Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/26/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute Morgen vor Eintritt in die Tagesordnung nichts zu verkünden, was zur Förderung der Motivation oder zur Behinderung der Tagesordnung geeignet sein könnte. Also kommen wir sofort zu den Tagesordnungspunk- ten 23 a, b und d: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale 2009 ({0}) - Drucksache 17/445 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen - Drucksache 17/1159 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahresabrüstungsbericht vorlegen - Drucksache 17/1167 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss ({3}) Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Wünscht jemand dazu eine spontane streitige Debatte mit Kampfabstimmung? - Auch das ist nicht der Fall. Wir steuern offenkundig auf ein außerordentlich friedfertiges Wochenende zu. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Außenminister Dr. Guido Westerwelle. ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Minister:in)

Politiker ID: 11002944

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Vor ziemlich genau einem Jahr hat Präsident Obama mit seiner berühmten Prager Rede ein wichtiges Signal für die weltweite Abrüstung gegeben. Die unkontrollierte Weiterverbreitung von atomaren Waffen ist wohl eine der größten Bedrohungen unserer Sicherheit. Diese Gefahr einzudämmen, ist eine Überlebensfrage. Deswegen sind Abrüstung und Rüstungskontrolle für die ganze Menschheit von enormer Bedeutung. Es ist die große Menschheitsherausforderung. ({0}) Das Jahrzehnt hat gerade erst begonnen, und man darf an dieses Thema nicht zu gelassen herangehen. Wir stehen am Beginn eines Jahrzehnts, bei dem sich noch entscheiden wird, ob es ein Jahrzehnt der Aufrüstung oder der Abrüstung werden wird. ({1}) Die Bundesregierung stellt sich dieser Verantwortung. Deswegen war es mir wichtig, den Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung gleich zu Jahresbeginn diesem Hohen Hause, dem Deutschen Bundestag, vorzulegen. Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle zentrale Bausteine einer globalen Sicherheitsarchitektur der Zukunft sind. Redetext Dies war für die Bundesregierung vom ersten Tag an Leitfaden ihrer Politik, und dies ist auch der Kompass für die kommenden Jahre. Das nukleare Gleichgewicht des Schreckens, wie es genannt wird, hat im letzten Jahrhundert dazu beigetragen, dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg nicht noch einmal in Krieg und Zerstörung versunken ist. Aber einiges, was während des Kalten Krieges richtig war, ist heute überholt. ({2}) Die Abschreckungswirkung nuklearer Waffen wird zunehmend von der wachsenden Gefahr der Verbreitung nuklearer Waffen überschattet. ({3}) Wir laufen Gefahr, dass sich in zehn Jahren die Zahl der nuklear bewaffneten Länder womöglich verdoppelt, darunter Länder, die wir heute noch gar nicht auf dem Schirm haben. Wir laufen Gefahr, dass nicht nur Staaten Nuklearwaffen besitzen, sondern auch Terroristen. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind keine Anliegen von gestern; sie sind drängende Aufgaben der Gegenwart und der Zukunft. Abrüstung ist kein naiver Idealismus. Abrüstungspolitik ist auch nicht weltfremd; im Gegenteil: Es wäre weltfremd, Abrüstungspolitik jetzt zu unterlassen. ({4}) Es ist kein Zufall, dass sich heute auf beiden Seiten des Atlantiks Außenpolitiker für nukleare Abrüstung und für eine atomwaffenfreie Welt einsetzen, die in ihrer aktiven Zeit als Politiker und Staatsmänner mit guten Gründen für die Abschreckung eingetreten sind. Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr fordern dasselbe wie Henry Kissinger, Sam Nunn, George Shultz und William Perry. Im letzten September haben die Staats- und Regierungschefs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den Weg zu einer Welt ohne Atomwaffen vorgezeichnet. Ich erinnere an die Resolution 1887 vom 24. September 2009. Sie haben in einer historischen Sitzung unter Leitung von Präsident Obama allen Staaten ins Stammbuch geschrieben, diesen Weg der Abrüstung jetzt entschlossen zu gehen. Damit ist auch deutlich, dass Abrüstung kein deutscher Sonderweg ist, sondern in die Politik der Völkergemeinschaft eingebettet ist. ({5}) Das Nachfolgeabkommen zum START-Vertrag zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland ist jetzt zum Greifen nahe. Wir setzen darauf, dass die anstehenden ganz aktuellen Gespräche zu einem Ergebnis führen können, sodass in wenigen Tagen - wir hoffen darauf - vielleicht auch ein Abschluss möglich wird. Ein erfolgreicher Abschluss wäre das Signal, dass die beiden führenden Atommächte, die mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen besitzen, ihre Abrüstungsverpflichtung ernst nehmen. Das Abkommen könnte auch den Weg für weitere Verhandlungen ebnen, die das Thema einer Reduzierung der Zahl der sogenannten taktischen Nuklearwaffen einschließen sollten. Der Nichtverbreitungsvertrag schreibt drei elementare Prinzipien fest: erstens die Verpflichtung zur Nichtverbreitung, zweitens das Gebot allgemeiner und vollständiger Abrüstung und drittens übrigens auch das unbestrittene Recht aller Staaten auf zivile Nutzung der Kernenergie. Der Vertrag beruht auf einem gegenseitigen Versprechen. Der Selbstverpflichtung zur Nichtverbreitung steht die Selbstverpflichtung der Atomwaffenstaaten zur Abrüstung gegenüber. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. ({6}) Die Überprüfungskonferenz vor fünf Jahren - Sie wissen es - scheiterte. Die Welt darf nicht noch einmal fünf Jahre verstreichen lassen. Wir wollen einen Erfolg bei der Überprüfungskonferenz im Mai in New York, wir brauchen ein erneutes Bekenntnis aller Vertragsstaaten zu den Rechten und Pflichten des Vertrages, und wir wollen einen Aktionsplan mit konkreten Schritten für eine Stärkung der drei Grundprinzipien des Vertrages, die ich eben benannt habe. Dafür wird sich die Bundesregierung einsetzen. Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen, bis heute hat der Iran den Nachweis nicht erbracht, dass sein Nuklearprogramm ausschließlich friedliche Ziele verfolgt. Ein nuklear bewaffneter Iran wäre nicht nur regional wie ein Funken im berühmten Pulverfass. Ein nuklear bewaffneter Iran würde auch das gesamte globale Nichtverbreitungsregime gefährden. Das können und das werden wir als Völkergemeinschaft nicht hinnehmen. ({7}) Alle Staaten, die außerhalb des Nichtverbreitungsvertrages Atomwaffenfähigkeit erlangt haben, bleiben aufgerufen, auf nukleare Bewaffnung zu verzichten und dem Nichtverbreitungsvertrag beizutreten. Das Nichtverbreitungsregime wird durch jeden einzelnen Beitritt stärker. Auf dem Weg zu einer nuklearwaffenfreien Welt brauchen wir aber mehr als den Nichtverbreitungsvertrag. Beim Außenministertreffen der G 8 am kommenden Dienstag in Ottawa können wir dafür die Grundlage schaffen. Die G 8 vereinen mit den USA, mit Russland, Frankreich und Großbritannien vier der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Das sind zugleich vier der fünf anerkannten Atommächte. Ich werde mich in Ottawa für eine gemeinsame Position der G 8 zur Abrüstung und zur Rüstungskontrolle einsetzen. Wenn die G 8 mit einer Stimme sprechen, dann können wir für Abrüstung und Nichtverbreitung Beachtliches erreichen. Nötig ist auch ein weltweit verbindliches Vertragsregime, um waffenfähiges Material konsequent zu kontrollieren, bevor es einer militärischen Verwendung zugeführt wird. Nur so können wir ausschließen, dass Nuklearmaterial in die falschen Hände gerät. Auf dem Nukleargipfel in Washington wird sich die Bundeskanzlerin dafür einsetzen. Wir brauchen Fortschritte aber auch beim Atomwaffenteststopp-Abkommen. 182 Staaten haben dieses Abkommen unterzeichnet, 151 haben es ratifiziert. Obwohl die überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft dieses Abkommen will, ist es bis heute nicht in Kraft. Wir appellieren an die Staaten, deren Beitritt für das Inkrafttreten noch notwendig ist, dass sie diesen längst überfälligen Schritt endlich tun. ({8}) Abrüstung und Rüstungskontrolle, unsere Verteidigungsfähigkeit und eine verantwortungsvolle Rüstungsexportpolitik sind unverzichtbare Bestandteile der umfassenden Sicherheits- und Friedenspolitik der Bundesregierung. Das Nordatlantische Bündnis ist und bleibt das Fundament unserer Sicherheit. Die zentrale Aufgabe der NATO bleibt das gegenseitige Versprechen aller Bündnispartner zu Beistand und zu gemeinsamer Verteidigung. Ich sage das ausdrücklich, weil das für viele Staaten von großem Interesse ist und weil sie auch bei dieser Frage Sicherheit und ein klares Bekenntnis erwarten. Art. 5 des Washingtoner Vertrages ist auch in Zukunft Rückgrat des Bündnisses. ({9}) Die Zukunftsfähigkeit der NATO bestimmt aber auch über die Zukunftsfähigkeit aller Bündnispartner. Daher ist es so wichtig, dass die NATO die richtigen Antworten auf die veränderte globale Sicherheitssituation findet. Bis zum NATO-Gipfel in Lissabon im November erarbeitet das Bündnis ein neues strategisches Konzept. Die NATO muss wieder zu einem politischen Ort werden, an dem wir uns mit unseren Verbündeten über die gesamte Bandbreite gemeinsamer Sicherheitspolitik verständigen. Abrüstung und Rüstungskontrolle gehören auch in die NATO. ({10}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe gemeinsam mit meinen Kollegen aus den Niederlanden, aus Belgien, Luxemburg und Norwegen eine Debatte angestoßen, damit das entscheidende Zukunftsthema „Abrüstung und Rüstungskontrolle“ wieder zum festen Bestandteil der Bündnispolitik wird. Wir werden uns Ende April in Tallinn für diese Position im Bündnis einsetzen. Ohne eine enge Partnerschaft mit Russland ist die europäische Sicherheitsarchitektur bestenfalls unvollständig. Deutschlands Sicherheit ist am besten gewährleistet, wenn es eine umfassende Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok gibt. Deswegen ist die Kooperation mit Russland so wichtig. In der Frage der Raketenabwehr sollten wir keine Mühe scheuen, gemeinsame und kooperative Lösungen zu finden. Ich bin auch zuversichtlich, dass wir über die Reduzierung und Abschaffung taktischer Nuklearwaffen sprechen können und sprechen werden. ({11}) Das setzt einen Prozess voraus, der mit mehr Transparenz beginnt, Vertrauen aufbaut und in nachprüfbaren vertraglichen Vereinbarungen münden kann und soll. Diese Waffen sind Relikte des Kalten Krieges, sie haben keinen militärischen Sinn mehr, sie schaffen keine Sicherheit, und sie haben deshalb nach Auffassung der Bundesregierung auch keine Zukunft. ({12}) Aber auch das muss klar hinzugefügt werden: Dass wir über den Abzug der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen nur innerhalb des Bündnisses und mit unseren Verbündeten gemeinsam entscheiden, ist eine Selbstverständlichkeit. ({13}) Nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle sind das Gebot unserer Zeit, weil diese Waffen mit ihrem Vernichtungspotenzial die gesamte Menschheit bedrohen. Es liegt aber auf der Hand, dass wir darüber die konventionelle Abrüstung nicht vernachlässigen dürfen. Nukleare Abrüstung darf nicht dazu führen, dass konventionelle Kriege wieder leichter führbar werden. Deswegen gehen nukleare Abrüstung und konventionelle Abrüstung nach Auffassung der Bundesregierung Hand in Hand. ({14}) Wir brauchen einen offenen Dialog zwischen der NATO und Russland, um den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa, den KSE-Vertrag, neu zu beleben und an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen. ({15}) Dass die Stimme Deutschlands in den internationalen Debatten zur Abrüstung gehört wird, ist auch der über Jahrzehnte gewachsenen Glaubwürdigkeit deutscher Friedenspolitik zu verdanken. Mit diesem Pfund, das wir uns in der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam erarbeitet haben, können wir heute wuchern. Ich mache mir keine Illusionen - ich weiß, dass Sie das genauso sehen -, dass der Weg einfach sein wird. Abrüstung und vertragliche Rüstungskontrolle sind dicke Bretter, die wir beharrlich bohren werden. Ich freue mich, dass die Bundesregierung dabei auf die breite Unterstützung dieses Hohen Hauses bauen kann. Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen der CDU/ CSU, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und natürlich auch den Kollegen meiner eigenen Fraktion, die diesen Kurs deutscher Sicherheits- und Friedenspolitik mit Rat und Tat unterstützen. Den interfraktionellen Antrag, der die überwältigende Mehrheit dieses Hohen Hauses hinter sich vereint, verstehen wir in der Bundesregierung als Auftrag und als Verpflichtung. Es ist gut und richtig - es ist auch wichtig für unsere Bürger, dies zu wissen und zu sehen -, dass wir in diesen Schicksalsfragen ein gemeinsames Fundament in diesem Hohen Hause haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion. ({0})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte als Allererstes einen ganz herzlichen Dank an alle die, die bei diesem Antrag mitverhandelt haben, aussprechen. Ich danke, obwohl es ungewöhnlich ist, meinem Kollegen Roderich Kiesewetter, der sich in der Tat bemüht hat, viele Hürden aus dem Weg zu schaffen. Herzlichen Dank dafür! Herzlichen Dank aber auch an Frau Malczak, die mit dafür gesorgt hat, dass der eine oder andere über seinen Schatten gesprungen ist. Ich denke, das ist das Kennzeichen dieses Antrags. Wir sind einen großen Schritt in der parlamentarischen Meinungsbildung vorangekommen, und dies in einer schwierigen Situation, in der es unterschiedliche Grade an Zustimmung zu dem gegeben hat, was der Herr Minister soeben ausgeführt hat. Wir haben es schwer gehabt. Ich habe gesagt, das ist gleichzeitig eine Zangen- und eine Steißgeburt. Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen, wenn auch in allerletzter Minute vor der Sitzung aller Fraktionen. Ich bin sehr froh; denn bei allen Abstrichen oder Zugeständnissen, die der eine oder andere hat machen müssen, ist es ein Antrag, der in der Tat dazu beitragen kann, die Bundesregierung in der augenblicklichen Situation zu leiten. Ich sage ausdrücklich „zu leiten“, weil es auch da Unterschiede gab, wie sich in den Diskussionen gezeigt hat. Es ist ein gutes Zeichen, dass wir ganz wichtige Punkte gemeinsam, über alle Fraktionen hinweg, beschließen können. Aus allen Fraktionen gab es Anträge. Diese werden im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung beraten werden. Wir haben gerade am heutigen Tage das Glück, sagen zu können: Jawohl, START steht kurz vor der Unterzeichnung. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen, auch wenn es nur der erste Schritt in dem bedeutenden Prozess der Abrüstung nuklearer Waffen ist. Wir wissen, dass viele weitere Schritte folgen müssen, sei es bilateral zwischen Russland und den USA, sei es ausgeweitet auf andere Nuklearwaffenstaaten der P 5. Schon da fangen gewisse Schwierigkeiten an. Wie wir von unserem direkten Nachbarn Frankreich wissen, ist dies dort eine viel schwierigere Frage als bei uns. Diejenigen, die den Nichtverbreitungsvertrag nicht unterzeichnet haben - der Minister hat es erwähnt -, aber über Nuklearwaffen verfügen, müssen, wenn wir Global Zero, Abrüstung auf null, wirklich wollen, in der Endphase einbezogen werden. Deshalb haben wir in dem vorliegenden Antrag den Appell an diese Staaten formuliert, zumindest ihre Waffen nicht weiter aufzustocken, die Produktion von Spaltmaterial zu beenden und sich dem Atomteststoppvertrag anzuschließen. Wir wissen, dass Präsident Obama den Atomteststoppvertrag in den USA ratifizieren lassen will. Wir wissen aber auch, dass es da noch eines Stückes Arbeit bedarf. Wir werden von uns aus ein bisschen Unterstützung leisten müssen, damit diese wichtige Ratifikation zustande kommt. Die Verhandlungen in Genf über einen Stopp der Produktion von Spaltmaterial stocken, weil sich Pakistan dem entgegenstellt, obwohl ein fast fertig ausgearbeiteter Vertrag vorliegt, der sich schon seit Jahren in den Schubladen befindet. Es wird eine ganz wichtige Aufgabe sein, das zu befördern. Wir sind dazu bereit. In diesem Zusammenhang wird die Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die im Mai stattfindet, ein ganz wichtiger Punkt sein. Dabei geht es um die Frage, wie es der Herr Minister formuliert hat: Wird es Aufrüstung geben, oder wird es Abrüstung geben? Diese Überprüfungskonferenz sollte so ausfallen, dass sich die Teilnehmerstaaten auf ein wegweisendes Abschlussdokument einigen können, das das aufnimmt, was wir schon einmal erreicht hatten, liebe Freunde. Mit den 13 Schritten im Jahre 2000 hatten wir etwas erreicht, was wir heute wieder haben niederschreiben müssen. In diesen 13 Schritten ist unter anderem ein ganz wichtiger Punkt enthalten. Dazu will ich ein paar Worte sagen. Das betrifft nicht nur die Strategie der USA, sondern auch die der NATO und Russlands. Ich glaube, es wäre gut, wenn man partnerschaftlich dazu käme, im Dialog zwischen Russland und den USA - mit dem Signal, das von der Nuclear Posture Review ausgeht das Richtige zu tun und auch Russland dazu zu bewegen, den Nuklearwaffen einen geringeren Stellenwert zuzuschreiben. Das ist der Kernpunkt unserer Diskussion. Es wird die Zukunft der Abrüstung bestimmen, ob es uns und auch der NATO gelingt, von der Atomwaffenstrategie Abstand zu nehmen. Es geht nicht nur um die in Deutschland oder anderen europäischen Staaten gelagerten Atomwaffen, sondern es geht auch darum, ob sich die NATO bei der Verteidigung auf einen Mix aus Atomwaffen und konventionellen Waffen stützt oder ob die NATO bereit ist, den Stellenwert von Atomwaffen herabzustufen. Bevor es überhaupt dazu kommt, auf Atomwaffen ganz zu verzichten, ist es wichtig, zu sagen, dass die Atomwaffen nur noch der Abschreckung gegen Nuklearwaffen dienen, als Restposten sozusagen. Auch Obama hat darauf hingewiesen: Solange es Nuklearwaffen gibt, werden wir Abschreckung noch brauchen. Aber wenn es uns nicht gelingt, die Rolle von Atomwaffen in den Strategien zu minimieren, wird es nicht zu einem völligen Verzicht kommen. - Deshalb ist mein großer Appell an die Bundesregierung, ein solches Vorgehen durch Verhandlungen in den NATO-Gremien zu unterstützen und voranzutreiben. Ich bin nicht ganz pessimistisch. Wir haben eine Unterrichtung von einem der zwölf Apostel bekommen, der einer Gruppe angehört, die eine neue Strategie vorbereitet. Ich hatte den Eindruck, dass man auch in dieser StraUta Zapf tegie empfehlen wird, das Ziel der völligen nuklearen Abrüstung festzuschreiben. Das hat - auch für die augenblickliche Planung - Konsequenzen. Ich bitte herzlich darum, Taten folgen zu lassen. Es gibt noch einen weiteren Punkt, um den wir gerungen haben. Vonseiten der nichtgebundenen Staaten wird die Drohung ausgesprochen, dass sie sich im Rahmen der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag einem Abschlussdokument verweigern werden, falls es keine Resolution für eine atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten geben sollte. Ich glaube - auch dieser Punkt ist wichtig -, dass das Ziel, das mit dieser Resolution angesteuert wird, eines der schwierigsten ist, weil es sich hierbei, wenn es um Abrüstungsfragen und um Sicherheit geht, um die allerschwierigste Region handelt. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass es nicht nur um die nukleare Abrüstung geht, sondern auch um eine Verabredung zur Rolle der konventionellen Streitkräfte. Das betrifft nicht nur den KSE-Vertrag - wir wissen es sehr zu schätzen, dass dieses Thema wieder auf den Tisch des Hauses gebracht wird -, sondern auch den Nahen und Mittleren Osten. Das betrifft natürlich auch die Regionen Indien und Pakistan, in denen die beiden Mächte derzeit derart aufrüsten, dass man das Schaudern bekommen kann. Wenn wir generell über den Jahresabrüstungsbericht sprechen, sollten wir das im Blick behalten. Wir stehen auch in diesem Bereich in der Pflicht, auf weitere Abrüstung hinzuwirken. Das betrifft natürlich auch die eigenen Lieferungen, die nicht maßlos zur konventionellen Aufrüstung beitragen sollten. Lassen Sie mich einen letzten Punkt erwähnen. Die Proliferationsgefahr, die mit der zivilen Nutzung von Nukleartechnologie verbunden ist, ist uns bewusst. Wenn man sich vorstellt, welche möglichen weiteren Gefahren durch die Verbreitung der Nukleartechnologie und durch das dadurch anfallende Nuklearmaterial - sei es Abfall, sei es Material zur Wiederverwertung - auch in Bezug auf die illegale oder die terroristische Verwendung entstehen, dann glaube ich, dass es höchste Zeit ist, dass wir darüber reflektieren, und zwar nicht nur in Bezug auf die Sicherung dieser Materialien - demnächst soll auf dem Gipfel in Washington darüber beraten werden -, sondern auch in Bezug auf die Frage, wie wir im Zuge einer solchen Entwicklung gewährleisten können, dass eine sogenannte Fuel Bank etabliert wird. Es wird nicht leicht sein, anderen Staaten zu sagen: Ihr dürft dieses Material, das ihr für die Reaktoren verwenden wollt, nicht selbst herstellen; wir wollen das unter internationaler Kontrolle machen. - Dies wäre aber ein wichtiger Schritt. Wir kennen das aus den ganz schwierigen Diskussionen mit Iran. Wenn ich noch ein Problem auftischen soll, das völlig ungelöst ist, muss ich an Nordkorea erinnern. Die Sechs-Parteien-Gespräche müssen von uns unterstützt werden. Es muss eine Lösung gefunden werden, damit dieses Land, das sich aus dem Atomwaffensperrvertrag quasi abgeseilt hat, in die Vertragsgemeinschaft zurückkehrt. Es muss eingebunden werden und sich an einer friedlichen Lösung all jener Probleme, die ich angerissen habe, beteiligen. Nochmals herzlichen Dank an alle für die gute Kooperation. Das lässt mich für die Zukunft dieser Legislaturperiode hoffen. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Roderich Kiesewetter ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Roderich Kiesewetter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren hier heute nicht nur über den Jahresabrüstungsbericht 2009 der Bundesregierung, sondern wir sprechen auch über einen fraktionsübergreifenden Antrag, der von vier Fraktionen dieses Hauses aus fünf Parteien vorgelegt wird. Ich denke, das ist ein gutes Signal für die Öffentlichkeit, für unsere Bevölkerung. Wir sind froh, dass wir heute - ich nenne es einmal so diese Osterbotschaft senden können. Herzlichen Dank an alle Beteiligten, insbesondere an Frau Hoff, Frau Zapf und Frau Malczak! Wenn ich diese drei Namen nenne, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass Abrüstung weiblich geworden ist. Aber ich denke, dass alle, auch die Herren des Hauses, dahinterstehen. Wir setzen damit ein klares Zeichen für eine überlegte Abrüstung. Der fraktionsübergreifende sicherheitspolitische Antrag hat die beteiligten Fraktionen über mehrere Monate hinweg an die Grenze des Auslotbaren gebracht. Das zeigt aber auch, mit welcher Ernsthaftigkeit wir darüber gesprochen haben. Es ist gut, dass unser Koalitionsvertrag bei einem Großteil des Parlaments für Übereinstimmung und gemeinsames Handeln sorgt. Viele Formulierungen finden sich im gemeinsamen Antrag wieder. Das macht Mut für künftige sicherheitspolitische Initiativen, zum Beispiel für die G-8-Initiative „Globale Partnerschaft gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen“. Bei aller Hoffnung und ohne die für Deutschland manchmal typische rosa Brille möchte ich aus Sicht der Union ein paar Punkte ansprechen. Bei Abrüstung geht es natürlich auch um unsere deutschen Interessen, um die Klärung unserer sicherheitspolitischen Interessen, einschließlich der Festigung der transatlantischen Bindung und der europäischen Verwurzelung. Es geht um Grundwerte wie Freiheit und Demokratie, Menschenrechte und Wohlfahrt. Es geht aber auch um die Glaubwürdigkeit unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir alle wissen, dass unsere heutige Initiative nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem großen Ziel ist. Selbst Obama hat gesagt, dass es bis zu einer nuklearwaffenfreien Welt möglicherweise eine Generation dauern kann. ({0}) Deshalb sollten wir bei allem Elan schon jetzt auch an konventionelle Abrüstung und an Integration von konventioneller und nuklearer Abrüstung denken. Die Ernennung von Victoria Nuland als US-Sonderbeauftragte für konventionelle Abrüstung ist ein hoffnungsfrohes Zeichen dafür, wie ernst unser wichtigster Bündnispartner auch die konventionelle Abrüstung nimmt. Es ist Auffassung der Union, dass der politische Zweck der nichtstrategischen Atomwaffen in Europa entfallen ist. Aber wenn wir diese Abrüstung wollen, dann muss sie im Bündnis abgestimmt sein, dann müssen wir schrittweise vorgehen - mit den USA, ohne einseitige Vorleistungen -, dann muss das im Zuge der Überarbeitung des strategischen Konzepts der NATO geschehen - Frau Zapf hat das eben angesprochen - und unter Einbeziehung - das ist uns von der Union ganz besonders wichtig - aller nichtstrategischen Atomwaffen in Europa, auch der russischen. ({1}) Nukleare und konventionelle Abrüstung unter Anpassung des KSE-Vertrags ist der Einstieg in eine koordinierte Abrüstung. Wir sollten dabei auch die Wahrnehmung der baltischen Staaten und unseres polnischen Nachbarn hinsichtlich der Bedrohungslage ernst nehmen. Die haben nämlich einen etwas anderen Bezug zur Geschichte. Deshalb müssen wir sie frühzeitig in unsere Überlegungen einbeziehen. ({2}) Wie stellen wir uns das konkret vor? Wir bleiben in der NATO und in der Europäischen Union fest verankert. Beiden Wertegemeinschaften verdanken wir unsere Sicherheit, unseren Wohlstand, aber auch unser Gewicht in der Welt. Die Einigung bei START, also hinsichtlich der Reduzierung der strategischen Atomwaffen, zwischen den USA und Russland, die wohl in den nächsten 14 Tagen bevorsteht, ist vielversprechend. Wir müssen alle Kraft auf die Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai setzen und in diesem Jahr versuchen, endlich die Ratifizierung des Teststoppvertrags zu erreichen - es fehlt immer noch die Ratifizierung durch neun Staaten -, damit dieser Vertrag in Kraft treten kann. Der Fahrplan des Abzugs nichtstrategischer Atomwaffen aus Deutschland und Europa hat abgestimmt im Bündnis zu erfolgen, auch mit den fünf Staaten, in denen sie zurzeit noch gelagert sind. Wenn diese Nuklearwaffen keine militärische Rolle mehr spielen, sollten wir das auch in unsere Gespräche mit der Türkei einbeziehen. Es gibt ja auch schon Überlegungen, wie man diese Atomwaffen unter internationale Kontrolle stellen könnte. Ich denke an die Vorschläge, die bei der IAEO vorliegen. Parallel zum Abrüstungsfahrplan brauchen wir - Frau Zapf hat es vorhin angesprochen - die Aufrechterhaltung einer nuklearen Rückversicherung im strategischen Konzept der NATO. Warum? Solange es noch Atomwaffen gibt, solange es noch andere Massenvernichtungswaffen auf der Welt gibt - das strategische Konzept enthält allerdings ein deutliches Zeichen der Rückführung der Bedeutung der Nuklearwaffen - und solange die Gefahr der Proliferation nicht gebannt ist, brauchen wir als letzte Rückversicherung wenige Nuklearwaffen im Bündnis. Früher hieß das Abschreckung. Diese sollten wir erst dann aufgeben, wenn keine Staaten mehr mit Atomwaffen drohen können. Denn außerhalb Europas ist die Lage nicht sonderlich erquicklich. Wenn wir den Blick in den Abrüstungsbericht wagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehen wir: Nordkorea ist unberechenbar. Atommächte wie Pakistan und Indien befinden sich nicht gerade in Friedensverhandlungen. Die Gefahr nuklearer Rüstung im Iran hat unabsehbare Konsequenzen, beispielsweise für das Bedrohungsgefühl Israels, Saudi-Arabiens und der Türkei. Sicherheitspolitik hat nicht immer nur mit klaren Fakten zu tun. Sicherheitspolitik hat viel mit Psychologie und Bedrohungswahrnehmung zu tun. Auch daran können wir arbeiten. Im Abrüstungsbericht ist davon die Rede, dass in Syrien möglicherweise geheime nukleare Aktivitäten aufwachsen. Die IAEO hat hierzu Überlegungen. Wir Deutschen arbeiten intensiv an der Multilateralisierung des Brennstoffkreislaufs. Es gibt also ganz viele Ansatzpunkte für Abrüstung, nicht nur im militärischen Bereich. Wir werben für Transparenz und Kooperationsmaßnahmen, für Verifikation für alle Massenvernichtungswaffen. Deshalb sollten wir noch stärker auf einen Erfolg bei der Genfer Abrüstungskonferenz hinwirken. Unsere Wertegemeinschaft gilt es gegen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen zu schützen. Aber wie leisten wir das ohne Nuklearwaffen? Auch darüber sollten wir uns als Parlament Gedanken machen. Es gibt eine Lösung; darüber werden wir debattieren müssen: Wir sollten darauf hinarbeiten, dass die geplante Raketenabwehr der NATO gegen Massenvernichtungswaffen für alle offen ist, die daran mitwirken wollen. Sie richtet sich gegen unberechenbare Staaten im Mittleren und Fernen Osten, Staaten, die sich nicht an den Nichtverbreitungsvertrag halten bzw. den Teststoppvertrag verletzen. Eine partnerschaftliche und nicht ausgrenzende Raketenabwehr schafft Transparenz und Vertrauen, insbesondere mit Blick auf Russland und China. ({3}) Wir sollten deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, intensiver über Sicherheitspolitik und sicherheitspolitische Architekturen nachdenken, weit über unsere nationalen Befindlichkeiten hinaus. Wir brauchen die breite Debatte. Wir können es auch offen ansprechen: Wir haben es mit dem Ende des Kalten Krieges versäumt, diese wertegeleitete Debatte in Deutschland mit Blick auf unsere sicherheitspolitischen Interessen zu führen. Das Weißbuch von 2006 ist gut, die Konzeption der Bundeswehr von 2004 auch. Aber wir haben das nicht in die Öffentlichkeit getragen. Wir sollten weiter und breiter in der Öffentlichkeit darüber diskutieren. Der Anstoß kann von uns ausgehen. ({4}) Wir sind nicht allein auf der Welt. Wir dürfen die Debatte nicht blauäugig führen. Gutmenschentum ist in der Sicherheitspolitik fehl am Platz. Hier zählen Fakten, Bedrohungswahrnehmungen, strategische Interessen, historische Zusammenhänge und psychologische Befindlichkeiten. Aber es geht auch um Glaubwürdigkeit und verlässliche Stärke. Wir brauchen eine Analyse der sicherheitspolitischen Herausforderungen und ihrer Ursachen mit Blick auf Terrorismus, Aufrüstung und unkontrollierte Verbreitung, also Proliferation. Es gilt der Grundsatz: Je weniger Nuklearwaffen, desto geringer die Gefahr, dass dieses Material in terroristische Hände fällt. Unsere heutige Abrüstungsinitiative ist dann sinnvoll und erfolgversprechend, wenn wir uns über unsere deutschen Sicherheitsinteressen glaubwürdig und vor allem auch für unsere Bündnispartner nachvollziehbar verständigen. Das bezieht die Frage der transatlantischen Abstimmung mit ein. Abrüstung kann somit nur gesamteuropäisch wirksam sein, und sie muss für nukleare und konventionelle Waffen gelten. Wir sollten auch daran denken, mit Russland über die baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen über den KSE-Vertrag zu sprechen, pragmatisch und offen. ({5}) Als Rahmen bieten sich hierzu die NATO oder die OSZE an. Wir berücksichtigen dabei auch die Sicherheitsbedürfnisse unserer östlichen Nachbarn. Wir sollten Anreize für Abrüstung schaffen, nicht Misstrauen für neue Aufrüstung. Abrüstung kostet viel Geld; darüber müssen wir uns im Klaren sein. Erst langfristig schafft sie freie Ressourcen, zum Beispiel für Bildung und Forschung. Wir brauchen aber auch Mittel zur Sicherung der Nukleararsenale. Auf dem Weg zur Verwirklichung des langfristigen Ziels Global Zero brauchen wir - ich glaube, da sind wir uns einig - die Festlegung einer möglichst geringen Anzahl von Kernwaffen als Restversicherung, und zwar möglichst außerhalb Europas. Wenn wir dies wollen, auch als Parlament, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was das im Hinblick auf die Mitbestimmung, die Teilhabe bedeutet. Auch das ist ein Punkt, über den zu diskutieren ist. Ein zügiges Wegverhandeln der nichtstrategischen Atomwaffen nach dem START-Folgeabkommen ist sicherlich möglich. Mit diesem Vorschlag machen wir unsere deutschen Interessen klar - pragmatisch und konstruktiv. Wir gehen im Bündnis Hand in Hand. Wir sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Mit dem schlichten und euphorischen Ruf nach Abrüstung, nach Abzug der Atomwaffen aus Deutschland ist es allein nicht getan. Wenn wir ernsthafte Abrüstungsbemühungen wollen, die dauerhaft erfolgreich sind, stehen wir erst am Anfang eines langwierigen und mühsamen Prozesses. Unser Koalitionsvertrag weist den richtigen Weg. Wir setzen ihn auch in der Sicherheitspolitik erfolgreich um. Dennoch: Visionen schaffen keine Sicherheit. Aber sie schaffen Zielmarken. Sie ermöglichen einen Fahrplan. Aber der Fahrplan braucht Haltestellen. An diesen Haltestellen sollten Meilensteine der Abrüstung stehen, nicht auf Visionen beruhend, sondern auf klaren Fakten, ordentlichen Verhandlungen, gegenseitigem Respekt. Das ist möglich, wenn wir die Interessen unserer Nachbarn, auch die Befindlichkeiten unserer ferneren Nachbarn, und die historischen Zusammenhänge kennen. Wir brauchen für glaubwürdige Abrüstung Vertrauen, Verlässlichkeit und Transparenz. Abrüstung mit Frieden zu verwechseln, ist ein schwerer Fehler. Abrüstung ist wichtig. Aber die Geschichte lehrt, dass zumeist nicht Abrüstung zu Frieden führt, sondern dass friedliche Zusammenarbeit erst einmal zu geringerem Misstrauen, dann zu weniger Angst und dann zu Abrüstung führt. Das hat kein Geringerer als Richard von Weizsäcker festgestellt. Abrüstung führt dann zum Erfolg, wenn sie kein Selbstzweck ist, sondern wenn sie überlegt, mit den Partnern abgestimmt und mit einem klugen Plan erfolgt, immer mit Blick auf unsere eigenen Interessen, über die wir uns national, in Europa und im Bündnis sehr ordentlich verständigen müssen. Unser gemeinsamer Antrag ist ein richtiger und zügiger Schritt. Entscheidend ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass unsere Abrüstungsziele mit unseren Interessen zusammenpassen. Populismus ist fehl am Platz, aber harte Arbeit umso willkommener. Packen wir es an! Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Inge Höger, Fraktion Die Linke. ({0})

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Täglich sterben 500 Menschen weltweit in bewaffneten Konflikten. Das sind etwa 32 Menschen in den anderthalb Stunden, in denen wir heute über Abrüstung diskutieren. Nicht wenige von ihnen sterben durch deutsche Waffen, durch Schusswaffen, die in Deutschland oder mit deutscher Lizenz produziert wurden. Die Atommächte dieser Welt besitzen nach wie vor ein nukleares Potenzial, das ausreicht, die Menschheit mehrfach zu vernichten. Trotzdem wird weiter aufgerüstet. Weltweit wird die unglaubliche Summe von 1 500 Milliarden Dollar für Rüstung ausgegeben. Abrüstung ist demnach eine entscheidende Frage, eine Überlebensfrage für die Menschen auf diesem Planten. Abrüstung ist eine drängende politische Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen. Atomare und konventionelle Waffen müssen abgerüstet werden, ganz egal, ob es um Kleinwaffen oder Großwaffensysteme geht. ({0}) Die Linke ist deshalb für Abrüstung und den Stopp von Rüstungsexporten. ({1}) Die Bundesregierung redet viel von Abrüstung. Herr Westerwelle hat gerade wieder den Beitrag Deutschlands für den Frieden in der Welt gelobt. Das ist völlig unglaubwürdig, solange die Bundeswehr immer mehr für Kriege aufrüstet. Es ist verlogen, solange Waffen in nahezu alle Regionen dieser Welt geliefert werden. Abrüstungspolitik sieht anders aus. ({2}) Auch im Lissabon-Vertrag wird die Doppelmoral bei der Rüstung hochgehalten. Der Vertrag regelt seit dem letzten Dezember die rechtlichen Grundlagen auch für die Außenpolitik der Europäischen Union. In dem Vertrag wird nur ein einziges Mal das Wort „Abrüstung“ erwähnt. In Art. 41 und in Art. 42 geht es um „Missionen außerhalb der Union“. Diese Missionen umfassen - Art. 43 - sogenannte „Abrüstungsmaßnahmen“ in Drittstaaten, die mit militärischen Mitteln durchgeführt werden sollen. Gemeint ist also eine gewaltsame Abrüstung anderer Länder. Im selben Vertrag verpflichtet die EU ihre Mitgliedstaaten zu weiterer Aufrüstung. Die EU legt dabei auch fest, wie dies mit der Europäischen Verteidigungsagentur abgewickelt wird. Hier wird schamlos europäische Machtpolitik betrieben. Abrüstung wird es so nicht geben. ({3}) Das schwedische Institut SIPRI hat gerade wieder festgestellt: Das Volumen des Rüstungshandels ist in den letzten Jahren weltweit um 22 Prozent gewachsen. Zusammen exportieren alle EU-Staaten inzwischen mindestens so viele Waffen wie die USA. Deutschland hat daran einen ganz erheblichen Anteil: Deutschland hat seine Ausfuhren in diesem Bereich in den letzten fünf Jahren verdoppelt. Deutschland ist damit Europameister beim Handel mit dem Tod und liegt weltweit auf Platz 3. ({4}) Um wenigstens etwas Licht in die dunklen Rüstungsgeschäfte zu bringen, haben wir bereits im Dezember 2008 beantragt, dass der Rüstungsexportbericht spätestens im zweiten Quartal des Folgejahres vorgelegt wird, statt, wie es bisher häufig der Fall ist, erst über ein Jahr später. ({5}) Parlamentarische Kontrolle und Debatte über Rüstungsexporte sind ein wichtiger Beitrag zur Abrüstung. Rüstungsexporte sind ein doppeltes Problem: Zum einen schaffen Waffen keinen Frieden, zum anderen fehlt das Geld, das für Waffen ausgegeben wird, an anderer Stelle. So haben auch deutsche Waffenverkäufe ihren Anteil an dem gigantischen Staatsdefizit in Griechenland. Deutsche Rüstungsunternehmen beliefern sowohl Griechenland als auch die Türkei, nahezu ausgewogen. Sie profitieren von den Spannungen zwischen diesen beiden Nachbarstaaten. Auch Südafrika und Pakistan werden mit deutschen Rüstungsprodukten beliefert. Diese Länder haben große ökonomische und soziale Probleme. Wenn Waffen gekauft werden, fehlt das Geld für Bildung, für Gesundheit, für Soziales. Deutsche Waffen gehen nach wie vor an Länder, die die Menschenrechte systematisch missachten, zum Beispiel an Saudi-Arabien. Sie gehen an Länder, die in Kriege und Bürgerkriege verwickelt sind, an Länder, die sich diese Waffen eigentlich gar nicht leisten können. Für Rüstungsunternehmen ist das in der Regel kein Risiko; denn die Exporte werden mit staatlichen Hermesbürgschaften bestens abgesichert. Die Linke ist gegen öffentliche Garantien für Rüstungsgeschäfte. ({6}) Die Linke ist für Konversion. Die Linke ist gegen Geschäfte mit dem Tod. „Frieden schaffen ohne Waffen“ ist unsere Devise. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Agnes Malczak ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Agnes Malczak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004106, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Jahresabrüstungsbericht 2009 zeigt die helle Seite der deutschen Außenpolitik. Doch es gibt auch eine ziemlich düstere: die der deutschen Rüstungsexporte. Den Rüstungsexportbericht legt die Bundesregierung nicht gerne vor. Bisher liegt der Rüstungsexportbericht weder für das Jahr 2009 noch für das Jahr 2008 vor. Das ist ein Skandal. ({0}) Bevor ich auf diese dunkle Seite der deutschen Außenpolitik zu sprechen komme, möchte ich mich zunächst einem Lichtblick der deutschen Abrüstungspolitik widmen. Den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der Grünen ist es gelungen, sich auf einen gemeinsamen Antrag zur nuklearen Abrüstung zu einigen. Wir Abgeordnete führen in diesem Hohen Hause leidenschaftliche, teilweise erbitterte Debatten zu allen möglichen Themen, und häufig ist das auch gut so. Trotzdem ist es wirklich einmalig, dass sich heute das gesamte Parlament zu einem atomwaffenfreien Deutschland und zu dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekennt. ({1}) Die Entstehung des interfraktionellen Antrages kann durchaus als schwierige Geburt bezeichnet werden. Deshalb möchte ich mich bei Frau Zapf, bei Herrn Kiesewetter und bei Frau Hoff, die sich immens bemüht haben, dafür bedanken, dass wir dieses tolle Unterfangen auf die Beine gestellt haben. Mit diesem Antrag ist der Irrglaube aus dem Kalten Krieg, dass Atomwaffen für die Sicherheit unerlässlich sind, endlich aus den Köpfen aller hier verbannt. Doch für uns ist es nur ein Teilsieg der Vernunft. Dass bei der Ausarbeitung dieses Antrages nicht alle Fraktionen beteiligt wurden, zeigt, dass die ideologischen und parteipolitischen Scheuklappen nicht ganz abgelegt werden konnten. Der Ausschluss der Linken, obwohl in der Sache eigentlich Konsens herrscht, ist aus Sicht der Grünen eine verpasste Chance. ({2}) Wenn in einer so wichtigen Frage Einigkeit besteht, sollten wir gesamtparlamentarisch Geschlossenheit demonstrieren. Meine Damen und Herren, die Kanzlerin kann jetzt auf ihrer Reise zum Gipfel in die USA ebenso wie der Außenminister auf seinen Reisen statt einer Kontroverse - das kommt häufig vor - einen Konsens mitnehmen, der Ansporn und Mahnung ist. Abrüstung muss ein Grundpfeiler für die deutsche Außenpolitik im Dienste des Friedens sein. Diese Außenpolitik darf sich nicht verstecken, weder vor den USA noch vor der NATO. Deshalb sollten wir hier nicht zu vorsichtig sein und uns nicht zu sehr wegducken. Sie sind doch auch sonst nicht so kleinlaut, Herr Minister. Vertreten Sie diese Anliegen doch noch offensiver, statt immer nur auf die Bündnisverpflichtungen zu verweisen und die nukleare Abrüstung damit zu verknüpfen. ({3}) Wer glaubt, die nukleare Bedrohung habe sich mit dem Ende des Kalten Krieges erledigt und sei nur noch ein gruseliges Kapitel in den Geschichtsbüchern, unterliegt einem gefährlichen Irrtum. Die von Atomwaffen ausgehende Gefahr für den Frieden und die Sicherheit in der Welt hat eine völlig neue, besorgniserregende Qualität erreicht. Derzeit existieren weltweit 23 000 atomare Sprengköpfe, von denen schätzungsweise 11 000 rund um die Uhr abschussbereit sind. Eine zunehmende Zahl von Staaten ist dabei, ihre nukleare Enthaltsamkeit infrage zu stellen. Der Mythos, dass Atomwaffen ein Potenzmittel für mehr Macht und zugleich eine Immunspritze für mehr Sicherheit sind, verleitet aufstrebende Mächte und jene, die es werden wollen, dazu, ihre Hände nach der vermeintlichen Wunderwaffe auszustrecken. Tonnen von waffenfähigem Nuklearmaterial lagern teilweise an ungesicherten Orten, oft nur geschützt durch Maschendrahtzaun. Mit dem Wachstum von Information und Handel ist heute die Expertise für den Bau von Atomwaffen viel leichter verfügbar als jemals zuvor. Diese Bedrohungsskizze zeigt, dass wir uns keine Versäumnisse leisten können; denn es ist höchste Zeit, zu handeln. ({4}) Das starke Votum aus dem Parlament für den Abzug der verbliebenen US-Atomwaffen in Büchel in Rheinland-Pfalz und für eine Stärkung der nuklearen Abrüstung kommt gerade noch rechtzeitig; denn im Mai dieses Jahres findet die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages statt. Sie darf nicht scheitern wie vor fünf Jahren. Ein Zusammenbruch des Nichtverbreitungsregimes und der multilateralen Rüstungskontrolle würde ein neues Zeitalter des Rüstungswettlaufes von mehr als nur zwei Großmächten heraufbeschwören. Daher ist es ein großer Schritt nach vorne, dass wir uns heute gemeinsam für klare Vereinbarungen für weltweite nukleare Abrüstung, für Rüstungskontrolle, für vertrauensbildende Maßnahmen und Transparenz aussprechen. Der gemeinsame Antrag enthält wirklich umfassende Forderungen zur Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt. Für viele dieser Forderungen haben wir Grüne uns schon seit Jahren stark gemacht. Das Parlament will, dass die Bundesregierung für eine Verstärkung von Rüstungskontrolle und Abrüstung in der NATO eintritt, und zwar offensiv. Wir stimmen für die Offenlegung von Plutoniumbeständen und für die Einrichtung eines Kernwaffenregisters. Der Bundestag setzt sich für das weltweite Inkrafttreten des Atomteststopp-Abkommens ein. Wir erteilen dem Einsatz von Atomwaffen seitens der Atommächte gegenüber Nichtkernwaffenstaaten eine klare Absage. Dass dieser Forderungskatalog von der Mehrheit dieses Hauses mitgetragen wird, ist ein erstaunlicher Fortschritt. Doch bei allem gerechtfertigten Lob und bei aller gerechtfertigten Freude über diesen Fortschritt dürfen wir uns auf diesen Lorbeeren nicht ausruhen. ({5}) Der interfraktionelle Antrag, so gut er auch ist, kann für uns Grüne als Minimalkonsens nur ein Grundstein sein, auf dem wir weiter aufbauen müssen. Wer den Bauplan kennt, der weiß, dass es darüber hinaus noch viel zu tun gibt. Ich möchte drei Baustellen nennen, die für uns wesentlich sind. Die erste Baustelle befindet sich in Deutschland. Wir wollen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe nicht länger warten als nötig. Nukleare Abrüstung beginnt vor der eigenen Haustür. Deutschland kann und sollte sich schon jetzt dafür einsetzen, dass die Ausbildung von Bundeswehrsoldaten und die Bereitstellung von Trägermitteln für den Abwurf von Atomwaffen eingestellt werden, und damit dem Beispiel Kanadas und Griechenlands folgen, die ihrerseits vor Jahren die nukleare Teilhabe beendet haben. ({6}) Die zweite Baustelle betrifft die NATO. Auch was die Rolle von Atomwaffen innerhalb der NATO angeht, ist aus grüner Sicht mehr drin. Zur Überwindung einer Politik der nuklearen Abschreckung muss die Ersteinsatzoption für Atomschläge endlich abgeschafft werden. ({7}) In der neuen NATO-Strategie, die im Herbst dieses Jahres beschlossen wird, muss Abrüstung das Kernprinzip eines Bündnisses werden, das für Frieden und Sicherheit stehen will. Das Bündnis muss sich außerdem in Richtung atomwaffenfreies Europa bewegen und in einem ersten Schritt den Abbau und vor allem auch die Verschrottung aller US-Atomwaffen in Europa einleiten. Die dritte Baustelle ergibt sich aus der Problematik der doppelten Verwendung von Nuklearmaterial, für die es nur eine grüne Lösung gibt. Die zunehmende Ausbreitung der zivilen Nutzung der Atomenergie steigert auch die nukleare Gefahr, da immer mehr Staaten die Fähigkeiten zum Aufbau militärischer Nuklearprogramme erwerben. ({8}) Deutschland muss sich national und weltweit für den Ausstieg aus der zivilen Nutzung der Atomenergie einsetzen und stattdessen die Nutzung erneuerbarer Energien in der Welt fördern. ({9}) Aber stattdessen fördert die Bundesregierung den Export von Atomtechnologie durch die Vergabe von Hermesbürgschaften wie unlängst für das Atomkraftwerk Angra 3 in Brasilien. Wenn kurzfristiger Profit in Sicht ist und die Atomlobby nach neuen Absatzmärkten lechzt, ist Schwarz-Gelb gegenüber Sicherheitsrisiken blind. Damit sind wir auch schon bei den düsteren Seiten der deutschen Außenpolitik angelangt. Der vor kurzem erschienene Bericht des renommierten schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI bescheinigt Deutschland einen bitteren Exporterfolg, auf den auch in Zeiten der Weltwirtschaftskrise niemand stolz sein kann. In den vergangenen Jahren verdoppelte die deutsche Rüstungsindustrie ihre Exporte und baute ihren Weltmarktanteil von 6 auf 11 Prozent aus. Das ist ein trauriger Rekord. Dabei ist nicht nur erschreckend, wie viele Waffen exportiert werden, sondern vor allem auch, wohin sie exportiert werden. Denn die Bundesregierung betreibt ihre offensive Rüstungsexportstrategie auch in Krisenregionen. Eine Rüstungsexportpolitik, die sich der Rüstungsindustrie derart unterwirft, unterminiert alle Anstrengungen um Abrüstung. Sie verschließt die Augen vor den verheerenden Folgen der weltweiten Aufrüstungsspirale für Sicherheit und Frieden in der Welt. Sie ist unmoralisch und verantwortungslos. Abrüstung ist ein unverzichtbarer Bestandteil einer nachhaltigen Sicherheits- und Friedenspolitik und muss daher industriepolitische Absichten übertrumpfen. ({10}) Ich stimme dem Minister zu: Nukleare Abrüstung darf nicht zu konventioneller Aufrüstung führen. Aber gerade deshalb müssen wir auch an die Rüstungsexporte heran. ({11}) Mit anderen Worten: Konsequente und ehrliche Abrüstungspolitik erfordert eine restriktive Rüstungsexportpolitik und effektive Rüstungskontrolle. Dazu gehört auch, dass der Bundestag im Vorfeld und nicht wie in der bisherigen Praxis unzulänglich und erst im Nachhinein informiert wird. Wir fordern eine unverzügliche Vorlage der Rüstungsexportberichte für 2008 und 2009 und setzen uns für ein parlamentarisches Widerspruchsrecht ein. ({12}) Abschließend möchte ich festhalten: Unser heutiges Bekenntnis für ein atomwaffenfreies Deutschland und eine atomwaffenfreie Welt ist ein erster wichtiger Schritt. Die Einigkeit in dieser Frage über die Parteigrenzen hinweg ist hierfür ein vielversprechender Lichtblick. Wir Grüne wollen eine nachhaltige Sicherheits- und Friedenspolitik, zu der eine konsequente Abrüstungspolitik untrennbar dazugehört. Und mehr grünes Licht vertreibt auch die hier noch bestehenden Schatten. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte an dieser Stelle meine große persönliche Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass es den Frauen und Männern in den verschiedenen Fraktionen gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag für den Deutschen Bundestag auf den Weg zu bringen. Wir setzen damit ein starkes Signal, für das es keinen besseren Zeitpunkt hätte geben können als das Vorfeld der Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages und des Gipfels zur nuklearen Sicherheit. ({0}) Der Deutsche Bundestag setzt hierdurch ein deutliches Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen. Der gemeinsame Antrag ist deshalb auch ein starkes Mandat für den Bundesaußenminister, der damit seinen beherzten und zukunftsweisenden Kurs in der Abrüstungspolitik national wie international fortsetzen kann. Er gibt der Bundesregierung und dem Außenminister die wichtige Rückendeckung des deutschen Parlamentes. Deutschland steht in den kommenden Monaten vor wichtigen internationalen Verhandlungen. Wir Parlamentarier wollen, dass insbesondere die Überprüfungskonferenz des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages ein Erfolg wird. Wir wollen auch, dass Deutschland hierbei eine Vorreiterrolle übernimmt. Dies wird durch unseren gemeinsamen Antrag sehr deutlich. ({1}) Das Ziel einer Welt frei von Atomwaffen ist eine Herkulesaufgabe. Kein Staat der internationalen Gemeinschaft kann es allein erreichen. Aber mit der Prager Rede von Präsident Barack Obama wurden Möglichkeiten eröffnet, die wir nicht ungenutzt verstreichen lassen dürfen. Die verantwortungsvolle Politik deutscher Staatsmänner wie Hans-Dietrich Genscher oder Helmut Schmidt während des Kalten Krieges hat maßgeblich dabei geholfen, dass wir heute die Chance auf eine atomwaffenfreie Welt nutzen können. Deutschland hat hierbei als Land, das während des Kalten Krieges ein potenzielles Feld für einen Atomkrieg war, eine besondere Verantwortung. Deshalb nutzen wir diese Chance gemeinsam mit der Bundesregierung. Mit dem vorliegenden interfraktionellen Antrag bekennt sich der Deutsche Bundestag zu dieser gemeinsamen Verantwortung. Für unsere Abrüstungsziele müssen wir aber auch endlich die überkommenen militärischen Kalkulationen des Kalten Krieges über Bord werfen. Wir werden die Konflikte des 21. Jahrhunderts nicht mehr mit den Strategien des 20. Jahrhunderts bewältigen können. ({2}) Es ist deshalb richtig, dass die christlich-liberale Koalition in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart hat, sich im Rahmen der Ausarbeitung des neuen strategischen Konzepts und in enger Zusammenarbeit und Absprache mit unseren NATO-Verbündeten für einen Abzug der letzten US-Atomwaffen aus Deutschland einzusetzen. Das Ziel einer umfassenden Abrüstung wird nicht ohne neue Abkommen zu erreichen sein. Insbesondere die USA und Russland sind hier in der Pflicht, da sich der Großteil der noch bestehenden weltweiten Atomwaffenbestände im Besitz der amerikanischen und der russischen Streitkräfte befindet. Es ist deshalb eine große Erleichterung, dass es den Regierungen in Washington und Moskau offensichtlich gelungen ist, den gordischen Knoten im Ringen um ein Nachfolgeabkommen zum START-Vertrag zu durchschlagen. Dies wäre auch ein wichtiges Abrüstungssignal im Vorfeld der Überprüfungskonferenz des NPT. Die START-Nachfolge darf aber nicht der letzte Abrüstungsschritt bleiben. Gerade im Bereich der substrategischen Atomwaffen müssen transparente und verifizierbare Rüstungskontrollvereinbarungen gefunden werden. Diese Kategorie von Atomwaffen stellt eine besondere Gefahr dar, in die Hände von Terroristen oder Proliferateuren zu fallen. Ein solches Risiko muss durch neue Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und Russland minimiert werden. Die Abrüstung der bestehenden Nukleararsenale ist aber nur eine Seite der Medaille, soll das Ziel einer atomwaffenfreien Welt erreicht werden. Mehr noch, die internationale Gemeinschaft steht vor der schwierigen Aufgabe, die Entstehung neuer Kernwaffenstaaten zu verhindern. Die Konflikte um das iranische und das nordkoreanische Atomprogramm zeigen, wie schwierig dies ist. Sowohl ein nuklearbewaffneter Iran als auch ein dauerhaft nuklearbewaffnetes Nordkorea würden eine erhebliche Gefährdung der internationalen Sicherheit darstellen. Deshalb muss es oberstes Ziel der Weltgemeinschaft bleiben, diese Konflikte durch eine politische Lösung nachhaltig beizulegen. ({3}) Das Jahr 2010 wird ein weichenstellendes Jahr für das Ziel einer Welt frei von Atomwaffen. Der Deutsche Bundestag bekennt sich zu diesem Ziel. Mit dem heute eingebrachten Antrag haben wir als Parlament hierfür ein wichtiges Zeichen gesetzt. Ganz herzlichen Dank dafür an alle. Ich hoffe, dass wir auch in Zukunft auf diesem Konsenswege eine vernünftige Abrüstungspolitik machen können. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Rolf Mützenich für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich über den gemeinsamen Antrag der vier Fraktionen. Ich würde gern das Augenmerk auf die Kolleginnen und Kollegen sowie die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes richten; denn sie haben einen wichtigen Bericht über Abrüstung und Rüstungskontrolle vorgelegt. Ich finde, sie verdienen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Respekt für die Arbeit, die sie bei der Erstellung dieses Berichts geleistet haben. Ich freue mich, dass wir auf der Grundlage dieses Berichtes in den nächsten Wochen und Monaten weiter diskutieren können. ({0}) Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt, wir hätten mit dem heutigen Tag einen guten Zeitpunkt gewählt, weil wir uns offensichtlich in den nächsten Tagen einem Vertrag über die Begrenzung der strategischen Atomwaffen näherten. Das ist ein wichtiger Schritt. Aber nun kommt auf den amerikanischen und den russischen Präsidenten die große Aufgabe zu, im amerikanischen Senat und in der Duma um Zustimmung zu werben. Ich appelliere an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung, zum Beispiel bei Gesprächen mit Senatoren in Washington für diesen Vertrag zu werben, um deutlich zu machen, dass es im deutschen und im europäischen Interesse liegt, wenn die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen diesen Vertrag schnellstmöglich ratifizieren. Wir vom Deutschen Bundestag werden das tun. Es wäre gut, wenn die Bundesregierung dem folgte. ({1}) Ich habe in der bisherigen Debatte ein bisschen den Beitrag Europas zu Abrüstung und Rüstungskontrolle vermisst. Ich finde, Europa kann eine Menge dazu liefern. Ich wünsche mir - wahrscheinlich stehen die Verhandlungen noch nicht vor dem Abschluss -, dass die 27 Mitglieder der Europäischen Union gemeinsam nach New York fahren und dort eine gemeinsame Verabredung zur Überprüfungskonferenz einbringen. Das wäre ein wichtiges Signal; denn unter diesen Staaten wären zwei Kernwaffenstaaten als ständige Mitglieder des Sicherheitsrates. Das wäre ein entscheidender Beitrag Europas, die Überprüfungskonferenz zum Erfolg zu führen. Die Bundesregierung täte gut daran, bis zum Schluss intensiv daran zu arbeiten. ({2}) Wir unterstützen Sie, Herr Bundesaußenminister, wenn Sie sagen, dass wir eine Universalisierung des NPT-Vertrages brauchen. In der Tat fehlen noch immer Staaten in diesem Vertrag. Wir müssen alles daransetzen, auf der NPT-Konferenz die letzten Widerstände zu brechen und diesen Vertrag zu einem Erfolg der internationalen Politik zu machen. Ich glaube, gerade die neue Beauftragte der Europäischen Union, Frau Ashton, sollte darüber nachdenken, ob sie der Abrüstung und Rüstungskontrolle mit einer eigenen Organisationseinheit im Europäischen Auswärtigen Dienst eine stärkere Bedeutung geben sollte. ({3}) Der Lissabon-Vertrag enthält Hinweise, dass das eine oder andere im Bereich des Militärischen aufgegriffen worden ist. Mir behagte es aber viel mehr, wenn dies auch die Abrüstung und Rüstungskontrolle beträfe. Ich möchte auf Rüstungskontrolle und Abrüstung als Instrumentarium der Politik aufmerksam machen. Dieses Instrument ist kein Selbstzweck - darauf wurde schon hingewiesen -, sondern dient der Kooperation und dem Dialog. Wir haben dieses Instrument richtigerweise und klugerweise auch während des Kalten Krieges eingesetzt; denn es war sozusagen der erste Gesprächskanal, der sich zwischen den Blöcken entwickelt hat. Die europäischen Staaten, aber auch andere, die vom Ende des Kalten Krieges profitiert haben, sollten andere Regionen ermutigen, das Instrument der Abrüstung und Rüstungskontrolle zu nutzen, um die notwendigen Dialogstrukturen in den Regionen wirksam zu machen. Was beobachten wir? Um uns herum gibt es in der Welt die größte Aufrüstung. Der SIPRI-Bericht hat darauf hingewiesen. Sie haben eben an den Doppelcharakter erinnert. Aber der entscheidende Aspekt wird sein, Abrüstung und Rüstungskontrolle sozusagen zur politischen Leitkultur in den Regionen weltweit zu machen. Ich finde, dazu hätten wir eine Menge beizutragen. Wir dürfen nicht nur Empfehlungen geben. Wenn wir über die Universalisierung von Abrüstungsverträgen sprechen, möchte ich daran erinnern, dass noch nicht alle Staaten den wichtigen Vertrag über das Verbot von Streubomben unterzeichnen haben. Dieser Vertrag ist ein ganz wichtiger Meilenstein, den wir in den letzten Jahren erreicht haben. Ich ermutige Sie, andere Staaten darauf hinzuweisen. Es darf nämlich keine Ausnahmetatbestände im Bereich von Abrüstung und Rüstungskontrolle geben. ({4}) Das gilt dann natürlich auch für andere Staaten, die sich zum Beispiel das Recht herausnehmen, im Bereich der Urananreicherung eigene Rechte für sich zu reklamieren. Auch das müssen wir hier ganz offen benennen. Dazu zählt zum Beispiel Brasilien. ({5}) Es entsteht nach meinem Dafürhalten eine große Gefahr, wenn es nicht gelingt, diese Sonderrechte zu beseitigen. Ich finde, dafür müsste auch die Bundesregierung zusammen mit den europäischen Partnern eine Menge tun. Lassen Sie mich einen weiteren Punkt nennen, über den wir zwar nicht so stark diskutiert haben, den ich aber für höchstgefährlich halte. Die Volksrepublik China hat dokumentiert, dass sie in der Lage und auch bereit ist, Satelliten abzuschießen. Sie denkt im Zusammenhang mit dem Weltraum auch die militärische Komponente. Das ist eine große Gefahr und große Herausforderung. Ich weiß, dass andere Staaten - die USA und Russland den Weltraum natürlich auch bereits für das Militär entdeckt haben, aber dass allein dieses Dokument gezeigt worden ist, wonach auch die Volksrepublik China dazu bereit ist, gibt eine Menge zu denken. Ich glaube, wir sollten diese Besorgnis in Gesprächen auch mit der Volksrepublik China immer wieder deutlich machen. ({6}) Ich unterstütze das, was viele meiner Vorrednerinnen und Vorredner gesagt haben. Die NATO muss wieder ein Forum für den Dialog über Abrüstung und Rüstungskontrolle werden. ({7}) Das ist nicht die Erfindung dieser Bundesregierung, sondern aller Bundesregierungen. Wir haben immer dafür plädiert - und ich bin damals froh darüber gewesen, dass Frank-Walter Steinmeier und der norwegische Außenminister vorgeschlagen haben -, dieses Forum innerhalb der NATO zu entwickeln. Sie greifen das auf; ich finde das richtig. Ich glaube, innerhalb des Bündnisses gibt es dann auch eine Menge zu tun. Herr Bundesaußenminister, ja, wir unterstützen Sie darin, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland und auch aus den anderen Ländern zu bringen. Das muss man gemeinsam tun. Das kann dieses Parlament mit diesem wichtigen Antrag nicht allein, das kann man nur mit den Partnern insgesamt erreichen. Ich bitte Sie, dann gleichzeitig auch eine Gefahr mitzubenennen, die entsteht, wenn sich andere Staaten in Europa melden und sagen: Na ja, dann nehmen wir diese Waffen einmal in unsere Länder auf. Auch das müssen wir diskutieren. Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie zu den Plänen der US-Regierung, diese Waffen möglicherweise auch zu modernisieren, Stellung genommen hätten. Auch das ist nach meinem Dafürhalten eine Herausforderung für Ihre ambitionierte Politik, die taktischen Atomwaffen aus Deutschland und aus Europa zu bringen; denn die Herkulesaufgabe wird doch eigentlich erst dann bewältigt sein, wenn es uns gelingt, auch Russland zu überzeugen, die taktischen Atomwaffen einer Verhandlungslösung zuzuführen. Das ist doch das große Problem, und daran sollten wir gemeinsam arbeiten. ({8}) Damit komme ich zu einer weiteren Herausforderung in diesem Zusammenhang. Die Raketenabwehr lastet sozusagen - das haben wir bei den Gesprächen zwischen den USA und Russland doch gemerkt - wie ein Stein auf der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deswegen unterstützen wir nicht nur das, was Sie gesagt haben, nämlich die partnerschaftliche Öffnung hinsichtlich der Raketenabwehr, sondern ich glaube, ein wichtiger Bestandteil muss sein, die Raketenabwehr zu einem Teil von Abrüstung und Rüstungskontrolle zu machen. ({9}) Wir werden keinen ABM-Vertrag mehr erreichen, aber ich finde, wir werden immerhin einen Dialog über die Raketenabwehr eröffnen müssen, weil das, was wir als defensiv betrachten, andere Staaten möglicherweise als zusätzliche, begleitende Offensivoption ansehen. ({10}) Ich glaube, das ist die große Gefahr, der wir auch durch Abrüstung und Rüstungskontrolle begegnen müssen. Ich komme zum Schluss. Der Iran hat hier in der Diskussion immer wieder eine Rolle gespielt. Das, was dort im Iran im Hinblick auf eine möglicherweise militärische Nutzung der Atomenergie geschieht, ist in der Tat eine große Gefahr. Ich glaube, wir haben im Deutschen Bundestag oft auch gemeinsam dafür appelliert, dass es eine politische Lösung geben muss. Frau Hoff, ich danke Ihnen dafür, dass Sie dies noch einmal ausdrücklich betont haben. Ich will nur noch einmal daran erinnern: Wir dürfen nicht alles, was in den letzten Tagen auch aus dem Iran zu hören war, einfach beiseiteschieben. Ich finde schon, dass wir das, was Teheran auf den Tisch gelegt hat, noch einmal ernsthaft prüfen sollten. ({11}) Vielleicht sollte eine Eins-zu-eins-Begleitung dieses Konzepts erfolgen. Es wäre fatal, wenn sich bei uns der Eindruck vermitteln würde, dass es hinsichtlich einer Verhandlungslösung jetzt sozusagen reicht. Wir brauchen die Verhandlungslösung in Zukunft. Wir brauchen eine politische Lösung und nicht nur eine Drohkulisse. Deswegen glaube ich, Abrüstung und Rüstungskontrolle können uns bei der Lösung dieses Konfliktes helfen. Die Errichtung atomwaffenfreier Zonen ist angesprochen worden. Wenn wir darüber sprechen, wie man es schaffen kann, dass die Welt in Zukunft ohne Atomwaffen auskommt, dann müssen wir - das will ich deutlich machen auch einen entsprechenden Appell an Israel richten. Das zu sagen, gehört nach meinem Dafürhalten zu einer ehrlichen Debatte dazu. ({12}) Ich glaube, wir sollten den Mut aufbringen, auch dies zu diskutieren. Die US-Administration hat es getan. Europa könnte das auch tun. Diese Abrüstungsdebatte ist gut. Die deutsche Außenpolitik darf sich allerdings nicht in Abrüstung und Rüstungskontrolle erschöpfen. Ich würde mir wünschen, wenn mehr kommt. Wir haben Ihnen Angebote gemacht. Wir werden auch in Zukunft weiter über den richtigen Weg streiten. Vielen Dank und alles Gute. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Abrüstung ist ein langer und ein beschwerlicher Weg. Es gibt auf diesem Weg meist nur kleine, oft kaum wahrnehmbare Fortschritte und dazwischen immer wieder schmerzhafte Rückschritte. Trotzdem lohnt es sich, diesen Weg zu gehen. Selbst wenn die Ziele aus heutiger Sicht manchmal unerreichbar erscheinen, bedeutet schon jeder kleine Schritt in die richtige Richtung einen Zugewinn an Sicherheit. Der vorliegende Bericht dokumentiert die vielen kleinen Schritte und die großen Anstrengungen der Bundes3322 regierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle im vergangenen Jahr 2009. Dafür möchte ich allen Regierungsorganisationen von ganzem Herzen danken. Genauso danken möchte ich aber auch allen Nichtregierungsorganisationen, die sich im vergangenen Jahr für Frieden und Sicherheit in dieser Welt eingesetzt haben. Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein Thema, das uns auch hier im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend am Herzen liegt. Ich freue mich, dass es uns gelungen ist, mit einem gemeinsamen Antrag ein deutliches Signal aus diesem Parlament heraus für eine Welt frei von Atomwaffen zu senden. Und das ist ein wichtiges Signal; denn gerade was die Frage der atomaren Abrüstung angeht, befinden wir uns momentan in einer Phase, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Präsident Obama - das ist schon mehrfach hier erwähnt worden - hat in seiner wegweisenden Rede am 5. April letzten Jahres in Prag ein Bekenntnis zum Fernziel einer atomwaffenfreien Welt abgegeben. Mit der Unterstützung der USA ist dieses Ziel ein ganzes Stück näher gerückt. Jetzt gilt es, alles daranzusetzen, dass es auf dem Weg dorthin Fortschritte und keine Rückschritte mehr gibt. Ein klarer Rückschritt war das Scheitern der Überprüfungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag im Jahr 2005. Bei der nun anstehenden Überprüfungskonferenz im Mai brauchen wir endlich einen Erfolg für den Atomwaffensperrvertrag. Im Moment laufen auch die bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und Russland für ein START-INachfolgeabkommen. Ich würde mir wünschen, dass von diesen beiden Ländern, die gemeinsam über 90 Prozent der weltweit verfügbaren Kernwaffen besitzen, mit Blick auf die Konferenz im Mai baldmöglichst positive Signale ausgehen. ({0}) Positive Signale aus den USA gab es auch, was den Vertrag über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen angeht. Die US-Regierung hat angekündigt, dessen Ratifizierung im Senat voranzutreiben. Das würde den Druck auf diejenigen Länder, die diesen Vertrag noch nicht unterschrieben bzw. ratifiziert haben, weiter erhöhen. Aber die besten Verträge nutzen nichts, wenn sie nicht eingehalten und überprüft werden. Nehmen wir als Beispiel Syrien - das wurde heute noch nicht genannt -: Es gibt klare Hinweise darauf, dass die von Israel im Jahr 2007 zerstörte Einrichtung ein noch im Bau befindlicher Kernreaktor war. Syrien kooperiert immer noch nicht in so genügendem Maße mit der IAEO, dass diese Vorwürfe ausgeräumt werden konnten. Wenn die Vorwürfe stimmen, dann wäre das ein klarer Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag. Ich weiß nicht, was beunruhigender ist: die Existenz eines geheimen syrischen Nuklearprogramms an sich oder dass es über Jahre hinweg unentdeckt geblieben ist. Den Risiken der Proliferation steht das legitime Interesse vieler Länder gegenüber, die Kernenergie zur Energieversorgung zu nutzen. Ungeachtet der Diskussion in Deutschland ist die Kernenergie weltweit, aber gerade im Nahen Osten und in den dort angrenzenden Regionen, auf dem Vormarsch. ({1}) Waffenfähiges Material kann entweder durch die Hochanreicherung von Uran oder in Wiederaufbereitungsanlagen für Plutonium hergestellt werden. Es muss deswegen gelingen, den Betrieb solcher Anlagen von dem Betrieb von Kernkraftwerken zu trennen. Auch Deutschland hat dazu einen Vorschlag eingebracht. Wir müssen jetzt international um die Akzeptanz der Multilateralisierung des Nuklearbrennstoffkreislaufs werben. Die nukleare Abrüstung ist zwar die wichtigste, aber bei weitem nicht die einzige Aufgabe, der wir uns bei Abrüstung und Rüstungskontrolle stellen. Der Bericht der Bundesregierung listet auch zahlreiche Anstrengungen im Bereich der konventionellen Abrüstung auf. Ich möchte in diesem Bereich vor allem auf die Erfolge bei der Ächtung von Streumunition hinweisen, die aufgrund von zahlreichen Blindgängern über Jahrzehnte hinweg eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellt. Ende 2008 haben wir dazu die sogenannte Oslo-Konvention als einer der ersten mit unterzeichnet und im Juli 2009 als elfter Staat auch im Parlament ratifiziert. Im Juni 2009 hat die Bundesregierung in Berlin eine Konferenz zur Zerstörung von Streumunition ausgerichtet. Aufgrund der überwältigenden Teilnahme hat sie dem Prozess politische Dynamik verliehen und ganz praktisch Wege zur technisch komplizierten Zerstörung dieser Munition aufgezeigt. Das war wieder ein kleiner Schritt. Wir brauchen in Zukunft eine Vielzahl solcher Schritte auf dem Weg zu mehr Frieden und Sicherheit auf dieser unserer Welt. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat der Kollege van Aken für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Abrüstung muss doch zu Hause anfangen. Nehmen wir die Waffenexporte. Ich finde es grauenhaft, dass kein anderes Land in Europa so viel Waffen exportiert wie Deutschland. Es ist kein totes Metall, das da verkauft wird, sondern diese Waffen töten, jeden Tag. In praktisch jedem Krieg und in jedem Bürgerkrieg auf der Welt werden deutsche Maschinengewehre eingesetzt, manchmal auf beiden Seiten. Es ist verlogen, hier über Abrüstung zu reden und gleichzeitig für viele Milliarden Euro andere Länder aufzurüsten. ({0}) Wenn jemand sagt, an den Waffenexporten hingen viele Arbeitsplätze, dann kann ich nur sagen: Wir wollen Arbeit schaffen ohne Waffen. ({1}) Wir haben noch eine Vision. Wir haben die Vision einer Welt, die frei ist von Waffen. Wir haben die Vision einer Welt, die frei ist von Atomwaffen und Kriegen. ({2}) Helmut Schmidt soll einmal gesagt haben: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. - Ich weiß nicht, ob er das wirklich ernst gemeint hat; falsch ist es auf jeden Fall. Ich sage: Wenn jemand Visionen hat, dann soll er nicht zum Arzt gehen, sondern auf die Straße, ({3}) jetzt zum Ostermarsch und jeden Tag, immer wieder, bis wir endlich eine Welt ohne Atomwaffen und frei von Kriegen haben. ({4}) Damit komme ich zu Ihrem Antrag zur atomaren Abrüstung. Erst einmal muss ich sagen: Ich finde ihn wirklich bemerkenswert. ({5}) Ich freue mich ganz aufrichtig, dass auch die CDU/CSU jetzt die Forderung nach atomwaffenfreien Zonen unterstützt. Besonders freue ich mich, dass nun alle fünf Fraktionen im Bundestag dafür eintreten, dass endlich die letzten US-amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland abgezogen werden. ({6}) Aber da Sie selbst regieren, frage ich Sie: Wann? Wenn Sie es wirklich wollen, kann das doch innerhalb kürzester Zeit passieren. Nennen Sie ein konkretes Datum: Abzug aller amerikanischen Atombomben noch in diesem Jahr. Punkt. Denn Abrüstung kann doch nur funktionieren, wenn sie ganz konkret und ganz verbindlich ist. Einiges in dem Antrag finde ich gut, sogar sehr gut; anderes finde ich aber eher bedenklich. Sie wollen immer noch nicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen verzichten. Wie kann das zusammengehen, wenn Sie einerseits eine atomwaffenfreie Welt fordern und andererseits immer noch daran festhalten, anderen Ländern mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen zu drohen? Das passt nicht zusammen. In einem Punkt hat sich ein richtig kapitaler Fehler in den Antrag eingeschlichen. Da kann ich nur sagen: Hätten Sie mal mit uns geredet! Wir haben vor fünf Monaten den ersten Antrag zur atomaren Abrüstung eingebracht. Dann haben Sie von den anderen vier Fraktionen sich zusammengesetzt, ohne mit uns zu reden. Ich finde das ziemlich kleinkariert, aber das ist Ihr gutes Recht. Wenn ich jetzt diesen peinlichen Fehler in dem Antrag sehe, muss ich sagen: Ein bisschen mehr Expertise hätte Ihnen gutgetan. ({7}) Wenn ich den Antrag genau lese, komme ich zu dem Schluss, dass Sie darin den engsten Verbündeten der Bundesrepublik - England, Frankreich und den USA mit Sanktionen drohen. Dazu muss man eines wissen - Herr Westerwelle hat es vorhin erklärt -: Der Atomwaffensperrvertrag kennt zwei Ländergruppen. Die einen haben Atomwaffen; die anderen haben keine Atomwaffen. Die einen haben sich verpflichtet, abzurüsten; die anderen haben sich verpflichtet, überhaupt keine Atomwaffen zu erwerben. Es gibt fünf Länder, von denen wir ganz sicher wissen, dass sie ihre Verpflichtungen nach dem Atomwaffensperrvertrag nicht erfüllt haben. Das sind die fünf offiziellen Atomwaffenstaaten China, Russland, England, Frankreich und die USA. Seit Jahren tun sie nichts, aber auch gar nichts für die atomare Abrüstung. Alle Experten in der Welt sind sich einig, dass das eine gravierende Verletzung des Atomwaffensperrvertrages ist. Jetzt fordern Sie in Ihrem Antrag unter der Nr. 10 Sanktionen gegen alle Länder, die den Atomwaffensperrvertrag verletzt haben. ({8}) Ich weiß nicht, wie das in London, Paris und Washington aufgenommen wird. ({9}) Sie werden natürlich sagen: Die sind gar nicht gemeint. Wir meinen nur die Länder, die noch gar keine Atomwaffen haben, die erst welche erwerben wollen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Diesen Unterschied kennt das Völkerrecht nicht. Vor dem Völkerrecht sind alle Verpflichtungen gleich. Danach haben die Atomwaffenstaaten nun einmal die Verpflichtung, abzurüsten, und die haben sie gebrochen. Das ist auch der Grund dafür, dass wir diesem Antrag - ich muss sagen: leider - nicht zustimmen können. ({10}) Ich hätte es gern gesehen, dass wir als gesamter Bundestag diesem Antrag zustimmen. Aber mit diesem Punkt zu den Sanktionen geht das nicht. Sie meinen mit den Sanktionen natürlich den Iran. Ich sage Ihnen: Da gehen Sie einen ganz gefährlichen Weg. Wer jetzt immer mehr Sanktionen gegen den Iran fordert, der kommt in eine Eskalation, die er nicht mehr stoppen kann. Das Ganze erinnert mich fatal an das Jahr 2002. Damals wurden die Drohungen gegen den Irak immer mehr verschärft, und am Ende hatten wir einen Krieg, den keiner hier mehr stoppen konnte. Ich sage Ih3324 nen als jemand, der jahrelang auf dem Gebiet der Abrüstung gearbeitet hat, auch bei den Vereinten Nationen: Hören Sie auf, mit Sanktionen zu drohen, und kehren Sie an den Verhandlungstisch zurück! ({11}) Eine atomwaffenfreie Welt werden Sie nie, aber auch nie mit Sanktionen und Drohungen durchsetzen, sondern nur mit Verhandlungen. Ich bedanke mich. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr van Aken, es trifft sich gut, dass wir direkt nacheinander reden. Ich möchte Ihnen erst einmal entschieden widersprechen, was Ihre Einschätzung zum Verhalten gegenüber dem Iran angeht. Ich bin wirklich der festen Überzeugung, dass jetzt eine klare Sprache und klare Handlungen gegenüber dem Iran notwendig sind. ({0}) Es ist sehr viel Zeit verstrichen, die der Iran genutzt hat, um sein Nuklearprogramm voranzutreiben und gleichzeitig auch noch weitere Trägersysteme zu entwickeln. Vor dem Hintergrund sind die Weltgemeinschaft und natürlich auch der Deutsche Bundestag gefordert, klarzumachen, dass es uns nicht möglich ist, zu akzeptieren - so hat es der Minister schon gesagt -, dass der Iran Nuklearwaffen besitzt. ({1}) Deshalb stemmen wir uns auch dagegen. Wenn Sie denken, dass es einen einfacheren Weg gibt, der nur Dialog beinhaltet, machen Sie es sich zu einfach. Wir müssen die Option auf Sanktionen selbstverständlich realistisch vorantreiben, weil wir uns sonst von vornherein um alle Handlungsoptionen bringen. Dagegen würde ich mich entschieden wehren. Reden allein wird den Iran nicht überzeugen. Das haben wir schon in den vergangenen Jahren gesehen. Israel macht sich zu Recht sehr große Sorgen um seine Sicherheit. Das können wir vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte auf keinen Fall akzeptieren. ({2}) Ich bin froh darüber, dass wir in diesem Haus in einem breiten Konsens über das Thema Abrüstung diskutiert haben. Herr van Aken, geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem wirklich vernünftigen Antrag zu, der auf einem breiten Konsens fußt. ({3}) - Ich rede ja gerade mit Ihnen. ({4}) Wir haben einen breiten Konsens hergestellt. Sie haben einen Punkt herausgegriffen bzw. konstruiert, damit Sie wenigstens einen Grund, dagegenzustimmen, für Ihre Ablehnung vorweisen können. Ich fordere Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck und stimmen Sie diesem Zeichen für Abrüstung zu! Gerade heute, vor den anstehenden Konferenzen, ist es wichtig, dass wir deutlich machen, dass auch der Deutsche Bundestag ein klares Zeichen für Abrüstung in der Welt setzt. Stimmen Sie deshalb bitte zu. ({5}) Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass es trotz allen Bemühens - an dieser Stelle komme ich auf Iran und Nordkorea zu sprechen - unterschiedliche Entwicklungen gibt: In der westlichen Welt wird intensiv darüber diskutiert, wie es mit den Nuklearwaffen weitergehen soll; das ist auch richtig so. In Amerika gibt es die Global-ZeroInitiative, die auch von deutscher Seite begleitet wird, beispielsweise durch die Initiativen des Bundesaußenministers. Auch der frühere Bundesaußenminister Genscher hat dies immer wieder angesprochen. Das alles ist sehr wichtig und zeigt eine Vision von einer nuklearwaffenfreien Welt, die sicherlich sehr wünschenswert ist. Daneben stellen wir fest, dass Länder wie Iran und Nordkorea davon nichts wissen wollen, sondern weiterhin im Verborgenen daran arbeiten, ein Nuklearprogramm voranzutreiben. Dass dies eines Tages auch eine realistische Bedrohung für uns werden könnte, zeigen Erkenntnisse darüber, dass die Trägertechnologien, die im Iran erarbeitet werden, in fünf bis zehn Jahren eine Reichweite von etwa 3 000 Kilometern haben könnten. Wenn man sich überlegt, dass München nur rund 2 700 Kilometer vom Iran entfernt ist, dann wird klar: Dieses Programm stellt unter strategischen Gesichtspunkten selbstverständlich auch für uns eine Bedrohung dar. Der Iran entwickelt dieses Programm nicht, um Deutschland heute einen Nuklearschlag anzudrohen, sondern um strategisch in die Vorhand zu kommen und damit die westliche Welt als Schutzmacht Israels auszuhebeln. Vor diesem Hintergrund muss man trotz allen Wohlwollens in unserer heutigen Debatte berücksichtigen, dass sich andere Staaten ganz anders verhalten. Deshalb gehört zu dieser Diskussion trotz aller Visionen eine gehörige Portion Realismus. Daraus muss man in den nächsten Wochen konkrete Schlussfolgerungen ziehen. Ich werbe erneut dafür, dass der UN-Sicherheitsrat - am besten gemeinsam mit China und Russland; denn nur dann wird man effektiv und effizient sein - den Iran stärker unter Druck setzt. Ich glaube, dass es vor allem dann gelingen kann, unsere Partner in China und in Russland für dieses Projekt zu gewinnen, wenn wir an anderer Stelle Ernst machen und sie in größerem Maße - Herr Kollege Mützenich hat es gerade gesagt - in die Debatte um die Nuklearwaffen einbeziehen. Erfolgreich werden wir nur mit der NATO, also zusammen mit unseren Bündnispartnern, sein. Außerdem müssen wir gemeinsam mit Russland einen vernünftigen Weg finden, über die Nuklearwaffen zu diskutieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass das der richtige Weg ist. Welches das richtige Diskussionsforum ist, das lasse ich offen. Damit verknüpft ist die Frage, wie man in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren verantwortungsbewusst Außenpolitik gestalten kann. Ich halte die im Raume stehende Vision für richtig. Ich halte auch den angestoßenen Prozess für richtig. Er muss gemeinsam mit der NATO, mit unseren Verbündeten und darüber hinaus mit Russland fortgeführt werden, um Erfolge erzielen und eine emotionale Bindung an dieses Projekt erreichen zu können. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält Herr Kollege van Aken das Wort.

Jan Aken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004001, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Mißfelder, Sie haben gerade gesagt, wir hätten nach einem Haar in der Suppe gesucht. Das lasse ich nicht auf mir sitzen. Seit Jahren arbeite ich im Bereich der Abrüstung - an der Universität, in NGOs, bei den Vereinten Nationen. Sie können versichert sein, dass uns die Abrüstung über alles geht. Ich habe lange nach einem Weg gesucht, wie wir diesem Antrag zustimmen können. Eines ist klar: In Washington und überall auf der Welt wird dieser Antrag völlig anders wahrgenommen, wenn der gesamte Bundestag zugestimmt hat. Diese Stärke hätte ich diesem Antrag gerne verliehen. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, wir sollten uns einen Ruck geben, dann kann ich nur sagen: Sie von der CDU/CSU-Fraktion waren diejenigen, die darauf bestanden haben, dass die Linke bei der Ausarbeitung des Antrags nicht dabei ist. ({0}) Jetzt fällt Ihnen das auf die Füße. Sie haben diesen Antrag geschwächt. ({1}) Lassen Sie uns beim nächsten Mal zu fünft zusammensetzen. Gemeinsam bringen wir etwas zustande. Das wird ein Signal an die Welt sein, das die Abrüstung wirklich voranbringt. Das, was Sie jetzt machen, ist parteipolitisches Schmierentheater. Dafür bin ich nicht zu haben. Mir geht es um die Abrüstung. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer kurzen Replik erhält der Kollege Mißfelder jetzt Gelegenheit.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte mich kurzfassen, Herr Präsident. - Herr van Aken, wir haben hier die Gelegenheit, das öffentlich, transparent, sogar im Fernsehen und in Anwesenheit vieler Zuschauer auf den Rängen zu diskutieren. Das heißt, wir gehen hier vernünftig miteinander um. Wozu Sie uns jedoch nicht zwingen können, ist, mit der SED-Nachfolgepartei gemeinsame Initiativen einzubringen. ({0}) Das wollen wir einfach nicht. Das ist der Grund, warum wir mit Ihnen bei diesen wichtigen Themen nicht zusammenarbeiten wollen. Ich kann hier offen bekennen: Mit Ihnen nicht! ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht wäre es im Zusammenhang mit der Debatte über Abrüstung sinnvoll, wenn der eine oder andere in diesem Haus auch sprachlich ein wenig abrüsten würde; denn all diese Themen eignen sich gar nicht zu überwiegend emotionaler und polemischer Auseinandersetzung. Dafür sind sie zu ernst, und dafür sind sie in vieler Hinsicht auch viel zu kompliziert. Ich möchte mich jetzt mit dem Antrag der Grünen auseinandersetzen. Mir ist der Widerspruch in der Rede der Kollegin vom Bündnis 90/Die Grünen aufgefallen, die, was Rüstungsexporte angeht, in alte Muster zurückgefallen ist, während sie in der Abrüstungsdebatte sehr sachlich und zukunftsorientiert argumentiert hat. Die Tatsache, dass wir als Bundestag die offiziellen Zahlen bekommen, lange nachdem SIPRI sie schon veröffentlicht hat, GKKE uns die Stellungnahme zugeschickt hat und Zahlen aus allen möglichen Himmelsrichtungen geliefert worden sind, ist unbefriedigend - das wissen auch Sie selbst, Herr Außenminister -; aber das hat mit dem Verfahren zu tun, mit dem gearbeitet wird. Ich bin sicher, dass die Zahlen über Exporte Deutschlands, die SIPRI in diesem Jahr veröffentlicht hat, vermutlich wieder nicht stimmen und dass sich die Schlagzeilen, auf die so heftig reagiert worden ist, relativieren werden. Es wird sich weder die Verdoppelung der Zahlen herausstellen - davon gehe ich aus -, noch werden wir auf der Rangstufe sein, die man uns jetzt bescheinigt. Was geschieht tatsächlich? Tatsächlich gibt es eine große Kontinuität in der deutschen Rüstungsexportpolitik, die sich an den sehr restriktiven Regelungen des Jahres 2002 orientiert. Vieles von dem, was in den nächsten Berichten stehen wird, ist im Übrigen auf Ver3326 träge zurückzuführen, die geschlossen worden sind, als diese Regierung noch längst nicht im Amt war. ({0}) Es sind sogar Verträge dabei, die schon die vorhergehende Regierung geerbt hat. Es empfiehlt sich, das Ganze sehr nüchtern zu betrachten. Der EU-Standpunkt, der zu einer gemeinsamen Rüstungsexportpolitik in Europa führt, hat einen weiteren Fortschritt gebracht. Er hat die europäischen Exporte zwar noch nicht deutlich reduziert, aber wir haben eine Vergleichbarkeit, eine größere Transparenz. Der EUStandpunkt trägt außerdem dazu bei, dass sich die Rüstungswirtschaft in Europa stärker auf gemeinsame Ziele fokussiert. Das sieht man an der deutschen Rüstungsexportpolitik: Rüstungsgüter gehen in der Regel an Mitgliedstaaten der EU und der NATO. Selbst SIPRI und andere kritische Beobachter bestätigen, dass Deutschland beim Export in Staaten, die nicht Mitglieder der EU oder der NATO sind, äußerst restriktiv ist. Auch das sollten wir einmal sagen. Wir müssen doch nicht so tun, als wären wir da überhaupt nicht vorangekommen. Über die Jahre hat sich die Transparenz immer weiter erhöht. Die Verabschiedung des Antrags, der jetzt eingebracht wurde, würde dazu führen, dass der Jahresabrüstungsbericht - das erkennt, wer genau hinschaut und weiß, wie ein solcher Bericht zustande kommt - in Zukunft später vorgelegt wird. Denn es gibt einen bestimmten Vorlauf für die Vorlage des Rüstungsexportberichts, den man nicht einfach auflösen kann. Da gibt es einmal die Genehmigungen; sie kann man ziemlich früh erfassen, weil das BAFA sie laufend ermittelt. Dann gibt es die tatsächlichen Exporte. Die kann man erst im Nachhinein erfassen. Dazu benötigt man die abgeschlossenen Dateien des Statistischen Bundesamtes. Sie auszuwerten, dauert ein bisschen länger; sie können eigentlich nicht vor Mitte des Jahres vorliegen. Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit dem Rüstungsexportbericht ist die Pflicht zur Meldung an das UN-Waffenregister. Auch damit ist ein zeitliches Auseinanderfallen verbunden. Natürlich geht es nicht, dass wir zwei, drei Jahre hinterherhinken. Die Bundesregierung hat zugesagt, dass der Bericht 2008, dessen Vorlage sich durch den Regierungswechsel verzögert hat - so etwas ist schon früher vorgekommen -, jetzt an das Kabinett geht und uns anschließend zügig vorgelegt wird. Nach der Sommerpause, im dritten, spätestens im vierten Quartal, werden wir auch den Bericht von 2009 vorgelegt bekommen. Ich glaube, das ist richtig. Spätestens im Herbst des Folgejahres - das ist, wenn man alle Abläufe betrachtet, machbar - muss der Rüstungsexportbericht vorliegen. Noch etwas kommt hinzu: Wir alle sollten bei den Parlamentsdebatten darauf achten, dass nicht alles und jedes auf die Tagesordnung kommt und wichtige Punkte nicht im Stapel der Dinge, die nicht abgearbeitet werden können, weil die Zeit nicht ausreicht, untergehen. ({1}) Ich wünsche mir auch, dass alle, die hier auftreten und sich öffentlich zur Rüstungsexportpraxis melden, dann, wenn der Bericht in den zuständigen Ausschüssen behandelt wird, über ihn debattieren, konkret über seine Einzelheiten sprechen und wirklich einen Dialog mit der Regierung führen. In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder Folgendes erlebt: Im Ausschuss wurde der Bericht durchgewinkt, und im Plenum fanden große Debatten statt. Das ist vor dem Hintergrund der Artikulationsfunktion des Parlaments zwar zu rechtfertigen; aber mit sachlicher Arbeit, damit, wie wir mit dieser Frage umgehen und wie wir zu einer weiteren restriktiven Praxis kommen, die mit unserer und der europäischen Außenpolitik übereinstimmt, hat dies nichts zu tun. Das ist zu wenig. ({2}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen für die CDU/CSU-Fraktion zu: Wir werden einen solchen Antrag gemeinsam mit Ihnen einbringen, wenn die Bundesregierung nicht einhält, was sie für dieses Jahr versprochen hat. Aber ich bin sicher, dass sie ihre Versprechen einhält. Dieses Thema eignet sich nicht für Aufregungen. In der Koalitionsvereinbarung steht, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle wichtig sind und dass dies ein zentraler Baustein einer globalen Sicherheitsarchitektur ist. Wir können aufgrund der jetzt in Bewegung geratenen internationalen Abrüstungsdiskussionen davon ausgehen,

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Erich G. Fritz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- dass es demnächst wieder Abrüstungsberichte gibt, die keine Regierungsprosa enthalten nach dem Motto: „Wir haben etwas aus den laufenden Prozessen, die wir beobachten, zu berichten“, sondern substanzielle Fortschritte vorweisen, über die zu debattieren wir mit großer Freude hier zusammenkommen werden. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1159 mit dem Titel „Deutschland muss deutliche Zeichen für eine Welt frei von Atomwaffen setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist Präsident Dr. Norbert Lammert dieser Antrag mit den Stimmen der einbringenden Fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke mit breiter Mehrheit angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23 d. Hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die Vorlage auf der Drucksache 17/1167 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Dabei ist allerdings die Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Auswärtigen Ausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dem Auswärtigen Ausschuss die Federführung zu übertragen, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Gegenstimmen sind erkennbar die Mehrheit. Damit ist dieser Überweisungsvorschlag abgelehnt. Ich lasse nun über den anderen Überweisungsvorschlag, die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie anzusiedeln, abstimmen. Wer stimmt diesem Überweisungsvorschlag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dieses Mal waren die Stimmen für den Überweisungsvorschlag in der Mehrheit, und damit ist die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 24: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa - Drucksache 17/1168 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache wiederum 90 Minuten vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Wir können so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Konstantin von Notz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorweg ein Zitat: Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. So das Bundesverfassungsgericht am 2. März dieses Jahres. Das sind wahre Worte. ({0}) Das Gericht hat mit seinem Urteil die sogenannte Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt und damit der Verfassungsbeschwerde einer breiten Bürgerrechtsbewegung, die über 34 000 Menschen umfasst - viele darunter aus meiner Fraktion -, stattgegeben. Als Konsequenz aus diesem Urteil fordern meine Fraktion und ich zwei Dinge. Erstens. Die Bundesregierung muss sich auf der europäischen Ebene für eine vollständige Aufhebung der betreffenden Richtlinie einsetzen. Zweitens. Darüber hinaus muss sie allen weiteren Vorhaben, die eine Vorratsdatenspeicherung vorsehen, entschieden entgegentreten. ({1}) Schon in der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember letzten Jahres, zu der sich in Karlsruhe - das kann ich Ihnen an dieser Stelle erneut nicht ersparen kein einziger Befürworter des Gesetzes eingefunden hatte, wurde deutlich: Die anlasslose, massenhafte Speicherung individueller Kommunikationsdaten ist ein tiefer Eingriff in die Privatsphäre aller Bürgerinnen und Bürger. Die Speicherung - so das Gericht - sei geeignet, „ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen“ und könne „eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“. Wenn sich selbst Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, gegen eine flächendeckende Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes aussprechen und wie Frau Aigner lauthals gegen Google Street View zu Felde ziehen, dann können Sie doch nicht allen Ernstes für eine flächendeckende und anlasslose Datenerfassung im Internet sein. Das ist ein echter Wertungswiderspruch. ({2}) Die jüngsten Erhebungen der Stiftung Warentest machen erneut deutlich: Wir haben nicht zu viel Datenschutz, sondern wir haben viel zu wenig Datenschutz. Eine Regierung, die sich über die Datenskandale bei Lidl, Google und der Deutschen Bahn echauffiert, aber selbst Vorratsdatenspeicherung propagiert, ist unglaubwürdig und handelt datenschutzrechtlich schizophren. ({3}) Das gilt leider auch für den Innenminister. Seine Bemühungen, nach den Ministern Schily und Schäuble eher bürgerrechtlich wahrgenommen zu werden, sind unglaubwürdig. Den Datenbrief im Munde führen, aber ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in der Tasche tragen, das passt einfach nicht zusammen. ({4}) Noch einmal: Das Internet war nie ein rechtsfreier Raum, und es ist auch durch das jüngste Urteil nicht dazu geworden. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik, PKS, aus dem Jahr 2007 - also vor der Vorratsdatenspeicherung erstellt - weist für alle in Deutschland erfassten Straftaten eine Aufklärungsquote von 55 Prozent aus. Bei Straftaten mit dem Tatmittel Internet kommt es - wie gesagt: ohne Vorratsdatenspeicherung - zu der spektakulär guten Aufklärungsrate von 83 Prozent. So viel zu der Mär vom rechtsfreien Raum Internet. Nur als Randbemerkung: Die PKS weist für 2008, also für das erste Jahr mit Vorratsdatenspeicherung, bei Internetstraftaten eine Aufklärungsrate von 79,8 Prozent aus. Das ist immer noch gut, aber schlechter als in dem Jahr vor Einführung der Vorratsdatenspeicherung. ({5}) Diese Zahlen können nicht verwundern, Herr Binninger; denn aus einer Studie des Max-Planck-Instituts ergibt sich, ({6}) dass die Vorratsdatenspeicherung bestenfalls bei 0,01 Prozent aller Straftaten von Nutzen sein kann. Auf gut Deutsch heißt das, dass die Vorratsdatenspeicherung für mindestens 99,9 Prozent aller Straftaten absolut nutzlos ist. ({7}) Dafür wollen Sie, meine Damen und Herren von der Union, die verfassungsrechtliche Identität der Bundesrepublik Deutschland - so sagt das Bundesverfassungsgericht - aufbohren. Das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. ({8}) Das Internet ist ein grundrechtlich geschützter Freiheitsraum. Wir alle hier sind deswegen primär in der Pflicht, diese grundrechtlichen Freiheiten zu schützen, unter anderem Art. 10 des Grundgesetzes. Wir fordern Sie deswegen auf: Schluss mit der Eskalationsrhetorik! ({9}) Ziehen Sie die bürgerrechtlichen Konsequenzen aus dem Urteil und lassen Sie die verfassungsrechtliche Identität unseres Landes unberührt! Beerdigen Sie Ihre Pläne zur Vorratsdatenspeicherung auf nationaler und auf europäischer Ebene! Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Michael GrosseBrömer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Antrag der Fraktion der Grünen zur Vorratsdatenspeicherung. Dort steht, man möge ihr entschlossen entgegentreten. ({0}) Herr von Notz, ich glaube, Sie sind sogar Jurist. ({1}) - Ich komme jetzt dazu. Ich erkläre das. Mich hat das verwundert, weil Sie immer nur Zitate gebracht haben und dann eklatant falsche Schlüsse daraus gezogen haben. ({2}) Was die von Ihnen angesprochene Nichtigkeit betrifft - Sie tun immer so, als sei das alles eine eindeutige Geschichte gewesen -: ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat mit vier zu vier entschieden. Nun zu sagen, die Richter hätten übereinstimmend die Bedenken der Grünen geteilt, ist völlig abwegig. Da gab es eine Entscheidung, die überhaupt nicht eindeutig war, sondern offensichtlich sehr geteilt. Damit beginnt es. Ich kann nur raten: Hören Sie einmal auf den von mir sehr geschätzten Kollegen Wieland. Er hat bei der letzten Debatte zu dem Thema gesagt: Bevor man über das Urteil spricht, sollte man es sehr genau lesen. ({4}) Ich kann Ihnen sagen: Hören Sie auf die Ratschläge Ihrer älteren Kollegen. ({5}) Natürlich haben wir von der CDU/CSU gehofft, dass Sie auch einmal bei Themen wie Antidiskriminierung Sensibilität, was Umwege über Europa betrifft, an den Tag legen. Wir haben hier eines festzustellen: In Europa gibt es eine Mehrheit für die Vorratsdatenspeicherung; das Europäische Parlament hat nämlich so entschieden. ({6}) Auch da gibt es offensichtlich keine Mehrheit für die von Ihnen vertretene Auffassung. ({7}) Ich will noch eines sagen: Falsch ist auch die von Ihnen gezogene Schlussfolgerung, das Gericht habe die Vorratsdatenspeicherung für nichtig erklärt. Die Vorratsdatenspeicherung ist - so steht es ausdrücklich in dem Urteil - sogar per se geeignet und auch notwendig zur Bekämpfung schwerster Verbrechen. Das steht in dem Urteil. ({8}) Angesetzt wird da, wo es um die Umsetzung, wo es um die Datensicherung und um die Datenverarbeitung geht. Das nehmen wir mit Respekt zur Kenntnis. Aber hören Sie auf, falsche Wahrheiten zu verbreiten. ({9}) Die Vorratsdatenspeicherung wurde vom Gericht nicht für verfassungswidrig erklärt. ({10}) Es ist festzustellen, dass auch der Schutz der Bürger ein Wert ist. Ich glaube, wir alle sind der Auffassung - es ist sogar verfassungsrechtlich abzuleiten -, dass es wichtig ist, den Schutz der Bürger vor schweren Straftaten sicherzustellen. ({11}) Wenn das Bundesverfassungsgericht in dem von Ihnen mehrfach zitierten Urteil feststellt, dass die Vorratsdatenspeicherung ein wichtiges Instrument ist, um schwerste Straftaten, um Terrorismus und organisierte Kriminalität zu bekämpfen, dann ist das für uns als CDU/CSU ein ganz wichtiger Aspekt. Wir sagen: Daran muss man festhalten. Die Bürger in diesem Land haben einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung. ({12}) Es geht noch weiter. Es gibt Spezialisten, teilweise in Ihrer Fraktion, in größerem Maße in meiner Fraktion. ({13}) - Ja. ({14}) - Ja, es gibt ja nichts Schöneres, als Ihnen eine Freude zu machen, und das an diesem Vormittag. ({15}) - Ich werde manches nachholen. Die Personen, die sich beruflich mit effizienter Strafverfolgung beschäftigen, zum Beispiel der Präsident des Bundeskriminalamtes, die Mitglieder des Bundes Deutscher Kriminalbeamter - wir müssen ihnen dankbar sein, dass sie das tun -, sagen: Bitte begeht nicht den Fehler und verzichtet auf die Vorratsdatenspeicherung; denn wir brauchen sie. Herr Ziercke, der Präsident des BKA, hat vor dem Bundesverfassungsgericht ein deutliches Beispiel genannt: Ein Teil der 145 Mitglieder eines Internetboards, wo kinderpornografisches Bild- und Filmmaterial ausgetauscht wurde - das ist schwerste Kriminalität -, konnten identifiziert werden. Über die erhobenen Verkehrsdaten, etwa die E-Mail-Adressen, konnten 20 Mitglieder - Kinderschänder und damit Schwerverbrecher identifiziert werden. Ich sage Ihnen: Wir brauchen die Vorratsdatenspeicherung, um effizient gegen solche Leute vorzugehen. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Grosse-Brömer, darf der Kollege Montag Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke, Herr Präsident. - Lieber Kollege GrosseBrömer, Sie haben Fachleute auf dem Gebiet der Bekämpfung von Straftaten zitiert, Kriminalbeamte und insbesondere den BKA-Präsidenten Ziercke. Würden Sie mir recht geben, dass die Autorität des BKA und auch die von Herrn Ziercke - bisher habe ich sie, so wie Sie, als hoch angesehen - schwer angekratzt ist, nachdem es gerade das BKA und Herr Ziercke waren, die uns allen hier im letzten Jahr im Brustton der Überzeugung gesagt haben, wir müssten unbedingt und sofort - das sei äußerst effektiv - Internetsperren zur Bekämpfung von Kinderpornografie einführen. Er hat Sie und die Union sozusagen davon überzeugt. Inzwischen ist allgemein klar - alle Fachleute sagen das; die Industrie sagt das -, dass das von Anfang an ein völlig sinnloses und zweckloses Mittel war, weil jede Sperre innerhalb von einigen Sekunden von jedem einfachen User umgangen werden kann. Stimmen Sie mir zu, dass es bei den jetzigen Aussagen des Herrn Ziercke, man brauche die Vorratsdatenspeicherung dringend, angebracht ist, Vorsicht walten zu lassen? ({0})

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Montag, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar. Zu dieser Feststellung gibt es von mir nicht einmal einen Hauch von Zustimmung. Ich kann Ihnen das erklären. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben eine Veranstaltung zur Effizienz bei der Bekämpfung von Kinderpornografie durchgeführt. Ich gebe Ihnen recht, dass das Löschen im Zweifel effizienter ist als das Sperren - wenn man es denn kann und dazu die Gelegenheit hat. Ein Problem ist nämlich, dass die Seiten mit diesen perversen Inhalten wöchentlich wechseln. Die Auffassung meiner Fraktion ist, dass das Sperren, wenn man das Löschen nicht schafft, immer noch nicht die perfekte Möglichkeit ist, jeglichen Zugriff auf bestimmte Seiten zu verhindern. Aber es ist immerhin möglich - das zeigen ganz konkrete Erfahrungen aus Norwegen -, die Anzahl der Zugriffe auf die entsprechenden Seiten um bis zu 40 Prozent zu reduzieren. Der Präsident des Bundeskriminalamtes hat recht, wenn er sagt: Wir können nicht darauf verzichten, zumindest die hinter dieser Zahl stehenden Personen davon abzuhalten, diese perversen Seiten anzusehen. ({0}) Insofern hat er für mich immer noch ein hohes Ansehen. Ich hoffe, auch Sie kommen irgendwann zu dieser Erkenntnis. Wenn ich daran gleich anknüpfen darf: Es ist aus meiner Sicht und für meine Fraktion sehr wichtig, dass die Menschen, die sich fachlich permanent und intensiv mit der Bekämpfung schwerster Kriminalität beschäftigen, nicht aus durchschaubaren politischen Gründen diskreditiert werden, ({1}) nur weil die Erkenntnisse der großen Polizeidienststellen und der Verbände, in denen sich jeden Tag viele Beamte mit der Bekämpfung von Kriminalität befassen, nicht in das eigene politische Konzept passen. Sie sollten so früh wie möglich damit aufhören, diese Personen zu diskreditieren. Das ist der falsche Weg, in Deutschland für eine effiziente Strafverfolgung zu sorgen. ({2}) Ich halte es in der Tat für arrogant und leichtfertig, zu versuchen, diese Leute sozusagen hintenherum und mit wenig argumentativer Überzeugungskraft in eine bestimmte Ecke zu stellen. ({3}) Warum fordern diese Personen wohl eine zügige neue gesetzliche Grundlage? Glauben Sie, die hätten davon in irgendeiner Form persönliche Vorteile? Nein, die machen sich Sorgen um die Situation in Deutschland. Sie machen sich Sorgen, dass Schutzlücken bestehen, wenn die Vorratsdatenspeicherung nicht mehr zur Verfügung steht. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Die Bürger in Deutschland haben einen Anspruch auf effiziente Strafverfolgung und auf Schutz durch den Staat. ({4}) Ich finde, wenn die Beamten, die mit diesem Thema zu tun haben, die Vorratsdatenspeicherung als wirksames Instrument in Anspruch nehmen, dann ist es unser Job, ihnen dieses Instrument auch zur Verfügung zu stellen. ({5}) - Herr Kollege von Notz, was ich bei Ihrer Argumentation ganz spannend finde - auch ich habe das Urteil gelesen -, ist der Bezug auf dieses diffuse Gefühl des Beobachtetseins. ({6}) Ich kann das gut nachvollziehen. Dabei geht es nämlich nicht um die Einzelmaßnahmen. Schließlich ist es nicht so, dass wir grundsätzlich der Auffassung sind: Alles läuft bestens, und wir können ohne Ende Daten erheben. Ich kann, wie gesagt, nachvollziehen, dass man dieses Gefühl hat. Ich glaube, meine Tochter, die mittlerweile zwölf Jahre alt ist, hat vom Internet schon mehr Ahnung als ich. Deswegen macht sie sich vielleicht auch weniger Sorgen. Auch Sie sind schon eine andere Generation. Ich nehme Ihre Argumente ernst. Was mich aber immer wieder wundert, ist, dass dieses diffuse Gefühl des Beobachtetseins, wenn es um Google oder Facebook geht, überhaupt keine Rolle spielt. ({7}) Vor kurzem hat Herr Schirrmacher im Frühstücksfernsehen eine spannende Frage gestellt: Wer kontrolliert eigentlich Google? ({8}) Diese Frage werden wir hier und heute nicht beantworten können. Aber es wäre schön, wenn Sie aufhören würden, dem Staat in dieser Debatte grundsätzlich ein Ausforschungs- und Aushorchungsinteresse zu unterstellen, aber dann, wenn es um Google und Facebook geht, die Freiheit des Internet zu betonen, die sie gerade denen gewähren wollen, die über mehr Daten verfügen, als der Staat jemals bekommen kann. ({9}) Ich finde, das ist ein Fehler in Ihrer Argumentation. ({10}) - Herr Kollege Montag, wenn Sie von Popanz reden, scheint meine Rede gut gewesen zu sein; denn dann sind Sie ein bisschen unruhig. Das freut mich. Wenn wir über die Datenspeicherung diskutieren, müssen wir ein erhöhtes Problembewusstsein an den Tag legen; hier sind wir mit Ihnen einer Auffassung. Auch meine Fraktion wird sensibel vorgehen und darauf achten, was für den Staat möglich sein muss und was nicht. Das ist doch gar keine Frage. Dafür sitzen wir hier. Was den konkreten Fall, die Vorratsdatenspeicherung, angeht, können wir aber nicht behaupten, sie sei ein Instrument, das für den Bürger auf keinen Fall erträglich ist. Ich glaube sogar, es ist umgekehrt: Die Bürger erwarten, dass man, wenn man wirksame Instrumente zur Verfügung hat, diese auch nutzt, um sie vor Gewalttaten zu schützen; dafür gibt es viele Beispiele. Ich jedenfalls glaube den Leuten, die mit diesem Thema täglich zu tun haben. Die Regierungskoalition analysiert derzeit das Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Auf europäischer Ebene tut man das auch. Die CDU/CSU hat vor dieser Debatte Rücksprache mit einigen Kollegen aus dem Europäischen Parlament gehalten. Wir können feststellen: Das Schutzniveau, das auf europäischer Ebene geschaffen wird, wird - ungeachtet der Bemühungen der Justizkommissarin - nicht höher sein als das Schutzniveau, das uns vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben wurde. Es wird in Europa keine strengeren Maßstäbe geben, als sie in Deutschland nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes gelten. ({11}) - Weil gar nichts anderes in der Debatte ist. Unsere Koalition arbeitet nach dem Motto: So sorgfältig wie nötig, aber so zügig wie möglich müssen Schutzlücken geschlossen werden. ({12}) Das wird beim Arbeitstempo zu berücksichtigen sein. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass die Frist für die Umsetzung dieser Richtlinie bereits abgelaufen ist. Was Europa uns vorgibt, ist also zu berücksichtigen, und zwar in dem Rahmen, den das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat. Ein schönes Datenschutzkorsett ist gerichtlicherseits vorgegeben. Wir werden es nun gesetzgeberisch auffüllen und damit wahrscheinlich sehr erfolgreich sein. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christine Lambrecht für die SPDFraktion. ({0})

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie so oft reizt die Rede des Kollegen Grosse-Brömer dazu, einiges klarzustellen. Da Sie selbst einräumen, vom Internet wenig zu verstehen, haben Sie zumindest diese These klar belegt. Bei allem Respekt für eine Verteidigungshaltung: Wenn jemand bei Google Daten über sich freigibt, wenn die jüngere Generation in verschiedensten sozialen Netzwerken persönliche Daten freigibt, kann man diese Daten doch nicht in einen Zusammenhang stellen mit Daten, die bei einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung erfasst werden. Das eine hat mit dem anderen wenig zu tun. Bei den Daten, die bei Google gesammelt werden, erklären sich die Nutzer einverstanden, wissen, was mit den Daten passiert. ({0}) - Man weiß es sehr wohl; denn man selbst entscheidet, was man über sich preisgibt. Zumindest ist es ein gewaltiger Unterschied dazu, dass anlasslos die Telekommunikationsverbindungen Hunderttausender Menschen erfasst werden. Natürlich muss man die Menschen dazu aufrufen, mit ihren persönlichen Daten sorgfältig umzugehen, sie nicht leichtfertig irgendwo einzuspeisen. ({1}) Aber das ist ein anderer Punkt. Bei der Vorratsdatenspeicherung hat man diese Möglichkeit nicht. Das ist ja das, was das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung mit seinem Urteil ins Stammbuch geschrieben hat: Es hat nicht gesagt, dass eine Vorratsdatenspeicherung per se unmöglich sei; aber es hat sehr hohe Hürden benannt. Diese Hürden müssen bei der Umsetzung berücksichtigt werden. ({2}) Es gibt Hürden bei der Verwendung der Daten, bei der Sicherheit der Speicherung sowie bei der Transparenz. Es muss darüber informiert werden, für was und warum diese Daten erhoben werden. Vor allen Dingen muss derjenige, dessen Daten verwendet werden, darüber informiert werden. So weit gehen wir, glaube ich, d’accord. Sie haben zu Recht angesprochen, Herr GrosseBrömer, dass eine Ursache für die Einführung einer gesetzlichen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung Attentate in europäischen Großstädten wie in Madrid waren. Anhand von aufgefundenen Handys konnte damals festgestellt werden, mit wem die Attentäter telefoniert hatten. So konnten Rückschlüsse auf entsprechende Verbindungstäter gezogen werden. ({3}) Jetzt muss es darum gehen, die Vorratsdatenspeicherung gerichtsfest, verfassungsfest umzusetzen. ({4}) Da haben Sie eine große Aufgabe vor sich. ({5}) Wir werden das gespannt beobachten. Ich rate aber, in der Öffentlichkeit nicht so zu tun, als ob momentan eine gewaltige Sicherheitslücke entstünde, als ob man - wie Sie es beschrieben haben Kinderschänder derzeit nicht verfolgen könne. ({6}) Zur Aufklärung solch schwerster Verbrechen gibt es die Möglichkeit der Telefonüberwachung. ({7}) Sie können doch nicht behaupten, dass gegen Kinderschändernetzwerke derzeit in keiner Weise vorgegangen werden könne, dass man solche Verbrechen nicht ahnden könne, weil keine anderen Maßnahmen zur Verfügung stünden. ({8}) Schüren Sie nicht Ängste! Selbstverständlich sind wir uns darin einig, dass organisierte Kriminalität, schwerste Verbrechen verfolgt werden müssen. So zu tun, als ob man dazu momentan keinerlei Mittel habe, verwirrt. Das ist der Sache nicht dienlich. ({9}) Wir werden beobachten, wie Sie mit dieser großen Aufgabe umgehen. Wir haben im Vorfeld ja schon einiges gehört: Die Ministerin - die selbst gegen die Vorratsdatenspeicherung geklagt hat - hat erklärt, sie wird das Verfahren jetzt erst einmal aussetzen und abwarten, was in Europa passiert. Die zuständige EU-Kommissarin, Justizkommissarin Reding, hat gesagt, dass sie diese Richtlinien auf den Prüfstand stellen will. Diese Überprüfung will Frau Leutheusser-Schnarrenberger abwarten. Aus der Fraktion der CDU/CSU habe ich anderes gehört. Da will man ganz schnell eine Lösung, die sofort umgesetzt wird, damit keine Lücken entstehen. ({10}) Ich bin gespannt, wie sich bei diesem Thema die Mehrheitsverhältnisse entwickeln. Wir werden beobachten, wer sich hier durchsetzt: ({11}) die Ministerin, die gegen die Vorratsdatenspeicherung geklagt hat und recht bekommen hat, oder die CDU/ CSU, die eine ganz andere Position vertritt, nämlich jetzt sofort eine Lösung zu finden, weil sonst Lücken entstünden. Ich war eben schon ein bisschen perplex, dass Sie sich hier wechselseitig beklatschen. Ich bin gespannt, was der Kollege von der FDP dazu sagen wird. ({12}) Vielleicht vertritt auch er die Position, dass sofort etwas gemacht wird und nicht abgewartet wird, was auf europäischer Ebene passieren wird. Davon rate ich Ihnen ab. Aber ich gehe davon aus, dass die FDP in dieser Frage die Fahne der Freiheitsrechte der Bürger ganz klar hochhält, so wie sie das in allen Wahlkampfslogans vertreten hat. Wir werden sehen, wer sich am Ende durchsetzt. Ich hoffe, es wird die FDP mit ihrer Ministerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, sein. ({13}) Aber, wie gesagt, momentan ist in dieser Koalition alles denkbar. ({14}) Von daher kann ich der FDP anbieten, mit uns konstruktiv zusammenzuarbeiten. Aber, wie gesagt, wir sind gespannt, wer sich durchsetzt. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christian Ahrendt für die FDPFraktion. ({0})

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Lambrecht, seien Sie versichert: Wir werden die Fahne der Freiheit weiter hochhalten. ({0}) Ich habe gerade festgestellt, dass Sie eine solche Fahne gar nicht im Schrank haben. ({1}) Um Ihre Gedächtnislücken etwas zu schließen: Sie haben, glaube ich, am 9. November 2007 in der namentlichen Abstimmung zur Vorratsdatenspeicherung dafür gestimmt. ({2}) Ich habe auch gesehen, dass Sie noch nicht einmal eine Erklärung zu Protokoll gegeben haben. ({3}) Es ist sehr schön, von Leuten belehrt zu werden, wie man mit einem Thema umzugehen habe, die zu keiner Zeit in der Lage waren, dieses Thema auch nur annähernd sorgfältig zu bearbeiten. ({4}) Schauen wir uns einmal an, wie das gelaufen ist, weil das jetzt ein Stück weit Vergangenheitsbewältigung ist. Ihre Parteifreundin, Frau Zypries, war Justizministerin. Sie hat es auf EU-Ebene nicht geschafft, die Richtlinie aufzuhalten. Sie war als zuständige Justizministerin für die Umsetzung der Richtlinie verantwortlich. Insofern erinnerte mich das Haus Zypries ein bisschen an eine Rudi-Carrell-Show. An diese Show erinnert man sich eher, wenn man so eine Frisur wie ich hat. Die Show hieß „Am laufenden Band“. Das, was an Gesetzen aus dem Hause Zypries kam, ist am laufenden Band vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aufgehoben worden, Frau Kollegin Lambrecht. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lambrecht?

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0}) Sie können gerne eine Kurzintervention machen, Frau Kollegin. Ich werde jetzt zum Thema kommen. Das Thema ist - der Kollege Notz hat es angesprochen, das ist, glaube ich, ein Kernsatz der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes - die Freiheitswahrnehmung. Mit der Freiheitswahrnehmung nicht vereinbar ist, dass alltägliche Daten erfasst, gesammelt und gespeichert werden und dadurch ein Gefühl der Überwachung entsteht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung deutlich gesagt, dass es Aufgabe der Bundesregierung ist, diese Freiheitswahrnehmung auf europäischer Ebene und auch auf internationaler Ebene zu verteidigen. Weil ich weiß, dass die Justizministerin selber Klägerin gegen diese Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung bzw. das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war, brauchen wir Ihren Antrag nicht, weil Frau LeutheusserSchnarrenberger persönlich dafür steht, dass die Freiheitsrechte, so wie es das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, auf europäischer Ebene gewahrt werden. ({1}) Das Entscheidende ist, dass auch auf europäischer Ebene schon ein Umdenken eingesetzt hat. Die Justizkommissarin Reding hat angekündigt, dass sie die europäische Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung evaluieren will. Die Innenkommissarin, Frau Malmström, hat hinterfragt, ob es noch ein ausreichendes Gleichgewicht zwischen Terrorismusbekämpfung auf der einen Seite und den privaten Freiheitsrechten auf der anderen Seite gibt. Auch von dort ist also zu erwarten, dass man die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung auf EU-Ebene evaluiert. Auch eine dritte Frage wird in diesem Zusammenhang geklärt werden, nämlich ob diese Richtlinie noch mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar ist, die zusammen mit dem Lissabon-Vertrag in Kraft getreten ist. ({2}) Wenn wir uns das alles sorgfältig anschauen, ({3}) dann stellen wir fest, dass es derzeit gar keine Veranlassung gibt, in Hektik zu verfallen. ({4}) Die Berichte werden im September 2010 vorliegen, und wir werden das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sorgfältig auswerten. Es besteht auch keine Sicherheitslücke. Durch die einstweilige Verfügung wurde die Regelung zur Vorratsdatenspeicherung schon vorzeitig suspendiert. Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zunächst keine Anwendung findet, hat dem Sicherheitsgefühl in Deutschland keinen Abbruch getan. Insofern ist es in der aktuellen Situation nicht unbedingt erforderlich, übereilt eine Richtlinie umzusetzen, die ohnehin auf dem Prüfstand steht. Vor diesem Hintergrund bedarf es derzeit des etwas populistischen Antrages der Grünen nicht. ({5}) Deswegen werden wird dem Antrag auch nicht zustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Lambrecht.

Christine Lambrecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da der Kollege Ahrendt keine Zwischenfrage zulassen wollte, nutze ich die Möglichkeit der Kurzintervention und weise darauf hin, dass es die SPD-Justizministerin Brigitte Zypries war, die darauf hingewirkt hat, dass die in der Richtlinie ursprünglich vorgesehene Dauer der Speicherung von 36 Monaten auf EU-Ebene auf sechs bis 24 Monate gekürzt wurde und dass in dem entsprechenden Umsetzungsgesetz in Deutschland nur noch eine Dauer von sechs Monaten vorgesehen war. Frau Zypries hat diese EU-Richtlinie in ihrer Eigenschaft als Justizministerin also nicht einfach durchlaufen lassen, sondern sie hat entscheidenden Einfluss darauf genommen, dass es nicht zu unverhältnismäßig langen Speicherungsdauern gekommen ist. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ahrendt.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Kollegin, dieser Sachverhalt ist bekannt. ({0}) Aber wir kennen auch den Satz: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Frau Zypries konnte bei dem wenigen Bemühen, das sie an den Tag gelegt hat, nicht erlöst werden. Denn wir haben immer gesagt, dass wir diese Richtlinie in Deutschland gar nicht wollen. ({1}) Es wäre also eigentlich ihre Aufgabe gewesen, die Richtlinie auf europäischer Ebene zu verhindern. Das hat sie nicht geschafft, daran muss sie sich messen lassen. Deswegen können wir Ihnen das Argument der geringen Fristverkürzung auch nicht durchgehen lassen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jan Korte für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der FDP traue ich nun wirklich alles Schlechte dieser Welt zu, ({0}) aber in diesem Falle, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, war es in der Tat maßgeblich Brigitte Zypries, die diese Richtlinie auf europäischer Ebene und im Bundestag durchgesetzt hat. Das muss man der Fairness halber einmal sagen. Deswegen hätte mich interessiert, welche Meinung die SPD jetzt zu dieser Richtlinie hat und wie Sie gedenken, mit dem Antrag der Grünen umzugehen. Aber vielleicht geht ja der zweite Redner aus Ihrer Fraktion darauf ein. Vor dem Hintergrund welcher Situation diskutieren wir heute? - Abermals ist vom Bundesverfassungsgericht ein sogenanntes Sicherheitsgesetz kassiert worden - verbunden mit recht drastischen Ermahnungen. Die damaligen Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke haben schon damals gesagt, dass das so kommen wird und dass Ihre Entscheidung auch politisch falsch ist. Darauf wollten Sie aus ideologischen Gründen nicht hören, und jetzt haben wir sozusagen den Salat. Wenn das höchste deutsche Gericht urteilt, dass ein Gesetz oder eine Richtlinie fachlich falsch ist, dass das alles so nicht geht, dass man das neu regeln müsste, dann denkt man als Bürger ja, die erste Reaktion darauf müsste eigentlich sein, zur Ruhe zu kommen, in sich zu gehen und zu prüfen, wie man es besser und grundrechtskonform machen könnte bzw. ob man das Ganze überhaupt braucht. Das hat diese Bundesregierung aber nicht getan. ({1}) Der Bundesinnenminister und die CDU sagen: Wir müssen unbedingt vor der Sommerpause noch irgendetwas unternehmen. - Die Bundesjustizministerin dagegen sagt - und dabei unterstütze ich sie sehr -: Am besten machen wir erst einmal gar nichts; denn gar nichts zu tun, ist besser, als das Falsche zu tun. ({2}) Deshalb wissen wir bis heute nicht, was die Meinung der Koalition ist. ({3}) Ich denke, wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass das Bundesverfassungsgericht abermals etwas kassiert hat, und einen Richtungswechsel vornehmen. An dieser Stelle stellt sich die berühmte Frage: Was tun? Um noch einmal auf das Problem zurückzukommen: Bei der Vorratsdatenspeicherung geht es darum - das ist der Unterschied zu Google, Facebook und anderen -, dass ohne Anlass und ohne Verdacht das Kommunikationsverhalten von 80 Millionen Bundesbürgern komplett registriert wird. Das ist das Kernproblem, über das wir hier diskutieren. Es geht also sozusagen um eine Totalprotokollierung von menschlichem Kommunikationsverhalten, und zwar anlasslos. Daraus ergeben sich in einer Demokratie grundlegende Fragen. Denn Datenschutz und das Wissen, unbeobachtet und unangepasst kommunizieren zu können, ist eine entscheidende Grundlage demokratischen Engagements. Dies wird durch die Vorratsdatenspeicherung behindert und infrage gestellt. Denn klar ist - darauf wird auch in dem Urteil hingewiesen -, das jemand, der sich ständig beobachtet und registriert fühlt, automatisch, vielleicht sogar unbewusst, anfängt, sein Kommunikationsverhalten zu ändern. Man fängt an, angepasst zu kommunizieren. Das will zumindest die Linke nicht. Wir wollen eine unangepasste Kommunikation in diesem Land. ({4}) Wer sich ständig beobachtet fühlt, passt sich an. Das mag jemandem mit einem autoritären Weltbild wie Ihnen vielleicht sinnvoll erscheinen. ({5}) Wir wollen das aber nicht. Wir wollen unangepasst sein, und wir wollen den aufrechten Gang. Deswegen lehnen wir das politisch ab. ({6}) - Da haben Sie allerdings recht, um kurz vor Ostern auch einmal etwas Persönliches zu sagen. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, es sei völlig unmöglich, die Richtlinie umzusetzen. Das ist in der Tat richtig. ({7}) - Ja, ich will schließlich, dass wir eine differenzierte Debatte führen. - Man muss aber deutlich sagen - das ist die Aufgabe des Bundestages -: Nicht alles, was juristisch und technisch möglich ist, muss man auch machen. Darum geht es in der politischen Auseinandersetzung. ({8}) Deswegen unterstützt meine Fraktion ganz klar den Antrag der Grünen, auf europäischer Ebene darum zu kämpfen, dass die Richtlinie außer Kraft gesetzt wird. Auch in anderen europäischen Ländern gibt es entsprechende Ansätze. Wir sind also nicht alleine, wie es die große Sorge der Bundesregierung ist. Man könnte auf europäischer Ebene etwas für die Grundrechte tun. Es wäre auch klasse, wenn eine Bundesregierung auf europäischer Ebene in der Frage von Datenschutz und Bürgerrechten positiv auffallen würde. Die FDP hat in der Frage komplett versagt. Sie sind schon kurz nach Ihrer Vereidigung beim SWIFT-Abkommen vom Innenminister vorgeführt worden. ({9}) Wir sind gespannt, wie es bei der FDP weitergehen wird. Die Linke wird auf jeden Fall die FDP in ihrem Kampf gegen den eigenen Koalitionspartner unterstützen, ({10}) wenn Sie bereit sind, die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung insgesamt zu Fall zu bringen. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. Die Linke unterstützt selbstverständlich auch weiter das außerparlamentarische Engagement. Im Rahmen der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung ist erstmalig seit Jahren in der Bundesrepublik über die Frage von Grundrechten, Demokratie und Rechtsstaat relevant diskutiert worden. Das ist doch etwas Gutes, wenn Menschen auf die Straße gehen und sich organisieren. ({11}) - Ich erinnere mich, Kollegin Piltz: Es war eine gute Sache, als wir alle auf der Demo „Freiheit statt Angst“ waren, die FDP-Fahnen Seite an Seite mit den roten Fahnen der Linken. Die Grünen waren auch dabei. Das war eine gute Sache. Ich bin gespannt, ob Sie im Herbst wieder demonstrieren werden. Ich schätze, nicht; denn auf Sie kann man sich in dieser Frage nicht verlassen. ({12}) Es ist eine traurige Entwicklung, die Sie durchlaufen. Deswegen ist jetzt die politische Auseinandersetzung zu führen. Wir müssen die Vorratsdatenspeicherung weder als Bundestag noch als Bundesregierung mittragen. ({13}) Man könnte erst einmal in sich gehen und über Ostern nachdenken. Dann könnten wir auf die Vorratsdatenspeicherung verzichten und hätten damit einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Demokratie in diesem Land geleistet. Die Linke macht mit. Schönen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ansgar Heveling für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Immerhin wissen wir jetzt schon seit gut 14 Stunden, welches Anliegen die Grünen unter der Überschrift „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ bewegt. Sie haben uns lange darüber im Unklaren gelassen, was Sie auf dem Umweg über Europa nicht wollen. Aber die viele Zeit, die sich die Grünen für die Formulierung des Antrags gelassen haben, hat offensichtlich nicht gereicht, um einen ausgewogenen und vollständigen Antrag vorzulegen. Zwar wird Bezug auf eine Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2004 genommen. Aber dann sind Aussagen zu dem Zeitraum zwischen 2004 und 2006 in dem Antragstext doch merkwürdig lückenhaft. Sollte das Zufall sein, oder hat es etwas damit zu tun, dass die Grünen bis 2005 in der Regierung waren, oder sogar damit, dass in dieser Zeit in Europa die wesentlichen Entscheidungen zur Vorratsdatenspeicherung getroffen wurden, ({0}) und zwar unter tatkräftiger Mitwirkung einer rot-grünen Bundesregierung? ({1}) Gerne helfe ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge. Es ist interessant, sich die Entwicklung um das Jahr 2005 genauer anzusehen. Ihre Reaktionen zeigen, dass ich richtig liege. Wenn man sich die Geschichte der Vorratsdatenspeicherung anschaut, trifft man auf ein Phänomen; ich nenne es das Chamäleonphänomen. Beim Blick zurück stößt man nicht nur auf eine rotgrüne Bundesregierung, nein, man stößt auch auf einen Bundesinnenminister, der einmal grün war, irgendwann zu den Roten wechselte, um dann in einer rot-grünen Bundesregierung den schwarzen Sheriff zu geben. ({2}) Es war dieser rot-grüne bzw. grün-rote Innenminister Schily, der genau das mit initiiert hat, was die Grünen nun mit dem Antrag „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ so vehement von sich weisen wollen. ({3}) Ich darf dazu aus der Süddeutschen Zeitung vom 13. März 2005 zitieren, kurz vor der Implosion der letzten rot-grünen Bundesregierung: Über den Umweg Brüssel - das passt wie die Faust aufs Auge will Otto Schily seine im vergangenen Jahr auf Bundesebene abgelehnten Pläne zur Datenspeicherung doch noch durchsetzen. Weiter heißt es: Dabei gehe es darum, einen Rahmenbeschluss für die Europäische Union … vorzubereiten, der den Behörden im Kampf gegen Terror und Kriminalität helfen soll. ({4}) Lassen wir uns das doch einmal auf der Zunge zergehen. Das ist doch die Wahrheit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?

Ansgar Heveling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004056, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke, es reicht schon, dass wir über diesen Antrag diskutieren. Ich möchte diesen schönen Gedanken fortführen. ({0}) Vor allem: Wo war damals der Aufschrei der Grünen? ({1}) Wo war der Antrag damals? Warum haben die Grünen nicht am 24. März 2005 beantragt „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“? Warum nicht damals? ({2}) Die Süddeutsche Zeitung hätte Ihnen damals doch mit dieser passenden Formulierung eine Steilvorlage geliefert. ({3}) Aber nein, Sie haben geschwiegen. Wären die Grünen doch besser auch heute kleinlaut geblieben! ({4}) Denn es ist unredlich, was Sie heute machen. Es ist Heldentum nach Ladenschluss, nichts anderes. Es soll schamhaft vergessen machen, dass damals die entscheidenden Weichen durch Rot-Grün selbst gestellt wurden. Nochmals im Klartext: Die Innen- und Justizminister in der EU haben damals eifrig einen Rahmenbeschluss zur Vorratsdatenspeicherung vorbereitet, einen Rahmenbeschluss, der tiefere Eingriffe in die Grundrechte vorsehen sollte als die schließlich erlassene Richtlinie. Mittendrin, nein, vorneweg ein Innenminister Schily! Erst als ein Rahmenbeschluss an der Einstimmigkeit zu scheitern drohte, wurde umgeschwenkt. Wir sehen also: Schon das Fundament des Antrags ist rissig. Es ist vor allem auf Selbsttäuschung und Unglaubwürdigkeit aufgebaut. Es wird nicht besser mit dem Antrag. Es ist schon abenteuerlich, das Bundesverfassungsgericht zum Kronzeugen für einen Antrag zu machen, auf europäischer Ebene loszulegen und die Richtlinie aufzuheben; denn das Bundesverfassungsgericht hat gerade nicht die Notwendigkeit gesehen, einen Umweg über Europa zu machen. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen. Klar und deutlich wird im Urteil dargestellt, dass die anstehenden Fragen bezüglich der Vorratsdatenspeicherung auf der Ebene des nationalen Rechts zu beantworten sind und auch dort gelöst werden können. Dementsprechend hat sich das Bundesverfassungsgericht bewusst entschieden, den Europäischen Gerichtshof nicht einzuschalten, und auch, dass es keine Fragen gibt, die dem EuGH vorzulegen sind. Insofern ist zumindest die Überschrift des Antrags gar nicht so falsch; denn wenn das Bundesverfassungsgericht keinen Umweg über Europa braucht, dann brauchen wir ihn allemal auch nicht. ({5}) Das europäische Recht steht, und wir brauchen Europa an dieser Stelle gar nicht zu strapazieren. Es gibt eine geltende Richtlinie, bei der es im Übrigen für den Europäischen Gerichtshof keinen Anlass zur Beanstandung gegeben hat. Damit haben wir eine europarechtliche Grundlage. Sie gilt nach wie vor. Wir werden uns daher mit dem Thema Vorratsdatenspeicherung auch deshalb weiter befassen, weil es nach wie vor die Verpflichtung gibt, die europäische Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. ({6}) Diesem Handlungsauftrag können und werden wir uns nicht entziehen. Hierbei ist zu bemerken, dass die Richtlinie ohne Zweifel dem nationalen Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum einräumt. Diesen Spielraum werden wir ausfüllen. Hierzu ist es zunächst erforderlich, sich genau anzusehen, welche Anforderungen an eine verfassungsfeste Regelung zur Vorratsdatenspeicherung zu stellen sind. Es ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht die Speicherung und Nutzung von Vorratsdaten nicht schlechterdings untersagt hat. Im Gegenteil: Es zieht sich wie ein roter Faden durch das Urteil, dass grundsätzlich eine grundrechtsgerechte Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung möglich ist. Nun geht es also darum, sorgfältig und natürlich unter Berücksichtigung der grundgesetzlichen und grundrechtlichen Anforderungen eine neue gesetzliche Ausgestaltung für die Vorratsdatenspeicherung zu entwickeln. Dementsprechend ist die gebotene Sorgfalt der entscheidende Maßstab auch für den Zeitplan. ({7}) Durch diese notwendige Sorgfalt wird auch ausreichend Raum gegeben, positiv weiter über den Sinn der Vorratsdatenspeicherung zu debattieren. Ja, ich habe die Hoffnung, dass dieser Raum auch dazu dienen kann, Fehlentwicklungen in den Debatten - ich betone: in den Debatten und nicht in der Sache - zur Vorratsdatenspeicherung zu beseitigen, deren Wurzeln auch ganz am Anfang der Diskussion liegen und die wiederum eng mit dem Auftreten und dem Vorgehen der damaligen rotgrünen Bundesregierung verknüpft sind. Damals ist das Thema virulent geworden, damals sind die grundlegenden Entscheidungen auf europäischer Ebene getroffen worden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung war nicht der Endpunkt einer Diskussion. Im Gegenteil: Es ist der Auftakt für eine neue Debatte entlang der durch das Urteil formulierten Kriterien für die Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung. Hinter dieser Zulässigkeit steht im Kern, dem Staat effektive Möglichkeiten zur Verfolgung schwerer Straftaten an die Hand zu geben. Auch durch die aktuellen Fälle wird die Notwendigkeit dafür gezeigt. Diesen Weg werden wir gehen, und wir brauchen hier keine Umwege über Europa. Wir gehen den geraden Weg: hier in diesem Parlament mit dieser Regierungskoalition. Ich bin mir sicher: Wir werden unsere Schlüsse aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil gemeinsam ziehen und gemeinsam unsere Vorschläge dazu unterbreiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Gerold Reichenbach für die SPD-Fraktion.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Sehr geehrte Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Debatte vonseiten der Koalition erinnert mich ein bisschen an den Pfadfinder, der sich beharrlich weigert, zu sagen, wo er hin will, weil er es gar nicht weiß, und stattdessen den Betroffenen ständig erklärt, wer sich wie und wo woanders auch schon einmal verlaufen hat. ({0}) Lassen Sie mich festhalten: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung, in der dem Gesetzgeber jetzt klare Grenzen für einen derartig schweren Eingriff in die Rechte der Bürger aufgezeigt wurden. Die SPD hat - und dazu stehen wir - die vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung in der Großen Koalition mit verabschiedet. Wir ducken uns hier nicht weg. ({1}) Wir haben uns in den schwierigen Abwägungsprozess zwischen Sicherheit und Freiheit begeben, als damals noch - das ist erwähnt worden - die Anschläge von Madrid und die Anschlagsvorbereitungen in Deutschland in den Köpfen der Bevölkerung und der Entscheidenden präsent waren. ({2}) Es war uns allen klar, dass diese Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheitsrechten in einem freiheitlichdemokratischen Staat sehr schwierig sein wird. Wir haben uns dieser Verantwortung gestellt, und wir werden uns auch weiter dieser Verantwortung stellen und uns nicht wegducken, ({3}) gerade auch vor dem Hintergrund, dass uns das Bundesverfassungsgericht an dieser Stelle klar gesagt hat: Ihr habt dort Fehler gemacht. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist immer einfacher, zu sagen, was man nicht will, als eine Debatte durchzustehen und für ein Gesetz in die Verantwortung genommen zu werden. Jetzt stehen aber Sie in der Regierungskoalition in der Verantwortung, und Sie müssen sich positionieren. ({5}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil nicht nur gesagt, welche zentralen Rahmenbedingungen zum Schutz der Freiheitsrechte, zum Schutz der Freizügigkeit und zum Schutz der Freiheit bei einem solchen Eingriff für die Bürger gewahrt bleiben müssen, sondern es hat auch den Spielraum für Regelungen eröffnet, mit denen dem Sicherheitsbedürfnis entgegengekommen wird. ({6}) Eine unverhältnismäßige, anlasslose Datenspeicherung auf Vorrat wird abgelehnt. Herr Staatssekretär und Frau Bundesjustizministerin, Sie müssen aber eingestehen, dass es für den Gesetzgeber durchaus Regelungsmöglichkeiten gibt. Dabei müssen natürlich die fundamentalen Freiheitsinteressen berücksichtigt und gewährleistet werden, aber auch Sicherheitsinteressen abgedeckt werden. ({7}) Sie werden sich also schon die Mühe machen müssen, Regelungen zu finden, die den Anforderungen der Freiheitsprinzipien unseres Grundgesetzes und der inneren Sicherheit genügen. ({8}) Sie scheinen sich aber wegducken zu wollen. Die Hinhaltetaktik, die die Bundesregierung momentan fährt, ist weder für die Gegner der Vorratsdatenspeicherung noch für die Sicherheitsexperten nachvollziehbar. Wie zu vernehmen ist, wollen Sie jetzt darauf warten, zu welchem Ergebnis die Überprüfung der Richtlinie durch die Europäische Union kommt. Damit können Sie sich nicht herausreden. Sie müssen sich positionieren; denn auch die Bundesregierung muss bei der Überprüfung der Richtlinie auf europäischer Ebene ihre Position einbringen. Da frage ich mich eben nur, welche. Ich darf die Äußerungen der Bundesjustizministerin und des Bundesinnenministers zitieren. Sie sagt: „Ich freue mich über das Urteil.“ Er sagt: „Bei dem Urteilsspruch ist keine Freude aufgekommen.“ Sie sagt: „Wir dürfen die Bedeutung der Vorratsdaten für die Terrorabwehr nicht überbewerten.“ Er sagt: „Wir müssen die Sicherheitslücke klug, maßvoll und zügig schließen.“ Sie sagt: „Es ist nicht der Zeitpunkt für nationale Schnellschüsse.“ Er sagt, man müsse „klug und schnell handeln.“ Ich sage: Ja, was denn nun? ({9}) Welche Position wollen Sie denn bei der Überprüfung der Richtlinie einbringen? Oder läuft das nach dem Motto: Weil wir uns gerade nicht einigen können, lassen wir die anderen europäischen Länder entscheiden und schauen dann, was bei uns herauskommt? Sie müssen sich übrigens nicht nur bei diesem Thema der Debatte und der Abwägung stellen. Ich habe mir hier in der Parlamentsdebatte die Redner von CDU/CSU und FDP angehört - Frau Piltz wird das wahrscheinlich fortführen und mit dem Finger auf andere zeigen ({10}) und dabei gemerkt, dass das Spiel immer das gleiche ist: CDU gegen FDP; FDP gegen CSU. Ansonsten verweist die FDP auf das, was in der Vergangenheit passiert ist, sagt aber nicht, was sie in Zukunft machen will. The same procedure as every day. ({11}) Sie müssen sich aber auch bei einem anderen Thema der geforderten Abwägung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Grundrechte stellen, um notwendige Regelungen treffen zu können, die die Sicherheitsbedürfnisse und die Bürgerfreiheiten wahren. ({12}) Ich nenne das Beispiel SWIFT. Auch hier geht es um die Weitergabe von zunächst einmal anlasslos gespeicherten Daten. ({13}) - Sie haben es gestoppt? - Wie verhielt es sich bei dem vom Europäischen Parlament kassierten SWIFT-Abkommen? Wir erinnern uns. Sie sagt: „Ich halte das auch aus datenschutzrechtlicher Sicht für extrem bedenklich.“ ({14}) Er sagt: Durchwinken! ({15}) Das ist wieder das Gleiche: Es gibt nur Nachrichten von der schwarz-gelben Zankstelle, aber keinen Hinweis darauf, wie Sie sich in Zukunft bei diesem Thema positionieren wollen. ({16}) Das Bundesverfassungsgericht fordert eindeutig und klar, dass die gesetzliche Ausgestaltung einer Datenspeicherung dem besonderen Gewicht des mit der Speicherung verbundenen Grundrechtseingriffs Rechnung tragen muss. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dem auch auf europäischer Ebene Geltung zu verschaffen. Das gilt sowohl für die Überprüfung der Vorratsdatenspeicherung als auch für das jetzige Mandat für die Verhandlungen über ein zukünftiges SWIFT-Abkommen. Sie müssen sich im Parlament der Verantwortung stellen, Freiheit und Sicherheit, Schutz der Bürgerrechte und der Bürger nach den Vorgaben unserer Verfassung auszutarieren. Es reicht nicht mehr - das werden wir wahrscheinlich anschließend wieder bei Ihnen, Frau Piltz, erleben -, zu sagen, was man nicht will, und ansonsten mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. ({17}) Sie sind in der Regierungsverantwortung. Sie müssen sich dem stellen. Wir werden eigene Anträge einbringen, in denen wir deutlich machen, was nach unserer Vorstellung die Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes auch für die europäische Ebene bedeutet. Ich freue mich auf die Debatte und darauf, dass Sie endlich einmal sagen, was Sie wollen, ({18}) und nicht, was andere gemacht haben; denn das wissen wir. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ehrlich gesagt: Wenn Sie meinen, das war hoch gelegt, dann haben Sie vom Sport keine Ahnung. ({0}) Es ist schön, wenn man zu einem späteren Zeitpunkt in der Debatte reden darf; denn dann kann man auch auf die Kollegen eingehen. Herr Reichenbach, wie Sie hier zu SWIFT und zur Vorratsdatenspeicherung sprechen, macht deutlich, dass die SPD nach wie vor an politischer Amnesie leidet. Denn Sie sind diejenigen, die entweder nichts gemacht haben oder die Gesetze verabschiedet haben, nicht wir. ({1}) Sie tragen die politische Verantwortung für das, was Sie gemacht haben. Auch das ist etwas, dem man sich stellen muss. Wenn Sie hier so tun, als ob Sie nicht elf Jahre dieses Land regiert hätten, ist das ein billiges Gerede, hat aber mit Politik nichts mehr zu tun. ({2}) Wofür Ihre Abwägung von Freiheit und Sicherheit steht, das sehen wir an dem, was in Karlsruhe gescheitert ist. Frau Lambrecht, Sie haben ja öfter gefragt: Wieso, weshalb, warum? Dazu ist mir eigentlich nur ein Satz eingefallen - Christian Ahrendt und ich sind heute ziemlich fernsehbezogen -: Wieso, weshalb, warum, ({3}) die SPD verkauft uns hier für dumm. ({4}) Etwas anderes kann ich Ihnen heute angesichts dessen, was Sie hier gemacht haben, nicht sagen. Stehen Sie einfach einmal zu Ihrer Verantwortung! Herr Korte, abschließend zu Ihnen. So eine Rede von ihnen - ich meine „ihnen“ kleingeschrieben, nicht großgeschrieben; denn dafür sind Sie zu jung -, also von Ihrer Partei hätte ich mir vor 40 Jahren in der Volkskammer gewünscht. ({5}) Nennen Sie mir einen sozialistischen Staat, der seine Bürger nicht mehr oder weniger überwacht. Was Sie hier machen, ist wirklich sehr durchsichtig. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, als eine der erfolgreichen Klägerinnen vor dem Bundesverfassungsgericht - Sie wissen das, weil wir uns da getroffen haben - gegen die Vorratsdatenspeicherung brauche ich von Ihnen keine Nachhilfe und muss mir von Ihnen das Urteil auch nicht erklären lassen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Korte?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Piltz, Ihr Vorwurf war wirklich total originell. Aber davon einmal abgesehen: Ich habe nicht einmal im Zonenrandgebiet gewohnt. Das ist also völlig absurd. Aber jetzt einmal ganz ernsthaft. In der Tat finde ich es richtig, sich immer wieder mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das gilt dann jedoch für alle. Deswegen nur eine Frage: Hat denn insbesondere die FDP in Nordrhein-Westfalen einmal substanziell ihre Vergangenheit aufgearbeitet, insbesondere in Bezug auf das Personal in den 50er- und 60er-Jahren? Darüber sollten Sie einmal diskutieren, und mich würde das Ergebnis sehr interessieren. Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen, ({0}) und da waren reichlich führende Nazis in der FDP unterwegs. ({1})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Korte, ich persönlich finde das, was Sie jetzt machen, wirklich geschmacklos. ({0}) Sie sprechen hier für eine Fraktion bzw. für eine Partei, ({1}) die Leute, die aus ihrem Land fliehen wollten, an der Grenze erschossen hat. Dafür ist niemand aus Nordrhein-Westfalen und niemand aus der FDP verantwortlich. Die Vergleiche, die Sie hier ziehen, sind wirklich billig. Wenn Sie sich endlich einmal dazu bekennen würden, dass Sie die Nachnachnachfolger der SED sind, ({2}) dann könnten Sie sich hier so äußern. Solange Sie das nicht tun, haben Sie kein Recht, hier mit dem Finger auf andere zu zeigen. ({3}) Das Bundesverfassungsgericht hat - das ist ja der Anlass - die nationale Umsetzung der Richtlinie für verfassungswidrig erklärt. Es hat uns damit deutlich vor Augen geführt, dass bei der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben genau dieselbe Abwägung in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit zu treffen ist wie bei Fragen nationaler Gesetzgebung. Der Gesetzgeber darf nicht einfach sagen: Das kommt aus Europa, Augen zu und durch! Dessen ist sich diese christlich-liberale Koalition sehr bewusst. ({4}) Der Gesetzgeber muss - auch dessen sind wir uns bewusst - bei jedem Gesetz die gleiche Sorgfalt walten lassen. Ich möchte den Bundesinnenminister zitieren, der bei einer Veranstaltung in dieser Woche gesagt hat: Insgesamt ist diese Gesellschaft bislang ganz gut damit gefahren, dass der Gesetzgeber sich Zeit gelassen hat. Das hat auch etwas Freiheitliches. - Da sind wir einer Meinung mit ihm. ({5}) Der Bundesinnenminister sagte weiter, dass mit manchen Einzeleingriffen das Vertrauen zwischen Gesetzgeber und Anwendern gefährdet werden könne, wenn das Recht nicht systematisch und passend zur technischen Entwicklung entwickelt wird. - Auch da sind wir einer Meinung. ({6}) - Jetzt wundert mich aber, dass die Kollegen von der CDU/CSU gar nicht klatschen, wenn ich ihren Minister zitiere. ({7}) Bei der Frage, ob und wie weit der Zugriff auf Telekommunikationsverbindungsdaten zur Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet notwendig ist, geht es genau darum. Das Bundesverfassungsgericht hat da offensichtlich auf überzeugendere Argumente gewartet und solche auch immer angefordert; die Bundesregierung hat sie leider nicht liefern können, weil - das muss man hier auch einmal sagen dürfen - viele Beispiele, die in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, an den Haaren herbeigezogen sind. Deshalb lautet meine Bitte: Wenn man Beispiele ins Feld führt, dann bitte solche, die wirklich treffend sind! Zu hören ist etwa, dass man Lawinenopfer jetzt nicht mehr finden kann. ({8}) - Der Kollege Herrmann aus Bayern hat von Lawinenopfern gesprochen. - Es wäre ein Armutszeugnis, wenn wir dafür die Vorratsdatenspeicherung bräuchten. Das macht man mit dem GPS-Signal, damit man ein solches Opfer hoffentlich noch lebend findet und nicht erst nach sechs Monaten weiß, wo die Leiche ist. Das wäre ein bisschen spät für die Rettung. Zu hören ist ferner, dass Stalking und Phishing nicht mehr verfolgt werden könnten. Auch das ist ein Beispiel, das sehr gern gebracht worden ist. Mir ist neu, dass diese Taten Katalogstraftaten nach § 100 a StPO sind. Es war bis heute nicht möglich, in solchen Fällen auf diese Daten zuzugreifen. Insofern ist es unredlich, so zu tun, als ob das jetzt zum Problem würde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Reichenbach?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn er Spaß daran hat.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Piltz, ich mutmaße, Ihre Redezeit neigt sich so langsam dem Ende zu.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie verlängern die Redezeit. Dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar.

Gerold Reichenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003615, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, eben; deswegen meine Zwischenfrage. - Nachdem Sie nun ausreichend erklärt haben, was alle in der Vergangenheit gemacht oder auch nicht gemacht haben, frage ich Sie: Wären Sie bereit, diesem Parlament noch vor Ende Ihrer Redezeit zu sagen, ob Sie der Auffassung sind, dass die Bundesregierung noch vor der Sommerpause, also noch vor einer Revision der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, den Entwurf eines GesetGerold Reichenbach zes zur Änderung der Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung in den Bundestag einbringen oder auf diese Revision warten oder ganz auf die Vorlage eines Gesetzentwurfs verzichten soll?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzter Herr Kollege Reichenbach, so wie ich oder auch Sie wissen wir alle hier, dass wir gezwungen sind, europäisches Recht in nationales Recht umzusetzen. ({0}) - Nein, das habe ich nicht. Wenn Sie hier sind, hören Sie mir bitte richtig zu oder lassen Sie solche Zwischenrufe! Das muss ich einfach einmal sagen. ({1}) - Nein. Warum? Die gehen auch nicht höflich mit mir um. ({2}) - Das mag sein. Dass wir alles schuld sind, obwohl Sie hier elf Jahre regiert haben, kann ich, ehrlich gesagt, nicht mehr hören. Das muss man Ihnen auch einmal sagen dürfen. ({3}) Das war ein Gesetz, das Ihre Ministerin gemacht hat. Sie - nicht wir - haben es verabschiedet. Das sage ich Ihnen so oft, wie Sie es hören wollen oder auch nicht hören wollen. ({4}) Ich bin es leid, dass Sie hier keine Verantwortung für das übernehmen, was Sie gemacht haben. ({5}) Aber es ist schön, dass ich das noch einmal sagen durfte. Selber schuld! ({6}) - Wir analysieren das Urteil in aller Ruhe. ({7}) Dann werden wir, die Fraktionen und die Regierung, das tun, was wir für notwendig halten. ({8}) Wir werden Sie darüber rechtzeitig in Kenntnis setzen. ({9}) Ich denke, das beantwortet Ihre Frage ganz klar. ({10}) - Eigentlich dachte ich, dass man sich sachlich damit auseinandersetzt. ({11}) - Bei Ihnen gab es leider nichts, mit dem ich mich sachlich hätte auseinandersetzen können. Deshalb wollte ich über die Beispiele reden, die da immer so durch die Gegend wabern. Ich komme zu dem Beispiel mit den Flatrates. Wenn jemand im Internet unterwegs ist, dann kann man ihn selbstverständlich auch bekommen; denn wenn jemand immer zur gleichen Zeit im Internet unterwegs ist, kann man diese Daten heute selbstverständlich im Quickfreeze-Verfahren einfrieren. Das wäre im wirklichen Leben so, als wenn jemand sagen würde, dass er um elf Uhr jedes Mal dieselbe Bank überfällt und die Polizei an der nächsten Ecke steht. Wir müssen sehr sorgfältig aufpassen, dass wir uns mit solchen Beispielen nicht politisch zu Tode reden. Es kommt darauf an, dass man sieht, was notwendig ist und was man tun muss, mehr aber auch nicht. An dieser Stelle komme ich auf das Zitat des Bundesinnenministers zurück, das ich eingangs schon einmal bemüht habe: Wir brauchen keine Einzeleingriffsbefugnisse, sondern einen vernünftigen und systematischen Ansatz, der der Technik entspricht. - Wir glauben, dass das Quick-freeze-Verfahren ein solcher Ansatz ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im Internet eine Aufklärungsquote von 80 Prozent haben. Die Aufklärungsquote im Internet ist übrigens viel höher als außerhalb des Internets, wo sie bei nur 55 Prozent liegt. Im Internet muss weiter ermittelt werden, aber tatangemessen, lageangemessen und technikangemessen. Dazu gehören aus unserer Sicht zum Beispiel auch Internetwachen, die auf direktem Wege ansprechbar sind. Zudem können bei diesen in den Ländern die Kompetenzen gebündelt werden. Wenn es aber nur in sieben von 15 Landeskriminalämtern eigene Internetabteilungen gibt, dann gibt es sicherlich noch Verbesserungsmöglichkeiten auf der durchführenden Ebene, die wir ausschöpfen müssen und die wir ausschöpfen werden, um Kriminalität zu bekämpfen. Für uns ist wichtig, dass wir in Europa die Evaluierung begleiten, um zu sehen, ob das, was Europa gemacht hat, wirklich sinnvoll ist. Ich glaube, das steht jedem gut zu Gesicht. Man muss auch berücksichtigen, dass das noch nicht in jedem Mitgliedstaat umgesetzt ist. Ich bin mir mit dem Kollegen Grosse-Brömer einig: Wir werden das so sorgfältig wie möglich und so schnell wie nötig machen. Vielen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Petra Pau für die Fraktion die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg ein Satz an Sie, Kollegin Piltz: Richtig ist, der Kollege Korte war nicht Mitglied der SED, aber ich war Mitglied der SED. ({0}) Aus einem schmerzhaften Auseinandersetzungsprozess mit der verfehlten Politik der SED, mit dem Scheitern des realen Sozialismus und auch aufgrund persönlicher Verantwortung, die ich in der DDR getragen habe, bin ich zu der festen Überzeugung gekommen: Eine sozialistische Partei ist nur dann eine linke Partei, wenn sie Bürgerrechte und Demokratie verteidigt und sich dafür einsetzt. Das kann der Kollege Korte genauso für sich in Anspruch nehmen, wie die Kollegin Jelpke und jeder andere Kollege aus der Fraktion Die Linke das für sich in Anspruch nehmen kann. ({1}) - Das könnte Ihnen so passen, dass wir einen neuen Namen wählen und uns neu gründen, aber nicht den Rucksack der Geschichte tragen. Nein, mit diesem Rucksack der Geschichte nehme ich mir heute das Recht, mich mit politischen Tendenzen auseinanderzusetzen, die aus meiner Sicht falsch sind. Damit kommen wir jetzt einmal zum Thema. Das Bundesverfassungsgericht hat die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für verfassungswidrig erklärt. Das war gut für den Datenschutz und wichtig für den Rechtsstaat. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, und das erleben wir heute. Die Begehrlichkeiten nach immer mehr persönlichen Daten sind ungebrochen. Das zeigen die ersten Stellungnahmen nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil, zum Beispiel die Stellungnahme von Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Deshalb will Bündnis 90/Die Grünen mit dem aktuellen Antrag verhindern, dass die gerade gestoppte Vorratsdatenspeicherung durch die EU-Hintertür wieder eingeführt und sogar noch ausgeweitet wird. Die Gefahr ist real, und deshalb unterstützt die Linke den grünen Antrag. Zu alledem muss man die Vorgeschichte kennen. Vor sechs Jahren debattierte der Bundestag erstmals über die Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsverbindungsdaten. Der Bundestag lehnte seinerzeit, also 2004, dieses Ansinnen mit klarer Mehrheit ab. Dann begann Kapitel 2 der Geschichte. Die damalige Bundesregierung stampfte in Brüssel so lange mit den Füßen, bis die EU-Kommission die Vorratsdatenspeicherung verfügte, und zwar verbindlich für alle EU-Mitgliedstaaten. Das war 2006. Kapitel 3 ist genauso schnell erzählt. Die damalige Regierungskoalition, wieder bestehend aus CDU/CSU und SPD, beschloss 2007 im Bundestag die noch kurz zuvor einhellig abgelehnte Vorratsdatenspeicherung. Man berief sich dabei auf die Europäische Union, quasi auf einen höheren Notstand. Kapitel 4 und 5 waren von der CDU/CSU und von der SPD so nicht erwartet worden. Erst formierte sich unter dem Kürzel „Vorratsdatenspeicherung“ eine bundesweite Bürgerrechtsbewegung. Sie drohte obendrein mit Massenklagen beim Bundesverfassungsgericht. Dann entschied das Bundesverfassungsgericht nach einer Klage gegen den EU-Vertrag von Lissabon, dass EURecht mitnichten deutsches Recht breche, jedenfalls nicht, wenn dies gegen das Grundgesetz verstoße. Das war 2009. Erfolgreich geklagt hatte übrigens die Linke. Kapitel 6 fand am 2. März 2010 ein vorläufiges Ende. In seinem Urteil erklärte das Bundesverfassungsgericht die praktizierte Vorratsdatenspeicherung aller Telekommunikationsdaten für verfassungswidrig und das entsprechende Gesetz für null und nichtig. Umgehend folgte Kapitel 7. Während die einen das Urteil des Verfassungsgerichts als Erfolg für den Rechtsstaat priesen, bliesen die anderen sofort zur nächsten Attacke. Und wieder droht der Trick aus Kapitel 2, nämlich der Umweg über die EU-Instanzen. Deshalb möchte ich anmerken: Wer unentwegt nach Wegen sucht, verbriefte Bürgerrechte auszuhebeln, der missachtet die Bürgerinnen und Bürger, gefährdet die Demokratie und lanciert die Europäische Union in eine zwielichtige, bürgerferne Ecke. Ich halte das für gefährlich. ({2}) Nun fordert der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen - ich zitiere: Die Bundesregierung möge auf der europäischen Ebene Vorhaben, die Vorratsdatenspeicherungen vorsehen, energisch … entgegentreten. Ich hätte in diesem Antrag gern ein Wörtchen mehr, nämlich „alle“ Vorhaben. Stichworte wie ELENA, elektronischer Personalausweis oder elektronische Gesundheitskarte gehören dazu. Deshalb fordert die Linke im Übrigen immer noch ein Moratorium für all diese elektronischen Großprojekte. Danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Wolfgang Wieland für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der Haushaltsdebatte vergangene Woche wurde ich aus den Reihen der Union von den Kollegen Brandt und Binninger kritisiert: Immer nur auf die FDP einschlagen - wo bleiben eigentlich wir? - Das war offenbar eine gefühlte Missachtung durch Nichterwähnung. Ich will sie heute wieder gutmachen. ({0}) In der Tradition meiner Fraktionsvorsitzenden, die diese Woche schon Richard von Weizsäcker gelobt hat, will ich herausragende Konservative loben. Da ist zum einen Ernst Benda, seinerzeit Bundesinnenminister und von mir noch Bunker-Benda genannt, weil es die Zeit der Notstandsgesetzgebung war. Später hat er uns als Präsident des Bundesverfassungsgerichts alle mit dem wegweisenden Volkszählungsurteil überrascht, das das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erstmals festgeschrieben hat und den schönen Satz enthielt, dass es keine Vorratsdatensammlungen ins Blaue geben dürfe. Wir bleiben bei diesem Satz. Das ist unsere grundsätzliche Haltung geblieben. Das war so unter Rot-Grün, Herr Kollege Heveling. Otto Schily hat sich unter RotGrün nicht durchgesetzt. Deswegen haben wir die Beschlüsse, die die Kollegin Pau zitiert hat, hier im Plenum mit Mehrheit gefasst. Wir wollen keine Vorratsdatenspeicherung. Aus eigenem Erleben sagen wir: Wir wollen sie erst recht nicht auf dem Umweg über Brüssel. Dabei bleibt es. ({1}) Aber es gibt noch mehr Persönlichkeiten. Roman Herzog schuf als Gerichtspräsident die Brokdorf-Entscheidung, und last, but not least hat Hans-Jürgen Papier das gemacht, was Jutta Limbach die permanente „verfassungsgerichtliche Nachhilfe“ nennt. Das bezog sich auf die Rasterfahndung, den großen Lauschangriff, ({2}) die Onlinedurchsuchung - danke, Herr Kollege Stadler. Wir waren immer dagegen. ({3}) - Es ist doch nett, wenn ein Parlamentarischer Staatssekretär an seine gute Vergangenheit als Bürgerrechtler auch dann denkt, wenn er auf der Regierungsbank ist. Zum Schluss ist die Vorratsdatenspeicherung zu nennen. Sie haben nicht etwa gesagt, das seien starke Urteile durch starke Richterpersönlichkeiten, sondern Sie haben gestöhnt und den Untergang der Rechtsordnung und das Ende der Strafverfolgung vorausgesagt - so auch beim letzten Urteil; Beispiele wurden genannt. Der Innenausschussvorsitzende Bosbach hat sogar behauptet, Stalking könne nun nicht mehr verfolgt werden. Dies ist ein absoluter Unsinn. Das ist Ihre Methode. ({4}) Meine Damen und Herren von der Union, Sie haben leider noch nicht gelernt - da sind Sie in gewisser Weise unbelehrbar -, dass es nicht nur Sicherheit durch den Staat, sondern auch Sicherheit vor dem Staat geben muss. Bei Ihnen geht es immer nur in Richtung Verschärfung. Es gibt keine Sättigungsgrenzen bei Ihren Kampagnen mit der Angst und der inneren Sicherheit. Weil uns die Kollegin Piltz zur Sesamstraße geführt hat, sage ich Ihnen: Wie das Krümelmonster nach Keksen ruft, so rufen Sie ständig nach neuen Gesetzen. Das ist unersättlich, das ist unerträglich. Das waren die wahren Worte zur CDU/CSU, die Sie angefordert hatten. ({5}) Wir geben natürlich zu, Frau Kollegin Piltz, dass man es mit diesem Koalitionspartner schwer hat. Aber es war doch Ihre Traumhochzeit. Sie wussten doch aus der Nahbeobachtung über Jahre, mit wem Sie da zusammengehen. ({6}) Dennoch haben Sie keinen Ehevertrag mit Nägel und Köpfen gemacht, sondern eine völlig schwammige Vereinbarung getroffen, die so war, dass der Innenminister - gerade 14 Tage im Amt - auf der Herbsttagung des BKA erklärte - ich zitiere den Behörden Spiegel, der nun wirklich kein linksradikales Blatt ist -: Das Wichtigste fürs BKA kam zum Schluss. Die Neuregelung des BKA-Gesetzes bleibt in allen Punkten bestehen. Damit kriege die Polizei, so de Maizière, was sie brauche. Ich stelle fest: Es gibt 100 Prüfaufträge in Ihrer Koalitionsvereinbarung und einen Minister, der sagt: „Das alles gilt überhaupt nicht.“ Letzte Woche wurde hier eine Evaluierung angekündigt. Die Evaluierungscrew rings um Eckart Werthebach wurde auf dieser Tagung des BKA offenbar spontan zusammengestellt. Keine bürgerrechtliche Komponente und keine Wissenschaftskomponente sind vorgesehen. Dies alles, auch die Evaluierung, ist doch eine Farce. Auch wie Sie sich hier behandeln lassen, ist eine Farce. ({7}) Sie, liebe Frau Piltz, sind - das wissen wir - ein großer Fan von Düsseldorfer Vereinen. Deswegen sage ich in der Sprache der Fans: Wir erwarten nicht viel; aber wir wollen Sie wenigstens kämpfen sehen. ({8}) Das Gleiche gilt für das Gesetz zu Internetsperren im Zusammenhang mit Kinderpornografie. ({9}) - Hören Sie doch mal zu. - Sie schreiben in Ihrer Koalitionsvereinbarung, das Gesetz werde ein Jahr lang aus3344 gesetzt. Im Januar dieses Jahres schreibt das Haus de Maizière im Zusammenhang mit dem Haushalt 2010 an das Parlament - ich zitiere -: Aufgrund der besonderen Bedeutung des Internets in diesem Deliktsbereich beschreitet das BKA in der Umsetzung des sogenannten Access Blocking einen in Deutschland bislang nicht verfolgten Bekämpfungsansatz. Das heißt, im BKA und im Innenministerium ist nicht angekommen, dass Sie das Gesetz angeblich gestoppt haben. Schon die zweite Reihe der Abgeordneten - Kollege Wellenreuther oder wer auch immer - sagt, ein Jahr sei Ruhe, dann wolle man es aufs Neue haben. Von daher sage ich: Sie kannten Ihren schwierigen Partner. Sie hätten ganz anders mit ihm verhandeln müssen. Dann hätten Sie ganz andere Dinge vorzuweisen als das, was bisher vorgelegt wurde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein Letztes, Herr Präsident. Sie wollen ja keine Ratschläge hören, wie Sie vorhin gesagt haben. Ich gebe Ihnen dennoch einen; so nett bin ich. Mein Rat zum Schluss: Speichern Sie auf Vorrat Besonnenheit und Vernunft. Aber hören Sie auf mit der Vorratsdatenspeicherung. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Michael Frieser für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Michael Frieser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004034, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Kollegin Piltz kann ich nach eigenem Bekunden nicht nur in der Ausschussdiskussion, sondern auch sonst im Parlament sehr wohl bestätigen, dass sie zum Kämpfen nicht nur bereit ist, sondern dies auch tut, wenn es um ihre Themen und ihre Ansätze geht. ({0}) Insofern, Herr Wieland, besteht auch an dieser Stelle keine Notwendigkeit zur Nachhilfe. Wenn man allein den Titel des Antrages „Keine Vorratsdatenspeicherungen über den Umweg Europa“ liest, dann wird klar, dass wir noch eine Flut von Anträgen aus dieser Ecke zu erwarten haben. Ich warte noch immer gespannt auf einen Antrag „Keine Sozialistische Internationale auf dem Umweg über Europa“ und bin gespannt, zu sehen, wie die Grünen einen solchen Antrag begründen werden. Leider Gottes muss man immer wieder das Prinzip der pädagogischen Wiederholung anwenden. Man muss folgende Tatsche immer wieder betonen - ich hoffe, wir können wenigstens das festhalten -: Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorratsdatenspeicherung nicht gänzlich für verfassungswidrig erklärt. Das ist der erste Punkt, den wir festhalten müssen. Beim zweiten Punkt müssen wir etwas genauer hinsehen. Sie versuchen immer wieder, den Eindruck zu erwecken - Herr Wieland, das nehme ich Ihnen fast persönlich übel -, ({1}) der Staat würde diese Daten sammeln. ({2}) Dieser Eindruck ist nicht nur falsch, sondern Sie behaupten das wider besseres Wissen. Diese Daten werden nicht vom Staat gesammelt. Sie fallen ohnehin an. Das muss man deutlich sagen. ({3}) Von daher ist der Denkansatz im Antrag der Grünen verkehrt, weil davon ausgegangen wird, dass alle Menschen unter Generalverdacht gestellt werden. Das ist definitiv nicht der Fall. ({4}) Diese Daten sind ohnehin vorhanden. Es geht also nicht darum, die Menschen unter Verdacht zu stellen. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Über den Umgang mit Sicherheitslücken haben wir uns schon ausgetauscht. Ich glaube, man sollte das eine oder andere Beispiel noch einmal anführen. Frau Kollegin Piltz, in einer Koalition kann man gerne auch mal unterschiedlicher Auffassung sein, beispielsweise bei der Frage des dringenden Bedarfs. In dieser Hinsicht brauchen wir von der SPD keine Nachhilfe. Denn das, was die Koalition aufgrund dieses Diskurses aushalten muss, erlebt die SPD innerhalb ihrer eigenen Reihen. Ihr braucht also keinen anderen dazu, um etwas aushalten zu müssen. Reden Sie mit dem BKA, dann wissen Sie, um welche Beispiele es geht. Es geht beispielsweise darum, dass sich Pädophile im Chat damit brüsten, dass sie Wochenende für Wochenende ihre minderjährigen Kinder missbrauchen. Unter der Woche ist das BKA nicht in der Lage, auf die Daten zurückzugreifen, um dagegen einzuschreiten, weil die Daten nicht mehr vorhanden sind. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben. Deshalb brauchen wir eine verfassungsgemäße Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung. Ich bin der Überzeugung, wir können und werden das auch tun. Es ist nun einmal eine Tatsache, dass eine Sicherheitslücke besteht. ({5}) Ich bin schon immer ein Verfechter eines gesunden Misstrauens gegenüber dem Staat gewesen. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht Sorgen und Ängste; denn wir haben eine lange Tradition. Ich spiele damit zum Beispiel auf die Tradition der SED an. Seit Metternich mit seinem Bespitzelungsstaat bis hin zur dunkelsten Geschichte der DDR gilt: Es ist richtig, vorsichtig zu sein und ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Staat zu haben und sich zu fragen, ob er eventuell zu viel Informationen hat und wofür er sie eigentlich braucht. ({6}) Im Ergebnis geht es darum, die Interessen abzuwägen, nämlich die Wahrnehmung von Strafverfolgung auf der einen Seite und der Garantiepflicht des Staates auf der anderen Seite. ({7}) Der Bürger hat einen Anspruch darauf, dass der Staat ihn bestmöglich schützt. Deshalb kommt es darauf an, dass wir bei dieser Frage mit Augenmaß, aber auch zügig handeln. Wir können auf den Innenminister verweisen. Er will entsprechende Regelungen zeitnah auf den Weg bringen und umsetzen. Ich bitte dringend darum, dass wir nicht dieses diffuse Gefühl der Überwachung und der ständigen Sammelwut des Staates bedienen, nur weil es im Augenblick ins parteipolitische Kalkül passt. Das ist der falsche Weg. ({8}) - Herr Montag, zu Ihnen komme ich noch, keine Angst. Gemäß dem pädagogischen Prinzip der Wiederholung stelle ich Folgendes fest: Wir haben Sicherheitslücken. Ich bitte Sie, es nicht nur dem BKA, sondern auch den jeweiligen Fraktionen zu überlassen, sich mit dieser Frage zügig zu beschäftigen, damit die Defizite behoben werden können. Es reizt mich, noch eine Bemerkung zum Thema „Sperren und Löschen“ zu machen. Herr Kollege Montag, Sie sagen, dass man dem BKA-Präsidenten deshalb nicht trauen darf, weil er sich früher für das Sperren von Internetseiten ausgesprochen hat. Für die Union kann ich sagen: Weil es um kinderpornografische Seiten, um Straftaten höchsten Ausmaßes geht, werden wir alles tun, was in unserer Macht steht, um solche Straftaten zu verhindern, egal auf welchem Weg. ({9}) Wenn das durch eine Sperre erreicht werden kann, dann sperren wir eben. Wenn wir das durch Löschen erreichen, dann löschen wir. Herr Montag, Sie sagen, Sie wollen nicht sperren. Das erinnert mich an das Beispiel der roten Ampel. Eine rote Ampel kann man auch überfahren. Sie soll aber davor warnen, dass man, wenn man sie überfährt, eine Ordnungswidrigkeit, eine Straftat begeht. Ich halte diesen Vergleich für absolut stichhaltig. ({10}) Im Ergebnis kann ich nur sagen: Wir haben den Auftrag, das zu tun, was in unserer Macht steht, damit wir solchen Straftaten begegnen können. Das ist bei der Frage der Sperrung und bei der Frage der Vorratsdatenspeicherung so. Wir wollen den Staat nicht in die Lage versetzen, alles und jeden zu überwachen, im Gegenteil. Aber dort, wo Daten ohnehin anfallen, sollten wir sie effektiv ausnutzen. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Högl für die Fraktion der SPD.

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Piltz, Sie haben Ihre Redezeit mit Beschimpfungen und alten Hüten gefüllt. Wir wollten aber von Ihnen hören, was Sie zu tun gedenken, ({0}) was Sie in Sachen Vorratsdatenspeicherung vertreten. Frau Kollegin, dazu habe ich leider, obwohl Sie sehr lange gesprochen haben, kein einziges Wort gehört. ({1}) - Da muss ich durch, sagen Sie. Das finde ich einigermaßen interessant. Sie regieren, und ich muss da durch, dass Sie keine Konzepte haben. ({2}) - Da müssen wir alle durch. Auch die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und in Europa müssen da durch, dass Sie keine Konzepte haben. Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie analysieren erst einmal und warten ab, was aus Europa kommt. ({3}) Das ist zu wenig. Wir wollen hier in Deutschland über Ihre Konzepte diskutieren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Übrigen über ein deutsches Gesetz geurteilt. Sie haben dagegen geklagt, und deswegen sind Sie jetzt gefordert. Trotz des desaströsen Auftretens der Koalition bin ich eine Optimistin; das will ich hier einmal zum Ausdruck bringen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aber auch die Gesamtlage in Europa bieten eine Chance, dass Datenschutz und Bürgerrechte wieder eine größere Rolle spielen. ({4}) Ich finde, wir sollten diese Chance jetzt ergreifen. Dass es sie gibt, meine ich sehr ernst. ({5}) Ich bin sehr dankbar dafür, dass das unermüdliche Engagement von Datenschützerinnen und Datenschützern, von engagierten Parlamentarierinnen und Parlamentariern, aber auch von den Gerichten - Sie, Herr Kollege Wieland, haben auch Konservative genannt, die dabei waren - dazu beiträgt, dass Gesetze überprüft werden und wir zu einer guten Balance zwischen Bürgerrechten und den notwendigen Sicherheitsgesetzen kommen. Ich will auf die Internetsperren und SWIFT zu sprechen kommen. Wir haben gezeigt, wie mit einer engagierten Auseinandersetzung die richtigen Akzente gesetzt werden können und die notwendige Balance zwischen den Maßnahmen und der Wahrung der Bürgerrechte geschaffen werden kann. Das führt dazu, dass ich optimistisch bin. ({6}) Es gibt noch einen anderen Grund, nämlich Europa. Auch Europa fordert eine Neubewertung dieser Gesetze. Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, zu einer Neubewertung zu kommen. Der Vertrag von Lissabon ist eine weitere Chance; denn er bietet eine hervorragende Grundlage für mehr Grundrechte und mehr Datenschutz. Wir haben die Grundrechtecharta. Darüber wird viel zu wenig diskutiert, und sie wird viel zu wenig beachtet. Die Grundrechtecharta ermöglicht es, dass wir unsere Gesetze und eben auch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung noch einmal überprüfen und vielleicht zu einer neuen Abwägung kommen. Frau Kollegin Piltz und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Europa läuft nicht von selbst. Auch eine Überprüfung durch die Europäische Kommission läuft nicht von selbst. Man muss sich positionieren. Man muss Europa gestalten und sagen, was man möchte. Man kann nicht einfach bis zum Herbst warten und schauen, was aus Richtung Europa kommt. Wir erwarten von Ihnen und der Bundesregierung, dass Sie sagen, was Sie in Europa gestalten wollen. Ich will in diesem Zusammenhang noch einen Satz zu Europa und zu den Parlamenten sagen - auch das halte ich für wichtig -: Der Vertrag von Lissabon stärkt die Parlamente. Darüber haben wir hier im Deutschen Bundestag schon öfter diskutiert. Darüber sind wir auch sehr froh. Das Europäische Parlament hat uns vorgemacht, nämlich bei der Abstimmung über SWIFT, wie man die Rechte des Parlaments nutzt, wie man sich deutlich äußert und klar Position bezieht. Daran können wir uns hier im Deutschen Bundestag ein Beispiel nehmen. Ich finde - das sage ich als Europapolitikerin -, wenn wir klare Akzente bei Bürgerrechten, Datenschutz und Grundrechten setzen, dann tragen wir dazu bei, dass Europa von den Bürgerinnen und Bürgern besser akzeptiert wird, dass es positiv bewertet wird, weil auf der europäischen Ebene Bürgerrechte nicht wie ein Stiefkind behandelt werden, sondern der zentrale Maßstab für unsere Politik sind. Ich sage es noch einmal: Jetzt ist die Bundesregierung gefragt. Ich habe eben schon gesagt, dass ich Optimistin bin, dass es jetzt ein Zeitfenster und eine Chance für mehr Bürgerrechte gibt. Ich bin aber keinesfalls optimistisch, wenn ich auf die Politik der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung schaue. Da bin ich sehr skeptisch. Die Bundesjustizministerin - Sie ist heute leider nicht da ({7}) - genau, das ist auch richtig; Herr Staatssekretär, Sie sind ja da - betont bei jeder sich bietenden Gelegenheit, wie wichtig ihr Bürgerrechte sind. Aber wir brauchen Taten. Wir lesen Sonntagsreden und Presseerklärungen, aber Taten haben wir bisher nicht gesehen. Ich sehe nicht - auch das muss ich sagen -, dass sich die Justizministerin in der Koalition durchsetzen kann. Kollege Reichenbach hat dargelegt, was die FDP und die Justizministerin vertreten bzw. was CDU/CSU und der Innenminister vertreten. Das passt nicht zusammen; das konnten wir heute in der Debatte wieder sehen. Sie haben sich ja sogar beklagt, dass Ihr Koalitionspartner nicht applaudiert, wenn Sie zu dem Thema reden und sogar den Minister zitieren. ({8}) Wir konnten auch beim SWIFT-Abkommen beobachten, dass sich die Justizministerin leider nicht durchsetzen konnte und dass Bürgerrechte nicht großgeschrieben werden. ({9}) Wir werden Sie an Ihren Taten messen. Herr Kollege Ahrendt, Sie haben gesagt - ich sehe ihn gerade nicht, ich weiß nicht, ob er noch anwesend ist -: Wir haben die Richtlinie nicht gewollt. Sie haben gegen das deutsche Gesetz geklagt. Sie haben jetzt die Chance, zu handeln. Wir werden ganz gespannt verfolgen, wie Sie handeln. Wir werden auch hier im Deutschen Bundestag weiter engagiert darüber diskutieren. ({10}) Wir als SPD werden Sorge dafür tragen, dass Bürgerrechte und Datenschutz großgeschrieben werden, und das nicht nur in Deutschland, sondern auch auf der europäischen Ebene. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Clemens Binninger für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am Ende der Debatte kann man feststellen - das wird niemanden überraschen -, dass zwischen uns, zwischen den einzelnen Fraktionen, große Unterschiede und zwischen den Regierungsfraktionen vielleicht kleine Unterschiede bestehen. Das ist aber nichts Neues. Eines würde ich mir für die Zukunft wünschen: Bei diesem Thema - kein Redner der Opposition hat sie in dieser Debatte auch nur einmal erwähnt - müssen wir auch über die Opfer reden, um die es geht, wenn wir Straftaten aufklären und verhindern wollen. Sie haben unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir müssen auch sie betrachten und dürfen nicht so tun, als ob es sie nicht gibt. ({0}) Die Freiheit im Internet und auch alles andere Positive, was das Internet bietet, sind wichtig. Sie tun gerade so, als ob die Vorratsdatenspeicherung ein Selbstzweck wäre. Das ist sie nicht. Ich will darauf hinweisen, dass große Teile der Bevölkerung von Ihnen ein Stück weit verunsichert werden ({1}) mit der unterschwelligen Mutmaßung, dass der Staat diese Daten speichert. Der Staat speichert überhaupt keine Daten. ({2}) Diese Daten fallen, ob mit oder ohne Gesetz, bei den Telefonanbietern und bei den Internetprovidern an. Sie fallen in jedem Fall, auch heute ohne Gesetz, an. In dem entsprechenden Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung war vorgesehen, die Anbieter zu verpflichten, die Daten einheitlich zu speichern ({3}) und nicht nach einem Tag, einer Woche oder drei Monaten zu löschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war. ({4}) Nur bei Vorliegen von konkreten Anhaltspunkten für Straftaten und Gefahren darf der Staat unter Hinzuziehung eines Richters auf die Daten zugreifen. ({5}) Ich finde, das ist ein kolossaler Unterschied zu dem Bild, das Sie hier zeichnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Montag?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jederzeit. Ich hatte eigentlich mit Kollegen Wieland gerechnet, aber ich akzeptiere auch Zwischenfragen von anderen Grünen.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke sehr, Herr Präsident, und Dank auch an Sie, Herr Kollege Binninger. - Sie haben hier zu Recht angesprochen, dass die Daten nicht beim Staat gespeichert werden; das hat auch nie jemand behauptet. Wir sagen immer: Der Staat lässt speichern. Dem werden Sie ja nicht widersprechen. Sie haben gerade gesagt, bei der Vorratsdatenspeicherung seien sowieso nur die Daten gespeichert worden, die angefallen sind. In dem Zusammenhang frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kenntnis zu nehmen, dass es im Rahmen der Beratungen eines Gesetzentwurfs in der letzten Legislaturperiode - auch da waren Sie in Regierungsverantwortung - um die Frage ging: Wie regeln wir die Kosten, die die Unternehmen durch die Vorratsdatenspeicherung haben? Dazu hatte der Rechtsausschuss eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Dabei waren Vertreter aller großen, aber auch kleinerer Firmen, die zur Speicherung von Daten verpflichtet sind. Ich habe sie alle persönlich gefragt: Stimmt die Behauptung, dass Sie jetzt verpflichtet sind, die Daten, die sowieso bei Ihnen anfallen, zu speichern? - Alle haben mir gesagt - das steht auch so im Protokoll -: Das ist falsch. Wir müssen nach den Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung viel mehr Daten und viel länger speichern, sogar solche Daten, die bei uns überhaupt nicht anfallen würden, wenn wir keine entsprechenden Routinen und Programme einführen würden. ({0}) Ich frage Sie: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Bundestag längst darüber informiert ist, dass es nicht stimmt, dass nur die Daten, die sowieso angefallen sind, gespeichert worden sind? ({1})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Montag, ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich habe gesagt - wenn Sie mir genau zugehört hätten, wüssten Sie das -: Daten, die beim Betrieb anfallen. Es ist richtig, dass viele Provider angesichts der technischen Entwicklungen und auch der Einführung von Flatrates gesagt haben: Daten, die wir früher gebraucht haben, zum Beispiel für Rechnungen - damals hat sich übrigens niemand gestört oder verfolgt gefühlt, dass alle möglichen Daten für drei, vier, fünf, sechs Monate zur Ermittlung von Tarifmodellen gespeichert wurden -, ({0}) brauchen wir heute zum Teil nicht mehr, weil wir Flatrates eingeführt haben. - Beim Betrieb fallen diese Daten trotzdem an, auch wenn sie von vielen Providern sofort gelöscht werden. Insofern ist das für uns keine Veranlassung, zu sagen: Ihr müsst jetzt neue Daten, die beim Betrieb nicht anfallen würden, generieren und uns bereitstellen. Hier geht es um Daten, die beim Betrieb von Telekommunikationsnetzen, bei der Nutzung von E-Mail und Internet anfallen. Ich bestreite nicht, dass viele Provider sagen: „Wir brauchen diese Daten nicht“ und sie sofort löschen. Aber beim Betrieb fallen diese Daten, wie gesagt, an. Was wir in diesem Hause brauchen, ist ein gemeinsames Verständnis. Die Internettechnologie schreitet immer weiter voran, und jeder von uns hat einen Bezug zu diesem Medium. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass das Internet - trotz all seiner positiven Eigenschaften und bei der Freiheit im Internet, die wir wollen leider auch ein Tatraum ist, in dem bestimmte Straftaten begangen werden. Da wir für die Arbeit der Sicherheitsbehörden verantwortlich sind, müssen wir ihnen die Instrumente an die Hand geben, die sie brauchen, um bei schweren Straftaten im Internet zu ermitteln. Das muss der Konsens sein, auf dessen Grundlage wir über dieses Thema diskutieren. Das ist der Ausgangspunkt unserer Überlegungen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Notz?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es ist leider immer noch nicht der Kollege Wieland, aber ich gestatte auch dem Kollegen von Notz eine Zwischenfrage. ({0})

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herrn Wieland heben wir uns bis ganz zum Schluss auf. - Vielen Dank, Herr Präsident. Herr Kollege Binninger, was sagen Sie zu den bemerkenswerten Zahlen der Kriminalitätsstatistik, die belegen, dass Straftaten im Internet zu über 80 Prozent aufgeklärt werden, während Straftaten in der realen Welt - so nenne ich sie einmal - nur zu 55 Prozent aufgeklärt werden? Da Kindesmissbrauch - weil dieses Beispiel gleich bestimmt wieder angeführt wird, füge ich das hinzu - in der realen Welt stattfindet, frage ich Sie: Warum verspüren Sie nicht einen enormen Antrieb, auch in der realen Welt auf eine effektivere Strafverfolgung hinzuwirken? Wir Grüne wünschen uns auch in der realen Welt eine effektivere Strafverfolgung. Da Sie gerade von einem Tatraum Internet gesprochen haben, muss ich Ihnen sagen: Die Verfolgung von Straftaten, die im Internet begangen wurden, ist hochgradig effektiv. Das würden wir uns auch für die reale Welt wünschen.

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege von Notz, ich halte nichts davon, die Strafverfolgung in der realen Welt und ihre Aufklärungsquote sowie die Strafverfolgung im Internet und ihre Aufklärungsquote gegeneinander aufzurechnen. Ich halte es auch für einen denkbar schlechten Ansatz, im Hinblick auf die Schwere von Straftaten Rechtsprinzipien wie Verhältnismäßigkeit und Ermessensreduzierung auf null, die es im Polizeirecht gibt, mit betriebswirtschaftlichen Kennzahlen - wie 80 und 55 Prozent - auszuhebeln. Ich finde, das ist die falsche Auffassung. Wir müssen die Straftaten, die geschehen, analysieren. Wenn wir zur Kenntnis nehmen müssen - ich komme nachher darauf zurück und nenne Ihnen dann ein ganz konkretes Beispiel -, dass im Internet schwere Straftaten geschehen, die, weil die geeigneten Instrumente fehlen, nicht mehr aufgeklärt werden können, dann darf uns diese Erkenntnis nicht ruhen lassen, egal ob es um 5, 10 oder 15 Prozent der Straftaten geht. Das ist unsere Auffassung. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allem Dissens sollten wir uns in dieser Diskussion von zwei Fakten leiten lassen. Fakt eins: Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Vorratsdatenspeicherung per se für verfassungswidrig erklärt; es hat lediglich kritisiert, dass die konkrete Ausgestaltung verfassungswidrig ist. Fakt zwei: Im Zeitalter des Internets und angesichts mehr Handyanschlüssen in Deutschland als Einwohnern und einer zunehmenden Verbreitung des Internets ist die Vorratsdatenspeicherung eine Ermittlungsmethode, auf die die Polizei, auf die die Sicherheitsbehörden nicht verzichten können. Das sind die beiden Fakten, an denen wir uns orientieren sollten. ({1}) Jetzt zwei Sätze zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Wir haben dieses Urteil zu akzeptieren und zu respektieren. Es ist unsere Pflicht, dieses Urteil umzusetzen. Man darf aber gegenüber der Öffentlichkeit darauf hinweisen, dass dieses Urteil nicht so einig gefällt wurde, wie es uns die Gegner der Vorratsdatenspeicherung gern glauben machen würden: Zwei der acht Richter hatten ein abweichendes Votum, waren der Auffassung des Gesetzgebers. In der Frage, ob das Gesetz für einen Übergangszeitraum noch angewandt werden soll oder vielmehr sofort außer Kraft zu setzen ist, inklusive einer Löschung der gespeicherten Daten, ging die Abstimmung denkbar knapp aus: Vier Richter waren dafür, das Gesetz für eiClemens Binninger nen Übergangszeitraum bestehen zu lassen, vier Richter waren dagegen. Das muss man bei der Diskussion berücksichtigen. Man muss anerkennen, dass dieses Thema zu schwierig ist, als dass auch nur eine Fraktion hier behaupten könnte, der Weisheit letzten Schluss zu haben. ({2}) Wenn wir das berücksichtigen, müssen wir uns fragen, welche Auswirkungen das Urteil - das ist der Auftrag für den Gesetzgeber - für die Praxis hat. Wir können noch lange Gefechte führen, wer unter Rot-Grün für alles zu haben war, was an Sicherheitsmaßnahmen beschlossen wurde. Ich bedanke mich, Kollege Reichenbach, dass Sie zu dem, was wir in der Großen Koalition beschlossen haben, stehen. Dass wir in der christlich-liberalen Koalition jetzt eine Aufgabe haben, die wir zu erfüllen haben, gehört auch dazu. Wir sollten uns, wie schon gesagt, Gedanken machen, was für Auswirkungen dieses Urteil in der Praxis hat. Der Kollege Uhl hat hier letzte Woche in der Haushaltsdebatte einen dramatischen Fall von Kindesmissbrauch geschildert. Da man die IP-Adressen jetzt nicht mehr ermitteln kann, hat die Polizei keine Handhabe gegen den Täter, der sich im Internet mit dieser schrecklichen Tat brüstet. An dieser Stelle haben Sie, Herr Kollege Wieland - ich bekomme meine Zwischenfrage schon noch -, ({3}) dazwischengerufen, dass beim Internet solche Möglichkeiten noch bestehen und dass wir das Urteil genau lesen sollten. Da ich weiß, dass Sie selten aus der Hüfte schießen, habe ich das Urteil zu diesem Punkt noch einmal gelesen. Aber auch für diesen Teil des Gesetzes zur Vorratsdatenspeicherung gilt die Nichtigkeit. Das heißt, alle gespeicherten Daten sind zu löschen, und es sind keine Daten mehr zu speichern. Ich habe daraufhin bei einem Praktiker angerufen und ihn gebeten, mir den Sachverhalt zu schildern. ({4}) - Sie dürfen, auch wenn der Präsident mir noch nichts zugeflüstert hat. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich wollte, dass Sie genießen können, wie Herr Wieland aufsteht und auf Sie reagiert. - Bitte schön, Kollege Wieland. ({0})

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Binninger, schon um mir nicht wieder den Missachtungsvorwurf einzuhandeln oder Ihnen gar das Osterfest zu vermiesen, Clemens Binninger ({0}): Das würden Sie nicht schaffen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- frage ich jetzt: Ist Ihnen denn entgangen, dass ich mir bei meiner Frage - der Kollege Uhl war schon weg; der Kollege Grosse-Brömer brachte aber dasselbe Beispiel - sozusagen den Kopf der Sicherheitsseite zerbrochen habe? Sie haben zu Recht gesagt, dass die Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht mit vier zu vier in dieser Frage sehr umstritten war. Man muss aber auch einmal sehen, dass immerhin die Hälfte der Richter die Art, wie die Vorratsdatenspeicherung eingerichtet war - was an Vorratsdaten gesammelt wurde und wie diese gespeichert wurden -, so daneben fand, dass sie den gravierenden Schritt gemacht haben, diese Regelung nicht einmal für eine Übergangszeit in Kraft zu lassen. In Ziffer 4 des Tenors des Urteils steht ausdrücklich: Zu löschen sind die Telekommunikationsverkehrsdaten. In der Begründung des Urteils wird aber ausführlich beschrieben, dass nach Ansicht des Gerichtes die IPAdressen nicht die Telekommunikationsverkehrsdaten selbst seien. Ich gebe zu, das ist juristisch ein bisschen schwierig. Ich gebe auch zu, dass mein Kollege Montag das spontan nicht so sieht, wie ich es sehe. Aber warum sperren Sie sich dagegen, dass man das einmal abklopft - in der Spitze des BKA sitzen schließlich keine Juristen; die Juristen sitzen woanders und sollten auch hinzugezogen werden - und die Analyse durchgeführt hat, die die Kollegin Piltz angesprochen hat? Man könnte ja mit den Diensteanbietern eventuell zu dem Ergebnis zu kommen: Nicht alles muss gelöscht werden. Die IP-Adressen kann man davon ausnehmen. Warum, so frage ich mich, wird das von Ihnen abgewehrt?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir sperren uns überhaupt nicht dagegen. Aber ich will deutlich machen, dass es nach dem Urteil eine wirklich große Sicherheitslücke in diesem Bereich gibt. Ich will - Sie dürfen sich gerne setzen, weil ich das sowieso gebracht hätte - ein praktisches Beispiel schildern. Bei aller juristischen Auslegung hilft es nichts, wenn es in der Praxis anders aussieht. Ich habe in dieser Woche mit einem Kollegen von der Polizei telefoniert, der spezieller Internetermittler ist, und ihn gefragt: Welche Auswirkungen hat das Urteil für Sie konkret in der Praxis? - Er hat mir folgenden Fall geschildert und Auszüge aus Antworten der Provider vorgelesen. Dieses Beispiel muss uns alle zutiefst erschrecken. Er hat erzählt - dabei geht es gar nicht um Homepages -: Ein Straftäter, dessen Identität nicht bekannt ist, stellt eine Datei mit kinderpornografischem Inhalt in ei3350 ner Tauschbörse ins Netz. Diese Datei wird von anderen Straftätern heruntergeladen. Von dieser Person ist nur die IP-Adresse bekannt. Daraufhin wendet sich die Polizei an den Provider und sagt: Wir möchten wissen, wer zu dem Zeitpunkt, als diese Datei mit kinderpornografischem Inhalt eingestellt wurde, unter dieser IP-Adresse angemeldet war. - Von allen Providern kam unisono die Antwort: Diese Daten haben wir schon gelöscht. Oder: Wir sind nicht mehr verpflichtet, diese Daten zu speichern. Es geht sogar noch weiter. Er sagte mir: Selbst wenn Sie das Glück haben, dass diese Datei entdeckt wird, während der Täter online ist, und damit in sehr kurzer Zeit beim Provider anrufen und sagen können: „Der Mann ist noch online. Wer verbirgt sich hinter dieser Adresse?“, hängt es vom Zufall oder vom Goodwill der Provider ab, ob es heißt: „Jawohl, diese Daten geben wir Ihnen, weil das keine Speicherung ist“ oder ob es heißt: „Wir haben keinerlei Pflicht, hier Auskünfte zu geben.“ ({0}) Diesen Zustand können wir so nicht akzeptieren. ({1}) Herr Kollege Wieland, ich hoffe auf den Konsens aller Fraktionen, ({2}) dass wir gemeinsam sagen: Bei allem Dissens in der grundsätzlichen Auffassung - Sie wollen gar keine Vorratsdatenspeicherung, auch nicht mit einer strengen Reglementierung, wir aber wollen sie und halten sie für notwendig - sind wir uns darin einig, ({3}) dass, wenn diese Information der einzige Ansatzpunkt für die Polizei ist, einen Straftäter zu ermitteln, ({4}) die Provider die Daten nicht einfach löschen dürfen, sodass die Polizei kein wirksames Instrument in der Hand hat. Das ist für unser aller Rechtsstaatsempfinden nicht akzeptabel. ({5}) Jetzt noch ein Satz zu Europa. Tenor Ihres Antrages ist es, dass Sie nichts auf der europäischen Ebene regeln lassen wollen bzw. möglichen europäischen Regelungen vorbeugen wollen. Andere weisen darauf hin, dass man vielleicht die Bewertung auf europäischer Ebene abwarten sollte. Ich warne die Gegner einer Vorratsdatenspeicherung davor, darin zu hohe Erwartungen zu setzen. In der Richtlinie steht schon - daher ist das nicht überraschend -, dass sie im September 2010 zu überprüfen ist. Das gilt besonders für zwei Gesichtspunkte: Sind die Daten, die man gespeichert hat, ausreichend, oder müssen es mehr oder weniger sein? Das ist jetzt meine Interpretation. Ist die Dauer der Speicherung, mindestens sechs Monate, höchstens zwei Jahre, ausreichend, oder müsste sie anders sein? All das ist im Lichte der technischen Entwicklung zu prüfen; denn diese schreitet voran. Daher können die Anforderungen eher höher geschraubt werden. Wir sind gut beraten, uns in diesem Hause mit diesem Thema zu befassen, mit dem speziellen Problem der IP-Adressen bei laufenden Ermittlungen vielleicht sogar noch vor der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs. Ich will für mich und für meine Fraktion sagen: Wir nehmen die Kritik der Gegner der Vorratsdatenspeicherung bzw. des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung - es sind heute mehr Gegner als Befürworter im Saal ernst. Aber ich halte es nach wie vor für möglich, dass wir zu einer Annäherung kommen, weil Freiheit und Sicherheit nicht zwei sich ausschließende Punkte sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Es muss aber auch für beide Punkte Bedingungen geben. Deshalb sollten wir, meine ich, die Gespräche nicht nur innerhalb der Koalition führen, sondern auch mit all denen, die Beschwerde geführt haben, damit wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Wir sind dazu bereit; das Angebot steht. Insofern hoffe ich, dass wir zügig vorankommen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1168 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Fairness in der Leiharbeit - Drucksache 17/1155 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Elfter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - Drucksache 17/464 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Anette Kramme von der SPD-Fraktion das Wort. Ich bitte aber vorher darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gespräche hier vorne einzustellen. Kollege Ahrendt, hallo! Könnten Sie die Gespräche irgendwo weiter hinten im Plenarsaal fortsetzen? Kollegin Kramme, jetzt haben Sie hoffentlich Gehör. ({2})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir wissen nicht erst seit dem Fall Schlecker, dass Leiharbeit kein Zuckerschlecken ist: Da gibt es unerträgliche Niedriglöhne. In Forchheim arbeitet ein Leiharbeitnehmer für 3,60 Euro brutto pro Stunde. Helfer verdienen 45 Prozent weniger als in anderen Branchen. Die Branche wird durch SGB-II-Zahlungen an Leiharbeitnehmer in einer Größenordnung von 500 Millionen Euro dauersubventioniert. Wir beobachten auch ständige Verstöße gegen das Arbeitsrecht: Da wird Urlaub nicht ordnungsgemäß genehmigt, da wird nicht ordnungsgemäß eingruppiert, da werden Kündigungsfristen fehlerhaft berechnet. Vor allem werden Stammarbeitsplätze vernichtet, indem stattdessen Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Und die Servicegesellschaften haben letztlich nur eine Funktion: Tarifflucht und Lohndrückerei. Darüber hinaus mussten wir feststellen, dass die Leiharbeit leider nur einen sehr eingeschränkten Beitrag zur Reintegration von Arbeitslosen leistet. Die Arbeitsverhältnisse in der Leiharbeit dauern im Regelfall nicht länger als drei Monate. Der „Klebeeffekt“ wird durch das IAB auf circa 15 Prozent geschätzt. ({0}) Auf den Punkt gebracht: Die Reform des Jahres 2003 hat sich nicht bewährt. ({1}) - Herr Kolb, der denkende Menschen ändert seine Meinung. ({2}) Vielleicht sollte das Herr Westerwelle auch im Hinblick auf seine Reisepartner tun. ({3}) Der Geburtsfehler dieser Leiharbeitsreform besteht, denke ich, vor allem in einem Punkt: Die Union hat gegen Rot-Grün durchgesetzt, dass in einem individuellen Arbeitsvertrag durch eine arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag vom Grundsatz Equal Pay abgewichen werden darf. Es darf auf einen x-beliebigen Tarifvertrag verwiesen werden. Das hat der CGZP, dieser vermeintlichen Gewerkschaft, Leben eingehaucht. Dort sind Tarifverträge abgeschlossen worden, die nur Arbeitgeber glücklich machen - und das ist kein Wunder. Wenn auf Arbeitnehmerinteressen und auf Gewerkschaftsmitglieder keine Rücksicht genommen werden muss, dann kommt so etwas dabei heraus. ({4}) Dass sich der einzelne Leiharbeitnehmer nicht gegen die Tarifvertragsgeltung per Arbeitsvertrag wehren kann, ist klar, insbesondere wenn man weiß, dass im Bereich der Leiharbeit vor allem Niedrigqualifizierte tätig sind. Ich denke, wir alle hoffen in diesem Punkt auf das BAG. Wir alle hoffen, dass der CGZP zumindest vorübergehend das Handwerk gelegt wird, dass sie keine Handlungsmöglichkeiten mehr hat. Aber die Union war nicht nur bei diesem Gesichtspunkt blind für die Probleme in der Leiharbeit. Die Union hat sich leider auch gegen Mindestlöhne in der Leiharbeit gestemmt. Jeder wusste, dass mit den Christlichen Gewerkschaften etwas nicht stimmt. Trotzdem hat in den Verhandlungen der Mindestlohn-Kommission ein Herr Brauksiepe süffisant erklärt, wir bräuchten keine Mindestlöhne, die tarifvertragliche Absicherung sei doch ganz wunderbar, man setze auf Tarifautonomie und das bei Tarifverträgen, die Löhne in Höhe von 4,50 Euro und Ähnliches vorsehen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, uns geht es vor allen Dingen um Folgendes: Wir wollen die Leiharbeit nicht abschaffen, aber wir wollen sie auf ihre Kernfunktionen zurückführen. Es geht darum, Auftragsspitzen abzudecken. Wenn Arbeitnehmer fehlen, soll Leiharbeit möglich sein. Dabei ist eines essenziell: Der Grundsatz des Equal Pay muss uneingeschränkt gelten. ({5}) Wir verhindern damit das Interesse an Ausgliederung von Beschäftigten in eine Entleihfirma. Warum sollte man Beschäftigte ausgliedern, wenn die Arbeit dort genauso teuer ist? Außerdem erreichen wir damit eine faire Bezahlung und tragen zur Verbesserung des Betriebsfriedens bei. In Bayreuth zum Beispiel arbeitet gegenwärtig eine Krankenschwester nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, während eine andere Krankenschwester am selben Arbeitsplatz auf derselben Station weniger verdient, weil sie nach einem Tarifvertrag für Leiharbeit bezahlt wird. Dass die eine auf die andere sauer ist, ist gut nachvollziehbar. Darüber hinaus brauchen wir einen Mindestlohn, der entleihfreie Zeiten absichert. Wir wollen den Betriebsräten ein echtes Mitbestimmungsrecht einräumen. Das Mitbestimmungsrecht soll den Umfang der Leiharbeit, die Dauer des Einsatzes und die Einsatzbereiche regeln. Wenn sich Betriebsrat und Arbeitgeber nicht einigen können, dann entscheidet die Einigungsstelle. Ich bin der festen Überzeugung, dass das zu betriebsnahen und individuellen Regelungen führt, die den Interessen sowohl des Arbeitgebers als auch der Arbeitnehmer des Entleihbetriebes gerecht werden. Der Niedriglohnsektor in der Bundesrepublik Deutschland ist mittlerweile zu einem riesigen Problem geworden, zu einem Problem, das Folgen für die soziale Sicherheit in der Bundesrepublik und das gesamte soziale System hat. Wir brauchen nicht nur Regelungen zur Eindämmung der Leiharbeit; notwendig sind auch Regelungen, die sich darauf beziehen, wie man mit der befristeten Arbeit, Praktikumsverhältnissen und Ähnlichem umgeht. Wir müssen uns vor allem auch damit befassen, ob wir die Tarifvertragsparteien nicht dadurch stärken können, dass wir Allgemeinverbindlichkeitserklärungen erleichtern, sodass nicht eine Seite - in diesem Fall die Arbeitgeberseite - immer wieder blockieren kann. In dem Sinne bedanke ich mich ganz herzlich. Ich hoffe, auch Sie kommen zu der Erkenntnis, dass in Sachen Leiharbeit essenziell etwas zu tun ist. Prüfen reicht nicht; Handeln ist erforderlich. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Ralf Brauksiepe. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fähigkeit zur Selbstkritik steht uns Politikern sicherlich gut an. Aber wenn es dazu führt, dass man das, was man einst selbst in eigener Verantwortung eingeführt hat, auf einmal in Bausch und Bogen verdammt, obwohl sich ein differenziertes Bild der Beurteilung anböte, dann schießt das sicherlich weit über das Ziel hinaus. Das ist ein Problem, das Sie, Frau Kollegin Kramme, glaube ich, deutlich gemacht haben. ({0}) Die Zeitarbeit bietet Chancen und Risiken. ({1}) Sie ist nicht in Bausch und Bogen zu verdammen. Frau Kollegin Kramme, Sie müssten seit der letzten Ausschusssitzung wissen, dass jemand, der sich zu weit von der Wahrheit entfernt, befürchten muss, dass ich ihm mit den Fakten komme. ({2}) Lassen Sie mich deswegen im Sinne der geschichtlichen Wahrheit darauf hinweisen, was Sie auch im Elften Bericht der Bundesregierung zum Arbeitnehmerüberlassungsgesetz nachlesen können. Die Regelungen, die die Zeitarbeit betreffen, sind im Ersten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23. Dezember 2002 festgelegt worden. Dieses Gesetz war im Bundesrat nicht zustimmungspflichtig. Es hat auch unsere Zustimmung nicht gefunden. ({3}) Das Zweite Gesetz ist ebenso wie das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt mit unserer Zustimmung im Bundesrat beschlossen worden. Das Erste Gesetz war nicht zustimmungspflichtig. Das haben Sie ganz allein gemacht. Der Bundesrat hat Ihnen die Bedingungen nicht diktiert. Sie sollten wenigstens zu dem stehen, was Sie ganz allein gemacht haben. Man wird hier doch wohl über Fakten berichten können. ({4}) Wer sich vorurteilsfrei mit der Branche der Zeitarbeit auseinandersetzt, wird feststellen: Es gibt ein differenziertes Bild. Im Bericht der Bundesregierung wird deutlich, dass der Aufbau von Zeitarbeit insbesondere in Großbetrieben häufig mit einem Aufbau von Stammbeschäftigten oder zumindest mit einer konstanten Zahl von Stammbeschäftigten einhergegangen ist. Die Behauptung, dass es zu einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen bei der Stammbelegschaft gekommen ist, ist in Bezug auf die gesamte Branche sicherlich so nicht richtig. Wir sollten uns auch vor Augen führen, über welche Dimensionen wir hier eigentlich reden. Ich sage das vor dem Hintergrund dessen, was hier schon angeführt wurde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Nein, heute mal nicht, Herr Präsident. ({0}) Ich finde es wichtig, den Zusammenhang darzustellen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass die Zeitarbeit weit davon entfernt ist, zu einem prägenden Element unserer Arbeitswelt zu werden. Wir hatten in der Spitze rund 800 000 Zeitarbeitnehmer. Diese Zahl ist in der Krise zurückgegangen. Wir sind froh, dass die Zeitarbeit schon mit dem Beschäftigungsaufbau wieder begonnen hat. Wir hoffen, dass alle anderen Branchen bald nachziehen werden. Es gehört zu den Fakten, dass etwa 1,25 Promille der insgesamt Erwerbstätigen in der Zeitarbeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind und zusätzlich Arbeitslosengeld II bekommen. Es gibt rund 600 000 Beschäftigte in der Branche. Knapp 10 Prozent davon erhalten aufstockende Leistungen. Das heißt, rund 50 000 Beschäftigte, darunter sehr viele Teilzeitkräfte, die zumeist aufgrund persönlicher Lebensumstände nicht länger arbeiten können oder wollen, bekommen zusätzlich Arbeitslosengeld II. Ich habe es schon an anderer Stelle gesagt: In manchen Lebenssituationen sind 1,25 Promille eine Menge und auch zu viel. Aber niemand wird sagen können, dass eine solche Zahl die Arbeitswelt in Deutschland prägt. Davon kann keine Rede sein. ({1}) Es macht Sinn, in diesem Zusammenhang über größere Zahlen zu reden. Wie gesagt, 1,25 Promille der rund 40 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland - zum Teil in Teilzeitarbeit - bekommen aufstockendes Arbeitslosengeld II in der Zeitarbeit. Es waren nie mehr als 2,6 Prozent aller Beschäftigten in der Zeitarbeitsbranche tätig. Ich möchte auf Folgendes hinweisen: 60,6 Prozent der Zeitarbeitnehmer waren zuvor entweder länger als zwölf Monate nicht beschäftigt oder kurzfristig nicht beschäftigt oder noch nie beschäftigt. Das heißt, über 60 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeitsunternehmen Beschäftigung finden, waren vorher kurzfristig nicht, lange nicht oder noch nie beschäftigt. Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit. Auch das gehört zur Realität in Deutschland. Auch das gehört zu den Chancen, die die Zeitarbeit bietet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, es gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal von der Fraktion Die Linke.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Es wäre seltsam, wenn ich diese Zwischenfrage zuließe, nachdem ich eine Zwischenfrage der SPD nicht zugelassen habe.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Okay.

Dr. Ralf Brauksiepe (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003055

Ich bringe lieber meine Argumentation zu Ende. ({0}) Ich will deutlich sagen: Da, wo Missbrauch vorliegt - Missbrauchsfälle gibt es; darüber wurde bereits diskutiert; die Bundesarbeitministerin hat sich dazu deutlich geäußert -, muss er bekämpft werden. Diese Bundesregierung wird sich bei der Bekämpfung von Missbrauch von niemandem überbieten lassen. ({1}) Wir setzen aber weiterhin in erster Linie auf die Tarifvertragsparteien. ({2}) Die Entwicklung, die wir jetzt haben, ist doch gut und richtig. Der Christliche Gewerkschaftsbund hat vor wenigen Wochen mit seinem Tarifpartner einen Tarifvertrag abgeschlossen, der alle vom DGB in diesem Bereich abgeschlossenen Tarifverträge übertrifft. Mittlerweile hat der DGB mit seinem Tarifpartner nachgezogen. Ich sage ausdrücklich für die Bundesregierung: Diese Entwicklung begrüßen wir. Wir wollen keine Lohnspirale nach unten. Es ist gut, wenn sich die Tarifvertragsparteien bei den Löhnen nach oben überbieten. ({3}) Mit diesem Trend hat der Christliche Gewerkschaftsbund begonnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat nachgezogen. Das begrüßen wir ausdrücklich. Wir schließen nicht aus, als Gesetzgeber zu handeln, wenn es notwendig ist. Aber der Vorrang von tariflichen Lösungen gilt auch hier. Ich begrüße, dass wir bei den tariflichen Lösungen auf einem guten Weg sind. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist „Equal Pay Day“, und von daher passt dieses Thema genau zu diesem Tag, weil es auch hier um gleichen Lohn für gleiche Arbeit geht. ({0}) Ich persönlich finde es toll, dass die SPD mittlerweile wieder von „Leiharbeit“ und nicht von „Zeitarbeit“ spricht, wie die Zeitarbeitsbranche das gerne hätte. Der Betriebszweck von einem Leiharbeitsunternehmen ist das Verleihen von Menschen, um selbst Gewinne zu machen. In Zeiten spätrömischer Dekadenz ({1}) war das Sklavenarbeit, im Feudalismus war das Leibeigenschaft, und im Kapitalismus ist das Leiharbeit. Leiharbeit ist kein Problem, wenn sie gut bezahlt ist: mit gleichem Geld für gleiche Arbeit und bei gleichen Arbeitsbedingungen. ({2}) Zudem darf sie wirklich nur für Auftragsspitzen genutzt werden. Das hat die SPD nach sieben Jahren nun endlich als Geburtsfehler ihrer Reformpolitik erkannt. Herzlichen Glückwunsch! ({3}) In einer von der CDU - nicht von irgendjemandem, sondern vom CDU-Arbeitsminister Laumann - in Auftrag gegebenen Studie wird für Nordrhein-Westfalen gesagt: ({4}) Ein Viertel der Entleihbetriebe nutze Leiharbeitnehmer zur Verdrängung von Stammbelegschaften. Der Einkommensunterschied betrage bis zu 45 Prozent. - Ein Einstieg für Arbeitslose in Beschäftigung - das ist der sogenannte Klebeeffekt - ist die Leiharbeit auch nicht: einmal Leiharbeitnehmer, immer Leiharbeitnehmer. Wer leiharbeitet, ist mit einem Bruttolohn von 6,65 Euro im Osten und 7,60 Euro im Westen, wie dies gerade für diesen Bereich in einem Tarifvertrag beschlossen wurde, oftmals arm trotz Arbeit. ({5}) Durch die Leiharbeit wird gute und faire Arbeit vernichtet. ({6}) Dies wurde durch die rot-grünen Hartz-Gesetze möglich. Okay, man muss sich ja darüber freuen, dass die SPD an dieser Stelle auch wieder zur Vernunft gekommen ist. ({7}) So fordern Sie beim Einsatz von Leiharbeit die Ausweitung der Mitbestimmung durch Betriebsräte über Dauer und Umfang. Die Linke fordert dagegen ein zwingendes Mitbestimmungsrecht über die Dauer, den Umfang und das Ob der Leiharbeit. ({8}) Das Ob und die Möglichkeit, bei Nichteinigung die Einigungsstelle anzurufen, sind entscheidend. Nichts Konkretes sagt die SPD zur Einsatzdauer in einem Betrieb. Die Linke sagt dagegen: höchstens drei Monate, wie es früher im Gesetz stand. Um Auftragsspitzen abzudecken, sind drei Monate genug. Der entscheidende Knackpunkt liegt bei der EqualPay-Forderung. Die SPD fordert, den Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ wieder ohne Ausnahme gelten zu lassen. Die Gefahr einer Abweichung durch Tarifverträge wäre also gebannt. Das wäre auch gut so. Was macht aber die SPD jetzt nach sieben Jahren mit fatalen Ausnahmen? Sie fordert eine neue Ausnahme. Das ist im Grunde unglaublich. So heißt es in dem Antrag, dass der Grundsatz „Gleiches Geld für gleiche Arbeit“ erst nach einer kurzen Einarbeitungszeit gelten soll. Ich frage Sie: Was ist kurz? In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht in Art. 23 Abs. 2 eindeutig: Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. ({9}) Das ist der Maßstab der Linken. Die schwarz-gelbe Politik schlägt dem Fass in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht den Boden aus. Sie kennen nämlich nur Vorzüge der Leiharbeit. Die versprochene Prüfung des Lohndumpings - Fall Schlecker zieht sich nunmehr schon seit Monaten hin. Handlungsbedarf sieht die Regierung nur bei anderen. Sollen die Gewerkschaften doch mit den Arbeitgebern eine Lösung verhandeln! Damit sagt Schwarz-Gelb nichts anderes als: „Lohndumping durch Leiharbeit: Weiter so!“; denn durch das Gesetz wird Lohndumping legal. Das muss geändert werden. ({10}) Die Linke will: gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und das vom ersten Tag an, Begrenzung der Überlassungshöchstdauer auf drei Monate, starke betriebliche Mitbestimmung bei Leiharbeit und Bezahlung der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer mit einer Flexibilitätsprämie von 10 Prozent. ({11}) Der Antrag der SPD ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber eben nicht genug. Seien Sie sicher: Wir werden versuchen, auch weiterhin Druck zu machen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kollegin Kramme hat in ihrer Rede gesagt: Der denkende Mensch ändert seine Meinung. ({0}) Frau Kollegin Kramme, das halte ich nicht für zwingend. Man kann ja auch nachdenken und zu dem Ergebnis kommen, dass man bisher schon das Richtige gedacht hat. Sehen Sie, so ist es mir bei der Vorbereitung meiner Rede für den heutigen Tagesordnungspunkt gegangen. Deswegen will ich Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, welche Positionen die FDP in der aktuellen Diskussion um die Zeitarbeit vertritt: Erstens. Zeitarbeit ist das wichtigste und erfolgreichste Arbeitsmarktinstrument, das wir haben. Mit keinem anderen Instrument ist es gelungen, so vielen Menschen, die zuvor langzeitarbeitslos waren, zu einem neuen Arbeitsplatz zu verhelfen. Das sollten wir hier doch einmal deutlich festhalten. ({1}) Weil das so ist, werden wir alles daransetzen, das Instrument der Zeitarbeit auch künftig nutzbar zu machen und zu halten. ({2}) Zweitens. Die FDP-Fraktion ist gemeinsam mit den Kollegen der Union entschlossen, dem Missbrauch der Zeitarbeit entgegenzutreten. Das haben wir, Herr Kollege Schiewerling und ich, auch unverzüglich zu Beginn des Jahres, als der Fall Schlecker bekannt wurde, getan, ohne Wenn und Aber. Es ist nicht akzeptabel, wenn Stammbelegschaften von Konzernen in Leihgesellschaften, wo die Konditionen günstiger sind, ausgelagert werden. Das wollen wir ausdrücklich nicht. ({3}) Deswegen begrüßen wir drittens, dass es jetzt tarifvertragliche Regelungen gibt, mit denen genau dieses ausgeschlossen wird, nämlich dass man von dem im AÜG verankerten Grundsatz des Equal Pay abweichen kann, wenn es sich um Unternehmen im Konzernverbund handelt. Der Tarifvertrag, den AMP jetzt geschlossen hat, geht genau in diese Richtung. Das halte ich für richtungsweisend. Die Tarifpartner können zu dieser Debatte auch einen wichtigen Beitrag leisten, auf den wir nicht verzichten sollten. Viertens. Das Ministerium prüft - das ist auch eine Folge der Debatte zu Beginn des Jahres - derzeit, wie die Situation ist, wie viele Missbrauchsfälle es gibt und was getan werden muss, um diese Missbräuche gegebenenfalls über das hinaus, was tarifvertraglich geregelt ist, zu verhindern. Diesem Bericht sehen wir mit Interesse entgegen. Wir werden dann gemeinsam mit den Kollegen der Union überlegen, wo gegebenenfalls gesetzgeberisches Handeln erforderlich ist. Ich will Ihnen fünftens meine Position zum Mindestlohn in der Zeitarbeitsbranche hier nicht verschweigen. Ich glaube, dass es in einer Branche, in der der Grundsatz des Equal Pay gilt, von dem nur durch tarifvertragliche Regelungen abgewichen werden kann, in der es also eine hundertprozentige Tarifbindung gibt, keinen Sinn macht, einen Mindestlohn einzuführen. ({4}) Das ist mein Argument zumindest hinsichtlich der aktuellen Lage. Dann gibt es diejenigen, die schon vorauseilend sagen: Das könnte alles ganz schlimm werden, wenn ab dem 1. Mai nächsten Jahres Freizügigkeit herrscht. - Ich möchte für uns alle noch einmal darauf hinweisen, dass die Branchen, in denen offensichtlich ein besonderer Lohndruck besteht, im letzten Jahr Gelegenheit hatten, sich für die Einführung von Mindestlöhnen starkzumachen. In einer Reihe von Branchen wurden ja auch schon Mindestlohnregelungen eingeführt, die auch unmittelbar gelten würden, wenn Zeitarbeiter in diese Branchen entsandt werden. Das heißt, würde ein Zeitarbeiter in Deutschland im Bereich der Abfallwirtschaft eingesetzt, würde der Mindestlohn Abfallwirtschaft notwendig zur Anwendung kommen. Deswegen rate ich uns allen dazu, so wie es auch der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, getan hat, hier ohne Zorn und Eifer ans Werk zu gehen und zu beobachten, ob hier tatsächlich Verwerfungen auftreten. Ich glaube auch mit Blick auf das, was wir heute an Zahlen vorweisen können oder aktuell registrieren, zum Beispiel die Aktivitäten polnischer Zeitarbeitsunternehmen in Deutschland oder den sehr geringen Anteil ausländischer Leiharbeiter, sagen zu können, dass sich die Welt am 1. Mai 2011 nicht grundlegend verändern wird. In diesem Sinne freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können: Das waren bisher meine Gedanken, das sind sie weiterhin. Auch in künftigen Diskussionen werde ich nicht anstehen, diese Position hier ein drittes, viertes oder fünftes Mal zu vertreten. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.

Beate Müller-Gemmeke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004117, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Jetzt hat auch die SPD endlich einen Antrag zur Leiharbeit vorgelegt. Rot-Grün hat die Liberalisierung in der Zeitarbeit zu verantworten; das wissen wir. Schon lange fordern wir Grünen, dass die Fehler korrigiert werden. Herr Brauksiepe, Selbstkritik gehört für mich selbstverständlich auch in die Politik; denn sie ist ein wichtiger Wert. Die Leiharbeit muss endlich wieder zu einem verträglichen Instrument werden, das der Abfederung von Auftragsspitzen dient, nicht mehr und nicht weniger. Der Antrag zeigt, dass auch die SPD mit der Vergangenheitsbewältigung begonnen hat. Er ist zwar an einigen Stellen etwas vage, und er geht mir auch nicht weit genug, aber zumindest stimmt die Richtung, und das ist gut so. ({0}) Der Elfte Bericht der Bundesregierung zur Leiharbeit sollte eigentlich die Entwicklung in der Zeitarbeit beschreiben und soziale und beschäftigungspolitische Probleme aufdecken. Aber Fehlanzeige: Die Fakten werden verharmlost; der wichtige IAB-Forschungsbericht, die Laumann-Studie sowie kritische Stellungnahmen der Agentur für Arbeit wurden in weiten Teilen gar nicht erst aufgenommen. - Aber diese Fakten sind wichtig. Nur 8 Prozent der Erwerbslosen erhalten durch die Leiharbeit eine reguläre Beschäftigung. Das IAB spricht sogar davon, dass die Zeitarbeit eher eine Brücke in die Zeitarbeit ist. Im Bericht der Bundesregierung steht - ich zitiere -: Der überwiegende Teil der ehemaligen Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer befindet sich auch mittelfristig weiterhin in Beschäftigung und nicht in Arbeitslosigkeit. Das stimmt einfach nicht. Das zeigt die zweifelhafte Qualität des Berichts der Regierung. ({1}) Die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung hat zugenommen. Sogar die Bundesagentur für Arbeit warnt, dass Dauerarbeitsplätze mit Zeitarbeitskräften besetzt werden. Ein Blinder mit Krückstock sieht also, dass es einen offensichtlichen Missbrauch in der Zeitarbeit gibt. Herr Brauksiepe, es geht hier nicht nur um 2,6 Prozent der Beschäftigten, sondern um Menschen. Ich finde, jeder einzelne Mensch muss wichtig sein. ({2}) Seit Wochen höre ich aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales aber nur, dass Gespräche geführt werden und dass die Prüfung der Leiharbeitsbranche andauert. Ich frage mich: Wie viele Gespräche sind noch nötig? Wie lange wollen Sie eigentlich noch prüfen? Wenn Sie dem IAB nicht glauben, dann reden Sie doch einmal mit Ihrem CDU-Kollegen Laumann aus NRW. Am Wochenende hat die Ministerin die Branche aufgefordert, die Probleme endlich aus eigener Kraft zu lösen. Ich meine, gegen den Missbrauch in der Zeitarbeit muss gesetzlich vorgegangen werden und nicht durch die Branche selbst. ({3}) Fangen Sie endlich an, zu regieren! Notwendig ist, dass der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchgesetzt wird, ebenso ein Mindestlohn für verleihfreie Zeiten. Vor allem muss die konzerninterne Arbeitnehmerüberlassung verhindert werden. Das wäre verantwortungsbewusste Politik und eine klare Reaktion auf den Missbrauch in der Zeitarbeit. Aber vielleicht steckt die Regierung auch den Kopf in den Sand, weil es wieder einmal Streit mit der FDP gibt. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass die FDP bei diesem Thema auf der Bremse steht, weil sie den Niedriglohnsektor weiter ausbauen möchte. Dazu passen auch Ihre Äußerungen, Herr Kolb, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weniger verdienen sollten als das Stammpersonal. ({4}) Das haben Sie im Februar in einem Zeitungsinterview gesagt. ({5}) Gibt es dafür ein einziges plausibles Argument? Meinen Sie wirklich, dass Zeitarbeitskräfte grundsätzlich weniger wert sind? Mein Grundsatz ist, dass es keine Beschäftigten erster und zweiter Klasse geben darf. ({6}) Machen Sie endlich Politik für alle Bürgerinnen und Bürger und sorgen Sie dafür, dass für alle Beschäftigten Ihr Spruch gilt: Arbeit muss sich wieder lohnen. Vor der Krise waren fast 800 000 Menschen in der Zeitarbeit beschäftigt, obwohl jeder Achte zusätzlich staatliche Leistung beantragen musste. Die Agentur für Arbeit zahlt bereits eine halbe Milliarde Euro für Löhne in der Zeitarbeit. Spätestens bei dieser Zahl, die aus dem Arbeitsministerium stammt, müssten bei den Regierungsfraktionen alle Alarmglocken läuten. Wollen Sie wirklich weiterhin Unternehmen auf diesem Weg subventionieren, obwohl sich die Zeitarbeit in keinerlei Weise als arbeitsmarktpolitisches Instrument bewährt hat? Ich appelliere an die Regierungsfraktionen: Schauen Sie nicht weg! Wenn Sie nicht wollen, dass die Zeitarbeit für bisher fair bezahltes Stammpersonal zum Schleudersitz in den Hungerlohn und für Zeitarbeitskräfte zur Einbahnstraße in eine dauerhafte Niedriglohnfalle wird, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, zügig zu handeln, statt ewig zu prüfen. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. So rief der Zauberlehrling bei Goethe entsetzt im Angesicht der Kräfte, die er entfesselt hatte. An diesen Zauberlehrling erinnern Sie mich, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD. Erschrocken weichen Sie vor dem zurück, was Sie im Jahr 2002 gemeinsam mit den Grünen bei der Zeitarbeit auf den Weg gebracht haben. Aber für Erschrecken und Entsetzen besteht kein Anlass; denn Sie haben Ihr Gesellenstück abgeliefert. Ein Blick zurück: 2002 hatte der rot-grüne Zauberlehrling unter Anleitung seines Meisters Peter Hartz große Pläne für den Arbeitsmarkt. Millionen neuer Arbeitsplätze sollten entstehen. Das Herzstück war die Flexibilisierung der Zeitarbeit. So sollte eine Brücke aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung gebaut werden. So sollten insbesondere Geringqualifizierte eine Chance beHeike Brehmer kommen. So sollten Unternehmen wettbewerbsfähiger werden. Das, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, waren Ihre Ziele - gute Ziele. ({0}) Wenn wir heute Bilanz ziehen, können wir gemeinsam feststellen: Die Ziele von damals sind erreicht worden. ({1}) Im letzten Aufschwung sind laut dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln über 1,4 Millionen neue Jobs entstanden, davon übrigens 1,3 Millionen neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Dieses deutsche Arbeitsmarktwunder hat zwar nicht ausschließlich, aber doch auch mit den Reformen der Agenda 2010 zu tun. Dabei hat Hartz I die Fesseln für die Zeitarbeit gelöst. Allein hier hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit 2004 auf knapp 800 000 im Jahr 2008 fast verdoppelt. Ich finde das beachtlich. Das ist ein Beleg für erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, Sie sollten den Mut haben, sich darüber auch zu freuen. Offenbar aber genießt das Reformwerk bei Ihnen nicht das höchste Ansehen. ({2}) Das gilt wohl vor allem für die Arbeitnehmerüberlassung. Sie fürchten sogar, die Reformen hätten die Lage auf dem Arbeitsmarkt verschlimmert. So weit wie bei kaum einem anderen Thema liegen bei der Zeitarbeit Wahrnehmung und Wirklichkeit auseinander; ich muss feststellen: leider auch bei Ihnen. Sie behaupten: Stammbelegschaften werden durch Leiharbeitnehmer ersetzt. ({3}) Tatsache ist aber, dass die Hälfte der Einsatzbetriebe das Beschäftigungsniveau nicht verändert hat. ({4}) 34 Prozent haben Beschäftigung aufgebaut, und nur 16 Prozent haben Beschäftigung abgebaut. ({5}) Entscheidend ist: Nur 2 Prozent der Betriebe haben gleichzeitig Beschäftigung abgebaut und Zeitarbeit aufgebaut. Das ist laut einem Bericht der Bundesregierung so. Sie behaupten: Zeitarbeit wird immer weniger als Instrument zur Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzen benutzt. ({6}) Tatsache ist aber, dass mehr als die Hälfte aller beendeten Zeitarbeitsverhältnisse weniger als drei Monate dauerte. Laut Bericht der Bundesregierung war nur jeder Zehnte ohne Unterbrechung das ganze Jahr lang in der Arbeitnehmerüberlassung tätig. Sie behaupten: Zeitarbeit ist eine Variante prekärer Beschäftigung. Tatsache ist aber, dass in Deutschland knapp 800 000 Zeitarbeitnehmer sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, die Mehrheit von ihnen unbefristet. ({7}) - Ich betone es: sozialversicherungspflichtig und unbefristet beschäftigt. - Dabei handelt es sich im Übrigen überwiegend um Arbeitskräfte, die vor Beginn des Zeitarbeitsverhältnisses nicht unmittelbar oder überhaupt nicht beschäftigt waren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitte erkennen Sie an, dass Zeitarbeit neue Jobs schafft, dass sie Brücken in Arbeit baut und alles andere als prekär ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Brehmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Müller-Gemmeke?

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Wenn Sie in Ihrem Antrag also Fairness fordern, dann gehen Sie doch bitte mit gutem Beispiel voran. Beweisen Sie selbst Fairness, Fairness für die Zeitarbeit. Zu dieser Fairness gehört, zu sagen, dass der Fall Schlecker und die Zeitarbeit nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben. Das Gebaren von Schlecker und Konsorten ist ein Skandal. Da gibt es nichts zu beschönigen. Diese Leute betreiben Missbrauch auf dem Rücken einer ganzen Zeitarbeitsbranche. ({0}) Ich bin deshalb froh, dass die Zeitarbeitsbranche inzwischen reagiert hat. Sowohl der Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen, BZA, als auch der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister, AMP, haben gemeinsam mit den Gewerkschaften AntiSchlecker-Klauseln vereinbart. Der Fall Schlecker wird sich deshalb nicht wiederholen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ihrem Antrag behaupten Sie zwar, die Zeitarbeit nicht abschaffen zu wollen. Würden wir die von Ihnen vorgeschlagenen Änderungen allerdings umsetzen, würde genau dies geschehen. Durch neue Beschränkungen der Zeitarbeit würden den Unternehmen die notwendigen Flexibilitätsreserven genommen und der Beschäftigungsmotor Zeitarbeit abgewürgt. ({2}) Am Ende hätten Sie damit nicht der Branche geschadet, sondern dem Wirtschaftsstandort Deutschland insgesamt. Das wäre nicht nur nicht fair, sondern auch völlig falsch. ({3}) Untauglich sind die in der Debatte immer wieder angeführten Vergleiche mit anderen Ländern. Das Arbeitsrecht funktioniert eben nicht nach dem CafeteriaPrinzip, bei dem Sie sich mal hier und mal da eine Kleinigkeit nehmen. Deshalb können Sie das französische Agenturprinzip nicht mit dem deutschen Zeitarbeitsverhältnis vergleichen. Bei uns besteht zwischen Zeitarbeitsunternehmen und Zeitarbeitnehmer ein vollwertiges sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis mit allen Schutzrechten wie Kündigungsschutz, ({4}) Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsansprüchen etc., von allen anderen arbeitsrechtlichen Regelungen ganz zu schweigen. ({5}) Nur aus einem Anlass werden wir das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz in diesem Jahr noch einmal in den Blick nehmen, und zwar vor dem Hintergrund der Herstellung der vollen Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas ab Mai 2011. Diese Freizügigkeit darf nicht dazu führen, dass durch den Einsatz ausländischer Zeitarbeitnehmer die Zeitarbeitsbranche in Deutschland diskreditiert wird und es zu sozialen Verwerfungen kommt. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies zu verhindern, ist der Zweck des ArbeitnehmerEntsendegesetzes. Deshalb kommt für uns auch eine Aufnahme der Zeitarbeit in das Gesetz in Betracht. Voraussetzung dafür ist ein Mindestlohntarifvertrag der Branche. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele HillerOhm von der SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Kolb, Frau Brehmer, wir lernen aus Erfahrungen und ziehen die richtigen politischen Schlüsse für die Beschäftigten. Das kann man leider nicht von allen in diesem Haus sagen. ({0}) Frau Ministerin von der Leyen hat der Leiharbeitsbranche vor wenigen Tagen ein Ultimatum gesetzt, Missbrauch aus eigener Kraft zu unterbinden. Toll, die vielen schwarzen Schafe sollen sich also selbst weißwaschen. Falls sie das nicht in einigen Wochen oder Monaten - da bleibt die Ministerin ein bisschen unbestimmt schaffen, will die Ministerin zum Gesetzesknüppel greifen. Die Auswüchse bei der Leiharbeit sind allerdings nicht erst in diesen Tagen vom Himmel gefallen. Es gab sie schon lange vor dem Skandal der Drogeriekette Schlecker, über den wir bereits im Januar hier debattiert haben. Jetzt den Finger zu heben, den Tarifparteien zu drohen und auf Freiwilligkeit zu setzen, ist nicht sehr überzeugend. Wir fordern die Ministerin auf: Warten Sie nicht länger! Raus aus der Abwartstarre! Legen Sie ein Gesetz vor! ({1}) In unserem Antrag zeigen wir, wo es langgehen muss. Wir haben unter Rot-Grün in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften 2003 das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz reformiert. Wir haben damals auf Fairness der Arbeitgeber gesetzt. Dieser Schuss ging bedauerlicherweise nach hinten los. Wir haben gelernt: Fairness ohne Regeln funktioniert nicht. Deshalb brauchen wir klare Gesetze. ({2}) Diese bittere Erfahrung sollte auch die Ministerin zur Kenntnis nehmen. Die Ministerin hat ihre Betroffenheit über die unhaltbaren Zustände in der Leiharbeitsbranche zum Ausdruck gebracht. Ob dahinter aber tatsächlich der Wille und vor allem die Kraft stecken, auch etwas für die Menschen zu verbessern, wage ich zu bezweifeln. ({3}) Gelegenheit dazu bestand bereits in der Großen Koalition, als wir gemeinsam regiert haben. ({4}) Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, damals getan? Sie haben so auf der Bremse gestanden, dass Ihnen heute noch die Füße wehtun müssen. ({5}) Ich bin mir sicher: Bis zur Landtagswahl in NordrheinWestfalen werden wir in den Medien eine Ministerin sehen, die die Missstände in der Leiharbeitsbranche beklagt und tüchtig mit dem Finger droht. Dann kommt der ganz große Katzenjammer. Warum, so frage ich Sie, sollte die Union ausgerechnet mit einer marktradikalen FDP an ihrer Seite Arbeitnehmerrechte verbessern, wenn sie es noch nicht einmal mit uns getan hat? ({6}) Die Ministerin hat die Katze bereits aus dem Sack gelassen. Sie will den Arbeitgebern ein tolles Geschenk machen und den Kündigungsschutz schleifen. ({7}) Als wenn wir nicht schon genug prekäre Beschäftigung in Deutschland hätten. Nein, nun soll es noch mehr geben, und zwar durch die Ausweitung befristeter Arbeitsverhältnisse. ({8}) Das haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nun wirklich nicht verdient. ({9}) Zurück zur Leiharbeit. Schön, dass das Ministerium dem Parlament nun endlich auch den Bericht über die Erfahrungen mit der Arbeitnehmerüberlassung für den Zeitraum 2005 bis 2008 vorgelegt hat. Leider verschweigt der Bericht wichtige Fakten, die die tatsächliche Situation der Beschäftigten in der Leiharbeit beschreiben, Fakten, die zum Beispiel im IABForschungsbericht zum Thema Arbeitnehmerüberlassung zu finden sind, oder Erfahrungen, die die Bundesagentur für Arbeit gesammelt hat. Wichtige Daten des Statistischen Bundesamtes finden ebenfalls keine Berücksichtigung. Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert diese Art der Berichterstattung zu Recht. Solange die Probleme in der Leiharbeitsbranche von der Bundesregierung dermaßen verharmlost werden, wird man auf tiefgreifende Änderungen vergeblich warten. Aber zum Glück gibt es unseren Antrag. Wir wollen gute Arbeit und faire Arbeitsbedingungen für die Leiharbeit. Dazu gehören gleicher Lohn für gleiche Arbeit, Mindestlohn, Begrenzung konzerninterner Verleihung, Stärkung der Mitbestimmungsrechte und Synchronisationsverbot. Damit können wir es schaffen, Leiharbeit auf ihre ursprüngliche Funktion, nämlich Auftragsspitzen zu bewältigen, zurückzuführen und für die Beschäftigten in der Leiharbeit faire Arbeitsbedingungen sicherzustellen. Die Forderungen in unserem Antrag sind im Übrigen nicht neu. Bereits im Frühjahr 2008 haben die SPD-Bundestagsabgeordneten aus meinem Bundesland Schleswig-Holstein gemeinsam mit der IG Metall Küste einen umfassenden Forderungskatalog zur Leiharbeit verabschiedet. Die Umsetzung ist allerdings bislang an der Lernunfähigkeit der Union gescheitert. Das ist wirklich schade für die mittlerweile über 600 000 Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer in Deutschland. Aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Hiller-Ohm, ich habe mit großen Ohren vernommen, ({0}) wie konsequent Sie in Ihrer Rede von Leiharbeit statt von Zeitarbeit gesprochen haben. ({1}) Der Sinn ist klar: Sie möchten ein Arbeitsverhältnis diskreditieren, das für viele Menschen hilfreich war und ein Segen geworden ist. ({2}) - Ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt, in der Sie konsequent von der Leiharbeit gesprochen haben. Dieses Arbeitsverhältnis war für diejenigen Menschen hilfreich - die christlich-liberale Koalition will diese Menschen nicht aus dem Blick verlieren -, die bisher außerhalb des Arbeitsprozesses waren und für die die Zeitarbeit eine Möglichkeit ist, in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen. ({3}) Wir wissen, dass 62,2 Prozent der Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen arbeiten, zuvor nicht beschäftigt waren. Wir wissen, dass 11,4 Prozent davor überhaupt noch nie beschäftigt waren. Das zeigt deutlich, dass Zeitarbeit den Menschen eine Chance bietet, wieder in die Arbeitswelt integriert zu werden. ({4}) Auf diesen positiven Effekt für die betroffenen Menschen wollen wir nicht verzichten. ({5}) Wir werden nicht zulassen, dass dieses Arbeitsverhältnis diskreditiert wird, sei es auch nur in der Wortwahl. ({6}) Was wir auch noch in den Vordergrund rücken wollen, ist der sogenannte Klebeeffekt. Dies ist kein schönes Wort; aber der Sachverhalt, der dahintersteckt, ist klar. Nun hat Frau Kramme in diesem Zusammenhang eine Studie zitiert, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass 15 Prozent der Menschen ein dauerhaftes Arbeitsver3360 hältnis in den Betrieben erhalten. Es gibt eine andere Studie - sie stammt vom Institut der deutschen Wirtschaft -, die von 25 Prozent spricht. ({7}) Irgendwo dazwischen wird vielleicht die Wahrheit liegen; wir müssen uns da nicht festlegen. Aber auf genau diesen Effekt wollen wir im Sinne der betroffenen Menschen nicht verzichten. Ich füge hinzu: Es gibt darüber hinaus den Effekt, dass Menschen, die in Zeitarbeitsverhältnissen gearbeitet haben, zwar nicht in dem entleihenden Unternehmen tätig geworden sind, aber in einem anderen. Es gibt Studien, die davon ausgehen, dass dies in 20 Prozent der Fälle so ist. Ich sage für die christlich-liberale Koalition: Auf diesen positiven Effekt wollen wir nicht verzichten. ({8}) Frau Kramme, wir gestehen Ihnen zu, dass Sie dazulernen wollen. Sie sollten allerdings nicht den Eindruck erwecken, dass dieses Dazulernen erst nach dem 28. September 2009 eingesetzt hat, ({9}) letztlich koalitionstaktisch motiviert ist und nicht der Sache entspricht. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Ulrich Lange von der CDU/CSUFraktion. ({0})

Ulrich Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004087, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der SPD, Ihr heutiger Antrag ist die Demonstration des späten schlechten Gewissens. Wie Sie selber sagen: In der Regierung haben Sie Fehler gemacht. Wir nehmen zur Kenntnis, dass Sie das heute so sehen. In der Opposition haben Sie, nachdem Sie elf Jahre das Arbeitsministerium innehatten, diese Erkenntnis. Wir können Ihnen nur wünschen: Bleiben Sie in der Opposition! ({0}) Jetzt versuchen Sie krampfhaft die Rolle rückwärts aus der - wie ich es das letzte Mal vor acht Wochen genannt habe - Populismusfalle. ({1}) - Es wird ein Salto mortale. Ihr ehemaliger Arbeits- und Wirtschaftsminister Clement hat das damals als „Hartzer Rolle rückwärts“ bezeichnet. ({2}) Das ist ein Salto mortale rückwärts, um ganz links zu landen; das hat man gemerkt. Aber das schaffen Sie nicht. ({3}) Das hat Ihnen die Kollegin Krellmann gerade vorgemacht. Sie springen nach links, ({4}) und in der Zwischenzeit springen die Linken noch ein Stück weiter. ({5}) Sie kommen nicht hinterher. Lesen Sie das Lafontaine’sche Manifest. Dann wissen Sie, was los ist. ({6}) - Es ist einfach so. Die heutige Debatte kann man nicht anders bewerten. Ich möchte Sie nicht nur schelten; denn in seiner Grundidee ist das AÜG richtig. ({7}) Die jetzt vorgelegte Unterrichtung ist nichts anderes als eine Bilanz des Arbeitsministers Olaf Scholz. ({8}) - Es nützt Ihnen nichts. Sie müssen sich das anhören. Auf die positiven Effekte hat der Kollege Kober eben hingewiesen. Auch ich habe sie mir noch einmal aufgeschrieben: Die Leih- bzw. Zeitarbeit - ich verwende beide Begriffe, damit Sie zufrieden sind - ist ein wichtiger Faktor auf dem deutschen Arbeitsmarkt geworden. Wir wollen diesen wichtigen Faktor erhalten. Zeitarbeit schafft Perspektiven. Sie ist die Brücke in den ersten Arbeitsmarkt, die wir so dringend brauchen. ({9}) Außerdem handelt es sich um voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Frau Kollegin Kramme, in einem Punkt kann ich Ihnen nicht recht geben. Bei der Zeitarbeit gelten die gleichen Arbeitnehmerschutzrechte wie in anderen Arbeitsverhältnissen. Sie behaupten, das stimme weder beim Urlaub noch beim Kündigungsschutz. ({10}) Das ist nicht richtig. Ich gehe davon aus, dass Sie das als Rechtskundige wissen, auch wenn Sie einen anderen Eindruck vermitteln wollen. ({11}) - Ich habe zugehört. - Ich nenne Ihnen noch einen Punkt, wo Sie die Linke nicht einholen werden - Sie gehen nur ein bisschen auf sie zu; die Linke geht viel weiter -: Wir wollen keine zusätzlichen Mitbestimmungsrechte in der Zeitarbeit. ({12}) Es wäre das Ende der Zeitarbeit, wenn wir versuchen würden, das über Einigungsstellen zu regeln. ({13}) Das funktioniert nicht. Das kann ich Ihnen aus der Praxis berichten. Frau Kollegin Hiller-Ohm, Sie haben auf die Kritik des DGB Bezug genommen. Ich habe mir das extra aus meinen Unterlagen herausgesucht. Schon wieder kann man sehen, wie nahe Sie an der Linken dran sind; denn die DGB-Kritik bezieht sich auf eine Kleine Anfrage der Linken aus der letzten Legislaturperiode, auf Drucksache 16/9410. Nennen Sie doch gleich Ross und Reiter. Sagen Sie, wohin Sie wollen. Setzen Sie sich in einer vereinigten Linken zusammen. Dann ist das in Ordnung; aber führen Sie keine solchen Debatten. ({14}) - Nein. Wenn Sie reden wollen, dann lassen Sie sich auf die Rednerliste setzen. Ansonsten rede heute ich. ({15}) Die christlich-liberale Koalition steht zur seriösen und soliden Zeitarbeit. Wir sagen klar Nein zum Lohndumping und zum Drehtüreffekt. ({16}) In meiner letzten Rede habe ich das bereits ausgeführt. Wir glauben an die Tarifvertragsparteien und möchten ihnen das überlassen. Schauen Sie sich den neuen Tarifvertrag der BZA-DGB-Tarifgemeinschaft an. Es sind 3 Cent mehr als bei den christlichen Gewerkschaften. Ich würde vorschlagen, dass Sie die Kirche im Dorf lassen. Wir sagen Nein zum Missbrauch. Das haben Angela Merkel und Ursula von der Leyen deutlich gemacht. Geben Sie den Menschen durch die Zeitarbeit die Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zurückzukehren. Herzlichen Dank und frohe Ostern. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1155 und 17/464 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht dem Zufall überlassen - Drucksache 17/1149 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. ({1})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung von Steuerflucht funktioniert in Deutschland letztendlich nur noch über den Ankauf von illegal beschafften Steuersünder-CDs. Damit wird offenkundig der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Sich auf kriminelle Machenschaften zu stützen, ist dem Anspruch eines Rechtsstaates nach Meinung der Linken nicht nur unwürdig, sondern auch ungerecht und uneffektiv, da rein willkürlich und zufällig. Die Ergebnisse der internationalen Verhandlungen zur Bekämpfung von Steuerflucht sind bescheiden, sofern überhaupt welche erreicht werden; denn etliche Steuerparadiese spielen ganz offenkundig auf Zeit. Aufgrund bloßer Absichtserklärungen, ohne auch nur einen Deut verändert zu haben, werden sie von der OECD nicht mehr als Steueroasen betrachtet. Das Beispiel Frankreich zeigt allerdings, dass man sich von der Definitionsmacht der OECD nicht abhängig machen muss. Frankreich hat eigene Kriterien entwickelt. Auf deren Grundlage kann Frankreich seit Februar 18 Länder eindeutig als Steueroasen bestimmen, und Frankreich hat es getan. Demgegenüber kennt die Bundesregierung bis heute keine einzige Steueroase. Würden wir jedoch die französischen Kriterien anwenden, so wären auch bei uns mindestens 10 der 18 Steueroasen als solche einzuordnen. Wir brauchen also einfach eine eindeutige Definition. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass alle Staaten, die nicht bis zum 30. Juni dieses Jahres die folgenden beiden Bedingungen erfüllen, als Steueroasen gelten und als solche behandelt werden: ({0}) Erstens. Es muss ein Abkommen mit Deutschland über den Informationsaustausch in Steuersachen nach dem OECD-Standard nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt sein. Zweitens. Es muss eine Verpflichtung dieser Staaten vorliegen, die zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung notwendigen Informationen auch zu erheben; ({1}) denn ohne die entsprechenden Informationen läuft jedes Auskunftsersuchen offenkundig ins Leere. Als erste Maßnahme sind vorhandene Doppelbesteuerungsabkommen mit den Steueroasen zu kündigen. Die eindeutige Identifikation dieser ermöglicht sodann wirksame Maßnahmen auf nationaler Ebene. Hierzu schlagen wir Ihnen vor: Dividenden, Zinsen und Lizenzabgaben, die in Steueroasen fließen, müssen mit einer spürbaren Quellensteuer von 50 Prozent belegt werden. ({2}) Die Quellensteuerbefreiung für Personen mit Wohnsitz in Steueroasen muss natürlich aufgehoben werden. Ähnliches hat Frankreich bereits umgesetzt. Banken, die Filialen oder gar ihren Sitz in Steueroasen haben, muss die Geschäftsgenehmigung entzogen werden. Ich glaube, das ist ein sehr wirksames Mittel. Die zur Besteuerung relevanten Informationen müssen über eine Meldepflicht für Vermögenstransfers über 100 000 Euro ins Ausland beschafft werden. Das sind drei ganz konkrete Maßnahmen, die wir relativ schnell umsetzen könnten. Die Bekämpfung von Steuerhinterziehung ist aber nicht zuletzt auch eine Frage der Personalausstattung der Steuerverwaltungen. Hier liegt in Deutschland aufgrund der föderalen Gestaltung sehr viel im Argen. Man muss einfach feststellen, dass es sich für die Bundesländer gar nicht lohnt, Investitionen in die Steuerverwaltung zu tätigen, da ihnen daraus resultierende Mehreinnahmen über den Länderfinanzausgleich gleich wieder abgenommen werden. Auch fehlt ein verbindlicher Standard bei der Ermittlung des Personalbedarfs. Hier besteht dringender Änderungsbedarf. ({3}) Auf EU-Ebene bleibt die Neugestaltung der EU-Zinsrichtlinie vorrangig. Diese muss endlich alle Kapitaleinkünfte erfassen und auch für Kapitalgesellschaften gelten. Noch eine grundsätzliche Forderung: Schaffen Sie endlich die ungerechte und hinterziehungsanfällige Abgeltungsteuer ab. Kapitaleinkommen gehören genauso wie Lohneinkommen dem persönlichen Steuersatz unterworfen. ({4}) Dies wäre ein wichtiger erster Schritt zur Eindämmung des internationalen Steuerwettbewerbs, der Steuerhinterziehung überhaupt erst attraktiv macht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Linke meint: Die Bekämpfung der Steuerhinterziehung darf nicht dem Zufall überlassen werden. Deshalb haben wir unsere Vorschläge hier zur ersten Beratung vorgelegt. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße insbesondere die beiden Mitglieder meiner Arbeitsgruppe, Patricia Lips und Mathias Middelberg, die zu dieser Debatte erschienen sind. ({0}) Die unionsgeführte Bundesregierung, Frau Höll, hat nicht nur gefordert, sie hat bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung auch gehandelt. ({1}) Unsere Bilanz seit 2005 ist eindrucksvoll. Da könnten auch Sie von der SPD klatschen; Sie waren ja einige Jahre dabei. Wir haben den verfassungsrechtlich problematischen § 370 a der Abgabenordnung abgeschafft und verfassungsfest durch § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 der Abgabenordnung ersetzt, durch den eine bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuern qualifiziert bestraft wird. Wir haben mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung die bandenmäßige Hinterziehung von Umsatz- und Verbrauchsteuer in den Katalog des § 100 a Strafprozessordnung aufgenommen. Damit ermöglichen wir erstmals eine Telekommunikationsüberwachung bei Steuerhinterziehungstaten. Das hat es vorher nicht gegeben. Wir haben im Rahmen des Jahressteuergesetzes 2009 die Verjährungsfrist für besonders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zehn Jahre verlängert. Neben unseren gesetzgeberischen Aktivitäten arbeitet auch die Steuerfahndung in Deutschland erfolgreich. Jahr für Jahr gibt es 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe. Sehr zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof jüngst die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzisiert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe ist durchaus ausreichend, aber man hatte manchmal, wenn man die Urteile gelesen hat, den Eindruck, dass er nicht immer voll ausgeschöpft wurde. Deshalb hat der Bundesgerichtshof jetzt entschieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einem Steuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab 100 000 Euro, jedenfalls bei Wiederholungstätern, unerlässlich sind. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe ist auch bei Ersttätern grundsätzlich eine Freiheitsstrafe geboten. Wer künftig Steuern in Millionenhöhe hinterzieht, wird also tatsächlich im Gefängnis sitzen. Das ist richtig so. ({2}) Schließlich haben wir den Koalitionsantrag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ beschlossen, in dem insbesondere eine umfassende Überarbeitung und Erweiterung der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung und ein verbesserter Informationsaustausch auf internationaler Ebene gefordert werden. Dies haben wir im Laufe des letzten Jahres erreicht. Wir haben jetzt mit allen großen Industriestaaten einen Informationsaustausch, der den OECD-Standards entspricht. Derzeit laufen letzte Verhandlungen. Beispielsweise wird heute Bundesfinanzminister Schäuble seinen Schweizer Amtskollegen treffen; auch hier werden wir zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen. In Brüssel liegt auch ein Abkommen der EU mit Liechtenstein unterschriftsreif vor. Man höre und staune - im Ausschuss am Mittwoch waren wir alle etwas erstaunt -: Das wird von Luxemburg und Österreich blockiert, weil sie weniger einschneidende Maßnahmen bei der EU-Richtlinie zur Zinsbesteuerung fordern. Das ist in der Tat unerhört. Die Sozialdemokraten haben letztes Jahr den Einsatz der Kavallerie gefordert. ({3}) Jetzt könnten Sie zumindest zum Telefonhörer greifen und mit dem österreichischen Bundeskanzler sprechen, damit er eine etwas konstruktivere Haltung einnimmt. ({4}) Wir haben auch gerade in den letzten Wochen bewiesen, dass wir Steuerhinterziehung energisch bekämpfen, Stichwort „Steuersünder-CD“. Obwohl das eine schwierige rechtliche Frage ist, die eine Abwägung erfordert, hat sich die Bundeskanzlerin klar positioniert. Am 1. Februar dieses Jahres hat sie gesagt: Vom Ziel her sollten wir, wenn diese Daten relevant sind, auch in ihren Besitz kommen. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass Steuerhinterziehung geahndet werden muss. - Das war von Anfang an keine Moderation, sondern eine klare Positionierung, und das auf einem schwierigen Rechtsgebiet. Es geht um einen Konflikt, der sämtliche Rechtsordnungen seit Jahrhunderten durchzieht: Man möchte die materielle Wahrheit erforschen, darf dabei aber nicht alle denkbaren Mittel anwenden, muss also prozessual einwandfrei vorgehen. Hier sind in allen Rechtsordnungen immer wieder schwierige Abgrenzungen vorzunehmen. Die Frage ist: Liegt ein Beweisverwertungsverbot vor, wenn Beweismittel, wie im Falle der Steuer-CD offenkundig, rechtswidrig erlangt worden sind? ({5}) Diese Abwägung haben wir durchgeführt und sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen. ({6}) Die Koalition verfolgt nicht nur die Steuerhinterziehung energisch, sondern wahrt dabei auch die rechtsstaatlichen Grundsätze. ({7}) Unsere Politik ist erfolgreich. Seit Beginn dieses Jahres sind bei deutschen Finanzämtern über 10 000 Selbstanzeigen eingegangen. Wir erzielen möglicherweise Steuermehreinnahmen in Milliardenhöhe. Dies zeigt, dass wir erfolgreich sind und dass man sehr vorsichtig sein muss, ehe man die vollständige Abschaffung des § 371 Abgabenordnung fordert. ({8}) Dieser Schuss kann auch leicht nach hinten losgehen. ({9}) Abschließend will ich noch zu dem Antrag der Linken kommen. Frau Höll, einige Punkte Ihres Antrags sind wirklich bemerkenswert, ({10}) selbst dann, wenn man berücksichtigt, welches Niveau die Anträge, die die Linken sonst einbringen, haben. Zum Teil ist das, was Sie fordern - wenn dieser Ausdruck nicht unparlamentarisch ist, Herr Präsident -, wirklich abwegig. ({11}) Erstens. Sie fordern, dass Deutschland auf dem Gebiet der internationalen Steuerhinterziehung einen nationalen Alleingang unternimmt. Die Bundesregierung soll hierzu einen Gesetzentwurf vorlegen. ({12}) Das Problem der internationalen Steuerhinterziehung können wir möglicherweise noch nicht einmal auf europäischer Ebene alleine lösen, sondern das ist nur global möglich. Aber Sie fordern die Bundesregierung auf, ein nationales Gesetz zu diesem sehr komplizierten Gebiet vorzulegen. ({13}) Das ist doch kompletter Unsinn. Das wird zu keinem Ergebnis führen. ({14}) Zweitens. Sie möchten, dass Deutschland eine Liste „nicht kooperativer Staaten“ aufstellt. ({15}) Wollen Sie allen Ernstes, dass die Bundesregierung eine Liste „nicht kooperativer Staaten“ aufstellt? ({16}) Das ist doch nationale Kanonenbootpolitik. Das geht nach hinten los. ({17}) Wegen der Äußerungen des ehemaligen Bundesfinanzministers Steinbrück hatten wir schon genug Probleme; ({18}) damals war von Indianern, von der Kavallerie und von Ouagadougou die Rede. ({19}) Jetzt soll die Bundesrepublik Deutschland eine Liste nicht kooperationswilliger Staaten aufstellen, ({20}) an der OECD und der EU vorbei. Das ist wirklich hanebüchener Unsinn. ({21}) Was Ihre dritte Forderung betrifft, möchten Sie, dass sie bis zum 30. Juni 2010 erfüllt wird. Dieses Datum muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Zu Ihrer Information: Heute ist der 26. März 2010. ({22}) Selbst wenn Ihr Antrag eine Mehrheit fände und der Bundestag ihm zustimmen würde, wäre es April oder Mai, ehe die Bundesregierung tätig würde. ({23}) Sie fordern die Bundesregierung auf, bis zum 30. Juni 2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen, die Deutschland geschlossen hat, zu kündigen, ({24}) wenn sich der jeweils andere Staat nicht kooperativ verhält. Das ist eine Forderung, die den deutschen Interessen massiv schaden würde. ({25}) - Herr Kollege Troost, Deutschland als international agierender Staat hat ein großes Interesse an Doppelbesteuerungsabkommen. ({26}) - Es geht ja um alle Doppelbesteuerungsabkommen. ({27}) - Mit Steueroasen schließen wir gar keine Doppelbesteuerungsabkommen; das sollten Sie wissen. ({28}) Doppelbesteuerungsabkommen werden nur mit wirtschaftlich tätigen Ländern geschlossen. ({29}) Wir haben doch beide selber erlebt, wozu die Kündigung eines Doppelbesteuerungsabkommens führt: Das schadet der deutschen Wirtschaft, das schadet den deutschen Kulturschaffenden vor Ort. Eine Kündigung ist Unsinn. ({30}) - Dann fordern Sie doch so etwas nicht in einem Antrag! Bis zum 30. Juni 2010 alle Doppelbesteuerungsabkommen zu kündigen, das ist einfach ein Eigentor. ({31}) Ich sage abschließend: Ersparen Sie uns die Beratung dieses Antrages im Ausschuss! ({32}) Ziehen Sie den Antrag in Ihrem eigenen Interesse zurück! Danke. ({33})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Martin Gerster von der SPD-Fraktion. ({0})

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich zu Beginn dieser Woche erfahren habe, dass das Thema Steuerhinterziehung einmal mehr auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht, war ich zunächst erfreut. Schon als ich den Titel Ihres Antrags gelesen hatte, dachte ich allerdings: Das ist offensichtlich ein mit heißer Nadel gestrickter, unausgegorener Antrag. Der Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht dem Zufall überlassen“ passt nicht. Der Faktor Zufall ist nicht das, was wir angehen müssen. In Bezug auf die Steuerhinterziehung haben wir doch ein ganz anderes Problem: dass es mancher politischen Partei in Deutschland an dem Willen fehlt, Steuerhinterziehung wirksam und nachhaltig zu bekämpfen. ({0}) Kollege Manfred Kolbe, ich schätze Sie persönlich sehr. Sie haben hier von einer eindrucksvollen Bilanz gesprochen. Was wir in der Großen Koalition auf den Weg gebracht haben, kann sich, denke ich, sehen lassen. Aber wer war eigentlich der Motor, wer war die Triebfeder für all das, was wir gemacht haben? Das war doch nicht die Unionsfraktion, das war doch nicht die Kanzlerin. Es war Finanzminister Peer Steinbrück von der SPD, der das Ganze angeregt und angetrieben hat. ({1}) Das gehört doch auch zur Wahrheit: Wir mussten Sie zum Jagen tragen, damit wir am Schluss nach quälenden Diskussionen und Monaten des Verschiebens überhaupt etwas auf den Weg bringen konnten. Wenn ich hier höre, dass Schwarz-Gelb die Steuerhinterziehung tatsächlich zum großen Thema mache, will ich sagen: Ich habe den Eindruck, dass Schwarz-Gelb keine klare Linie hat. Was Sie hier veranstalten, ist ein Torso. Schauen Sie einmal, was die Landesregierung von Baden-Württemberg macht! FDP-Justizminister Goll sagt: Wir wollen diese Steuer-CD nicht ankaufen. CDUFinanzminister Stächele sagt: Wir wollen sie kaufen. Der neue Ministerpräsident, Stefan Mappus, sagt: Wir kaufen sie lieber nicht. - Andernfalls wäre nämlich seine Wahl gefährdet gewesen. Das ist doch kein effizienter Kampf gegen Steuerhinterziehung. Baden-Württemberg hätte diese CD kaufen müssen. Dann hätten Sie Ihren eigenen Minister, Bundesfinanzminister Schäuble, nicht in die missliche Situation gebracht, dass er letztendlich von Bundesland zu Bundesland laufen und jemanden suchen musste, der sich bereit erklärt, diese Steuer-CD zu kaufen. ({2}) - In NRW hat man diese CD jetzt gekauft. Die Frage bleibt: Ist das eigentlich ein nachhaltiger und guter Ansatz, um Steuerhinterziehung zu bekämpfen? Sie sind doch ganz unterschiedlich unterwegs: Hier sagen Sie Ja, dort sagen Sie Nein. ({3}) So sieht ein effektiver Kampf gegen Steuerhinterziehung jedenfalls nicht aus. ({4}) Ich will deutlich machen, dass es hier nicht um irgendein Thema geht. Die Steuerhinterziehung hat eine gigantische Dimension angenommen, ein unglaubliches Ausmaß: 11 000 Selbstanzeigen - davon, vielleicht auch kein Zufall, 3 000 in Baden-Württemberg - sprechen für sich. Es wäre notwendig, dass Schwarz-Gelb überall dort, wo man in den Ländern Verantwortung trägt, sagt: Angesichts der Verfahren, die jetzt eingeleitet werden, muss die Steuerfahndung personell besser ausgestattet werden. ({5}) Was passiert in den Ländern, in denen Sie regieren? Gar nichts. ({6}) Das zeigt: Es ist kein Zufall, es hat System. Es fehlt an dem politischen Willen, tatsächlich intensiv gegen Steuerhinterziehung vorzugehen. ({7}) Das zeigt, dass wir sinnvolle, nachhaltige Maßnahmen brauchen, um der systematischen Hinterziehung von Geldern entgegenzuwirken. Das sind im Übrigen Gelder, die wir für öffentliche Leistungen dringend brauchen. Ich erinnere nur an die Haushaltsberatungen der letzten Woche oder auch an jeden einzelnen Tagesordnungspunkt hier im Plenum, den wir diskutieren. Überall stellt sich die Frage: Woher soll das Geld kommen? Sie wären gut beraten, die Maßnahmen in Sachen Steuerhinterziehung zu intensivieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, ich komme ganz konkret auf Ihren Antrag zu spre3366 chen. Ich habe den Eindruck, dass es sich um einen Schaufensterantrag handelt. ({8}) Es ist sicher richtig: Wir müssen schauen, dass wir die OECD-Standards bei den Doppelbesteuerungsabkommen einhalten. Es ist sicher auch wichtig, dass wir den Austausch der Informationen zur Ermittlung der Delikte so umfassend wie möglich gestalten. Aber ich komme auf das zurück, was der Kollege Kolbe gesagt hat: Was bringt uns bitte schön die Androhung, die bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen zum 30. Juni dieses Jahres zu kündigen? Die internationale Signalwirkung wäre aus meiner Sicht verheerend. Wer wäre davon betroffen? Die Leidtragenden wären die unbescholtenen, ehrlichen Bürgerinnen und Bürger, die dann nach Auflösung der Doppelbesteuerungsabkommen damit rechnen müssten, dass sie, ohne sich etwas zuschulden kommen zu lassen, an dieser Stelle doppelt besteuert würden. Ich denke, dass nationale Drohgebärden ohne Verbündete auf internationaler Ebene keine Lösung sein können. ({9}) Richtig hingegen, so glauben wir, ist der Weg, den Bundesfinanzminister Peer Steinbrück damals mit seinem französischen Kollegen eingeschlagen hat. Dieser Weg war richtig und erfolgreich. Die Reaktionen der betroffenen Länder machen deutlich, dass sie die OECDStandards umsetzen und dass die angedrohten Maßnahmen gegenüber diesen unkooperativen Staaten Wirkung zeigen. Wir glauben, dass wir in der Großen Koalition sehr viel Wichtiges auf den Weg gebracht haben. Kollege Kolbe hat das Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz angesprochen, ein riesiger Schritt. Damit haben wir viel erreicht. Wir hätten noch ein bisschen mehr erreichen können, Herr Kolbe, wenn unser Koalitionspartner nicht immer so widerspenstig gewesen wäre. Aber die Anhebung der Verjährungsfrist in Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehung, der Ausbau der Möglichkeiten, die Steuerhinterziehung zu verfolgen, aber auch die Einschränkung der Steuergestaltungsmöglichkeiten bei der Unternehmensteuerreform 2008 waren richtige Schritte. Schade ist, dass offenbar Ihr ohnehin nicht besonders ausgeprägter Ehrgeiz mit dem neuen Koalitionspartner an dieser Stelle ganz erloschen ist. ({10}) Bislang haben wir von Ihnen jedenfalls zu diesem Thema keine Initiative gesehen. ({11}) Von der FDP-Fraktion vermissen wir seit Jahren parlamentarische Initiativen zum Thema Bekämpfung von Steuerhinterziehung. ({12}) - Das hat sicher auch Gründe. Kurzum: Wir haben ein klares Ziel. Steuerhinterziehung muss endlich intensiv bekämpft werden, und zwar noch stärker als bisher. Sie von Schwarz-Gelb sind da gefordert. Steuerhinterziehung muss aus dem verniedlichenden Image des Kavaliersdelikts herauskommen. Wir brauchen diese Gelder, die notwendig sind, wichtige Investitionen für unser Land zu tätigen. Deswegen glauben wir, dass weitere Maßnahmen erforderlich sind, zum Beispiel ein einheitlicher Umgang mit den angebotenen Daten von Steuerhinterziehern. Wir müssen die Länder in die Lage versetzen, die Steuerfahndungen entsprechend auszubauen. Wir brauchen in der Steuerfahndung eine internationale Zusammenarbeit, besonders beim Umsatzsteuerbetrug. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, sagen zu können: Die SPD-Fraktion steht für die konsequente Verfolgung und Ahndung von Steuerkriminalität in der Vergangenheit, aber auch in der Zukunft. Deswegen werden wir weitere Initiativen auf den Weg bringen. Herzlichen Dank und frohe Ostern. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Daniel Volk von der FDPFraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um eines vorab klarzustellen: Steuerhinterziehung ist in Deutschland kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. Trotzdem muss sich der Staat auch selbst an geltendes Recht halten. Der Diebstahl von Daten Tausender Bankkunden ist ebenso eine Straftat. Daher muss genau geprüft werden, ob der Kauf von Informationen zulässig ist. Die FDP unterstützt den Bundesminister der Finanzen in seinem Vorgehen gegen Steuerhinterziehung, aber dies muss im Einklang mit den Prinzipien unseres Rechtsstaates stehen. ({0}) Was die Linksfraktion mit dem Titel ihres Antrags suggerieren möchte, nämlich dass Steuerfahndung sozusagen ein Zufall sei, ({1}) ist an sich eine Beleidigung sämtlicher Finanzbeamter, die ihren Dienst sehr ordentlich versehen. ({2}) Sie beleidigen damit 152 400 Finanzbeamte in 1 536 Finanzämtern. Das muss auch klar gesagt sein. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Volk, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll?

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. - Allerdings stellen sich in unserem Land nicht wenige Menschen die Frage, ob unser Steuersystem noch gerecht ist. Wenn mittlerweile nicht mehr nur die Leistungsträger, sondern auch die gesamte Mittelschicht finanziell ausgequetscht wird, dann kann man das verstehen. Wir werden für ein einfaches, niedriges und gerechtes Steuersystem sorgen ({0}) und damit auch die notwendigen Ressourcen in den Finanzämtern für die Steuerfahndung und Steuerüberprüfung freisetzen. ({1}) Das macht auch einen allzu neugierigen Staat in vielen Bereichen überflüssig. Wenn man den Antrag der Linksfraktion liest, dann hat man ein bisschen das Gefühl - ich habe es jedenfalls -, dass sie ganz gerne wieder einen Schnüffelstaat hätte. Damit kennen Sie sich in Ihrer Geschichte ja sehr gut aus. ({2}) Wir werden dafür sorgen, dass sich Arbeit wieder lohnt, dass den Bürgern mehr Netto vom Brutto bleibt. ({3}) Das Steuersystem und das Besteuerungsverfahren werden wir deutlich vereinfachen und für die Anwender freundlicher gestalten: Zeitnahe Betriebsprüfungen, gerechtere Steuern, die Abschaffung des Mittelstandsbauches, Steuerverfahrensvereinfachungen werden Schritte - um nur einige zu nennen - in die richtige Richtung sein. ({4}) Sie von der Linksfraktion wollen Übertragungen von Geldvermögen ins Ausland ab einem jährlichen Betrag von 100 000 Euro meldepflichtig machen. Ihnen ist hoffentlich klar, dass das ein Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb der Europäischen Union ist. ({5}) Insofern sieht man auch hier, dass die Linkspartei offenbar bereit ist, gegen die Bestimmungen und Vereinbarungen der Europäischen Union zu verstoßen. Die mehr als 100 Doppelbesteuerungsabkommen, die Deutschland mit anderen Ländern geschlossen hat, sind ein sinnvolles Instrument für mehr Steuergerechtigkeit nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Das Ziel der Doppelbesteuerungsabkommen ist die Vermeidung der Doppelbesteuerung, aber nicht das Herbeiführen einer Nullbesteuerung. Es sind also sinnvolle Instrumente für mehr Steuergerechtigkeit. Es entspricht nicht meinem Rechtsverständnis, dass Menschen doppelt Steuern abführen müssen. Das widerspricht dem Grundsatz der Einmalbesteuerung. ({6}) Zur Vermeidung von Nullbesteuerungen sind in viele Doppelbesteuerungsabkommen sogenannte Subject-toTax-Klauseln integriert worden. Diese Rückfallklauseln richten sich gegen eine Doppelbefreiung bei der Veranlagung. Gerade Deutschland hat diese Ergänzung im Rahmen der Gestaltung von Doppelbesteuerungsabkommen sehr häufig vereinbart. Und das wollen Sie jetzt abschaffen? ({7}) Auch bleibt zu überlegen, wen Sie mit Ihrer Forderung eigentlich bestrafen wollen. Die großen Steuerbetrüger? Wohl nicht. Denn die bringen ihr Geld von vornherein in ein anderes Land. ({8}) Sie werden eher die steuerehrlichen Kleinanleger bestrafen, die im Rahmen der deutschen und europäischen Gesetze ihr Erspartes in Europa oder anderswo anlegen. ({9}) Sie nehmen also für die Steuersünder eine ganze Bevölkerung in Sippenhaft. Auch damit kennen Sie sich offenbar sehr gut aus. ({10}) Sie wollen die Niederlassung ausländischer Banken in Deutschland verbieten, Kreditinstituten mit Filialen im Ausland die Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb versagen. Sie wollen die Übertragung von Geldvermögen ins Ausland meldepflichtig machen. ({11}) Und letztens habe ich von Ihrer wirtschaftspolitischen Sprecherin Wagenknecht gehört, es soll auch eine Wegzugsteuer eingeführt werden. ({12}) In Wahrheit wollen Sie wieder Mauern bauen, ({13}) aber nicht wie früher aus Beton und Stacheldraht, mit Tretminen und Selbstschussanlagen. Nein, Sie wollen jetzt viel subtiler Mauern bauen: durch Abschottung Deutschlands vom Ausland, durch Wegzugsbeschrän3368 kungen und Abschaffung von Kapitalverkehrsfreiheit, durch Eingriffe in die Freiheit jedes einzelnen Bürgers. Die christlich-liberale Koalition hingegen steht für die Freiheit des Einzelnen, für ein faires Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Wir werden Ihren Antrag daher ablehnen. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Gerhard Schick vom Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es nicht in Ordnung, dass, wenn man Defizite bei der Bekämpfung von Steuerflucht anspricht, dies damit gleichgesetzt wird, dass man sich gegen die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Finanzverwaltung richtet. ({0}) Ganz im Gegenteil: Gerade die fordern von uns, dass wir endlich die Grundlagen schaffen, damit sie sinnvoll arbeiten können und nicht mehr so viele Verfahren durch Verjährung oder in irgendwelchen Deals enden, weil wir nicht die entsprechenden Voraussetzungen schaffen. Deswegen fand ich den Vorwurf daneben. ({1}) Ich glaube, man kann in aller Sachlichkeit wahrnehmen - das haben wir auch aus dem Bericht im Ausschuss erfahren -, dass das Ministerium an verschiedenen Stellen die Politik weiterführt, die Doppelbesteuerungsabkommen am OECD-Standard auszurichten. Dazu laufen verschiedene Verhandlungen. Das ist auch gut. Mit der Schweiz scheint eine Einigung erzielt worden zu sein. Das Problem dabei ist allerdings, dass der OECDStandard völlig unzureichend ist. Deswegen brauchen wir dringend eine Initiative dieser Bundesregierung auf internationaler Ebene, um den OECD-Standard weiterzuentwickeln. Denn um sich freizukaufen, reicht es aus, dass man mit zwölf weiteren Steueroasen ein schönes Doppelbesteuerungsabkommen schließt. Daher brauchen wir endlich einen Standard, der die effektive Zusammenarbeit zwischen den Ländern zum Maßstab macht. ({2}) Eine Erklärung, irgendwo gebe es eine Zusammenarbeit, reicht nicht aus. Diese Initiative durch die Bundesregierung steht aus. Da müssen Sie nachlegen. ({3}) Es ist vielleicht nicht alles dem Zufall überlassen, aber die Bemühungen, die es derzeit gibt, haben schon etwas damit zu tun, dass Daten angeboten worden sind, und zwar die berühmten CDs. Das haben Sie sicherlich nicht geplant; das ist wohl Zufall. Auch an einem weiteren Punkt wird deutlich, dass Sie nicht aktiv versuchen, innerhalb der Möglichkeiten des deutschen Rechts das Bestmögliche zu tun. In Frankreich sind seit Dezember Daten von einer Schweizer Bank verfügbar. Die Bundesregierung hat diese Woche meine Frage, ob inzwischen Daten aus diesem Bestand in Deutschland verfügbar sind, mit Nein beantwortet. ({4}) Warum warten Sie ab, bis Frankreich irgendwann auf die deutsche Steuerverwaltung zukommt? Aktive und kontinuierliche Bekämpfung von Steuerflucht würde bedeuten, dass Sie so wie andere Staaten, die bei uns angefragt haben, sobald wir Daten hatten, selber aktiv auf die französischen Behörden zugehen und nach diesen Daten fragen. Das haben Sie nicht gemacht. Sie überlassen es eben doch dem Zufall. ({5}) Das Absurdeste ist der Umgang mit dem Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz. Ich will zugestehen, dass innerhalb der insgesamt desaströsen Bilanz von Bundesfinanzminister Steinbrück die Bekämpfung der Steuerflucht einer der wenigen Lichtblicke ist. Was aber ist daraus geworden? Passiert de facto irgendetwas mit diesem Gesetz? Wo ist seine Wirkung? - Nichts. Denn die Liste, auf die Sie die Maßnahmen anwenden könnten, ist leer. Es ist schon merkwürdig, wenn das Bundesfinanzministerium feststellt: Wir haben keine Steueroasen, auf die wir dieses Gesetz anwenden könnten. Das Gegenteil ist doch der Fall: Die Steuerhinterziehung funktioniert immer noch mit vielen Staaten hervorragend. ({6}) Sie wollen dieses Gesetz im Unterschied zu Frankreich nicht anwenden. Das zeigt, Sie leisten nicht wirklich eine aktive Bekämpfung der Steuerflucht. Sie warten, wie es in der Überschrift des Antrags steht, tatsächlich auf den Zufall. Das muss sich ändern. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1149 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Vogt, Ulrich Kelber, Marco Bülow, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD Keine Vorbereitungen für die Wiederauf- nahme der Erkundung des Salzstocks in Gor- leben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Par- lamentarischen Untersuchungsausschusses - Drucksache 17/1161 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner, Sylvia Kotting-Uhl und weiterer Abgeordneter Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksachen 17/888 ({1}), 17/1250 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Michael Hartmann ({2}) Jörg van Essen Volker Beck ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Ute Vogt von der SPD-Fraktion. ({4})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden nun einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um zu klären, ob die Entscheidung über die Untersuchung des Standorts Gorleben nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgt ist oder ob nicht vielmehr politische Kriterien für die Auswahl des Standorts eine entscheidende Rolle gespielt haben. Schlimmer noch: Untersuchungsgegenstand ist auch, ob nicht sogar begründete wissenschaftliche Zweifel aus politischen Gründen beiseitegeschoben worden sind. ({0}) Jetzt, bevor das Parlament Klarheit über Zweifel und Fakten schaffen kann, will die Bundesregierung weitere Fakten schaffen und Gorleben als Endlagerstandort verfestigen. Das ist respektlos gegenüber der Arbeit des Parlaments, und das ist ein Affront gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern im Wendland. ({1}) So verständlich Ihre Befürchtungen als Bundesregierung sind, muss man sagen: Sie machen Atompolitik gegen den Willen und die Akzeptanz der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. ({2}) Sie beschließen längere Laufzeiten, wodurch Jahr für Jahr 400 Tonnen mehr Atommüll produziert werden. In 60 Jahren Laufzeit sind dann 24 000 Tonnen Atommüll angefallen, von dem keiner von Ihnen, aber auch weltweit niemand sagen kann, wo er jemals sicher endgelagert werden kann. Sie haben keine Antwort. Sie sind in dieser Frage aufgrund Ihrer Politik für die Atomlobby von Not getrieben. ({3}) Der Kollege Max Straubinger von der CSU bringt es auf den Punkt. Mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitiere ich: „Keine Diskussion über alternative Standorte, sonst zünden wir die ganze Republik an.“ ({4}) Das ist das, was Sie bei dieser Entscheidung tatsächlich bewegt. Sie wollen den Widerstand in Deutschland gegen die Standortentscheidung und gegen Ihre Atompolitik so gering wie möglich halten. Das ist heute nicht anders als früher. ({5}) Die Aktenlage von 1983 lässt uns vermuten, dass schon damals solche politischen Ängste die Debatte bestimmt haben. ({6}) Wir sollten ernsthafte Diskussionen führen. Wenn alles so ernsthaft, seriös und offen wäre, wie es uns der Bundesminister ({7}) glauben machen will: Warum scheut er dann die Prüfung zum Beispiel nach dem Atomrecht und muss auf das alte Bergrecht ausweichen, das in keinem Punkt mehr den Anforderungen der Sicherheit gerecht wird? Warum scheut er, sich dieser Debatte zu stellen? Es ist schon bemerkenswert: Im südbadischen Landesteil von Baden-Württemberg klagen Ihre Kollegen aus der CDU-Fraktion Hand in Hand mit den dortigen Kommunalpolitikern gegenüber der Schweiz ein - und zwar zu Recht -, dass die Bevölkerung bei der Suche nach Endlagern von Anfang an ein Mitspracherecht haben und an der Suche beteiligt werden muss. ({8}) Auf der Bundesebene aber, wo Sie direkte Möglichkeiten hätten, wo Sie die Entscheidung in der Hand haben und in der Verantwortung stehen, will der Bundesumweltminister den Bürgerinnen und Bürgern die Beteiligung versagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Sie haben heute die Chance, auch für etwas Glaubwürdigkeit in diesem Punkt zu sorgen. Stimmen Sie unseren beiden Anträgen zu, und zeigen Sie damit Respekt. Zeigen Sie Respekt vor der Aufklärungsarbeit dieses Parlaments, vor unserer parlamentarischen Arbeit, aber vor allem auch vor den Bürgerinnen und Bürgern, die man in diesen Zeiten, wenn es um so wichtige Entscheidungen geht, nicht mehr außen vor lassen darf, sondern von Anfang an einbeziehen und beteiligen muss. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute in der Tat über zwei Anträge und eine Beschlussempfehlung. Zum einen debattieren wir über den Antrag aller Oppositionsfraktionen zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu einer Entscheidung der Bundesregierung Kohl/Genscher aus dem Jahr 1983 zur ausschließlichen untertägigen Erkundung des Salzstocks Gorleben als möglichem Endlager. Die erste Debatte diesbezüglich hat in diesem Haus bereits am 4. März 2010, also eine Sitzungswoche vor der Haushaltswoche, stattgefunden. Darüber hinaus gibt es jetzt eine Beschlussempfehlung und den Bericht des Geschäftsordnungsausschusses, der diesen Antrag rechtlich geprüft hat. Insbesondere wurde geprüft, ob gewährleistet ist, dass der Auftrag des Untersuchungsausschusses lediglich das Regierungshandeln auf Bundes- und nicht auch auf Landesebene umfasst, wie das die gesetzliche Vorgabe ist. ({0}) Darüber hinaus debattieren wir über den Antrag der SPD-Fraktion, die Wiederaufnahme der Erkundung des Salzstocks Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit des Untersuchungsausschusses auszusetzen. ({1}) Die Frage bezüglich der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ist relativ einfach zu beantworten. Es handelt sich dabei um ein Minderheitenrecht und das schärfste Schwert der Opposition, in Art. 44 Grundgesetz festgeschrieben. Im Geschäftsordnungsausschuss hat nach einem vorherigen Berichterstattergespräch die Präzisierung des Umfangs des Untersuchungsgegenstandes stattgefunden. Es ist kontrovers diskutiert worden. Schließlich sind die Mehrheitsfraktionen aber auf einen Kompromiss eingegangen, der sich angedeutet hat. Der Bundestag wird heute einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der sich in der kommenden Sitzungswoche konstituieren wird. Zum Antrag der SPD-Fraktion zur Fortsetzung des Moratoriums hat Bundesminister Röttgen in der letzten Ausschusssitzung übrigens alles gesagt, was erforderlich ist; ({2}) denn die eigentlich entscheidende Frage ist ja: Will man tatsächlich ein Endlager finden, oder will man das eben nicht? ({3}) Will man diese Entscheidung weiter herausschieben, will man Gründe finden, zu verzögern? ({4}) Angesichts der Komplexität der Materie ist das sicherlich auch einfach. Die Union will Verantwortung übernehmen. ({5}) Wir wollen für den von unserer Generation verursachten Abfall auch zu unseren Zeiten eine Lösung finden, ein nationales Endlager, und das Problem eben nicht den kommenden Generationen überlassen, wie das in den letzten zehn Jahren gehandhabt worden ist. ({6}) Zeitgleich mit der sogenannten Ausstiegsentscheidung hatte die rot-grüne Bundesregierung damals ein Moratorium von drei bis zehn Jahren, wie es hieß, verabredet, um sogenannte Zweifelsfragen abzuarbeiten. Diese Zweifelsfragen waren dann auch nach fünf Jahren abgearbeitet. ({7}) Es gab einen Syntheseberichts des Bundesamtes für Strahlenschutz, in dem ausdrücklich erwähnt worden ist, dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit verfügbar sei, die Sicherheit dann aber nur konkret vor Ort durch Erkundung festgestellt werden könne. Dennoch hat Rot-Grün das Moratorium verlängert, den Synthesebericht aber nicht etwa diesem Hause für eine Diskussion zur Verfügung gestellt. ({8}) - In der Großen Koalition wurde das Moratorium letztendlich verlängert, ({9}) obwohl wir uns eigentlich in die Hand versprochen hatten, die Endlagerfrage zügig anzugehen. ({10}) Das hatten wir auch im Koalitionsvertrag festgehalten. ({11}) Im Jahr 2006 hat die Union ein Angebot gemacht. Wir hatten vorgeschlagen, einen International Peer Review durchführen zu lassen, also internationale Experten mit unserem Problem zu befassen, und letztendlich die Befunde miteinander zu bewerten. Da hat der Koalitionspartner gesagt: Nein, das geht nicht wirklich; wir suchen besser den bestgeeigneten Standort. Einen solchen Standort gibt es laut Atomgesetz eigentlich überhaupt nicht. Es ist die Frage, ob wissenschaftlich überhaupt feststellbar ist, welcher Standort am besten geeignet sein soll. ({12}) Jetzt soll der Untersuchungsausschuss der Grund dafür sein, das Moratorium zu verlängern. Ich begrüße, dass sich Bundesminister Röttgen hingegen zur Lösung der Endlagerfrage bekennt. ({13}) Er hat in der vergangenen Woche konkrete Vorschläge gemacht und gesagt, dass wir die Erkundungsarbeiten ergebnisoffen und so zügig wie möglich aufnehmen, um jetzt endlich die notwendige Datengrundlage zu erarbeiten, damit die Eignungsprüfung des Salzstocks Gorleben erfolgen kann.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Flachsbarth, der Kollege Kelber würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen, wenn Sie das erlauben.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Kelber.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, Sie haben gerade behauptet, dass es bei einer ergebnisoffenen Endlagersuche vermutlich weder wissenschaftlich noch anderswie zu belegen ist, was der bestgeeignete Standort in Deutschland ist. Wenn Sie recht haben, warum verlangt dann die schwarz-gelbe Landesregierung in Baden-Württemberg vom Nachbarland Schweiz bzw. die schwarz-gelbe - vorher rein schwarze - Regierung in Bayern vom Nachbarland Tschechien genau eine solche ergebnisoffene Suche nach dem bestmöglichen Standort? ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn man, ehrlich gesagt, mit den Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und den dort Verantwortlichen darüber spricht, warum dieses Verfahren gewählt worden sei, so sagen sie uns, dass sie von dem Verfahren gelernt hätten, das damals in den 70erJahren in Bezug auf den Standort Gorleben angewendet worden ist. ({0}) Damals hatten sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierung verschiedene Standorte, verschiedene Salzstöcke in Augenschein genommen; letztendlich wurde der Salzstock Gorleben als der Standort identifiziert, an dem eine intensivere Erkundung, sprich: eine Vorprüfung auf eine mögliche Eignung, erfolgen sollte. ({1}) Wie gesagt: Ich begrüße, dass Bundesminister Röttgen nun eine ergebnisoffene Erkundung angestoßen hat, und zwar - auch das will ich hier sagen - auf Grundlage des Bergrechts, dessen Anwendung immer wieder in Zweifel gezogen wird. Wir haben diese Debatte auch schon im Ausschuss geführt. Bitte zeigen Sie mir den Artikel, den Paragrafen im Atomrecht, nach dem die Überprüfung eines Salzstocks auf Eignung überhaupt möglich sein soll! Abgesehen davon hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 1990 und 1995 höchstrichterlich über diese Frage entschieden. Ich denke, es ist einfach eine Frage der politischen Kultur in einem Rechtsstaat, Urteile zu akzeptieren und zu respektieren, selbst wenn sie einem nicht passen. ({2}) Herr Röttgen hat auch gesagt - das ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig -, dass wir schon im Vorauswahlverfahren eine möglichst umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung erreichen wollen, Bürgerinitiativen und Kommunalpolitiker einbeziehen wollen. Zudem wollen wir Wissenschaftler aus dem Ausland bitten, die Ergebnisse zu evaluieren, damit klar wird, ob sich ein Planfeststellungsverfahren für den Standort Gorleben anschließen soll. ({3}) Das Planfeststellungsverfahren findet selbstverständlich unter Anwendung des Atomrechts statt, mit zusätzlichen Umweltverträglichkeitsprüfungen, entsprechender Öffentlichkeitsbeteiligung und der Möglichkeit der anschließenden Planung. Das ganze Verfahren wird noch 20 bis 25 Jahre dauern, sodass frühestens zwischen 2030 und 2035, also 70 Jahre nachdem Deutschland sich - übrigens in großer, um nicht zu sagen: in ganz großer Koalition - entschieden hat, Kernenergie friedlich zu nutzen, ein Endlagerstandort feststehen wird. Wir haben die Verantwortung, jetzt nicht nur Vergangenheit zu bewältigen, sondern endlich auch Zukunft zu gestalten, aus Verantwortung vor unseren Kindern und Kindeskindern, aber auch vor den Bürgerinnen und Bürgern, die in Gorleben seit 30 Jahren in Ungewissheit über ihre Zukunft leben. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dorothée Menzner von der Fraktion Die Linke. ({0}) Ich bitte doch, für den Rest der Debatte wenn möglich auf Zwischenfragen zu verzichten, ({1}) weil einige sonst Terminprobleme bekommen, was die Rückreise betrifft. ({2}) Frau Kollegin Menzner, Sie haben das Wort. ({3})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Wir alle merken, dass wir es mit einem hochemotionalen Thema zu tun haben. Das gilt nicht nur für die Region, für Niedersachsen, für das Wendland, sondern auch für uns hier. ({0}) Das haben die Debatten, auch zwischen den Fraktionen, der letzten Tage und Wochen deutlich gemacht. Ich möchte drei Punkte kurz erklären: Wieso soll jetzt der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden? Wie ist die Lage im Wendland? Was wollen wir mit dem Untersuchungsausschuss eigentlich erreichen? Warum soll jetzt der Untersuchungsausschuss eingesetzt werden? ({1}) Die Fragezeichen zu Gorleben sind alt. ({2}) Es gibt seit Jahrzehnten Gutachten, die die Eignung von Gorleben massiv infrage stellen. Es gibt seit Jahrzehnten ernst zu nehmende Wissenschaftler, die Gorleben für ungeeignet halten. Außerdem gibt es seit Jahrzehnten eine massive Gegenwehr der örtlichen Bevölkerung, unabhängig vom politischen oder sozialen Hintergrund. Im Zusammenhang mit diesem Untersuchungsausschuss musste ich an einen Satz denken, der dem Kollegen Müntefering zugeschrieben wird: Opposition ist Mist. So ganz stimmt das nicht. Ohne SPD in der Opposition hätten wir den Untersuchungsausschuss wahrscheinlich nicht einsetzen können. ({3}) Da hat Opposition auch einmal etwas Gutes. ({4}) Wieso ist es so wichtig, das jetzt zu klären? Wir diskutieren im Bundestag, aber auch in der Gesellschaft seit Wochen den aberwitzigen Vorschlag der Koalition, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern, aus einem Kompromiss, der mit der Energiewirtschaft geschlossen wurde und der von uns immer abgelehnt wurde, weil wir ihn zu weitgehend fanden, auszusteigen und auf unabsehbare Zeit weiteren Atommüll zu produzieren, für den es bis heute kein Endlager gibt. Asse ist abgesoffen. Das wissen wir alle; die Probleme haben wir hier mehrfach erörtert. Wenn man sich die alten Genehmigungsunterlagen und Gerichtsakten zieht, dann liest man, dass unter anderem für Brokdorf, Stade und Biblis A und B sowohl die abgesoffene Asse als auch Gorleben der Entsorgungsnachweis für die Betriebsgenehmigung waren. Damit wird natürlich klar, wieso die Koalition meint, weiter an Gorleben festhalten zu müssen: Ohne diese Option werden Betriebsgenehmigungen und mögliche Laufzeitverlängerungen obsolet. Wie ist die Lage im Wendland? Die Menschen sind massiv verunsichert, und die Emotionalität im gegenseitigen Umgang ist hoch. Von daher ist es eine Selbstverständlichkeit, was die SPD in ihrem Antrag fordert, nämlich die weiteren Untersuchungen auszusetzen, solange der Untersuchungsausschuss arbeitet, und zu versuchen, Transparenz in die Lage und in die damalige Entscheidungsfindung zu bringen. ({5}) Sie werden kein Vertrauen von der Bevölkerung bekommen, wenn, wie am letzten Wochenende geschehen, Demonstrantinnen und Demonstranten inklusive Kinder, die sich auf einem privaten Grundstück, nämlich im Wald des Grafen von Bernstorff, aufhalten, mit Schlagstöcken und Pfefferspray vertrieben werden. Was wollen wir mit diesem Untersuchungsausschuss erreichen? ({6}) Wir wollen Transparenz herstellen hinsichtlich der Frage: Wie konnte es zu der verengten Sicht auf diesen einen Standort kommen? Waren wissenschaftliche Vorbedingungen ausschlaggebend, oder war das eine Frage von politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit? Dafür liegen ernst zu nehmende Hinweise vor, die wir unter die Lupe nehmen werden, um Transparenz herzustellen. Demokratie kann nämlich nur funktionieren, wenn Transparenz vorhanden ist, wenn die Menschen wissen, wie, auf welcher Grundlage Entscheidungen zustande gekommen sind. Das wird nicht funktionieren, indem wir Menschen belügen und sie weiter an der Nase herumführen, wie das seit 30 Jahren am Standort Gorleben passiert, oder indem wir Dokumente zurückhalten. Ich danke. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Angelika Brunkhorst von der FDP-Fraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Parallel zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses fordert die SPD hier heute, die Erkundung im Salzstock Gorleben so lange auszusetzen, bis der Untersuchungsausschuss seine Arbeit beendet hat. Wir sind strikt dagegen. Wir meinen, dass Ihre Forderung entlarvend ist, und zwar in der Weise, dass es Ihnen anscheinend nicht um die Aufklärung im Untersuchungsausschuss, sondern eher darum geht, die Entscheidung um die Endlagerfrage weiter zu verzögern. ({0}) Die SPD war rund zehn Jahre in Regierungsverantwortung. Durch das von Rot-Grün beschlossene Erkundungsmoratorium sind wir keinen Schritt weitergekommen; das müssen Sie hier einfach zugeben. ({1}) Der ehemalige Umweltminister Trittin - er ist sogar zugegen ({2}) und Herr Gabriel haben zehn Jahre lang verhindert, dass diese Frage beantwortet wird. ({3}) Die bisher gewonnenen geologischen Befunde sprechen überhaupt nicht gegen eine Eignungshöffigkeit des Gorleben-Standorts. ({4}) Ihr werter Herr Exkanzler Gerhard Schröder ({5}) und Sie, Herr Trittin, persönlich haben im Atomkonsens zusammen unterschrieben und bestätigt, dass die Eignungshöffigkeit von Gorleben überhaupt nicht infrage steht. ({6}) - Ja, ja. Die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist eine staatliche Aufgabe. ({7}) Der Bund hat Anlagen zur Endlagerung einzurichten. Deswegen wollen wir klären, ob der Standort Gorleben geeignet ist. Im Gegensatz zu SPD, Grünen und Linken stellen wir von der CDU/CSU und der FDP uns dieser Verantwortung. Wir wollen das nicht auf die nächste Generation abwälzen. ({8}) Den Ausgang des Untersuchungsausschusses abzuwarten, macht überhaupt keinen Sinn, weil wir danach nichts über die Eignung oder Nichteignung sagen können. ({9}) - So ist es, genau. ({10}) Die konkrete Erkundung wird es zeigen. Deswegen muss die Erkundung des Salzstocks, so wie Herr Röttgen das vorgeschlagen hat, vorangetrieben werden. ({11}) Wir unterstützen das Verfahren mit den drei Schritten ganz ausdrücklich. Wir werden dann zu einer definitiven Aussage darüber kommen, ob dieser Salzstock geeignet ist oder nicht. ({12}) Frau Vogt, Ihnen möchte ich zum Schluss noch eines sagen: Wir sind in einer Erkundungsphase, und in einer Erkundungsphase sind wir beim Bergrecht. ({13}) Wenn wir über die Erkundungsphase hinaus sind und über die Einrichtung sprechen, dann gehen wir in das atomrechtliche Planungsverfahren. ({14}) - Genau so ist es. ({15}) - Ich habe das Urteil hier. Ich kann das gern zitieren, Herr Trittin, wenn Sie es wünschen. ({16}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So kommen wir also heute zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses zu Gorleben. Dieser Untersuchungsausschuss ist ein parlamentarisches Instrument, demgegenüber Rednerinnen und Redner der Koalitionsfraktionen in der ersten Lesung Respekt gezollt haben, das Sie in der Zwischenzeit aber doch in seinem Kern, nämlich dem von der Opposition beschriebenen Auftrag, verändern wollten. Herr Grindel, wir haben Ihnen nicht den Gefallen getan, uns den Untersuchungsauftrag auf die Ereignisse des Jahres 1983 zusammenschnüren zu lassen. ({0}) - Das war in der letzten Woche Ihr Vorschlag. - Das sind die Ereignisse, zu denen Sie heute in der Presse schon einmal verlautbart haben, dass der angebliche Skandal, die Manipulation von Gutachten, sich längst in Luft aufgelöst habe. ({1}) Zum einen, Herr Grindel, legt niemand - auch nicht die Mitglieder von Regierungsfraktionen - das Ergebnis eines Untersuchungsausschusses im Vorhinein fest. ({2}) Zum anderen sollten Sie spätestens heute zur Kenntnis nehmen, dass Ihre Versuche, Fragen, die nicht auf das Jahr 1983 zielen, aus dem Untersuchungsauftrag herauszustreichen, nicht erfolgreich waren. Ich bin sehr gespannt darauf, was die Zeugin Merkel im Untersuchungsausschuss sagen wird, wenn wir sie nach den Gründen für die Änderung des Erkundungskonzepts in den 90er-Jahren fragen. Der Verdacht, dass bei Gorleben ein Konzept einem Standort angepasst wurde, ist für mich einer der spannendsten Teile des Untersuchungsauftrags. ({3}) Ich möchte noch einmal den Gegensatz herausstellen. Bei einer ehrlichen Endlagersuche wird erst ein Konzept erstellt und dann der Standort gesucht, der den Kriterien dieses Konzeptes am besten entspricht. Das ist das Verfahren, das wir einfordern. Dass Sie sich diesem Verfahren verweigern, dass Sie den Weiterbau von Gorleben wollen ({4}) unter Umgehung des dafür vorgeschriebenen Atomrechts, ({5}) unter Anwendung eines seit 20 Jahren außer Kraft gesetzten Bergrechts, das nicht einmal die Öffentlichkeitsbeteiligung vorschreibt, und ohne die Ergebnisse dieses parlamentarischen Untersuchungsausschusses abzuwarten, das zeigt Ihre Vorstellung von Verantwortung, mit der Sie sich in den vergangenen Tagen so großgetan haben. ({6}) Ethische Verantwortung, von der Sie hier sprechen - die Sie übernehmen wollen, indem Sie den Müll der Atomkraftwerke den nächsten Generationen nicht vor die Füße werfen wollen -, hätten Sie praktizieren können, wenn Sie die Atomkraft nicht legalisiert und Atomspaltung nicht zur herausragenden Energieerzeugungsform in diesem Land erklärt hätten. ({7}) Das wäre ethische Verantwortung gewesen. Das wäre Verantwortung für die nachfolgenden Generationen gewesen. Jetzt geht es nur noch um Nachsorge. ({8}) Reden wir doch auch einmal über die Verantwortung unseres Umweltministers. ({9}) Er nennt einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss kein Erkenntnisgewinnungsinstrument, sondern ein Kampfinstrument. Diese Auffassung praktiziert er auch dadurch, dass er heute bei der Einsetzung des von ihm so benannten Kampfinstruments gar nicht mehr im Parlament anwesend ist, sondern bereits im Skiurlaub weilt. Das ist Respekt vor dem Parlament. Größte Hochachtung. ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, ich hoffe, dass wenigstens Sie die Respektlosigkeit Ihres Umweltministers in diesem Fall nicht teilen und in diesem Untersuchungsausschuss kein reines Kampfinstrument sehen. Wir haben das nicht vor. Wir haben vor, Erkenntnisse daraus zu ziehen. Erfüllen Sie Ihre parlamentarische Pflicht und tun sie das Gleiche. Darum bitte ich Sie. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Eckhard Pols von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Heimat ist der Wahlkreis Lüchow-Dannenberg - Lüneburg. Ich bin dort geboren und aufgewachsen. Mit diesem Thema beschäftige ich mich nicht erst, seitdem ich Abgeordneter dieses Wahlkreises bin. Ich kann Ihnen sagen: Wenn Rot-Grün die Region mit dem Moratorium nicht in eine zehnjährige Ungewissheit gestürzt hätte, wären wir bei der Endlagerfrage heute schon einige Schritte weiter. ({0}) Stattdessen: weitere zehn Jahre Ungewissheit, weitere zehn Jahre Unfrieden in der Region, weitere zehn Jahre Untätigkeit in der Endlagerfrage, und das alles auf dem Rücken der Menschen vor Ort. ({1}) Mit der Aufhebung des Moratoriums werden wir diese Hängepartie beenden. Wir wollen eine ergebnisoffene und transparente Enderkundung des Salzstockes Gorleben. Ich möchte betonen, dass es vollkommen legitim ist, gegen ein Endlager in Gorleben zu sein. Es ist auch völlig legitim, dies zu artikulieren, aber, bitte schön, in ziviler und gewaltfreier Form. Dazu gehört nach meinem Verständnis und dem Verständnis der Koalition ein enger Dialog zwischen allen Beteiligten schon in der ersten Phase, nämlich der Weitererkundung. ({2}) Wir werden in den Fragen der Transparenz und Ergebnisoffenheit Wort halten, Herr Trittin. Ich kann an alle, auch an Sie, Herr Trittin, nur appellieren, das Angebot zum zivilen Dialog nicht auszuschlagen, sondern sich aktiv daran zu beteiligen. ({3}) Es wird von der Opposition bemängelt, dass die Erkundungsphase nach Bergrecht und nicht nach Atomrecht erfolgt. ({4}) Die Erkundung kann nicht nach Atomrecht erfolgen, weil das Atomrecht die erforderlichen Rechtsnormen für eine Erkundung des Salzstocks gar nicht beinhaltet. ({5}) Das Bergrecht ist zudem nach Bewertung des Bundesverwaltungsgerichts - wir haben es schon gehört ein zulässiges Verfahren. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass wir keine Transparenz schaffen wollen. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, unterliegen einem Trugschluss, wenn Sie daraus schließen, dass eine Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger nicht gewollt sei. Es mag sein, dass das Bergrecht keine Bürgerbeteiligung beinhaltet; das bedeutet aber noch lange nicht, dass Transparenz und Einbeziehung der Bevölkerung vor Ort verboten sind. ({6}) Wenn man dann am Ende der Erkundungsarbeiten zu dem Ergebnis kommt, dass Gorleben als Endlagerstandort geeignet ist, dann muss bei der Errichtung eines Endlagers ein atomrechtliches Verfahren eingeleitet werden, das eine umfassende Bürgerbeteiligung vorsieht. Das wissen Sie ganz genau.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pols, Frau Kotting-Uhl würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, jetzt nicht. ({0}) Ob es dazu kommen wird, wissen wir nicht. Dazu muss erst einmal zu Ende erkundet werden. Aber genau das wollen Sie verhindern. Sie nehmen in Kauf, dass die Menschen vor Ort weiter mit der Ungewissheit leben müssen und die ohnehin schon wirtschaftlich schwache Region noch schwächer wird. In Ihrem Antrag zum Stopp der Erkundungsarbeiten argumentieren Sie ferner damit, dass nicht berücksichtigt worden sei, dass die Geltungsdauer der Salzrechte in fünf Jahren ausläuft. Das Bundesamt für Strahlenschutz ist zuständig für die Verlängerung der Geltungsdauer der Salzrechte. Aber in den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht nichts passiert. Die Inhaber der Salzrechte mussten den Präsidenten des BfS, Herrn Wolfram König, geradezu drängen, damit es demnächst zu Verhandlungen über die Verlängerung der Rechte kommt. ({1}) Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Diskussion über die Suche nach Alternativstandorten. Sie führen immer wieder ein bestimmtes Argument gegen die Erkundung von Gorleben ins Feld. Wenn Sie wirklich für eine Lösung des Endlagerproblems sind, dann sollten Sie auch den Mut haben, geeignete Alternativstandorte explizit zu benennen. SPD und Grüne haben die Endlagerfrage mutwillig verschlafen, verzögert und verschleppt. Ich kann Ihnen nur eines empfehlen, Frau Kollegin Vogt: Fahren Sie einmal nach Gorleben, reden Sie mit Ihren Genossen vor Ort! Die dortige SPD ist nämlich - hören Sie genau zu! - für eine schnelle Aufhebung des Moratoriums. ({2}) Ich zitiere aus einer Resolution, die Ihre SPD-Ratskollegen gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der CDU vor Ort in den Samtgemeinderat Gartow eingebracht und verabschiedet haben: Der Rat der Samtgemeinde Gartow fordert im Interesse unserer Bevölkerung die Weitererkundung und den Abschluss der Erkundungsarbeiten im Salzstock Gorleben; nach fast 30-jähriger Diskussion dieses Themas hat die Bevölkerung Anspruch darauf, Klarheit über die voraussichtliche künftige Entwicklung der Standortregion Gorleben zu erlangen. ({3}) Dass dies nicht eine Mindermeinung der politischen Gremien ist, sondern ebenso von der Bevölkerung vor Ort mehrheitlich getragen wird, zeigt sich an dem Ergebnis der Bundestagswahl. Ich habe meine besten Ergebnisse in dieser Region geholt. ({4}) Hören Sie einfach einmal auf Ihre Parteibasis in Gorleben und in der Samtgemeinde Gartow, Frau Vogt. Mit zunehmender Vernunft verbessern sich dann sicherlich auch Ihre Wahlergebnisse. ({5}) Was machen Sie stattdessen? Sie setzen einen Untersuchungsausschuss ein, um vermeintliche Vorwürfe zu klären, die Ihnen im Wahlkampf 2009 plötzlich eingefallen sind, aber nichts gebracht haben. Obendrein wollen Sie beschließen, dass die Erkundung in Gorleben bis zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses nicht fortgeführt wird. Mit anderen Worten: Sie wollen eine geologische Frage nicht beantworten lassen, weil Sie noch die Antwort auf eine politische Frage suchen. Abgesehen davon bin ich mir sicher: Der Untersuchungsausschuss wird zu dem Ergebnis kommen, dass an den von Ihnen erhobenen Vorwürfen nichts dran ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deshalb sehen wir als CDU/CSU dem Ganzen sehr gelassen entgegen. Noch eines: Wenn Sie beweisen wollten, dass der Standort Gorleben nach rein politischen und nicht nach geologischen Gesichtspunkten ausgewählt wurde, dann müssten gerade Sie ein Interesse an einer schnellen Weitererkundung des Salzstockes Gorleben haben. ({0}) Wenn Sie keine Angst vor dem Ergebnis haben

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pols, bitte kommen Sie zum Schluss, und zwar sofort. ({0})

Eckhard Pols (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ja, gerne -, dann hören Sie sofort auf, eine solche Erkundung zu verzögern und zu verschieben. ({0}) Auch ich kenne das Ergebnis noch nicht; aber eines weiß ich gewiss: Sowohl Gegner als auch Befürworter eines Endlagers in Gorleben haben Verantwortung für die Region. Dazu gehört, dass die Ungewissheit der Menschen vor Ort beendet wird. Deshalb mein Appell an die Fraktion der SPD: Nehmen Sie Vernunft an und ziehen Sie den Antrag zurück! Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion. ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! In einer Agenturmeldung von heute morgen hieß es - ich zitiere -: Der angebliche Skandal, auf den die SPD hinweise, habe sich längst in Luft aufgelöst, ({0}) sagte der Obmann der CDU, - im Untersuchungsausschuss Reinhard Grindel, am Freitag - also heute im SWR. Denn der Behauptung, die Regierung Kohl habe Gutachten aus dem Jahre 1983 beeinflusst, hätten beteiligte Wissenschaftler widersprochen. Das liest man und reibt sich verwundert die Augen. ({1}) Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen - gerade denen aus der Union -, nachher in ihren Büros die Internetseite des Bundesumweltministeriums aufzurufen. Da kann die ganze Welt aus einem großen Konvolut wichtige Aussagen damals beteiligter Wissenschaftler herunterladen, und dies im Namen von Herrn Röttgen. ({2}) Professor Duphorn am 31. Mai 1982: Nach meiner Auffassung hat der Salzstock Gorleben … seine Eignungshöffigkeit … verloren. Professor Dr. Memmert, Institut für Kerntechnik der Technischen Universität Berlin, ein Freund der Atomkraft, am 2. August 1982: Während die Laufzeit für Gorleben rund 10 000 Jahre betragen mag, - erforderlich wäre wohl mindestens 1 Million und mehr liegt diese für Mors - dies befindet sich in Dänemark bei einigen Millionen Jahren. Der Professor weiter: Sollten diese dänischen Berichte den Gegnern der Kernenergie oder des Endlagers Gorleben bekannt werden, wird der Meinungskrieg um das Endlager Gorleben erneut und verstärkt einsetzen. Alles von der Internetseite des BMU. Professor Dr. Hermann, Universität Göttingen: Ich persönlich bin nicht bereit, wissenschaftliche Argumente zugunsten parteipolitischer bzw. allgemeinpolitischer Erwägungen und Taktiken aufzugeben … In einer von dauernden Kompromissen und Selbsttäuschungen geprägten Situation könnte ich nicht mehr sinnvoll arbeiten. Usw., usw. Dann gab es von Wissenschaftlern den Entwurf eines kritischen Gutachtens zu Gorleben. Es musste auf Weisung des damaligen Forschungsministers nachgebessert, man kann auch sagen: manipuliert und geschönt werden. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Edathy, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grindel?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Edathy, ist Ihnen bekannt, dass das Gutachten, um das es Herrn Gabriel im Wahlkampf ging, ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt war, dass der Abteilungsleiter Röthemeyer in Interviews - eines gegenüber dem Spiegel am 14. September 2009, ein zweites gegenüber dem Stern am 17. September 2009 erklärt hat, dass die inhaltliche Ausrichtung dieses Gutachtens nicht verändert ist, und dass der damalige Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Kind, diese Aussage im Untersuchungsausschuss des Niedersächsischen Landtages bestätigt hat? Vielleicht zitieren Sie Herrn Röthemeyers Aussagen im Stern - eventuell haben Sie ihn vorliegen -; Herr Röthemeyer ist nämlich derjenige, der für das Gutachten, das angeblich manipuliert worden ist, verantwortlich war. Sind Sie bereit, das zuzugestehen und auch zuzugestehen, dass die Zitate, die Sie eben angeführt haben, vor diesem Hintergrund völlig irrelevant sind? ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich leider nur eine knappe Redezeit habe, bedanke ich mich für die Zwischenfrage; denn sie gibt mir Gelegenheit, ein bisschen weiter auszuholen. Das Schöne ist ja: Auf der Internetseite des BMU - in Verantwortung von Herrn Röttgen - lässt sich nicht nur der Endbericht der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt downloaden, ({0}) sondern auch der Zwischenbericht, also der Entwurf. Sie können dort, bezogen auf den Entwurf des Gutachtens, ein Telex - das gab es damals noch - vom 13. Mai 1983 finden. Der damalige Bundesminister für Forschung und Technologie schrieb an die Physikalisch-Technische Bundesanstalt - wir werden das im Ausschuss noch sehr genau auswerten können -: Unsere Besprechung vom 11.05. Erstens … ({1}) - Dieses Schreiben ist ein Beleg dafür, dass politisch Einfluss auf wissenschaftliche Erkenntnisse genommen worden ist. ({2}) Dagegen haben sich Wissenschaftler auch gewehrt. ({3}) - Herr Präsident, ich bin mit der Beantwortung der Frage noch nicht fertig. ({4}) - Herr Grindel, wie ich Ihre Frage beantworte, ist letztlich meine Sache. Sie haben das Thema angesprochen, zu dem ich mich gerade äußere. ({5}) Ich bin mit der Beantwortung der Frage noch nicht fertig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Solange Sie die Frage beantworten, halte ich die Uhr an, Sebastian Edathy ({0}): Gut.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

- unabhängig davon, ob der Fragesteller steht oder sitzt. ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist das neu?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Edathy, darüber, wie lange die Zeit für eine Antwort bemessen wird, entscheidet der Präsident und nicht der Fragesteller.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin aber eindeutig noch im Rahmen der Beantwortung. ({0}) Ich zitiere aus einem Telex des Forschungsministers der damaligen schwarz-gelben Koalition. Darin heißt es in Richtung des Instituts: Dieser Abschnitt sollte sinngemäß mit der Feststellung schließen, ({1}) dass die Eignungshöffigkeit des Salzstocks Gorleben … untermauert werden konnte. ({2}) - Herr Kollege, wer schreit, hat unrecht. Das lernen Sie vielleicht auch noch. An anderer Stelle heißt es: Es wäre wünschenswert, wenn dieser Abschnitt mit der Aussage schließen kann, dass nach Einschätzung der Fachleute die noch zu erzielenden Ergebnisse … die Eignungshöffigkeit des Salzstocks voraussichtlich nicht in Frage stellen können. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin am Ende der Beantwortung der Frage des Kollegen Grindel. ({0}) An dieser Aussage kann es überhaupt keinen Zweifel geben: Es besteht Aufklärungsbedarf. Diesem Rechnung zu tragen, ist die Aufgabe des Untersuchungsausschusses, den wir heute einsetzen. Ich kann Ihnen versichern, Herr Kollege Grindel: Das wird mehr werden als eine historische Kommission oder eine fachpolitische Debatte. ({1}) Es wird dabei vielmehr um zentrale, gegenwartsrelevante Fragen gehen: Erstens. Wie war es um die Verflechtung von schwarzgelber Politik und Atomwirtschaft bestellt? In welcher Tradition steht diesbezüglich die neue Bundesregierung? ({2}) Zweitens. Wurden für die Durchsetzung einer ideologischen Position wissenschaftliche Gutachten manipuliert? Wurde die Öffentlichkeit entsprechend getäuscht? Welche Auswirkung hat das auf die Endlagersuche? Genau deshalb ist es nicht nur sachlich falsch, sondern eine Missachtung des Parlaments, wenn wir heute einen Untersuchungsausschuss ins Leben rufen und gleichzeitig die Beplanung von Gorleben weitergehen soll. Das ist ein Unding; das geht so nicht. Ich frage mich, was bei einer so wichtigen Debatte der Bundesumweltminister Wichtigeres tun könnte, als hier im Plenum zu sein. ({3}) Ich habe gehört, dass der Präsident des Niedersächsischen Landtags vor wenigen Tagen bei Herrn Röttgen angefragt hat, ob er vor dem Umweltausschuss des Niedersächsischen Landtags Rede und Antwort stehen könne. Es kam ein Rückruf aus einem Referat des BMU. Es wurde mitgeteilt, weder die Leitungs- noch die Arbeitsebene wolle gegenüber den Landtagsabgeordneten Stellung zu dem nehmen, was Sie hier vorhaben. Das ist unglaublich. Als Sie 1998 in die Opposition kamen, haben Sie der damals neugewählten rot-grünen Regierung zu Unrecht Arroganz der Macht vorgeworfen. Dieser Vorwurf fällt nun - völlig zu Recht - auf Schwarz-Gelb in der Regierungsverantwortung zurück. Was SchwarzGelb praktiziert, ist Arroganz der Macht, das ist Überheblichkeit, das ist Politik gegen die Interessen der Menschen. ({4}) Ich empfehle Ihnen zur Lektüre ein Rechtsgutachten, das vom Bundesamt für Strahlenschutz herausgegeben wurde; es ist vom 8. September 2009. Dieses Gutachten beantwortet die Frage, ob zulässig ist, was Sie mit der Fortsetzung des alten Bergrechts planen. Auf Seite 57 dieses Rechtsgutachtens heißt es wörtlich - damit beende ich meine Rede, Herr Präsident -: Eine weitere Erkundung des Bergwerks Gorleben auf bergrechtlicher Grundlage - etwa durch Zulassung eines neuen bzw. geänderten Rahmenbetriebsplanes - ist unzulässig … Nehmen Sie wenigstens das zur Kenntnis, wenn Ihnen der Umgang mit dem Untersuchungsausschuss schon relativ egal zu sein scheint. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun das Wort der Kollege Marco Buschmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte zeigt eines: In Deutschland tobt ein Glaubenskampf, und dieser Glaubenskampf rankt sich, wie alle anderen Glaubenskämpfe, um einen Mythos. Dieser Mythos trägt den Namen Gorleben. Das zentrale Glaubensbekenntnis seiner Anhänger fasst das Greenpeace-Magazin - wie ich finde, recht originell zusammen: Deutschland wird von der Atomindustrie beherrscht. Ganz Deutschland? Nein. Im Wendland, wo der deutsche Atommüll endgelagert werden soll, leisten Bauern, Adlige und Freaks seit mehr als 20 Jahren Widerstand. ({0}) Diese scheinbar harmlose Anspielung auf die AsterixComics wie der ganze Mythos Gorleben stellen in Wahrheit das Verfassungsleben der Bundesrepublik Deutschland infrage; ({1}) denn die Glaubenssätze dieses Mythos, den Sie auch hier predigen, enthalten ganz fundamentale Vorwürfe. ({2}) Sie behaupten, in Deutschland herrsche nicht das Volk, sondern die Energieversorger. Sie behaupten, in Deutschland gelte nicht das Recht, sondern nur Lobbyinteressen, und die Bürger könnten sich nicht darauf verlassen, dass die relevanten Sicherheitsbelange ausgiebig geprüft werden. Dass diese Glaubenssätze zu einem Glaubenskampf führen, sehen wir an den Bildern dieser heftigen Auseinandersetzung. Vor dem Hintergrund dieser Glaubenskämpfe, die Sie mit anheizen, begrüßt die FDP-Fraktion ganz ausdrücklich, dass wir nun einen Untersuchungsausschuss einsetzen; ({3}) denn ein Untersuchungsausschuss ist ein Instrument zur Faktenermittlung. Er gibt uns die Möglichkeit, die Sachverhalte, um die es geht, in aller Sachlichkeit aufzuarbeiten. ({4}) Sachliche Aufarbeitung entzaubert Mythen und führt auf konkrete Lebenssachverhalte zurück, die wir dann mit klarem Kopf würdigen können. Das trägt hoffentlich dazu bei, diesen erbitterten Glaubenskampf, den Sie mit anheizen, zu beenden oder zumindest zu entschärfen. ({5}) Ob das mit dem Instrument des Untersuchungsausschusses gelingen kann, liegt nicht allein in den Händen der Koalitionsfraktionen. Das liegt auch in Ihren Händen. Ich weiß natürlich, dass Sie diesen Mythos gerne predigen, weil er für viele Ihrer Anhänger sinnstiftend ist und ihnen Motivation vermittelt. Ich kann mir schon vorstellen, dass Herr Trittin an bessere Zeiten seines Lebens denkt, wenn er sich mit dem Mythos beschäftigt; ({6}) aber die Verantwortung in diesem Haus ist eine andere. Wenn die Fakten durch den Untersuchungsausschuss geklärt sind, dann sollten Sie mit dem Predigen von Mythen aufhören, ({7}) spätestens dann sollten Sie an die Stelle des Mythos einen nüchternen Sachverhalt setzen, spätestens dann sollten wir uns gemeinsam darum bemühen, den Glaubenskampf in diesem Land, der auf dem Rücken der Menschen ausgetragen wird, zu beenden. Das schulden wir alle gemeinsam unserer Verantwortung, unserer Verantwortung für den Rechtsfrieden in unserem Land ({8}) und unserer Verantwortung für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die rechtsstaatlichen Verfahren unserer Demokratie. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1161 mit dem Titel „Keine Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Erkundung des Salzstocks in Gorleben bis zum Abschluss der Arbeit des 1. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist eindeutig abgelehnt. ({0}) Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Kelber, Dr. Matthias Miersch, Dorothée Menzner und weiterer Abgeordneter zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1250, den Antrag auf Drucksache 17/888 ({1}) in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? ({2}) Erlauben Sie, dass ich diese Abstimmung wiederhole! ({3}) - Damit sich einige klar werden können, wie sie stimmen sollen. - Noch einmal: Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 21. April 2010, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.