sie deswegen auf: Schluss mit der Eskalationsrhetorik!
({9})
Ziehen Sie die bürgerrechtlichen Konsequenzen aus dem
Urteil und lassen Sie die verfassungsrechtliche Identität
unseres Landes unberührt! Beerdigen Sie Ihre Pläne zur
Vorratsdatenspeicherung auf nationaler und auf europäischer Ebene!
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Michael GrosseBrömer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen
Antrag der Fraktion der Grünen zur Vorratsdatenspeicherung. Dort steht, man möge ihr entschlossen entgegentreten.
({0})
Herr von Notz, ich glaube, Sie sind sogar Jurist.
({1})
- Ich komme jetzt dazu. Ich erkläre das. Mich hat das
verwundert, weil Sie immer nur Zitate gebracht haben
und dann eklatant falsche Schlüsse daraus gezogen haben.
({2})
Was die von Ihnen angesprochene Nichtigkeit betrifft
- Sie tun immer so, als sei das alles eine eindeutige Geschichte gewesen -:
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat mit vier zu vier entschieden. Nun zu sagen, die Richter hätten übereinstimmend die Bedenken der Grünen geteilt, ist völlig abwegig. Da gab es eine Entscheidung, die überhaupt nicht
eindeutig war, sondern offensichtlich sehr geteilt. Damit
beginnt es. Ich kann nur raten: Hören Sie einmal auf den
von mir sehr geschätzten Kollegen Wieland. Er hat bei
der letzten Debatte zu dem Thema gesagt: Bevor man
über das Urteil spricht, sollte man es sehr genau lesen.
({4})
Ich kann Ihnen sagen: Hören Sie auf die Ratschläge Ihrer
älteren Kollegen.
({5})
Natürlich haben wir von der CDU/CSU gehofft, dass
Sie auch einmal bei Themen wie Antidiskriminierung
Sensibilität, was Umwege über Europa betrifft, an den
Tag legen. Wir haben hier eines festzustellen: In Europa
gibt es eine Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung;
das Europäische Parlament hat nämlich so entschieden.
({6})
Auch da gibt es offensichtlich keine Mehrheit für die
von Ihnen vertretene Auffassung.
({7})
Ich will noch eines sagen: Falsch ist auch die von Ihnen gezogene Schlussfolgerung, das Gericht habe die
Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Die Vorratsdatenspeicherung ist - so steht es ausdrücklich in dem
Urteil - sogar per se geeignet und auch notwendig zur
Bekämpfung schwerster Verbrechen. Das steht in dem
Urteil.
({8})
Angesetzt wird da, wo es um die Umsetzung, wo es um
die Datensicherung und um die Datenverarbeitung geht.
Das nehmen wir mit Respekt zur Kenntnis. Aber hören
Sie auf, falsche Wahrheiten zu verbreiten.
({9})
Die Vorratsdatenspeicherung wurde vom Gericht nicht
für verfassungswidrig erklärt.
({10})
Es ist festzustellen, dass auch der Schutz der Bürger
ein Wert ist. Ich glaube, wir alle sind der Auffassung - es
ist sogar verfassungsrechtlich abzuleiten -, dass es wichtig ist, den Schutz der Bürger vor schweren Straftaten sicherzustellen.
({11})
Wenn das Bundesverfassungsgericht in dem von Ihnen
mehrfach zitierten Urteil feststellt, dass die Vorratsdatenspeicherung ein wichtiges Instrument ist, um schwerste
Straftaten, um Terrorismus und organisierte Kriminalität
zu bekämpfen, dann ist das für uns als CDU/CSU ein
ganz wichtiger Aspekt. Wir sagen: Daran muss man festhalten. Die Bürger in diesem Land haben einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung.
({12})
Es geht noch weiter. Es gibt Spezialisten, teilweise in
Ihrer Fraktion, in größerem Maße in meiner Fraktion.
({13})
- Ja.
({14})
- Ja, es gibt ja nichts Schöneres, als Ihnen eine Freude
zu machen, und das an diesem Vormittag.
({15})
- Ich werde manches nachholen.
Die Personen, die sich beruflich mit effizienter Strafverfolgung beschäftigen, zum Beispiel der Präsident des
Bundeskriminalamtes, die Mitglieder des Bundes Deutscher Kriminalbeamter - wir müssen ihnen dankbar sein,
dass sie das tun -, sagen: Bitte begeht nicht den Fehler
und verzichtet auf die Vorratsdatenspeicherung; denn wir
brauchen sie. Herr Ziercke, der Präsident des BKA, hat
vor dem Bundesverfassungsgericht ein deutliches Beispiel genannt: Ein Teil der 145 Mitglieder eines Internetboards, wo kinderpornografisches Bild- und Filmmaterial
ausgetauscht wurde - das ist schwerste Kriminalität -,
konnten identifiziert werden. Über die erhobenen Verkehrsdaten, etwa die E-Mail-Adressen, konnten 20 Mitglieder - Kinderschänder und damit Schwerverbrecher identifiziert werden.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung, um effizient gegen solche Leute vorzugehen.
({16})
Herr Kollege Grosse-Brömer, darf der Kollege
Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?
Ja, gerne.
Bitte schön.
Danke, Herr Präsident. - Lieber Kollege GrosseBrömer, Sie haben Fachleute auf dem Gebiet der Bekämpfung von Straftaten zitiert, Kriminalbeamte und
insbesondere den BKA-Präsidenten Ziercke. Würden
Sie mir recht geben, dass die Autorität des BKA und
auch die von Herrn Ziercke - bisher habe ich sie, so wie
Sie, als hoch angesehen - schwer angekratzt ist, nachdem es gerade das BKA und Herr Ziercke waren, die uns
allen hier im letzten Jahr im Brustton der Überzeugung
gesagt haben, wir müssten unbedingt und sofort - das sei
äußerst effektiv - Internetsperren zur Bekämpfung von
Kinderpornografie einführen. Er hat Sie und die Union
sozusagen davon überzeugt. Inzwischen ist allgemein
klar - alle Fachleute sagen das; die Industrie sagt das -,
dass das von Anfang an ein völlig sinnloses und zweckloses Mittel war, weil jede Sperre innerhalb von einigen
Sekunden von jedem einfachen User umgangen werden
kann. Stimmen Sie mir zu, dass es bei den jetzigen Aussagen des Herrn Ziercke, man brauche die Vorratsdatenspeicherung dringend, angebracht ist, Vorsicht walten zu
lassen?
({0})
Lieber Herr Kollege Montag, ich bin Ihnen für diese
Frage sehr dankbar. Zu dieser Feststellung gibt es von
mir nicht einmal einen Hauch von Zustimmung. Ich
kann Ihnen das erklären. Wir, die CDU/CSU-Fraktion,
haben eine Veranstaltung zur Effizienz bei der Bekämpfung von Kinderpornografie durchgeführt. Ich gebe Ihnen recht, dass das Löschen im Zweifel effizienter ist als
das Sperren - wenn man es denn kann und dazu die Gelegenheit hat. Ein Problem ist nämlich, dass die Seiten
mit diesen perversen Inhalten wöchentlich wechseln.
Die Auffassung meiner Fraktion ist, dass das Sperren,
wenn man das Löschen nicht schafft, immer noch nicht
die perfekte Möglichkeit ist, jeglichen Zugriff auf bestimmte Seiten zu verhindern. Aber es ist immerhin
möglich - das zeigen ganz konkrete Erfahrungen aus
Norwegen -, die Anzahl der Zugriffe auf die entsprechenden Seiten um bis zu 40 Prozent zu reduzieren. Der
Präsident des Bundeskriminalamtes hat recht, wenn er
sagt: Wir können nicht darauf verzichten, zumindest die
hinter dieser Zahl stehenden Personen davon abzuhalten,
diese perversen Seiten anzusehen.
({0})
Insofern hat er für mich immer noch ein hohes Ansehen.
Ich hoffe, auch Sie kommen irgendwann zu dieser Erkenntnis.
Wenn ich daran gleich anknüpfen darf: Es ist aus meiner Sicht und für meine Fraktion sehr wichtig, dass die
Menschen, die sich fachlich permanent und intensiv mit
der Bekämpfung schwerster Kriminalität beschäftigen,
nicht aus durchschaubaren politischen Gründen diskreditiert werden,
({1})
nur weil die Erkenntnisse der großen Polizeidienststellen
und der Verbände, in denen sich jeden Tag viele Beamte
mit der Bekämpfung von Kriminalität befassen, nicht in
das eigene politische Konzept passen. Sie sollten so früh
wie möglich damit aufhören, diese Personen zu diskreditieren. Das ist der falsche Weg, in Deutschland für eine
effiziente Strafverfolgung zu sorgen.
({2})
Ich halte es in der Tat für arrogant und leichtfertig, zu
versuchen, diese Leute sozusagen hintenherum und mit
wenig argumentativer Überzeugungskraft in eine bestimmte Ecke zu stellen.
({3})
Warum fordern diese Personen wohl eine zügige neue
gesetzliche Grundlage? Glauben Sie, die hätten davon in
irgendeiner Form persönliche Vorteile? Nein, die machen sich Sorgen um die Situation in Deutschland. Sie
machen sich Sorgen, dass Schutzlücken bestehen, wenn
die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr zur Verfügung
steht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Die Bürger in
Deutschland haben einen Anspruch auf effiziente Strafverfolgung und auf Schutz durch den Staat.
({4})
Ich finde, wenn die Beamten, die mit diesem Thema
zu tun haben, die Vorratsdatenspeicherung als wirksames
Instrument in Anspruch nehmen, dann ist es unser Job,
ihnen dieses Instrument auch zur Verfügung zu stellen.
({5})
- Herr Kollege von Notz, was ich bei Ihrer Argumentation ganz spannend finde - auch ich habe das Urteil gelesen -, ist der Bezug auf dieses diffuse Gefühl des Beobachtetseins.
({6})
Ich kann das gut nachvollziehen. Dabei geht es nämlich
nicht um die Einzelmaßnahmen. Schließlich ist es nicht
so, dass wir grundsätzlich der Auffassung sind: Alles
läuft bestens, und wir können ohne Ende Daten erheben.
Ich kann, wie gesagt, nachvollziehen, dass man dieses
Gefühl hat. Ich glaube, meine Tochter, die mittlerweile
zwölf Jahre alt ist, hat vom Internet schon mehr Ahnung
als ich. Deswegen macht sie sich vielleicht auch weniger
Sorgen. Auch Sie sind schon eine andere Generation. Ich
nehme Ihre Argumente ernst. Was mich aber immer wieder wundert, ist, dass dieses diffuse Gefühl des Beobachtetseins, wenn es um Google oder Facebook geht, überhaupt keine Rolle spielt.
({7})
Vor kurzem hat Herr Schirrmacher im Frühstücksfernsehen eine spannende Frage gestellt: Wer kontrolliert eigentlich Google?
({8})
Diese Frage werden wir hier und heute nicht beantworten können. Aber es wäre schön, wenn Sie aufhören würden, dem Staat in dieser Debatte grundsätzlich ein Ausforschungs- und Aushorchungsinteresse zu unterstellen,
aber dann, wenn es um Google und Facebook geht, die
Freiheit des Internet zu betonen, die sie gerade denen gewähren wollen, die über mehr Daten verfügen, als der
Staat jemals bekommen kann.
({9})
Ich finde, das ist ein Fehler in Ihrer Argumentation.
({10})
- Herr Kollege Montag, wenn Sie von Popanz reden,
scheint meine Rede gut gewesen zu sein; denn dann sind
Sie ein bisschen unruhig. Das freut mich.
Wenn wir über die Datenspeicherung diskutieren,
müssen wir ein erhöhtes Problembewusstsein an den
Tag legen; hier sind wir mit Ihnen einer Auffassung.
Auch meine Fraktion wird sensibel vorgehen und darauf
achten, was für den Staat möglich sein muss und was
nicht. Das ist doch gar keine Frage. Dafür sitzen wir hier.
Was den konkreten Fall, die Vorratsdatenspeicherung,
angeht, können wir aber nicht behaupten, sie sei ein Instrument, das für den Bürger auf keinen Fall erträglich
ist. Ich glaube sogar, es ist umgekehrt: Die Bürger erwarten, dass man, wenn man wirksame Instrumente zur Verfügung hat, diese auch nutzt, um sie vor Gewalttaten zu
schützen; dafür gibt es viele Beispiele. Ich jedenfalls
glaube den Leuten, die mit diesem Thema täglich zu tun
haben.
Die Regierungskoalition analysiert derzeit das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts. Auf europäischer Ebene
tut man das auch. Die CDU/CSU hat vor dieser Debatte
Rücksprache mit einigen Kollegen aus dem Europäischen Parlament gehalten. Wir können feststellen: Das
Schutzniveau, das auf europäischer Ebene geschaffen
wird, wird - ungeachtet der Bemühungen der Justizkommissarin - nicht höher sein als das Schutzniveau, das uns
vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurde. Es
wird in Europa keine strengeren Maßstäbe geben, als sie
in Deutschland nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes gelten.
({11})
- Weil gar nichts anderes in der Debatte ist.
Unsere Koalition arbeitet nach dem Motto: So sorgfältig wie nötig, aber so zügig wie möglich müssen
Schutzlücken geschlossen werden.
({12})
Das wird beim Arbeitstempo zu berücksichtigen sein.
Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Frist für
die Umsetzung dieser Richtlinie bereits abgelaufen ist.
Was Europa uns vorgibt, ist also zu berücksichtigen, und
zwar in dem Rahmen, den das Bundesverfassungsgericht
vorgegeben hat. Ein schönes Datenschutzkorsett ist gerichtlicherseits vorgegeben. Wir werden es nun gesetzgeberisch auffüllen und damit wahrscheinlich sehr erfolgreich sein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie so oft reizt die Rede des Kollegen Grosse-Brömer
dazu, einiges klarzustellen. Da Sie selbst einräumen,
vom Internet wenig zu verstehen, haben Sie zumindest
diese These klar belegt. Bei allem Respekt für eine Verteidigungshaltung: Wenn jemand bei Google Daten über
sich freigibt, wenn die jüngere Generation in verschiedensten sozialen Netzwerken persönliche Daten freigibt,
kann man diese Daten doch nicht in einen Zusammenhang stellen mit Daten, die bei einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung erfasst werden. Das eine hat mit dem
anderen wenig zu tun. Bei den Daten, die bei Google
gesammelt werden, erklären sich die Nutzer einverstanden, wissen, was mit den Daten passiert.
({0})
- Man weiß es sehr wohl; denn man selbst entscheidet,
was man über sich preisgibt. Zumindest ist es ein gewaltiger Unterschied dazu, dass anlasslos die Telekommunikationsverbindungen Hunderttausender Menschen erfasst werden. Natürlich muss man die Menschen dazu
aufrufen, mit ihren persönlichen Daten sorgfältig umzugehen, sie nicht leichtfertig irgendwo einzuspeisen.
({1})
Aber das ist ein anderer Punkt. Bei der Vorratsdatenspeicherung hat man diese Möglichkeit nicht.
Das ist ja das, was das Bundesverfassungsgericht der
Bundesregierung mit seinem Urteil ins Stammbuch geschrieben hat: Es hat nicht gesagt, dass eine Vorratsdatenspeicherung per se unmöglich sei; aber es hat sehr
hohe Hürden benannt. Diese Hürden müssen bei der
Umsetzung berücksichtigt werden.
({2})
Es gibt Hürden bei der Verwendung der Daten, bei der
Sicherheit der Speicherung sowie bei der Transparenz.
Es muss darüber informiert werden, für was und warum
diese Daten erhoben werden. Vor allen Dingen muss derjenige, dessen Daten verwendet werden, darüber informiert werden. So weit gehen wir, glaube ich, d’accord.
Sie haben zu Recht angesprochen, Herr GrosseBrömer, dass eine Ursache für die Einführung einer
gesetzlichen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung
Attentate in europäischen Großstädten wie in Madrid
waren. Anhand von aufgefundenen Handys konnte damals festgestellt werden, mit wem die Attentäter telefoniert hatten. So konnten Rückschlüsse auf entsprechende
Verbindungstäter gezogen werden.
({3})
Jetzt muss es darum gehen, die Vorratsdatenspeicherung gerichtsfest, verfassungsfest umzusetzen.
({4})
Da haben Sie eine große Aufgabe vor sich.
({5})
Wir werden das gespannt beobachten.
Ich rate aber, in der Öffentlichkeit nicht so zu tun, als
ob momentan eine gewaltige Sicherheitslücke entstünde, als ob man - wie Sie es beschrieben haben Kinderschänder derzeit nicht verfolgen könne.
({6})
Zur Aufklärung solch schwerster Verbrechen gibt es die
Möglichkeit der Telefonüberwachung.
({7})
Sie können doch nicht behaupten, dass gegen Kinderschändernetzwerke derzeit in keiner Weise vorgegangen
werden könne, dass man solche Verbrechen nicht ahnden
könne, weil keine anderen Maßnahmen zur Verfügung
stünden.
({8})
Schüren Sie nicht Ängste! Selbstverständlich sind wir
uns darin einig, dass organisierte Kriminalität, schwerste
Verbrechen verfolgt werden müssen. So zu tun, als ob
man dazu momentan keinerlei Mittel habe, verwirrt. Das
ist der Sache nicht dienlich.
({9})
Wir werden beobachten, wie Sie mit dieser großen
Aufgabe umgehen. Wir haben im Vorfeld ja schon einiges gehört: Die Ministerin - die selbst gegen die Vorratsdatenspeicherung geklagt hat - hat erklärt, sie wird das
Verfahren jetzt erst einmal aussetzen und abwarten, was
in Europa passiert. Die zuständige EU-Kommissarin,
Justizkommissarin Reding, hat gesagt, dass sie diese
Richtlinien auf den Prüfstand stellen will. Diese Überprüfung will Frau Leutheusser-Schnarrenberger abwarten. Aus der Fraktion der CDU/CSU habe ich anderes
gehört. Da will man ganz schnell eine Lösung, die sofort
umgesetzt wird, damit keine Lücken entstehen.
({10})
Ich bin gespannt, wie sich bei diesem Thema die Mehrheitsverhältnisse entwickeln. Wir werden beobachten,
wer sich hier durchsetzt:
({11})
die Ministerin, die gegen die Vorratsdatenspeicherung
geklagt hat und recht bekommen hat, oder die CDU/
CSU, die eine ganz andere Position vertritt, nämlich jetzt
sofort eine Lösung zu finden, weil sonst Lücken entstünden. Ich war eben schon ein bisschen perplex, dass Sie
sich hier wechselseitig beklatschen. Ich bin gespannt,
was der Kollege von der FDP dazu sagen wird.
({12})
Vielleicht vertritt auch er die Position, dass sofort etwas
gemacht wird und nicht abgewartet wird, was auf europäischer Ebene passieren wird. Davon rate ich Ihnen ab.
Aber ich gehe davon aus, dass die FDP in dieser Frage
die Fahne der Freiheitsrechte der Bürger ganz klar hochhält, so wie sie das in allen Wahlkampfslogans vertreten
hat. Wir werden sehen, wer sich am Ende durchsetzt. Ich
hoffe, es wird die FDP mit ihrer Ministerin, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, sein.
({13})
Aber, wie gesagt, momentan ist in dieser Koalition alles
denkbar.
({14})
Von daher kann ich der FDP anbieten, mit uns konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aber, wie gesagt, wir sind gespannt, wer sich durchsetzt.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Christian Ahrendt für die FDPFraktion.
({0})
Liebe Frau Kollegin Lambrecht, seien Sie versichert:
Wir werden die Fahne der Freiheit weiter hochhalten.
({0})
Ich habe gerade festgestellt, dass Sie eine solche Fahne
gar nicht im Schrank haben.
({1})
Um Ihre Gedächtnislücken etwas zu schließen: Sie
haben, glaube ich, am 9. November 2007 in der namentlichen Abstimmung zur Vorratsdatenspeicherung dafür
gestimmt.
({2})
Ich habe auch gesehen, dass Sie noch nicht einmal eine
Erklärung zu Protokoll gegeben haben.
({3})
Es ist sehr schön, von Leuten belehrt zu werden, wie
man mit einem Thema umzugehen habe, die zu keiner
Zeit in der Lage waren, dieses Thema auch nur annähernd sorgfältig zu bearbeiten.
({4})
Schauen wir uns einmal an, wie das gelaufen ist, weil
das jetzt ein Stück weit Vergangenheitsbewältigung ist.
Ihre Parteifreundin, Frau Zypries, war Justizministerin.
Sie hat es auf EU-Ebene nicht geschafft, die Richtlinie
aufzuhalten. Sie war als zuständige Justizministerin für
die Umsetzung der Richtlinie verantwortlich. Insofern
erinnerte mich das Haus Zypries ein bisschen an eine
Rudi-Carrell-Show. An diese Show erinnert man sich
eher, wenn man so eine Frisur wie ich hat. Die Show
hieß „Am laufenden Band“. Das, was an Gesetzen aus
dem Hause Zypries kam, ist am laufenden Band vom
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aufgehoben worden, Frau Kollegin Lambrecht.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Lambrecht?
Nein.
({0})
Sie können gerne eine Kurzintervention machen, Frau
Kollegin. Ich werde jetzt zum Thema kommen. Das
Thema ist - der Kollege Notz hat es angesprochen, das
ist, glaube ich, ein Kernsatz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes - die Freiheitswahrnehmung.
Mit der Freiheitswahrnehmung nicht vereinbar ist, dass
alltägliche Daten erfasst, gesammelt und gespeichert
werden und dadurch ein Gefühl der Überwachung entsteht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner
Entscheidung deutlich gesagt, dass es Aufgabe der Bundesregierung ist, diese Freiheitswahrnehmung auf europäischer Ebene und auch auf internationaler Ebene zu
verteidigen.
Weil ich weiß, dass die Justizministerin selber Klägerin gegen diese Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung
bzw. das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war, brauchen wir Ihren Antrag nicht, weil Frau LeutheusserSchnarrenberger persönlich dafür steht, dass die Freiheitsrechte, so wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, auf europäischer Ebene gewahrt werden.
({1})
Das Entscheidende ist, dass auch auf europäischer
Ebene schon ein Umdenken eingesetzt hat. Die Justizkommissarin Reding hat angekündigt, dass sie die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung evaluieren will. Die Innenkommissarin, Frau Malmström, hat
hinterfragt, ob es noch ein ausreichendes Gleichgewicht
zwischen Terrorismusbekämpfung auf der einen Seite
und den privaten Freiheitsrechten auf der anderen Seite
gibt. Auch von dort ist also zu erwarten, dass man die
Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene
evaluiert. Auch eine dritte Frage wird in diesem Zusammenhang geklärt werden, nämlich ob diese Richtlinie
noch mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, die
zusammen mit dem Lissabon-Vertrag in Kraft getreten
ist.
({2})
Wenn wir uns das alles sorgfältig anschauen,
({3})
dann stellen wir fest, dass es derzeit gar keine Veranlassung gibt, in Hektik zu verfallen.
({4})
Die Berichte werden im September 2010 vorliegen, und
wir werden das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
sorgfältig auswerten.
Es besteht auch keine Sicherheitslücke. Durch die
einstweilige Verfügung wurde die Regelung zur Vorratsdatenspeicherung schon vorzeitig suspendiert. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zunächst
keine Anwendung findet, hat dem Sicherheitsgefühl in
Deutschland keinen Abbruch getan. Insofern ist es in der
aktuellen Situation nicht unbedingt erforderlich, übereilt
eine Richtlinie umzusetzen, die ohnehin auf dem Prüfstand steht. Vor diesem Hintergrund bedarf es derzeit des
etwas populistischen Antrages der Grünen nicht.
({5})
Deswegen werden wird dem Antrag auch nicht zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Lambrecht.
Da der Kollege Ahrendt keine Zwischenfrage zulassen wollte, nutze ich die Möglichkeit der Kurzintervention und weise darauf hin, dass es die SPD-Justizministerin Brigitte Zypries war, die darauf hingewirkt hat,
dass die in der Richtlinie ursprünglich vorgesehene
Dauer der Speicherung von 36 Monaten auf EU-Ebene
auf sechs bis 24 Monate gekürzt wurde und dass in dem
entsprechenden Umsetzungsgesetz in Deutschland nur
noch eine Dauer von sechs Monaten vorgesehen war.
Frau Zypries hat diese EU-Richtlinie in ihrer Eigenschaft als Justizministerin also nicht einfach durchlaufen
lassen, sondern sie hat entscheidenden Einfluss darauf
genommen, dass es nicht zu unverhältnismäßig langen
Speicherungsdauern gekommen ist.
({0})
Kollege Ahrendt.
Verehrte Frau Kollegin, dieser Sachverhalt ist bekannt.
({0})
Aber wir kennen auch den Satz: „Wer immer strebend
sich bemüht, den können wir erlösen.“ Frau Zypries
konnte bei dem wenigen Bemühen, das sie an den Tag
gelegt hat, nicht erlöst werden. Denn wir haben immer
gesagt, dass wir diese Richtlinie in Deutschland gar
nicht wollen.
({1})
Es wäre also eigentlich ihre Aufgabe gewesen, die
Richtlinie auf europäischer Ebene zu verhindern. Das
hat sie nicht geschafft, daran muss sie sich messen lassen. Deswegen können wir Ihnen das Argument der geringen Fristverkürzung auch nicht durchgehen lassen.
({2})
Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
FDP traue ich nun wirklich alles Schlechte dieser Welt
zu,
({0})
aber in diesem Falle, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, war es in der Tat maßgeblich Brigitte
Zypries, die diese Richtlinie auf europäischer Ebene und
im Bundestag durchgesetzt hat. Das muss man der Fairness halber einmal sagen. Deswegen hätte mich interessiert, welche Meinung die SPD jetzt zu dieser Richtlinie
hat und wie Sie gedenken, mit dem Antrag der Grünen
umzugehen. Aber vielleicht geht ja der zweite Redner
aus Ihrer Fraktion darauf ein.
Vor dem Hintergrund welcher Situation diskutieren
wir heute? - Abermals ist vom Bundesverfassungsgericht
ein sogenanntes Sicherheitsgesetz kassiert worden - verbunden mit recht drastischen Ermahnungen. Die damaligen Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke haben
schon damals gesagt, dass das so kommen wird und dass
Ihre Entscheidung auch politisch falsch ist. Darauf wollten Sie aus ideologischen Gründen nicht hören, und jetzt
haben wir sozusagen den Salat.
Wenn das höchste deutsche Gericht urteilt, dass ein
Gesetz oder eine Richtlinie fachlich falsch ist, dass das
alles so nicht geht, dass man das neu regeln müsste, dann
denkt man als Bürger ja, die erste Reaktion darauf
müsste eigentlich sein, zur Ruhe zu kommen, in sich zu
gehen und zu prüfen, wie man es besser und grundrechtskonform machen könnte bzw. ob man das Ganze
überhaupt braucht. Das hat diese Bundesregierung aber
nicht getan.
({1})
Der Bundesinnenminister und die CDU sagen: Wir müssen unbedingt vor der Sommerpause noch irgendetwas
unternehmen. - Die Bundesjustizministerin dagegen
sagt - und dabei unterstütze ich sie sehr -: Am besten
machen wir erst einmal gar nichts; denn gar nichts zu
tun, ist besser, als das Falsche zu tun.
({2})
Deshalb wissen wir bis heute nicht, was die Meinung der
Koalition ist.
({3})
Ich denke, wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das
Bundesverfassungsgericht abermals etwas kassiert hat,
und einen Richtungswechsel vornehmen. An dieser Stelle
stellt sich die berühmte Frage: Was tun?
Um noch einmal auf das Problem zurückzukommen:
Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es darum - das
ist der Unterschied zu Google, Facebook und anderen -,
dass ohne Anlass und ohne Verdacht das Kommunikationsverhalten von 80 Millionen Bundesbürgern komplett registriert wird. Das ist das Kernproblem, über das
wir hier diskutieren. Es geht also sozusagen um eine Totalprotokollierung von menschlichem Kommunikationsverhalten, und zwar anlasslos.
Daraus ergeben sich in einer Demokratie grundlegende Fragen. Denn Datenschutz und das Wissen, unbeobachtet und unangepasst kommunizieren zu können, ist
eine entscheidende Grundlage demokratischen Engagements. Dies wird durch die Vorratsdatenspeicherung behindert und infrage gestellt. Denn klar ist - darauf wird
auch in dem Urteil hingewiesen -, das jemand, der sich
ständig beobachtet und registriert fühlt, automatisch,
vielleicht sogar unbewusst, anfängt, sein Kommunikationsverhalten zu ändern. Man fängt an, angepasst zu
kommunizieren. Das will zumindest die Linke nicht. Wir
wollen eine unangepasste Kommunikation in diesem
Land.
({4})
Wer sich ständig beobachtet fühlt, passt sich an. Das
mag jemandem mit einem autoritären Weltbild wie Ihnen vielleicht sinnvoll erscheinen.
({5})
Wir wollen das aber nicht. Wir wollen unangepasst sein,
und wir wollen den aufrechten Gang. Deswegen lehnen
wir das politisch ab.
({6})
- Da haben Sie allerdings recht, um kurz vor Ostern
auch einmal etwas Persönliches zu sagen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, es sei völlig unmöglich, die Richtlinie umzusetzen. Das ist in der Tat richtig.
({7})
- Ja, ich will schließlich, dass wir eine differenzierte Debatte führen. - Man muss aber deutlich sagen - das ist
die Aufgabe des Bundestages -: Nicht alles, was juristisch und technisch möglich ist, muss man auch machen.
Darum geht es in der politischen Auseinandersetzung.
({8})
Deswegen unterstützt meine Fraktion ganz klar den
Antrag der Grünen, auf europäischer Ebene darum zu
kämpfen, dass die Richtlinie außer Kraft gesetzt wird.
Auch in anderen europäischen Ländern gibt es entsprechende Ansätze. Wir sind also nicht alleine, wie es die
große Sorge der Bundesregierung ist. Man könnte auf
europäischer Ebene etwas für die Grundrechte tun. Es
wäre auch klasse, wenn eine Bundesregierung auf europäischer Ebene in der Frage von Datenschutz und Bürgerrechten positiv auffallen würde.
Die FDP hat in der Frage komplett versagt. Sie sind
schon kurz nach Ihrer Vereidigung beim SWIFT-Abkommen vom Innenminister vorgeführt worden.
({9})
Wir sind gespannt, wie es bei der FDP weitergehen wird.
Die Linke wird auf jeden Fall die FDP in ihrem
Kampf gegen den eigenen Koalitionspartner unterstützen,
({10})
wenn Sie bereit sind, die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung insgesamt zu Fall zu bringen. Dabei haben Sie
uns an Ihrer Seite.
Die Linke unterstützt selbstverständlich auch weiter
das außerparlamentarische Engagement. Im Rahmen
der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist erstmalig seit Jahren in der Bundesrepublik über die Frage von
Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaat relevant diskutiert worden. Das ist doch etwas Gutes, wenn Menschen auf die Straße gehen und sich organisieren.
({11})
- Ich erinnere mich, Kollegin Piltz: Es war eine gute Sache, als wir alle auf der Demo „Freiheit statt Angst“ waren, die FDP-Fahnen Seite an Seite mit den roten Fahnen
der Linken. Die Grünen waren auch dabei. Das war eine
gute Sache. Ich bin gespannt, ob Sie im Herbst wieder
demonstrieren werden. Ich schätze, nicht; denn auf Sie
kann man sich in dieser Frage nicht verlassen.
({12})
Es ist eine traurige Entwicklung, die Sie durchlaufen.
Deswegen ist jetzt die politische Auseinandersetzung zu
führen. Wir müssen die Vorratsdatenspeicherung weder
als Bundestag noch als Bundesregierung mittragen.
({13})
Man könnte erst einmal in sich gehen und über Ostern
nachdenken. Dann könnten wir auf die Vorratsdatenspeicherung verzichten und hätten damit einen wichtigen
Beitrag zur Stärkung der Demokratie in diesem Land geleistet. Die Linke macht mit.
Schönen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die Fraktion
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immerhin wissen wir jetzt schon seit gut 14 Stunden, welches Anliegen die Grünen unter der Überschrift „Keine
Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“
bewegt. Sie haben uns lange darüber im Unklaren gelassen, was Sie auf dem Umweg über Europa nicht wollen.
Aber die viele Zeit, die sich die Grünen für die Formulierung des Antrags gelassen haben, hat offensichtlich
nicht gereicht, um einen ausgewogenen und vollständigen Antrag vorzulegen. Zwar wird Bezug auf eine Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2004 genommen. Aber
dann sind Aussagen zu dem Zeitraum zwischen 2004
und 2006 in dem Antragstext doch merkwürdig lückenhaft. Sollte das Zufall sein, oder hat es etwas damit zu
tun, dass die Grünen bis 2005 in der Regierung waren,
oder sogar damit, dass in dieser Zeit in Europa die wesentlichen Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung
getroffen wurden,
({0})
und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung einer rot-grünen
Bundesregierung?
({1})
Gerne helfe ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge.
Es ist interessant, sich die Entwicklung um das Jahr
2005 genauer anzusehen. Ihre Reaktionen zeigen, dass
ich richtig liege. Wenn man sich die Geschichte der
Vorratsdatenspeicherung anschaut, trifft man auf ein
Phänomen; ich nenne es das Chamäleonphänomen.
Beim Blick zurück stößt man nicht nur auf eine rotgrüne Bundesregierung, nein, man stößt auch auf einen
Bundesinnenminister, der einmal grün war, irgendwann
zu den Roten wechselte, um dann in einer rot-grünen
Bundesregierung den schwarzen Sheriff zu geben.
({2})
Es war dieser rot-grüne bzw. grün-rote Innenminister
Schily, der genau das mit initiiert hat, was die Grünen
nun mit dem Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungen
über den Umweg Europa“ so vehement von sich weisen
wollen.
({3})
Ich darf dazu aus der Süddeutschen Zeitung vom
13. März 2005 zitieren, kurz vor der Implosion der letzten rot-grünen Bundesregierung:
Über den Umweg Brüssel
- das passt wie die Faust aufs Auge will Otto Schily seine im vergangenen Jahr auf
Bundesebene abgelehnten Pläne zur Datenspeicherung doch noch durchsetzen.
Weiter heißt es:
Dabei gehe es darum, einen Rahmenbeschluss für
die Europäische Union … vorzubereiten, der den
Behörden im Kampf gegen Terror und Kriminalität
helfen soll.
({4})
Lassen wir uns das doch einmal auf der Zunge zergehen.
Das ist doch die Wahrheit.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wieland?
Danke, es reicht schon, dass wir über diesen Antrag
diskutieren. Ich möchte diesen schönen Gedanken fortführen.
({0})
Vor allem: Wo war damals der Aufschrei der Grünen?
({1})
Wo war der Antrag damals? Warum haben die Grünen
nicht am 24. März 2005 beantragt „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“? Warum nicht
damals?
({2})
Die Süddeutsche Zeitung hätte Ihnen damals doch mit
dieser passenden Formulierung eine Steilvorlage geliefert.
({3})
Aber nein, Sie haben geschwiegen. Wären die Grünen
doch besser auch heute kleinlaut geblieben!
({4})
Denn es ist unredlich, was Sie heute machen. Es ist Heldentum nach Ladenschluss, nichts anderes. Es soll
schamhaft vergessen machen, dass damals die entscheidenden Weichen durch Rot-Grün selbst gestellt wurden.
Nochmals im Klartext: Die Innen- und Justizminister
in der EU haben damals eifrig einen Rahmenbeschluss
zur Vorratsdatenspeicherung vorbereitet, einen Rahmenbeschluss, der tiefere Eingriffe in die Grundrechte vorsehen sollte als die schließlich erlassene Richtlinie. Mittendrin, nein, vorneweg ein Innenminister Schily! Erst
als ein Rahmenbeschluss an der Einstimmigkeit zu
scheitern drohte, wurde umgeschwenkt. Wir sehen also:
Schon das Fundament des Antrags ist rissig. Es ist vor
allem auf Selbsttäuschung und Unglaubwürdigkeit aufgebaut.
Es wird nicht besser mit dem Antrag. Es ist schon
abenteuerlich, das Bundesverfassungsgericht zum Kronzeugen für einen Antrag zu machen, auf europäischer
Ebene loszulegen und die Richtlinie aufzuheben; denn
das Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht die Notwendigkeit gesehen, einen Umweg über Europa zu machen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Klar
und deutlich wird im Urteil dargestellt, dass die anstehenden Fragen bezüglich der Vorratsdatenspeicherung
auf der Ebene des nationalen Rechts zu beantworten sind
und auch dort gelöst werden können. Dementsprechend
hat sich das Bundesverfassungsgericht bewusst entschieden, den Europäischen Gerichtshof nicht einzuschalten,
und auch, dass es keine Fragen gibt, die dem EuGH vorzulegen sind. Insofern ist zumindest die Überschrift des
Antrags gar nicht so falsch; denn wenn das Bundesverfassungsgericht keinen Umweg über Europa braucht,
dann brauchen wir ihn allemal auch nicht.
({5})
Das europäische Recht steht, und wir brauchen Europa
an dieser Stelle gar nicht zu strapazieren.
Es gibt eine geltende Richtlinie, bei der es im Übrigen
für den Europäischen Gerichtshof keinen Anlass zur Beanstandung gegeben hat. Damit haben wir eine europarechtliche Grundlage. Sie gilt nach wie vor. Wir werden uns daher mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung
auch deshalb weiter befassen, weil es nach wie vor die
Verpflichtung gibt, die europäische Richtlinie in nationales Recht umzusetzen.
({6})
Diesem Handlungsauftrag können und werden wir uns
nicht entziehen. Hierbei ist zu bemerken, dass die Richtlinie ohne Zweifel dem nationalen Gesetzgeber einen
weiten Gestaltungsspielraum einräumt. Diesen Spielraum werden wir ausfüllen. Hierzu ist es zunächst erforderlich, sich genau anzusehen, welche Anforderungen an
eine verfassungsfeste Regelung zur Vorratsdatenspeicherung zu stellen sind.
Es ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht die Speicherung und Nutzung von Vorratsdaten
nicht schlechterdings untersagt hat. Im Gegenteil: Es
zieht sich wie ein roter Faden durch das Urteil, dass
grundsätzlich eine grundrechtsgerechte Ausgestaltung
der Vorratsdatenspeicherung möglich ist.
Nun geht es also darum, sorgfältig und natürlich unter
Berücksichtigung der grundgesetzlichen und grundrechtlichen Anforderungen eine neue gesetzliche Ausgestaltung für die Vorratsdatenspeicherung zu entwickeln.
Dementsprechend ist die gebotene Sorgfalt der entscheidende Maßstab auch für den Zeitplan.
({7})
Durch diese notwendige Sorgfalt wird auch ausreichend Raum gegeben, positiv weiter über den Sinn der
Vorratsdatenspeicherung zu debattieren. Ja, ich habe die
Hoffnung, dass dieser Raum auch dazu dienen kann,
Fehlentwicklungen in den Debatten - ich betone: in
den Debatten und nicht in der Sache - zur Vorratsdatenspeicherung zu beseitigen, deren Wurzeln auch ganz am
Anfang der Diskussion liegen und die wiederum eng mit
dem Auftreten und dem Vorgehen der damaligen rotgrünen Bundesregierung verknüpft sind. Damals ist das
Thema virulent geworden, damals sind die grundlegenden Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen
worden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung war nicht der Endpunkt einer Diskussion. Im Gegenteil: Es ist der Auftakt für eine neue
Debatte entlang der durch das Urteil formulierten Kriterien für die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung.
Hinter dieser Zulässigkeit steht im Kern, dem Staat effektive Möglichkeiten zur Verfolgung schwerer Straftaten an die Hand zu geben. Auch durch die aktuellen
Fälle wird die Notwendigkeit dafür gezeigt.
Diesen Weg werden wir gehen, und wir brauchen hier
keine Umwege über Europa. Wir gehen den geraden
Weg: hier in diesem Parlament mit dieser Regierungskoalition. Ich bin mir sicher: Wir werden unsere Schlüsse
aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil gemeinsam
ziehen und gemeinsam unsere Vorschläge dazu unterbreiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Gerold Reichenbach für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Debatte vonseiten der Koalition
erinnert mich ein bisschen an den Pfadfinder, der sich
beharrlich weigert, zu sagen, wo er hin will, weil er es
gar nicht weiß, und stattdessen den Betroffenen ständig
erklärt, wer sich wie und wo woanders auch schon einmal verlaufen hat.
({0})
Lassen Sie mich festhalten: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung, in der dem Gesetzgeber jetzt klare Grenzen für einen derartig schweren
Eingriff in die Rechte der Bürger aufgezeigt wurden.
Die SPD hat - und dazu stehen wir - die vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung in der Großen
Koalition mit verabschiedet. Wir ducken uns hier nicht
weg.
({1})
Wir haben uns in den schwierigen Abwägungsprozess
zwischen Sicherheit und Freiheit begeben, als damals
noch - das ist erwähnt worden - die Anschläge von
Madrid und die Anschlagsvorbereitungen in Deutschland in den Köpfen der Bevölkerung und der Entscheidenden präsent waren.
({2})
Es war uns allen klar, dass diese Abwägung zwischen
Sicherheit und Freiheitsrechten in einem freiheitlichdemokratischen Staat sehr schwierig sein wird. Wir haben uns dieser Verantwortung gestellt, und wir werden
uns auch weiter dieser Verantwortung stellen und uns
nicht wegducken,
({3})
gerade auch vor dem Hintergrund, dass uns das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle klar gesagt hat: Ihr
habt dort Fehler gemacht.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist
immer einfacher, zu sagen, was man nicht will, als eine
Debatte durchzustehen und für ein Gesetz in die Verantwortung genommen zu werden. Jetzt stehen aber Sie in
der Regierungskoalition in der Verantwortung, und Sie
müssen sich positionieren.
({5})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
nicht nur gesagt, welche zentralen Rahmenbedingungen
zum Schutz der Freiheitsrechte, zum Schutz der Freizügigkeit und zum Schutz der Freiheit bei einem solchen
Eingriff für die Bürger gewahrt bleiben müssen, sondern
es hat auch den Spielraum für Regelungen eröffnet, mit
denen dem Sicherheitsbedürfnis entgegengekommen
wird.
({6})
Eine unverhältnismäßige, anlasslose Datenspeicherung
auf Vorrat wird abgelehnt. Herr Staatssekretär und Frau
Bundesjustizministerin, Sie müssen aber eingestehen,
dass es für den Gesetzgeber durchaus Regelungsmöglichkeiten gibt. Dabei müssen natürlich die fundamentalen Freiheitsinteressen berücksichtigt und gewährleistet
werden, aber auch Sicherheitsinteressen abgedeckt werden.
({7})
Sie werden sich also schon die Mühe machen müssen,
Regelungen zu finden, die den Anforderungen der Freiheitsprinzipien unseres Grundgesetzes und der inneren
Sicherheit genügen.
({8})
Sie scheinen sich aber wegducken zu wollen. Die
Hinhaltetaktik, die die Bundesregierung momentan
fährt, ist weder für die Gegner der Vorratsdatenspeicherung noch für die Sicherheitsexperten nachvollziehbar.
Wie zu vernehmen ist, wollen Sie jetzt darauf warten, zu
welchem Ergebnis die Überprüfung der Richtlinie
durch die Europäische Union kommt. Damit können Sie
sich nicht herausreden. Sie müssen sich positionieren;
denn auch die Bundesregierung muss bei der Überprüfung der Richtlinie auf europäischer Ebene ihre Position
einbringen. Da frage ich mich eben nur, welche.
Ich darf die Äußerungen der Bundesjustizministerin
und des Bundesinnenministers zitieren. Sie sagt: „Ich
freue mich über das Urteil.“ Er sagt: „Bei dem Urteilsspruch ist keine Freude aufgekommen.“ Sie sagt: „Wir
dürfen die Bedeutung der Vorratsdaten für die Terrorabwehr nicht überbewerten.“ Er sagt: „Wir müssen die Sicherheitslücke klug, maßvoll und zügig schließen.“ Sie
sagt: „Es ist nicht der Zeitpunkt für nationale Schnellschüsse.“ Er sagt, man müsse „klug und schnell handeln.“ Ich sage: Ja, was denn nun?
({9})
Welche Position wollen Sie denn bei der Überprüfung
der Richtlinie einbringen? Oder läuft das nach dem
Motto: Weil wir uns gerade nicht einigen können, lassen
wir die anderen europäischen Länder entscheiden und
schauen dann, was bei uns herauskommt?
Sie müssen sich übrigens nicht nur bei diesem Thema
der Debatte und der Abwägung stellen. Ich habe mir hier
in der Parlamentsdebatte die Redner von CDU/CSU und
FDP angehört - Frau Piltz wird das wahrscheinlich fortführen und mit dem Finger auf andere zeigen ({10})
und dabei gemerkt, dass das Spiel immer das gleiche ist:
CDU gegen FDP; FDP gegen CSU. Ansonsten verweist
die FDP auf das, was in der Vergangenheit passiert ist,
sagt aber nicht, was sie in Zukunft machen will. The
same procedure as every day.
({11})
Sie müssen sich aber auch bei einem anderen Thema
der geforderten Abwägung der Verhältnismäßigkeit des
Eingriffs in die Grundrechte stellen, um notwendige Regelungen treffen zu können, die die Sicherheitsbedürfnisse und die Bürgerfreiheiten wahren.
({12})
Ich nenne das Beispiel SWIFT. Auch hier geht es um
die Weitergabe von zunächst einmal anlasslos gespeicherten Daten.
({13})
- Sie haben es gestoppt? - Wie verhielt es sich bei dem
vom Europäischen Parlament kassierten SWIFT-Abkommen? Wir erinnern uns. Sie sagt: „Ich halte das auch
aus datenschutzrechtlicher Sicht für extrem bedenklich.“
({14})
Er sagt: Durchwinken!
({15})
Das ist wieder das Gleiche: Es gibt nur Nachrichten von
der schwarz-gelben Zankstelle, aber keinen Hinweis darauf, wie Sie sich in Zukunft bei diesem Thema positionieren wollen.
({16})
Das Bundesverfassungsgericht fordert eindeutig und
klar, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs Rechnung tragen muss. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dafür
zu sorgen, dem auch auf europäischer Ebene Geltung zu
verschaffen. Das gilt sowohl für die Überprüfung der
Vorratsdatenspeicherung als auch für das jetzige Mandat
für die Verhandlungen über ein zukünftiges SWIFT-Abkommen.
Sie müssen sich im Parlament der Verantwortung
stellen, Freiheit und Sicherheit, Schutz der Bürgerrechte
und der Bürger nach den Vorgaben unserer Verfassung
auszutarieren. Es reicht nicht mehr - das werden wir
wahrscheinlich anschließend wieder bei Ihnen, Frau
Piltz, erleben -, zu sagen, was man nicht will, und ansonsten mit dem Finger auf die anderen zu zeigen.
({17})
Sie sind in der Regierungsverantwortung. Sie müssen
sich dem stellen.
Wir werden eigene Anträge einbringen, in denen wir
deutlich machen, was nach unserer Vorstellung die Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes auch für die europäische Ebene bedeutet. Ich freue
mich auf die Debatte und darauf, dass Sie endlich einmal
sagen, was Sie wollen,
({18})
und nicht, was andere gemacht haben; denn das wissen
wir.
({19})
Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ehrlich gesagt: Wenn Sie meinen, das war hoch gelegt,
dann haben Sie vom Sport keine Ahnung.
({0})
Es ist schön, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt
in der Debatte reden darf; denn dann kann man auch auf
die Kollegen eingehen. Herr Reichenbach, wie Sie hier
zu SWIFT und zur Vorratsdatenspeicherung sprechen,
macht deutlich, dass die SPD nach wie vor an politischer
Amnesie leidet. Denn Sie sind diejenigen, die entweder
nichts gemacht haben oder die Gesetze verabschiedet haben, nicht wir.
({1})
Sie tragen die politische Verantwortung für das, was Sie
gemacht haben. Auch das ist etwas, dem man sich stellen
muss. Wenn Sie hier so tun, als ob Sie nicht elf Jahre dieses Land regiert hätten, ist das ein billiges Gerede, hat
aber mit Politik nichts mehr zu tun.
({2})
Wofür Ihre Abwägung von Freiheit und Sicherheit
steht, das sehen wir an dem, was in Karlsruhe gescheitert
ist. Frau Lambrecht, Sie haben ja öfter gefragt: Wieso,
weshalb, warum? Dazu ist mir eigentlich nur ein Satz
eingefallen - Christian Ahrendt und ich sind heute ziemlich fernsehbezogen -: Wieso, weshalb, warum,
({3})
die SPD verkauft uns hier für dumm.
({4})
Etwas anderes kann ich Ihnen heute angesichts dessen,
was Sie hier gemacht haben, nicht sagen. Stehen Sie einfach einmal zu Ihrer Verantwortung!
Herr Korte, abschließend zu Ihnen. So eine Rede von
ihnen - ich meine „ihnen“ kleingeschrieben, nicht großgeschrieben; denn dafür sind Sie zu jung -, also von Ihrer Partei hätte ich mir vor 40 Jahren in der Volkskammer gewünscht.
({5})
Nennen Sie mir einen sozialistischen Staat, der seine
Bürger nicht mehr oder weniger überwacht. Was Sie hier
machen, ist wirklich sehr durchsichtig.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als
eine der erfolgreichen Klägerinnen vor dem Bundesverfassungsgericht - Sie wissen das, weil wir uns da getroffen haben - gegen die Vorratsdatenspeicherung brauche
ich von Ihnen keine Nachhilfe und muss mir von Ihnen
das Urteil auch nicht erklären lassen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Korte?
Ja, gerne.
Liebe Kollegin Piltz, Ihr Vorwurf war wirklich total
originell. Aber davon einmal abgesehen: Ich habe nicht
einmal im Zonenrandgebiet gewohnt. Das ist also völlig
absurd.
Aber jetzt einmal ganz ernsthaft. In der Tat finde ich
es richtig, sich immer wieder mit der Vergangenheit
auseinanderzusetzen. Das gilt dann jedoch für alle. Deswegen nur eine Frage: Hat denn insbesondere die FDP in
Nordrhein-Westfalen einmal substanziell ihre Vergangenheit aufgearbeitet, insbesondere in Bezug auf das
Personal in den 50er- und 60er-Jahren? Darüber sollten
Sie einmal diskutieren, und mich würde das Ergebnis
sehr interessieren. Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen,
({0})
und da waren reichlich führende Nazis in der FDP unterwegs.
({1})
Herr Korte, ich persönlich finde das, was Sie jetzt machen, wirklich geschmacklos.
({0})
Sie sprechen hier für eine Fraktion bzw. für eine Partei,
({1})
die Leute, die aus ihrem Land fliehen wollten, an der
Grenze erschossen hat. Dafür ist niemand aus Nordrhein-Westfalen und niemand aus der FDP verantwortlich. Die Vergleiche, die Sie hier ziehen, sind wirklich
billig. Wenn Sie sich endlich einmal dazu bekennen würden, dass Sie die Nachnachnachfolger der SED sind,
({2})
dann könnten Sie sich hier so äußern. Solange Sie das
nicht tun, haben Sie kein Recht, hier mit dem Finger auf
andere zu zeigen.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat - das ist ja der Anlass - die nationale Umsetzung der Richtlinie für verfassungswidrig erklärt. Es hat uns damit deutlich vor Augen
geführt, dass bei der Umsetzung europarechtlicher
Vorgaben genau dieselbe Abwägung in Bezug auf die
Verhältnismäßigkeit zu treffen ist wie bei Fragen nationaler Gesetzgebung. Der Gesetzgeber darf nicht einfach
sagen: Das kommt aus Europa, Augen zu und durch! Dessen ist sich diese christlich-liberale Koalition sehr
bewusst.
({4})
Der Gesetzgeber muss - auch dessen sind wir uns bewusst - bei jedem Gesetz die gleiche Sorgfalt walten lassen. Ich möchte den Bundesinnenminister zitieren, der
bei einer Veranstaltung in dieser Woche gesagt hat: Insgesamt ist diese Gesellschaft bislang ganz gut damit gefahren, dass der Gesetzgeber sich Zeit gelassen hat. Das
hat auch etwas Freiheitliches. - Da sind wir einer Meinung mit ihm.
({5})
Der Bundesinnenminister sagte weiter, dass mit manchen Einzeleingriffen das Vertrauen zwischen Gesetzgeber und Anwendern gefährdet werden könne, wenn das
Recht nicht systematisch und passend zur technischen
Entwicklung entwickelt wird. - Auch da sind wir einer
Meinung.
({6})
- Jetzt wundert mich aber, dass die Kollegen von der
CDU/CSU gar nicht klatschen, wenn ich ihren Minister
zitiere.
({7})
Bei der Frage, ob und wie weit der Zugriff auf Telekommunikationsverbindungsdaten zur Gefahrenabwehr
und Strafverfolgung im Internet notwendig ist, geht es
genau darum. Das Bundesverfassungsgericht hat da offensichtlich auf überzeugendere Argumente gewartet
und solche auch immer angefordert; die Bundesregierung hat sie leider nicht liefern können, weil - das muss
man hier auch einmal sagen dürfen - viele Beispiele, die
in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, an den Haaren
herbeigezogen sind. Deshalb lautet meine Bitte: Wenn
man Beispiele ins Feld führt, dann bitte solche, die wirklich treffend sind!
Zu hören ist etwa, dass man Lawinenopfer jetzt nicht
mehr finden kann.
({8})
- Der Kollege Herrmann aus Bayern hat von Lawinenopfern gesprochen. - Es wäre ein Armutszeugnis, wenn
wir dafür die Vorratsdatenspeicherung bräuchten. Das
macht man mit dem GPS-Signal, damit man ein solches
Opfer hoffentlich noch lebend findet und nicht erst nach
sechs Monaten weiß, wo die Leiche ist. Das wäre ein
bisschen spät für die Rettung.
Zu hören ist ferner, dass Stalking und Phishing nicht
mehr verfolgt werden könnten. Auch das ist ein Beispiel,
das sehr gern gebracht worden ist. Mir ist neu, dass diese
Taten Katalogstraftaten nach § 100 a StPO sind. Es war
bis heute nicht möglich, in solchen Fällen auf diese Daten zuzugreifen. Insofern ist es unredlich, so zu tun, als
ob das jetzt zum Problem würde.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Reichenbach?
Wenn er Spaß daran hat.
Frau Kollegin Piltz, ich mutmaße, Ihre Redezeit neigt
sich so langsam dem Ende zu.
Sie verlängern die Redezeit. Dafür bin ich Ihnen auch
sehr dankbar.
Ja, eben; deswegen meine Zwischenfrage. - Nachdem
Sie nun ausreichend erklärt haben, was alle in der Vergangenheit gemacht oder auch nicht gemacht haben,
frage ich Sie: Wären Sie bereit, diesem Parlament noch
vor Ende Ihrer Redezeit zu sagen, ob Sie der Auffassung
sind, dass die Bundesregierung noch vor der Sommerpause, also noch vor einer Revision der EU-Richtlinie
zur Vorratsdatenspeicherung, den Entwurf eines GesetGerold Reichenbach
zes zur Änderung der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung in den Bundestag einbringen oder auf diese Revision warten oder ganz auf die Vorlage eines
Gesetzentwurfs verzichten soll?
Geschätzter Herr Kollege Reichenbach, so wie ich
oder auch Sie wissen wir alle hier, dass wir gezwungen
sind, europäisches Recht in nationales Recht umzusetzen.
({0})
- Nein, das habe ich nicht. Wenn Sie hier sind, hören Sie
mir bitte richtig zu oder lassen Sie solche Zwischenrufe!
Das muss ich einfach einmal sagen.
({1})
- Nein. Warum? Die gehen auch nicht höflich mit mir
um.
({2})
- Das mag sein. Dass wir alles schuld sind, obwohl Sie
hier elf Jahre regiert haben, kann ich, ehrlich gesagt,
nicht mehr hören. Das muss man Ihnen auch einmal sagen dürfen.
({3})
Das war ein Gesetz, das Ihre Ministerin gemacht hat. Sie
- nicht wir - haben es verabschiedet. Das sage ich Ihnen
so oft, wie Sie es hören wollen oder auch nicht hören
wollen.
({4})
Ich bin es leid, dass Sie hier keine Verantwortung für das
übernehmen, was Sie gemacht haben.
({5})
Aber es ist schön, dass ich das noch einmal sagen durfte.
Selber schuld!
({6})
- Wir analysieren das Urteil in aller Ruhe.
({7})
Dann werden wir, die Fraktionen und die Regierung, das
tun, was wir für notwendig halten.
({8})
Wir werden Sie darüber rechtzeitig in Kenntnis setzen.
({9})
Ich denke, das beantwortet Ihre Frage ganz klar.
({10})
- Eigentlich dachte ich, dass man sich sachlich damit
auseinandersetzt.
({11})
- Bei Ihnen gab es leider nichts, mit dem ich mich sachlich hätte auseinandersetzen können. Deshalb wollte ich
über die Beispiele reden, die da immer so durch die Gegend wabern.
Ich komme zu dem Beispiel mit den Flatrates. Wenn
jemand im Internet unterwegs ist, dann kann man ihn
selbstverständlich auch bekommen; denn wenn jemand
immer zur gleichen Zeit im Internet unterwegs ist, kann
man diese Daten heute selbstverständlich im Quickfreeze-Verfahren einfrieren. Das wäre im wirklichen
Leben so, als wenn jemand sagen würde, dass er um elf
Uhr jedes Mal dieselbe Bank überfällt und die Polizei an
der nächsten Ecke steht.
Wir müssen sehr sorgfältig aufpassen, dass wir uns
mit solchen Beispielen nicht politisch zu Tode reden. Es
kommt darauf an, dass man sieht, was notwendig ist und
was man tun muss, mehr aber auch nicht.
An dieser Stelle komme ich auf das Zitat des Bundesinnenministers zurück, das ich eingangs schon einmal
bemüht habe: Wir brauchen keine Einzeleingriffsbefugnisse, sondern einen vernünftigen und systematischen
Ansatz, der der Technik entspricht. - Wir glauben, dass
das Quick-freeze-Verfahren ein solcher Ansatz ist.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Internet eine
Aufklärungsquote von 80 Prozent haben. Die Aufklärungsquote im Internet ist übrigens viel höher als außerhalb des Internets, wo sie bei nur 55 Prozent liegt.
Im Internet muss weiter ermittelt werden, aber tatangemessen, lageangemessen und technikangemessen.
Dazu gehören aus unserer Sicht zum Beispiel auch Internetwachen, die auf direktem Wege ansprechbar sind.
Zudem können bei diesen in den Ländern die Kompetenzen gebündelt werden.
Wenn es aber nur in sieben von 15 Landeskriminalämtern eigene Internetabteilungen gibt, dann gibt es sicherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten auf der
durchführenden Ebene, die wir ausschöpfen müssen und
die wir ausschöpfen werden, um Kriminalität zu bekämpfen.
Für uns ist wichtig, dass wir in Europa die Evaluierung begleiten, um zu sehen, ob das, was Europa gemacht hat, wirklich sinnvoll ist. Ich glaube, das steht jedem gut zu Gesicht. Man muss auch berücksichtigen,
dass das noch nicht in jedem Mitgliedstaat umgesetzt ist.
Ich bin mir mit dem Kollegen Grosse-Brömer einig: Wir
werden das so sorgfältig wie möglich und so schnell wie
nötig machen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollegin Petra Pau für die Fraktion
die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vorweg ein Satz an Sie, Kollegin Piltz: Richtig ist, der
Kollege Korte war nicht Mitglied der SED, aber ich war
Mitglied der SED.
({0})
Aus einem schmerzhaften Auseinandersetzungsprozess mit der verfehlten Politik der SED, mit dem Scheitern des realen Sozialismus und auch aufgrund persönlicher Verantwortung, die ich in der DDR getragen habe,
bin ich zu der festen Überzeugung gekommen: Eine sozialistische Partei ist nur dann eine linke Partei, wenn sie
Bürgerrechte und Demokratie verteidigt und sich dafür
einsetzt. Das kann der Kollege Korte genauso für sich in
Anspruch nehmen, wie die Kollegin Jelpke und jeder andere Kollege aus der Fraktion Die Linke das für sich in
Anspruch nehmen kann.
({1})
- Das könnte Ihnen so passen, dass wir einen neuen Namen wählen und uns neu gründen, aber nicht den Rucksack der Geschichte tragen. Nein, mit diesem Rucksack
der Geschichte nehme ich mir heute das Recht, mich mit
politischen Tendenzen auseinanderzusetzen, die aus meiner Sicht falsch sind.
Damit kommen wir jetzt einmal zum Thema. Das
Bundesverfassungsgericht hat die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für verfassungswidrig erklärt. Das war gut für den Datenschutz
und wichtig für den Rechtsstaat.
Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, und das
erleben wir heute. Die Begehrlichkeiten nach immer
mehr persönlichen Daten sind ungebrochen. Das zeigen
die ersten Stellungnahmen nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, zum Beispiel die Stellungnahme von
Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
Deshalb will Bündnis 90/Die Grünen mit dem aktuellen Antrag verhindern, dass die gerade gestoppte Vorratsdatenspeicherung durch die EU-Hintertür wieder eingeführt und sogar noch ausgeweitet wird. Die Gefahr ist
real, und deshalb unterstützt die Linke den grünen Antrag.
Zu alledem muss man die Vorgeschichte kennen. Vor
sechs Jahren debattierte der Bundestag erstmals über die
Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsverbindungsdaten. Der Bundestag lehnte seinerzeit, also
2004, dieses Ansinnen mit klarer Mehrheit ab.
Dann begann Kapitel 2 der Geschichte. Die damalige
Bundesregierung stampfte in Brüssel so lange mit den
Füßen, bis die EU-Kommission die Vorratsdatenspeicherung verfügte, und zwar verbindlich für alle EU-Mitgliedstaaten. Das war 2006.
Kapitel 3 ist genauso schnell erzählt. Die damalige
Regierungskoalition, wieder bestehend aus CDU/CSU
und SPD, beschloss 2007 im Bundestag die noch kurz
zuvor einhellig abgelehnte Vorratsdatenspeicherung.
Man berief sich dabei auf die Europäische Union, quasi
auf einen höheren Notstand.
Kapitel 4 und 5 waren von der CDU/CSU und von der
SPD so nicht erwartet worden. Erst formierte sich unter
dem Kürzel „Vorratsdatenspeicherung“ eine bundesweite Bürgerrechtsbewegung. Sie drohte obendrein mit
Massenklagen beim Bundesverfassungsgericht. Dann
entschied das Bundesverfassungsgericht nach einer
Klage gegen den EU-Vertrag von Lissabon, dass EURecht mitnichten deutsches Recht breche, jedenfalls
nicht, wenn dies gegen das Grundgesetz verstoße. Das
war 2009. Erfolgreich geklagt hatte übrigens die Linke.
Kapitel 6 fand am 2. März 2010 ein vorläufiges Ende.
In seinem Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht
die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für verfassungswidrig und das entsprechende Gesetz für null und nichtig.
Umgehend folgte Kapitel 7. Während die einen das
Urteil des Verfassungsgerichts als Erfolg für den Rechtsstaat priesen, bliesen die anderen sofort zur nächsten Attacke. Und wieder droht der Trick aus Kapitel 2, nämlich
der Umweg über die EU-Instanzen.
Deshalb möchte ich anmerken: Wer unentwegt nach
Wegen sucht, verbriefte Bürgerrechte auszuhebeln, der
missachtet die Bürgerinnen und Bürger, gefährdet die
Demokratie und lanciert die Europäische Union in eine
zwielichtige, bürgerferne Ecke. Ich halte das für gefährlich.
({2})
Nun fordert der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
- ich zitiere: Die Bundesregierung möge auf der europäischen
Ebene Vorhaben, die Vorratsdatenspeicherungen
vorsehen, energisch … entgegentreten.
Ich hätte in diesem Antrag gern ein Wörtchen mehr,
nämlich „alle“ Vorhaben. Stichworte wie ELENA, elektronischer Personalausweis oder elektronische Gesundheitskarte gehören dazu. Deshalb fordert die Linke im
Übrigen immer noch ein Moratorium für all diese elektronischen Großprojekte.
Danke.
({3})
Das Wort hat nun Wolfgang Wieland für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der
Haushaltsdebatte vergangene Woche wurde ich aus den
Reihen der Union von den Kollegen Brandt und
Binninger kritisiert: Immer nur auf die FDP einschlagen
- wo bleiben eigentlich wir? - Das war offenbar eine gefühlte Missachtung durch Nichterwähnung. Ich will sie
heute wieder gutmachen.
({0})
In der Tradition meiner Fraktionsvorsitzenden, die
diese Woche schon Richard von Weizsäcker gelobt hat,
will ich herausragende Konservative loben. Da ist zum
einen Ernst Benda, seinerzeit Bundesinnenminister und
von mir noch Bunker-Benda genannt, weil es die Zeit
der Notstandsgesetzgebung war. Später hat er uns als
Präsident des Bundesverfassungsgerichts alle mit dem
wegweisenden Volkszählungsurteil überrascht, das das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung erstmals
festgeschrieben hat und den schönen Satz enthielt, dass
es keine Vorratsdatensammlungen ins Blaue geben
dürfe. Wir bleiben bei diesem Satz. Das ist unsere grundsätzliche Haltung geblieben. Das war so unter Rot-Grün,
Herr Kollege Heveling. Otto Schily hat sich unter RotGrün nicht durchgesetzt. Deswegen haben wir die Beschlüsse, die die Kollegin Pau zitiert hat, hier im Plenum
mit Mehrheit gefasst. Wir wollen keine Vorratsdatenspeicherung. Aus eigenem Erleben sagen wir: Wir wollen sie erst recht nicht auf dem Umweg über Brüssel.
Dabei bleibt es.
({1})
Aber es gibt noch mehr Persönlichkeiten. Roman
Herzog schuf als Gerichtspräsident die Brokdorf-Entscheidung, und last, but not least hat Hans-Jürgen Papier
das gemacht, was Jutta Limbach die permanente „verfassungsgerichtliche Nachhilfe“ nennt. Das bezog sich auf
die Rasterfahndung, den großen Lauschangriff,
({2})
die Onlinedurchsuchung - danke, Herr Kollege Stadler.
Wir waren immer dagegen.
({3})
- Es ist doch nett, wenn ein Parlamentarischer Staatssekretär an seine gute Vergangenheit als Bürgerrechtler
auch dann denkt, wenn er auf der Regierungsbank ist. Zum Schluss ist die Vorratsdatenspeicherung zu nennen.
Sie haben nicht etwa gesagt, das seien starke Urteile
durch starke Richterpersönlichkeiten, sondern Sie haben
gestöhnt und den Untergang der Rechtsordnung und das
Ende der Strafverfolgung vorausgesagt - so auch beim
letzten Urteil; Beispiele wurden genannt. Der Innenausschussvorsitzende Bosbach hat sogar behauptet, Stalking
könne nun nicht mehr verfolgt werden. Dies ist ein absoluter Unsinn. Das ist Ihre Methode.
({4})
Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben
leider noch nicht gelernt - da sind Sie in gewisser Weise
unbelehrbar -, dass es nicht nur Sicherheit durch den
Staat, sondern auch Sicherheit vor dem Staat geben
muss. Bei Ihnen geht es immer nur in Richtung Verschärfung. Es gibt keine Sättigungsgrenzen bei Ihren
Kampagnen mit der Angst und der inneren Sicherheit.
Weil uns die Kollegin Piltz zur Sesamstraße geführt hat,
sage ich Ihnen: Wie das Krümelmonster nach Keksen
ruft, so rufen Sie ständig nach neuen Gesetzen. Das ist
unersättlich, das ist unerträglich. Das waren die wahren
Worte zur CDU/CSU, die Sie angefordert hatten.
({5})
Wir geben natürlich zu, Frau Kollegin Piltz, dass man
es mit diesem Koalitionspartner schwer hat. Aber es war
doch Ihre Traumhochzeit. Sie wussten doch aus der Nahbeobachtung über Jahre, mit wem Sie da zusammengehen.
({6})
Dennoch haben Sie keinen Ehevertrag mit Nägel und
Köpfen gemacht, sondern eine völlig schwammige Vereinbarung getroffen, die so war, dass der Innenminister
- gerade 14 Tage im Amt - auf der Herbsttagung des
BKA erklärte - ich zitiere den Behörden Spiegel, der nun
wirklich kein linksradikales Blatt ist -:
Das Wichtigste fürs BKA kam zum Schluss. Die
Neuregelung des BKA-Gesetzes bleibt in allen
Punkten bestehen. Damit kriege die Polizei, so
de Maizière, was sie brauche.
Ich stelle fest: Es gibt 100 Prüfaufträge in Ihrer Koalitionsvereinbarung und einen Minister, der sagt: „Das alles gilt überhaupt nicht.“ Letzte Woche wurde hier eine
Evaluierung angekündigt. Die Evaluierungscrew rings
um Eckart Werthebach wurde auf dieser Tagung des
BKA offenbar spontan zusammengestellt. Keine bürgerrechtliche Komponente und keine Wissenschaftskomponente sind vorgesehen. Dies alles, auch die Evaluierung,
ist doch eine Farce. Auch wie Sie sich hier behandeln
lassen, ist eine Farce.
({7})
Sie, liebe Frau Piltz, sind - das wissen wir - ein großer Fan von Düsseldorfer Vereinen. Deswegen sage ich
in der Sprache der Fans: Wir erwarten nicht viel; aber
wir wollen Sie wenigstens kämpfen sehen.
({8})
Das Gleiche gilt für das Gesetz zu Internetsperren im
Zusammenhang mit Kinderpornografie.
({9})
- Hören Sie doch mal zu. - Sie schreiben in Ihrer Koalitionsvereinbarung, das Gesetz werde ein Jahr lang aus3344
gesetzt. Im Januar dieses Jahres schreibt das Haus
de Maizière im Zusammenhang mit dem Haushalt 2010
an das Parlament - ich zitiere -:
Aufgrund der besonderen Bedeutung des Internets
in diesem Deliktsbereich beschreitet das BKA in
der Umsetzung des sogenannten Access Blocking
einen in Deutschland bislang nicht verfolgten Bekämpfungsansatz.
Das heißt, im BKA und im Innenministerium ist nicht
angekommen, dass Sie das Gesetz angeblich gestoppt
haben. Schon die zweite Reihe der Abgeordneten - Kollege Wellenreuther oder wer auch immer - sagt, ein Jahr
sei Ruhe, dann wolle man es aufs Neue haben. Von daher
sage ich: Sie kannten Ihren schwierigen Partner. Sie hätten ganz anders mit ihm verhandeln müssen. Dann hätten Sie ganz andere Dinge vorzuweisen als das, was bisher vorgelegt wurde.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ein Letztes, Herr Präsident.
Sie wollen ja keine Ratschläge hören, wie Sie vorhin
gesagt haben. Ich gebe Ihnen dennoch einen; so nett bin
ich. Mein Rat zum Schluss: Speichern Sie auf Vorrat Besonnenheit und Vernunft. Aber hören Sie auf mit der
Vorratsdatenspeicherung.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Kollegin Piltz kann ich nach eigenem
Bekunden nicht nur in der Ausschussdiskussion, sondern
auch sonst im Parlament sehr wohl bestätigen, dass sie
zum Kämpfen nicht nur bereit ist, sondern dies auch tut,
wenn es um ihre Themen und ihre Ansätze geht.
({0})
Insofern, Herr Wieland, besteht auch an dieser Stelle
keine Notwendigkeit zur Nachhilfe.
Wenn man allein den Titel des Antrages „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ liest,
dann wird klar, dass wir noch eine Flut von Anträgen aus
dieser Ecke zu erwarten haben. Ich warte noch immer
gespannt auf einen Antrag „Keine Sozialistische Internationale auf dem Umweg über Europa“ und bin gespannt,
zu sehen, wie die Grünen einen solchen Antrag begründen werden.
Leider Gottes muss man immer wieder das Prinzip
der pädagogischen Wiederholung anwenden. Man muss
folgende Tatsche immer wieder betonen - ich hoffe, wir
können wenigstens das festhalten -: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nicht
gänzlich für verfassungswidrig erklärt. Das ist der erste
Punkt, den wir festhalten müssen.
Beim zweiten Punkt müssen wir etwas genauer hinsehen. Sie versuchen immer wieder, den Eindruck zu erwecken - Herr Wieland, das nehme ich Ihnen fast persönlich übel -,
({1})
der Staat würde diese Daten sammeln.
({2})
Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, sondern Sie behaupten das wider besseres Wissen. Diese Daten werden
nicht vom Staat gesammelt. Sie fallen ohnehin an. Das
muss man deutlich sagen.
({3})
Von daher ist der Denkansatz im Antrag der Grünen verkehrt, weil davon ausgegangen wird, dass alle Menschen
unter Generalverdacht gestellt werden. Das ist definitiv
nicht der Fall.
({4})
Diese Daten sind ohnehin vorhanden. Es geht also nicht
darum, die Menschen unter Verdacht zu stellen. Ich bitte
Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
Über den Umgang mit Sicherheitslücken haben wir
uns schon ausgetauscht. Ich glaube, man sollte das eine
oder andere Beispiel noch einmal anführen. Frau Kollegin Piltz, in einer Koalition kann man gerne auch mal
unterschiedlicher Auffassung sein, beispielsweise bei
der Frage des dringenden Bedarfs. In dieser Hinsicht
brauchen wir von der SPD keine Nachhilfe. Denn das,
was die Koalition aufgrund dieses Diskurses aushalten
muss, erlebt die SPD innerhalb ihrer eigenen Reihen. Ihr
braucht also keinen anderen dazu, um etwas aushalten zu
müssen.
Reden Sie mit dem BKA, dann wissen Sie, um welche Beispiele es geht. Es geht beispielsweise darum,
dass sich Pädophile im Chat damit brüsten, dass sie Wochenende für Wochenende ihre minderjährigen Kinder
missbrauchen. Unter der Woche ist das BKA nicht in der
Lage, auf die Daten zurückzugreifen, um dagegen einzuschreiten, weil die Daten nicht mehr vorhanden sind.
Dem wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalb
brauchen wir eine verfassungsgemäße Umsetzung der
Vorratsdatenspeicherung. Ich bin der Überzeugung, wir
können und werden das auch tun. Es ist nun einmal eine
Tatsache, dass eine Sicherheitslücke besteht.
({5})
Ich bin schon immer ein Verfechter eines gesunden
Misstrauens gegenüber dem Staat gewesen. Natürlich
gibt es in dieser Hinsicht Sorgen und Ängste; denn wir
haben eine lange Tradition. Ich spiele damit zum Beispiel auf die Tradition der SED an. Seit Metternich mit
seinem Bespitzelungsstaat bis hin zur dunkelsten Geschichte der DDR gilt: Es ist richtig, vorsichtig zu sein
und ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat zu
haben und sich zu fragen, ob er eventuell zu viel Informationen hat und wofür er sie eigentlich braucht.
({6})
Im Ergebnis geht es darum, die Interessen abzuwägen, nämlich die Wahrnehmung von Strafverfolgung auf
der einen Seite und der Garantiepflicht des Staates auf
der anderen Seite.
({7})
Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass der Staat ihn
bestmöglich schützt. Deshalb kommt es darauf an, dass
wir bei dieser Frage mit Augenmaß, aber auch zügig
handeln. Wir können auf den Innenminister verweisen.
Er will entsprechende Regelungen zeitnah auf den Weg
bringen und umsetzen. Ich bitte dringend darum, dass
wir nicht dieses diffuse Gefühl der Überwachung und
der ständigen Sammelwut des Staates bedienen, nur weil
es im Augenblick ins parteipolitische Kalkül passt. Das
ist der falsche Weg.
({8})
- Herr Montag, zu Ihnen komme ich noch, keine Angst.
Gemäß dem pädagogischen Prinzip der Wiederholung
stelle ich Folgendes fest: Wir haben Sicherheitslücken.
Ich bitte Sie, es nicht nur dem BKA, sondern auch den
jeweiligen Fraktionen zu überlassen, sich mit dieser
Frage zügig zu beschäftigen, damit die Defizite behoben
werden können.
Es reizt mich, noch eine Bemerkung zum Thema
„Sperren und Löschen“ zu machen. Herr Kollege
Montag, Sie sagen, dass man dem BKA-Präsidenten deshalb nicht trauen darf, weil er sich früher für das Sperren
von Internetseiten ausgesprochen hat. Für die Union
kann ich sagen: Weil es um kinderpornografische Seiten,
um Straftaten höchsten Ausmaßes geht, werden wir alles
tun, was in unserer Macht steht, um solche Straftaten zu
verhindern, egal auf welchem Weg.
({9})
Wenn das durch eine Sperre erreicht werden kann, dann
sperren wir eben. Wenn wir das durch Löschen erreichen, dann löschen wir.
Herr Montag, Sie sagen, Sie wollen nicht sperren. Das
erinnert mich an das Beispiel der roten Ampel. Eine rote
Ampel kann man auch überfahren. Sie soll aber davor
warnen, dass man, wenn man sie überfährt, eine Ordnungswidrigkeit, eine Straftat begeht. Ich halte diesen
Vergleich für absolut stichhaltig.
({10})
Im Ergebnis kann ich nur sagen: Wir haben den Auftrag, das zu tun, was in unserer Macht steht, damit wir
solchen Straftaten begegnen können. Das ist bei der
Frage der Sperrung und bei der Frage der Vorratsdatenspeicherung so. Wir wollen den Staat nicht in die Lage
versetzen, alles und jeden zu überwachen, im Gegenteil.
Aber dort, wo Daten ohnehin anfallen, sollten wir sie effektiv ausnutzen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Eva Högl für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Piltz, Sie haben Ihre Redezeit mit Beschimpfungen
und alten Hüten gefüllt. Wir wollten aber von Ihnen hören, was Sie zu tun gedenken,
({0})
was Sie in Sachen Vorratsdatenspeicherung vertreten.
Frau Kollegin, dazu habe ich leider, obwohl Sie sehr
lange gesprochen haben, kein einziges Wort gehört.
({1})
- Da muss ich durch, sagen Sie. Das finde ich einigermaßen interessant. Sie regieren, und ich muss da durch,
dass Sie keine Konzepte haben.
({2})
- Da müssen wir alle durch. Auch die Bürgerinnen und
Bürger in Deutschland und in Europa müssen da durch,
dass Sie keine Konzepte haben.
Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie analysieren erst
einmal und warten ab, was aus Europa kommt.
({3})
Das ist zu wenig. Wir wollen hier in Deutschland über
Ihre Konzepte diskutieren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen über ein deutsches Gesetz geurteilt.
Sie haben dagegen geklagt, und deswegen sind Sie jetzt
gefordert.
Trotz des desaströsen Auftretens der Koalition bin ich
eine Optimistin; das will ich hier einmal zum Ausdruck
bringen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aber
auch die Gesamtlage in Europa bieten eine Chance, dass
Datenschutz und Bürgerrechte wieder eine größere Rolle
spielen.
({4})
Ich finde, wir sollten diese Chance jetzt ergreifen. Dass
es sie gibt, meine ich sehr ernst.
({5})
Ich bin sehr dankbar dafür, dass das unermüdliche
Engagement von Datenschützerinnen und Datenschützern, von engagierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern, aber auch von den Gerichten - Sie, Herr
Kollege Wieland, haben auch Konservative genannt, die
dabei waren - dazu beiträgt, dass Gesetze überprüft werden und wir zu einer guten Balance zwischen Bürgerrechten und den notwendigen Sicherheitsgesetzen kommen.
Ich will auf die Internetsperren und SWIFT zu sprechen kommen. Wir haben gezeigt, wie mit einer engagierten Auseinandersetzung die richtigen Akzente gesetzt werden können und die notwendige Balance
zwischen den Maßnahmen und der Wahrung der Bürgerrechte geschaffen werden kann. Das führt dazu, dass ich
optimistisch bin.
({6})
Es gibt noch einen anderen Grund, nämlich Europa.
Auch Europa fordert eine Neubewertung dieser Gesetze.
Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, zu einer Neubewertung zu kommen. Der Vertrag von Lissabon ist eine weitere Chance; denn er bietet eine hervorragende Grundlage für mehr Grundrechte und mehr Datenschutz.
Wir haben die Grundrechtecharta. Darüber wird viel
zu wenig diskutiert, und sie wird viel zu wenig beachtet.
Die Grundrechtecharta ermöglicht es, dass wir unsere
Gesetze und eben auch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung noch einmal überprüfen und vielleicht zu einer neuen Abwägung kommen.
Frau Kollegin Piltz und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Europa läuft nicht
von selbst. Auch eine Überprüfung durch die Europäische Kommission läuft nicht von selbst. Man muss sich
positionieren. Man muss Europa gestalten und sagen,
was man möchte. Man kann nicht einfach bis zum
Herbst warten und schauen, was aus Richtung Europa
kommt. Wir erwarten von Ihnen und der Bundesregierung, dass Sie sagen, was Sie in Europa gestalten wollen.
Ich will in diesem Zusammenhang noch einen Satz zu
Europa und zu den Parlamenten sagen - auch das halte
ich für wichtig -: Der Vertrag von Lissabon stärkt die
Parlamente. Darüber haben wir hier im Deutschen Bundestag schon öfter diskutiert. Darüber sind wir auch sehr
froh. Das Europäische Parlament hat uns vorgemacht,
nämlich bei der Abstimmung über SWIFT, wie man die
Rechte des Parlaments nutzt, wie man sich deutlich äußert und klar Position bezieht. Daran können wir uns
hier im Deutschen Bundestag ein Beispiel nehmen. Ich
finde - das sage ich als Europapolitikerin -, wenn wir
klare Akzente bei Bürgerrechten, Datenschutz und
Grundrechten setzen, dann tragen wir dazu bei, dass Europa von den Bürgerinnen und Bürgern besser akzeptiert
wird, dass es positiv bewertet wird, weil auf der europäischen Ebene Bürgerrechte nicht wie ein Stiefkind behandelt werden, sondern der zentrale Maßstab für unsere
Politik sind.
Ich sage es noch einmal: Jetzt ist die Bundesregierung
gefragt. Ich habe eben schon gesagt, dass ich Optimistin
bin, dass es jetzt ein Zeitfenster und eine Chance für
mehr Bürgerrechte gibt. Ich bin aber keinesfalls optimistisch, wenn ich auf die Politik der Koalitionsfraktionen
und der Bundesregierung schaue. Da bin ich sehr skeptisch.
Die Bundesjustizministerin - Sie ist heute leider nicht
da ({7})
- genau, das ist auch richtig; Herr Staatssekretär, Sie sind
ja da - betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie
wichtig ihr Bürgerrechte sind. Aber wir brauchen Taten.
Wir lesen Sonntagsreden und Presseerklärungen, aber Taten haben wir bisher nicht gesehen. Ich sehe nicht - auch
das muss ich sagen -, dass sich die Justizministerin in der
Koalition durchsetzen kann. Kollege Reichenbach hat
dargelegt, was die FDP und die Justizministerin vertreten
bzw. was CDU/CSU und der Innenminister vertreten. Das
passt nicht zusammen; das konnten wir heute in der Debatte wieder sehen. Sie haben sich ja sogar beklagt, dass
Ihr Koalitionspartner nicht applaudiert, wenn Sie zu dem
Thema reden und sogar den Minister zitieren.
({8})
Wir konnten auch beim SWIFT-Abkommen beobachten, dass sich die Justizministerin leider nicht durchsetzen konnte und dass Bürgerrechte nicht großgeschrieben
werden.
({9})
Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Herr Kollege
Ahrendt, Sie haben gesagt - ich sehe ihn gerade nicht,
ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist -: Wir haben die
Richtlinie nicht gewollt. Sie haben gegen das deutsche
Gesetz geklagt. Sie haben jetzt die Chance, zu handeln.
Wir werden ganz gespannt verfolgen, wie Sie handeln.
Wir werden auch hier im Deutschen Bundestag weiter
engagiert darüber diskutieren.
({10})
Wir als SPD werden Sorge dafür tragen, dass Bürgerrechte und Datenschutz großgeschrieben werden, und
das nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der europäischen Ebene.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Am Ende der Debatte kann man feststellen - das wird
niemanden überraschen -, dass zwischen uns, zwischen
den einzelnen Fraktionen, große Unterschiede und zwischen den Regierungsfraktionen vielleicht kleine Unterschiede bestehen. Das ist aber nichts Neues. Eines würde
ich mir für die Zukunft wünschen: Bei diesem Thema
- kein Redner der Opposition hat sie in dieser Debatte
auch nur einmal erwähnt - müssen wir auch über die Opfer reden, um die es geht, wenn wir Straftaten aufklären
und verhindern wollen. Sie haben unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir müssen auch sie betrachten und dürfen
nicht so tun, als ob es sie nicht gibt.
({0})
Die Freiheit im Internet und auch alles andere Positive, was das Internet bietet, sind wichtig. Sie tun gerade
so, als ob die Vorratsdatenspeicherung ein Selbstzweck
wäre. Das ist sie nicht. Ich will darauf hinweisen, dass
große Teile der Bevölkerung von Ihnen ein Stück weit
verunsichert werden
({1})
mit der unterschwelligen Mutmaßung, dass der Staat
diese Daten speichert. Der Staat speichert überhaupt
keine Daten.
({2})
Diese Daten fallen, ob mit oder ohne Gesetz, bei den Telefonanbietern und bei den Internetprovidern an. Sie fallen in jedem Fall, auch heute ohne Gesetz, an. In dem
entsprechenden Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war
vorgesehen, die Anbieter zu verpflichten, die Daten einheitlich zu speichern
({3})
und nicht nach einem Tag, einer Woche oder drei Monaten zu löschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war.
({4})
Nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für
Straftaten und Gefahren darf der Staat unter Hinzuziehung eines Richters auf die Daten zugreifen.
({5})
Ich finde, das ist ein kolossaler Unterschied zu dem Bild,
das Sie hier zeichnen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Jederzeit. Ich hatte eigentlich mit Kollegen Wieland
gerechnet, aber ich akzeptiere auch Zwischenfragen von
anderen Grünen.
Danke sehr, Herr Präsident, und Dank auch an Sie,
Herr Kollege Binninger. - Sie haben hier zu Recht angesprochen, dass die Daten nicht beim Staat gespeichert
werden; das hat auch nie jemand behauptet. Wir sagen
immer: Der Staat lässt speichern. Dem werden Sie ja
nicht widersprechen.
Sie haben gerade gesagt, bei der Vorratsdatenspeicherung seien sowieso nur die Daten gespeichert worden,
die angefallen sind. In dem Zusammenhang frage ich
Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es
im Rahmen der Beratungen eines Gesetzentwurfs in der
letzten Legislaturperiode - auch da waren Sie in Regierungsverantwortung - um die Frage ging: Wie regeln wir
die Kosten, die die Unternehmen durch die Vorratsdatenspeicherung haben? Dazu hatte der Rechtsausschuss eine
Sachverständigenanhörung durchgeführt. Dabei waren
Vertreter aller großen, aber auch kleinerer Firmen, die
zur Speicherung von Daten verpflichtet sind. Ich habe
sie alle persönlich gefragt: Stimmt die Behauptung, dass
Sie jetzt verpflichtet sind, die Daten, die sowieso bei Ihnen anfallen, zu speichern? - Alle haben mir gesagt
- das steht auch so im Protokoll -: Das ist falsch. Wir
müssen nach den Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung viel mehr Daten und viel länger speichern, sogar
solche Daten, die bei uns überhaupt nicht anfallen würden, wenn wir keine entsprechenden Routinen und Programme einführen würden.
({0})
Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Bundestag längst darüber informiert ist,
dass es nicht stimmt, dass nur die Daten, die sowieso angefallen sind, gespeichert worden sind?
({1})
Herr Kollege Montag, ich bin nicht bereit, das zur
Kenntnis zu nehmen. Ich habe gesagt - wenn Sie mir genau zugehört hätten, wüssten Sie das -: Daten, die beim
Betrieb anfallen. Es ist richtig, dass viele Provider angesichts der technischen Entwicklungen und auch der Einführung von Flatrates gesagt haben: Daten, die wir früher
gebraucht haben, zum Beispiel für Rechnungen - damals
hat sich übrigens niemand gestört oder verfolgt gefühlt,
dass alle möglichen Daten für drei, vier, fünf, sechs Monate zur Ermittlung von Tarifmodellen gespeichert wurden -,
({0})
brauchen wir heute zum Teil nicht mehr, weil wir Flatrates eingeführt haben. - Beim Betrieb fallen diese Daten
trotzdem an, auch wenn sie von vielen Providern sofort
gelöscht werden.
Insofern ist das für uns keine Veranlassung, zu sagen:
Ihr müsst jetzt neue Daten, die beim Betrieb nicht anfallen würden, generieren und uns bereitstellen. Hier geht
es um Daten, die beim Betrieb von Telekommunikationsnetzen, bei der Nutzung von E-Mail und Internet
anfallen. Ich bestreite nicht, dass viele Provider sagen:
„Wir brauchen diese Daten nicht“ und sie sofort löschen.
Aber beim Betrieb fallen diese Daten, wie gesagt, an.
Was wir in diesem Hause brauchen, ist ein gemeinsames Verständnis. Die Internettechnologie schreitet immer
weiter voran, und jeder von uns hat einen Bezug zu diesem Medium. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das Internet - trotz all seiner positiven Eigenschaften und bei der Freiheit im Internet, die wir wollen leider auch ein Tatraum ist, in dem bestimmte Straftaten
begangen werden.
Da wir für die Arbeit der Sicherheitsbehörden verantwortlich sind, müssen wir ihnen die Instrumente an die
Hand geben, die sie brauchen, um bei schweren Straftaten im Internet zu ermitteln. Das muss der Konsens sein,
auf dessen Grundlage wir über dieses Thema diskutieren. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Es ist leider immer noch nicht der Kollege Wieland,
aber ich gestatte auch dem Kollegen von Notz eine Zwischenfrage.
({0})
Herrn Wieland heben wir uns bis ganz zum Schluss
auf. - Vielen Dank, Herr Präsident.
Herr Kollege Binninger, was sagen Sie zu den bemerkenswerten Zahlen der Kriminalitätsstatistik, die belegen, dass Straftaten im Internet zu über 80 Prozent aufgeklärt werden, während Straftaten in der realen Welt
- so nenne ich sie einmal - nur zu 55 Prozent aufgeklärt
werden? Da Kindesmissbrauch - weil dieses Beispiel
gleich bestimmt wieder angeführt wird, füge ich das
hinzu - in der realen Welt stattfindet, frage ich Sie: Warum verspüren Sie nicht einen enormen Antrieb, auch in
der realen Welt auf eine effektivere Strafverfolgung hinzuwirken?
Wir Grüne wünschen uns auch in der realen Welt eine
effektivere Strafverfolgung. Da Sie gerade von einem
Tatraum Internet gesprochen haben, muss ich Ihnen sagen: Die Verfolgung von Straftaten, die im Internet begangen wurden, ist hochgradig effektiv. Das würden wir
uns auch für die reale Welt wünschen.
Herr Kollege von Notz, ich halte nichts davon, die
Strafverfolgung in der realen Welt und ihre Aufklärungsquote sowie die Strafverfolgung im Internet und ihre Aufklärungsquote gegeneinander aufzurechnen. Ich halte es
auch für einen denkbar schlechten Ansatz, im Hinblick
auf die Schwere von Straftaten Rechtsprinzipien wie Verhältnismäßigkeit und Ermessensreduzierung auf null, die
es im Polizeirecht gibt, mit betriebswirtschaftlichen
Kennzahlen - wie 80 und 55 Prozent - auszuhebeln. Ich
finde, das ist die falsche Auffassung.
Wir müssen die Straftaten, die geschehen, analysieren.
Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen - ich komme
nachher darauf zurück und nenne Ihnen dann ein ganz
konkretes Beispiel -, dass im Internet schwere Straftaten
geschehen, die, weil die geeigneten Instrumente fehlen,
nicht mehr aufgeklärt werden können, dann darf uns
diese Erkenntnis nicht ruhen lassen, egal ob es um 5, 10
oder 15 Prozent der Straftaten geht. Das ist unsere Auffassung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Dissens
sollten wir uns in dieser Diskussion von zwei Fakten leiten lassen. Fakt eins: Das Bundesverfassungsgericht hat
nicht die Vorratsdatenspeicherung per se für verfassungswidrig erklärt; es hat lediglich kritisiert, dass die
konkrete Ausgestaltung verfassungswidrig ist. Fakt zwei:
Im Zeitalter des Internets und angesichts mehr Handyanschlüssen in Deutschland als Einwohnern und einer
zunehmenden Verbreitung des Internets ist die Vorratsdatenspeicherung eine Ermittlungsmethode, auf die die
Polizei, auf die die Sicherheitsbehörden nicht verzichten
können. Das sind die beiden Fakten, an denen wir uns
orientieren sollten.
({1})
Jetzt zwei Sätze zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wir haben dieses Urteil zu akzeptieren
und zu respektieren. Es ist unsere Pflicht, dieses Urteil
umzusetzen. Man darf aber gegenüber der Öffentlichkeit
darauf hinweisen, dass dieses Urteil nicht so einig gefällt
wurde, wie es uns die Gegner der Vorratsdatenspeicherung gern glauben machen würden: Zwei der acht Richter hatten ein abweichendes Votum, waren der Auffassung des Gesetzgebers.
In der Frage, ob das Gesetz für einen Übergangszeitraum noch angewandt werden soll oder vielmehr sofort
außer Kraft zu setzen ist, inklusive einer Löschung der
gespeicherten Daten, ging die Abstimmung denkbar
knapp aus: Vier Richter waren dafür, das Gesetz für eiClemens Binninger
nen Übergangszeitraum bestehen zu lassen, vier Richter
waren dagegen. Das muss man bei der Diskussion berücksichtigen. Man muss anerkennen, dass dieses Thema
zu schwierig ist, als dass auch nur eine Fraktion hier behaupten könnte, der Weisheit letzten Schluss zu haben.
({2})
Wenn wir das berücksichtigen, müssen wir uns fragen,
welche Auswirkungen das Urteil - das ist der Auftrag
für den Gesetzgeber - für die Praxis hat.
Wir können noch lange Gefechte führen, wer unter
Rot-Grün für alles zu haben war, was an Sicherheitsmaßnahmen beschlossen wurde. Ich bedanke mich, Kollege
Reichenbach, dass Sie zu dem, was wir in der Großen
Koalition beschlossen haben, stehen. Dass wir in der
christlich-liberalen Koalition jetzt eine Aufgabe haben,
die wir zu erfüllen haben, gehört auch dazu.
Wir sollten uns, wie schon gesagt, Gedanken machen,
was für Auswirkungen dieses Urteil in der Praxis hat.
Der Kollege Uhl hat hier letzte Woche in der Haushaltsdebatte einen dramatischen Fall von Kindesmissbrauch
geschildert. Da man die IP-Adressen jetzt nicht mehr ermitteln kann, hat die Polizei keine Handhabe gegen den
Täter, der sich im Internet mit dieser schrecklichen Tat
brüstet. An dieser Stelle haben Sie, Herr Kollege
Wieland - ich bekomme meine Zwischenfrage schon
noch -,
({3})
dazwischengerufen, dass beim Internet solche Möglichkeiten noch bestehen und dass wir das Urteil genau lesen
sollten.
Da ich weiß, dass Sie selten aus der Hüfte schießen,
habe ich das Urteil zu diesem Punkt noch einmal gelesen. Aber auch für diesen Teil des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung gilt die Nichtigkeit. Das heißt, alle gespeicherten Daten sind zu löschen, und es sind keine
Daten mehr zu speichern. Ich habe daraufhin bei einem
Praktiker angerufen und ihn gebeten, mir den Sachverhalt zu schildern.
({4})
- Sie dürfen, auch wenn der Präsident mir noch nichts
zugeflüstert hat.
({5})
Ich wollte, dass Sie genießen können, wie Herr
Wieland aufsteht und auf Sie reagiert. - Bitte schön,
Kollege Wieland.
({0})
Herr Kollege Binninger, schon um mir nicht wieder
den Missachtungsvorwurf einzuhandeln oder Ihnen gar
das Osterfest zu vermiesen, Clemens Binninger ({0}):
Das würden Sie nicht schaffen.
- frage ich jetzt: Ist Ihnen denn entgangen, dass ich
mir bei meiner Frage - der Kollege Uhl war schon weg;
der Kollege Grosse-Brömer brachte aber dasselbe Beispiel - sozusagen den Kopf der Sicherheitsseite zerbrochen habe?
Sie haben zu Recht gesagt, dass die Entscheidung
beim Bundesverfassungsgericht mit vier zu vier in dieser
Frage sehr umstritten war. Man muss aber auch einmal
sehen, dass immerhin die Hälfte der Richter die Art, wie
die Vorratsdatenspeicherung eingerichtet war - was an
Vorratsdaten gesammelt wurde und wie diese gespeichert wurden -, so daneben fand, dass sie den gravierenden Schritt gemacht haben, diese Regelung nicht einmal
für eine Übergangszeit in Kraft zu lassen.
In Ziffer 4 des Tenors des Urteils steht ausdrücklich:
Zu löschen sind die Telekommunikationsverkehrsdaten.
In der Begründung des Urteils wird aber ausführlich beschrieben, dass nach Ansicht des Gerichtes die IPAdressen nicht die Telekommunikationsverkehrsdaten
selbst seien. Ich gebe zu, das ist juristisch ein bisschen
schwierig. Ich gebe auch zu, dass mein Kollege Montag
das spontan nicht so sieht, wie ich es sehe.
Aber warum sperren Sie sich dagegen, dass man das
einmal abklopft - in der Spitze des BKA sitzen schließlich keine Juristen; die Juristen sitzen woanders und sollten auch hinzugezogen werden - und die Analyse durchgeführt hat, die die Kollegin Piltz angesprochen hat?
Man könnte ja mit den Diensteanbietern eventuell zu
dem Ergebnis zu kommen: Nicht alles muss gelöscht
werden. Die IP-Adressen kann man davon ausnehmen. Warum, so frage ich mich, wird das von Ihnen abgewehrt?
Wir sperren uns überhaupt nicht dagegen. Aber ich
will deutlich machen, dass es nach dem Urteil eine wirklich große Sicherheitslücke in diesem Bereich gibt. Ich
will - Sie dürfen sich gerne setzen, weil ich das sowieso
gebracht hätte - ein praktisches Beispiel schildern. Bei
aller juristischen Auslegung hilft es nichts, wenn es in
der Praxis anders aussieht. Ich habe in dieser Woche mit
einem Kollegen von der Polizei telefoniert, der spezieller Internetermittler ist, und ihn gefragt: Welche Auswirkungen hat das Urteil für Sie konkret in der Praxis? - Er
hat mir folgenden Fall geschildert und Auszüge aus Antworten der Provider vorgelesen. Dieses Beispiel muss
uns alle zutiefst erschrecken.
Er hat erzählt - dabei geht es gar nicht um Homepages -: Ein Straftäter, dessen Identität nicht bekannt ist,
stellt eine Datei mit kinderpornografischem Inhalt in ei3350
ner Tauschbörse ins Netz. Diese Datei wird von anderen
Straftätern heruntergeladen. Von dieser Person ist nur die
IP-Adresse bekannt. Daraufhin wendet sich die Polizei
an den Provider und sagt: Wir möchten wissen, wer zu
dem Zeitpunkt, als diese Datei mit kinderpornografischem Inhalt eingestellt wurde, unter dieser IP-Adresse
angemeldet war. - Von allen Providern kam unisono die
Antwort: Diese Daten haben wir schon gelöscht. Oder:
Wir sind nicht mehr verpflichtet, diese Daten zu speichern.
Es geht sogar noch weiter. Er sagte mir: Selbst wenn
Sie das Glück haben, dass diese Datei entdeckt wird,
während der Täter online ist, und damit in sehr kurzer
Zeit beim Provider anrufen und sagen können: „Der
Mann ist noch online. Wer verbirgt sich hinter dieser
Adresse?“, hängt es vom Zufall oder vom Goodwill der
Provider ab, ob es heißt: „Jawohl, diese Daten geben wir
Ihnen, weil das keine Speicherung ist“ oder ob es heißt:
„Wir haben keinerlei Pflicht, hier Auskünfte zu geben.“
({0})
Diesen Zustand können wir so nicht akzeptieren.
({1})
Herr Kollege Wieland, ich hoffe auf den Konsens aller Fraktionen,
({2})
dass wir gemeinsam sagen: Bei allem Dissens in der
grundsätzlichen Auffassung - Sie wollen gar keine Vorratsdatenspeicherung, auch nicht mit einer strengen Reglementierung, wir aber wollen sie und halten sie für notwendig - sind wir uns darin einig,
({3})
dass, wenn diese Information der einzige Ansatzpunkt
für die Polizei ist, einen Straftäter zu ermitteln,
({4})
die Provider die Daten nicht einfach löschen dürfen, sodass die Polizei kein wirksames Instrument in der Hand
hat. Das ist für unser aller Rechtsstaatsempfinden nicht
akzeptabel.
({5})
Jetzt noch ein Satz zu Europa. Tenor Ihres Antrages
ist es, dass Sie nichts auf der europäischen Ebene regeln
lassen wollen bzw. möglichen europäischen Regelungen
vorbeugen wollen. Andere weisen darauf hin, dass man
vielleicht die Bewertung auf europäischer Ebene abwarten sollte. Ich warne die Gegner einer Vorratsdatenspeicherung davor, darin zu hohe Erwartungen zu setzen. In
der Richtlinie steht schon - daher ist das nicht überraschend -, dass sie im September 2010 zu überprüfen ist.
Das gilt besonders für zwei Gesichtspunkte: Sind die
Daten, die man gespeichert hat, ausreichend, oder müssen es mehr oder weniger sein? Das ist jetzt meine Interpretation. Ist die Dauer der Speicherung, mindestens
sechs Monate, höchstens zwei Jahre, ausreichend, oder
müsste sie anders sein?
All das ist im Lichte der technischen Entwicklung zu
prüfen; denn diese schreitet voran. Daher können die
Anforderungen eher höher geschraubt werden. Wir sind
gut beraten, uns in diesem Hause mit diesem Thema zu
befassen, mit dem speziellen Problem der IP-Adressen
bei laufenden Ermittlungen vielleicht sogar noch vor der
Erarbeitung eines Gesetzentwurfs.
Ich will für mich und für meine Fraktion sagen: Wir
nehmen die Kritik der Gegner der Vorratsdatenspeicherung bzw. des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung
- es sind heute mehr Gegner als Befürworter im Saal ernst. Aber ich halte es nach wie vor für möglich, dass
wir zu einer Annäherung kommen, weil Freiheit und Sicherheit nicht zwei sich ausschließende Punkte sind,
sondern sich gegenseitig bedingen. Es muss aber auch
für beide Punkte Bedingungen geben. Deshalb sollten
wir, meine ich, die Gespräche nicht nur innerhalb der
Koalition führen, sondern auch mit all denen, die
Beschwerde geführt haben, damit wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Wir sind dazu bereit; das Angebot steht. Insofern hoffe ich, dass wir zügig vorankommen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1168 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Fairness in der Leiharbeit
- Drucksache 17/1155 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Elfter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes
- Drucksache 17/464 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Anette Kramme von der SPD-Fraktion das Wort.
Ich bitte aber vorher darum, liebe Kolleginnen und
Kollegen, die Gespräche hier vorne einzustellen. Kollege Ahrendt, hallo! Könnten Sie die Gespräche irgendwo weiter hinten im Plenarsaal fortsetzen?
Kollegin Kramme, jetzt haben Sie hoffentlich Gehör.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir wissen nicht erst seit dem Fall Schlecker,
dass Leiharbeit kein Zuckerschlecken ist: Da gibt es unerträgliche Niedriglöhne. In Forchheim arbeitet ein
Leiharbeitnehmer für 3,60 Euro brutto pro Stunde. Helfer verdienen 45 Prozent weniger als in anderen Branchen. Die Branche wird durch SGB-II-Zahlungen an
Leiharbeitnehmer in einer Größenordnung von 500 Millionen Euro dauersubventioniert.
Wir beobachten auch ständige Verstöße gegen das Arbeitsrecht: Da wird Urlaub nicht ordnungsgemäß genehmigt, da wird nicht ordnungsgemäß eingruppiert, da
werden Kündigungsfristen fehlerhaft berechnet. Vor allem werden Stammarbeitsplätze vernichtet, indem stattdessen Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Und die
Servicegesellschaften haben letztlich nur eine Funktion:
Tarifflucht und Lohndrückerei.
Darüber hinaus mussten wir feststellen, dass die Leiharbeit leider nur einen sehr eingeschränkten Beitrag zur
Reintegration von Arbeitslosen leistet. Die Arbeitsverhältnisse in der Leiharbeit dauern im Regelfall nicht länger als drei Monate. Der „Klebeeffekt“ wird durch das
IAB auf circa 15 Prozent geschätzt.
({0})
Auf den Punkt gebracht: Die Reform des Jahres 2003
hat sich nicht bewährt.
({1})
- Herr Kolb, der denkende Menschen ändert seine Meinung.
({2})
Vielleicht sollte das Herr Westerwelle auch im Hinblick
auf seine Reisepartner tun.
({3})
Der Geburtsfehler dieser Leiharbeitsreform besteht,
denke ich, vor allem in einem Punkt: Die Union hat gegen Rot-Grün durchgesetzt, dass in einem individuellen
Arbeitsvertrag durch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag vom Grundsatz Equal Pay
abgewichen werden darf. Es darf auf einen x-beliebigen
Tarifvertrag verwiesen werden. Das hat der CGZP, dieser vermeintlichen Gewerkschaft, Leben eingehaucht.
Dort sind Tarifverträge abgeschlossen worden, die nur
Arbeitgeber glücklich machen - und das ist kein Wunder. Wenn auf Arbeitnehmerinteressen und auf Gewerkschaftsmitglieder keine Rücksicht genommen werden
muss, dann kommt so etwas dabei heraus.
({4})
Dass sich der einzelne Leiharbeitnehmer nicht gegen die
Tarifvertragsgeltung per Arbeitsvertrag wehren kann, ist
klar, insbesondere wenn man weiß, dass im Bereich der
Leiharbeit vor allem Niedrigqualifizierte tätig sind. Ich
denke, wir alle hoffen in diesem Punkt auf das BAG. Wir
alle hoffen, dass der CGZP zumindest vorübergehend
das Handwerk gelegt wird, dass sie keine Handlungsmöglichkeiten mehr hat.
Aber die Union war nicht nur bei diesem Gesichtspunkt blind für die Probleme in der Leiharbeit. Die
Union hat sich leider auch gegen Mindestlöhne in der
Leiharbeit gestemmt. Jeder wusste, dass mit den Christlichen Gewerkschaften etwas nicht stimmt. Trotzdem hat
in den Verhandlungen der Mindestlohn-Kommission ein
Herr Brauksiepe süffisant erklärt, wir bräuchten keine
Mindestlöhne, die tarifvertragliche Absicherung sei
doch ganz wunderbar, man setze auf Tarifautonomie und das bei Tarifverträgen, die Löhne in Höhe von
4,50 Euro und Ähnliches vorsehen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, uns geht es
vor allen Dingen um Folgendes: Wir wollen die Leiharbeit nicht abschaffen, aber wir wollen sie auf ihre Kernfunktionen zurückführen. Es geht darum, Auftragsspitzen abzudecken. Wenn Arbeitnehmer fehlen, soll
Leiharbeit möglich sein. Dabei ist eines essenziell: Der
Grundsatz des Equal Pay muss uneingeschränkt gelten.
({5})
Wir verhindern damit das Interesse an Ausgliederung
von Beschäftigten in eine Entleihfirma. Warum sollte
man Beschäftigte ausgliedern, wenn die Arbeit dort genauso teuer ist? Außerdem erreichen wir damit eine faire
Bezahlung und tragen zur Verbesserung des Betriebsfriedens bei. In Bayreuth zum Beispiel arbeitet gegenwärtig
eine Krankenschwester nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, während eine andere Krankenschwester am selben Arbeitsplatz auf derselben Station
weniger verdient, weil sie nach einem Tarifvertrag für
Leiharbeit bezahlt wird. Dass die eine auf die andere
sauer ist, ist gut nachvollziehbar.
Darüber hinaus brauchen wir einen Mindestlohn, der
entleihfreie Zeiten absichert. Wir wollen den Betriebsräten ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumen. Das
Mitbestimmungsrecht soll den Umfang der Leiharbeit,
die Dauer des Einsatzes und die Einsatzbereiche regeln.
Wenn sich Betriebsrat und Arbeitgeber nicht einigen
können, dann entscheidet die Einigungsstelle. Ich bin der
festen Überzeugung, dass das zu betriebsnahen und individuellen Regelungen führt, die den Interessen sowohl
des Arbeitgebers als auch der Arbeitnehmer des Entleihbetriebes gerecht werden.
Der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik
Deutschland ist mittlerweile zu einem riesigen Problem
geworden, zu einem Problem, das Folgen für die soziale
Sicherheit in der Bundesrepublik und das gesamte soziale System hat. Wir brauchen nicht nur Regelungen zur
Eindämmung der Leiharbeit; notwendig sind auch Regelungen, die sich darauf beziehen, wie man mit der befristeten Arbeit, Praktikumsverhältnissen und Ähnlichem
umgeht.
Wir müssen uns vor allem auch damit befassen, ob
wir die Tarifvertragsparteien nicht dadurch stärken können, dass wir Allgemeinverbindlichkeitserklärungen erleichtern, sodass nicht eine Seite - in diesem Fall die Arbeitgeberseite - immer wieder blockieren kann.
In dem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Ich
hoffe, auch Sie kommen zu der Erkenntnis, dass in Sachen Leiharbeit essenziell etwas zu tun ist. Prüfen reicht
nicht; Handeln ist erforderlich.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär
Ralf Brauksiepe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Fähigkeit zur Selbstkritik steht uns Politikern sicherlich
gut an. Aber wenn es dazu führt, dass man das, was man
einst selbst in eigener Verantwortung eingeführt hat, auf
einmal in Bausch und Bogen verdammt, obwohl sich ein
differenziertes Bild der Beurteilung anböte, dann schießt
das sicherlich weit über das Ziel hinaus. Das ist ein Problem, das Sie, Frau Kollegin Kramme, glaube ich, deutlich gemacht haben.
({0})
Die Zeitarbeit bietet Chancen und Risiken.
({1})
Sie ist nicht in Bausch und Bogen zu verdammen.
Frau Kollegin Kramme, Sie müssten seit der letzten
Ausschusssitzung wissen, dass jemand, der sich zu weit
von der Wahrheit entfernt, befürchten muss, dass ich ihm
mit den Fakten komme.
({2})
Lassen Sie mich deswegen im Sinne der geschichtlichen
Wahrheit darauf hinweisen, was Sie auch im Elften Bericht der Bundesregierung zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nachlesen können. Die Regelungen, die die
Zeitarbeit betreffen, sind im Ersten Gesetz für moderne
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember
2002 festgelegt worden. Dieses Gesetz war im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig. Es hat auch unsere Zustimmung nicht gefunden.
({3})
Das Zweite Gesetz ist ebenso wie das Vierte Gesetz für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit unserer
Zustimmung im Bundesrat beschlossen worden.
Das Erste Gesetz war nicht zustimmungspflichtig.
Das haben Sie ganz allein gemacht. Der Bundesrat hat
Ihnen die Bedingungen nicht diktiert. Sie sollten wenigstens zu dem stehen, was Sie ganz allein gemacht haben.
Man wird hier doch wohl über Fakten berichten können.
({4})
Wer sich vorurteilsfrei mit der Branche der Zeitarbeit
auseinandersetzt, wird feststellen: Es gibt ein differenziertes Bild. Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dass der Aufbau von Zeitarbeit insbesondere in
Großbetrieben häufig mit einem Aufbau von Stammbeschäftigten oder zumindest mit einer konstanten Zahl
von Stammbeschäftigten einhergegangen ist. Die Behauptung, dass es zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen bei der Stammbelegschaft gekommen ist, ist
in Bezug auf die gesamte Branche sicherlich so nicht
richtig.
Wir sollten uns auch vor Augen führen, über welche
Dimensionen wir hier eigentlich reden. Ich sage das vor
dem Hintergrund dessen, was hier schon angeführt
wurde.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Heil?
Nein, heute mal nicht, Herr Präsident.
({0})
Ich finde es wichtig, den Zusammenhang darzustellen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Zeitarbeit weit
davon entfernt ist, zu einem prägenden Element unserer
Arbeitswelt zu werden. Wir hatten in der Spitze rund
800 000 Zeitarbeitnehmer. Diese Zahl ist in der Krise zurückgegangen. Wir sind froh, dass die Zeitarbeit schon
mit dem Beschäftigungsaufbau wieder begonnen hat.
Wir hoffen, dass alle anderen Branchen bald nachziehen
werden. Es gehört zu den Fakten, dass etwa 1,25 Promille der insgesamt Erwerbstätigen in der Zeitarbeit
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und zusätzlich Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt rund
600 000 Beschäftigte in der Branche. Knapp 10 Prozent
davon erhalten aufstockende Leistungen. Das heißt, rund
50 000 Beschäftigte, darunter sehr viele Teilzeitkräfte,
die zumeist aufgrund persönlicher Lebensumstände
nicht länger arbeiten können oder wollen, bekommen
zusätzlich Arbeitslosengeld II. Ich habe es schon an anderer Stelle gesagt: In manchen Lebenssituationen sind
1,25 Promille eine Menge und auch zu viel. Aber niemand wird sagen können, dass eine solche Zahl die Arbeitswelt in Deutschland prägt. Davon kann keine Rede
sein.
({1})
Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang über größere Zahlen zu reden. Wie gesagt, 1,25 Promille der
rund 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland - zum
Teil in Teilzeitarbeit - bekommen aufstockendes
Arbeitslosengeld II in der Zeitarbeit. Es waren nie mehr
als 2,6 Prozent aller Beschäftigten in der Zeitarbeitsbranche tätig. Ich möchte auf Folgendes hinweisen:
60,6 Prozent der Zeitarbeitnehmer waren zuvor entweder länger als zwölf Monate nicht beschäftigt oder kurzfristig nicht beschäftigt oder noch nie beschäftigt. Das
heißt, über 60 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeitsunternehmen Beschäftigung finden, waren vorher kurzfristig nicht, lange nicht oder noch nie beschäftigt. Der
überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit.
Auch das gehört zur Realität in Deutschland. Auch das
gehört zu den Chancen, die die Zeitarbeit bietet.
Herr Kollege, es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal von der Fraktion Die Linke.
Es wäre seltsam, wenn ich diese Zwischenfrage zuließe, nachdem ich eine Zwischenfrage der SPD nicht
zugelassen habe.
Okay.
Ich bringe lieber meine Argumentation zu Ende.
({0})
Ich will deutlich sagen: Da, wo Missbrauch vorliegt
- Missbrauchsfälle gibt es; darüber wurde bereits diskutiert; die Bundesarbeitministerin hat sich dazu deutlich
geäußert -, muss er bekämpft werden. Diese Bundesregierung wird sich bei der Bekämpfung von Missbrauch
von niemandem überbieten lassen.
({1})
Wir setzen aber weiterhin in erster Linie auf die Tarifvertragsparteien.
({2})
Die Entwicklung, die wir jetzt haben, ist doch gut und
richtig. Der Christliche Gewerkschaftsbund hat vor wenigen Wochen mit seinem Tarifpartner einen Tarifvertrag
abgeschlossen, der alle vom DGB in diesem Bereich abgeschlossenen Tarifverträge übertrifft. Mittlerweile hat
der DGB mit seinem Tarifpartner nachgezogen. Ich sage
ausdrücklich für die Bundesregierung: Diese Entwicklung begrüßen wir. Wir wollen keine Lohnspirale nach
unten. Es ist gut, wenn sich die Tarifvertragsparteien bei
den Löhnen nach oben überbieten.
({3})
Mit diesem Trend hat der Christliche Gewerkschaftsbund begonnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat
nachgezogen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir
schließen nicht aus, als Gesetzgeber zu handeln, wenn es
notwendig ist. Aber der Vorrang von tariflichen Lösungen gilt auch hier. Ich begrüße, dass wir bei den tariflichen Lösungen auf einem guten Weg sind.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist „Equal Pay
Day“, und von daher passt dieses Thema genau zu diesem Tag, weil es auch hier um gleichen Lohn für gleiche
Arbeit geht.
({0})
Ich persönlich finde es toll, dass die SPD mittlerweile
wieder von „Leiharbeit“ und nicht von „Zeitarbeit“
spricht, wie die Zeitarbeitsbranche das gerne hätte. Der
Betriebszweck von einem Leiharbeitsunternehmen ist
das Verleihen von Menschen, um selbst Gewinne zu machen. In Zeiten spätrömischer Dekadenz
({1})
war das Sklavenarbeit, im Feudalismus war das Leibeigenschaft, und im Kapitalismus ist das Leiharbeit.
Leiharbeit ist kein Problem, wenn sie gut bezahlt ist:
mit gleichem Geld für gleiche Arbeit und bei gleichen
Arbeitsbedingungen.
({2})
Zudem darf sie wirklich nur für Auftragsspitzen genutzt
werden. Das hat die SPD nach sieben Jahren nun endlich
als Geburtsfehler ihrer Reformpolitik erkannt. Herzlichen Glückwunsch!
({3})
In einer von der CDU - nicht von irgendjemandem,
sondern vom CDU-Arbeitsminister Laumann - in Auftrag gegebenen Studie wird für Nordrhein-Westfalen gesagt:
({4})
Ein Viertel der Entleihbetriebe nutze Leiharbeitnehmer
zur Verdrängung von Stammbelegschaften. Der Einkommensunterschied betrage bis zu 45 Prozent. - Ein Einstieg für Arbeitslose in Beschäftigung - das ist der sogenannte Klebeeffekt - ist die Leiharbeit auch nicht:
einmal Leiharbeitnehmer, immer Leiharbeitnehmer.
Wer leiharbeitet, ist mit einem Bruttolohn von
6,65 Euro im Osten und 7,60 Euro im Westen, wie dies
gerade für diesen Bereich in einem Tarifvertrag beschlossen wurde, oftmals arm trotz Arbeit.
({5})
Durch die Leiharbeit wird gute und faire Arbeit vernichtet.
({6})
Dies wurde durch die rot-grünen Hartz-Gesetze möglich.
Okay, man muss sich ja darüber freuen, dass die SPD
an dieser Stelle auch wieder zur Vernunft gekommen ist.
({7})
So fordern Sie beim Einsatz von Leiharbeit die Ausweitung der Mitbestimmung durch Betriebsräte über Dauer
und Umfang. Die Linke fordert dagegen ein zwingendes
Mitbestimmungsrecht über die Dauer, den Umfang und
das Ob der Leiharbeit.
({8})
Das Ob und die Möglichkeit, bei Nichteinigung die Einigungsstelle anzurufen, sind entscheidend.
Nichts Konkretes sagt die SPD zur Einsatzdauer in einem Betrieb. Die Linke sagt dagegen: höchstens drei
Monate, wie es früher im Gesetz stand. Um Auftragsspitzen abzudecken, sind drei Monate genug.
Der entscheidende Knackpunkt liegt bei der EqualPay-Forderung. Die SPD fordert, den Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ wieder ohne Ausnahme
gelten zu lassen. Die Gefahr einer Abweichung durch
Tarifverträge wäre also gebannt. Das wäre auch gut so.
Was macht aber die SPD jetzt nach sieben Jahren mit fatalen Ausnahmen? Sie fordert eine neue Ausnahme. Das
ist im Grunde unglaublich. So heißt es in dem Antrag,
dass der Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“
erst nach einer kurzen Einarbeitungszeit gelten soll. Ich
frage Sie: Was ist kurz?
In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
steht in Art. 23 Abs. 2 eindeutig:
Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen
Lohn für gleiche Arbeit.
({9})
Das ist der Maßstab der Linken.
Die schwarz-gelbe Politik schlägt dem Fass in diesem
Zusammenhang aus meiner Sicht den Boden aus. Sie
kennen nämlich nur Vorzüge der Leiharbeit. Die versprochene Prüfung des Lohndumpings - Fall Schlecker zieht sich nunmehr schon seit Monaten hin. Handlungsbedarf sieht die Regierung nur bei anderen. Sollen die
Gewerkschaften doch mit den Arbeitgebern eine Lösung
verhandeln! Damit sagt Schwarz-Gelb nichts anderes
als: „Lohndumping durch Leiharbeit: Weiter so!“; denn
durch das Gesetz wird Lohndumping legal. Das muss
geändert werden.
({10})
Die Linke will: gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und
das vom ersten Tag an, Begrenzung der Überlassungshöchstdauer auf drei Monate, starke betriebliche Mitbestimmung bei Leiharbeit und Bezahlung der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer mit einer
Flexibilitätsprämie von 10 Prozent.
({11})
Der Antrag der SPD ist zwar ein Schritt in die richtige
Richtung, aber eben nicht genug. Seien Sie sicher: Wir
werden versuchen, auch weiterhin Druck zu machen.
({12})
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Kollegin Kramme hat in ihrer Rede gesagt: Der denkende Mensch ändert seine Meinung.
({0})
Frau Kollegin Kramme, das halte ich nicht für zwingend.
Man kann ja auch nachdenken und zu dem Ergebnis
kommen, dass man bisher schon das Richtige gedacht
hat. Sehen Sie, so ist es mir bei der Vorbereitung meiner
Rede für den heutigen Tagesordnungspunkt gegangen.
Deswegen will ich Ihnen noch einmal in Erinnerung
rufen, welche Positionen die FDP in der aktuellen Diskussion um die Zeitarbeit vertritt:
Erstens. Zeitarbeit ist das wichtigste und erfolgreichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben. Mit keinem anderen Instrument ist es gelungen, so vielen Menschen, die zuvor langzeitarbeitslos waren, zu einem
neuen Arbeitsplatz zu verhelfen. Das sollten wir hier
doch einmal deutlich festhalten.
({1})
Weil das so ist, werden wir alles daransetzen, das Instrument der Zeitarbeit auch künftig nutzbar zu machen und
zu halten.
({2})
Zweitens. Die FDP-Fraktion ist gemeinsam mit den
Kollegen der Union entschlossen, dem Missbrauch der
Zeitarbeit entgegenzutreten. Das haben wir, Herr Kollege Schiewerling und ich, auch unverzüglich zu Beginn
des Jahres, als der Fall Schlecker bekannt wurde, getan,
ohne Wenn und Aber. Es ist nicht akzeptabel, wenn
Stammbelegschaften von Konzernen in Leihgesellschaften, wo die Konditionen günstiger sind, ausgelagert werden. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
({3})
Deswegen begrüßen wir drittens, dass es jetzt tarifvertragliche Regelungen gibt, mit denen genau dieses
ausgeschlossen wird, nämlich dass man von dem im
AÜG verankerten Grundsatz des Equal Pay abweichen
kann, wenn es sich um Unternehmen im Konzernverbund handelt. Der Tarifvertrag, den AMP jetzt geschlossen hat, geht genau in diese Richtung. Das halte ich für
richtungsweisend. Die Tarifpartner können zu dieser Debatte auch einen wichtigen Beitrag leisten, auf den wir
nicht verzichten sollten.
Viertens. Das Ministerium prüft - das ist auch eine
Folge der Debatte zu Beginn des Jahres - derzeit, wie
die Situation ist, wie viele Missbrauchsfälle es gibt und
was getan werden muss, um diese Missbräuche gegebenenfalls über das hinaus, was tarifvertraglich geregelt ist,
zu verhindern. Diesem Bericht sehen wir mit Interesse
entgegen. Wir werden dann gemeinsam mit den Kollegen der Union überlegen, wo gegebenenfalls gesetzgeberisches Handeln erforderlich ist.
Ich will Ihnen fünftens meine Position zum Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche hier nicht verschweigen.
Ich glaube, dass es in einer Branche, in der der Grundsatz des Equal Pay gilt, von dem nur durch tarifvertragliche Regelungen abgewichen werden kann, in der es also
eine hundertprozentige Tarifbindung gibt, keinen Sinn
macht, einen Mindestlohn einzuführen.
({4})
Das ist mein Argument zumindest hinsichtlich der aktuellen Lage.
Dann gibt es diejenigen, die schon vorauseilend sagen: Das könnte alles ganz schlimm werden, wenn ab
dem 1. Mai nächsten Jahres Freizügigkeit herrscht. - Ich
möchte für uns alle noch einmal darauf hinweisen, dass
die Branchen, in denen offensichtlich ein besonderer
Lohndruck besteht, im letzten Jahr Gelegenheit hatten,
sich für die Einführung von Mindestlöhnen starkzumachen. In einer Reihe von Branchen wurden ja auch schon
Mindestlohnregelungen eingeführt, die auch unmittelbar gelten würden, wenn Zeitarbeiter in diese Branchen
entsandt werden. Das heißt, würde ein Zeitarbeiter in
Deutschland im Bereich der Abfallwirtschaft eingesetzt,
würde der Mindestlohn Abfallwirtschaft notwendig zur
Anwendung kommen. Deswegen rate ich uns allen dazu,
so wie es auch der Präsident der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, getan
hat, hier ohne Zorn und Eifer ans Werk zu gehen und zu
beobachten, ob hier tatsächlich Verwerfungen auftreten.
Ich glaube auch mit Blick auf das, was wir heute an
Zahlen vorweisen können oder aktuell registrieren, zum
Beispiel die Aktivitäten polnischer Zeitarbeitsunternehmen in Deutschland oder den sehr geringen Anteil ausländischer Leiharbeiter, sagen zu können, dass sich die
Welt am 1. Mai 2011 nicht grundlegend verändern wird.
In diesem Sinne freue ich mich, Ihnen mitteilen zu
können: Das waren bisher meine Gedanken, das sind sie
weiterhin. Auch in künftigen Diskussionen werde ich
nicht anstehen, diese Position hier ein drittes, viertes
oder fünftes Mal zu vertreten.
Vielen Dank.
({5})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beate
Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat auch die SPD endlich einen
Antrag zur Leiharbeit vorgelegt. Rot-Grün hat die Liberalisierung in der Zeitarbeit zu verantworten; das wissen
wir. Schon lange fordern wir Grünen, dass die Fehler
korrigiert werden. Herr Brauksiepe, Selbstkritik gehört
für mich selbstverständlich auch in die Politik; denn sie
ist ein wichtiger Wert.
Die Leiharbeit muss endlich wieder zu einem verträglichen Instrument werden, das der Abfederung von Auftragsspitzen dient, nicht mehr und nicht weniger. Der
Antrag zeigt, dass auch die SPD mit der Vergangenheitsbewältigung begonnen hat. Er ist zwar an einigen Stellen
etwas vage, und er geht mir auch nicht weit genug, aber
zumindest stimmt die Richtung, und das ist gut so.
({0})
Der Elfte Bericht der Bundesregierung zur Leiharbeit
sollte eigentlich die Entwicklung in der Zeitarbeit beschreiben und soziale und beschäftigungspolitische Probleme aufdecken. Aber Fehlanzeige: Die Fakten werden
verharmlost; der wichtige IAB-Forschungsbericht, die
Laumann-Studie sowie kritische Stellungnahmen der
Agentur für Arbeit wurden in weiten Teilen gar nicht erst
aufgenommen. - Aber diese Fakten sind wichtig. Nur
8 Prozent der Erwerbslosen erhalten durch die Leiharbeit eine reguläre Beschäftigung. Das IAB spricht sogar davon, dass die Zeitarbeit eher eine Brücke in die
Zeitarbeit ist. Im Bericht der Bundesregierung steht - ich
zitiere -:
Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich
auch mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und
nicht in Arbeitslosigkeit.
Das stimmt einfach nicht. Das zeigt die zweifelhafte
Qualität des Berichts der Regierung.
({1})
Die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung hat zugenommen. Sogar die Bundesagentur für Arbeit warnt,
dass Dauerarbeitsplätze mit Zeitarbeitskräften besetzt
werden. Ein Blinder mit Krückstock sieht also, dass es
einen offensichtlichen Missbrauch in der Zeitarbeit gibt.
Herr Brauksiepe, es geht hier nicht nur um 2,6 Prozent
der Beschäftigten, sondern um Menschen. Ich finde, jeder einzelne Mensch muss wichtig sein.
({2})
Seit Wochen höre ich aus dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales aber nur, dass Gespräche geführt
werden und dass die Prüfung der Leiharbeitsbranche andauert. Ich frage mich: Wie viele Gespräche sind noch
nötig? Wie lange wollen Sie eigentlich noch prüfen?
Wenn Sie dem IAB nicht glauben, dann reden Sie doch
einmal mit Ihrem CDU-Kollegen Laumann aus NRW.
Am Wochenende hat die Ministerin die Branche aufgefordert, die Probleme endlich aus eigener Kraft zu lösen. Ich meine, gegen den Missbrauch in der Zeitarbeit
muss gesetzlich vorgegangen werden und nicht durch
die Branche selbst.
({3})
Fangen Sie endlich an, zu regieren! Notwendig ist, dass
der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchgesetzt wird, ebenso ein Mindestlohn für verleihfreie
Zeiten. Vor allem muss die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung verhindert werden. Das wäre verantwortungsbewusste Politik und eine klare Reaktion auf den
Missbrauch in der Zeitarbeit.
Aber vielleicht steckt die Regierung auch den Kopf in
den Sand, weil es wieder einmal Streit mit der FDP gibt.
Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die FDP bei diesem
Thema auf der Bremse steht, weil sie den Niedriglohnsektor weiter ausbauen möchte. Dazu passen auch Ihre
Äußerungen, Herr Kolb, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weniger verdienen sollten als das Stammpersonal.
({4})
Das haben Sie im Februar in einem Zeitungsinterview
gesagt.
({5})
Gibt es dafür ein einziges plausibles Argument? Meinen
Sie wirklich, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weniger wert sind? Mein Grundsatz ist, dass es keine Beschäftigten erster und zweiter Klasse geben darf.
({6})
Machen Sie endlich Politik für alle Bürgerinnen und
Bürger und sorgen Sie dafür, dass für alle Beschäftigten
Ihr Spruch gilt: Arbeit muss sich wieder lohnen.
Vor der Krise waren fast 800 000 Menschen in der
Zeitarbeit beschäftigt, obwohl jeder Achte zusätzlich
staatliche Leistung beantragen musste. Die Agentur für
Arbeit zahlt bereits eine halbe Milliarde Euro für Löhne
in der Zeitarbeit. Spätestens bei dieser Zahl, die aus dem
Arbeitsministerium stammt, müssten bei den Regierungsfraktionen alle Alarmglocken läuten.
Wollen Sie wirklich weiterhin Unternehmen auf diesem Weg subventionieren, obwohl sich die Zeitarbeit in
keinerlei Weise als arbeitsmarktpolitisches Instrument
bewährt hat? Ich appelliere an die Regierungsfraktionen:
Schauen Sie nicht weg! Wenn Sie nicht wollen, dass die
Zeitarbeit für bisher fair bezahltes Stammpersonal zum
Schleudersitz in den Hungerlohn und für Zeitarbeitskräfte zur Einbahnstraße in eine dauerhafte Niedriglohnfalle wird, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, zügig zu
handeln, statt ewig zu prüfen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister,
Werd ich nun nicht los.
So rief der Zauberlehrling bei Goethe entsetzt im Angesicht der Kräfte, die er entfesselt hatte. An diesen Zauberlehrling erinnern Sie mich, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD. Erschrocken weichen Sie vor dem
zurück, was Sie im Jahr 2002 gemeinsam mit den Grünen bei der Zeitarbeit auf den Weg gebracht haben. Aber
für Erschrecken und Entsetzen besteht kein Anlass; denn
Sie haben Ihr Gesellenstück abgeliefert.
Ein Blick zurück: 2002 hatte der rot-grüne Zauberlehrling unter Anleitung seines Meisters Peter Hartz
große Pläne für den Arbeitsmarkt. Millionen neuer Arbeitsplätze sollten entstehen. Das Herzstück war die Flexibilisierung der Zeitarbeit. So sollte eine Brücke aus
Arbeitslosigkeit in Beschäftigung gebaut werden. So
sollten insbesondere Geringqualifizierte eine Chance beHeike Brehmer
kommen. So sollten Unternehmen wettbewerbsfähiger
werden. Das, meine Damen und Herren von der SPD
und von den Grünen, waren Ihre Ziele - gute Ziele.
({0})
Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir gemeinsam feststellen: Die Ziele von damals sind erreicht worden.
({1})
Im letzten Aufschwung sind laut dem Institut der deutschen
Wirtschaft Köln über 1,4 Millionen neue Jobs entstanden,
davon übrigens 1,3 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Dieses deutsche Arbeitsmarktwunder hat zwar nicht ausschließlich, aber doch
auch mit den Reformen der Agenda 2010 zu tun. Dabei
hat Hartz I die Fesseln für die Zeitarbeit gelöst. Allein
hier hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten seit 2004 auf knapp 800 000 im Jahr 2008
fast verdoppelt. Ich finde das beachtlich. Das ist ein Beleg für erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie
sollten den Mut haben, sich darüber auch zu freuen. Offenbar aber genießt das Reformwerk bei Ihnen nicht das
höchste Ansehen.
({2})
Das gilt wohl vor allem für die Arbeitnehmerüberlassung. Sie fürchten sogar, die Reformen hätten die Lage
auf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. So weit wie bei
kaum einem anderen Thema liegen bei der Zeitarbeit
Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinander; ich muss
feststellen: leider auch bei Ihnen.
Sie behaupten: Stammbelegschaften werden durch
Leiharbeitnehmer ersetzt.
({3})
Tatsache ist aber, dass die Hälfte der Einsatzbetriebe das
Beschäftigungsniveau nicht verändert hat.
({4})
34 Prozent haben Beschäftigung aufgebaut, und nur
16 Prozent haben Beschäftigung abgebaut.
({5})
Entscheidend ist: Nur 2 Prozent der Betriebe haben
gleichzeitig Beschäftigung abgebaut und Zeitarbeit aufgebaut. Das ist laut einem Bericht der Bundesregierung
so.
Sie behaupten: Zeitarbeit wird immer weniger als Instrument zur Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzen
benutzt.
({6})
Tatsache ist aber, dass mehr als die Hälfte aller beendeten Zeitarbeitsverhältnisse weniger als drei Monate dauerte. Laut Bericht der Bundesregierung war nur jeder
Zehnte ohne Unterbrechung das ganze Jahr lang in der
Arbeitnehmerüberlassung tätig.
Sie behaupten: Zeitarbeit ist eine Variante prekärer
Beschäftigung. Tatsache ist aber, dass in Deutschland
knapp 800 000 Zeitarbeitnehmer sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, die Mehrheit von ihnen unbefristet.
({7})
- Ich betone es: sozialversicherungspflichtig und unbefristet beschäftigt. - Dabei handelt es sich im Übrigen
überwiegend um Arbeitskräfte, die vor Beginn des Zeitarbeitsverhältnisses nicht unmittelbar oder überhaupt
nicht beschäftigt waren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitte
erkennen Sie an, dass Zeitarbeit neue Jobs schafft, dass
sie Brücken in Arbeit baut und alles andere als prekär ist.
Frau Kollegin Brehmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?
Nein. - Wenn Sie in Ihrem Antrag also Fairness fordern, dann gehen Sie doch bitte mit gutem Beispiel voran. Beweisen Sie selbst Fairness, Fairness für die Zeitarbeit.
Zu dieser Fairness gehört, zu sagen, dass der Fall
Schlecker und die Zeitarbeit nichts, aber auch gar nichts
miteinander zu tun haben. Das Gebaren von Schlecker
und Konsorten ist ein Skandal. Da gibt es nichts zu beschönigen. Diese Leute betreiben Missbrauch auf dem
Rücken einer ganzen Zeitarbeitsbranche.
({0})
Ich bin deshalb froh, dass die Zeitarbeitsbranche inzwischen reagiert hat. Sowohl der Bundesverband Zeitarbeit
Personal-Dienstleistungen, BZA, als auch der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister, AMP,
haben gemeinsam mit den Gewerkschaften AntiSchlecker-Klauseln vereinbart. Der Fall Schlecker wird
sich deshalb nicht wiederholen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag behaupten Sie zwar, die Zeitarbeit nicht
abschaffen zu wollen. Würden wir die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen allerdings umsetzen, würde genau dies geschehen. Durch neue Beschränkungen der
Zeitarbeit würden den Unternehmen die notwendigen
Flexibilitätsreserven genommen und der Beschäftigungsmotor Zeitarbeit abgewürgt.
({2})
Am Ende hätten Sie damit nicht der Branche geschadet,
sondern dem Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt. Das wäre nicht nur nicht fair, sondern auch völlig
falsch.
({3})
Untauglich sind die in der Debatte immer wieder angeführten Vergleiche mit anderen Ländern. Das Arbeitsrecht funktioniert eben nicht nach dem CafeteriaPrinzip, bei dem Sie sich mal hier und mal da eine Kleinigkeit nehmen. Deshalb können Sie das französische
Agenturprinzip nicht mit dem deutschen Zeitarbeitsverhältnis vergleichen. Bei uns besteht zwischen Zeitarbeitsunternehmen und Zeitarbeitnehmer ein vollwertiges sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit
allen Schutzrechten wie Kündigungsschutz,
({4})
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüchen etc., von allen anderen arbeitsrechtlichen Regelungen ganz zu schweigen.
({5})
Nur aus einem Anlass werden wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in diesem Jahr noch einmal in den
Blick nehmen, und zwar vor dem Hintergrund der Herstellung der vollen Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus
den neuen EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas
ab Mai 2011. Diese Freizügigkeit darf nicht dazu führen,
dass durch den Einsatz ausländischer Zeitarbeitnehmer
die Zeitarbeitsbranche in Deutschland diskreditiert wird
und es zu sozialen Verwerfungen kommt.
({6})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Dies zu verhindern, ist der Zweck des ArbeitnehmerEntsendegesetzes. Deshalb kommt für uns auch eine
Aufnahme der Zeitarbeit in das Gesetz in Betracht. Voraussetzung dafür ist ein Mindestlohntarifvertrag der
Branche.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Kolb, Frau Brehmer, wir lernen aus Erfahrungen und ziehen die richtigen politischen Schlüsse für
die Beschäftigten. Das kann man leider nicht von allen
in diesem Haus sagen.
({0})
Frau Ministerin von der Leyen hat der Leiharbeitsbranche vor wenigen Tagen ein Ultimatum gesetzt,
Missbrauch aus eigener Kraft zu unterbinden. Toll, die
vielen schwarzen Schafe sollen sich also selbst weißwaschen. Falls sie das nicht in einigen Wochen oder Monaten - da bleibt die Ministerin ein bisschen unbestimmt schaffen, will die Ministerin zum Gesetzesknüppel greifen. Die Auswüchse bei der Leiharbeit sind allerdings
nicht erst in diesen Tagen vom Himmel gefallen. Es gab
sie schon lange vor dem Skandal der Drogeriekette
Schlecker, über den wir bereits im Januar hier debattiert
haben. Jetzt den Finger zu heben, den Tarifparteien zu
drohen und auf Freiwilligkeit zu setzen, ist nicht sehr
überzeugend. Wir fordern die Ministerin auf: Warten Sie
nicht länger! Raus aus der Abwartstarre! Legen Sie ein
Gesetz vor!
({1})
In unserem Antrag zeigen wir, wo es langgehen muss.
Wir haben unter Rot-Grün in Übereinstimmung mit
den Gewerkschaften 2003 das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz reformiert. Wir haben damals auf Fairness
der Arbeitgeber gesetzt. Dieser Schuss ging bedauerlicherweise nach hinten los. Wir haben gelernt: Fairness
ohne Regeln funktioniert nicht. Deshalb brauchen wir
klare Gesetze.
({2})
Diese bittere Erfahrung sollte auch die Ministerin zur
Kenntnis nehmen. Die Ministerin hat ihre Betroffenheit
über die unhaltbaren Zustände in der Leiharbeitsbranche
zum Ausdruck gebracht. Ob dahinter aber tatsächlich der
Wille und vor allem die Kraft stecken, auch etwas für die
Menschen zu verbessern, wage ich zu bezweifeln.
({3})
Gelegenheit dazu bestand bereits in der Großen Koalition, als wir gemeinsam regiert haben.
({4})
Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, damals getan? Sie haben so auf der Bremse
gestanden, dass Ihnen heute noch die Füße wehtun müssen.
({5})
Ich bin mir sicher: Bis zur Landtagswahl in NordrheinWestfalen werden wir in den Medien eine Ministerin sehen, die die Missstände in der Leiharbeitsbranche beklagt und tüchtig mit dem Finger droht. Dann kommt der
ganz große Katzenjammer. Warum, so frage ich Sie,
sollte die Union ausgerechnet mit einer marktradikalen
FDP an ihrer Seite Arbeitnehmerrechte verbessern,
wenn sie es noch nicht einmal mit uns getan hat?
({6})
Die Ministerin hat die Katze bereits aus dem Sack gelassen. Sie will den Arbeitgebern ein tolles Geschenk machen und den Kündigungsschutz schleifen.
({7})
Als wenn wir nicht schon genug prekäre Beschäftigung
in Deutschland hätten. Nein, nun soll es noch mehr geben, und zwar durch die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse.
({8})
Das haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nun wirklich nicht verdient.
({9})
Zurück zur Leiharbeit. Schön, dass das Ministerium
dem Parlament nun endlich auch den Bericht über die
Erfahrungen mit der Arbeitnehmerüberlassung für den
Zeitraum 2005 bis 2008 vorgelegt hat. Leider verschweigt der Bericht wichtige Fakten, die die tatsächliche Situation der Beschäftigten in der Leiharbeit beschreiben, Fakten, die zum Beispiel im IABForschungsbericht zum Thema Arbeitnehmerüberlassung zu finden sind, oder Erfahrungen, die die Bundesagentur für Arbeit gesammelt hat. Wichtige Daten des
Statistischen Bundesamtes finden ebenfalls keine Berücksichtigung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert diese Art der Berichterstattung zu Recht. Solange
die Probleme in der Leiharbeitsbranche von der Bundesregierung dermaßen verharmlost werden, wird man auf
tiefgreifende Änderungen vergeblich warten.
Aber zum Glück gibt es unseren Antrag. Wir wollen
gute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen für die Leiharbeit. Dazu gehören gleicher Lohn für gleiche Arbeit,
Mindestlohn, Begrenzung konzerninterner Verleihung,
Stärkung der Mitbestimmungsrechte und Synchronisationsverbot. Damit können wir es schaffen, Leiharbeit
auf ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Auftragsspitzen zu bewältigen, zurückzuführen und für die Beschäftigten in der Leiharbeit faire Arbeitsbedingungen sicherzustellen.
Die Forderungen in unserem Antrag sind im Übrigen
nicht neu. Bereits im Frühjahr 2008 haben die SPD-Bundestagsabgeordneten aus meinem Bundesland Schleswig-Holstein gemeinsam mit der IG Metall Küste einen
umfassenden Forderungskatalog zur Leiharbeit verabschiedet. Die Umsetzung ist allerdings bislang an der
Lernunfähigkeit der Union gescheitert. Das ist wirklich
schade für die mittlerweile über 600 000 Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer in Deutschland. Aber
man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.
({10})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Frau Hiller-Ohm, ich habe mit großen Ohren vernommen,
({0})
wie konsequent Sie in Ihrer Rede von Leiharbeit statt
von Zeitarbeit gesprochen haben.
({1})
Der Sinn ist klar: Sie möchten ein Arbeitsverhältnis diskreditieren, das für viele Menschen hilfreich war und ein
Segen geworden ist.
({2})
- Ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt, in der
Sie konsequent von der Leiharbeit gesprochen haben. Dieses Arbeitsverhältnis war für diejenigen Menschen
hilfreich - die christlich-liberale Koalition will diese
Menschen nicht aus dem Blick verlieren -, die bisher außerhalb des Arbeitsprozesses waren und für die die Zeitarbeit eine Möglichkeit ist, in ein Arbeitsverhältnis zu
gelangen.
({3})
Wir wissen, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen arbeiten, zuvor nicht beschäftigt
waren. Wir wissen, dass 11,4 Prozent davor überhaupt
noch nie beschäftigt waren. Das zeigt deutlich, dass Zeitarbeit den Menschen eine Chance bietet, wieder in die
Arbeitswelt integriert zu werden.
({4})
Auf diesen positiven Effekt für die betroffenen Menschen wollen wir nicht verzichten.
({5})
Wir werden nicht zulassen, dass dieses Arbeitsverhältnis
diskreditiert wird, sei es auch nur in der Wortwahl.
({6})
Was wir auch noch in den Vordergrund rücken wollen, ist der sogenannte Klebeeffekt. Dies ist kein schönes
Wort; aber der Sachverhalt, der dahintersteckt, ist klar.
Nun hat Frau Kramme in diesem Zusammenhang eine
Studie zitiert, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass
15 Prozent der Menschen ein dauerhaftes Arbeitsver3360
hältnis in den Betrieben erhalten. Es gibt eine andere
Studie - sie stammt vom Institut der deutschen Wirtschaft -, die von 25 Prozent spricht.
({7})
Irgendwo dazwischen wird vielleicht die Wahrheit liegen; wir müssen uns da nicht festlegen. Aber auf genau
diesen Effekt wollen wir im Sinne der betroffenen Menschen nicht verzichten.
Ich füge hinzu: Es gibt darüber hinaus den Effekt,
dass Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen gearbeitet haben, zwar nicht in dem entleihenden Unternehmen
tätig geworden sind, aber in einem anderen. Es gibt Studien, die davon ausgehen, dass dies in 20 Prozent der
Fälle so ist. Ich sage für die christlich-liberale Koalition:
Auf diesen positiven Effekt wollen wir nicht verzichten.
({8})
Frau Kramme, wir gestehen Ihnen zu, dass Sie dazulernen wollen. Sie sollten allerdings nicht den Eindruck
erwecken, dass dieses Dazulernen erst nach dem
28. September 2009 eingesetzt hat,
({9})
letztlich koalitionstaktisch motiviert ist und nicht der Sache entspricht.
Vielen Dank.
({10})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr heutiger Antrag ist die Demonstration des späten schlechten Gewissens. Wie Sie selber sagen: In der Regierung haben Sie
Fehler gemacht. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie das
heute so sehen. In der Opposition haben Sie, nachdem
Sie elf Jahre das Arbeitsministerium innehatten, diese
Erkenntnis. Wir können Ihnen nur wünschen: Bleiben
Sie in der Opposition!
({0})
Jetzt versuchen Sie krampfhaft die Rolle rückwärts
aus der - wie ich es das letzte Mal vor acht Wochen genannt habe - Populismusfalle.
({1})
- Es wird ein Salto mortale. Ihr ehemaliger Arbeits- und
Wirtschaftsminister Clement hat das damals als „Hartzer
Rolle rückwärts“ bezeichnet.
({2})
Das ist ein Salto mortale rückwärts, um ganz links zu
landen; das hat man gemerkt. Aber das schaffen Sie
nicht.
({3})
Das hat Ihnen die Kollegin Krellmann gerade vorgemacht. Sie springen nach links,
({4})
und in der Zwischenzeit springen die Linken noch ein
Stück weiter.
({5})
Sie kommen nicht hinterher. Lesen Sie das Lafontaine’sche
Manifest. Dann wissen Sie, was los ist.
({6})
- Es ist einfach so. Die heutige Debatte kann man nicht
anders bewerten.
Ich möchte Sie nicht nur schelten; denn in seiner
Grundidee ist das AÜG richtig.
({7})
Die jetzt vorgelegte Unterrichtung ist nichts anderes als
eine Bilanz des Arbeitsministers Olaf Scholz.
({8})
- Es nützt Ihnen nichts. Sie müssen sich das anhören. Auf die positiven Effekte hat der Kollege Kober eben
hingewiesen. Auch ich habe sie mir noch einmal aufgeschrieben: Die Leih- bzw. Zeitarbeit - ich verwende
beide Begriffe, damit Sie zufrieden sind - ist ein wichtiger Faktor auf dem deutschen Arbeitsmarkt geworden.
Wir wollen diesen wichtigen Faktor erhalten. Zeitarbeit
schafft Perspektiven. Sie ist die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, die wir so dringend brauchen.
({9})
Außerdem handelt es sich um voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Frau Kollegin Kramme, in einem Punkt kann ich Ihnen nicht recht geben. Bei der Zeitarbeit gelten die gleichen Arbeitnehmerschutzrechte wie in anderen Arbeitsverhältnissen. Sie behaupten, das stimme weder beim
Urlaub noch beim Kündigungsschutz.
({10})
Das ist nicht richtig. Ich gehe davon aus, dass Sie das als
Rechtskundige wissen, auch wenn Sie einen anderen
Eindruck vermitteln wollen.
({11})
- Ich habe zugehört. - Ich nenne Ihnen noch einen Punkt,
wo Sie die Linke nicht einholen werden - Sie gehen nur
ein bisschen auf sie zu; die Linke geht viel weiter -: Wir
wollen keine zusätzlichen Mitbestimmungsrechte in der
Zeitarbeit.
({12})
Es wäre das Ende der Zeitarbeit, wenn wir versuchen
würden, das über Einigungsstellen zu regeln.
({13})
Das funktioniert nicht. Das kann ich Ihnen aus der Praxis
berichten.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben auf die Kritik
des DGB Bezug genommen. Ich habe mir das extra aus
meinen Unterlagen herausgesucht. Schon wieder kann
man sehen, wie nahe Sie an der Linken dran sind; denn
die DGB-Kritik bezieht sich auf eine Kleine Anfrage der
Linken aus der letzten Legislaturperiode, auf Drucksache 16/9410. Nennen Sie doch gleich Ross und Reiter.
Sagen Sie, wohin Sie wollen. Setzen Sie sich in einer
vereinigten Linken zusammen. Dann ist das in Ordnung;
aber führen Sie keine solchen Debatten.
({14})
- Nein. Wenn Sie reden wollen, dann lassen Sie sich auf
die Rednerliste setzen. Ansonsten rede heute ich.
({15})
Die christlich-liberale Koalition steht zur seriösen
und soliden Zeitarbeit. Wir sagen klar Nein zum Lohndumping und zum Drehtüreffekt.
({16})
In meiner letzten Rede habe ich das bereits ausgeführt.
Wir glauben an die Tarifvertragsparteien und möchten ihnen das überlassen. Schauen Sie sich den neuen Tarifvertrag der BZA-DGB-Tarifgemeinschaft an. Es sind 3 Cent
mehr als bei den christlichen Gewerkschaften. Ich würde
vorschlagen, dass Sie die Kirche im Dorf lassen.
Wir sagen Nein zum Missbrauch. Das haben Angela
Merkel und Ursula von der Leyen deutlich gemacht. Geben Sie den Menschen durch die Zeitarbeit die Chance,
auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Herzlichen Dank und frohe Ostern.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1155 und 17/464 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen
- Drucksache 17/1149 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Bekämpfung von Steuerflucht funktioniert in Deutschland letztendlich nur noch über den Ankauf von illegal beschafften Steuersünder-CDs. Damit
wird offenkundig der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Sich auf kriminelle Machenschaften zu stützen,
ist dem Anspruch eines Rechtsstaates nach Meinung der
Linken nicht nur unwürdig, sondern auch ungerecht und
uneffektiv, da rein willkürlich und zufällig.
Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen zur
Bekämpfung von Steuerflucht sind bescheiden, sofern
überhaupt welche erreicht werden; denn etliche Steuerparadiese spielen ganz offenkundig auf Zeit. Aufgrund
bloßer Absichtserklärungen, ohne auch nur einen Deut
verändert zu haben, werden sie von der OECD nicht
mehr als Steueroasen betrachtet.
Das Beispiel Frankreich zeigt allerdings, dass man
sich von der Definitionsmacht der OECD nicht abhängig
machen muss. Frankreich hat eigene Kriterien entwickelt. Auf deren Grundlage kann Frankreich seit Februar
18 Länder eindeutig als Steueroasen bestimmen, und
Frankreich hat es getan. Demgegenüber kennt die Bundesregierung bis heute keine einzige Steueroase. Würden
wir jedoch die französischen Kriterien anwenden, so wären auch bei uns mindestens 10 der 18 Steueroasen als
solche einzuordnen.
Wir brauchen also einfach eine eindeutige Definition.
Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass alle Staaten, die
nicht bis zum 30. Juni dieses Jahres die folgenden beiden
Bedingungen erfüllen, als Steueroasen gelten und als
solche behandelt werden:
({0})
Erstens. Es muss ein Abkommen mit Deutschland
über den Informationsaustausch in Steuersachen nach
dem OECD-Standard nicht nur angekündigt, sondern
auch umgesetzt sein.
Zweitens. Es muss eine Verpflichtung dieser Staaten
vorliegen, die zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung
notwendigen Informationen auch zu erheben;
({1})
denn ohne die entsprechenden Informationen läuft jedes
Auskunftsersuchen offenkundig ins Leere.
Als erste Maßnahme sind vorhandene Doppelbesteuerungsabkommen mit den Steueroasen zu kündigen. Die
eindeutige Identifikation dieser ermöglicht sodann wirksame Maßnahmen auf nationaler Ebene. Hierzu schlagen
wir Ihnen vor: Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben,
die in Steueroasen fließen, müssen mit einer spürbaren
Quellensteuer von 50 Prozent belegt werden.
({2})
Die Quellensteuerbefreiung für Personen mit Wohnsitz
in Steueroasen muss natürlich aufgehoben werden. Ähnliches hat Frankreich bereits umgesetzt. Banken, die
Filialen oder gar ihren Sitz in Steueroasen haben, muss die
Geschäftsgenehmigung entzogen werden. Ich glaube, das
ist ein sehr wirksames Mittel. Die zur Besteuerung relevanten Informationen müssen über eine Meldepflicht für
Vermögenstransfers über 100 000 Euro ins Ausland beschafft werden. Das sind drei ganz konkrete Maßnahmen, die wir relativ schnell umsetzen könnten.
Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist aber
nicht zuletzt auch eine Frage der Personalausstattung der
Steuerverwaltungen. Hier liegt in Deutschland aufgrund
der föderalen Gestaltung sehr viel im Argen. Man muss
einfach feststellen, dass es sich für die Bundesländer gar
nicht lohnt, Investitionen in die Steuerverwaltung zu tätigen, da ihnen daraus resultierende Mehreinnahmen
über den Länderfinanzausgleich gleich wieder abgenommen werden. Auch fehlt ein verbindlicher Standard bei
der Ermittlung des Personalbedarfs. Hier besteht dringender Änderungsbedarf.
({3})
Auf EU-Ebene bleibt die Neugestaltung der EU-Zinsrichtlinie vorrangig. Diese muss endlich alle Kapitaleinkünfte erfassen und auch für Kapitalgesellschaften gelten.
Noch eine grundsätzliche Forderung: Schaffen Sie
endlich die ungerechte und hinterziehungsanfällige Abgeltungsteuer ab. Kapitaleinkommen gehören genauso
wie Lohneinkommen dem persönlichen Steuersatz unterworfen.
({4})
Dies wäre ein wichtiger erster Schritt zur Eindämmung
des internationalen Steuerwettbewerbs, der Steuerhinterziehung überhaupt erst attraktiv macht.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Die Linke meint: Die Bekämpfung der Steuerhinterziehung darf nicht dem Zufall überlassen werden. Deshalb haben wir unsere Vorschläge hier zur ersten Beratung vorgelegt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße insbesondere die beiden Mitglieder meiner Arbeitsgruppe, Patricia Lips und Mathias
Middelberg, die zu dieser Debatte erschienen sind.
({0})
Die unionsgeführte Bundesregierung, Frau Höll, hat
nicht nur gefordert, sie hat bei der Bekämpfung der
Steuerhinterziehung auch gehandelt.
({1})
Unsere Bilanz seit 2005 ist eindrucksvoll. Da könnten
auch Sie von der SPD klatschen; Sie waren ja einige
Jahre dabei.
Wir haben den verfassungsrechtlich problematischen
§ 370 a der Abgabenordnung abgeschafft und verfassungsfest durch § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 der Abgabenordnung ersetzt, durch den eine bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern qualifiziert
bestraft wird.
Wir haben mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung die bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuer in den Katalog des § 100 a Strafprozessordnung aufgenommen.
Damit ermöglichen wir erstmals eine Telekommunikationsüberwachung bei Steuerhinterziehungstaten. Das
hat es vorher nicht gegeben.
Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2009
die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der
Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert.
Neben unseren gesetzgeberischen Aktivitäten arbeitet
auch die Steuerfahndung in Deutschland erfolgreich.
Jahr für Jahr gibt es 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe.
Sehr zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof jüngst die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzisiert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn
Jahren Freiheitsstrafe ist durchaus ausreichend, aber
man hatte manchmal, wenn man die Urteile gelesen hat,
den Eindruck, dass er nicht immer voll ausgeschöpft
wurde. Deshalb hat der Bundesgerichtshof jetzt entschieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einem
Steuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab
100 000 Euro, jedenfalls bei Wiederholungstätern, unerlässlich sind. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe ist
auch bei Ersttätern grundsätzlich eine Freiheitsstrafe geboten. Wer künftig Steuern in Millionenhöhe hinterzieht,
wird also tatsächlich im Gefängnis sitzen. Das ist richtig
so.
({2})
Schließlich haben wir den Koalitionsantrag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ beschlossen, in dem insbesondere eine umfassende Überarbeitung und Erweiterung der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung und ein
verbesserter Informationsaustausch auf internationaler
Ebene gefordert werden. Dies haben wir im Laufe des
letzten Jahres erreicht. Wir haben jetzt mit allen großen
Industriestaaten einen Informationsaustausch, der den
OECD-Standards entspricht. Derzeit laufen letzte Verhandlungen. Beispielsweise wird heute Bundesfinanzminister Schäuble seinen Schweizer Amtskollegen treffen; auch hier werden wir zu einem erfolgreichen
Abschluss gekommen.
In Brüssel liegt auch ein Abkommen der EU mit
Liechtenstein unterschriftsreif vor. Man höre und staune
- im Ausschuss am Mittwoch waren wir alle etwas erstaunt -: Das wird von Luxemburg und Österreich blockiert, weil sie weniger einschneidende Maßnahmen bei
der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung fordern. Das ist
in der Tat unerhört. Die Sozialdemokraten haben letztes
Jahr den Einsatz der Kavallerie gefordert.
({3})
Jetzt könnten Sie zumindest zum Telefonhörer greifen
und mit dem österreichischen Bundeskanzler sprechen,
damit er eine etwas konstruktivere Haltung einnimmt.
({4})
Wir haben auch gerade in den letzten Wochen bewiesen, dass wir Steuerhinterziehung energisch bekämpfen,
Stichwort „Steuersünder-CD“. Obwohl das eine schwierige rechtliche Frage ist, die eine Abwägung erfordert,
hat sich die Bundeskanzlerin klar positioniert. Am
1. Februar dieses Jahres hat sie gesagt: Vom Ziel her
sollten wir, wenn diese Daten relevant sind, auch in ihren Besitz kommen. Jeder vernünftige Mensch weiß,
dass Steuerhinterziehung geahndet werden muss. - Das
war von Anfang an keine Moderation, sondern eine klare
Positionierung, und das auf einem schwierigen Rechtsgebiet.
Es geht um einen Konflikt, der sämtliche Rechtsordnungen seit Jahrhunderten durchzieht: Man möchte die
materielle Wahrheit erforschen, darf dabei aber nicht alle
denkbaren Mittel anwenden, muss also prozessual einwandfrei vorgehen. Hier sind in allen Rechtsordnungen
immer wieder schwierige Abgrenzungen vorzunehmen.
Die Frage ist: Liegt ein Beweisverwertungsverbot vor,
wenn Beweismittel, wie im Falle der Steuer-CD offenkundig, rechtswidrig erlangt worden sind?
({5})
Diese Abwägung haben wir durchgeführt und sind zu
einem eindeutigen Ergebnis gekommen.
({6})
Die Koalition verfolgt nicht nur die Steuerhinterziehung
energisch, sondern wahrt dabei auch die rechtsstaatlichen Grundsätze.
({7})
Unsere Politik ist erfolgreich. Seit Beginn dieses Jahres sind bei deutschen Finanzämtern über 10 000 Selbstanzeigen eingegangen. Wir erzielen möglicherweise
Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe. Dies zeigt,
dass wir erfolgreich sind und dass man sehr vorsichtig
sein muss, ehe man die vollständige Abschaffung des
§ 371 Abgabenordnung fordert.
({8})
Dieser Schuss kann auch leicht nach hinten losgehen.
({9})
Abschließend will ich noch zu dem Antrag der Linken kommen. Frau Höll, einige Punkte Ihres Antrags
sind wirklich bemerkenswert,
({10})
selbst dann, wenn man berücksichtigt, welches Niveau
die Anträge, die die Linken sonst einbringen, haben.
Zum Teil ist das, was Sie fordern - wenn dieser Ausdruck nicht unparlamentarisch ist, Herr Präsident -,
wirklich abwegig.
({11})
Erstens. Sie fordern, dass Deutschland auf dem Gebiet der internationalen Steuerhinterziehung einen nationalen Alleingang unternimmt. Die Bundesregierung soll
hierzu einen Gesetzentwurf vorlegen.
({12})
Das Problem der internationalen Steuerhinterziehung
können wir möglicherweise noch nicht einmal auf europäischer Ebene alleine lösen, sondern das ist nur global
möglich. Aber Sie fordern die Bundesregierung auf, ein
nationales Gesetz zu diesem sehr komplizierten Gebiet
vorzulegen.
({13})
Das ist doch kompletter Unsinn. Das wird zu keinem Ergebnis führen.
({14})
Zweitens. Sie möchten, dass Deutschland eine Liste
„nicht kooperativer Staaten“ aufstellt.
({15})
Wollen Sie allen Ernstes, dass die Bundesregierung eine
Liste „nicht kooperativer Staaten“ aufstellt?
({16})
Das ist doch nationale Kanonenbootpolitik. Das geht
nach hinten los.
({17})
Wegen der Äußerungen des ehemaligen Bundesfinanzministers Steinbrück hatten wir schon genug Probleme;
({18})
damals war von Indianern, von der Kavallerie und von
Ouagadougou die Rede.
({19})
Jetzt soll die Bundesrepublik Deutschland eine Liste
nicht kooperationswilliger Staaten aufstellen,
({20})
an der OECD und der EU vorbei. Das ist wirklich hanebüchener Unsinn.
({21})
Was Ihre dritte Forderung betrifft, möchten Sie, dass
sie bis zum 30. Juni 2010 erfüllt wird. Dieses Datum
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Zu Ihrer
Information: Heute ist der 26. März 2010.
({22})
Selbst wenn Ihr Antrag eine Mehrheit fände und der
Bundestag ihm zustimmen würde, wäre es April oder
Mai, ehe die Bundesregierung tätig würde.
({23})
Sie fordern die Bundesregierung auf, bis zum 30. Juni
2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen, die Deutschland geschlossen hat, zu kündigen,
({24})
wenn sich der jeweils andere Staat nicht kooperativ verhält. Das ist eine Forderung, die den deutschen Interessen massiv schaden würde.
({25})
- Herr Kollege Troost, Deutschland als international
agierender Staat hat ein großes Interesse an Doppelbesteuerungsabkommen.
({26})
- Es geht ja um alle Doppelbesteuerungsabkommen.
({27})
- Mit Steueroasen schließen wir gar keine Doppelbesteuerungsabkommen; das sollten Sie wissen.
({28})
Doppelbesteuerungsabkommen werden nur mit wirtschaftlich tätigen Ländern geschlossen.
({29})
Wir haben doch beide selber erlebt, wozu die Kündigung
eines Doppelbesteuerungsabkommens führt: Das schadet der deutschen Wirtschaft, das schadet den deutschen
Kulturschaffenden vor Ort. Eine Kündigung ist Unsinn.
({30})
- Dann fordern Sie doch so etwas nicht in einem Antrag!
Bis zum 30. Juni 2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen zu kündigen, das ist einfach ein Eigentor.
({31})
Ich sage abschließend: Ersparen Sie uns die Beratung
dieses Antrages im Ausschuss!
({32})
Ziehen Sie den Antrag in Ihrem eigenen Interesse zurück!
Danke.
({33})
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich zu Beginn dieser Woche erfahren habe, dass das
Thema Steuerhinterziehung einmal mehr auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht, war ich zunächst erfreut. Schon als ich den Titel Ihres Antrags gelesen hatte, dachte ich allerdings: Das ist offensichtlich
ein mit heißer Nadel gestrickter, unausgegorener Antrag.
Der Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
dem Zufall überlassen“ passt nicht. Der Faktor Zufall ist
nicht das, was wir angehen müssen. In Bezug auf die
Steuerhinterziehung haben wir doch ein ganz anderes
Problem: dass es mancher politischen Partei in Deutschland an dem Willen fehlt, Steuerhinterziehung wirksam
und nachhaltig zu bekämpfen.
({0})
Kollege Manfred Kolbe, ich schätze Sie persönlich
sehr. Sie haben hier von einer eindrucksvollen Bilanz gesprochen. Was wir in der Großen Koalition auf den Weg
gebracht haben, kann sich, denke ich, sehen lassen. Aber
wer war eigentlich der Motor, wer war die Triebfeder für
all das, was wir gemacht haben? Das war doch nicht die
Unionsfraktion, das war doch nicht die Kanzlerin. Es
war Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD, der
das Ganze angeregt und angetrieben hat.
({1})
Das gehört doch auch zur Wahrheit: Wir mussten Sie
zum Jagen tragen, damit wir am Schluss nach quälenden
Diskussionen und Monaten des Verschiebens überhaupt
etwas auf den Weg bringen konnten.
Wenn ich hier höre, dass Schwarz-Gelb die Steuerhinterziehung tatsächlich zum großen Thema mache, will ich
sagen: Ich habe den Eindruck, dass Schwarz-Gelb keine
klare Linie hat. Was Sie hier veranstalten, ist ein Torso.
Schauen Sie einmal, was die Landesregierung von Baden-Württemberg macht! FDP-Justizminister Goll sagt:
Wir wollen diese Steuer-CD nicht ankaufen. CDUFinanzminister Stächele sagt: Wir wollen sie kaufen. Der
neue Ministerpräsident, Stefan Mappus, sagt: Wir kaufen
sie lieber nicht. - Andernfalls wäre nämlich seine Wahl
gefährdet gewesen. Das ist doch kein effizienter Kampf
gegen Steuerhinterziehung. Baden-Württemberg hätte
diese CD kaufen müssen. Dann hätten Sie Ihren eigenen
Minister, Bundesfinanzminister Schäuble, nicht in die
missliche Situation gebracht, dass er letztendlich von
Bundesland zu Bundesland laufen und jemanden suchen
musste, der sich bereit erklärt, diese Steuer-CD zu kaufen.
({2})
- In NRW hat man diese CD jetzt gekauft. Die Frage
bleibt: Ist das eigentlich ein nachhaltiger und guter Ansatz, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen? Sie sind
doch ganz unterschiedlich unterwegs: Hier sagen Sie Ja,
dort sagen Sie Nein.
({3})
So sieht ein effektiver Kampf gegen Steuerhinterziehung
jedenfalls nicht aus.
({4})
Ich will deutlich machen, dass es hier nicht um irgendein Thema geht. Die Steuerhinterziehung hat eine
gigantische Dimension angenommen, ein unglaubliches
Ausmaß: 11 000 Selbstanzeigen - davon, vielleicht auch
kein Zufall, 3 000 in Baden-Württemberg - sprechen für
sich.
Es wäre notwendig, dass Schwarz-Gelb überall dort,
wo man in den Ländern Verantwortung trägt, sagt: Angesichts der Verfahren, die jetzt eingeleitet werden, muss
die Steuerfahndung personell besser ausgestattet werden.
({5})
Was passiert in den Ländern, in denen Sie regieren? Gar
nichts.
({6})
Das zeigt: Es ist kein Zufall, es hat System. Es fehlt an
dem politischen Willen, tatsächlich intensiv gegen Steuerhinterziehung vorzugehen.
({7})
Das zeigt, dass wir sinnvolle, nachhaltige Maßnahmen
brauchen, um der systematischen Hinterziehung von
Geldern entgegenzuwirken. Das sind im Übrigen Gelder,
die wir für öffentliche Leistungen dringend brauchen.
Ich erinnere nur an die Haushaltsberatungen der letzten
Woche oder auch an jeden einzelnen Tagesordnungspunkt hier im Plenum, den wir diskutieren. Überall stellt
sich die Frage: Woher soll das Geld kommen? Sie wären
gut beraten, die Maßnahmen in Sachen Steuerhinterziehung zu intensivieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich komme ganz konkret auf Ihren Antrag zu spre3366
chen. Ich habe den Eindruck, dass es sich um einen
Schaufensterantrag handelt.
({8})
Es ist sicher richtig: Wir müssen schauen, dass wir die
OECD-Standards bei den Doppelbesteuerungsabkommen einhalten. Es ist sicher auch wichtig, dass wir den
Austausch der Informationen zur Ermittlung der Delikte
so umfassend wie möglich gestalten. Aber ich komme
auf das zurück, was der Kollege Kolbe gesagt hat: Was
bringt uns bitte schön die Androhung, die bestehenden
Doppelbesteuerungsabkommen zum 30. Juni dieses Jahres zu kündigen? Die internationale Signalwirkung wäre
aus meiner Sicht verheerend. Wer wäre davon betroffen?
Die Leidtragenden wären die unbescholtenen, ehrlichen
Bürgerinnen und Bürger, die dann nach Auflösung der
Doppelbesteuerungsabkommen damit rechnen müssten,
dass sie, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen,
an dieser Stelle doppelt besteuert würden. Ich denke,
dass nationale Drohgebärden ohne Verbündete auf internationaler Ebene keine Lösung sein können.
({9})
Richtig hingegen, so glauben wir, ist der Weg, den
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück damals mit seinem französischen Kollegen eingeschlagen hat. Dieser
Weg war richtig und erfolgreich. Die Reaktionen der betroffenen Länder machen deutlich, dass sie die OECDStandards umsetzen und dass die angedrohten Maßnahmen gegenüber diesen unkooperativen Staaten Wirkung
zeigen. Wir glauben, dass wir in der Großen Koalition
sehr viel Wichtiges auf den Weg gebracht haben.
Kollege Kolbe hat das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz angesprochen, ein riesiger Schritt. Damit
haben wir viel erreicht. Wir hätten noch ein bisschen
mehr erreichen können, Herr Kolbe, wenn unser Koalitionspartner nicht immer so widerspenstig gewesen
wäre. Aber die Anhebung der Verjährungsfrist in Fällen
besonders schwerer Steuerhinterziehung, der Ausbau der
Möglichkeiten, die Steuerhinterziehung zu verfolgen,
aber auch die Einschränkung der Steuergestaltungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuerreform 2008 waren
richtige Schritte. Schade ist, dass offenbar Ihr ohnehin
nicht besonders ausgeprägter Ehrgeiz mit dem neuen
Koalitionspartner an dieser Stelle ganz erloschen ist.
({10})
Bislang haben wir von Ihnen jedenfalls zu diesem
Thema keine Initiative gesehen.
({11})
Von der FDP-Fraktion vermissen wir seit Jahren parlamentarische Initiativen zum Thema Bekämpfung von
Steuerhinterziehung.
({12})
- Das hat sicher auch Gründe.
Kurzum: Wir haben ein klares Ziel. Steuerhinterziehung muss endlich intensiv bekämpft werden, und zwar
noch stärker als bisher. Sie von Schwarz-Gelb sind da
gefordert. Steuerhinterziehung muss aus dem verniedlichenden Image des Kavaliersdelikts herauskommen. Wir
brauchen diese Gelder, die notwendig sind, wichtige Investitionen für unser Land zu tätigen. Deswegen glauben
wir, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind, zum
Beispiel ein einheitlicher Umgang mit den angebotenen
Daten von Steuerhinterziehern. Wir müssen die Länder
in die Lage versetzen, die Steuerfahndungen entsprechend auszubauen. Wir brauchen in der Steuerfahndung
eine internationale Zusammenarbeit, besonders beim
Umsatzsteuerbetrug.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, sagen zu können: Die
SPD-Fraktion steht für die konsequente Verfolgung und
Ahndung von Steuerkriminalität in der Vergangenheit,
aber auch in der Zukunft. Deswegen werden wir weitere
Initiativen auf den Weg bringen.
Herzlichen Dank und frohe Ostern.
({13})
Das Wort hat der Kollege Daniel Volk von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um eines vorab klarzustellen: Steuerhinterziehung
ist in Deutschland kein Kavaliersdelikt, sondern eine
Straftat. Trotzdem muss sich der Staat auch selbst an geltendes Recht halten. Der Diebstahl von Daten Tausender
Bankkunden ist ebenso eine Straftat. Daher muss genau
geprüft werden, ob der Kauf von Informationen zulässig
ist. Die FDP unterstützt den Bundesminister der Finanzen in seinem Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, aber
dies muss im Einklang mit den Prinzipien unseres
Rechtsstaates stehen.
({0})
Was die Linksfraktion mit dem Titel ihres Antrags
suggerieren möchte, nämlich dass Steuerfahndung sozusagen ein Zufall sei,
({1})
ist an sich eine Beleidigung sämtlicher Finanzbeamter,
die ihren Dienst sehr ordentlich versehen.
({2})
Sie beleidigen damit 152 400 Finanzbeamte in 1 536 Finanzämtern. Das muss auch klar gesagt sein.
({3})
Herr Kollege Volk, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Höll?
Nein. - Allerdings stellen sich in unserem Land nicht
wenige Menschen die Frage, ob unser Steuersystem
noch gerecht ist. Wenn mittlerweile nicht mehr nur die
Leistungsträger, sondern auch die gesamte Mittelschicht
finanziell ausgequetscht wird, dann kann man das verstehen. Wir werden für ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem sorgen
({0})
und damit auch die notwendigen Ressourcen in den Finanzämtern für die Steuerfahndung und Steuerüberprüfung freisetzen.
({1})
Das macht auch einen allzu neugierigen Staat in vielen Bereichen überflüssig. Wenn man den Antrag der
Linksfraktion liest, dann hat man ein bisschen das Gefühl - ich habe es jedenfalls -, dass sie ganz gerne wieder einen Schnüffelstaat hätte. Damit kennen Sie sich in
Ihrer Geschichte ja sehr gut aus.
({2})
Wir werden dafür sorgen, dass sich Arbeit wieder
lohnt, dass den Bürgern mehr Netto vom Brutto bleibt.
({3})
Das Steuersystem und das Besteuerungsverfahren werden wir deutlich vereinfachen und für die Anwender
freundlicher gestalten: Zeitnahe Betriebsprüfungen, gerechtere Steuern, die Abschaffung des Mittelstandsbauches, Steuerverfahrensvereinfachungen werden Schritte
- um nur einige zu nennen - in die richtige Richtung
sein.
({4})
Sie von der Linksfraktion wollen Übertragungen von
Geldvermögen ins Ausland ab einem jährlichen Betrag
von 100 000 Euro meldepflichtig machen. Ihnen ist hoffentlich klar, dass das ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb der Europäischen Union ist.
({5})
Insofern sieht man auch hier, dass die Linkspartei offenbar bereit ist, gegen die Bestimmungen und Vereinbarungen der Europäischen Union zu verstoßen.
Die mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen, die
Deutschland mit anderen Ländern geschlossen hat, sind
ein sinnvolles Instrument für mehr Steuergerechtigkeit nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Ziel der
Doppelbesteuerungsabkommen ist die Vermeidung der
Doppelbesteuerung, aber nicht das Herbeiführen einer
Nullbesteuerung. Es sind also sinnvolle Instrumente für
mehr Steuergerechtigkeit. Es entspricht nicht meinem
Rechtsverständnis, dass Menschen doppelt Steuern abführen müssen. Das widerspricht dem Grundsatz der
Einmalbesteuerung.
({6})
Zur Vermeidung von Nullbesteuerungen sind in viele
Doppelbesteuerungsabkommen sogenannte Subject-toTax-Klauseln integriert worden. Diese Rückfallklauseln
richten sich gegen eine Doppelbefreiung bei der Veranlagung. Gerade Deutschland hat diese Ergänzung im Rahmen der Gestaltung von Doppelbesteuerungsabkommen
sehr häufig vereinbart. Und das wollen Sie jetzt abschaffen?
({7})
Auch bleibt zu überlegen, wen Sie mit Ihrer Forderung eigentlich bestrafen wollen. Die großen Steuerbetrüger? Wohl nicht. Denn die bringen ihr Geld von vornherein in ein anderes Land.
({8})
Sie werden eher die steuerehrlichen Kleinanleger bestrafen, die im Rahmen der deutschen und europäischen Gesetze ihr Erspartes in Europa oder anderswo anlegen.
({9})
Sie nehmen also für die Steuersünder eine ganze Bevölkerung in Sippenhaft. Auch damit kennen Sie sich offenbar sehr gut aus.
({10})
Sie wollen die Niederlassung ausländischer Banken
in Deutschland verbieten, Kreditinstituten mit Filialen
im Ausland die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb versagen. Sie wollen die Übertragung von Geldvermögen ins
Ausland meldepflichtig machen.
({11})
Und letztens habe ich von Ihrer wirtschaftspolitischen
Sprecherin Wagenknecht gehört, es soll auch eine Wegzugsteuer eingeführt werden.
({12})
In Wahrheit wollen Sie wieder Mauern bauen,
({13})
aber nicht wie früher aus Beton und Stacheldraht, mit
Tretminen und Selbstschussanlagen. Nein, Sie wollen
jetzt viel subtiler Mauern bauen: durch Abschottung
Deutschlands vom Ausland, durch Wegzugsbeschrän3368
kungen und Abschaffung von Kapitalverkehrsfreiheit,
durch Eingriffe in die Freiheit jedes einzelnen Bürgers.
Die christlich-liberale Koalition hingegen steht für
die Freiheit des Einzelnen, für ein faires Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Wir werden Ihren Antrag daher
ablehnen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Gerhard Schick vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde
es nicht in Ordnung, dass, wenn man Defizite bei der
Bekämpfung von Steuerflucht anspricht, dies damit
gleichgesetzt wird, dass man sich gegen die engagierten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Finanzverwaltung richtet.
({0})
Ganz im Gegenteil: Gerade die fordern von uns, dass wir
endlich die Grundlagen schaffen, damit sie sinnvoll arbeiten können und nicht mehr so viele Verfahren durch
Verjährung oder in irgendwelchen Deals enden, weil wir
nicht die entsprechenden Voraussetzungen schaffen.
Deswegen fand ich den Vorwurf daneben.
({1})
Ich glaube, man kann in aller Sachlichkeit wahrnehmen - das haben wir auch aus dem Bericht im Ausschuss
erfahren -, dass das Ministerium an verschiedenen Stellen
die Politik weiterführt, die Doppelbesteuerungsabkommen am OECD-Standard auszurichten. Dazu laufen verschiedene Verhandlungen. Das ist auch gut. Mit der
Schweiz scheint eine Einigung erzielt worden zu sein.
Das Problem dabei ist allerdings, dass der OECDStandard völlig unzureichend ist. Deswegen brauchen
wir dringend eine Initiative dieser Bundesregierung auf
internationaler Ebene, um den OECD-Standard weiterzuentwickeln. Denn um sich freizukaufen, reicht es aus,
dass man mit zwölf weiteren Steueroasen ein schönes
Doppelbesteuerungsabkommen schließt. Daher brauchen wir endlich einen Standard, der die effektive Zusammenarbeit zwischen den Ländern zum Maßstab
macht.
({2})
Eine Erklärung, irgendwo gebe es eine Zusammenarbeit,
reicht nicht aus. Diese Initiative durch die Bundesregierung steht aus. Da müssen Sie nachlegen.
({3})
Es ist vielleicht nicht alles dem Zufall überlassen,
aber die Bemühungen, die es derzeit gibt, haben schon
etwas damit zu tun, dass Daten angeboten worden sind,
und zwar die berühmten CDs. Das haben Sie sicherlich
nicht geplant; das ist wohl Zufall.
Auch an einem weiteren Punkt wird deutlich, dass Sie
nicht aktiv versuchen, innerhalb der Möglichkeiten des
deutschen Rechts das Bestmögliche zu tun. In Frankreich sind seit Dezember Daten von einer Schweizer
Bank verfügbar. Die Bundesregierung hat diese Woche
meine Frage, ob inzwischen Daten aus diesem Bestand
in Deutschland verfügbar sind, mit Nein beantwortet.
({4})
Warum warten Sie ab, bis Frankreich irgendwann auf
die deutsche Steuerverwaltung zukommt? Aktive und
kontinuierliche Bekämpfung von Steuerflucht würde bedeuten, dass Sie so wie andere Staaten, die bei uns angefragt haben, sobald wir Daten hatten, selber aktiv auf die
französischen Behörden zugehen und nach diesen Daten
fragen. Das haben Sie nicht gemacht. Sie überlassen es
eben doch dem Zufall.
({5})
Das Absurdeste ist der Umgang mit dem Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz. Ich will zugestehen, dass
innerhalb der insgesamt desaströsen Bilanz von Bundesfinanzminister Steinbrück die Bekämpfung der Steuerflucht einer der wenigen Lichtblicke ist. Was aber ist daraus geworden? Passiert de facto irgendetwas mit diesem
Gesetz? Wo ist seine Wirkung? - Nichts. Denn die Liste,
auf die Sie die Maßnahmen anwenden könnten, ist leer.
Es ist schon merkwürdig, wenn das Bundesfinanzministerium feststellt: Wir haben keine Steueroasen, auf
die wir dieses Gesetz anwenden könnten. Das Gegenteil
ist doch der Fall: Die Steuerhinterziehung funktioniert
immer noch mit vielen Staaten hervorragend.
({6})
Sie wollen dieses Gesetz im Unterschied zu Frankreich
nicht anwenden. Das zeigt, Sie leisten nicht wirklich
eine aktive Bekämpfung der Steuerflucht. Sie warten,
wie es in der Überschrift des Antrags steht, tatsächlich
auf den Zufall. Das muss sich ändern.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1149 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Vogt, Ulrich Kelber, Marco Bülow, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD
Keine Vorbereitungen für die Wiederauf-
nahme der Erkundung des Salzstocks in Gor-
leben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Par-
lamentarischen Untersuchungsausschusses
- Drucksache 17/1161 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber,
Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner, Sylvia
Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksachen 17/888 ({1}), 17/1250 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Michael Hartmann ({2})
Jörg van Essen
Volker Beck ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ute Vogt von der SPD-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
werden nun einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um zu klären, ob die Entscheidung
über die Untersuchung des Standorts Gorleben nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt ist oder ob nicht vielmehr politische Kriterien für die Auswahl des Standorts
eine entscheidende Rolle gespielt haben. Schlimmer
noch: Untersuchungsgegenstand ist auch, ob nicht sogar
begründete wissenschaftliche Zweifel aus politischen
Gründen beiseitegeschoben worden sind.
({0})
Jetzt, bevor das Parlament Klarheit über Zweifel und
Fakten schaffen kann, will die Bundesregierung weitere
Fakten schaffen und Gorleben als Endlagerstandort verfestigen. Das ist respektlos gegenüber der Arbeit des
Parlaments, und das ist ein Affront gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern im Wendland.
({1})
So verständlich Ihre Befürchtungen als Bundesregierung
sind, muss man sagen: Sie machen Atompolitik gegen
den Willen und die Akzeptanz der großen Mehrheit der
Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
({2})
Sie beschließen längere Laufzeiten, wodurch Jahr für
Jahr 400 Tonnen mehr Atommüll produziert werden. In
60 Jahren Laufzeit sind dann 24 000 Tonnen Atommüll
angefallen, von dem keiner von Ihnen, aber auch weltweit niemand sagen kann, wo er jemals sicher endgelagert werden kann. Sie haben keine Antwort. Sie sind in
dieser Frage aufgrund Ihrer Politik für die Atomlobby
von Not getrieben.
({3})
Der Kollege Max Straubinger von der CSU bringt es
auf den Punkt. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitiere ich: „Keine Diskussion über alternative Standorte,
sonst zünden wir die ganze Republik an.“
({4})
Das ist das, was Sie bei dieser Entscheidung tatsächlich
bewegt. Sie wollen den Widerstand in Deutschland gegen die Standortentscheidung und gegen Ihre Atompolitik so gering wie möglich halten. Das ist heute nicht anders als früher.
({5})
Die Aktenlage von 1983 lässt uns vermuten, dass schon
damals solche politischen Ängste die Debatte bestimmt
haben.
({6})
Wir sollten ernsthafte Diskussionen führen. Wenn alles so ernsthaft, seriös und offen wäre, wie es uns der
Bundesminister
({7})
glauben machen will: Warum scheut er dann die Prüfung
zum Beispiel nach dem Atomrecht und muss auf das alte
Bergrecht ausweichen, das in keinem Punkt mehr den
Anforderungen der Sicherheit gerecht wird? Warum
scheut er, sich dieser Debatte zu stellen?
Es ist schon bemerkenswert: Im südbadischen Landesteil von Baden-Württemberg klagen Ihre Kollegen
aus der CDU-Fraktion Hand in Hand mit den dortigen
Kommunalpolitikern gegenüber der Schweiz ein - und
zwar zu Recht -, dass die Bevölkerung bei der Suche
nach Endlagern von Anfang an ein Mitspracherecht haben und an der Suche beteiligt werden muss.
({8})
Auf der Bundesebene aber, wo Sie direkte Möglichkeiten hätten, wo Sie die Entscheidung in der Hand haben
und in der Verantwortung stehen, will der Bundesumweltminister den Bürgerinnen und Bürgern die Beteiligung versagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie haben heute die Chance, auch für etwas
Glaubwürdigkeit in diesem Punkt zu sorgen. Stimmen
Sie unseren beiden Anträgen zu, und zeigen Sie damit
Respekt. Zeigen Sie Respekt vor der Aufklärungsarbeit
dieses Parlaments, vor unserer parlamentarischen Arbeit,
aber vor allem auch vor den Bürgerinnen und Bürgern,
die man in diesen Zeiten, wenn es um so wichtige Entscheidungen geht, nicht mehr außen vor lassen darf, sondern von Anfang an einbeziehen und beteiligen muss.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
debattieren heute in der Tat über zwei Anträge und eine
Beschlussempfehlung.
Zum einen debattieren wir über den Antrag aller
Oppositionsfraktionen zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu einer Entscheidung der Bundesregierung Kohl/Genscher aus dem Jahr 1983 zur ausschließlichen untertägigen Erkundung des Salzstocks
Gorleben als möglichem Endlager.
Die erste Debatte diesbezüglich hat in diesem Haus
bereits am 4. März 2010, also eine Sitzungswoche vor
der Haushaltswoche, stattgefunden. Darüber hinaus gibt
es jetzt eine Beschlussempfehlung und den Bericht des
Geschäftsordnungsausschusses, der diesen Antrag rechtlich geprüft hat. Insbesondere wurde geprüft, ob gewährleistet ist, dass der Auftrag des Untersuchungsausschusses lediglich das Regierungshandeln auf Bundes- und
nicht auch auf Landesebene umfasst, wie das die gesetzliche Vorgabe ist.
({0})
Darüber hinaus debattieren wir über den Antrag der
SPD-Fraktion, die Wiederaufnahme der Erkundung des
Salzstocks Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit des
Untersuchungsausschusses auszusetzen.
({1})
Die Frage bezüglich der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist relativ einfach zu beantworten. Es
handelt sich dabei um ein Minderheitenrecht und das
schärfste Schwert der Opposition, in Art. 44 Grundgesetz festgeschrieben. Im Geschäftsordnungsausschuss
hat nach einem vorherigen Berichterstattergespräch die
Präzisierung des Umfangs des Untersuchungsgegenstandes stattgefunden. Es ist kontrovers diskutiert worden.
Schließlich sind die Mehrheitsfraktionen aber auf einen
Kompromiss eingegangen, der sich angedeutet hat. Der
Bundestag wird heute einen Untersuchungsausschuss
einsetzen, der sich in der kommenden Sitzungswoche
konstituieren wird.
Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Fortsetzung des
Moratoriums hat Bundesminister Röttgen in der letzten
Ausschusssitzung übrigens alles gesagt, was erforderlich
ist;
({2})
denn die eigentlich entscheidende Frage ist ja: Will man
tatsächlich ein Endlager finden, oder will man das eben
nicht?
({3})
Will man diese Entscheidung weiter herausschieben,
will man Gründe finden, zu verzögern?
({4})
Angesichts der Komplexität der Materie ist das sicherlich auch einfach.
Die Union will Verantwortung übernehmen.
({5})
Wir wollen für den von unserer Generation verursachten
Abfall auch zu unseren Zeiten eine Lösung finden, ein
nationales Endlager, und das Problem eben nicht den
kommenden Generationen überlassen, wie das in den
letzten zehn Jahren gehandhabt worden ist.
({6})
Zeitgleich mit der sogenannten Ausstiegsentscheidung hatte die rot-grüne Bundesregierung damals ein
Moratorium von drei bis zehn Jahren, wie es hieß, verabredet, um sogenannte Zweifelsfragen abzuarbeiten.
Diese Zweifelsfragen waren dann auch nach fünf Jahren
abgearbeitet.
({7})
Es gab einen Syntheseberichts des Bundesamtes für
Strahlenschutz, in dem ausdrücklich erwähnt worden ist,
dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit
verfügbar sei, die Sicherheit dann aber nur konkret vor
Ort durch Erkundung festgestellt werden könne. Dennoch hat Rot-Grün das Moratorium verlängert, den Synthesebericht aber nicht etwa diesem Hause für eine Diskussion zur Verfügung gestellt.
({8})
- In der Großen Koalition wurde das Moratorium letztendlich verlängert,
({9})
obwohl wir uns eigentlich in die Hand versprochen hatten, die Endlagerfrage zügig anzugehen.
({10})
Das hatten wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten.
({11})
Im Jahr 2006 hat die Union ein Angebot gemacht.
Wir hatten vorgeschlagen, einen International Peer
Review durchführen zu lassen, also internationale Experten mit unserem Problem zu befassen, und letztendlich die Befunde miteinander zu bewerten. Da hat der
Koalitionspartner gesagt: Nein, das geht nicht wirklich;
wir suchen besser den bestgeeigneten Standort. Einen
solchen Standort gibt es laut Atomgesetz eigentlich
überhaupt nicht. Es ist die Frage, ob wissenschaftlich
überhaupt feststellbar ist, welcher Standort am besten
geeignet sein soll.
({12})
Jetzt soll der Untersuchungsausschuss der Grund dafür
sein, das Moratorium zu verlängern.
Ich begrüße, dass sich Bundesminister Röttgen hingegen zur Lösung der Endlagerfrage bekennt.
({13})
Er hat in der vergangenen Woche konkrete Vorschläge
gemacht und gesagt, dass wir die Erkundungsarbeiten
ergebnisoffen und so zügig wie möglich aufnehmen, um
jetzt endlich die notwendige Datengrundlage zu erarbeiten, damit die Eignungsprüfung des Salzstocks Gorleben
erfolgen kann.
Frau Kollegin Flachsbarth, der Kollege Kelber würde
Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das erlauben.
Sehr gerne.
Bitte, Herr Kelber.
Frau Kollegin, Sie haben gerade behauptet, dass es
bei einer ergebnisoffenen Endlagersuche vermutlich weder wissenschaftlich noch anderswie zu belegen ist, was
der bestgeeignete Standort in Deutschland ist. Wenn Sie
recht haben, warum verlangt dann die schwarz-gelbe
Landesregierung in Baden-Württemberg vom Nachbarland Schweiz bzw. die schwarz-gelbe - vorher rein
schwarze - Regierung in Bayern vom Nachbarland
Tschechien genau eine solche ergebnisoffene Suche nach
dem bestmöglichen Standort?
({0})
Wenn man, ehrlich gesagt, mit den Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den dort
Verantwortlichen darüber spricht, warum dieses Verfahren gewählt worden sei, so sagen sie uns, dass sie von
dem Verfahren gelernt hätten, das damals in den 70erJahren in Bezug auf den Standort Gorleben angewendet
worden ist.
({0})
Damals hatten sowohl die Bundesregierung als auch die
Landesregierung verschiedene Standorte, verschiedene
Salzstöcke in Augenschein genommen; letztendlich
wurde der Salzstock Gorleben als der Standort identifiziert, an dem eine intensivere Erkundung, sprich: eine
Vorprüfung auf eine mögliche Eignung, erfolgen sollte.
({1})
Wie gesagt: Ich begrüße, dass Bundesminister
Röttgen nun eine ergebnisoffene Erkundung angestoßen
hat, und zwar - auch das will ich hier sagen - auf Grundlage des Bergrechts, dessen Anwendung immer wieder
in Zweifel gezogen wird. Wir haben diese Debatte auch
schon im Ausschuss geführt. Bitte zeigen Sie mir den
Artikel, den Paragrafen im Atomrecht, nach dem die
Überprüfung eines Salzstocks auf Eignung überhaupt
möglich sein soll! Abgesehen davon hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 1990 und 1995 höchstrichterlich
über diese Frage entschieden. Ich denke, es ist einfach
eine Frage der politischen Kultur in einem Rechtsstaat,
Urteile zu akzeptieren und zu respektieren, selbst wenn
sie einem nicht passen.
({2})
Herr Röttgen hat auch gesagt - das ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig -, dass wir schon im Vorauswahlverfahren eine möglichst umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung erreichen wollen, Bürgerinitiativen und
Kommunalpolitiker einbeziehen wollen. Zudem wollen
wir Wissenschaftler aus dem Ausland bitten, die Ergebnisse zu evaluieren, damit klar wird, ob sich ein Planfeststellungsverfahren für den Standort Gorleben anschließen soll.
({3})
Das Planfeststellungsverfahren findet selbstverständlich
unter Anwendung des Atomrechts statt, mit zusätzlichen
Umweltverträglichkeitsprüfungen, entsprechender Öffentlichkeitsbeteiligung und der Möglichkeit der anschließenden Planung. Das ganze Verfahren wird noch
20 bis 25 Jahre dauern, sodass frühestens zwischen 2030
und 2035, also 70 Jahre nachdem Deutschland sich - übrigens in großer, um nicht zu sagen: in ganz großer Koalition - entschieden hat, Kernenergie friedlich zu nutzen, ein Endlagerstandort feststehen wird. Wir haben die
Verantwortung, jetzt nicht nur Vergangenheit zu bewältigen, sondern endlich auch Zukunft zu gestalten, aus Verantwortung vor unseren Kindern und Kindeskindern,
aber auch vor den Bürgerinnen und Bürgern, die in Gorleben seit 30 Jahren in Ungewissheit über ihre Zukunft
leben.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Ich bitte doch, für den Rest der Debatte wenn möglich
auf Zwischenfragen zu verzichten,
({1})
weil einige sonst Terminprobleme bekommen, was die
Rückreise betrifft.
({2})
Frau Kollegin Menzner, Sie haben das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Wir
alle merken, dass wir es mit einem hochemotionalen
Thema zu tun haben. Das gilt nicht nur für die Region,
für Niedersachsen, für das Wendland, sondern auch für
uns hier.
({0})
Das haben die Debatten, auch zwischen den Fraktionen,
der letzten Tage und Wochen deutlich gemacht.
Ich möchte drei Punkte kurz erklären: Wieso soll jetzt
der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden? Wie ist
die Lage im Wendland? Was wollen wir mit dem Untersuchungsausschuss eigentlich erreichen?
Warum soll jetzt der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden?
({1})
Die Fragezeichen zu Gorleben sind alt.
({2})
Es gibt seit Jahrzehnten Gutachten, die die Eignung von
Gorleben massiv infrage stellen. Es gibt seit Jahrzehnten
ernst zu nehmende Wissenschaftler, die Gorleben für ungeeignet halten. Außerdem gibt es seit Jahrzehnten eine
massive Gegenwehr der örtlichen Bevölkerung, unabhängig vom politischen oder sozialen Hintergrund.
Im Zusammenhang mit diesem Untersuchungsausschuss musste ich an einen Satz denken, der dem Kollegen Müntefering zugeschrieben wird: Opposition ist
Mist. So ganz stimmt das nicht. Ohne SPD in der Opposition hätten wir den Untersuchungsausschuss wahrscheinlich nicht einsetzen können.
({3})
Da hat Opposition auch einmal etwas Gutes.
({4})
Wieso ist es so wichtig, das jetzt zu klären? Wir diskutieren im Bundestag, aber auch in der Gesellschaft seit
Wochen den aberwitzigen Vorschlag der Koalition, die
Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern, aus einem Kompromiss, der mit der Energiewirtschaft geschlossen wurde und der von uns immer abgelehnt
wurde, weil wir ihn zu weitgehend fanden, auszusteigen
und auf unabsehbare Zeit weiteren Atommüll zu produzieren, für den es bis heute kein Endlager gibt.
Asse ist abgesoffen. Das wissen wir alle; die Probleme haben wir hier mehrfach erörtert. Wenn man sich
die alten Genehmigungsunterlagen und Gerichtsakten
zieht, dann liest man, dass unter anderem für Brokdorf,
Stade und Biblis A und B sowohl die abgesoffene Asse
als auch Gorleben der Entsorgungsnachweis für die Betriebsgenehmigung waren. Damit wird natürlich klar,
wieso die Koalition meint, weiter an Gorleben festhalten
zu müssen: Ohne diese Option werden Betriebsgenehmigungen und mögliche Laufzeitverlängerungen obsolet.
Wie ist die Lage im Wendland? Die Menschen sind
massiv verunsichert, und die Emotionalität im gegenseitigen Umgang ist hoch. Von daher ist es eine Selbstverständlichkeit, was die SPD in ihrem Antrag fordert, nämlich die weiteren Untersuchungen auszusetzen, solange
der Untersuchungsausschuss arbeitet, und zu versuchen,
Transparenz in die Lage und in die damalige Entscheidungsfindung zu bringen.
({5})
Sie werden kein Vertrauen von der Bevölkerung bekommen, wenn, wie am letzten Wochenende geschehen,
Demonstrantinnen und Demonstranten inklusive Kinder,
die sich auf einem privaten Grundstück, nämlich im
Wald des Grafen von Bernstorff, aufhalten, mit Schlagstöcken und Pfefferspray vertrieben werden.
Was wollen wir mit diesem Untersuchungsausschuss
erreichen?
({6})
Wir wollen Transparenz herstellen hinsichtlich der
Frage: Wie konnte es zu der verengten Sicht auf diesen
einen Standort kommen? Waren wissenschaftliche Vorbedingungen ausschlaggebend, oder war das eine Frage
von politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit? Dafür liegen ernst zu nehmende Hinweise vor, die wir unter
die Lupe nehmen werden, um Transparenz herzustellen.
Demokratie kann nämlich nur funktionieren, wenn
Transparenz vorhanden ist, wenn die Menschen wissen,
wie, auf welcher Grundlage Entscheidungen zustande
gekommen sind. Das wird nicht funktionieren, indem
wir Menschen belügen und sie weiter an der Nase herumführen, wie das seit 30 Jahren am Standort Gorleben
passiert, oder indem wir Dokumente zurückhalten.
Ich danke.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Parallel zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses fordert die SPD hier heute, die Erkundung im
Salzstock Gorleben so lange auszusetzen, bis der Untersuchungsausschuss seine Arbeit beendet hat. Wir sind
strikt dagegen. Wir meinen, dass Ihre Forderung entlarvend ist, und zwar in der Weise, dass es Ihnen anscheinend nicht um die Aufklärung im Untersuchungsausschuss, sondern eher darum geht, die Entscheidung um
die Endlagerfrage weiter zu verzögern.
({0})
Die SPD war rund zehn Jahre in Regierungsverantwortung. Durch das von Rot-Grün beschlossene Erkundungsmoratorium sind wir keinen Schritt weitergekommen; das müssen Sie hier einfach zugeben.
({1})
Der ehemalige Umweltminister Trittin - er ist sogar zugegen ({2})
und Herr Gabriel haben zehn Jahre lang verhindert, dass
diese Frage beantwortet wird.
({3})
Die bisher gewonnenen geologischen Befunde sprechen überhaupt nicht gegen eine Eignungshöffigkeit des
Gorleben-Standorts.
({4})
Ihr werter Herr Exkanzler Gerhard Schröder
({5})
und Sie, Herr Trittin, persönlich haben im Atomkonsens
zusammen unterschrieben und bestätigt, dass die Eignungshöffigkeit von Gorleben überhaupt nicht infrage
steht.
({6})
- Ja, ja.
Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine staatliche Aufgabe.
({7})
Der Bund hat Anlagen zur Endlagerung einzurichten.
Deswegen wollen wir klären, ob der Standort Gorleben
geeignet ist. Im Gegensatz zu SPD, Grünen und Linken
stellen wir von der CDU/CSU und der FDP uns dieser
Verantwortung. Wir wollen das nicht auf die nächste Generation abwälzen.
({8})
Den Ausgang des Untersuchungsausschusses abzuwarten, macht überhaupt keinen Sinn, weil wir danach
nichts über die Eignung oder Nichteignung sagen können.
({9})
- So ist es, genau.
({10})
Die konkrete Erkundung wird es zeigen. Deswegen
muss die Erkundung des Salzstocks, so wie Herr Röttgen
das vorgeschlagen hat, vorangetrieben werden.
({11})
Wir unterstützen das Verfahren mit den drei Schritten
ganz ausdrücklich. Wir werden dann zu einer definitiven
Aussage darüber kommen, ob dieser Salzstock geeignet
ist oder nicht.
({12})
Frau Vogt, Ihnen möchte ich zum Schluss noch eines
sagen: Wir sind in einer Erkundungsphase, und in einer
Erkundungsphase sind wir beim Bergrecht.
({13})
Wenn wir über die Erkundungsphase hinaus sind und
über die Einrichtung sprechen, dann gehen wir in das
atomrechtliche Planungsverfahren.
({14})
- Genau so ist es.
({15})
- Ich habe das Urteil hier. Ich kann das gern zitieren,
Herr Trittin, wenn Sie es wünschen.
({16})
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von
Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
kommen wir also heute zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu Gorleben. Dieser Untersuchungsausschuss ist ein parlamentarisches Instrument,
demgegenüber Rednerinnen und Redner der Koalitionsfraktionen in der ersten Lesung Respekt gezollt haben,
das Sie in der Zwischenzeit aber doch in seinem Kern,
nämlich dem von der Opposition beschriebenen Auftrag,
verändern wollten.
Herr Grindel, wir haben Ihnen nicht den Gefallen getan, uns den Untersuchungsauftrag auf die Ereignisse
des Jahres 1983 zusammenschnüren zu lassen.
({0})
- Das war in der letzten Woche Ihr Vorschlag. - Das sind
die Ereignisse, zu denen Sie heute in der Presse schon
einmal verlautbart haben, dass der angebliche Skandal,
die Manipulation von Gutachten, sich längst in Luft aufgelöst habe.
({1})
Zum einen, Herr Grindel, legt niemand - auch nicht
die Mitglieder von Regierungsfraktionen - das Ergebnis
eines Untersuchungsausschusses im Vorhinein fest.
({2})
Zum anderen sollten Sie spätestens heute zur Kenntnis
nehmen, dass Ihre Versuche, Fragen, die nicht auf das
Jahr 1983 zielen, aus dem Untersuchungsauftrag herauszustreichen, nicht erfolgreich waren.
Ich bin sehr gespannt darauf, was die Zeugin Merkel
im Untersuchungsausschuss sagen wird, wenn wir sie
nach den Gründen für die Änderung des Erkundungskonzepts in den 90er-Jahren fragen. Der Verdacht, dass
bei Gorleben ein Konzept einem Standort angepasst
wurde, ist für mich einer der spannendsten Teile des Untersuchungsauftrags.
({3})
Ich möchte noch einmal den Gegensatz herausstellen.
Bei einer ehrlichen Endlagersuche wird erst ein Konzept
erstellt und dann der Standort gesucht, der den Kriterien
dieses Konzeptes am besten entspricht. Das ist das Verfahren, das wir einfordern. Dass Sie sich diesem Verfahren verweigern, dass Sie den Weiterbau von Gorleben
wollen
({4})
unter Umgehung des dafür vorgeschriebenen Atomrechts,
({5})
unter Anwendung eines seit 20 Jahren außer Kraft gesetzten Bergrechts, das nicht einmal die Öffentlichkeitsbeteiligung vorschreibt, und ohne die Ergebnisse dieses
parlamentarischen Untersuchungsausschusses abzuwarten, das zeigt Ihre Vorstellung von Verantwortung, mit
der Sie sich in den vergangenen Tagen so großgetan haben.
({6})
Ethische Verantwortung, von der Sie hier sprechen
- die Sie übernehmen wollen, indem Sie den Müll der
Atomkraftwerke den nächsten Generationen nicht vor
die Füße werfen wollen -, hätten Sie praktizieren können, wenn Sie die Atomkraft nicht legalisiert und Atomspaltung nicht zur herausragenden Energieerzeugungsform in diesem Land erklärt hätten.
({7})
Das wäre ethische Verantwortung gewesen. Das wäre
Verantwortung für die nachfolgenden Generationen gewesen. Jetzt geht es nur noch um Nachsorge.
({8})
Reden wir doch auch einmal über die Verantwortung
unseres Umweltministers.
({9})
Er nennt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss kein Erkenntnisgewinnungsinstrument, sondern
ein Kampfinstrument. Diese Auffassung praktiziert er
auch dadurch, dass er heute bei der Einsetzung des von
ihm so benannten Kampfinstruments gar nicht mehr im
Parlament anwesend ist, sondern bereits im Skiurlaub
weilt. Das ist Respekt vor dem Parlament. Größte Hochachtung.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, ich hoffe, dass wenigstens Sie die Respektlosigkeit Ihres Umweltministers in diesem Fall nicht teilen
und in diesem Untersuchungsausschuss kein reines
Kampfinstrument sehen. Wir haben das nicht vor. Wir
haben vor, Erkenntnisse daraus zu ziehen. Erfüllen Sie
Ihre parlamentarische Pflicht und tun sie das Gleiche.
Darum bitte ich Sie.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine
Heimat ist der Wahlkreis Lüchow-Dannenberg - Lüneburg. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Mit diesem Thema beschäftige ich mich nicht erst, seitdem ich
Abgeordneter dieses Wahlkreises bin. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Rot-Grün die Region mit dem Moratorium
nicht in eine zehnjährige Ungewissheit gestürzt hätte,
wären wir bei der Endlagerfrage heute schon einige
Schritte weiter.
({0})
Stattdessen: weitere zehn Jahre Ungewissheit, weitere
zehn Jahre Unfrieden in der Region, weitere zehn Jahre
Untätigkeit in der Endlagerfrage, und das alles auf dem
Rücken der Menschen vor Ort.
({1})
Mit der Aufhebung des Moratoriums werden wir
diese Hängepartie beenden. Wir wollen eine ergebnisoffene und transparente Enderkundung des Salzstockes
Gorleben. Ich möchte betonen, dass es vollkommen legitim ist, gegen ein Endlager in Gorleben zu sein. Es ist
auch völlig legitim, dies zu artikulieren, aber, bitte
schön, in ziviler und gewaltfreier Form.
Dazu gehört nach meinem Verständnis und dem Verständnis der Koalition ein enger Dialog zwischen allen
Beteiligten schon in der ersten Phase, nämlich der Weitererkundung.
({2})
Wir werden in den Fragen der Transparenz und Ergebnisoffenheit Wort halten, Herr Trittin. Ich kann an alle, auch
an Sie, Herr Trittin, nur appellieren, das Angebot zum zivilen Dialog nicht auszuschlagen, sondern sich aktiv daran zu beteiligen.
({3})
Es wird von der Opposition bemängelt, dass die Erkundungsphase nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt.
({4})
Die Erkundung kann nicht nach Atomrecht erfolgen,
weil das Atomrecht die erforderlichen Rechtsnormen für
eine Erkundung des Salzstocks gar nicht beinhaltet.
({5})
Das Bergrecht ist zudem nach Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts - wir haben es schon gehört ein zulässiges Verfahren. Das heißt jedoch noch lange
nicht, dass wir keine Transparenz schaffen wollen. Sie,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, unterliegen einem Trugschluss, wenn Sie daraus
schließen, dass eine Einbeziehung der Bürgerinnen und
Bürger nicht gewollt sei. Es mag sein, dass das Bergrecht keine Bürgerbeteiligung beinhaltet; das bedeutet
aber noch lange nicht, dass Transparenz und Einbeziehung der Bevölkerung vor Ort verboten sind.
({6})
Wenn man dann am Ende der Erkundungsarbeiten zu
dem Ergebnis kommt, dass Gorleben als Endlagerstandort geeignet ist, dann muss bei der Errichtung eines Endlagers ein atomrechtliches Verfahren eingeleitet werden,
das eine umfassende Bürgerbeteiligung vorsieht. Das
wissen Sie ganz genau.
Herr Kollege Pols, Frau Kotting-Uhl würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Nein, jetzt nicht. ({0})
Ob es dazu kommen wird, wissen wir nicht. Dazu muss
erst einmal zu Ende erkundet werden. Aber genau das
wollen Sie verhindern. Sie nehmen in Kauf, dass die
Menschen vor Ort weiter mit der Ungewissheit leben
müssen und die ohnehin schon wirtschaftlich schwache
Region noch schwächer wird.
In Ihrem Antrag zum Stopp der Erkundungsarbeiten
argumentieren Sie ferner damit, dass nicht berücksichtigt
worden sei, dass die Geltungsdauer der Salzrechte in
fünf Jahren ausläuft. Das Bundesamt für Strahlenschutz
ist zuständig für die Verlängerung der Geltungsdauer der
Salzrechte. Aber in den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht nichts passiert. Die Inhaber der Salzrechte mussten
den Präsidenten des BfS, Herrn Wolfram König, geradezu drängen, damit es demnächst zu Verhandlungen
über die Verlängerung der Rechte kommt.
({1})
Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Diskussion über
die Suche nach Alternativstandorten. Sie führen immer
wieder ein bestimmtes Argument gegen die Erkundung
von Gorleben ins Feld. Wenn Sie wirklich für eine Lösung des Endlagerproblems sind, dann sollten Sie auch
den Mut haben, geeignete Alternativstandorte explizit zu
benennen. SPD und Grüne haben die Endlagerfrage mutwillig verschlafen, verzögert und verschleppt. Ich kann
Ihnen nur eines empfehlen, Frau Kollegin Vogt: Fahren
Sie einmal nach Gorleben, reden Sie mit Ihren Genossen
vor Ort! Die dortige SPD ist nämlich - hören Sie genau
zu! - für eine schnelle Aufhebung des Moratoriums.
({2})
Ich zitiere aus einer Resolution, die Ihre SPD-Ratskollegen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen
der CDU vor Ort in den Samtgemeinderat Gartow eingebracht und verabschiedet haben: Der Rat der Samtgemeinde Gartow fordert im Interesse unserer Bevölkerung die Weitererkundung und den Abschluss der
Erkundungsarbeiten im Salzstock Gorleben; nach fast
30-jähriger Diskussion dieses Themas hat die Bevölkerung Anspruch darauf, Klarheit über die voraussichtliche
künftige Entwicklung der Standortregion Gorleben zu
erlangen.
({3})
Dass dies nicht eine Mindermeinung der politischen
Gremien ist, sondern ebenso von der Bevölkerung vor
Ort mehrheitlich getragen wird, zeigt sich an dem Ergebnis der Bundestagswahl. Ich habe meine besten Ergebnisse in dieser Region geholt.
({4})
Hören Sie einfach einmal auf Ihre Parteibasis in Gorleben und in der Samtgemeinde Gartow, Frau Vogt. Mit
zunehmender Vernunft verbessern sich dann sicherlich
auch Ihre Wahlergebnisse.
({5})
Was machen Sie stattdessen? Sie setzen einen Untersuchungsausschuss ein, um vermeintliche Vorwürfe zu
klären, die Ihnen im Wahlkampf 2009 plötzlich eingefallen sind, aber nichts gebracht haben. Obendrein wollen
Sie beschließen, dass die Erkundung in Gorleben bis
zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses
nicht fortgeführt wird. Mit anderen Worten: Sie wollen
eine geologische Frage nicht beantworten lassen, weil
Sie noch die Antwort auf eine politische Frage suchen.
Abgesehen davon bin ich mir sicher: Der Untersuchungsausschuss wird zu dem Ergebnis kommen, dass
an den von Ihnen erhobenen Vorwürfen nichts dran ist.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
Deshalb sehen wir als CDU/CSU dem Ganzen sehr
gelassen entgegen.
Noch eines: Wenn Sie beweisen wollten, dass der
Standort Gorleben nach rein politischen und nicht nach
geologischen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, dann
müssten gerade Sie ein Interesse an einer schnellen Weitererkundung des Salzstockes Gorleben haben.
({0})
Wenn Sie keine Angst vor dem Ergebnis haben
Herr Kollege Pols, bitte kommen Sie zum Schluss,
und zwar sofort.
({0})
- ja, gerne -, dann hören Sie sofort auf, eine solche
Erkundung zu verzögern und zu verschieben.
({0})
Auch ich kenne das Ergebnis noch nicht; aber eines
weiß ich gewiss: Sowohl Gegner als auch Befürworter
eines Endlagers in Gorleben haben Verantwortung für
die Region. Dazu gehört, dass die Ungewissheit der
Menschen vor Ort beendet wird. Deshalb mein Appell
an die Fraktion der SPD: Nehmen Sie Vernunft an und
ziehen Sie den Antrag zurück!
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In
einer Agenturmeldung von heute morgen hieß es - ich
zitiere -:
Der angebliche Skandal, auf den die SPD hinweise,
habe sich längst in Luft aufgelöst,
({0})
sagte der Obmann der CDU,
- im Untersuchungsausschuss Reinhard Grindel, am Freitag
- also heute im SWR. Denn der Behauptung, die Regierung
Kohl habe Gutachten aus dem Jahre 1983 beeinflusst, hätten beteiligte Wissenschaftler widersprochen.
Das liest man und reibt sich verwundert die Augen.
({1})
Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen - gerade denen aus der Union -, nachher in ihren Büros die
Internetseite des Bundesumweltministeriums aufzurufen. Da kann die ganze Welt aus einem großen Konvolut
wichtige Aussagen damals beteiligter Wissenschaftler
herunterladen, und dies im Namen von Herrn Röttgen.
({2})
Professor Duphorn am 31. Mai 1982:
Nach meiner Auffassung hat der Salzstock Gorleben … seine Eignungshöffigkeit … verloren.
Professor Dr. Memmert, Institut für Kerntechnik der
Technischen Universität Berlin, ein Freund der Atomkraft, am 2. August 1982:
Während die Laufzeit für Gorleben rund
10 000 Jahre betragen mag,
- erforderlich wäre wohl mindestens 1 Million und
mehr liegt diese für Mors
- dies befindet sich in Dänemark bei einigen Millionen Jahren.
Der Professor weiter:
Sollten diese dänischen Berichte den Gegnern der
Kernenergie oder des Endlagers Gorleben bekannt
werden, wird der Meinungskrieg um das Endlager
Gorleben erneut und verstärkt einsetzen.
Alles von der Internetseite des BMU. Professor
Dr. Hermann, Universität Göttingen:
Ich persönlich bin nicht bereit, wissenschaftliche
Argumente zugunsten parteipolitischer bzw. allgemeinpolitischer Erwägungen und Taktiken aufzugeben … In einer von dauernden Kompromissen und
Selbsttäuschungen geprägten Situation könnte ich
nicht mehr sinnvoll arbeiten.
Usw., usw.
Dann gab es von Wissenschaftlern den Entwurf eines
kritischen Gutachtens zu Gorleben. Es musste auf Weisung des damaligen Forschungsministers nachgebessert,
man kann auch sagen: manipuliert und geschönt werden.
({3})
Herr Kollege Edathy, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?
Gerne.
Herr Edathy, ist Ihnen bekannt, dass das Gutachten,
um das es Herrn Gabriel im Wahlkampf ging, ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt war,
dass der Abteilungsleiter Röthemeyer in Interviews - eines gegenüber dem Spiegel am 14. September 2009, ein
zweites gegenüber dem Stern am 17. September 2009 erklärt hat, dass die inhaltliche Ausrichtung dieses Gutachtens nicht verändert ist, und dass der damalige Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Kind,
diese Aussage im Untersuchungsausschuss des Niedersächsischen Landtages bestätigt hat? Vielleicht zitieren
Sie Herrn Röthemeyers Aussagen im Stern - eventuell
haben Sie ihn vorliegen -; Herr Röthemeyer ist nämlich
derjenige, der für das Gutachten, das angeblich manipuliert worden ist, verantwortlich war. Sind Sie bereit, das
zuzugestehen und auch zuzugestehen, dass die Zitate,
die Sie eben angeführt haben, vor diesem Hintergrund
völlig irrelevant sind?
({0})
Da ich leider nur eine knappe Redezeit habe, bedanke
ich mich für die Zwischenfrage; denn sie gibt mir Gelegenheit, ein bisschen weiter auszuholen. Das Schöne ist
ja: Auf der Internetseite des BMU - in Verantwortung
von Herrn Röttgen - lässt sich nicht nur der Endbericht
der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt downloaden,
({0})
sondern auch der Zwischenbericht, also der Entwurf. Sie
können dort, bezogen auf den Entwurf des Gutachtens,
ein Telex - das gab es damals noch - vom 13. Mai 1983
finden. Der damalige Bundesminister für Forschung und
Technologie schrieb an die Physikalisch-Technische
Bundesanstalt - wir werden das im Ausschuss noch sehr
genau auswerten können -:
Unsere Besprechung vom 11.05. Erstens …
({1})
- Dieses Schreiben ist ein Beleg dafür, dass politisch
Einfluss auf wissenschaftliche Erkenntnisse genommen
worden ist.
({2})
Dagegen haben sich Wissenschaftler auch gewehrt.
({3})
- Herr Präsident, ich bin mit der Beantwortung der Frage
noch nicht fertig.
({4})
- Herr Grindel, wie ich Ihre Frage beantworte, ist letztlich meine Sache. Sie haben das Thema angesprochen,
zu dem ich mich gerade äußere.
({5})
Ich bin mit der Beantwortung der Frage noch nicht
fertig.
Solange Sie die Frage beantworten, halte ich die Uhr
an, Sebastian Edathy ({0}):
Gut.
- unabhängig davon, ob der Fragesteller steht oder
sitzt.
({0})
Ist das neu?
Herr Kollege Edathy, darüber, wie lange die Zeit für
eine Antwort bemessen wird, entscheidet der Präsident
und nicht der Fragesteller.
Ich bin aber eindeutig noch im Rahmen der Beantwortung.
({0})
Ich zitiere aus einem Telex des Forschungsministers der
damaligen schwarz-gelben Koalition. Darin heißt es in
Richtung des Instituts:
Dieser Abschnitt sollte sinngemäß mit der Feststellung schließen,
({1})
dass die Eignungshöffigkeit des Salzstocks Gorleben … untermauert werden konnte.
({2})
- Herr Kollege, wer schreit, hat unrecht. Das lernen Sie
vielleicht auch noch.
An anderer Stelle heißt es: Es wäre wünschenswert,
wenn
dieser Abschnitt mit der Aussage schließen kann,
dass nach Einschätzung der Fachleute die noch zu
erzielenden Ergebnisse … die Eignungshöffigkeit
des Salzstocks voraussichtlich nicht in Frage stellen
können.
({3})
Herr Kollege.
Ich bin am Ende der Beantwortung der Frage des Kollegen Grindel.
({0})
An dieser Aussage kann es überhaupt keinen Zweifel
geben: Es besteht Aufklärungsbedarf. Diesem Rechnung
zu tragen, ist die Aufgabe des Untersuchungsausschusses, den wir heute einsetzen. Ich kann Ihnen versichern,
Herr Kollege Grindel: Das wird mehr werden als eine
historische Kommission oder eine fachpolitische Debatte.
({1})
Es wird dabei vielmehr um zentrale, gegenwartsrelevante Fragen gehen:
Erstens. Wie war es um die Verflechtung von schwarzgelber Politik und Atomwirtschaft bestellt? In welcher
Tradition steht diesbezüglich die neue Bundesregierung?
({2})
Zweitens. Wurden für die Durchsetzung einer ideologischen Position wissenschaftliche Gutachten manipuliert? Wurde die Öffentlichkeit entsprechend getäuscht?
Welche Auswirkung hat das auf die Endlagersuche? Genau deshalb ist es nicht nur sachlich falsch, sondern eine
Missachtung des Parlaments, wenn wir heute einen Untersuchungsausschuss ins Leben rufen und gleichzeitig
die Beplanung von Gorleben weitergehen soll. Das ist
ein Unding; das geht so nicht. Ich frage mich, was bei einer so wichtigen Debatte der Bundesumweltminister
Wichtigeres tun könnte, als hier im Plenum zu sein.
({3})
Ich habe gehört, dass der Präsident des Niedersächsischen Landtags vor wenigen Tagen bei Herrn Röttgen
angefragt hat, ob er vor dem Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags Rede und Antwort stehen
könne. Es kam ein Rückruf aus einem Referat des BMU.
Es wurde mitgeteilt, weder die Leitungs- noch die Arbeitsebene wolle gegenüber den Landtagsabgeordneten
Stellung zu dem nehmen, was Sie hier vorhaben. Das ist
unglaublich. Als Sie 1998 in die Opposition kamen, haben Sie der damals neugewählten rot-grünen Regierung
zu Unrecht Arroganz der Macht vorgeworfen. Dieser
Vorwurf fällt nun - völlig zu Recht - auf Schwarz-Gelb
in der Regierungsverantwortung zurück. Was SchwarzGelb praktiziert, ist Arroganz der Macht, das ist Überheblichkeit, das ist Politik gegen die Interessen der Menschen.
({4})
Ich empfehle Ihnen zur Lektüre ein Rechtsgutachten,
das vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegeben
wurde; es ist vom 8. September 2009. Dieses Gutachten
beantwortet die Frage, ob zulässig ist, was Sie mit der
Fortsetzung des alten Bergrechts planen. Auf Seite 57
dieses Rechtsgutachtens heißt es wörtlich - damit beende ich meine Rede, Herr Präsident -:
Eine weitere Erkundung des Bergwerks Gorleben
auf bergrechtlicher Grundlage - etwa durch Zulassung eines neuen bzw. geänderten Rahmenbetriebsplanes - ist unzulässig …
Nehmen Sie wenigstens das zur Kenntnis, wenn Ihnen
der Umgang mit dem Untersuchungsausschuss schon relativ egal zu sein scheint.
Vielen Dank.
({5})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun das Wort der Kollege Marco Buschmann von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Diese Debatte zeigt eines: In Deutschland
tobt ein Glaubenskampf, und dieser Glaubenskampf
rankt sich, wie alle anderen Glaubenskämpfe, um einen
Mythos. Dieser Mythos trägt den Namen Gorleben. Das
zentrale Glaubensbekenntnis seiner Anhänger fasst das
Greenpeace-Magazin - wie ich finde, recht originell zusammen:
Deutschland wird von der Atomindustrie beherrscht. Ganz Deutschland? Nein. Im Wendland,
wo der deutsche Atommüll endgelagert werden
soll, leisten Bauern, Adlige und Freaks seit mehr als
20 Jahren Widerstand.
({0})
Diese scheinbar harmlose Anspielung auf die AsterixComics wie der ganze Mythos Gorleben stellen in Wahrheit das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland infrage;
({1})
denn die Glaubenssätze dieses Mythos, den Sie auch hier
predigen, enthalten ganz fundamentale Vorwürfe.
({2})
Sie behaupten, in Deutschland herrsche nicht das Volk,
sondern die Energieversorger. Sie behaupten, in Deutschland gelte nicht das Recht, sondern nur Lobbyinteressen,
und die Bürger könnten sich nicht darauf verlassen, dass
die relevanten Sicherheitsbelange ausgiebig geprüft werden. Dass diese Glaubenssätze zu einem Glaubenskampf
führen, sehen wir an den Bildern dieser heftigen Auseinandersetzung.
Vor dem Hintergrund dieser Glaubenskämpfe, die Sie
mit anheizen, begrüßt die FDP-Fraktion ganz ausdrücklich, dass wir nun einen Untersuchungsausschuss einsetzen;
({3})
denn ein Untersuchungsausschuss ist ein Instrument zur
Faktenermittlung. Er gibt uns die Möglichkeit, die Sachverhalte, um die es geht, in aller Sachlichkeit aufzuarbeiten.
({4})
Sachliche Aufarbeitung entzaubert Mythen und führt auf
konkrete Lebenssachverhalte zurück, die wir dann mit
klarem Kopf würdigen können. Das trägt hoffentlich
dazu bei, diesen erbitterten Glaubenskampf, den Sie mit
anheizen, zu beenden oder zumindest zu entschärfen.
({5})
Ob das mit dem Instrument des Untersuchungsausschusses gelingen kann, liegt nicht allein in den Händen
der Koalitionsfraktionen. Das liegt auch in Ihren Händen. Ich weiß natürlich, dass Sie diesen Mythos gerne
predigen, weil er für viele Ihrer Anhänger sinnstiftend ist
und ihnen Motivation vermittelt. Ich kann mir schon
vorstellen, dass Herr Trittin an bessere Zeiten seines Lebens denkt, wenn er sich mit dem Mythos beschäftigt;
({6})
aber die Verantwortung in diesem Haus ist eine andere.
Wenn die Fakten durch den Untersuchungsausschuss
geklärt sind, dann sollten Sie mit dem Predigen von Mythen aufhören,
({7})
spätestens dann sollten Sie an die Stelle des Mythos einen
nüchternen Sachverhalt setzen, spätestens dann sollten
wir uns gemeinsam darum bemühen, den Glaubenskampf
in diesem Land, der auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wird, zu beenden. Das schulden wir alle gemeinsam unserer Verantwortung, unserer Verantwortung für
den Rechtsfrieden in unserem Land
({8})
und unserer Verantwortung für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die rechtsstaatlichen Verfahren unserer Demokratie.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1161 mit dem Titel
„Keine Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Erkundung des Salzstocks in Gorleben bis zum Abschluss
der Arbeit des 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist eindeutig abgelehnt.
({0})
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag
der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch,
Dorothée Menzner und weiterer Abgeordneter zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1250, den Antrag auf Drucksache 17/888 ({1})
in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? ({2})
Erlauben Sie, dass ich diese Abstimmung wiederhole!
({3})
- Damit sich einige klar werden können, wie sie stimmen sollen. - Noch einmal: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. April 2010, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.