Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf
Vorschlag der Fraktion der CDU/CSU soll der Kollege
Klaus-Peter Willsch für eine weitere Amtszeit zum
Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung gewählt werden.
Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Das ist
offenkundig der Fall. Damit ist der Kollege Willsch erneut zum Mitglied dieses Kuratoriums gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zur Ablehnung
des bayerischen Gesundheitsministers Markus
Söder, eine Kopfpauschale anstelle der bisherigen solidarischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
zur Antwort der Bundesregierung auf die
Frage 1 auf Drucksache 17/1107
({0})
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 28
a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partei-Sponsoring transparenter gestalten
- Drucksache 17/1169 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln
- Drucksache 17/892 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 29
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvG 1/10
- Drucksache 17/1192 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder
({4})
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 61 zu Petitionen
- Drucksache 17/1180 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 17/1181 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 17/1182 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 17/1183 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 17/1184 -
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 17/1185 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 17/1186 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 17/1187 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
- Drucksache 17/1188 -
k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 70 zu Petitionen
- Drucksache 17/1189 ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt
gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in
kirchlichen und weltlichen Einrichtungen
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
- Drucksache 17/1154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technolgie
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({16}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({17}), Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen - Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
- Drucksachen 17/792, 17/1208 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({18})
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 13 und 17 sollen getauscht
sowie die Tagesordnungspunkte 23 c, 28 f und 28 g abgesetzt werden. Darf ich auch hierfür Ihr Einvernehmen
feststellen? - Das ist offenkundig der Fall.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP
Wahl des Wehrbeauftragten des Deutschen
Bundestages
- Drucksache 17/1160 Bevor ich etwas zum Ablauf der Wahl sage, möchte
ich mich zunächst an unseren amtierenden Wehrbeauftragten, Reinhold Robbe, wenden.
Lieber Kollege Robbe, Sie blicken auf eine bald fünfjährige Amtszeit als Wehrbeauftragter des Bundestages
zurück, so wie es das Grundgesetz vorsieht. In Ihrer
Amtszeit haben Sie als Wehrbeauftragter im Auftrag des
Bundestages einen wesentlichen Beitrag zur parlamentarischen Kontrolle der Bundeswehr als Parlamentsheer
geleistet. Sie haben sich mit vielfältigen Aspekten der
Bundeswehr befasst, den besonderen Bedingungen der
Auslandseinsätze die angemessene Bedeutung beigemessen und in Ihren Berichten erforderlichen Korrekturbedarf bei von Ihnen festgestellten und monierten
Fehlentwicklungen verdeutlicht.
Sie waren ein wichtiger Ansprechpartner für die Mitglieder des Deutschen Bundestages, insbesondere des
Verteidigungsausschusses. Ansprechpartner waren Sie
aber auch und ganz besonders für die Soldatinnen und
Soldaten. Diese konnten sich in den vergangenen fünf
Jahren darauf verlassen, dass ihre Sorgen und Nöte ernst
genommen werden und der Wehrbeauftragte sich nicht
scheut, berechtigte Anliegen vorzubringen und auf Verbesserungen zu drängen. Bei einem gemeinsamen Truppenbesuch konnte ich selber einen Eindruck von dem
hohen Ansehen gewinnen, das Sie sich bei den Soldatinnen und Soldaten erworben haben.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Robbe, im Namen
der Soldatinnen und Soldaten für Ihre Arbeit als Wehrbeauftragter danken, ganz besonders aber auch im Namen des ganzen Hauses, aller Mitglieder des Deutschen
Bundestages.
({19})
Wir danken Ihnen für Ihre verdienstvolle Tätigkeit und
wünschen Ihnen für den weiteren Lebensweg alles Gute!
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun
zur Wahl. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
haben den Abgeordneten Hellmut Königshaus als Wehrbeauftragten des Bundestages vorgeschlagen.
Ich darf Sie um Ihre Aufmerksamkeit für einige Hinweise zum Wahlverfahren bitten:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nach § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages sind zur Wahl die Stimmen
der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, das heißt
mindestens 312 Stimmen, erforderlich. Der Wehrbeauftragte wird mit verdeckten Stimmkarten, also geheim,
gewählt. Sie benötigen für die Wahl Ihren Wahlausweis,
den Sie, soweit noch nicht geschehen, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen können. Bitte kontrollieren Sie, ob
der Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl
gültige Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag
erhalten Sie von den Schriftführerinnen und Schriftführern an den Ausgabetischen neben den Wahlkabinen.
Um einen reibungslosen Ablauf der Wahl zu gewährleisten, bitte ich Sie, von Ihren Plätzen aus über die seitlichen Zugänge und nicht durch den Mittelgang zu den
Ausgabetischen zu gehen. Nachdem Sie Ihre Stimmkarte
in der Wahlkabine gekennzeichnet und in den Wahlumschlag gelegt haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen
vor dem Rednerpult.
Ich mache noch einmal darauf aufmerksam, dass Sie
Ihre Stimmkarte nur in der Wahlkabine ankreuzen dürfen und die Stimmkarte ebenfalls noch in der Wahlkabine in den Umschlag legen müssen. Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, der
seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeichnet oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Gegebenenfalls kann die Stimmabgabe vorschriftsmäßig wiederholt werden.
Dass die Stimmkarten nur mit einem Kreuz bei „Ja“,
„Nein“ oder „enthalte mich“ gültig sind, setze ich als allgemein bekannt voraus, weise aber ausdrücklich noch
einmal darauf hin. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein
Kreuz, andere Namen oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis einem der
Schriftführer an der Wahlurne. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des
Wahlausweises erbracht werden.
Ich bitte nun die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist offenbar
der Fall.
Ich bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Ausgabetischen zu gehen. Der Wahlgang ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimmkarte nicht
abgegeben hat? - Das scheint nicht der Fall zu sein.
Dann schließe ich die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Für die Auszählung unterbreche ich die Sitzung für
etwa 15 Minuten.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz
zu nehmen. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen das
Ergebnis der Wahl des Wehrbeauftragten bekannt: abgegebene Stimmen 579, ungültige Stimmen keine. Mit
Ja haben gestimmt 375 Mitglieder des Bundestages,
({0})
mit Nein gestimmt haben 163 Kolleginnen und Kolle-
gen, Enthaltungen gab es 41.1)
Gemäß § 13 des Gesetzes über den Wehrbeauftragten
des Deutschen Bundestages ist gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, also
312 Stimmen, auf sich vereinigt. Ich stelle fest, dass der
Abgeordnete Hellmut Königshaus mit der erforderlichen
Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Deutschen
Bundestages zum Wehrbeauftragten gewählt worden ist.
({1})
Ich frage Sie, Herr Kollege Königshaus: Nehmen Sie
die Wahl an?
Herr Präsident, ich nehme die Wahl gerne an und bedanke mich.
({0})
Herr Abgeordneter Königshaus, ich gratuliere Ihnen
persönlich und im Namen des ganzen Hauses zu dieser
Wahl und wünsche Ihnen Kraft, Erfolg und eine gute
Hand bei der Führung Ihres Amtes.
({0})
Darf ich vorschlagen, dass wir im Interesse der zügigen weiteren Behandlung unserer Tagesordnung zum
nächsten wichtigen Punkt kommen? Herr Kollege
Königshaus, könnten Sie freundlicherweise die bemerkenswerte Reihe der Gratulanten entweder vertrösten
oder an den Rand des Plenums geleiten?
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010
in Brüssel
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD, zwei Entschließungsanträge der Fraktion Die
Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Diese Debatte wird im Übrigen außer im Parlamentsfernsehen und in Phoenix auch im Hauptprogramm der
öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten
übertragen,
({1})
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
was ich aus vielerlei Gründen ausdrücklich begrüße und
mit Respekt registriere.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
schlimmste Weltwirtschaftskrise seit den 30er-Jahren
des letzten Jahrhunderts stellt die Europäische Union
und ihre Mitgliedstaaten weiter vor außerordentliche Herausforderungen. Hinzu kommen für uns alle die Aufgaben, die durch die zunehmende Alterung unserer Bevölkerung, den drohenden Klimawandel und einen sich
zulasten Europas verschärfenden internationalen Wettbewerb entstehen. Es kann kein Zweifel bestehen: Europa und die 27 Mitgliedstaaten müssen ihre Anstrengungen weiter verstärken, um diese außerordentlich
großen Herausforderungen meistern zu können. Es besteht aber auch kein Zweifel: Deutschland ist bereit
dazu. Ich bin überzeugt: Deutschland ist in der Lage, seinen Beitrag für ein erfolgreiches Europa zu leisten.
({0})
Wir alle wissen: Kein Mitgliedstaat der Europäischen
Union kann diese Aufgaben unserer Zeit im Alleingang
bewältigen. Wir brauchen einander. Wer das nicht erkennt, der hat die einzigartige Erfolgsgeschichte der europäischen Einigungsidee nicht verstanden. Gemeinsam
sind wir stärker.
Deshalb begrüße ich die Bemühungen der Europäischen Präsidentschaft und der Europäischen Kommission für eine neue europäische Wachstumsstrategie, die
sogenannte Strategie EU 2020. Auf Eckpunkte dieser
EU-2020-Strategie wollen wir uns heute und morgen in
Brüssel einigen. Eine solche Strategie ist von großer Bedeutung, weil im Binnenmarkt die europäischen Volkswirtschaften in einer unauflöslichen gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehung stehen. Wir erleben gerade in
diesen Tagen schmerzlich, dass Fehler in der Wirtschaftspolitik einzelner Staaten zu beträchtlichen ökonomischen Verwerfungen insgesamt führen können. Umgekehrt haben wir in der Geschichte der Europäischen
Union auch immer wieder erlebt, dass Strukturreformen
in einzelnen Mitgliedstaaten sich gegenseitig bereichern
können. Damit wirkt die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zum Wohle aller in der ganzen Europäischen
Union.
Ich kenne die Einwände, die gegen die neue EU2020-Strategie vorgebracht werden. Ich sage ausdrücklich: Ich nehme diese Einwände ernst, und ich weiß auch
um die Defizite, die schon die sogenannte LissabonStrategie hatte. Vorneweg war eines dieser Defizite die
fehlende Prioritätensetzung und damit verbunden eine
mangelnde politische Verbindlichkeit. Wir haben in der
Lissabon-Strategie zum Schluss sage und schreibe
25 quantitative Ziele gezählt. Hinzu kommt eine noch
wesentlich größere Zahl an qualitativen Zielen. Am
Ende sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.
Genau das wollen wir ändern.
({1})
Deutschland hat deshalb gefordert, für die neue EU2020-Strategie den Zielkatalog deutlich zu reduzieren.
Ich freue mich, dass Präsident Van Rompuy jetzt ein
Konzept zur Reform der Lissabon-Strategie auf den
Tisch gelegt hat, das genau diesen Gedanken aufgreift.
Dennoch: Wir dürfen trotz aller Unzulänglichkeiten
eines nicht vergessen: Viele der Reformen, die die Mitgliedstaaten in den Jahren vor der weltweiten Finanzund Wirtschaftskrise zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit durchgeführt haben, waren auch das Ergebnis eines Voneinander-Lernens, das Ergebnis genau dieser
Lissabon-Strategie, die das Benchmarking eingeführt
hatte und die uns immer wieder hat schauen lassen: Wie
machen es andere?
Mit der neuen EU-2020-Strategie gehen wir zweierlei
an: Einerseits übernehmen wir die Stärken der LissabonStrategie, und wir versuchen gleichzeitig, ihre Defizite
zu beseitigen:
Erstens. Es werden nur noch einige wenige prioritäre
Ziele gesetzt.
Zweitens - das ist vielleicht noch wichtiger -: Diese
wenigen EU-Ziele sollen mit der Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Europas und der Förderung eines nachhaltigen Wachstums in direktem Zusammenhang stehen. Die Ziele sind also ausgerichtet auf
die Zielstellung der Strategie.
Drittens. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen die
Staats- und Regierungschefs konkret die Verantwortung
übernehmen.
Meine Damen und Herren, mit der EU-2020-Strategie
wollen und werden wir die Innovationsfähigkeit Europas stärken. Man muss ganz nüchtern sagen: Der Anspruch der Lissabon-Strategie, dass wir der wettbewerbsfähigste und innovativste Kontinent schon bis
2010 sind, hat sich nicht erfüllt. Trotzdem bleibt das
Thema Innovationsfähigkeit natürlich auf der Tagesordnung.
Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag
von Präsident Barroso, 3 Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung auszugeben. In aller Bescheidenheit können wir hinzufügen: Deutschland ist wie schon in anderen Bereichen
auch hier einer der Vorreiter in Europa. Wir werden auf
der Bundesseite das 3-Prozent-Ziel sehr schnell erfüllen.
Wir werden auch gesamtstaatlich daran arbeiten und haben uns vorgenommen, bis 2015 die Ausgaben für Bildung und Forschung auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern.
Es reicht nicht aus, wenn sich die Europäische Union
das Ziel einer Beschäftigungsquote von 75 Prozent
setzt, wie das jetzt geplant ist. Es müssen dazu natürlich
auch die richtigen Maßnahmen getroffen werden. Das
heißt, das 75-Prozent-Ziel können wir teilen. Aber wir
müssen das Erreichte - Deutschland hat dieses Ziel im
Wesentlichen erreicht - auch festigen und zukunftsfest
machen. Deshalb geht es neben Forschung und Entwicklung auch darum, bestehende Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen, indem wir zum Beispiel die Aufnahme einer regulären Arbeit für die Bezieher von
Arbeitslosengeld II attraktiver ausgestalten wollen. Wir
werden das innenpolitisch anpacken und auch damit einen Beitrag zur Stärkung Europas leisten.
({2})
Damit verbunden ist aber natürlich auch, dass diese
Zielsetzungen - das zeigt sich an einem weiteren Ziel auf die innere und spezifische Situation der Mitgliedstaaten ausgerichtet sein müssen. Jeder weiß: Gute Bildung für alle, das ist die Voraussetzung für eine hohe
Rate qualifizierter Beschäftigung. Aber die Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten sind unterschiedlich. Ich kann und werde heute in Brüssel nicht einfach
ein pauschales EU-Ziel zur Quote der Hochschulabsolventen unterstützen; denn wir müssen zum Beispiel darauf achten, dass die deutschen Berufsbildungsabschlüsse bestimmten Hochschulabschlüssen in anderen
Mitgliedstaaten durchaus ebenbürtig sind. Das müssen
wir miteinander vergleichen und dafür auch werben.
({3})
Deshalb teile ich an dieser Stelle ausdrücklich die Auffassung der Ministerpräsidenten der Länder: Hier gibt es
noch Beratungsbedarf, und die Zeit dafür werden wir
uns nehmen.
Dennoch bin ich optimistisch, dass wir uns auf europäischer Ebene auf ein vernünftiges Verfahren für ein
Bildungsziel verständigen können, und zwar unter einer
Voraussetzung: Es muss die spezifischen Gegebenheiten
der einzelnen Mitgliedstaaten berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, ich habe es schon oft gesagt und wiederhole es heute, weil man es nicht oft genug wiederholen kann: Niemals darf die große Herausforderung der Bewältigung der weltweiten Finanz- und
Wirtschaftskrise gleichsam als Ausrede dafür herhalten,
andere große Herausforderungen in den Hintergrund treten zu lassen. Das muss auch für den heutigen EU-Rat
vermieden werden, weil etwa die Erfüllung der Klimaund Energieziele der Europäischen Union keinen Aufschub duldet.
({4})
Der Strukturwandel in Richtung einer kohlenstoffarmen Wirtschaft muss konsequent vorangetrieben werden. Das hat dann natürlich auch einen ökonomischen
Mehrwert; denn wenn wir in Europa diesen Strukturwandel frühzeitig einleiten und umsetzen, wird dies zu
erheblichen Wettbewerbsvorteilen für unsere Industrie
im globalen Wettbewerb führen. Wir müssen also - das
muss uns leiten - unsere Chancen erkennen, und darüber
hinaus gilt: Wir müssen diese Chancen dann auch konsequent gemeinsam nutzen. Deshalb unterstütze ich ausdrücklich den Vorschlag der EU-Kommission, die Erfüllung der vom Europäischen Rat unter deutscher
Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele
auch im Rahmen der EU-2020-Strategie zu verankern
und voranzubringen.
Ich füge allerdings hinzu: Da die Wahrheit oft im
Kleingedruckten steckt, wird Deutschland ein waches
Auge auf die Diskussion haben, die in diesem Zusammenhang in der Europäischen Kommission im Anschluss an den Europäischen Rat zum Thema Energieeffizienz geführt wird. Deutschland nimmt die
Verantwortung, die sich durch eine Vorreiterrolle für den
Klimaschutz in Europa ergibt, weiterhin konsequent
wahr. Einen wichtigen Impuls für Fortschritte in den internationalen Verhandlungen werden wir auch noch einmal mit der Ministerkonferenz des Bundesumweltministers für den Klimaschutz vom 2. bis 4. Mai in Bonn
setzen.
Allerdings müssen wir auch darauf achten, dass sich
die vereinbarten Maßnahmen in der Europäischen Union
nicht gegenseitig widersprechen, sondern dass sie in sich
konsistent sind. So kann man nach meiner Auffassung,
wenn man sich zum Beispiel für den Zertifikatehandel
entscheidet, nicht gleichzeitig Steuern und Ähnliches
einführen. Das bringt kein konsistentes Bild in die gesamte Debatte.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen nicht
verschweigen, dass es bei der Beratung der EU-2020Strategie heute ein Thema geben wird, zu dem es von
mir für ein quantitatives Ziel keine Unterstützung geben
wird. Ich meine die Bekämpfung der Armut in
Europa. Natürlich: Alle wollen Armut bekämpfen, niemand von uns findet sich mit ihr ab. Wir als Bundesregierung verfolgen das gemeinsam mit den die Regierung
tragenden Fraktionen ganz konsequent. Außerdem gilt:
Soweit die Armutsbekämpfung über mehr Wachstum erreicht werden kann, gehört sie in die neue europäische
Strategie 2020. Aber - darum geht es mir - Armutsbekämpfung ist viel mehr als wirtschaftliches Wachstum.
Sie ist eine sozialpolitische Aufgabe. Diese ist - ich erinnere an den Grundsatz der Subsidiarität - mit gutem
Grund Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Da sollten wir
sie auch belassen.
({6})
Das ist ein klassisches Beispiel dafür, dass wir nicht
mehr alle Ziele aufnehmen können, die man für gut und
richtig hält, sondern dass man genau schauen muss: Wo
sind die Prioritäten? Wo muss man bestimmte Aufgaben
an die Mitgliedstaaten verweisen?
Die Ziele der neuen EU-2020-Strategie werden heute
und morgen im Rat beraten. Nach den Vorschriften des
Vertrages von Lissabon sind sie für die Mitgliedstaaten
zwar rechtlich nicht bindend, dennoch - davon bin ich
überzeugt - werden sie eine nicht zu unterschätzende
politische Bindungswirkung entfalten. Denn in Zukunft
kommt gerade dem Rat bei dem Beschluss solcher Ziele
eine ungleich größere Verantwortung als früher zu, weil
wir auch für die Einhaltung dieser Ziele geradestehen
müssen. Deshalb ist es wichtig, dass wir, wenn die Kom3096
mission regelmäßig überprüfen will, ob wir diese Ziele
einhalten, auch zu Hause miteinander - das bedeutet die
Diskussion im Deutschen Bundestag, das bedeutet auch
die Diskussion mit dem Bundesrat - intensiver als früher
diskutieren; denn nur wenn ein solches Ziel breit getragen wird von denen, die die parlamentarischen Entscheidungen in Deutschland fällen, kann ich das Ziel für
Deutschland umsetzen. Nur dann können wir auch akzeptieren, dass die Kommission auf diese Einhaltung
pocht. Das heißt also, wir vereinbaren Ziele nur dann,
wenn wir gemeinsam, mehrheitlich in diesem Hause zu
der Überzeugung kommen, dass es die richtigen und
wichtige Ziele sind.
({7})
In der Debatte um die Strategie EU 2020 wurde in
den vergangenen Wochen immer wieder die Verknüpfung des Stabilitätspaktes mit der neuen Wachstumsstrategie gefordert. Ich habe mich immer wieder konsequent, wie auch die ganze Bundesregierung dies getan
hat, dagegen gewendet. Ich hielte es für falsch, wenn wir
Wachstum gegen Stabilität ausspielen würden, wenn wir
den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufweichen würden.
Ich hielte es sogar für verhängnisvoll.
({8})
Deshalb bin ich froh, dass das verhindert werden
konnte. Wir können uns eine Verwässerung des Stabilitätspaktes nicht leisten. Mit der Bundesregierung - ich
glaube, dafür auch die Unterstützung des Parlaments zu
haben - wird es sie nicht geben. Zur Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen gibt es nämlich keine vernünftige
Alternative.
({9})
Hier darf nicht getrickst werden. Sie brauchen sich auch
gar keine Sorgen machen, dass wir nicht anfangen. Allein das Grundgesetz zwingt uns dazu.
({10})
Das ist der richtige Ort, an dem die Schuldenbremse verankert ist.
Alle Mitgliedstaaten müssen diesen Weg gehen. Nur
mit der Rückführung der Defizite in jedem einzelnen
Mitgliedstaat kann Europa das Vertrauen in seine wirtschaftliche Stärke, seine gemeinsame Währung und
seine politische Handlungsfähigkeit sichern. Das ist unverzichtbar für die Zukunft Europas.
Aber wir spüren in diesen Wochen durchaus auch die
Grenzen des Stabilitätspaktes. Er war und ist nicht darauf ausgerichtet, strukturelle Fehlentwicklungen und
den damit verbundenen Aufbau von erheblichen Ungleichgewichten in der EU zu erkennen.
({11})
Um es klipp und klar zu sagen: Auf ein bewusstes Unterlaufen seiner Kriterien, wie wir das im Falle Griechenlands erleben mussten, war und ist dieser Pakt nicht eingestellt. Deshalb sage ich: Ein solches Unterlaufen muss
für die Zukunft unterbunden werden. Wir dürfen nicht
mit Europas Zukunft spielen.
Ich werde das heute und morgen in Brüssel unmissverständlich deutlich machen. Deutschland ist sich hier
seiner historischen Verantwortung bewusst. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde seinerzeit maßgeblich von der deutschen Bundesregierung geprägt.
Helmut Kohl und Theo Waigel haben für ein Regelwerk
gekämpft, das die Stabilität des Euro dauerhaft garantiert. Das hat sich ausgezahlt: Der Euro ist heute stabiler,
als die D-Mark es je war. Der Euro hat uns gerade bei
der Bewältigung der internationalen Finanzkrise sehr geholfen.
({12})
Als man die vertraglichen Grundlagen für die Einführung des Euro geschaffen hat, hat man sich eine außergewöhnliche Situation wie die schwerste Wirtschafts- und
Finanzkrise seit den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts
allerdings nicht vorgestellt. Ich füge hinzu: vielleicht hat
man es sich auch nicht vorstellen können; denn wir alle
sind mit Dingen konfrontiert worden, die außerhalb dessen waren, was wir erwartet haben. Deshalb wurden in
den europäischen Verträgen keine Vorkehrungen getroffen, um eine solche Situation beherrschen zu können.
Würde ein Mitglied der Währungsunion in der gegenwärtigen Situation zahlungsunfähig, bedeutete dies für
uns alle in Europa gravierende Risiken, auch für
Deutschland als größte Volkswirtschaft Europas. Wie
unkontrollierbare Kettenreaktionen entstehen und die
ganze Weltwirtschaft erschüttern können, haben wir im
Herbst 2008, nach dem Zusammenbruch von Lehman
Brothers, erlebt. Es ist also sowohl im europäischen als
auch im wohlverstandenen deutschen Interesse, schwerwiegende Störungen der Finanzstabilität in der Eurozone
oder der globalen Finanzmärkte zu vermeiden.
So weit wollen und dürfen wir es nicht kommen lassen. Deshalb haben die Staats- und Regierungschefs
beim letzten EU-Gipfel, am 11. Februar, klar vereinbart:
Wenn es notwendig sein sollte, sind die Euromitgliedsländer bereit, entschlossen und koordiniert zu handeln,
um die Finanzstabilität in der Eurozone insgesamt zu sichern.
({13})
Diese Vereinbarung - Sie erinnern sich - wurde ganz
wesentlich in einer Kooperation zwischen Deutschland
und Frankreich erreicht. Sie hat sich schon jetzt bewährt.
Heute, sechs Wochen später, können wir eine erste Zwischenbilanz dieser Entscheidung ziehen. Wir stellen fest:
Es ist noch kein Euro und kein Cent für die Unterstützung Griechenlands ausgegeben worden. Bislang ist
Griechenland nicht zahlungsunfähig geworden. Auch
sind düstere Vorhersagen über die Entwicklung in anderen Mitgliedstaaten nicht Realität geworden. Stattdessen
hat Griechenland ein ambitioniertes Sparprogramm beBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
schlossen und erfolgreich eine Anleihe an den Märkten
platziert.
Ich glaube, sagen zu können, dass sich Europa am
11. Februar in einer Stunde der größten ökonomischen
und politischen Herausforderung als gleichermaßen entschieden, aber auch besonnen gezeigt hat; das hat seine
Effekte gezeitigt. Ich wiederhole: Deutschland und
Frankreich haben dabei sehr eng zusammengearbeitet.
({14})
Wir wissen: Jede weitere Entscheidung über die kurzfristige Stabilisierung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union muss im Einklang mit der langfristigen Stabilität der Wirtschafts- und Währungsunion getroffen
werden. Ich bin mir als deutsche Bundeskanzlerin der
außerordentlich großen Verantwortung in dieser Stunde
bewusst. Denn das deutsche Volk hat im Vertrauen auf
einen stabilen Euro seinerzeit die D-Mark aufgegeben.
Dieses Vertrauen - das eint die ganze Bundesregierung darf unter keinen Umständen enttäuscht werden.
({15})
Deshalb sage ich: Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, der schnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der
die europäischen Verträge und das jeweilige nationale
Recht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eurozone keinen Schaden nimmt.
({16})
Das war die Richtschnur des bisherigen Handelns des
Bundesfinanzministers, von mir und der gesamten Bundesregierung. Das ist die Richtschnur aller Entscheidungen heute und morgen auf dem Rat und auch in Zukunft.
Heute und morgen geht es darum, die Entscheidungen
des Rats vom 11. Februar zu spezifizieren, also darum,
fortzuschreiben, wie wir im äußersten Notfall als Ultima
Ratio - so haben wir es gesagt - agieren können, wenn
die Stabilität gefährdet ist, wenn ein Eurostaat keinen
Zugang zu den internationalen Finanzmärkten mehr hat,
wenn dieser Zugang also erschöpft ist.
Für einen solchen Notfall haben die Finanzminister
Gemeinschaftshilfen ausgeschlossen und sich für bilaterale Hilfen ausgesprochen.
Die Bundesregierung wird sich beim Rat heute und
morgen dafür einsetzen, dass im Notfall eine Kombination von Hilfen des IWF und gemeinsamen bilateralen
Hilfen in der Eurozone gewährt werden müsste. Aber
dies ist - ich sage es noch einmal - die Ultima Ratio. Ich
werde entschieden dafür eintreten, dass eine solche Entscheidung - IWF plus bilaterale Hilfen - gelingt. Dabei
werden wir wieder sehr eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Ich wiederhole: Es geht nicht um konkrete Hilfen, sondern um eine Spezifizierung und Fortschreibung
der Entscheidung vom 11. Februar.
Meine Damen und Herren, mit alldem dürfen wir unsere Arbeiten keinesfalls beenden; das würde nicht ausreichen. Denn eine Situation, wie wir sie nie vorausgesehen haben, kann nicht einfach übergangen werden,
sondern Europa muss daraus die richtigen Lehren für die
Zukunft ziehen. Wir müssen Vorkehrungen treffen, damit sich eine solche Situation nicht wiederholen kann.
Wir haben gesehen, dass das aktuelle Instrumentarium
der Währungsunion unzureichend ist. Wolfgang
Schäuble hat darauf hingewiesen und weiterführende
Maßnahmen vorgeschlagen, die ich ausdrücklich unterstütze. Wir beraten schon heute eine Verordnung, die
Eurostat das Recht gibt, kritische Fragen direkt vor Ort
zu prüfen.
({17})
- Auch Sie waren daran beteiligt, als wir Eurostat das
verboten haben.
({18})
Tricksereien muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Aber mehr Eingriffsbefugnisse für Eurostat allein werden nicht ausreichen. Wir müssen mit Blick auf die Zukunft folgende Fragen beantworten: Was passiert, wenn
trotz aller Vorkehrungen ein Eurostaat zahlungsunfähig
wird? Welche Möglichkeiten gibt es, dies in ein geordnetes Verfahren zu bringen, ohne dass die Stabilität der
Währungsunion erschüttert wird, sondern dass sie geschützt wird?
Deshalb werde ich mich auch für erforderliche Vertragsänderungen einsetzen, damit Fehlentwicklungen
durch geeignete Sanktionen früher und effektiver bekämpft werden können. Hier steht insbesondere die
Stärkung des Defizitverfahrens auf der Agenda. Das
ist eine Aufgabe, die weit über den heute beginnenden
EU-Rat hinausreicht. Sie will wohl überlegt sein. Aber
auf Dauer werden wir einer solchen Antwort nicht ausweichen können.
Eines möchte ich an dieser Stelle noch erwähnen,
wenn auch nur am Rande: Es ist geradezu absurd,
Deutschland mit seiner wettbewerbsstarken Wirtschaft
gleichsam zum Sündenbock für die Entwicklung zu machen, die wir jetzt zu bewältigen haben.
({19})
Unsere Kritiker in Europa verkennen, dass unsere Exportgewinne zum Teil in die Defizitländer zurückfließen und dass Deutschland auch das größte Importland
Europas ist. Deutsche Unternehmen haben 500 Milliarden Euro in der EU investiert und beschäftigen dort
mehr als 2,7 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit leisten wir einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas, auch auf
den Weltmärkten. Darauf können wir zu Recht stolz
sein.
({20})
Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs werden auf ihrem heute beginnenden Gipfel
ein neues und anspruchsvolles Kapitel der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Europas aufschlagen. Wir werden
in Europa noch stärker zusammenrücken. Wir werden
damit unsere Interessen in der Welt noch besser vertreten
können. Unsere politische Generation wird auch in unserer Zeit der großen Verantwortung gerecht, die uns die
Gründer der wunderbaren Idee der Einigung Europas vor
über 50 Jahren mit auf den Weg gegeben haben.
Europa ist Friedensgemeinschaft, Europa ist Rechtsgemeinschaft, Europa ist Stabilitäts- und Wachstumsgemeinschaft, Europa ist unsere Zukunft. Diese Idee zu
schützen und zu wahren, das war und das ist jede Mühe
und Anstrengung wert. Dafür setzt sich die Bundesregierung und dafür setze ich mich in den nächsten beiden Tagen ganz persönlich ein.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Dr. Angelica Schwall-Düren für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr enttäuscht über
Ihre Erklärung, Frau Bundeskanzlerin.
({0})
Sie haben angekündigt, dass beim heute beginnenden
Europäischen Rat ein neues und anspruchsvolles Kapitel
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa aufgeschlagen werden soll. Frau Kanzlerin, ich vermisse den
anspruchsvollen und leidenschaftlichen Beitrag der Bundesregierung zu dieser Strategie, die uns in den nächsten
zehn Jahren zu wirtschaftlichem, sozialem und ökologischem Erfolg führen soll.
({1})
Stattdessen, Frau Bundeskanzlerin, erklären Sie uns,
welche von der Kommission vorgeschlagenen Ziele Sie
zwar gut finden, aber doch bitte nicht so genau festgeschrieben haben wollen. Man könnte die schwarz-gelbe
Koalition sonst ja gegebenenfalls daran messen, ob sie
tatsächlich Entscheidendes getan hat, um die Chancengleichheit in der Bildung herzustellen oder die Armut
abzubauen. Wo, sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin, ist
denn der kräftige Pinselstrich dieser Regierung im Hinblick auf die Strategie EU 2020, der unsere europäischen
Gesellschaften wirklich mit Innovationen voranbringt?
({2})
Sie sagen, Sie unterstützten die unter deutscher Präsidentschaft beschlossenen Energie- und Klimaziele der
Union. Aber Misstrauen ist angesagt. Denn gleichzeitig
haben Sie dem Rats- und dem Kommissionspräsidenten
brieflich übermittelt, dass Sie auf dem März-Gipfel keinen quantifizierten Zielen zustimmen können, deren Erfüllung von der Kommission nicht belegt werden könne.
({3})
Hier schleicht sich die Klimakanzlerin davon.
({4})
Genauso haben Sie im Haushalt nicht die Mittel zur Verfügung gestellt, die zur Erreichung des Klimaschutzes in
den Entwicklungsländern notwendig sind.
Frau Kanzlerin, das passt zu den verheerenden Signalen, die Ihre Regierung in Deutschland selbst setzt: Die
Förderung der erneuerbaren Energien wird von heute auf
morgen reduziert, und die Investoren werden damit verunsichert. Die Markteinführungsprogramme für Effizienztechnologien und Wärmeerzeugung werden gekürzt und gesperrt. Die Wärmedämmung wird nur noch
halbherzig unterstützt. Wegen der anstehenden Entscheidung über die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken sind die Kraftwerkserneuerungsprogramme auf Eis
gelegt. So kann schon Deutschland seine Klimaziele
nicht erreichen.
({5})
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen uns,
Europa müsse noch stärker zusammenrücken. Wie soll
das denn geschehen? Die Staats- und Regierungschefs
- so darf ich Sie zitieren - müssten dafür geradestehen,
die gemeinsam erarbeiteten Empfehlungen zu Hause
umzusetzen. - Wenn Sie sich nicht für eine stärkere
wirtschaftspolitische Koordinierung einsetzen, dann
bleibt Ihr Verweis auf eine Wirtschaftsregierung nur ein
leeres Zugeständnis an Staatspräsident Sarkozy und eine
Mogelpackung.
({6})
Der Europäische Rat bereitet auch den G-20-Gipfel in
Toronto vor. Das wichtigste Thema wird die Reform des
Finanzsektors sein. Eine international vereinbarte
Steuer auf den Handel von Finanzprodukten würde zu
einer Entschleunigung des Finanzroulettes beitragen.
Leider ist nicht klar, ob die Bundesregierung eine solche
Steuer weiterhin unterstützt.
({7})
Heute wäre der richtige Zeitpunkt gewesen, den Deutschen Bundestag darüber zu informieren.
({8})
Wenn wir von Verantwortung sprechen, dann, Frau
Bundeskanzlerin, muss ich Ihnen sagen: Sie sind Ihrer
Verantwortung in den letzten Wochen nicht gerecht geworden.
({9})
In diesen Wochen, in denen sich viele Menschen Sorgen
um die Stabilität des Euro und um den Zusammenhalt
der Währungsunion machen, betreiben Sie und Ihre Regierung eine unstete und unentschlossene Politik, eine
Politik der Unentschiedenheit und des Attentismus. Sie
sagen heute: Griechenland wird nicht geholfen. - MorDr. Angelica Schwall-Düren
gen verkündet der Finanzminister, er setze sich für einen
EWF ein. Und vom Außenminister ist dröhnendes
Schweigen zu vernehmen. Das ist eine unehrliche und
opportunistische Verhaltensweise.
({10})
Ja, Griechenland hat seine schwierige Lage überwiegend selbst verursacht. Während der frühere griechische
Ministerpräsident Karamanlis mit Goldman Sachs gezockt hat, erweist sich der heutige Ministerpräsident
Papandreou aber als wahrer Patriot. Er - das sollten Sie
zur Kenntnis nehmen - und die aktuelle Regierung haben mit der Politik der Vorgängerregierung gebrochen.
Die jetzige Regierung bettelt nicht um Hilfe. Papandreou
hat seiner Bevölkerung ein strenges Spar- und Reformpaket verordnet, das seinesgleichen sucht. Er nimmt ein
hohes persönliches, aber auch ökonomisches und soziales Risiko für sein Land auf sich.
Heute ist übrigens griechischer Nationalfeiertag. Wir
wünschen der griechischen Bevölkerung von hier aus
Mut, Kraft und Erfolg bei den Reformbemühungen.
({11})
Der Ministerpräsident will, dass Griechenland die
Krise aus eigener Kraft bewältigt. Aber Sie, Frau
Merkel, fallen ihm in den Rücken.
({12})
Jedes Mal, wenn Sie sich äußern und verkünden, nein,
über Hilfsprogramme spreche man nicht, ja, Griechenland müsse seine Probleme allein lösen, nein, es gebe
keinen Anlass, über Hilfen zu spekulieren, heizen Sie die
Spekulationen an.
({13})
Jedes Mal, wenn Sie sprechen, fallen die Kurse für Griechenland, und der Spread steigt; das heißt, die Griechen
müssen mehr als doppelt so hohe Zinsen wie Deutschland für Anleihen bezahlen.
({14})
Ich darf Ihnen hier ein unverdächtiges Blatt zeigen.
Diese Grafik bildet die Kursschwankungen ab. Die
Financial Times Deutschland schreibt: Merkels riskantes
Spiel mit den Märkten. Offensichtlich, Frau Bundeskanzlerin, wollen Sie nach der Methode der Zeitung mit
den vier großen Buchstaben das vermeintliche Bauchgefühl potenzieller Wähler in NRW ansprechen.
({15})
In Wahrheit verunsichern Sie die Bevölkerung. Sie beschädigen Ihren Finanzminister. Sie verprellen die europäischen Partner, indem Sie ihnen die kalte Schulter zeigen. Mit Ihrem Verhalten kündigen Sie die europäische
Solidarität auf.
({16})
Sie brechen mit der Tradition der deutschen Europapolitik all Ihrer Vorgänger. Sie isolieren Deutschland in
Europa.
Dies alles, Frau Bundeskanzlerin, sind keineswegs
moralisierende Vorhaltungen. Ökonomischer Sachverstand müsste Ihnen klarmachen, dass Sie mit Ihrem Hin
und Her die Spekulationsjongleure stärken. Der Devisenmarkt interpretiert die von Ihnen genährten Spekulationen bereits als Schwäche des Euro. Wenn es so weitergeht, wird bald nicht nur Griechenland Hilfe
benötigen.
({17})
Auch Portugal ist bereits im Visier der Spekulanten.
Die Stabilität der Eurozone liegt im ureigenen deutschen Interesse.
({18})
Helmut Schmidt und Helmut Kohl wussten beide, dass
das Wohlergehen der Europäischen Union auch Wohlstand für Deutschland bedeutet. Deutschlands Interessen
können nicht gegen die Interessen der EU gestellt werden. Die wiederholt vorgetragene Forderung der Bundesregierung, ein Mitgliedsland gegebenenfalls aus der
Eurozone auszuschließen, widerspricht dem EU-Vertrag.
Die Diskussion über einen möglichen Rausschmiss muss
so schnell wie möglich beendet werden, um Schlimmeres zu verhindern.
({19})
Statt zu spalten, sollte die Bundesregierung konstruktive
Vorschläge machen, wie weiteren Wirtschafts- und Finanzkrisen in der EU vorgebeugt werden kann und wie
solche Krisen gegebenenfalls gemanagt werden sollen.
Das Ziel muss sein, Heterogenität zu verringern, Innovationen voranzubringen, die Produktivität nachhaltig zu
steigern und die Kaufkraft zu stärken. Nur so können wir
wirtschaftliche Ungleichgewichte verringern und gemeinsam stark sein.
Frau Bundeskanzlerin, wir sollten uns nicht vom Außenminister von Luxemburg sagen lassen müssen, dass
die EU eine Schicksalsgemeinschaft ist. Wer sollte dies
besser wissen als wir Deutschen? Frau Merkel, greifen
Sie die Initiative des Präsidenten des Europäischen Rates, Van Rompuy, des spanischen Ministerpräsidenten
Zapatero und des Vorsitzenden der Eurogruppe, Juncker,
auf und werden Sie Ihrer Verantwortung in und für Europa und Deutschland gerecht.
Danke schön.
({20})
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Diskussion über die Strategie Europa 2020 für
Wachstum und Beschäftigung werden die Lehren aus der
gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen. Das ist gut so.
Bei der Lissabon-Strategie hatte man sich zu viel auf zu
vielen Gebieten vorgenommen, vor allen Dingen auf Gebieten, auf denen die EU keine eigene Kompetenz hat.
Damit hat man der europäischen Integration keinen Gefallen getan.
Deshalb ist es gut, dass der Schwerpunkt jetzt auf
Schlüsselbereiche gelegt wird, dass weniger Ziele, dafür
aber erreichbare Ziele definiert werden. Es ist auch gut,
dass eine Koordinierung erfolgt. Genauso wichtig ist es
aber, dass dort, wo die Mitgliedstaaten die Kompetenz
und die Verantwortung haben, weiter die Mitgliedstaaten
handeln.
({0})
Mit Blick auf die Diskussion in den letzten Tagen ist
festzustellen, dass das Ziel nicht die Konvergenz der
Mitgliedstaaten in Richtung des kleinsten gemeinsamen
Nenners sein kann. Die europäischen Volkswirtschaften
bilden kein nach außen abgeschlossenes Nullsummenspiel, wo sich die Besten nur zurücklehnen müssten, damit es allen anderen besser geht. Wir befinden uns in einem internationalen Wettbewerb. Deshalb ist es wichtig,
dass wir deutlich machen: Niemandem in Europa ist geholfen, wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verschlechtert.
({1})
Deshalb werden wir weiter daran arbeiten, die Wettbewerbsfähigkeit dieses Landes zu stärken.
Die Grundlage unseres Wohlstands sind gut ausgebildete und motivierte Menschen, die Produkte und Dienstleistungen in hoher Qualität erfinden und erzeugen bzw.
bereitstellen.
Unsere Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Ländern außerhalb der EU hängt wesentlich von Bildung, Forschung und Innovation ab. Deshalb ist es gut, dass hier
Ziele definiert werden, zum Beispiel, 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung
aufzuwenden. Wir haben uns in Deutschland vorgenommen, bis zum Jahr 2015 10 Prozent für Bildung und Forschung auszugeben.
Wir sind der Überzeugung, dass es mehr Investitionen
in die Köpfe von Menschen bedarf. Das haben wir schon
jetzt im Haushalt 2010 umgesetzt, indem wir 750 Millionen Euro zusätzlich für Bildung und Forschung eingestellt haben, und wir werden im Laufe dieser Legislaturperiode 12 Milliarden Euro zusätzlich in diesen Bereich
investieren, weil wir überzeugt sind, dass das ein Schlüsselbereich ist, und weil wir der Auffassung sind, dass wir
auf dem Weg zu Innovationen in der Bildung einen
Schwerpunkt setzen müssen.
({2})
Wir können es uns nicht erlauben, kreative Köpfe auf
dem Bildungsweg zu verlieren. Deshalb setzen wir als
Koalition diese Schwerpunkte, und sie sind richtig.
({3})
Ich möchte an dieser Stelle aber auch sagen: Frau
Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung,
wenn Sie nicht dafür eintreten, dass ein pauschales EUZiel zur Quote von Hochschulabsolventen eingeführt
wird. Ich sage das ganz ausdrücklich mit Blick beispielsweise auf den sehr speziellen Studiengang der Berufsakademien, der sehr praxisorientiert ist und eine exzellente Ausbildung darstellt. Das muss auch entsprechend
gewertet werden.
In der bildungspolitischen Werteskala ist das deutsche
System der beruflichen Aus- und Weiterbildung in Europa zu niedrig eingeordnet. Wir sind der Meinung, dass
es eine Gleichwertigkeit der betrieblichen und der akademischen Ausbildung gibt. Wenn ich mir die hochwertige Meisterausbildung in Deutschland anschaue, dann
wird klar, dass wir erwarten müssen, dass das auch in
Europa den entsprechenden Respekt und die entsprechende Beachtung findet.
({4})
Zur Energie- und Klimapolitik will ich hier nur eine
kurze Bemerkung machen. Es ist gut, dass das in der
Strategie EU 2020 erstmals aufgenommen worden ist
und vorangetrieben werden soll. Wir haben uns hier in
Deutschland als Koalition sogar ehrgeizigere Ziele gesetzt, Frau Schwall-Düren,
({5})
und wir werden die Erreichung dieser Ziele durch das
Energiekonzept und die Überprüfung des integrierten
Energie- und Klimaprogramms in Deutschland entschieden voranbringen.
Wir haben in den letzten Tagen eine zentrale Diskussion über den Stabilitätspakt geführt; das ist jetzt auch
in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu
Recht angesprochen worden. Es ist ja gefordert worden,
den Stabilitätspakt mit der EU-Strategie 2020 zu verknüpfen. Wir sind froh, dass es gelungen ist, das zu verhindern. Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht werden.
({6})
Wir haben bei der Einführung des Euro für diesen
Stabilitätspakt gekämpft, und wir werden ihn weiter mit
aller Macht verteidigen. Ich denke, dass es richtig ist,
dass alle Mitgliedstaaten zunächst einmal ihre Hausaufgaben machen müssen. Der Kern dabei sind solide
Staatsfinanzen. Diese Koalition hat sich genau das auch
für Deutschland vorgenommen.
({7})
Der Präsident der Europäischen Kommission,
Barroso, hat geäußert: Ohne Solidarität gäbe es keine
Stabilität. - In dieser Woche fand der Besuch des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Buzek, statt,
der in unserer Fraktion mit uns diskutiert und deutlich
gemacht hat, dass Solidarität Verantwortung erfordert.
Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz ausdrücklich: Wir
begrüßen die Schritte, die Griechenland jetzt eingeleitet
hat.
Ich sage aber auch sehr deutlich, dass es wichtig ist,
dass Hilfen eben nicht „ins Schaufenster gestellt“ worden sind, sondern dass die Bundeskanzlerin und die
Bundesregierung in den Verhandlungen auf europäischer
Ebene deutlich gemacht haben, dass wir erwarten, dass
Griechenland eigene Anstrengungen unternimmt. Diese
Anstrengungen wollen wir unterstützen, und wir begrüßen sie auch.
({8})
Frau Schwall-Düren, entgegen Ihrer Analyse ist es
nämlich so, dass es durch die Art und Weise, in der die
Bundesregierung agiert hat, wieder zu mehr Stabilität
gekommen ist. Die Bundesrepublik Deutschland spielt
eine maßgebliche Rolle bei der Bewältigung der Krise.
Das ist wichtig. Deshalb hat die Bundeskanzlerin bei
dieser Verhandlungsstrategie ganz ausdrücklich unsere
Unterstützung. Ich sage auch, Frau Bundeskanzlerin:
Sollte am Ende ein Ergebnis stehen, bei dem der IWF
und damit auch die spezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten des IWF mit ins Boot geholt werden, dann findet das ausdrücklich die Unterstützung unserer Fraktion
und - ich glaube - auch der gesamten Koalition.
({9})
Abschließend, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich noch eine Bemerkung machen: Ich bin
davon überzeugt, dass über das hinaus, was jetzt besprochen worden ist, bei der Bewältigung der Finanz- und
Wirtschaftskrise auch europäisch gehandelt werden
muss. Wir als Koalition haben in dieser Woche eine bemerkenswerte Initiative auf den Weg gebracht und deutlich gemacht, dass diejenigen, die die Krise verursacht
haben, auch dafür geradestehen und an den Kosten beteiligt werden müssen.
Wir sind der Auffassung, dass es weiterer Initiativen
bedarf. Es muss auf europäischer Ebene auch über die
Frage der Produktaufsicht und Produktregulierung gesprochen werden. Da, wo wir europäisch handeln können, sollten wir das auch tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ziel ist eine
neue Verantwortungsethik in der Wirtschaft. Das wollen
wir. Denjenigen, die die Verantwortung tragen und die
Entscheidungsmöglichkeiten haben, muss klar sein, dass
sie auch das Risiko tragen und die Verantwortung übernehmen müssen. Das durchzusetzen, ist eine ganz wesentliche Aufgabe, die sich diese Koalition vorgenommen hat.
({10})
Wir werden uns dabei nicht auf Deutschland beschränken, sondern auch auf europäischer Ebene Initiativen ergreifen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Homburger, an Ihnen schätze ich am meisten, dass dieses Pult hochgefahren werden muss, wenn Sie vor mir
gesprochen haben. Das ist bei mir so selten der Fall.
({0})
Herr Gysi, wenn wir Ihnen damit eine besondere
Freude machen können, würde ich mich darum bemühen, dass wir das vor Beginn einer Rede von Ihnen prinzipiell so einführen.
Dann machen Sie das öfter.
({0})
Aber bitte ziehen Sie mir das nicht von der Redezeit ab.
Ich habe gehört, Frau Bundeskanzlerin, dass beim
EU-Gipfel die Verabschiedung eines Programms mit
dem Titel „Europa 2020 - eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ vorgesehen ist. Dann ist mir eingefallen, dass es seit dem
Jahre 2000 schon eine Lissabon-Strategie gab. Laut Lissabon-Strategie sollte die Europäische Union bis 2010 daran möchte ich erinnern - zum wettbewerbsfähigsten,
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der
Welt werden. Nun hat auch die EU-Kommission festgestellt, dass von diesen Zielen keines erreicht ist. Es waren mehr Arbeitsplätze und ein größerer sozialer Zusammenhalt versprochen. Davon kann keine Rede sein.
Dieser Zehnjahresplan ist gescheitert.
({1})
Nun kennen wir beide ja auch die Fünfjahrespläne aus
staatssozialistischen Ländern, die alle gescheitert sind.
({2})
Deshalb sage ich: Ihr Vorhaben, einen zweiten Zehnjahresplan zu starten, wird ebenso scheitern.
({3})
Nun sind in dem Programm einige konkrete Ziele
festgelegt - Sie haben sie genannt -: die Steigerung der
Ausgaben für Forschung und Entwicklung, mehr Ausgaben für Bildung, eine wirksamere Armutsbekämpfung,
eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent - diese Quote
liegt in Deutschland jetzt bei 69,4 Prozent, allerdings
einschließlich der gesamten prekären Beschäftigung -,
außerdem sind Energie- und Klimaprogramme vorgesehen.
Sie sagen jetzt aber, Frau Bundeskanzlerin: Deutschland wird weder bei der Höhe der Bildungsausgaben
noch bei der Armutsbekämpfung konkrete Ziele verfolgen. - Das lehnen Sie einfach ab. Gleichzeitig sagen Sie,
dass man sich auf Schwerpunkte konzentrieren muss.
Darf ich das so verstehen, dass Armutsbekämpfung
nicht Ihr Schwerpunkt ist? Es wird aber höchste Zeit,
dass wir in Deutschland Armut sehr wirksam bekämpfen.
({4})
Ich nenne Ihnen dazu einige Zahlen: In Deutschland
gibt es den größten Niedriglohnsektor aller Industriestaaten: Er umfasst ein Viertel der Beschäftigten. Hinzu
kommen die prekären Jobs: die 400-Euro-Jobs und andere Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse und die
Aufstockerinnen und Aufstocker, die eine Vollzeitbeschäftigung haben, aber so wenig verdienen, dass sie
zum Sozialamt geschickt werden müssen. Es ist indiskutabel, was wir diesbezüglich in Deutschland haben.
({5})
Der Niedriglohnsektor umfasst, wie gesagt, ein Viertel der Beschäftigten. Das betrifft 9 Millionen Menschen
in Deutschland. Als prekär Beschäftigte haben wir
5 Millionen in Teilzeit, 2,6 Millionen in Minijobs und
500 000 in Leiharbeit. Das sind insgesamt fast 7,7 Millionen Beschäftigte. 2,7 Millionen haben eine befristete
Beschäftigung. 2 Millionen unserer Kinder leben in Armut. Und dann sagen Sie, Armutsbekämpfung sei nicht
Ihr Schwerpunkt. Ich finde, das muss der Schwerpunkt
der Politik einer Bundesregierung werden.
({6})
Im Übrigen hat die Armut von heute später Folgen - Sie
kennen doch die Studie -: Es ist festgestellt worden, dass
die Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern in wenigen Jahren im Durchschnitt unter dem
Grundsicherungsniveau liegen werden, weil es jetzt so
viel prekäre Beschäftigung gibt.
Es ist festgestellt worden, dass wir in Deutschland im
Vergleich zu allen anderen Euro-Staaten die niedrigsten
Lohnstückkosten haben. Das wird durch Lohndumping
erreicht, was übrigens auch den Handel der anderen Länder deutlich erschwert.
Kommen wir zur Bildung. Im Vergleich zu den anderen EU-Ländern geben wir in diesem Bereich jährlich
40 Milliarden Euro zu wenig aus, Frau Bundeskanzlerin.
Wieso wollen Sie sich hier nicht auf Zahlen festlegen?
Wenn wir etwas brauchen, dann sind es höhere Ausgaben für Bildung, eine bessere Ausbildung und vor allen
Dingen endlich Chancengleichheit in der Bildung. Davon sind wir meilenweit entfernt.
({7})
Ich sage ganz deutlich, auch Ihnen von der FDP: Wir
sind mit unserem Schulsystem im 19. Jahrhundert stecken geblieben.
({8})
Wir haben 16 Bundesländer und 16 verschiedene Schulsysteme. Das finden Sie toll und nennen es Wettbewerb.
Ich sage Ihnen: Das ist eine Benachteiligung von Kindern je nach dem zufälligen Geburtsort. Das ist nicht
hinnehmbar.
({9})
- Sie können noch so viel herumbrüllen. - Ich möchte
im Unterschied zu Ihnen, dass wir endlich ein Top-Bildungssystem bekommen, und zwar von MecklenburgVorpommern bis Bayern. Ich möchte, dass alle Kinder
die gleiche Chance auf eine sehr gute Ausbildung haben,
auch das dritte Kind der alleinerziehenden Hartz-IVEmpfängerin, das Sie ausgrenzen.
({10})
Das ist der Punkt: Sie machen reine Elitebildung.
Wir müssen die soziale Ausgrenzung in der Bildung
überwinden. Insofern hätten Sie sich durchaus auf ein
konkretes Ziel einlassen sollen.
Was ist wirtschaftspolitisch vorgesehen? Wirtschaftspolitisch ist vorgesehen, mit der Lissabon-Strategie weiterzukommen: Flexibilisierung, Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung. Das alles hat uns in die
Krise geführt.
({11})
Sie ziehen daraus keine Schlussfolgerung, sondern machen einfach so weiter.
Spannend finde ich auch, wie Sie Wachstum erreichen wollen. Sie schlagen zwei Wege vor: erstens Ausstieg aus dem Konjunktur- und Wachstumsprogramm
und zweitens Schuldenabbau über strenges Sparen. Das
ist aufregend. Was passiert denn da? Wenn wir aus den
Konjunktur- und Wachstumsprogrammen aussteigen,
gibt es keine staatlichen Investitionen. Wenn es keine
staatlichen Investitionen gibt, gibt es weniger Konjunktur und weniger Wachstum. Wie Sie damit Wachstum
beschleunigen wollen, ist ein Geheimnis, das Sie unserer
Bevölkerung noch verraten müssen.
({12})
Wenn Sie bei den Renten, bei Hartz IV und den anderen Sozialleistungen sparen wollen, dann reduzieren Sie
die Kaufkraft. Wenn Sie die Kaufkraft reduzieren, wird
weniger eingekauft, und es werden weniger Dienstleistungen in Anspruch genommen. Dann gehen kleine und
mittlere Unternehmen pleite, und die Zahl der Arbeitslosen steigt. Dann haben Sie wieder höhere Ausgaben und
außerdem viel weniger Steuereinnahmen.
Die Unlogik ist nicht mehr zu bremsen.
({13})
Wenn Sie Wirtschaftswachstum wollen, dann brauchen
Sie Investitionen und mehr soziale Gerechtigkeit, also
genau das Gegenteil davon. Die gegenteiligen Programme sind schon alle gescheitert.
({14})
- Ja. - Ich sage Ihnen noch etwas: Die Reallöhne sind in
Deutschland - und zwar nur in Deutschland - im Vergleich zu allen anderen Industrieländern um 8 Prozent
gesunken. Glauben Sie, dass das unsere Wirtschaft vorangebracht hat? Überhaupt nicht. Im Gegenteil, es hat
viele kleine und mittlere Unternehmen ruiniert. Sie gehen einen völlig falschen Weg.
Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, fordern wir eine
grundlegende Überarbeitung der Strategie Europa 2020.
Es muss um die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bildung, Beschäftigung und sozialer Ausgleich gehen. An
diesen Zielen sollte Europa unbedingt festhalten und
endlich etwas in diese Richtung tun.
({15})
Jetzt komme ich zu Griechenland und damit auch zur
Euro-Zone. Ich kann mich ja noch daran erinnern - Herr
Bundestagspräsident, das wollte ich Ihnen auch gerne
einmal erzählen -, dass wir hier saßen und Schilder hatten - damals flogen wir aber noch nicht raus -, auf denen
„Euro - so nicht“ stand. „Euro - so nicht“ war eine kluge
Formulierung; wir haben nämlich nicht „Euro - nein“
gesagt, sondern wir haben gesagt: erst die politischen
und ökonomischen Voraussetzungen schaffen und dann
den Euro einführen. - Aber alle anderen waren ja
schlauer, und jetzt haben wir mit Griechenland genau
das Beispiel, dass es so nicht geht und dass es nicht ordentlich vereinbart war.
Ich habe ja nichts dagegen, dass Sie zu Recht darauf
hinweisen, dass die griechische Regierung eine Mitverantwortung trägt und dass sie in diesem Umfange selbstverständlich auch verantwortlich gemacht werden muss.
Aber jetzt sage ich Ihnen: Die wirklichen Gewinner der
Krise um Griechenland sind wieder die Spekulanten.
({16})
Hierzu würde ich gern erklären - das muss man auch
einmal den Leuten erklären -, was es mit einer Kreditausfallversicherung auf sich hat. Es gibt Leute, die einen
Kredit gewähren und sich dann für den Fall versichern,
dass sie den Kredit nicht zurückgezahlt bekommen; dann
bekommen sie etwas von der Versicherung. Dies finde
ich ja noch nachvollziehbar. Dann gibt es aber noch eine
zweite Gruppe - das muss man auch erklären -, die Folgendes macht: Die geben gar keinen Kredit, sondern
schließen mit der Versicherung eine Wette dergestalt ab,
dass sie sagen: Ich glaube, der Kredit wird nicht zurückgezahlt. - Wenn sie mit ihrem Wettangebot recht haben,
bekommen sie dafür Geld. Das ist die absurdeste Spekulation, die man sich vorstellen kann: ohne jede Wirtschaftsleistung, nichts steckt dahinter.
({17})
Dies wird jetzt forciert. Das wäre so, als könnte ein
Brandstifter bei einer Versicherung eine Wette abschließen, die besagt: Das Haus wird in Kürze brennen. Dann
zündet er es selber an und kriegt dafür 1 Million. Sagen
Sie mal, wo leben wir denn hier eigentlich?
({18})
- Wenn wir Glück haben, kriegt er neben dem Geld auch
noch Knast; aber da müssen wir schon sehr viel Glück
haben. Herr Kauder, nehmen Sie dazu doch einmal Stellung.
Leerverkäufe sind nichts anderes als eine Wette. Ich
sage: „Die Kurse fallen“, oder: „Die Kurse steigen“, und
dann bekomme ich Geld, wenn ich recht hatte. Sie hatten
die Leerverkäufe verboten. Warum, Herr Schäuble, haben Sie sie denn wieder erlaubt? Das war doch vernünftig. Jetzt haben Sie angekündigt, sie wieder zu verbieten.
Ja, wann denn? Machen Sie es doch endlich mal! Wir
müssen raus aus der Spekulation, wenn wir aus den Krisen raus wollen.
({19})
Wie könnte man Griechenland helfen? Sie verweigern
sich ja der Hilfe für Griechenland, was ich für völlig
falsch halte, weil es auch Europa und uns mit nach unten
zieht. Es gibt folgenden Weg: Wir müssen Griechenland
zinsgünstige Darlehen der EU anbieten. Machten wir
dies, wäre der Weg für die Spekulanten schon versperrt,
weil dann deren hohe Zinsen nicht mehr aufgehen würden. Dann müsste man einen Teil dieser Kredite auch gar
nicht mehr geben, weil die Spekulation beendet ist. Soweit man Kredite gibt, bekommt man das Geld mit Zinsen wieder zurück. Was soll denn daran eine Katastrophe
sein? Warum fällt es Ihnen so schwer, diesen Weg zu gehen, um so schnell wie möglich aus dieser spezifischen
Krise herauszukommen?
Dann haben Sie gesagt: Jetzt sollen endlich einmal
die Verantwortlichen der Banken, die ja das Ganze angeleiert haben, mit einer Bankenabgabe tatsächlich zur
Verantwortung gezogen werden. - Wir haben Ihnen hier
vorgeschlagen, den Weg von Obama zu gehen. Wenn Sie
den Weg von Obama gehen würden, hätten wir eine
Mehreinnahme von 9 Milliarden Euro. Aber das trauen
Sie sich ja hinten und vorne nicht. Sie machen so ein
kleines „Abgäbelchen“ und wollen gerade einmal
1 Milliarde einnehmen. Hinzu kommt, dass Sie diese
Abgabe auch noch von den Sparkassen und der genossenschaftlichen Raiffeisenbank verlangen, was eine Unverschämtheit ist; sie haben weder direkt noch indirekt
irgendetwas vom Staat erhalten, sie sind auch gar nicht
daran beteiligt. Nein, das müssen schon die Deutsche
Bank und die Commerzbank und die anderen Banken
bezahlen.
({20})
Aber ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Weg ist nicht einmal ein Neuntel dessen wert, was Obama diesbezüglich
vorgeschlagen hat.
Die Obama-Regierung macht übrigens noch etwas
- das haut mich ja schon fast um -: Sie hat jetzt bei
119 Managern
({21})
- ja, hören Sie mal genau zu - vom Versicherungskonzern AIG, von den Autobauern Chrysler und General
Motors die Vergütungen, also die normalen Einkünfte,
um 15 Prozent und die Sondervergütungen um ein Drittel gesenkt. Sie hätten ja nicht einmal den Mumm, daran
zu denken, Ackermanns Vergütung zu kürzen; lieber laden Sie ihn viermal zum Essen ein. Aber ich sage Ihnen:
Das andere ist der richtige Weg.
({22})
Nun weiß ich ja, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie
keine linke Regierung führen.
Herr Kollege.
Ich muss zum Ende kommen. Das ist sehr bedauerlich; ich mache es aber.
Insofern sind Sie nur sehr begrenzt zu vernünftiger
Politik fähig. Wenn wir Ihnen Obama-Politik vorschlagen, dann gehen wir doch schon sehr weit; wir nehmen
schon Rücksicht auf Ihre Situation. Obama ist nämlich
vieles, aber kein Linker.
Machen Sie es endlich: Helfen Sie in dieser Krise
ganz anders! Denken Sie an die Bekämpfung von Armut! Denken Sie endlich einmal an die Chancengleichheit im Bildungsbereich! Schaffen Sie mehr Beschäftigung! Organisieren Sie nicht die Wiederholung der
Krise! Leider sind Sie dabei.
Danke.
({0})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Agenda 2020, die heute im Rat besprochen
wird, ist eine wichtige Grundlage dafür, dass die europäischen Staaten im Wettbewerb mit anderen Ländern
vorankommen. Dabei ist Bildung ein zentrales Thema.
Länder, die rohstoffarm sind - davon gibt es viele in Europa -, die keine Bodenschätze haben, müssen dafür sorgen, dass vor allem junge Menschen etwas in den Köpfen haben. Deshalb ist diese Strategie genau richtig.
({0})
Herr Gysi, ich weiß, dass Sie meinen, zu allem und zu
jedem einen Beitrag abliefern zu müssen. Das ist Ihr gutes Recht. Sie sagen aber auch Dinge, die Sie entlarven,
die nicht in Ordnung sind. Sie stellen sich hier an das
Rednerpult und sagen, dass Sie für Chancengleichheit
im Bildungswesen sind; aber die Linke trägt in Berlin
die Mitverantwortung für eine der größten Unsinnigkeiten, für die Verlosung von Plätzen an den Gymnasien.
({1})
Ich kann nur sagen: Wer das Schicksal von jungen Menschen dem Los unterwirft, der hat jedes Recht verloren,
von Chancengleichheit im Bildungswesen zu sprechen.
({2})
Ich bin der Bundeskanzlerin außerordentlich dankbar,
dass sie darauf hingewiesen hat, dass Europa nur dann
mit seinen Strategien vorankommt, wenn sich Europa
- die Europäische Kommission und der Rat - auf zentrale, wichtige Punkte konzentriert. Wir haben manchmal den Eindruck, dass sich Europa darin verliert, mikrokosmisch kleine Detailfragen regeln zu wollen. Diese
Fragen können wir schon selber regeln. Stattdessen
brauchen wir die große Linie, die große Ansage. Frau
Bundeskanzlerin, deswegen ist es richtig, wenn Sie
heute im Rat dem Subsidiaritätsprinzip, auf das wir hier
im Deutschen Bundestag großen Wert legen, zur Geltung
verhelfen.
({3})
Ich unterstütze besonders, dass die Europäische
Union neben der Bildung bei einem anderen Thema Führung zeigen will - es steht in den Papieren zur
Agenda 2020 -: Wir müssen den Wettbewerb mit China
und Japan vor allem um die Vorreiterrolle bei der Elektromobilität aufnehmen.
({4})
Der Automobilbereich wird auch in Zukunft eine
Schlüsseltechnologie sein. Wir müssen doch wollen,
dass das Auto der Zukunft, das modernste Auto der
Welt, dass die Elektromobilität aus Europa kommt, nicht
aus Japan oder China. Deswegen ist es notwendig, dass
wir alle Anstrengungen unternehmen, hier voranzukommen.
({5})
Ein Blick in die Strategie Europa 2020 zeigt, dass
dort der richtige Weg beschrieben wird. Der Rat wird
heute Abend den Vorschlag der Europäischen Kommission verabschieden: Um voranzukommen - genau das ist
das Thema -, muss die Europäische Union nicht bestimmte Antriebe und Technologien vorschreiben. Mir
hat sehr gefallen, was im Text steht. Wir werden in Europa die gemeinsamen Standards für Elektromobilität
entwickeln und damit den Marktzugang in ganz Europa
öffnen. Das ist der richtige Weg, den Europa beschreiten
muss.
({6})
Gerade das Festsetzen der Standards wird für die Zukunft der Elektromobilität entscheidend sein. Wir müssen den Standard setzen; wir dürfen nicht zulassen, dass
er von anderen gesetzt wird. Wenn sich Europa auf Standards verständigt hat, muss es relativ schnell mit anderen
Ländern in der Welt, mit Japan und mit China, darüber
reden, wie einheitliche Standards erreicht werden können. Dafür hat Europa die Kompetenz. Ein einzelnes
Land kann das nicht erreichen.
Ein weiteres Thema, das in der EU-Strategie 2020
sehr deutlich angesprochen wird, ist das Thema Energie.
Energiesicherheit und Energieversorgung zu akzeptablem Preis werden ganz entscheidend für das Wirtschaftswachstum sein, das dieses Papier als Ziel enthält.
Zum einen geht es um die Sicherheit, über die notwendige Energie verfügen zu können; zum anderen muss das
zu einem wettbewerbsfähigen Preis möglich sein. Was
wir uns in der Koalition vorgenommen haben, nämlich
dieses Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Energien zu machen, wird auch in diesem Bericht zugrunde
gelegt.
Aber es geht beim Thema Energie immer auch darum,
klimapolitische Ziele zu erreichen. Deswegen kann ich
nur sagen: Wir wollen den Bereich der erneuerbaren
Energien ausbauen - das ist in dem Konzept richtig dargestellt -; wir wollen unsere Klimaziele erreichen - auch
das ist richtig -, und deswegen wird die Kernenergie
noch eine Zeit lang als Brückentechnologie eingesetzt
werden müssen.
({7})
Wer den Menschen etwas anderes erzählt, sagt ihnen etwas Falsches.
({8})
Deswegen werden wir über dieses Thema in der Koalition sprechen.
Selbstverständlich ist es ein Thema, dass wir in Europa Armut bekämpfen wollen.
({9})
Ich bin der Meinung, dass das Aufgabe der Nationalstaaten ist. Was ich überhaupt nicht verstehe, Herr Kollege
Gysi, ist Folgendes: Wenn wir, Bund und Kommunen, in
diesem Land Jahr für Jahr für die Grundsicherung, für
Hartz IV über 50 Milliarden Euro einsetzen, dann ist
dies Teil der Armutsbekämpfung. Deshalb kann es
doch nicht sein, dass wir, wenn wir Menschen finanziell
unterstützen und sie dadurch aus der Armut herausholen,
mit dem Satz konfrontiert werden: Je mehr Geld in Sozialpolitik investiert wird, desto stärker steigt die
Armut. - Einen größeren Unsinn habe ich noch nie gehört, Herr Gysi, um das einmal klar und deutlich zu sagen.
({10})
Frau Bundeskanzlerin, wir unterstützen Sie auch - die
Kollegin Homburger hat es gesagt - in Ihrem Bemühen,
die Stabilität in Europa zu bewahren. Von zentraler Bedeutung ist, dass die Menschen in unserem Land sich darauf verlassen können, dass das, was wir bei Einführung
des Euro gesagt haben, auch heute noch gilt. Der Euro,
war damals die Aussage, wird so stark und stabil sein
wie die D-Mark. Ich kann nur sagen: Wir haben in jüngster Zeit Entwicklungen erlebt, die sich so nicht wiederholen dürfen. Deshalb bin ich dankbar für die Aussagen
dieser Regierung. Es war nicht in Ordnung - und hat den
einen oder anderen in der Europäischen Union vielleicht
dazu bewegt, Dinge zu machen, die nicht hätten gemacht
werden dürfen -, dass ausschließlich aufgrund einer
politischen Entscheidung der rot-grünen Regierung im
Jahr 2004 die instabilen Verhältnisse im deutschen Bundeshaushalt nicht zu einer Rüge durch Europa geführt
haben.
({11})
Man hat mit einer politischen Entscheidung gesagt: Wir
lassen uns von Europa in Sachen Stabilität nichts vorschreiben. - So etwas darf es nicht noch einmal geben.
({12})
Ich kann mich noch sehr genau an die Aussagen von
Herrn Eichel und dem damaligen Bundeskanzler
Gerhard Schröder erinnern. Deswegen ist es richtig, dass
wir in Europa formulieren: Wir wollen eine unabhängige
Zentralbank. Wir wollen die Stabilität des Euros. Wer in
die Europäische Gemeinschaft und in die Euro-Zone
aufgenommen werden will, muss die Voraussetzungen
dafür zu 100 Prozent erfüllen.
Jetzt zum Fall Griechenland. Allein die Tatsache,
dass die Bundesregierung klar und deutlich gesagt hat,
Griechenland müsse die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es wieder zu einer wirtschaftlichen Gesundung
kommt, hat dazu geführt, dass in Griechenland enorme
Sparanstrengungen unternommen wurden. Dies erkennen wir ausdrücklich an.
({13})
Dieser Weg muss weitergegangen werden. Wir unterstützen es, dass, solange Griechenland nicht konkret nach finanzieller Unterstützung gefragt hat, auch keine Antwort
darauf gegeben werden muss. Wir sollten die Fragen beantworten, die gestellt werden, nicht die, die möglicherweise nie gestellt werden.
({14})
Wenn Griechenland in eine besonders schwierige Lage
kommt, dann kann als Ultima Ratio mit dem Internationalen Währungsfonds und mit bilateralen Hilfen Unterstützung angeboten werden. So weit sind wir aber noch
gar nicht. Deswegen rate ich uns allen dringend, das
Thema nicht jeden Tag in Interviews zu befeuern, solange es nicht ansteht.
({15})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben unsere volle Unterstützung.
Die Frage ist: Was soll in Zukunft für den Fall geschehen, dass Probleme auftauchen? Ich glaube, dass wir
hierüber sehr gewissenhaft nachdenken müssen. Es ist
sicher richtig, ein Instrument für die Probleme zu schaf3106
fen, die man beim Start der Euro-Gemeinschaft noch
nicht gesehen hat, um in besonderen Fällen zu helfen.
Mit der Schaffung eines solchen Instruments sind wir
einverstanden. Aber eines möchte ich ausdrücklich sagen, damit dies bedacht wird, wenn darüber diskutiert
wird: Wir möchten nicht, dass als Lösung solcher Probleme das Instrument eines Finanzausgleichs auf europäischer Ebene geschaffen wird. Das wollen wir auf keinen Fall.
({16})
Dies würde nicht zu einer Stärkung der Stabilität führen.
Vielmehr würden alle nach dem Motto handeln: Wir
können machen, was wir wollen. Einer wird uns schon
helfen. - Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen wir
uns heute.
Ich komme zum Schluss. Frau Schwall-Düren, Sie
haben gesagt - das unterstütze ich ausdrücklich -: Wir
sehen in Europa eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sehen
in Europa unsere Zukunft. Wir wissen, dass Europa
schon Großes geleistet hat. Allein die Tatsache, dass es
auf europäischem Boden keinen Krieg mehr gibt, ist
schon einen Dank an dieses gemeinsame Europa wert.
({17})
Jetzt geht es darum, diesem Europa die Kraft zu geben,
in wirtschaftlicher, kultureller und auch sozialer Hinsicht
die notwendigen Veränderungen zu gestalten. Dabei
kommt es darauf an, dass zunächst einmal die Nationalstaaten ihre Hausaufgaben machen und dass Europa die
Dinge regelt, die ein Einzelner nicht leisten kann.
Wenn dieser Grundsatz - Europa ist für die großen
Dinge zuständig, alle anderen Dinge bleiben in der Verantwortung der Nationalstaaten - weiter Maßstab sein
wird, dann hat dieses Europa eine gute Zukunft.
({18})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Gregor Gysi.
({0})
- Was stöhnen Sie denn gleich? Sie wissen doch noch
gar nicht, was ich sagen werde.
Herr Kauder, zunächst einmal möchte ich Ihnen widersprechen. Sie haben behauptet, den größten Unsinn in
Ihrem Leben hätten Sie von mir gehört. Das glaube ich
Ihnen nicht. Sie müssen in Ihrer Partei schon größeren
Unsinn gehört haben. Darauf würde ich sogar eine Wette
abschließen.
({0})
Jetzt zum Ernst. Sie haben etwas Falsches über die sogenannte Losentscheidung bei der Vergabe von Gymnasialplätzen in Berlin gesagt, das ich richtig stellen
möchte. Die Situation ist eine völlig andere. Alle Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, bekommen in
Berlin auch einen Platz an einem Gymnasium. Wir haben jedoch das Problem, dass bestimmte Schulen im Gegensatz zu anderen Schulen überlaufen sind. Deshalb
können nicht alle Schülerinnen und Schüler das Gymnasium besuchen, das sie gern besuchen wollen. Der Senat
hat sich für ein Losverfahren entschieden und gesagt:
Wir mischen uns nicht ein. Dann gibt es keine Bestechung. Dann gibt es keine Beziehungsfragen. ({1})
- Vielleicht werden wir es korrigieren. Dann wird es
aber schwieriger.
({2})
- Da gibt es gar keinen Grund, zu lachen. Hören Sie
doch erst einmal zu!
Wenn ein Schüler Pech beim Losverfahren hat, dann
geht er selbstverständlich an ein anderes Gymnasium
und bekommt dort seine gymnasiale Ausbildung und
kann das Abitur machen. Das müssen Sie bitte immer
dazusagen. Das machen Sie aber nicht.
Jetzt werden wir vielleicht wegen Ihrer Kritik einen
anderen Weg gehen und Kommissionen bilden. Ich sage
Ihnen aber, dass dann die Leute kommen und sagen werden: Wieso ist gerade meine Tochter nicht dabei? Warum
die anderen? Nach welchen Kriterien sind Sie vorgegangen? - Ich weiß gar nicht, ob das wirklich gerechter ist.
Bitte sagen Sie das aber beim nächsten Mal dazu und erwecken Sie nicht den Eindruck, als ob Schülerinnen und
Schüler, die für das Gymnasium geeignet sind, in Berlin
keinen Platz an einem Gymnasium bekommen; denn das
ist nicht der Fall. Das Los entscheidet nur, ob sie zu dieser Schule gehen oder eventuell zu einer anderen Schule
gehen müssen. Das ist in Berlin durchaus machbar.
Ich wäre auch froh, wenn alle Schüler die Schule besuchen könnten, die sie besuchen wollen. Sie wissen
aber, dass wir noch nicht so weit sind, weil Sie zu wenig
Geld für Bildung zur Verfügung stellen.
({3})
Herr Kollege Kauder, bitte.
Herr Kollege Gysi, es ist bezeichnend für Ihre Einlassung zu diesem Thema, dass Sie nicht darüber sprechen,
was die Ursache für dieses nicht akzeptable Losverfahren ist. Das ist nämlich eine Qualitätsfrage. Wenn die
Schulen in Berlin die Qualität hätten, die sie eigentlich
haben müssten, dann käme es überhaupt nicht zu diesem
Ausleseverfahren. Darüber sollten Sie einmal reden.
({0})
Sie liefern die Qualität nicht ab.
({1})
Herr Kollege Gysi, im Rahmen der Föderalismusreform I haben wir klare Verabredungen getroffen. Dabei
ist gesagt worden: Der Bund soll sich nicht um die Bildung kümmern. Das machen die Länder. - Deswegen
haben die Länder diese Aufgabe zu erfüllen, Herr Kollege Gysi.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
jetzt gelernt, dass in Baden-Württemberg alle Schülerinnen und Schüler genau die Schule besuchen, die sie besuchen wollen.
({0})
Ich habe ein Weiteres gelernt, lieber Herr Kauder.
Wenn Sie über die Föderalismusreform I reden, dann
sollten Sie den Mut haben, zu sagen: Als wir damals das
Kooperationsverbot bei der Bildung in das Grundgesetz
geschrieben haben, haben wir einen großen Fehler gemacht. Das würden wir heute in dieser Form nicht wieder machen. - Das wäre ehrlich.
({1})
Frau Bundeskanzlerin, die Bild-Zeitung hat Sie in ihrer heutigen Ausgabe als Bismarck abgebildet. Nun kann
ich Sie nicht dafür in Haftung nehmen, wie andere Sie
porträtieren. Sie haben aber mit Ihrer Regierungserklärung den ernsthaften Versuch unternommen, dieses Porträt argumentativ zu unterfüttern. Da sage ich Ihnen:
Bismarck steht für den organisierten Nationalstaat. Das
gemeinsame Europa war die Überwindung genau dieses
Gedankens des Nationalstaats Bismarck’scher Prägung.
Deswegen sollten Sie als Vorsitzende der Partei von
Konrad Adenauer und Helmut Kohl die Skizzierung als
Bismarck als Kritik und nicht als Ansporn für Ihre Politik nehmen.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Gysi?
Bitte.
Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, bevor ich meine Frage
stelle, wirklich allerbeste Genesung wünschen. Wir alle
haben Ihre Erkrankung mitbekommen, und ich glaube,
das wünschen Ihnen alle hier.
({0})
Sie sind jetzt zwar beim Thema Europa; aber ich habe
mich schon zur Zwischenfrage gemeldet, als Sie beim
Thema Bildung waren. Ich habe dazu eine Frage: Können Sie Herrn Kauder vielleicht einmal erklären, wie
groß der Anteil von Kindern, die ein Abitur machen, in
Berlin ist und wie groß der Anteil zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg ist? Vielleicht können Sie
ihm noch erklären, warum der Anteil in Bayern und Baden-Württemberg so viel kleiner als in Berlin ist.
Lieber Herr Kollege Gysi, wir sind hier - das verstehe
ich durchaus als Antwort auf Ihre Frage - an einem der
Punkte der Regierungserklärung von Frau Merkel. Was
ist der Grund, warum Sie, Frau Merkel, es verweigern,
sich zusammen mit den Ministerpräsidenten in Europa
auf quantifizierte und überprüfbare Bildungsziele zu einigen?
({0})
Der Grund ist relativ einfach: weil Sie sich mit Ihrer auf
Selektion, das heißt auf Ausschluss von Bildungschancen beruhenden Bildungspolitik nicht dem europäischen
Vergleich, zum Beispiel mit Finnland - da muss man gar
nicht nach Berlin schauen - und anderen Ländern, stellen wollen. Das ist der Grund, warum Sie an dieser Stelle
die EU-Strategie 2020 blockieren.
({1})
Das ist auch der Grund, warum die Bild-Zeitung zu
Recht dieses Bismarck-Bild von Ihnen gezeichnet hat.
Es war jahrelang gute Tradition, dass die Bundesrepublik Deutschland in Europa eine antreibende, eine gestaltende, eine vorwärtstreibende, Europa stärkende
Rolle spielte. Was tun Sie im Zusammenhang mit dieser
Ratssitzung? Sie sind es, die dafür gesorgt hat, dass beispielsweise die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit Island auf Eis gelegt wird. Warum eigentlich? Weil
Island bilaterale Probleme mit den Niederlanden und
Großbritannien hat?
({2})
Das kann wohl für Europa und für Deutschland kein Argument sein.
({3})
Sie sind es, die quantifizierte Bildungsziele in dieser
Strategie verweigert.
Sie haben hier explizit erklärt: Die Bundesrepublik
Deutschland ist dagegen, das Ziel der Armutsbekämpfung zum Bestandteil einer gemeinsamen europäischen
Strategie zu machen. Ich sage Ihnen: Da kommen wir
genau an den Punkt, warum dieses Europa zurzeit in einer existenziellen Krise ist, einer Krise, die weit über das
hinausgeht, was wir im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Verfassungsvertrag erlebt haben. Was passiert denn in Griechenland? Da verbrennen
Leute, die sich gegen diese Sparpolitik wehren, inzwischen die europäische Fahne. Das ist ungerecht gegenüber Europa; da sind wir wahrscheinlich einer Meinung.
Besser wäre es, wenn diejenigen die Fahne der griechischen Konservativen verbrennen würden, weil die der
griechischen Bevölkerung die Suppe eingebrockt haben.
({4})
- Der Ministerpräsident hieß Karamanlis. Er war Mitglied Ihrer Schwesterpartei, Herr Kauder. Das müssen
Sie schon aushalten.
({5})
Aber dahinter steckt doch ein viel ernsteres Problem. Ein
Europa, das nach außen und gegenüber den Menschen in
Europa den Eindruck erweckt, man kümmere sich um alles Mögliche, zum Beispiel um Stabilitätskriterien, aber
nicht begreift, dass die Überwindung von Armut ein gemeinsames Ziel ist, muss sich doch nicht wundern, wenn
die Akzeptanz für dieses Europa mehr und mehr in den
Keller geht.
({6})
Bei dem, was in den letzten Wochen und Monaten aus
Ihren Reihen zur griechischen Krise zum Besten gegeben worden ist, frage ich mich natürlich: Sind wir denn
eigentlich selber so weit von griechischen Verhältnissen entfernt? Ist es nicht so, dass die Bundesrepublik
Deutschland zur Erreichung des Maastricht-Stabilitätskriteriums ein Jahr länger Frist von der EU-Kommission
bekommen hat als Griechenland?
({7})
Ist es nicht so - ich schaue zu den Kolleginnen und Kollegen von den Liberalen -, dass zum Beispiel in Griechenland gut verdienende Ärzte gerade einmal
10 000 Euro versteuern, und das zu einem maximalen
Steuersatz von 40 Prozent. Da muss Ihnen von der FDP
doch das Herz aufgehen.
({8})
Sie fordern doch für Deutschland genau die Verhältnisse,
die Sie in Griechenland kritisieren. Ich warte jetzt nur
noch auf den Vorschlag aus Ihren Reihen, wir könnten
doch Sylt und Helgoland verkaufen, um Ihre Steuerreform zu finanzieren. Auf diesem Niveau lagen Ihre Vorschläge zur Behebung der Krise in Griechenland.
({9})
Nun will ich gerne konzedieren, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie sich das nicht zu eigen gemacht haben.
Aber auch Ihnen, Frau Merkel, kann ich den Vorwurf
nicht ersparen, dass Sie die Stammtischmentalität, die
sich da ausgetobt hat, mit Ihren Äußerungen verstärkt
und gestützt haben.
({10})
Schlimmer noch: Sie haben damit die Krise in Griechenland verschärft.
({11})
- Nein, das ist eine Tatsache. Es war die deutsche Bundeskanzlerin, die vorgeschlagen hat, die EU-Verträge so
zu ändern, dass man ein Land wie Griechenland auch hinausschmeißen könnte. - Sie haben die Reaktion auf den
internationalen Finanzmärkten sehen können: Während
Deutschland für Anleihen heute nur eine Rendite von
3 Prozent bieten muss, muss Griechenland 6,5 Prozent,
also mehr als das Doppelte, zahlen. Ihre Äußerungen haben den Kurs nach oben getrieben.
({12})
Jerzy Buzek hat in den Fraktionen gesagt, in Europa gehörten Verantwortung und Solidarität zusammen. Dazu
sage ich Ihnen: Mit vorsätzlichen, leichtfertigen Äußerungen die Kreditbedingungen für Griechenland zu verschlechtern, das ist weder verantwortlich noch solidarisch. Es ist das Gegenteil einer vernünftigen
europäischen Politik.
({13})
Übrigens, niemand aus dem Oppositionslager hat gefordert, Griechenland mit Steuergeldern zu unterstützen.
({14})
Wir haben ausschließlich gesagt, man müsse Griechenland über Euro-Bonds die Möglichkeit geben, sich auf
dem Kreditmarkt mit dem notwendigen Geld zu versorgen.
({15})
Das tun wir übrigens gegenüber Osteuropa, gegenüber
Lettland und Ungarn, genauso. Das ist nichts Neues.
Was Sie getan haben, ist schlicht und ergreifend, sich der
selbstverständlichen Solidarität gegenüber Griechenland zu entziehen.
({16})
Das ist kurzsichtig.
Wir haben übrigens lange von den überschießenden
Binnenmarktentwicklungen in Spanien, Portugal und
Griechenland profitiert. Auch das ist ein Teil der Wahrheit. Wenn wir weiterhin in dieser Form exportieren wollen, dann hat die Volkswirtschaft der Bundesrepublik
Deutschland ein massives Interesse daran, dass die Binnennachfrage im Süden der EU nicht völlig zusammenbricht. Es ist zwar falsch, uns unsere Exportstärke vorzuwerfen; da stimme ich der Kanzlerin zu. Aber es ist
genauso falsch, dazu beizutragen, die Märkte, auf die
wir exportieren können, mit dieser Form unsolidarischen
Verhaltens zu ruinieren. Auch das ist ökonomisch kurzsichtig.
({17})
Es ist schon bezeichnend, dass der Einzige, der in diesem Kabinett noch den Mut hat, zu Europa zu stehen,
der Bundesfinanzminister ist. Man kann über Wolfgang
Schäubles Vorschlag eines EWF lange streiten; aber eines bleibt wahr und Herr Schäubles richtiger Gedanke,
Frau Bundeskanzlerin, ist doch: Europa muss seine Probleme selber lösen. Europa kann sie nicht an Washington
oder an den IWF delegieren. Deswegen ist Ihr Vorschlag
falsch.
({18})
Dieser Tage wird Helmut Kohl 80. Wir alle wünschen ihm alles Gute. Die meiste Zeit meines Lebens
habe ich politisch in Opposition zu ihm gestanden,
({19})
aber eines, meine Damen und Herren, würde ich Helmut
Kohl immer bescheinigen: Helmut Kohl war ein großer
Europäer. Er hat selbst im Jubel der deutschen Einheit
daran festgehalten, dass es Deutschland nur in einem
starken, gemeinsamen Europa geben kann. Das war der
Grund, warum er gesagt hat: Wir müssen Deutschland in
das gemeinsame Europa einbinden. Das Instrument dafür war die Einführung des Euro. Das war für ihn - ich
zitiere - „eine Frage von Krieg und Frieden“. Er hatte
recht. Ich sage Ihnen: Zentrale Probleme dieses gemeinsamen Europas müssen künftig europäisch gelöst werden. Das können Sie nicht an internationale Finanzinstitutionen delegieren. Wenn Sie das tun, liebe Frau
Merkel, dann tun Sie nur eins: sich aus Wahlkampfgründen einer richtigen, europäischen Lösung verschließen.
Damit treten Sie das Erbe Helmut Kohls mit Füßen und
schaden deutschen Interessen.
({20})
Das Wort hat nun Kollege Michael Link für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Man startet mit der Regierungserklärung bei Europa und landet in
der Berliner Landespolitik.
({0})
Daran wird zumindest eines deutlich: Die von der christlich-liberalen Koalition getragene Bundesregierung betreibt europäische Politik, insbesondere Währungspolitik, nicht als Roulette, Lotto oder andere Dinge. Wir
stellen fest: Sie brauchen, um Ihre Berliner Schulprobleme zu lösen - in Ihrer Kurzintervention haben Sie
selbst entlarvend gesagt: um zum Beispiel Bestechung
zu verhindern -, Instrumente wie Lotto und Roulette.
Wir wollen bei der Währung ganz bewusst keine Risiken
eingehen, um nicht mit das Wichtigste, was wir durch
die europäische Einigung erreicht haben, nämlich einen
stabilen und harten Euro, zu gefährden. Deshalb unterstützt die FDP-Fraktion den Kurs der Bundesregierung
auf das Entschiedenste.
({1})
In unserer Generation wird entschieden, ob die Wirtschafts- und Währungsunion ein Erfolg bleibt oder ob
sie daran zugrunde geht, dass einige Staaten über einen
längeren Zeitraum weit über ihre Verhältnisse leben, in
Bezug auf ihre Wirtschaftsleistung immer gewaltigere
Defizite aufbauen und sich dann, wenn es nicht mehr
weitergeht, hilfesuchend an Dritte wenden. Das kann so
nicht funktionieren. Solidarität braucht und setzt Verantwortung voraus.
Es geht nicht darum: Wer ist der beste Europäer,
sprich: wer ist am solidarischsten, wer hilft am schnellsten? Das ist genau der falsche Reflex. Deshalb begrüßen
wir auch in diesem Punkt das, was wir heute Morgen
von der Bundeskanzlerin gehört haben. Aus unserer
Sicht waren das Worte, die genau in die richtige Richtung gehen, weil sie zeigen, dass wir sehr wohl im Extremfall als Ultima Ratio über die erwähnten Instrumente - IWF und notfalls auch bilaterale Hilfen - helfen
werden. Frau Kollegin Schwall-Düren, damit wollen wir
Stabilität, Ruhe und Sicherheit in die Märkte hineinbringen. Sie haben die Financial Times Deutschland hochgehalten. Wir haben Respekt vor der Pressefreiheit. Ich
kann nur sagen: Meines Erachtens ist der Kurs, den Sie
vorschlagen, sowohl für den Euro als auch für die
Märkte riskant.
({2})
Wir haben in der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin gehört, dass wir darauf reagieren müssen,
wenn die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes unterlaufen werden. An unsere gemeinsamen
Kriterien müssen wir in der Tat noch einmal heran.
Wahrscheinlich wird es ohne eine Überarbeitung und
Präzisierung unserer Kriterien nicht gehen. Bei diesem
Prozess müssen wir aber aufpassen - Rainer Brüderle
hat es gesagt -, dass wir nicht in einen europäischen Finanzausgleich hineinkommen. Ein europäischer Finanzausgleich wäre genau der falsche Weg. Wir brauchen
Michael Link ({3})
stattdessen Wege, die den Ländern, die sich in einer problematischen Situation befinden, helfen, ohne die Stabilität der Währung aufzuweichen. Ich glaube, mit den
Vorschlägen, die jetzt gemacht worden sind, sind wir auf
einem guten Weg.
Wenn wir allen Vorschlägen folgen würden, die Sie,
Kollege Gysi, hier gemacht haben, die durch einige Ausführungen des Kollegen Trittin ergänzt wurden, bei denen ich mich gefragt habe, ob er auch die Historie der
griechischen Kreditwürdigkeit studiert hat, dann kämen
wir schnell in eine Situation, in der der Euro die Stabilität hätte wie am Schluss die Ostmark.
({4})
Vom Kollegen Trittin ist Island angesprochen worden. Ich vermute, dieses Thema wird auch später noch
eine Rolle spielen; denn wir haben mehrere Anträge
dazu vorliegen. Kollege Trittin, Sie haben gesagt, die
Kanzlerin würde sich wie Bismarck verhalten. Ich will
Ihre Aufmerksamkeit jetzt einmal ganz bewusst auf einen anderen Aspekt lenken, weil Island ein sehr schönes
Beispiel ist. Im Fall Island handeln wir, wie ich finde,
eben nicht genau wie Bismarck - nach dem Motto: Wir
entscheiden und alle anderen müssen folgen -, sondern
wir haben uns als Bundestag entschieden - auch im
Lichte der neuen Begleitgesetze und der Entscheidung
Karlsruhes -, diesen Prozess in aller Ruhe durchzuführen.
({5})
Erweiterungen funktionieren für uns nicht auf Knopfdruck. Erweiterung ist ein Prozess - die FDP-Fraktion
steht zur Fortsetzung des Erweiterungsprozesses -, der
im Einzelfall kontrolliert, mit genauer Begleitung und
vor allem unter parlamentarischer Kontrolle erfolgen
muss. Dies verbietet es, diesen Prozess übers Knie zu
brechen.
({6})
Deshalb werden wir Ihren Anträgen, die Sie heute
dazu vorgelegt haben, nicht zustimmen. Wir sind für das
ganz normale parlamentarische Verfahren. Wir werden
das noch einmal ausführlich im Bundestag behandeln. In
der nächsten Sitzungswoche - wahrscheinlich sogar mit
einer großen Debatte während der Kernzeit - werden wir
uns des Themas Island noch einmal ganz besonders annehmen. Im Übrigen steht dieses Thema nicht auf der
Tagesordnung des Europäischen Rates. Auch deshalb
wäre es falsch, schon heute darüber abzustimmen. Bei
Erweiterungsfragen ist genauso wie bei Währungsfragen
nicht die Schnelligkeit entscheidend. Nicht derjenige,
der schnell hilft, ist der beste Europäer. Gründlichkeit ist
aus unserer Sicht ganz wichtig, um den Prozess der Erweiterung auch weiterhin rechtfertigen zu können.
({7})
Für die FDP-Fraktion sind Verträge und Vertragstreue ein hohes Gut.
({8})
Das gilt aus unserer Sicht für alle Bereiche der europäischen Politik. Das gilt für Beitrittsverhandlungen. Ich
habe es erwähnt: Das gilt für Island, aber auch für alle
anderen Fälle. Für uns gilt: Pacta sunt servanda. Das gilt
für den Verfassungsvertrag und die strikten Regeln des
Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die wir, wo nötig, ergänzen und überarbeiten müssen. Das gilt für uns vor allem für den harten Euro. Deshalb gilt das auch für die
Unterstützung des hier vorgestellten Kurses der Bundesregierung beim Europäischen Rat.
Kolleginnen und Kollegen, noch ein Wort an uns
selbst: Das gilt auch für die neue Begleitgesetzgebung.
Das, was wir in der nächsten Sitzungswoche, aber auch
schon heute aufgrund der Anträge der Kollegen von der
Opposition bezogen auf Island machen, ist der erste Fall
- das hört sich jetzt technisch an - einer Stellungnahme
nach § 10 EUZBBG, dem Begleitgesetz, das die Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bundesregierung regelt. Das ist der erste Fall, und wir müssen uns sehr viel
Zeit nehmen, um das genau durchzusprechen. Wir erinnern uns selbst, aber auch die Bundesregierung daran,
dass die Zeiten, in denen Europapolitik quasi an die
Bundesregierung delegiert wurde, vorbei sind. Das
nimmt uns in die Pflicht und die Bundesregierung genauso.
({9})
Wir wissen aber auch - deshalb waren wir über die
klaren Worte in der heutigen Regierungserklärung froh -,
dass die deutschen und die europäischen Interessen bei
der Bundesregierung auf der Tagung des Europäischen
Rates heute und morgen in guter Hand sind. Wir wünschen erfolgreiche Verhandlungen.
({10})
Das Wort hat nun Axel Schäfer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin und die
Positionierung der Koalitionsfraktionen zu dieser so
wichtigen europapolitischen Frage in dieser Stunde kann
man mit zwei Worten überschreiben: unberechenbar und
unglaubwürdig.
„Unberechenbar“ ist in diesem Zusammenhang keine
Erfindung der SPD, sondern das können Sie jeden Tag in
Ihnen nahestehenden Zeitungen lesen, von FAZ bis Financial Times, weil sich täglich die Position der BundesAxel Schäfer ({0})
regierung, der Kanzlerin zu zentralen europäischen Fragen, wie jetzt zur Hilfe für Griechenland, ändert.
Tagtäglich ändert sich das.
({1})
Das ist alles andere als eine verlässliche Europapolitik.
({2})
Mal gibt man Unterstützung, mal ist man dagegen. Man
ist für einen europäischen Währungsfonds, aber eigentlich doch nicht. Jetzt geht es um Maßnahmen über den
IWF. Wenn sich die Fraktionsvorsitzenden einmal anschauen, was gestern in dem Entwurf zur Regierungserklärung stand und was heute erklärt worden ist, dann sehen sie, dass es selbst da Unterschiede gibt. So schnell
ändern sich Positionen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre ja schon genug, Sie für diese Europapolitik zu kritisieren. Es geht
hier aber auch um die deutsche Rolle.
({4})
Durch dieses Wackeln, Schweigen oder auch zum Teil
Hinterherlaufen gibt es keine deutsche Führungsposition
in Europa. Es gibt keine deutschen Vorstellungen, für die
man wirbt, sondern man wartet, wechselt oder läuft Positionen hinterher. Genau das darf Deutschland als verantwortungsvolles Land in Europa nicht machen.
({5})
Warum ist das alles unglaubwürdig? Die Kanzlerin
hat heute ermahnt - ich zitiere aus dem Gedächtnis, aber
fast wörtlich -, dass wir über die Themen, die auch beim
Europäischen Rat anstehen, mehr diskutieren müssen.
Was ist die Praxis?
({6})
Wir haben gestern im Europaausschuss erlebt, dass ein
zentrales Thema, nämlich die Strategie EU 2020, für das
die SPD Vorarbeiten geleistet hat und sich für die Diskussion positioniert hat, abgesetzt worden ist. Das heißt,
die Kanzlerin fährt jetzt zum Gipfel, ohne dass es eine
abgestimmte Position gibt, ohne dass der Bundestag
grundlegend darüber diskutiert hat. Das fehlt, und das
haben Sie verhindert.
({7})
Es geht noch weiter. Kollege Link hat natürlich völlig
recht,
({8})
wenn er sagt, dass wir die Konsequenzen aus dem Lissabon-Vertrag und dem Lissabon-Urteil ernst nehmen
müssen. Ich zeige Ihnen konkret, wie ernst sie genommen werden.
Erstes Beispiel: europäische Bürgerinitiative. Es ist
ein zentrales Anliegen Deutschlands und dieses Hauses
insgesamt, es Bürgerinnen und Bürgern möglich zu machen, sich durch Unterschriften für ein europäisches Projekt zu engagieren. Das muss dann zu einem Gesetzesakt, zu einem Vorschlag der Kommission führen. Dazu
ist weder von der Bundesregierung noch von einer der
sie tragenden Fraktionen etwas gesagt worden, weder
von CDU/CSU noch von FDP. Dort herrscht nur lautes
Schweigen zu Europa.
Zweites Beispiel: Europäischer Auswärtiger Dienst.
Dazu gibt es Vorschläge und Positionen der SPD, aber
von Ihnen ist kein Vorschlag gemacht worden, wie die
Bundesregierung positioniert werden soll.
Drittes Beispiel: Island. Dieses Beispiel ist besonders
schön; denn da wird die Arbeitsteilung der Verhinderung
einer Positionierung deutlich. Die einen, nämlich die
Bundesregierung, sagen, man müsse auf den Bundestag
warten, und die anderen, die Koalitionsfraktionen im
Bundestag, erweisen sich als unfähig, sich in ihren Arbeitsgruppen abzustimmen, um rechtzeitig eine Positionierung zu Island zu erreichen.
({9})
Es wäre jetzt noch möglich, eine Positionierung rechtzeitig zu erreichen. Bis zur letzten Woche war von der spanischen Ratspräsidentschaft angekündigt worden - der
Brief vom 18. März liegt vor -, das zu machen. Das ist
nicht gemacht worden. Wir sind jetzt in der Situation,
dass wir nicht wissen, auf welchen Wegen bestimmte
Entscheidungen, Vorentscheidungen oder Abstimmungen getroffen werden, ohne dass der Bundestag durch
eine Debatte und einen Beschluss Einvernehmen herstellt. Wir wollten das mit gutem Willen machen. Dieser
gute Wille hat bei Ihnen im Monat März gefehlt. Das
muss hier offen kritisiert werden.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier geht es um die
Frage: Sind wir als Bundestag, selbstverpflichtend über
die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg, willens und in
der Lage, tatsächlich europäische Politik zu gestalten?
Das, was ich zurzeit von den geschätzten Kolleginnen
und Kollegen der Regierungskoalition erlebe, ist mutlos.
Es ist auch manchmal ratlos. Aber am Ende kann es auch
dazu führen, dass man rückgratlos wird, wenn man all
das, was man vorher zur Stärkung der parlamentarischen
Rechte vereinbart hat, hier nicht wahrnimmt.
Wir werden unsere Oppositionsrolle so wahrnehmen,
dass wir Punkt für Punkt bei allen wichtigen europäischen Fragen die Diskussion im EU-Ausschuss, möglichst in allen Ausschüssen und im Plenum führen, damit
die Europäisierung des Bundestages gelingt. Dafür
braucht man nicht nur Überzeugung, sondern auch Gestaltungswillen. Der Gestaltungswille fehlt auf der rechten Seite dieses Hauses.
({11})
Axel Schäfer ({12})
Dass Sie anders können, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben Sie an zwei Stellen gezeigt:
Sie haben den Mut gehabt - es gehört zu einer fairen
und ehrlichen Debatte, auch das zu sagen -, dafür zu sorgen, dass der Deutsche Bundestag - das wurde auf Antrag der SPD-Fraktion beschlossen und vom Bündnis 90/
Die Grünen, von der Linken, der FDP und der CDU/
CSU unterstützt - den deutschen Kommissar Günther
Oettinger nach seiner Benennung eingeladen hat und wir
ihn befragt haben. Das war ein historisches Novum für
das Parlament. Die Regierenden sollten sich schon einmal Gedanken machen, ob sie auch Minister in Zukunft
vielleicht nicht nur ernennen, sondern ob sie solche Anlässe auch parlamentarisch nutzen. Minister könnten
sich hier im Parlament den Fragen der Abgeordneten
stellen und gewissermaßen auf den Prüfstand gestellt
werden. Die Befragung des deutschen Kommissars
Oettinger haben wir im Bundestag, wie gesagt, gemeinsam beschlossen. Das war ein guter Weg.
Außerdem haben wir im Europaausschuss gemeinsam
vereinbart, bei unseren Debatten die Öffentlichkeit zuzulassen; auch das ist richtig.
Ich appelliere an Sie von CDU/CSU und FDP, der gemeinsamen europäischen Verantwortung im Parlament
nachzukommen und nicht nur zu fragen, was die Regierung erlaubt. Die SPD wird sich nicht danach richten,
was die Regierung ihr erlaubt, sondern wir werden unsere Fragen stellen. Wir werden uns Punkt für Punkt anschauen, wie Sie Europapolitik machen, und den Finger
dort in die Wunde legen, wo Sie keine gestaltende deutsche Europapolitik machen. Die brauchen wir nämlich.
Das ist eine gute Tradition. Für diese Tradition stehen
Frank-Walter Steinmeier und die sozialdemokratische
Bundestagsfraktion.
({13})
Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/
CSU-Fraktion
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch wenn sich die Frau Bundeskanzlerin
schon auf den Weg zum Europäischen Rat machen
musste, will ich mit einem großen Kompliment beginnen. Sie hat in den letzten Tagen und Wochen die Interessen Deutschlands, aber auch die Interessen Europas
trotz der schwierigen Debattenlage auf europäischer
Ebene in hervorragender Weise vertreten, und zwar sowohl im Hinblick auf die Schuldenkrise Griechenlands
als auch hinsichtlich der EU-Strategie 2020.
({0})
Angela Merkel hat gezeigt, dass sie Hüterin der Ordnung in Europa ist, einer Ordnung, die sich Europa selbst
gegeben hat und die von Begriffen wie Subsidiarität und
Stabilität geprägt ist. Beide Begriffe dürfen nicht der Beliebigkeit geopfert werden; dafür hat sie gesorgt. Denn
sie sind die Spielregeln, die wir Europäer uns selbst gegeben haben und die eingehalten werden sollen.
Lieber Herr Kollege Schäfer, ich bin froh, dass wir
nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages die Möglichkeit haben, uns mehr als in der Vergangenheit und
bei noch größerer Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit im
deutschen Parlament mit europäischen Themen zu befassen. Ich bin der Meinung, dass diese wichtigen Themen nicht in irgendeinen nichtöffentlich tagenden Ausschuss gehören, sondern in das Parlament. Insofern sind
diese Regierungserklärung und die heutige Debatte
wichtig und, wie ich hoffe, der Anfang einer ausführlichen europäischen Debatte, die wir gemeinsam führen
wollen.
({1})
Nur, ich halte es, auch wenn wir über die verschiedenen Fragen kontrovers diskutieren, für notwendig, dass
wir dann, wenn es darum geht, deutsche Interessen
wahrzunehmen, der Regierung und insbesondere, wie in
diesem Fall, der Bundeskanzlerin den Rücken stärken,
zusammenstehen und sagen: Wenn es um unser gemeinsames deutsches Interesse geht, dann muss die Regierung von allen unterstützt werden.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Nein, danke. Jetzt keine Zwischenfragen.
Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt; ich
glaube, das bestreitet auch niemand. Das Ergebnis ist,
dass Griechenland heute eine Nettoneuverschuldung von
13 Prozent zu verzeichnen hat; ich wiederhole: 13 Prozent. Das Ergebnis ist, dass die Schuldenstandsquote in
Griechenland heute bei 120 Prozent liegt; das bedeutet,
die Schulden betragen 120 Prozent dessen, was das Land
in einem ganzen Jahr erwirtschaftet. Das ist eine unvorstellbare Summe.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist deutsches und europäisches Interesse, und zwar das Interesse
aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Griechenland aus dieser instabilen, schwierigen Lage herauskommt.
({0})
Das ist deswegen unser Interesse, weil wir eine gemeinsame Währung haben und weil Europa, die EU eine
Schicksalsgemeinschaft ist.
({1})
Es ist auch unser Interesse, zu verhindern, dass an die
Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und Europas die
Botschaft gesendet wird, dass derjenige, der sich an die
Dr. Hans-Peter Friedrich ({2})
Spielregeln hält und fleißig ist, am Ende der Dumme ist
und die Zeche zahlen muss. Auch dies ist notwendig.
({3})
Ich begrüße es außerordentlich, dass die Frau Bundeskanzlerin heute gesagt hat: Alles, was wir uns an Hilfen
überlegen, ist Ultima Ratio, das allerletzte Mittel. - Darum muss es gehen. Griechenland hat einen wichtigen
und einen richtigen Kurs eingeschlagen. Dass der Kurs
richtig ist, beweisen die Reaktionen der Finanzmärkte
und die heutige Entscheidung der EZB, den Griechen ein
Stück entgegenzukommen. Ich glaube, das ist ein glaubwürdiger und richtiger Kurs.
Dieser Kurs kann nur gemeinsam mit der griechischen Bevölkerung in Angriff genommen werden. Es
ist notwendig, dass die Menschen in Griechenland den
Ernst der Lage ihres Landes erkennen. Sie müssen aber
auch die Ursachen dafür erkennen. Deswegen ist es sehr
ungünstig - ich drücke mich vorsichtig aus -, dass man
in Griechenland heute so tut, als seien die europäischen
Partner nicht die Opfer der Tricks und Täuschungen, die
frühere Regierungen vorgenommen haben, sondern die
Täter; dies geht aus der veröffentlichten Meinung hervor. Täter und Opfer auseinanderzuhalten, ist in dieser
Frage sehr wichtig.
({4})
Herr Gysi, Sie haben letzte Woche - ich zitiere aus
dem Protokoll - in der Haushaltsdebatte gesagt:
Jetzt gehen die Menschen dort
- also in Griechenland auf die Straße, und zwar, wie ich finde, völlig zu
Recht. … Da stehen wir an der Seite der Bevölkerung Griechenlands.
({5})
Herr Gysi, Sie gehören zu denjenigen, die der griechischen Regierung in der Problematik, den Menschen den
Ernst der Lage ihres Landes zu erklären, in den Rücken
fallen. Darum geht es.
({6})
Deswegen gehören Sie auch zu denjenigen, die eine Mitschuld daran tragen, dass stattfindet, wovon Herr Trittin
gesprochen hat: Es werden europäische Flaggen verbrannt. Wir jedenfalls stehen an der Seite derjenigen, die
eine verantwortliche Politik für Europa machen wollen.
({7})
Meine Damen und Herren, die Einhaltung der Stabilitätskriterien und der Stabilitätsziele war eine wichtige
Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit unserer Währung und eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der
Euro und Europa bis jetzt so hervorragend aus dieser
Wirtschaftskrise hervorgegangen sind. Ich glaube, dass
es richtig war, von Anfang an klar und deutlich zu machen: Es gibt keine Gemeinschaftshilfen. Es gibt keine
gesamtschuldnerische Haftung aller Europäer für griechische Schulden. Das ginge nämlich gegen den Geist
und gegen die Buchstaben von Maastricht. Deswegen
möchte ich an dieser Stelle der Frau Bundeskanzlerin
herzlich dafür danken, dass sie dies von Anfang an klipp
und klar gemacht hat.
Heute kommt die Idee, den IWF in die Verantwortung einzubeziehen, offiziell zum Tragen. Wer Mitglied
der Europäischen Union und Mitglied der Europäischen
Währungsunion ist, scheidet nicht automatisch aus anderen Organisationen aus. Er scheidet nicht automatisch
aus anderen Instrumentarien, auf die er einen Anspruch
hat, aus, wenn es darum geht, ihm zu helfen. Weil die
Griechen gegenüber dem IWF einen Anspruch auf Hilfe
haben, ist es richtig, den Weg der Einschaltung des IWF
als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen.
({8})
Dennoch zögert Griechenland, Hilfen von den europäischen Partnern oder vom IWF anzufordern. Griechenland zögert zu Recht. Denn jeder, der Hilfen von
Dritten anfordert, beraubt sich gleichzeitig eines Stückes
seiner Freiheiten und Möglichkeiten. Er muss akzeptieren, dass an diese Hilfen und Forderungen Bedingungen
geknüpft sind. Deswegen zögert Griechenland zu Recht.
Es geht um die Aufrechterhaltung seiner eigenen Souveränität. All diejenigen, die allzu schnell raten, den Griechen zur Seite zu stehen, haben oft überhaupt nicht das
griechische Interesse im Blick, sondern eigene, vielleicht
manchmal auch sehr durchsichtige Interessen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Frau
Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung gesagt: Wir müssen vermeiden, dass die Stabilitätskriterien in der Zukunft wieder unterlaufen werden können.
Die Lehre, die aus der Krise zu ziehen ist, ist in allererster Linie, dass wir Transparenz herstellen: Transparenz
in technischer Hinsicht dadurch, dass wir eine einheitliche Datengrundlage für alle Länder zur Verfügung stellen, aber auch Transparenz in politischer Hinsicht - auch
das ist heute angesprochen worden - dadurch, dass wir
europäischen Aufsichtsbehörden die Möglichkeit geben, die Einhaltung der Stabilitätskriterien vor Ort zu
überwachen.
Mit der eindeutigen Haltung von Angela Merkel in all
diesen Fragen ist etwas korrigiert worden, was zu Zeiten
der rot-grünen Regierung 2005 allzu leicht und allzu
leichtfertig über Bord geworfen worden ist. Damals
wurde nach Europa ein falsches Signal gesandt,
({9})
nämlich das Signal, man könne über die Stabilitätskriterien, die Theo Waigel seinerzeit eingeführt hat, noch einmal reden. Nein, man kann darüber nicht reden. Die Stabilitätskriterien gelten und müssen eingehalten werden
und werden eingehalten werden. Das hat Angela Merkel
deutlich gemacht.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({10})
({11})
Deutschland, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat
eine besondere Stabilitätsmentalität. Das liegt nicht nur
an Traditionen, sondern auch an schlechten Erfahrungen,
die dieses Land, dieses Volk gemacht hat. Deswegen war
und ist es wichtig, das Vertrauen der Menschen in die
neue Währung Euro zu erhalten. Ich bin der Frau Bundeskanzlerin und der Bundesregierung außerordentlich
dankbar,
({12})
dass sie im Zusammenhang mit der EU-Strategie 2020
deutlich gemacht haben, dass wir die Stabilitätskriterien
nicht an politische, zweifelhafte Kriterien binden lassen.
Frau Merkel hat in einem Brief an Herrn Van Rompuy
deutlich gemacht, dass auch im Sinne der neuen Strategie Europa 2020 ein Aufweichen der Stabilitätskriterien
nicht infrage kommt. Ich bin froh, dass so etwas aus den
Vorschlägen, die die Europäische Union macht, inzwischen verschwunden ist.
Theo Waigel hat gestern in einem Artikel in der FAZ
etwas gefordert, was, glaube ich, identisch ist mit dem,
was die Bundeskanzlerin heute in ihrer Regierungserklärung gesagt hat. Theo Waigel hat gesagt: Wir brauchen
eine neue Konsolidierungsstrategie für ganz Europa. Ja. Und auch da ist Deutschland Vorreiter, und zwar weil
wir im vergangenen Jahr gemeinsam - SPD, FDP, CDU/
CSU - eine Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen haben.
({13})
Das ist in Europa wie in der Welt ein bisher einmaliger
Vorgang. Diese Schuldenbremse wird unseren Kollegen
aus dem Haushaltsausschuss noch sehr viel Arbeit machen und die Bundesregierung - ich sage das voraus noch viel Schweiß kosten, wenn es darum geht, den
nächsten Haushalt und den übernächsten Haushalt aufzustellen.
({14})
Sie wird auch der deutschen Bevölkerung das eine oder
andere abverlangen. Diese Schuldenbremse ist aber alternativlos angesichts der Verantwortung, die wir für die
Finanzen, aber auch für die Zukunft künftiger Generationen in diesem Land haben. Deswegen gibt es zu dieser
Konsolidierungsstrategie in Deutschland, aber auch in
Europa keine Alternative.
Es ist angesprochen worden, dass Deutschland von einigen europäischen Partnern wegen seiner Wettbewerbsfähigkeit angegriffen wird. Mit der LissabonStrategie ist damals ausgerufen worden, Europa solle zur
wettbewerbsfähigsten Region der Erde werden. Leider
ist daraus nichts geworden; aber das Land, das dieses
Ziel für sich erreicht hat, ist Deutschland. Deswegen ist
es falsch, gerade dieses Land an den Pranger zu stellen.
Vielmehr sollten sich die anderen überlegen, warum sie
mit Deutschland nicht gleichziehen konnten, warum es
ihnen nicht gelungen ist, ebenfalls eine so gute Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Wettbewerbsfähigkeit ist uns nicht geschenkt worden. Ich erinnere daran, dass wir in den 90er-Jahren ein Leistungsbilanzdefizit hatten, nämlich als wir nach der
Wiedervereinigung, Herr Gysi, die Trümmer des Kommunismus auf deutschem Boden aufräumen mussten.
({15})
Dieses Land hat gelitten unter diesem Defizit. Es war
nicht einfach, dieses Defizit zu überwinden. Ich erinnere
an die Konsolidierungsstrategie, die Mitte der 90er-Jahre
dafür gesorgt hat, dass die Produktivität in Deutschland
gestiegen ist, aber auch an die Agenda 2010. Auch durch
sie wurde den Menschen viel abverlangt, aber sie hat
dazu geführt, dass die Produktivität an jedem Arbeitsplatz in Deutschland höher als bei den Wettbewerbern in
der Welt ist. Das ist der Grund für die Wettbewerbsfähigkeit und für die Leistungsfähigkeit, und dafür brauchen
wir uns nicht zu schämen, sondern darauf kann dieses
Land stolz sein.
({16})
Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass die europäische Leistungsbilanz insgesamt negativ wäre,
wenn es den Überschuss in der Leistungsbilanz der
Deutschen nicht gäbe. Insofern leisten wir auch in diesem Punkt einen wichtigen Beitrag.
Zur Lohnpolitik. Die zurückhaltende Lohnpolitik unserer Tarifpartner, die ich an dieser Stelle ausdrücklich
loben möchte, hat dazu geführt, dass Deutschland hinsichtlich der Arbeitslosigkeit bis heute weit mehr Fortschritte als seine Partner gemacht hat.
({17})
Wir liegen heute mit 7,5 Prozent um 2,5 Prozentpunkte
unter der Arbeitslosenquote in Europa. Wenn man das
mit anderen Ländern vergleicht - 9 Prozent in Frankreich, 13,8 Prozent in Irland -, dann kann man sehen,
dass diese Lohnzurückhaltung, die unsere Tarifpartner
an den Tag gelegt haben, der richtige Weg zu Beschäftigung und Arbeit für die Menschen in Deutschland ist.
({18})
Schließlich zur EU-Strategie 2020. Ich werfe einen
Blick auf die Struktur Europas und der europäischen
Partnerländer. Diese Struktur ist außerordentlich heterogen. Wir haben im Grunde folgende Möglichkeiten:
Erstens. Wir, alle 27 Länder, einigen uns nur auf den
kleinsten gemeinsamen Nenner. Das wäre zu wenig für
ein gemeinsames Europa.
Zweitens. Wir zwängen diese 27 Länder auf einen gemeinsamen Kurs, durch den Kreativität verschwindet
und der letzten Endes auch hinsichtlich der Akzeptanz in
der Bevölkerung schwierig ist.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({19})
Drittens. Diesen Weg wollen und sollten wir gehen:
den Weg der Vielfalt der Systeme, der Gestaltungsfreiheit und des Gestaltungswettbewerbs. Dieses Prinzip hat
sich im deutschen Föderalismus hervorragend bewährt.
Dieser Gestaltungswettbewerb muss auch in Europa
Platz greifen. Der Beste muss derjenige sein, der die
Marken setzt und das Vorbild für andere ist.
In diesem Sinne wird es gelingen, dass Deutschland
Vorbild in Europa ist und dass Europa insgesamt vorankommt. Wir wünschen der Bundeskanzlerin für ihre Verhandlungen beim Europäischen Rat alles Gute.
Vielen Dank.
({20})
Das Wort hat nun Eva Högl für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sehe überhaupt keinen Anlass, der Bundeskanzlerin in
einer Rede fünf Komplimente zu machen und 28-mal zu
danken,
({0})
weil ich die Regierungserklärung der Kanzlerin enttäuschend und erschreckend ideenlos fand.
({1})
Wir hätten hier im Bundestag gerne über ein Konzept
zu Europa 2020 diskutiert. Als Mitglied der SPD-Fraktion und Opposition sage ich: Ich hätte mich gerne richtig kritisch mit den Vorstellungen und Ideen der Bundesregierung auseinandergesetzt, aber ich habe keine
Konzepte, keine Visionen und keine Strategie für Europa
gehört,
({2})
sondern ich habe ganz viel dazu gehört, was Sie alles
nicht wollen. Das verstecken Sie hinter der Floskel
„Vielfalt der Systeme“. Dabei bleiben Sie doch erschreckend vage und unverbindlich.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, die
CDU war einmal europaengagiert. Ich müsste mich gar
nicht um das europapolitische Profil der CDU sorgen,
wenn es nicht um Deutschland und um die Zukunft Europas ginge. Das sorgt uns alle. Wir haben in Europa
nämlich zehn ganz entscheidende Jahre vor uns. Es geht
um die Stabilität und den Zusammenhalt Europas und
um unsere Rolle in der Welt. Ich habe von der Bundesregierung bisher nichts dazu gehört, wie es da weitergehen
kann.
Die EU-Kommission unter Barroso macht Vorschläge
zu fünf Kernzielen; mehr sind es gar nicht. Ich muss die
EU-Kommission und ihren Präsidenten Barroso überhaupt nicht verteidigen; denn das ist gar nicht meine
Kommission, und sie ist, wie Sie wissen, auch nicht
mehrheitlich mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besetzt. Die EU-Kommission legt also eine
Grundlage mit fünf Zielen. Zwei davon lehnen Sie ab.
Da fragen wir uns doch: Welche Strategie bleibt eigentlich noch für Europa? Wohin soll der Weg gehen?
Dass Sie das Armutsziel ablehnen, halte ich für einen
unglaublichen Vorgang.
({4})
Beim Thema Armut dürfen wir uns nicht hinter Sonntagsreden und hinter halbherzigen Bekenntnissen verschanzen. Dafür ist das Thema Armut zu wichtig; es
muss auch auf der europäischen Ebene ausführlich diskutiert und engagiert angegangen werden.
Wir erleben zurzeit die Bundesministerin von der
Leyen - wortreich und durchaus mit Empathie - zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Aber auch sie lehnt das Ziel der Armutsbekämpfung in Europa ab. Dabei geht es nur um ein gemeinsames Ziel in Europa - nicht um mehr, aber auch nicht um
weniger.
Dieses gemeinsame Ziel wäre ein wichtiges Signal an
die Menschen in Deutschland und in Europa, dass wir es
ernst meinen mit der Bekämpfung von Armut, dass uns
ihre Sorgen ernsthaft interessieren und kümmern, dass
wir Maßnahmen ergreifen und nicht nur reden, sondern
auch handeln. Wenn dieses Signal vom Europäischen
Rat ausgehen würde, wäre das sehr, sehr wichtig für die
Menschen in Europa.
({5})
Ich will auch etwas zum Thema Bildung sagen.
({6})
Man kann kritisch sein, und der Bundesrat hat zum Ausdruck gebracht, dass er für das Thema Bildung zuständig
ist. Aber ein gemeinsames Ziel in Europa, die Verständigung darauf, dass Bildung wichtig ist und wir in diesem
Bereich ambitioniert vorgehen müssen, stellt die Kompetenz der Bundesländer überhaupt nicht infrage. Wenn
man will, dass in Europa Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit großgeschrieben werden und wir gut aufgestellt
sind - das haben Sie betont -, dann müssen wir uns auch
im Bereich der Bildung Ziele setzen. Dann geht es in Europa gar nicht ohne Bildung.
Aber die schwarz-gelbe Regierung bleibt die Antwort
auf die Frage schuldig, wie das mit der Bildung denn gehen soll. Denn Sie nehmen uns mit Ihrer Steuerpolitik jeden Spielraum, um in Deutschland sinnvolle und gute
Bildungspolitik zu machen. Ich würde mir wünschen,
dass die Bildungspolitik durch ein engagiertes Ziel auf
der europäischen Ebene befördert würde.
({7})
Zwei Ziele lehnen Sie ab - darauf habe ich hingewiesen -, bei einem dritten Ziel sind Sie unengagiert, und
das ist die Beschäftigungsquote. Es geht um die Weiterentwicklung der Lissabon-Strategie. Wir dürfen das
Thema Beschäftigungsquote nicht nur auf die Floskel
„Hauptsache Arbeit, egal was für eine“ reduzieren. Wir
brauchen bei der neuen Strategie klare Aussagen zur
Qualität der Arbeit.
({8})
Es geht nämlich darum, wie die Menschen in unserem
Land arbeiten. Wir brauchen eine Lösung für das Problem, dass immer mehr Menschen von Löhnen leben,
von denen sie sich und ihre Familien nicht ernähren können.
Deswegen hätte ich mir gewünscht, dass wir die neue
Strategie ganz klar formulieren, im Bereich der Beschäftigungspolitik um einen qualitativen Aspekt ergänzen
und feststellen: Wir sind gegen Ausbeutung. Wir sind für
gute Löhne auch auf der europäischen Ebene. - Ich hätte
mir auch gewünscht, dass wir uns ein engagiertes Ziel
mit Blick auf die gleiche Bezahlung von Männern und
Frauen gesetzt hätten. Morgen findet der Equal Pay
Day statt. In diesem Zusammenhang hätte man diese
Strategie gut weiterentwickeln und ein gutes Ziel setzen
können. Das hätte dann den Namen „neue Strategie“
auch verdient.
({9})
Eine letzte Bemerkung zum Parlament - der Kollege
Schäfer hat es schon angesprochen -: Wir haben eine
erste Debatte zum Thema Europa 2020 - und dabei geht
es nicht um mehr, aber auch nicht um weniger als um die
Zukunft der Europäischen Union - am 4. März um
21.30 Uhr für 30 Minuten geführt. Ansonsten ist das
Parlament nicht beteiligt worden. Heute hat es zum ersten Mal die Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen, welche Position die Kanzlerin bei diesem wichtigen Europäischen Rat vertreten wird. Ich finde, das ist eine
gravierende Missachtung des Deutschen Bundestages.
Das finde ich enttäuschend. Ich hätte mir im Vorfeld dieses Europäischen Rates mehr gewünscht.
({10})
Das wäre insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache wichtig gewesen, dass mit dem Lissabon-Vertrag
die Parlamente gestärkt wurden. Man hätte auch hier ein
deutliches Zeichen setzen können. Aber die Kanzlerin
hat in ihrer Regierungserklärung die Parlamente nicht
ein einziges Mal erwähnt, weder den Deutschen Bundestag noch das Europäische Parlament.
Ich kann nur hoffen, dass sie sich mit ihrer Zögerlichkeit und Ideenlosigkeit im Europäischen Rat nicht
durchsetzt und dass die anderen Kolleginnen und Kollegen ambitionierter sind und eine gute Strategie 2020 im
Sinne der Zukunft Europas, im Sinne der Menschen in
Deutschland und Europa und auch im Sinne einer guten
Positionierung Deutschlands formulieren.
Herzlichen Dank.
({11})
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem
Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Europäischen Rat, der in wenigen Stunden in Brüssel beginnt,
soll über die Ausgestaltung der sogenannten Europa2020- oder Post-Lissabon-Strategie diskutiert werden. Frau Högl, hören Sie einmal zu, was ich zu sagen habe.
({0})
Der neue Präsident Van Rompuy beabsichtigt, beim Europäischen Rat eine Grundverständigung über die Architektur der neuen Wachstumsstrategie zu erreichen. So
steht es auf der Einladung und in der Tagesordnung. Es
soll eine Aussprache geben, um dann zu Vorarbeiten und
konkreten Beschlüssen zu kommen. Das passiert jetzt
beim Europäischen Rat. Wenn Sie richtig zugehört haben, dann wissen Sie, dass der Präsident des Europäischen Parlaments, Herr Buzek, diese Woche mehrfach
erklärt hat, dass der Europäische Rat frühestens am
17. Juni eine konkrete Strategie beschließen wird.
Die Koalitionsfraktionen werden fundiert, und zwar
durch Beratung in allen beteiligten Ausschüssen im Bundestag, rechtzeitig zu diesem Termin eine detaillierte
Stellungnahme mit Bindewirkung für die Bundesregierung vorlegen. Das geschieht dann, wenn es nötig ist,
und dies ist für eine allgemeine Diskussion nicht der
Fall. Wir beschließen doch im Bundestag keinen Sprechzettel für die Kanzlerin, auf dem steht, was sie in der
Aussprache mit den Regierungschefs sagen darf.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich kurz auf Island
eingehen. Für jemanden, der das Thema nicht genau
kennt, ist es nicht nachvollziehbar, worüber sich die SPD
und die Grünen beschweren.
({2})
Wir haben von der Bundesregierung den Auftrag bekommen, eine Stellungnahme zum Beschluss von Beitrittsverhandlungen mit Island zu erarbeiten. Zunächst
war von der schwedischen und dann weiter verfolgt von
der spanischen Ratspräsidentschaft geplant, heute auf
dem Europäischen Rat über die Beitrittsverhandlungen
abzustimmen. Es zeichnete sich seit Januar ab, dass dieser Termin von den europäischen Institutionen nicht gehalten werden wird.
Wir haben im Bundestag mit unseren Anträgen dafür
gesorgt, dass wir schon in der nächsten Sitzungswoche
eine fundierte Stellungnahme vorlegen können,
({3})
die den Beginn von Beitrittsverhandlungen befürwortet,
was wir aber mit dem konkreten Hinweis verbunden haben, dass dann ein entsprechender Beschluss gefasst
werden soll. Wir werden am 22. April die zweite und
dritte Lesung im Bundestag durchführen, rechtzeitig bevor irgendein Rat irgendetwas in dieser Angelegenheit
entscheiden wird. Genau das fordert die Begleitgesetzgebung von uns. So werden wir das als Koalitionsfraktionen auch weiter handhaben.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Bitte.
Herr Kollege Stübgen, Sie haben gesagt, Sie wüssten
nicht, worüber wir uns beschweren. Sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass sich die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen darüber beschwert, dass die Koalition eine
Chance vergibt, Island ein deutliches Signal zu geben,
dass wir für einen Beitritt sind, dass wir zwar kritische
Fragen haben, aber in der Lage sind, schnell zu agieren,
um die Verhandlungen aufzunehmen? Das heißt, wir beschweren uns darüber, dass ein positives Signal ausgelassen wird. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Kollege, bevor Sie antworten: Der Kollege
Liebich will auch eine Zwischenfrage stellen. Wollen Sie
sie zulassen? Dann können Sie zusammenhängend Ihre
Redezeit deutlich verlängern.
Danke schön.
Herr Kollege, ich möchte mich der Beschwerde meines Vorredners anschließen. Denn es gab Anträge von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Linksfraktion im
Europaausschuss, die die CDU/CSU und die FDP nicht
beschließen wollten, in denen wir uns dafür ausgesprochen haben, jetzt sehr frühzeitig das Signal auszusenden,
dass sich die Bundesregierung für Verhandlungen mit Island einsetzt. Sind Sie auch bereit, zuzugestehen, dass
Sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass das
nicht auf der Tagesordnung steht? Der Staatssekretär hat
nämlich gesagt, dass es noch nicht auf der Tagesordnung
steht bzw. dass man nicht wisse, ob es auf der Tagesordnung stehen werde.
Ist es nicht vielmehr so, dass Sie dort gesagt haben,
dass Sie, egal ob es auf der Tagesordnung steht oder
nicht, nicht wollen, dass es auf die Tagesordnung
kommt, weil Sie Beratungsbedarf haben, und demzufolge CDU/CSU und FDP auf der Bremse stehen, aber
nicht Bündnis 90/Die Grünen, die Linke und die SPD?
({0})
Ich werde es im Protokoll nachlesen. Vielleicht verstehe ich dann Ihre Frage.
({0})
Aber ich glaube, es war so ziemlich dieselbe Frage wie
die von Herrn Sarrazin.
Es war ganz einfach so, dass nach der ursprünglichen
Planung heute ein Beschluss gefasst werden sollte. Wir
haben uns im Ausschuss mit der Frage beschäftigt, wie
wir es schaffen können, heute zu beschließen. Dabei ist
herausgekommen, dass wir es mit verkürzten Beratungszeiten der mitberatenden Ausschüsse, Fristverzicht und
dergleichen gerade so hätten hinbekommen können. Als
dann vor drei Wochen deutlich wurde, dass dieser Rat
darüber nicht entscheiden kann, haben wir gesagt, dass
wir es auch mit den mitberatenden Ausschüssen ausführlich beraten werden, was übrigens unsere Verantwortung
als federführender Europaausschuss ist, um den Beschluss dann zu fassen, wenn er notwendig ist. Dies wird
in der nächsten Sitzungswoche der Fall sein.
Noch eines auf Ihre Frage, Herr Sarrazin: Die Frage,
wer hier Chancen für Island verbaut, können wir in der
nächsten Woche noch einmal intensiv diskutieren; denn
Sie als Grüne haben einen Antrag gestellt, in dem Sie
von Island fordern, das angeblich absolute Walfangverbot der Europäischen Union einzuhalten, bevor es Mitglied in der Europäischen Union werden kann. Damit
fordern Sie von Island die Einhaltung von Regeln, die es
in der Europäischen Union gar nicht gibt. Dort gibt es
nämlich Ausnahmen für wissenschaftliche Zwecke und
zur Nutzung durch die indigene Bevölkerung. Wenn Sie
also glauben, Sie setzten sich besonders für Island ein,
dann schauen Sie sich doch erst einmal die rechtlichen
Grundlagen der Europäischen Union an, anstatt von mitgliedswilligen Ländern Dinge zu fordern, die wir in der
Europäischen Union selber nicht erfüllen. - Danke
schön.
({1})
In diesem Zusammenhang weise ich noch auf Folgendes hin - das muss schon einmal gesagt werden -: Es ist
doch kein Zufall, dass wir in diesem Bundestag erst seit
2006 überhaupt substanzielle Mitbestimmungsrechte
in europäischen Fragen haben. Ich kann Ihnen sagen,
warum das so ist: weil während der Regierungszeit von
Rot-Grün Schröder und Fischer kategorisch jede substanzielle Mitberatungs- und Mitbestimmungsmöglichkeit des Bundestages verhindert haben.
({2})
Wenn Sie sich heute als Retter der Demokratie aufspielen, dann sage ich Ihnen: Fassen Sie sich bitte an die
eigene Nase; denn wenn wir in der Großen Koalition
nicht mit nachhaltigem Druck im Koalitionsvertrag
durchgesetzt hätten, dass wir substanzielle Rechte für
den Bundestag bekommen, dann gäbe es sie erst jetzt,
weil wir nun eine vernünftige Koalition haben. Aber bis
zum vorigen Jahr hätte es sie noch nicht gegeben. Bitte
seien Sie etwas zurückhaltender mit Ihren Vorwürfen.
({3})
Ich muss noch ein Thema ansprechen; ohne es anzusprechen, kann man nicht über den Europäischen Rat
sprechen. Es geht um die Finanzhilfen an Griechenland.
Ohne Zweifel befindet sich Griechenland in einer sehr
schwierigen Haushaltssituation. Die Situation ist ernst
und wird im Übrigen von der griechischen Regierung
auch nicht beschönigt. Endlich, möchte ich sagen; denn
leider mussten wir an der Verlässlichkeit griechischer
Zahlen in den letzten Jahren zweifeln. Wir wissen heute,
dass die Zahlen viele Jahre bewusst gefälscht wurden.
Das Reformprogramm der griechischen Regierung ist
ambitioniert, aber nicht unerfüllbar. Darauf will ich auch
einmal hinweisen. Wenn ich sehe, dass das Renteneintrittsalter in Griechenland auf 63 hochgesetzt worden
ist, dann ist das gut. Aber wir sind bei 67 Jahren. Dies
haben wir nicht gemacht, weil es uns Spaß macht, sondern deswegen, weil wir sonst die Rentenstruktur nicht
hinbekämen. Griechenland erhöht die Mehrwertsteuer
um 2 Prozentpunkte. Das ist wichtig, um die eigenen
Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen. Wir haben die
Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, um dies zu
erreichen. Das hat auch keinen Spaß gemacht, war aber
notwendig. Griechenland hat das Ostergeld und das
Weihnachtsgeld für die Angestellten im öffentlichen
Dienst gestrichen. Die rot-grüne Bundesregierung hat
das sogenannte dreizehnte Monatsgehalt 2004 gestrichen, übrigens ausnahmsweise ein richtiger Punkt. Wir
sehen, die Reformen, die Griechenland in Angriff
nimmt, sind richtig; sie müssen umgesetzt werden, und
Griechenland braucht unsere Unterstützung dafür. Aber
es sind durchweg Reformen, die in diesem Land sehr
spät in Gang gesetzt werden und bei uns in den letzten
zehn Jahren schon umgesetzt wurden. Deshalb ist es
wichtig, dass Griechenland diese Arbeit in erster Linie
alleine macht.
({4})
Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen: Bei dem,
was wir eben nicht nur in Griechenland, sondern auch in
Portugal und Spanien und anderen Mitgliedsländern sehen, können wir, was den Stabilitäts- und Wachstumspakt betrifft, nicht einfach weiter so machen, auch wenn
wir die kurzfristigen Probleme halbwegs gelöst haben.
Es hat sich gezeigt, dass der Wachstums- und Stabilitätspakt gerade dann nicht funktioniert, wenn eine Krise besonders schwer ist. Deshalb müssen wir uns Gedanken
darüber machen, wie wir den Stabilitäts- und Wachstumspakt verändern und ihn krisenfester machen. Ich finde es
zum Beispiel sehr richtig, dass der Europäische Rat
wahrscheinlich schon heute darüber redet - ein Fachministerrat wird das umsetzen -, endlich die Kontrollbefugnisse von Eurostat erheblich auszuweiten. Eurostat
soll künftig die Möglichkeit haben, direkt in den Ländern zu prüfen, ob die Zahlen, die sie öffentlich angeben
oder nach Brüssel weitergeben, stimmen. Ich weiß: RotGrün hat das damals abgelehnt. Wir haben es damals,
2004, auch abgelehnt; das war ein Fehler. Jetzt ist es
wichtig, diesen Fehler so schnell wie möglich zu korrigieren.
Ich möchte noch eines sagen: Zukünftig können wir
in den europäischen Verträgen, in der Euro-Gruppe nicht
mehr ausschließlich auf finanzielle Sanktionen setzen.
Wenn ein Land nämlich erst einmal kurz vor der Zahlungsunfähigkeit steht, dann nützt es nicht mehr viel,
Sanktionen in Form einer finanziellen Strafe zu erteilen.
Wir müssen uns da etwas Intelligenteres einfallen lassen.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die erwogen werden sollten. Zum einen könnte man im Rahmen eines
Vertragsverletzungsverfahrens wegen eines Verstoßes
gegen die Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes die Stimmrechte eines Landes teilweise aussetzen.
Darüber sollten wir nachdenken. Ich weiß, dass wir dafür die Verträge ändern müssen. Wir sollten zum anderen
aber das, was ansatzweise im Lissabon-Vertrag schon
angelegt ist, nämlich die Möglichkeit, Zahlungen - zum
Beispiel Agrarsubventionen oder Mittel aus den Strukturfonds - einzufrieren, ausbauen. Im Übrigen können
schon jetzt Mittel aus dem Kohäsionsfonds eingefroren
werden; das wurde aber noch nie gemacht.
Eines möchte ich noch sagen: Ich finde es schon
merkwürdig, dass Herr Barroso, der auch schon vor fünf
Jahren Kommissionspräsident war, jetzt in Interviews erklärt: Ich bin nicht schuld; ich konnte nichts machen,
weil ich keine Möglichkeiten hatte.
({5})
Er sollte erklären, warum er die Möglichkeiten, die er
hatte, nicht genutzt hat.
Das Thema Europa wird auch in Zukunft wichtig
sein. Wir sind da auf dem richtigen Weg. Ich wünsche
der Bundeskanzlerin für den Europäischen Rat alles
Gute.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1191 soll überwiesen werden: zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für die Angele-
genheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung
an den Auswärtigen Ausschuss, den Finanzausschuss
und den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, den Ausschuss für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit und den Haushaltsaus-
schuss. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1170 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union und zur Mitberatung an den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie überwiesen werden. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/1171 soll zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen
Ausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen nun zum Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1172. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung
in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Überweisung, und zwar zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union und zur Mitberatung an den Aus-
wärtigen Ausschuss und den Finanzausschuss sowie an
den Ernährungs- und den Umweltausschuss. Die Ab-
stimmung über den Antrag auf Ausschussüberweisung
geht nach ständiger Übung vor. Ich frage deshalb: Wer
stimmt für die beantragte Überweisung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisung ist so be-
schlossen, und zwar mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD, FDP und der Linken gegen die Stimmen der Grü-
nen. Wir stimmen also heute nicht über den Entschlie-
ßungsantrag ab.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Rettungsschirm für Kommunen - Strategie
für handlungsfähige Städte, Gemeinden und
Landkreise
- Drucksache 17/1152 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verbindliches Mitwirkungsrecht für Kommu-
nen bei der Erarbeitung von Gesetzentwürfen
und Verordnungen sowie im Gesetzgebungs-
verfahren
- Drucksache 17/1142 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Harald Koch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zukunft der Kommunalfinanzen - Transparenz gewährleisten und Öffentlichkeit herstellen
- Drucksache 17/1143 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Innenausschuss
d) - Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes
- Drucksache 17/520 Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 17/869 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/872 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({4})
Otto Fricke
Alexander Bonde
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie zurücknehmen
- Drucksachen 17/447, 17/869 Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Martin Gerster
Über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur
Änderung des Umsatzsteuergesetzes, Tagesordnungspunkt 5 d, werden wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Bernd Scheelen für die SPD-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Im Herbst 2008 haben wir in diesem Hohen Haus
den Rettungsschirm für Banken in einer sehr schnellen
Aktion gemeinsam aufgespannt. Er war erfolgreich und
verbunden mit dem Namen des damaligen Finanzministers Peer Steinbrück. Wir haben danach gemeinsam in
der Großen Koalition einen Rettungsschirm für Arbeitsplätze aufgespannt, der mit dem Namen Olaf Scholz eng
verbunden war. Darüber hinaus haben wir zu Zeiten der
Großen Koalition gemeinsam Ansätze eines Rettungsschirms für Kommunen beschlossen; ich erinnere an das
Stichwort Konjunkturpaket II. Im Rahmen dieses Konjunkturpaketes haben wir als Bund den Kommunen
10 Milliarden Euro gegeben, damit sie vor Ort Arbeitsplätze sichern und die Wirtschaft am Laufen halten können. Das örtliche Handwerk wurde durch die Maßnahmen, die wir zur energetischen Gebäudesanierung auf
den Weg gebracht haben, gefördert.
Jetzt wäre es an der Zeit, über einen umfänglichen
Rettungsschirm für die Kommunen nachzudenken.
({0})
Eigentlich wäre es Aufgabe der Regierungskoalition,
Aufgabe von Schwarz-Gelb, das Thema hier aufzusetzen. Aber wir, die SPD-Fraktion, haben es aufgesetzt,
weil wir dieses Thema für besonders wichtig erachten.
Denn den Kommunen geht es schlecht.
Landauf, landab wird diskutiert, wo man in kommunalen Haushalten einsparen kann und wie man eventuell
an mehr Geld kommt. Es wird über die Schließung von
Theatern, Museen, Schwimmbädern und Ähnlichem
nachgedacht. Städte wie Köln denken darüber nach, ob
sie eine Bettensteuer einführen.
({1})
- Ein Akt der Notwehr, Frau Kollegin Piltz, gegen die
Maßnahmen, die Sie hier schon beschlossen haben.
({2})
Es gibt Kommunen, Duisburg zum Beispiel, die darüber nachdenken, eine besondere Form der Gewerbesteuer einzuführen: Sie wollen das älteste Gewerbe der
Welt besteuern.
Das alles sind Akte der reinen Verzweiflung, weil es
den Kommunen schlecht geht und sie den Eindruck haben, dass sich Schwarz-Gelb auf Bundesebene nicht um
sie kümmert.
({3})
Die Kommunen leiden unter der Wirtschafts- und Finanzkrise. Das gilt natürlich auch für Bund und Länder.
Die Kommunen leiden zudem aber unter Schwarz-Gelb.
({4})
Sie leiden unter dem Katalog der Grausamkeiten, den
Sie Koalitionsvertrag nennen. Man bräuchte eine
Stunde, um all das aufzuzählen, was Sie den Kommunen
antun wollen. „Privat vor Staat“ steht quasi über dem
Koalitionsvertrag. Sie wollen, dass der Staat den Kommunen alles wegnimmt, was sie als Aufgaben sinnvollerweise für die Bürger erledigen, und es den Privaten
gibt, damit diese ihre Geschäfte machen können.
Das ist nicht das, was wir wollen.
({5})
Sie wollen einen schwachen Staat. Wir wollen einen
leistungsfähigen Staat und starke Kommunen. Denn in
den Kommunen entscheidet sich das Schicksal der Menschen. Vor Ort wird gelebt, gearbeitet, Kultur erlebt, gemeinsam etwas getan. Vor Ort wird auch Politik hautnah
erlebt, und vor Ort werden die Folgen von Politik unmittelbar deutlich.
Aber was macht Schwarz-Gelb? Was macht zum Beispiel die CDU in Nordrhein-Westfalen? Am Wochenende gab es einen Parteitag in Münster. Da haben sich
die Bundeskanzlerin und der Kollege Rüttgers für einen
Satz feiern lassen, der sinngemäß lautete: Wir dürfen die
Kommunen nicht ausbluten lassen, nur um Steuersenkungen durchführen zu können. - Ja, richtig!
({6})
Für diesen Satz sollen die beiden auf diesem Parteitag
jubelnd gefeiert worden sein.
({7})
Da kann man sich nur fragen: Leiden die Delegierten
dort alle unter retrograder Amnesie?
({8})
Haben sie zum Beispiel Ihren Koalitionsvertrag nicht gelesen? Haben sie noch nicht mitbekommen, was Sie hier
bisher getan haben, was Sie an Gesetzen beschlossen haben? Sie sind jetzt fünf Monate an der Regierung. Die
Bilanz ist: drei Gesetze.
({9})
Das nennt man normalerweise Stillstand der Rechtspflege.
({10})
Aber diese drei Gesetze gehen im Wesentlichen zulasten
der Kommunen. Als Erstes haben Sie im vorigen Jahr
die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft abgesenkt.
({11})
- Das ist doch völliger Unsinn, Herr Kollege; das wissen auch Sie. - Sie haben den Kommunen 3 Prozentpunkte - das sind 400 Millionen Euro - abgenommen,
und das in einer Situation, wo die Kosten der Unterkunft
in den Kommunen steigen.
Spätestens jetzt muss auch Ihnen klar werden, dass
der bestehende Abrechnungsmechanismus, so sinnvoll er im Einzelnen vielleicht sein mag, ein schwerwiegendes Problem hat: Er kommt immer zwei Jahre zu
spät. Den Kommunen wird jetzt Geld erstattet auf der
Basis von vor zwei Jahren, als es den Kommunen gut
ging. Auf dieser Basis hatte man errechnet, sie bräuchten
weniger. Jetzt geht es ihnen aber schlecht. Das heißt, zumindest hier sollten Sie uns zustimmen, wenn wir sagen:
Wir brauchen für die nächsten zwei Jahre eine Überbrückung, damit die Kommunen nicht prozyklisch bestraft werden. Das heißt, wenn es mit der Wirtschaft abwärtsgeht, bekommen sie weniger; wenn es mit der
Wirtschaft wieder aufwärtsgeht, dann erhalten sie mehr.
Was Sie da machen, ist doch hirnrissig. Da muss eine
Überbrückung her.
({12})
- Die Kollegin Hagedorn weist zu Recht darauf hin, dass
die SPD-Fraktion einen entsprechenden Antrag in der
vorigen Woche im Rahmen der Haushaltsberatungen
eingebracht hat.
({13})
Wir haben beantragt, den Kommunen 400 Millionen
Euro mehr für dieses und das nächste Jahr zur Verfügung
zu stellen. Diesen Antrag haben Sie abgelehnt. Zu den
Schweinereien, die Sie hier veranstalten, sollten Sie auch
stehen.
({14})
Die anderen beiden Gesetze, die Sie verabschiedet haben, haben Steuergeschenke an Privilegierte zum Inhalt:
an Hoteliers, an reiche Erben und an Unternehmen, die
ihre Gewinne lieber im Ausland versteuern. Sie haben
ihnen das noch erleichtert. An den Verlusten, die als
Folge dieser Gesetze entstehen, sind die Kommunen
überproportional beteiligt: bei dem einen Gesetz mit
40 Prozent, bei dem anderen mit 20 Prozent, obwohl sie
an den Gesamteinnahmen des Staates auf der Steuerebene mit nur 13 Prozent beteiligt sind. Das heißt: Sie
machen konkret eine Politik gegen die Kommunen. Die
Kommunen leiden unter Ihnen.
({15})
Es muss Schluss sein mit Ihren weiteren Steuersenkungsplänen. Sie müssen das, was den Kommunen
durch Ihre Beschlüsse an Verlusten - sie belaufen sich in
etwa auf 2,5 Milliarden Euro - entsteht, kompensieren.
Die Kommunen brauchen dieses Geld; sonst können sie
ihre Aufgaben nicht erfüllen.
({16})
Sorgen Sie also für Kompensation für die Steuerausfälle.
Hören Sie auf, Steuergeschenke zu verteilen.
({17})
Heben Sie die Beteiligung des Bundes an den Kosten der
Unterkunft um 3 Prozentpunkte, um 400 Millionen
Euro, an.
Ganz wichtig: Lassen Sie die Finger von der Gewerbesteuer.
({18})
Das ist ein entscheidender Punkt.
({19})
Die Gewerbesteuer ist kein Thema, mit dem man die
Menschenmassen auf den Marktplätzen begeistern kann.
Aber wenn man den Menschen sagt, dass die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer im Jahre 2008, als sie den höchsten Stand in der Nachkriegsgeschichte erreicht hatte,
41 Milliarden Euro ausgemacht haben und die Sozialausgaben der Kommunen bei 40 Milliarden Euro liegen,
dann wird ihnen klar, dass in vielen Kommunen das, was
an Gewerbesteuereinnahmen hereinkommt, für soziale
Aufgaben benötigt wird. Lassen Sie deswegen die Finger von der Gewerbesteuer. Das ist die wichtigste Einnahmequelle, die die Kommunen haben.
({20})
Im Zug der Krise sind natürlich auch die Einnahmen
aus der Gewerbesteuer eingebrochen, und zwar um etwa
18 Prozent - das ist schlimm genug -; aber auch die Einnahmen aus der Einkommensteuer sind eingebrochen,
um 8 Prozent.
({21})
- Natürlich konjunkturell bedingt. - Die Einnahmen aus
der Körperschaftsteuer, die Sie teilweise als Ersatz anbieten, sind um 60 Prozent eingebrochen. Was ist das
denn für die Kommunen für ein Ersatz, wenn sie die Einnahmen aus einer Steuer, die leicht konjunkturreagibel
ist, gegen die Einnahmen aus einer anderen Steuer tauschen, die schwer konjunkturreagibel ist? Was Sie da
machen wollen, ist doch hirnrissig.
({22})
Sie benutzen die Krise sozusagen als Alibi, um die
Gewerbesteuer abzuschaffen. Insbesondere die FDP
stellt sich hierhin und erklärt: Schaut doch einmal, die
Einnahmen aus der Gewerbesteuer sind eingebrochen.
Eine solche Steuer muss abgeschafft werden; denn die
Kommunen brauchen verlässliche Einnahmen. - Die
Krise dient hier als reines Alibi.
Was Sie als Ersatz anbieten, ist, die Einnahmen aus
einer Steuer, die nur die Wirtschaft zahlt, durch die Einnahmen aus drei anderen Steuern zu ersetzen, von denen
nur noch eine von der Wirtschaft gezahlt wird, nämlich
die Körperschaftsteuer. Die Einnahmen aus dieser Steuer
liegen manchmal bei null. Ich erinnere an das Jahr 2003:
Da gab es überhaupt keine Zahlungsverpflichtungen.
Die anderen beiden Steuern werden von den Menschen
gezahlt, nämlich die Mehrwertsteuer - von den Verbraucherinnen und Verbrauchern - und die Einkommensteuer, von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Das ist nicht unser Modell. Das werden wir auf keinen
Fall mitmachen.
({23})
Ein weiterer Punkt. Klopfen Sie bitte Ihren Ländern
auf die Finger,
({24})
damit sie das Geld, das der Bund ihnen für die Kommunen zur Verfügung stellt, weitergeben. Stichwort „Betreuung unter Dreijähriger“: Das Geld für die Kommunen, das der Bund zur Verfügung stellt, versickert in den
meisten Ländern mit einer CDU-geführten Regierung,
bleibt also an den klebrigen Händen der dortigen Finanzminister hängen.
({25})
Ein letztes Wort, und zwar zu der Einigung von letzter
Nacht zu den Jobcentern. Hier haben wir gemeinsam
eine gute Lösung gefunden. Aber diese hätten Sie schon
voriges Jahr haben können. Das hätten Sie mit uns gemeinsam in der Großen Koalition beschließen können.
Das haben Sie aus durchsichtigen Gründen nicht gewollt.
({26})
Ganz im Gegenteil: Sie haben in den schwarz-gelben
Koalitionsvertrag aufgenommen, dass Sie die bewährte
Zusammenarbeit der Jobcenter mit der Bundesagentur
für Arbeit und den Kommunen beenden wollen. Sie wollen alles wieder auseinanderreißen. Das steht so in Ihrem
Koalitionsvertrag. Gott sei Dank sind Sie klüger geworden. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass ich das gut
finde; denn jetzt können Millionen Langzeitarbeitslose
nach wie vor Leistungen aus einer Hand bekommen.
({27})
Ich stelle fest, dass die Einigung im Wesentlichen
eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Wir wissen,
wie man gute Politik macht. Wenn Sie gute Politik machen wollen, fragen Sie uns. Wir wissen, wie es geht, Sie
nicht.
({28})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss auf den
vorherigen Tagesordnungspunkt zurückkommen. Bei der
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1172 habe ich bei der Verlesung der vielen Ausschüsse, an die der Antrag überwiesen werden soll, den Haushaltsausschuss vergessen. Das
ist ein unverzeihlicher Fehler, den wir jetzt korrigieren
sollten. Ich bitte also um Ihre Zustimmung für die Überweisung des Antrags auch an den Haushaltsausschuss. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das ausdrücklich
so beschlossen.
Nun erteile ich der Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
einiger Zeit diskutieren wir in jeder Plenarwoche mindestens ein Mal über die Situation der Kommunen, heute
sogar anhand von fünf verschiedenen Oppositionsanträgen. Das wäre gut und richtig, wenn wir mit dieser Debatte neue und problemlösende Ideen diskutierten; denn
die Situation der Kommunen ist ernst. Leider steht in
den Anträgen nichts, was nicht sowieso schon Gesetz ist
oder durch Bundesfinanzminister Dr. Schäuble nicht bereits auf den Weg gebracht worden ist. Lieber Kollege
Scheelen, in Ihrem Antrag steht nichts, was in irgendeiner Weise gegenfinanziert ist.
({0})
Es ist kein Wunder, dass Sie Ihren Antrag genau in
der Woche stellen, in der die Haushaltsberatungen vorbei
sind. Alles, was Sie fordern, ist überhaupt nicht gegenfinanziert. Bei den Haushaltsberatungen haben Sie versäumt, entsprechende Anträge zu stellen.
({1})
Sie können das bei den nächsten Haushaltsberatungen
nachholen.
Ich zähle einzeln auf: Sie fordern 1,6 Milliarden Euro
als Kompensation für die Kommunen. Sie fordern, die
Beteiligung des Bundes an den Unterkunftskosten um
3 Prozent anzuheben. Sie fordern, bewährte Programme
wie die Städtebauförderung zu verstärken. Sie fordern
Altschuldenhilfe für Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern. Sie fordern die Erweiterung der kulturellen Projektförderung und die Unterstützung der kulturellen Infrastruktur und, und, und. Die Umsetzung dieser
Forderungen macht ohne Weiteres bis zu 20 Milliarden
Euro aus. Wo war Ihr entsprechender Antrag in den
Haushaltsberatungen? Fehlanzeige! Sie haben sich vor
dieser Debatte bei den Haushaltsberatungen ganz bewusst gedrückt, weil Sie nämlich nicht wussten, woher
dieses Geld genommen werden soll.
({2})
- Herr Poß, ich freue mich immer, wenn Sie bei meiner
Rede anwesend sind; denn dann wird es lebhaft.
({3})
Herr Kollege Scheelen, Ihre Forderung, unseren Ländern auf die Finger zu klopfen, sieht unsere Verfassung
aufgrund unseres föderalen Staatsaufbaus nicht vor.
({4})
Machen Sie doch bitte konkrete Vorschläge, wie wir den
Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern verändern
können. Zu dieser Debatte sind wir mit Sicherheit bereit.
Das von Ihnen gewählte Beispiel Jobcenter ist nun
wirklich das schlechteste Beispiel. Es geht überhaupt
nicht darum, den Kommunen über viele Einzelprogramme - wie Sie sie fordern - immer dann Mittel zur
Verfügung zu stellen, wenn wir uns dazu zwar bereit erklären, diese Mittel aber an eine Zweckbindung geknüpft sind. Vielmehr geht es darum, dass die Kommunalparlamente freie Einnahmen brauchen, mit denen sie
eigenverantwortlich Schwerpunkte in der jeweiligen
Kommune setzen können.
({5})
Die Entscheidung für Jobcenter zeigt, worauf es Ihnen ankommt: Ihnen geht es darum, die Kommunen so
weit wie möglich zu gängeln. Warum sonst sollte es von
einer Zweidrittelmehrheit im Kommunalparlament abhängen, ob sich eine Kommune entscheidet, zu optieren
oder nicht? Wir haben Vertrauen in unsere kommunalpolitischen Kollegen. Wir glauben, dass die Kommunen eigene Einnahmequellen brauchen, damit sie besser Entscheidungen treffen können.
({6})
Wir werden keineswegs die Finger davon lassen. In
der Kommission, die Finanzminister Schäuble einberufen hat, werden wir selbstverständlich den Finger auf
jede Wunde legen, und wir werden jede Chance erörtern,
die es den Kommunen ermöglicht, zukünftig über eigene
und sichere Einnahmequellen zu verfügen. Die Gewerbesteuer ist sehr konjunkturabhängig. Ich habe nicht gehört, welche Einnahmequelle Sie den Kommunen anbieten, die eine Alternative zu den Einnahmen aus der
Gewerbesteuer ist - abgesehen von Einzelprogrammen,
bei denen wir als Bundestagsabgeordnete mit darüber
entscheiden, was die Kommunen mit ihren Mitteln machen.
({7})
- Sie können sich jetzt beruhigen!
Neben den SPD-Anträgen gibt es auch Anträge der
Linken. Diese fordern zum Beispiel ein verbindliches
Mitwirkungsrecht der Kommunen. Sie kritisieren, dass
die institutionelle Garantie der Kommunen, verankert in
Art. 28 des Grundgesetzes, nicht dazu führe, dass Kommunen Debatten, die sie betreffen, mitgestalten dürften.
Das ist völlig daneben. Selbstverständlich sieht dieser
Artikel vor, dass die Kommunen gefragt werden, wenn
es um ihre Einnahmesituation geht. Das ist übrigens eine
ganz alte Tradition in diesem Haus.
Sowohl in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien als auch der Geschäftsordnung des
Deutschen Bundestags sind das Beratungsrecht und die
Fragepflicht der Kommunen ausdrücklich vorgesehen.
Ich zitiere § 41 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der
Bundesministerien:
Zur Vorbereitung von Gesetzesvorlagen, die Belange der Länder oder der Kommunen berühren,
soll vor Abfassung eines Entwurfs die Auffassung
der Länder und der auf Bundesebene bestehenden
kommunalen Spitzenverbände eingeholt werden.
Was Sie fordern, ist also längst Tatsache. Das bewährt
sich in der Praxis. Ob Sie die Unternehmensteuerreform,
das Zukunftsinvestitionsgesetz oder die Föderalismuskommission nehmen: Sie können selbstverständlich in
jedem Protokoll der Anhörungen sachkundige Äußerungen der kommunalen Spitzenverbände lesen. In die Beschlüsse der Föderalismuskommission haben wir die
Forderung der kommunalen Spitzenverbände, dass es
künftig keine Bundesaufgabe mehr gibt, die den Kommunen direkt übertragen wird, sogar eins zu eins aufgenommen. Es gibt also unendlich viele Beispiele, die zeigen, dass diese Zusammenarbeit hervorragend ist.
({8})
Ich bin sicher - das ist Auftrag der Regierungskommission von Herrn Finanzminister Dr. Schäuble -, dass
diese Frage in der Kommission überprüft wird, dass
noch einmal überlegt wird, wie man kommunale Verbände noch besser in zusätzliche Entscheidungen einbeziehen kann.
Nur eine Randbemerkung: Ihnen ist aufgefallen, dass
in der Kommunalkommission der Bundesregierung die
kommunalen Spitzenverbände mit Herrn Christian
Schramm und Herrn Jörg Duppré vertreten sind, wir
Bundestagsabgeordnete aber nicht.
({9})
Ich sehe nicht, dass die kommunalen Spitzenverbände
nicht in dem erforderlichen Umfang auch in diese Kommission eingebunden sind, sodass ich glaube, dass dieser
Antrag in dem Punkt völlig überflüssig ist.
({10})
Als reine Zeitverschwendung würde ich, liebe Kollegen von der Linken, Ihren Antrag „Zukunft der Kommunalfinanzen - Transparenz gewährleisten und Öffentlichkeit herstellen“ bewerten. Sie fordern, eine breite und
ergebnisoffene Debatte über Chancen der dauerhaft stabilen Einnahmesituation der Kommunen zu führen. Seit
20 Jahren tun wir nichts anderes, als darüber zu diskutieren, ob es richtig ist, den Kommunen eine Einnahmequelle neben der Gewerbesteuer und der Grundsteuer zu
ermöglichen. Diese Diskussion wird immer dann besonders laut, wenn die Gewerbesteuer nicht so gut fließt wie
in guten Jahren, also wie es jetzt der Fall ist.
({11})
Dass diese Diskussion ergebnisoffen geführt wird, können Sie daran erkennen, dass wir in den letzten 20 Jahren
keine Lösung gefunden haben.
({12})
Deshalb wäre mir sehr viel lieber, wir führten sie ein bisschen weniger ergebnisoffen und dafür ein bisschen ergebnisorientierter. Das werden wir tun, und das wird
auch die Gemeindefinanzkommission tun.
({13})
Sie fordern weiter, dass Vorschläge, die bisher von
kommunalen Vertretungen, Wahlbeamten, Gewerkschaften und Wissenschaftlern gemacht wurden, in die Diskussion dieser Kommission einfließen. Entschuldigung,
worum geht es denn sonst in dieser Kommission, außer
über die Modelle, die auf dem Tisch liegen, zu diskutieren und gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden eine Lösung zu suchen?
Sie fordern in demselben Antrag auch, dass die Regierungskommission regelmäßig über den Stand der Arbeit öffentlich Bericht erstattet. Der federführende Ausschuss ist gestern informiert worden, und ich bin sicher,
dass er in den nächsten Monaten immer wieder informiert wird. Wie die Kommission es schaffen sollte, völlig geheim die Gewerbesteuer abzuschaffen, auszuweiten oder eine sonstige Kommunalsteuer einzuführen, ist
mir nicht klar. Also, die Öffentlichkeit wird selbstverständlich hergestellt. Ihres Antrags bedarf es deshalb
nicht.
Ich schlage vor, wir lassen die Kommission erst einmal arbeiten. Dann hat sie auch etwas zu berichten. Ich
bin sicher, dass Finanzminister Schäuble seine Zusage,
die er uns gegeben hat, nämlich über die Informationen
zeitnah mit uns zu diskutieren, einhalten wird. Wir werden gemeinsam mit den Städten und Gemeinden eine
Lösung für das Problem der nicht vorhandenen Verstetigung der Einnahmen finden. Selbstverständlich geht das
nicht gegen die kommunalen Verbände. Wir werden gemeinsam nach einer Lösung suchen, und die Kommunen
werden eigenständig über eigene, konjunkturunabhängige Einnahmen beraten. Zu der Diskussion darüber lade
ich Sie ein, und darauf freue ich mich.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat nun Gesine Lötzsch für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die schwäbische Stadt Nürtingen
hat für dieses Jahr ihren Bürgern angekündigt, dass die
Elternbeiträge für den Hort um 5 Prozent, für die Ferienbetreuung um 12 Prozent und für die Musikschulen um
5 Prozent steigen werden. Die Stadt Wuppertal denkt darüber nach, das Schauspielhaus, Schulen und Bäder zu
schließen.
({0})
Ich finde, das sind unhaltbare Zustände für eines der
reichsten Länder der Erde.
({1})
Im Jahr 2009 fehlten den Kommunen 7,1 Milliarden
Euro, und im Jahre 2010 werden es wohl 12 Milliarden
Euro sein. Die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, hat wie
immer Verständnis für die Lage der Kommunen geäußert. Verständnis ist immer gut. Doch woher soll das
Geld für die Kommunen kommen? Diese Frage muss beantwortet werden.
Nun plant die Bundesregierung eine Bankenabgabe.
Das hört sich erst einmal gut an. Doch diese Bankenabgabe soll lediglich 1 Milliarde Euro einbringen; das ist
lächerlich. Diese 1 Milliarde Euro ist nicht einmal für
die Kommunen gedacht. Sie, meine Damen und Herren
von der Bundesregierung, wollen nur die Banken vor der
nächsten Krise schützen, nicht etwa die Kommunen und
die Bürgerinnen und Bürger. Für sie gibt es keinen
Schutz, weder in der jetzigen Krise noch vor zukünftigen
Krisen. Das müssen wir ändern.
({2})
Schauen wir in die Zukunft.
({3})
Ab dem Jahr 2011 wird Finanzminister Schäuble das Volumen des Bundeshaushalts jedes Jahr um 10 Milliarden
Euro kürzen müssen, um die Schuldenbremse, die im
Grundgesetz festgeschrieben wurde, einzuhalten. Wie er
das machen will, hat er uns bisher nicht verraten.
({4})
Klar ist nur, dass angesichts der Schuldenbremse für die
Unterstützung der Kommunen kein Spielraum mehr sein
wird. Im Gegenteil: Er wird die Kommunen mit den
Auswirkungen der Gesetze allein lassen, wie es die
Kommunen seit Jahren erleben. Dieser Zustand muss
endlich beendet werden.
({5})
Aber das ist noch nicht alles. Die Koalition hat vor allen Dingen auf Betreiben der FDP im Koalitionsvertrag
festgeschrieben, dass weitere Steuersenkungen von
24 Milliarden Euro beschlossen werden sollen. Damit
wollen Sie den Kommunen noch mehr Geld entziehen.
({6})
Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein schwerer Fehler,
die Banken an der Finanzierung der Kosten, die im Rahmen der Krise angefallen sind, nicht zu beteiligen. Es
war ein schwerer Fehler, Bund, Länder und Gemeinden
mit einer Schuldenbremse zu knebeln. Es war ein weiterer schwerer Fehler, in dieser Situation weitere Steuergeschenke zu versprechen. Das ist die falsche Politik.
({7})
Eine Politik der Deregulierung der Märkte, der Privatisierung öffentlichen Eigentums und der Zerstörung des
Arbeitsmarktes blutet die Kommunen aus.
Wenn ich die Anträge der anderen Fraktionen lese,
dann habe ich häufig den Eindruck, dass man dort denkt,
die Finanz- und Wirtschaftskrise sei vom Himmel gefallen bzw. habe uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen und die Welt sei vorher in Ordnung gewesen.
Doch die Welt war auch vorher nicht in Ordnung. Die
Regierungen Kohl, Schröder und Merkel haben dazu
beigetragen, dass die Haushaltsnotlage der Kommunen
immer größer wurde.
Ich kann es Ihnen, meine Damen und Herren von der
SPD, nicht ersparen: Ihr Antrag ist zwar gut gemeint;
doch es kommt nicht zum Ausdruck, wie Sie das strukturelle Defizit von 12 Milliarden Euro jährlich beseitigen
wollen. In Ihrem Antrag wird das Problem nicht an der
Wurzel gepackt. Das Problem ist die Agenda 2010, insbesondere Hartz IV. Dies hat nämlich dazu geführt, dass
die Kommunen über 40 Milliarden Euro für soziale
Leistungen aufbringen müssen. Das können die Kommunen nicht schultern; das wissen Sie genau.
({8})
Dies war die falsche Entscheidung. Die Agenda 2010
und Hartz IV müssen abgewickelt werden.
({9})
Wenn das SPD-Präsidium nun vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen einen Rettungsschirm für die Kommunen beschließt, dann ist das gut. Aber Sie müssen natürlich ganz genau erklären, wie Sie ihn finanzieren wollen;
denn wir können nicht noch einmal einen Rettungsschirm in Höhe von 480 Milliarden Euro aufspannen. So
viel Geld ist wirklich nicht vorhanden. Wir können den
Kommunen nur helfen, wenn die Kräfte der Vernunft in
diesem Haus bereit sind, über die Stabilisierung der Einnahmen zu reden. Bundespräsident Horst Köhler haben
wir erfreulicherweise schon auf unserer Seite. Er hat
nämlich erklärt, es gebe keinen Spielraum für Steuersenkungen. Ich finde, da Sie sich so gerne auf den Bundespräsidenten berufen, sollten Sie diese Aussage von ihm
ernst nehmen.
({10})
Um die aktuellen und langfristigen Probleme in unserem Land zu lösen, müssen wir endlich diejenigen zur
Kasse bitten, die uns die Krise eingebrockt haben, an der
Krise verdient haben und jetzt schon wieder im Kasino
zocken. Wir von der Linken wollen Mehreinnahmen.
Mit diesen Mehreinnahmen wollen wir eine stabile Finanzausstattung der Kommunen schaffen und diese
langfristig sichern. Denn das Leben in den Kommunen
ist konkret: Es geht um Schulen, es geht um Schwimmbäder, es geht um Bibliotheken, es geht um Theater. Ich
kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ein reiches Land
wie Deutschland auf all dies verzichten bzw. die kulturelle Landschaft ausdünnen will.
Meine Damen und Herren, der SPD-Antrag enthält
viele Forderungen, die wir von der Linken mittragen
können. Doch der Schirm, den Sie konzipiert haben, ist
leider ein bisschen zu klein. Wir brauchen einen wirklich
verlässlichen Rettungsschirm für die Kommunen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Birgit Reinemund für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie mich nach diesem Rundumschlag über die allgemeine Steuer- und Verteilungspolitik zum Thema kommunale Finanzen zurückkehren.
({0})
Am Dienstag dieser Woche hat das Statistische Bundesamt die aktuellen Zahlen zur Finanzsituation der Städte
und Gemeinden vorgelegt. Die Finanzlage der Kommunen ist noch ernster als erwartet. Im Jahr 2009 klaffte in
den Kassen der Kommunen ein Finanzloch in Höhe von
7,1 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr sind die
Einnahmen im Krisenjahr um rund 2,7 Prozent eingebrochen - die Konjunktur ist übrigens um 5 Prozent eingebrochen -; die Ausgaben der Kommunen stiegen dagegen um 6 Prozent. Das macht deutlich: Wir haben ein
Einnahmeproblem und ein noch wesentlich größeres
Ausgabenproblem.
Verursacht wurde dieses Problem einerseits durch den
Einbruch der Gewerbesteuer - bundesweit um 18,4 Prozent, in einzelnen Kommunen um bis zu 40 Prozent und andererseits durch die Explosion der Sozialausgaben.
({1})
Diese stiegen um 4,9 Prozent auf insgesamt 40,3 Milliarden Euro. Laufende Ausgaben müssen zunehmend über
Kassenkredite finanziert werden. Es ist richtig: Dadurch
werden die notwendigen Gestaltungsspielräume der verfassungsrechtlich geschützten kommunalen Selbstverwaltung immer geringer.
Lassen Sie mich von diesen pauschalen Zahlen absehen; denn die Lage der einzelnen Kommunen stellt sich
recht unterschiedlich dar: Neben schuldenfreien Kommunen gibt es solche mit einer Pro-Kopf-Verschuldung
von über 2 000 Euro, und das über alle Gemeindetypen,
Gemeindegrößen und Regionen hinweg. Das heißt, manche Kommune muss sich fragen lassen, inwieweit sie
konsequent Ausgaben- und Aufgabenkritik betreibt.
({2})
Gleichzeitig gibt es durchaus positive Beispiele: Kommunen, die trotz aller Widrigkeiten ihren Haushalt konsolidieren konnten, zum Beispiel Dresden und Düsseldorf. Die Analyse dieser Best-practice-Beispiele wäre
sicherlich lohnenswert.
({3})
Es besteht Konsens, dass die Kommunen eine solide,
verlässlichere finanzielle Basis brauchen. Darunter verstehen wir allerdings keine plakativen Worthülsen. Wir
streben möglichst schnell eine nachhaltige und tragfähige Lösung an. „Solide“ bedeutet: verlässlich, konjunkturunabhängig und weniger schwankungsanfällig auf der
Einnahmeseite.
Genauso wichtig ist es, die Ausgabenseite zu betrachten. In diesem Zusammenhang sollten wir überprüfen,
ob die Zuweisungsschlüssel im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs die Veränderungen der Bevölkerungsstrukturen noch ausreichend abbilden.
({4})
Am 4. März hat die Regierungskommission, die sich
mit diesen Themenkomplexen befasst, ihre Arbeit aufgenommen. Staatssekretär Koschyk hat diese Woche im Finanzausschuss bestätigt, dass alle Beteiligten zu einer
vorurteilsfreien und zielorientierten Zusammenarbeit bereit sind. Das ist schon einmal ein guter Ausgangspunkt.
({5})
Drei Arbeitsgruppen werden sich mit den Themen
kommunale Steuern, Standards und Rechtsetzung beschäftigen. Damit sind die Weichen gestellt. Die von
SPD und Linken geforderte Transparenz und Beteiligung der Kommunen sind durch die Mitwirkung der
kommunalen Spitzenverbände seit Jahren längst gewährleistet.
({6})
Noch vor der Sommerpause wird es einen Zwischenbericht geben, und bis zum Herbst soll das Konzept stehen.
Dieser Zeitplan ist sehr ambitioniert, realistisch und
dringend notwendig.
Die kurzfristigen Hauruck-Aktionen, die die SPD in
ihrem Antrag vorschlägt, verpuffen, wenn die strukturellen Defizite nicht behoben werden. Wie fair und solidarisch ist es denn, schlecht wirtschaftenden Kommunen
finanziell unter die Arme zu greifen und die, die sich
schmerzhaft konsolidieren, links liegen zu lassen?
({7})
Wir werden die Grundstrukturen des Systems verbessern. Sie doktern an den Symptomen herum.
({8})
Das ist populistisch und erzielt keine nachhaltige Wirkung. Als kurzfristige Maßnahmen gab es die Konjunkturpakete und die - seit langem höchsten - Zuweisungen
an Kommunen. Wie Sie selbst erkannt haben, basieren
die Finanzprobleme der Kommunen in erster Linie auf
den strukturellen Fehlentwicklungen der letzten Jahre.
Ich erinnere an dieser Stelle daran, dass es die SPD war,
die die letzten elf Jahre den Finanzminister gestellt hat
({9})
und die Kommunen jahrelang im Regen stehen ließ. Die
Kommunen leiden nicht unter Schwarz-Gelb, sie leiden
an den Folgen von Rot-Grün.
({10})
Sie selbst beschreiben in Ihrem Antrag, und zwar
durchaus richtig, die strukturelle Unterfinanzierung der
Kommunen und fordern, dass diese durch mittelfristige
und langfristige Maßnahmen beseitigt werden. Da sind
wir ganz auf einer Linie. Dann stellen Sie fest, dass der
Umfang der kommunalen Aufgaben und Ausgaben und
die zur Verfügung stehenden Einnahmen in Einklang gebracht werden müssen. Auch das ist absolut richtig.
Doch ist der vorwurfsvolle Ton nicht ziemlich heuchlerisch? Es war schließlich die rot-grüne Regierung, die
den Kommunen mit der fortlaufenden Übertragung von
Aufgaben finanziell die Luft abgeschnürt hat,
({11})
zum Beispiel mit dem Gesetz zum Krippenausbau ohne
gleichzeitige Kostenübernahme
({12})
und mit dem Gesetz zu den Kosten der Unterkunft für
Hartz-IV-Empfänger.
({13})
- Das habe ich sehr wohl nachgelesen, Herr Binding. Soll Ihr gegenwärtiger Aktionismus eventuell die Fehler
Ihrer eigenen Regierungszeit kaschieren?
({14})
Das müssen Sie nicht tun. Wir gehen die Themen jetzt
an.
({15})
Strukturelle Probleme müssen mit Strukturreformen
gelöst werden. Ich lade Sie ein, konstruktiv, vorurteilsfrei und offen mitzuarbeiten. Diskussionsgrundlage,
auch der Kommission, ist die im Koalitionsvertrag vereinbarte Strukturreform. Die in höchstem Maße konjunkturabhängige Gewerbesteuer soll aufkommensneutral ersetzt werden durch eine stabile, verlässlichere
Einnahmequelle, durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer mit einem eigenen Hebesatzrecht für die Kommunen. Wir diskutieren
ergebnisoffen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat nun Kollegin Britta Haßelmann für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein
Gott, Frau Reinemund, um Ihre Vorstellung von der
kommunalen Wirklichkeit sind Sie wirklich nicht zu beneiden. Ich rate Ihnen: Fahren Sie einfach einmal nach
Nordrhein-Westfalen und unterhalten Sie sich mit den
Menschen, die in den Kommunen Politik machen.
({0})
In Ihrer Wirklichkeit kommt Kommunalpolitik nicht vor.
Ihre latente Botschaft war: Es gibt Kommunen, die
haben es geschafft, die haben sich aus eigener Kraft saniert,
({1})
und es gibt welche, die haben das nicht getan, die haben
sich anscheinend nicht genug angestrengt. Meinen Sie,
den Kommunen eine solche Botschaft übermitteln zu
müssen? In den Kommunen gibt es 35 Milliarden Euro
Kassenkredite. 15 Milliarden Euro davon gibt es allein
in Nordrhein-Westfalen. Ich rate wirklich niemandem in
diesem Haus, eine Botschaft nach dem Motto: „Wisst
ihr, ihr habt einfach nur eine falsche Politik vor Ort gemacht, und daran liegt das Wohl und Wehe der Kommunen“ zu propagieren.
({2})
Ich finde das ungeheuerlich.
({3})
Vermitteln Sie das einmal Leuten, die jeden Tag Kommunalpolitik machen, und das auch noch ehrenamtlich.
({4})
Genauso unangenehm fällt eine Bemerkung der
Kanzlerin auf. In Wahlkampfreden sagt sie dauernd - in
Nordrhein-Westfalen tritt sie zurzeit besonders häufig
auf;
({5})
ob das hilft, sei einmal dahingestellt; der CDU geht es ja
schlecht;
({6})
das wissen die CDUler hier vorne selber -: Wir müssen
jetzt etwas für die Kommunen tun. Letzte Woche sagte
sie noch, die Menschen müssten Spaß an Kommunalpolitik haben.
({7})
Wie wahr, Frau Merkel. Nur, dann muss man hier in Berlin endlich einmal mit der kommunenfeindlichen Politik
aufhören. Herr Dautzenberg, das wissen Sie doch ganz
genau.
({8})
Frau Reinemund, auch wenn Sie erst seit Beginn dieser Legislaturperiode dabei sind: Es ist eine Mär, dass
die Situation, die heute in den Städten und Gemeinden
herrscht, das Resultat von rot-grüner Politik ist. Wissen
Sie eigentlich, wie lange hier schon eine andere Regierung existiert, wie lange in Nordrhein-Westfalen
Schwarz-Gelb regiert und wie viele Klageverfahren die
Kommunen dort gerade gegen diese schwarz-gelbe Landesregierung anstreben?
({9})
Ich glaube, Sie wissen es nicht. Aber ich will mich nicht
zu lange damit aufhalten.
Vielleicht nenne ich Ihnen einfach einmal ein paar
Fakten. Mindereinnahmen für die Kommunen seit
Ende 2008 durch Bundesbeschlüsse - ({10})
- Seien Sie doch erst einmal ganz ruhig. Das waren Bundesbeschlüsse. Da haben Sie von der CDU mitregiert.
Da können Sie nicht sagen: Rot-Grün war es!
Mindereinnahmen für die Kommunen seit Ende
2008 - da gab es noch Schwarz-Rot - durch Bundesbeschlüsse: Die Mindereinnahmen durch die Konjunktur3128
pakete I und II - sie brachten 10 Milliarden Euro zusätzlich für die Kommunen für zwei Jahre; was haben wir
uns alle auf die Schultern geklopft - betrugen 2,5 Milliarden Euro.
({11})
Bürgerentlastungsgesetz: 1,7 Milliarden Euro Mindereinnahmen.
({12})
Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz:
1,6 Milliarden Euro Mindereinnahmen; dies wurde jetzt
unter Schwarz-Gelb beschlossen. Über die Änderung
steuerlicher Regelungen bei Funktionsverlagerungen
wird ja Ende der Woche im Bundesrat entschieden.
Jürgen Rüttgers reißt gerade den Mund ganz weit auf
({13})
nach dem Motto, er stimme keinem einzigen Gesetz
mehr zu, das negative Auswirkungen, sprich Steuersenkungen, für die Kommunen bedeutet. Am Freitag werden wir einmal sehen, wie Jürgen Rüttgers im Bundesrat
abstimmt.
({14})
Besteuerung von Funktionsverlagerungen: 0,65 Milliarden Euro weniger für die Kommunen.
({15})
Sie wissen das alles. Das ergibt unter dem Strich - ich
sage das für die, die nicht so schnell mitgerechnet haben knapp 6,5 Milliarden Euro Mindereinnahmen seit Ende
2008 nur durch Bundesbeschlüsse.
Wie sollen die Städte und Gemeinden das verkraften?
Erklären Sie uns das doch einmal!
({16})
Denn zu diesen Steuerbeschlüssen kommen noch die
wahnsinnigen Auswirkungen der Krise und der aktuellen
konjunkturellen Situation. Die aktuellen Zahlen liegen
vor: 14,8 Milliarden Euro weniger für die Kommunen;
das ist Fakt. Wir haben bei den Gewerbesteuereinnahmen Einbrüche von 19,7 Prozent und bei den Steuern ein
Minus von 11,4 Prozent.
({17})
Kommen Sie doch hier nicht mit typischen Erklärungsmustern wie „man werde schon helfen“ und „es werde
schon besser werden“, wenn die Kommunen Kritik an
der Aufgabenzuweisung äußern. Wir müssen hier im
Bundestag systematisch auf Steuersenkungen verzichten. Geben Sie doch endlich einmal eine Garantie dafür
ab, dass Sie davon absehen, Ihre Steuersenkungspläne
weiter zu verfolgen; denn Sie schaden den Kommunen.
({18})
Erklären Sie den Menschen doch einmal, wie Sie die
Gewerbesteuer ersetzen wollen. Die Einnahmen durch
die Gewerbesteuer betragen 35 Milliarden Euro.
({19})
- In der Spitze, Herr Dautzenberg, okay. Aber Sie sprechen doch dauernd vom Wachstum und sagen, dass es
besser wird.
({20})
Wenn Sie auf diese 35 Milliarden Euro verzichten
wollen,
({21})
was Sie ja anscheinend planen - die FDP erklärt doch
dreimal pro Woche, sie wolle die Gewerbesteuer abschaffen -,
({22})
dann sagen Sie doch einmal, wer diese 35 Milliarden
Euro dann zahlen soll.
({23})
Wenn die Kommunen dies über ihre Anteile an der Körperschaftsteuer, der Einkommensteuer, der Mehrwertsteuer und der Umsatzsteuer ausgleichen, bedeutet das,
meine Damen und Herren - ich sage das auch an die
Menschen, die heute der Debatte zuhören -, dass nicht
mehr die Unternehmen vor Ort durch die Gewerbesteuer
in die Verantwortung genommen werden,
({24})
um auch ihren Beitrag zur Daseinsvorsorge zu leisten,
sondern dass die Bürgerinnen und Bürger in die Haftung
genommen werden.
({25})
Das ist Fakt, wenn wir uns von der Gewerbesteuer verabschieden und eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuer vornehmen. Körperschaftsteuer betrifft auch
Unternehmen; darüber können wir gerne diskutieren.
Aber eine Verlagerung in Richtung Einkommensteuerund Umsatzsteueranteile zahlen - das wissen Sie ganz
genau - am Ende die Bürgerinnen und Bürger. Deshalb
stehen Sie in der Frage schlecht da.
Kollegin Haßelmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Ja, natürlich, Herr Dautzenberg.
Frau Kollegin Haßelmann, konstatieren Sie und stimmen Sie mir zu, dass die Gewerbesteuer durch einen betrieblichen Teil der Einkommensteuer ersetzt wird und
dass die Körperschaftsteuer der klassische Teil der Unternehmensbesteuerung ist?
Herr Dautzenberg, wir beide wissen sehr genau, wie
die Gewerbesteuer funktioniert. Deshalb glaube ich
auch, dass Sie wissen, dass die Pläne der FDP, die Gewerbesteuer komplett abzuschaffen, problematisch sind.
({0})
Ich weiß, dass Sie persönlich immer „ersetzen“ sagen.
({1})
Aber Ihre Koalition sagt: Wir schaffen das Ganze ab. Da
liegt der Unterschied. Wir beide wissen genau, wie es
funktioniert.
({2})
Ich sage Ihnen: Sie dürfen die Unternehmen nicht aus
der Verantwortung für die Daseinsvorsorge ihrer Stadt
und Gemeinde - sie müssen hier Verantwortung zeigen entlassen.
({3})
Herr Dautzenberg, möchten Sie eine zweite Frage
stellen?
({0})
Lassen Sie, Frau Haßelmann, eine zweite Frage zu?
Ich glaube, ich habe auf Ihre Frage hinreichend geantwortet.
({0})
Die Detailprobleme im Hinblick auf die Gewerbesteuer
werden wir in meinem Redebeitrag von noch einer Minute nicht lösen.
({1})
Ich muss korrigieren: Sie haben noch eine halbe Minute, wie Ihnen auch angezeigt wird.
({0})
Okay, gut.
Wir werden die Debatte über die Gewerbesteuer fortsetzen.
({0})
- Nein. Wir wissen doch ganz genau, wovon die Rede
ist.
({1})
Sie arbeiten mit verteilten Rollen. Jürgen Rüttgers erklärt überall in Nordrhein-Westfalen: Es gibt keine weiteren Steuersenkungen zulasten der Kommunen, und die
Gewerbesteuer bleibt bestehen.
({2})
Gleichzeitig planen Sie hier etwas ganz anderes. Sie
wollen die Gewerbesteuer abschaffen. Sie machen sich
aber einen schlanken Fuß,
({3})
indem Sie die Diskussion in die Kommission verlagern.
Sie wollen am liebsten außerhalb des Parlaments, nämlich in der Kommission, darüber diskutieren.
({4})
Wir werden erst beteiligt, wenn das Ganze beschlossen
ist. Dann darf auch das Parlament etwas dazu sagen.
Jetzt möchte ich noch einen Satz an die SPD richten.
Ich freue mich, dass Sie, wie auch wir, eine Weiterentwicklung der Gewerbesteuer wollen, zum Beispiel
durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage.
({5})
An dieser Stelle sage ich Ihnen: Für einen Teil der Steuerbeschlüsse tragen, wie ich gerade ausgeführt habe,
auch Sie Verantwortung.
({6})
Mich ärgert, dass Sie sich einen schlanken Fuß gemacht
haben, als wir in der letzten Woche im Bundestag über
die Kosten der Unterkunft gestritten haben.
Kollegin Haßelmann, das ist ein sehr langer letzter
Satz.
Ich komme zum Ende. - Wir haben ganz klar gesagt:
Die Kosten der Unterkunft müssen sich an den tatsächlichen Kosten orientieren; denn sonst zahlen die Städte
und Gemeinden die Zeche. Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht, den Sie abgelehnt haben.
Eine Erhöhung um 3 Prozentpunkte reicht an dieser
Stelle nicht aus.
Sie sprechen jetzt auf Kosten Ihrer Fraktion.
Das wissen Sie.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir
mussten den größten Wirtschaftseinbruch seit den 30erJahren hinnehmen. 2009 sackte das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland um 5 Prozent ab. 2010 ist nur mit
einer leichten Erholung auf niedrigem Niveau zu rechnen. Die schwerste und gefährlichste Wirtschafts- und
Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg schlägt auf alle
Gebietskörperschaften durch. Wir stehen vor einer Herkulesaufgabe. Die Folgen der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, unter anderem die daraus resultierenden gewaltigen Einnahmeeinbrüche der Kommunen, müssen
wir möglichst schnell beseitigen.
Dazu gibt es, wie diese Debatte zeigt, unterschiedliche Ansätze. Wir wollen Finanzmarktstabilität, Wachstum und Konsolidierung. Das ist unser Ziel. Wir müssen
natürlich zunächst einmal über die Ausgangslage reden:
Wie sah die Ausgangslage aus? 2008 hatten wir noch
hervorragende Verhältnisse. Die Kommunen verzeichneten einen Überschuss in Höhe von 7,7 Milliarden Euro;
({0})
das ist eine Tatsache.
({1})
2009 sanken die Steuereinnahmen auf 62,4 Milliarden
Euro. Das war ein Rückgang gegenüber dem Vorjahresbetrag um 11,4 Prozent. Letzten Endes wurde durch
diese Entwicklung, die eindeutig mit der Finanzmarktund Wirtschaftskrise zu tun hat, ein großes Loch in die
Haushalte der Kommunen gerissen. Heute beträgt das
Defizit 7,1 Milliarden Euro. Das ist die Ausgangslage,
die den akuten Handlungsbedarf aufzeigt.
Das kommunale Handeln ist aufgrund der Finanzkrise
zweifellos stark eingeschränkt. Die Situation der Kommunen muss stabilisiert werden. Der politisch motivierte
Versuch der Opposition, diese Probleme der heutigen
Bundesregierung anzulasten, ist jedoch unglaubwürdig,
sachlich falsch und nicht zielführend.
({2})
Ihre Polemik, meine Damen und Herren, hilft unseren
Kommunen nicht. Nur Reformfähigkeit, Wirtschaftsförderung und Entlastung helfen unseren Kommunen. Das
ist der richtige Rettungsschirm, nicht aber Steuererhöhungen, Mangelverwaltung und was Sie sonst noch auf
Ihrer Agenda haben. Wir wollen unseren Kommunen
konkret helfen, und zwar durch Finanzmarktstabilität,
Konsolidierung und Wachstumsentwicklung.
({3})
Die Sicherung der Kommunalfinanzen ist für uns ein
wichtiges Anliegen. Die Bekämpfung der Auswirkungen
der Wirtschaftskrise auf die Kommunen wird offensiv
angegangen.
({4})
Wir haben das Konjunkturpaket II geschnürt. Es ist
ein Erfolgsmodell. Maßnahmen im Umfang von 8,3 Milliarden Euro wurden in die Wege geleitet. Ich verstehe
nicht, dass es Länder in dieser Republik gibt - insbesondere die, die von Ihnen regiert werden -, die das Zusätzlichkeitskriterium im Zukunftsinvestitionsgesetz aufweichen wollen. Das ist kontraproduktiv. Wir wollen keine
Förderung mit der Gießkanne, sondern das Gegenteil:
eine gezielte Förderung der Kommunen.
({5})
Wir haben die Einsetzung einer Gemeindefinanzkommission beschlossen.
({6})
Ich bin der Bundesregierung sehr dankbar, dass sie die
Umsetzung des Koalitionsvertrages jetzt schon konkret
angegangen ist. Herr Bundesfinanzminister, die Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der Gemeindefinanzen ist in der
jetzigen Zeit der richtige Weg. Dafür sind wir dankbar.
Die Kommission wird auf der Basis einer Bestandsaufnahme Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung erarbeiten und bewerten. Im Rahmen dieser Bestandsaufnahme soll es auch um die Frage der
Gewerbesteuer sowie um die Frage der anderen Finanzbeziehungen zwischen Wirtschaft und Kommunen gehen.
({7})
Wir wollen ein stabiles Band zwischen Wirtschaft und
Kommunen. Wir wollen dieses Wellental bei der Gewerbesteuer nicht mehr. Wir wollen eine Verstetigung der
Einnahmen der Kommunen. Das ist ein wesentlicher
Punkt.
Wir wollen deutlich machen, dass in einer Finanzverfassung, wie wir sie haben, nicht nur im Falle von Steuermehreinnahmen, sondern auch im Falle von Steuermindereinnahmen alle Gebietskörperschaften beteiligt sind.
Anders geht es nicht. Wir können doch keinen Verschiebebahnhof organisieren. Das wäre völlig falsch.
({8})
Wir betreiben in dieser Frage eine konsequente und
fachlich klare Haushalts- und Steuerpolitik gemäß unserer Finanzverfassung. Wenn Sie die Einnahmeseite stärken wollen, dann müssen Sie Leistungsanreize setzen.
Diese Anreize setzen wir durch unsere steuerpolitischen
Maßnahmen. Für die Kommunen bedeutet das zukünftig
Mehreinnahmen.
({9})
Es handelt sich dabei nicht um Steuergeschenke. Substanzbesteuerung ist kontraproduktiv. Das, was wir im
Wachstumsbeschleunigungsgesetz gemacht haben, ist
für die Kommunen hilfreich.
({10})
Wir haben zum Beispiel die Verlustnutzung bei Sanierungen von Betrieben zugunsten des Erhalts von Betrieben und Arbeitsplätzen erst wieder möglich gemacht.
Was nützt es unseren Kommunen, wenn die Betriebe vor
Ort vor die Hunde und Arbeitsplätze verloren gehen? Es
darf keine Substanzbesteuerung geben.
({11})
Diese Korrektur war absolut zielführend für unsere
Kommunen. Das gilt auch für die Zinsschrankenänderung und die Funktionsförderung in der Forschung. Das
alles sind ganz gezielte Maßnahmen, die uns in unserer
Aufgabe, die Kommunen zu stabilisieren und zu stärken,
voranbringen.
({12})
Ganz fatal ist es, wenn Sie ausgerechnet die Förderung von Familien sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, also das Kindergeld und die Tarifentlastung, geißeln. Das ist doch eine verkehrte Welt. Auch
durch den Konsum entstehen Mehreinnahmen bei den
Kommunen.
({13})
Deswegen sage ich: Sie haben mit diesen Einnahmeausfällen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro für die Kommunen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz den Teufel an die Wand gemalt. Die Tatsachen sehen nämlich
ganz anders aus. Wir haben ein klares Konzept für
Wachstum, Finanzmarktstabilität, Entlastung und Förderung der Kommunen. Das sind die richtigen Rettungsschirme, und sie werden uns zum Erfolg führen. Deswegen sind Ihre Anträge für die Kommunen absolut
kontraproduktiv. Wir haben ein klares ökonomisches
Konzept, wie wir in die Zukunft gehen wollen. Das wird
den Kommunen letzten Endes helfen, so, wie es 2008
zum Erfolg geführt hat.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir diskutieren heute auch über die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotelübernachtungen, die
uns diese Koalition eingebrockt hat,
({0})
mit der sie den Hotels Millionen geschenkt und den
Kommunen Millionen genommen hat.
({1})
Auch aus diesem Grund ist ein Rettungsschirm für Kommunen notwendiger denn je.
Eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten
wir der Union und der FDP dankbar sein; denn der
schwarz-gelben Koalition ist etwas gelungen, was mit
Gesetzen nicht immer gelingt: Sie hat unser Leben tief
und nachhaltig beeinflusst. Den Beweis halte ich hier in
meinen Händen. Ich darf aus einem Hinweis des Referates PM 2 der Verwaltung des Deutschen Bundestages zur
Abrechnung von Reisekosten zitieren:
Die Kosten für das Frühstück können ab sofort nur
erstattet werden, wenn eine Arbeitgeberveranlassung vorliegt.
Danke, liebe Regierungskoalition! Wenn wir Sie und Ihr
Wachstumsbeschleunigungsgesetz nicht gehabt hätten,
hätten wir das nie erfahren.
({2})
Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwas sarkastisch
bin; aber die Mehrwertsteuerermäßigung für Übernachtungen - wir wollen sie mit unserem Gesetzentwurf
heute rückgängig machen - bietet sich geradezu dafür
an, sarkastisch zu sein. Ich habe mir in der Vorbereitung
auf die heutige Debatte noch einmal angeschaut, was
mein Kollege Martin Gerster am 9. Februar im Finanzausschuss gesagt hat. Mein Kollege hat einfach die Äußerungen verschiedener Politiker zu diesem Thema aufgelistet. Ich sage Ihnen: Aus diesen Äußerungen könnte
man ein ganzes Comedyprogramm gestalten. Kolleginnen und Kollegen, we proudly present: Herr
Dr. Pinkwart von der nordrhein-westfälischen FDP will
das Gesetz aussetzen; man habe ein „bürokratisches
Monster“ geschaffen. Herr Dr. Rüttgers findet das gut 3132
nicht das mit dem bürokratischen Monster, sondern das,
was Herr Dr. Pinkwart gesagt hat. Da frage ich mich:
Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundesrat zugestimmt? Der Kollege von der CDU, Herr Kolbe, sagte
am 25. Januar der Presse, dass die Mehrwertsteuerermäßigung der Koalition den Start vermasselt habe. Auch
der Kollege Dr. Wissing von der FDP war mit dem Entwurf und der Bevorzugung von Sondergruppen nicht zufrieden.
({3})
Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Finanzausschuss zugestimmt? Unser Bundestagspräsident, Herr Dr. Lammert, hielt die Mehrwertsteuerermäßigung für eine „nicht vertretbare Regelung“.
Da frage ich mich: Wer hat dem Gesetzentwurf eigentlich im Bundestag zugestimmt?
({4})
Es könnte trotzdem alles in Ordnung sein, wenn wenigstens die Hotelbetreiber dankbar und zufrieden wären. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil, die Hotels
haben plötzlich einen erhöhten Verwaltungsaufwand.
Genauso geht es den Reiseunternehmen, den Wirtschaftsverbänden und den Finanzämtern. Wir halten also
fest: Die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels ist Mist.
({5})
Immerhin können wir durch die Mehrwertsteuerermäßigung für Hotels viel Neues lernen: Tierpensionen sind
keine Hotels; sie genießen keine Steuerermäßigung. Allerdings ist die Übernachtung des Tieres doch steuerermäßigt, wenn es mit einem Menschen in einem Hotel
übernachtet. Wenn Kabinen auf Schiffen der Beförderung dienen, sind sie nicht steuerermäßigt, wenn sie dem
Wohnaufenthalt dienen, schon. Der Handtuchwechsel im
Hotel ist steuerermäßigt. Bahnfahrten im Schlafwagen
sind es nicht. Plätze zum Abstellen von Fahrzeugen sind,
selbst wenn es sich bei diesen Fahrzeugen um Campingmobile handelt, nicht steuerermäßigt - es sei denn, es
handelt sich um Campingplätze.
({6})
Auch Tagungsräume und Stundenhotels sind nicht umsatzsteuerermäßigt - wenigstens etwas.
({7})
Was sagt die Finanzverwaltung dazu? Sie will bei der
Anwendung des Gesetzes kulant sein. Gott sei Dank,
was für eine Erleichterung für den Bürger!
({8})
Wir werden das Steuerrecht spürbar vereinfachen
und von unnötiger Bürokratie befreien.
Wissen Sie, wer das gesagt hat? - Das waren die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP in ihrem Koalitionsvertrag.
({9})
Aus diesem Grund wollen wir eine Kommission
einsetzen, die sich mit der Systemumstellung bei
der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der ermäßigten Mehrwertsteuersätze befasst.
Wissen Sie auch, wer das gesagt hat? - Genau: Auch das
steht in dem Koalitionsvertrag.
({10})
Zeit wird es, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen; denn das Einzige, was Sie zwei
Monate nach Inkrafttreten Ihres Gesetzes haben sinken
sehen, sind nicht die Hotelpreise, sondern Ihre Umfragewerte.
({11})
Die Hotelpreise sind im Gegensatz dazu gestiegen.
({12})
Ich frage mich: Was war denn eigentlich noch einmal
das Ziel, das mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
verbunden war? Wachstum? Meinten Sie das Wachstum
der Gewinnmarge der einzelnen Lobbygruppen oder das
Wachstum der Branche durch mehr Übernachtungen?
({13})
Ob und wie viel investiert worden ist, ist eine schöne
Frage, die wir uns aufheben, und Sie können sich sicher
sein, dass wir sie immer und immer wieder stellen werden, es sei denn, Sie machen heute dem Spuk ein Ende
({14})
und stimmen unserem Gesetzentwurf heute zu, mit dem
Sie das Thema ein für alle Mal vom Tisch hätten. Außerdem hätten Sie den großen Vorteil, politische Größe gezeigt zu haben. Das wird aber wahrscheinlich nicht passieren.
({15})
Warum nicht? - Das wird deshalb nicht geschehen,
weil es Ihrem Plan für Deutschland widersprechen
würde, wenn wir ein Land hätten, in dem die Politik
nicht durch die Interessen einzelner Wirtschaftsteilnehmer bestimmt wird,
({16})
und wenn wir ein Land hätten, in dem man einen Interessenausgleich sucht, statt nur die Interessen einer bestimmten Klientel zu vertreten. Manchmal wird von der
FDP ja nicht nur das Interesse einer Branche, sondern
sogar das Interesse eines einzelnen Wirtschaftsteilnehmers höher als das Allgemeinwohl gewertet.
({17})
Herr Westerwelle hat uns ja immer wieder gesagt, wie
er sich seine Welt vorstellt,
({18})
eine Welt mit Menschen, die ihren Lohn nicht mehr von
Unternehmen, sondern als ergänzende Sozialleistung
vom Staat erhalten, eine Welt mit Unternehmen, die dadurch ihre Gewinne ins Unermessliche steigen lassen,
darauf aber möglichst keine Steuern zahlen müssen,
({19})
eine Welt mit Kommunen, die nicht mehr für sich selber
sorgen können und nach dem Willen der FDP dann wohl
auch abgeschafft werden müssen.
({20})
Gott sei Dank regiert die FDP aber nicht alleine; sie
hat ja noch einen Koalitionspartner. Was macht der? Nun, die CSU mosert zwar ständig gegen die FDP,
({21})
macht aber nichts richtig Eigenes. Die CDU lässt jeweils
eine Seite gewähren und versucht im Erfolgsfalle, das
Ganze als ihre Idee hinzustellen. Das kennen wir aber
schon aus der Großen Koalition.
Ich und mit mir Hunderte von Kommunen in
Deutschland wollen endlich einmal eine Antwort auf die
Frage bekommen, wie die Regierung die finanzielle Zukunft der Kommunen sieht.
({22})
Die Antwort der Regierung lautet: Wir haben dafür eine
Kommission.
({23})
Meine Frage lautet: Was machen Sie denn inzwischen?
Was machen Sie bis zur NRW-Wahl? Nichts?
Sagen Sie den Kommunen, dass Ihnen das Wahlergebnis in NRW wichtiger ist, als es die Finanzen und
damit auch die soziale und kulturelle Ausstattung der
Kommunen sind?
({24})
Sagen Sie ihnen, dass Sie auch weiterhin Gelder, die die
Kommunen wirklich brauchen, an Wirtschaftsunternehmen verteilen wollen? Sagen Sie ihnen das wirklich?
Mein üblicher Schlusssatz: Schaffen Sie die Klientelpolitik ab, stimmen Sie unserem Antrag zu, und kümmern Sie sich endlich um die Probleme in diesem Land!
({25})
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bätzing, Sie haben sich heute hier eines ernsthaft
erworben, nämlich den Titel der Märchenerzählerin des
Tages.
({0})
Sie haben dabei nur eines vergessen: dass nämlich gerade Ihre SPD in Bayern die Mehrwertsteuersenkung für
Hotels und Gastronomiebetriebe genauso gefordert hat.
Weil an Ihrem Märchen etwas gefehlt hat, möchte ich
das ergänzen: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann
reden sie als SPD in Bayern noch immer in der Opposition. - Daran sollten Sie immer denken.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aufgabenstellung ist eindeutig: Der Schieflage in den kommunalen
Haushalten muss jetzt entgegengewirkt werden. Wir
müssen jetzt handeln, um die immer deutlicher werdende
Misere - ich glaube, das sehen wir alle im Haus so - in
den Griff zu bekommen. So gesehen finde ich es gut,
wenn hier im Haus Konsens herrscht. Erstaunlich ist nur,
dass gerade die Kolleginnen und Kollegen von der SPD
hier so auftrumpfen. Sie haben die Kommunen elf Jahre
lang mit drei Finanzministern gequält.
({2})
Das waren Herr Lafontaine - daran erinnern Sie sich
nicht so gerne -, Herr Eichel und Herr Steinbrück. Aber
keiner Ihrer Minister hat es geschafft, eine wirklich
grundlegende Lösung zu finden. Von daher müssen Sie
sich erst einmal selbst fragen lassen, was Sie eigentlich
gemacht haben.
({3})
Wenn ich von Ihnen höre: „Wir brauchen eine kommunalfreundliche Politik“, dann sage ich Ihnen eines:
Das machen wir jetzt, weil Sie es nicht hinbekommen
haben.
({4})
Herr Scheelen, Frau Haßelmann, Sie erzählen hier ja
immer von den Kommunen in Nordrhein-Westfalen.
Ich kann Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Ich darf
sie erzählen, weil ich ja gelernt habe, wie man das
macht.
({5})
- Nein, das ist leider kein Märchen: Sie sind schuld daran, dass es Köln so schlecht geht. 1999 bei der Kommunalwahl hat es in Köln und in Düsseldorf eine deutliche Mehrheit für Schwarz-Gelb gegeben. Ich kann Ihnen
sagen, was in Düsseldorf passiert ist: Wir haben dort
zehn Jahre lang die kommunalen Haushalte saniert.
({6})
Wir sind seit Jahren schuldenfrei. Wir haben über
100 Millionen Euro in die Schulen investiert und jede
Steuer gesenkt. Den Unternehmen geht es gut und den
Bürgerinnen und Bürgern auch.
({7})
Was ist in Köln passiert?
Kollegin Piltz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann?
Nein, im Moment nicht.
({0})
Sie kommt ja weder aus Köln noch aus Düsseldorf. Und
nach einer Kurzintervention, Frau Haßelmann, habe ich
drei Minuten Zeit zum Antworten; das ist noch schöner.
Es gibt kein Grundrecht auf Kurzinterventionen. Insofern ist noch nicht klar, ob Sie diese drei Minuten zur
Antwort überhaupt erhalten.
({0})
Also: In Köln hat es Rot-Grün geschafft, dass diese
Stadt wirklich am Ende ist.
({0})
Ich sage das nicht, weil ich Düsseldorferin bin. Ich leide
wirklich mit Köln. Manchmal frage ich mich, ob wir als
Düsseldorfer nicht Entwicklungshilfe leisten müssten.
({1})
Daran sehen Sie, was eine Regierung unter Rot-Grün kaputtmachen kann. Das sollten Sie sich einfach einmal
klarmachen und nicht pauschal davon reden, dass die Situation in Nordrhein-Westfalen so schlimm ist.
({2})
Frau Haßelmann, noch ein Wort zu Ihnen: Wenn Sie
sagen, dass die schwarz-gelbe Regierung in Düsseldorf
die Kommunen kaputtgespart hat, dann sage ich Ihnen:
Das Land hat dieses Jahr trotz rückläufiger Steuereinnahmen den zweithöchsten Betrag aller Zeiten, nämlich
7,6 Milliarden Euro, an die Kommunen gegeben. Ich
frage Sie: Was hat denn Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen gemacht, solange es regiert hat? - Gar nichts! Sie haben uns verfassungswidrige Haushalte beschert, mehr
nicht!
({3})
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir uns mit
der Verstetigung der Kommunalfinanzen beschäftigen. Sie haben eigentlich genau das Gegenteil gemacht:
Sie haben über die Substanzbesteuerung auch noch die
Liquidität der Unternehmen gefährdet. Das heißt, Sie haben die Einnahmenseite nur begrenzt verbessert, die Finanzsituation der Unternehmen geschwächt und damit
die Vernichtung von Arbeitsplätzen bewirkt.
({4})
Ich frage mich, ob es das ist, was Sie gewollt haben.
Ich frage mich auch noch etwas anderes, wenn Sie
hier immer wieder mit dem Thema Hotels anfangen:
Herr Scheelen, wo waren Sie eigentlich, als die sogenannte Große Koalition 5 Milliarden Euro per Federstrich in die Autoindustrie gesteckt hat? Wo sind Sie
denn da gewesen? Wo waren Sie denn, als die Kommunalpolitiker der Grünen und insbesondere der SPD gejault haben: Warum gebt ihr der Autoindustrie 5 Milliarden Euro und gebt diese Mittel nicht an die Kommunen?
({5})
Das habe ich bei Ihnen vermisst. Das ist unehrlich. Aber
das mag sicherlich daran liegen, dass Herr Gabriel und
die SPD ordentlich Geld mit der Autoindustrie verdient
haben.
({6})
Ich jedenfalls bin froh, Herr Schäuble - und deshalb
mein Dank an Sie -, dass Sie sich der kommunalen Finanzen so schnell annehmen. Es ist mir auch wichtig,
dass wir nicht nur über die Einnahmenseite, sondern
auch über die Ausgabenseite sprechen. Ich hoffe, dass
sich alle Mitglieder dieser Kommission - das gilt insbesondere für die Opposition und die kommunalen Spitzenverbände - endlich von dem Gedanken befreien, dass
die Gewerbesteuer, so wie sie jetzt angelegt ist, die beste
Steuer in diesem Zusammenhang ist.
({7})
Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen das Gewerbe
nicht aus seiner steuerlichen Verantwortung entlassen.
Aber das muss nicht über die Gewerbesteuer erfolgen.
Das müssen Sie irgendwann einmal zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie das immer wieder falsch zitieren, bringt
uns das auch nicht weiter.
({8})
Zum Schluss noch einige Sätze zu dem Antrag der
Linken: Recycling ist sicherlich in der Umweltpolitik
schön und richtig, aber nicht bei Ihrem Antrag. Den haben Sie schon in der letzten Legislaturperiode vorgelegt.
({9})
- Nicht immer; nur dann, wenn es sinnvoll war. Aber zu
dem Thema dieses Antrags hat es eine Anhörung gegeben, aus der relativ deutlich geworden ist, dass das nicht
der richtige Weg ist. Ich zitiere:
Die Forderungen aus dem Antrag der Linken sind
in der Sache bereits im geltenden Recht verankert.
Wir von der christlich-liberalen Koalition wollen die
Kommunen beteiligen. Auch das wird Thema der Kommission sein. Kommunen sind aber - das ist schon angesprochen worden - nicht Sache des Bundes, sondern der
Länder. Ihr Antrag ist leider nicht klug und bringt uns
nicht weiter.
Kollegin Piltz, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Wir glauben, dass die
Kommunen unsere Hilfe brauchen. Deshalb gibt es eine
Kommission, die handelt, statt nur zu reden. Das haben
wir elf Jahre und damit lange genug von Ihnen ertragen.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin
Haßelmann das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Frau Piltz, Sie
haben über NRW geredet und mich direkt angesprochen.
Ist Ihnen bewusst, dass die Stadt Düsseldorf in einer solchen Situation ist - das müsste Ihnen klar sein, weil Sie
die Stadt gut kennen -, weil sie ihr gesamtes Tafelsilber
verscheuert hat?
({0})
Düsseldorf hat sämtliche Beteiligungen verkauft und
konnte damit seine massiven Haushaltsschulden sanieren. Das kann man aber nur einmal tun. Das ist der erste
Punkt.
Der zweite Punkt ist: Sie suchen Beispiele für Ihre
kommunenfreundliche Politik. Ich hoffe, Sie wissen,
dass derzeit über 20 Kommunen vor dem Landesverfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen gegen Sie, die
schwarz-gelbe Landesregierung, klagen, weil Sie systematisch den Kommunen Geld entziehen und Aufgaben
von der Landesebene auf die kommunale Ebene delegieren, ohne die Finanzierung dieser Aufgaben sicherzustellen. Über 20 Kommunen klagen gegen Sie.
Es gibt ein weiteres Beispiel für Ihre kommunenfeindliche Politik. Sie haben unter großem Applaus Ihrer
selbst die Änderung der Gemeindeordnung in Nordrhein-Westfalen gefeiert, in der Sie versucht haben, den
Kommunen die wirtschaftliche Betätigung völlig zu entziehen.
({1})
Damit sind Sie jetzt absolut abgestürzt. Sie müssen die
Gesetzgebung korrigieren. Die Gemeindeordnung muss
geändert werden, weil die wirtschaftliche Betätigung,
die unter Schwarz-Gelb beschlossen worden ist, den gerichtlichen Prüfungen nicht standgehalten hat. Das ist
ein Beleg für kommunenfeindliche Politik im Land
Nordrhein-Westfalen.
({2})
Bitte, Kollegin Piltz.
Frau Haßelmann, ich will kurz antworten. Erstens. Ich
war Fraktionsvorsitzende im Rat einer Stadt. Sie waren
Landtagsabgeordnete.
({0})
Ihr Problem ist, dass Sie hier im Bundestag Landespolitik diskutieren wollen. Das ist durchsichtig, und ich
finde, das gehört so nicht hierher.
({1})
Zweitens. Wenn Sie davon sprechen, dass eine Stadt
ihr Tafelsilber verscheuert, dann muss ich Sie darauf
hinweisen, dass ich in Düsseldorf noch nie mit silbernem
Besteck gegessen habe.
({2})
Ein weiterer Punkt ist, dass das, was Sie so bedauern,
der Stadt Düsseldorf jedes Jahr 50 Millionen Euro
bringt, und zwar dauerhaft. Das, was Sie verscherbeln
nennen, halte ich für eine gute Anlage, weil wir durch
den einmaligen Verkauf von Anteilen jedes Jahr über
50 Millionen Euro an Schuldentilgung sparen. Das ist
kluge Haushaltsführung und hat nichts mit dem zu tun,
was Sie hier vorgetragen haben.
Ich komme zum Schluss. Wenn ich das richtig sehe,
ist die Klage, die Sie meinen, in dieser Woche entschieden worden. Leider hat die Landesregierung gewonnen.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Ingrid Remmers das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Regionalverband Rhein-Ruhr hat am Montag
eine Resolution gegen die Überschuldung der Kommunen beschlossen. In dieser Sitzung sagte der CDU-Oberbürgermeister aus Hamm:
Ich bin seit elf Jahren Oberbürgermeister, beschissen werden wir von beiden Landesregierungen.
- Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU
und SPD, sollte Sie tief erschüttern.
({0})
Nach Auffassung der Linken liegt die Hauptverantwortung für die chronische Unterfinanzierung der Kommunen in der Gesetzgebung des Bundes. Hier müssen
die notwendigen Weichenstellungen für die Anpassung
an den Finanzbedarf der Kommunen erfolgen. Hatte
aber bereits die rot-grüne Bundesregierung mit ihrer
Steuer- und Finanzmarktreform den Grundstein für die
heutige Finanzmisere der Kommunen gelegt, sattelten
und satteln die Große Koalition und die jetzige Bundesregierung noch kräftig weitere Kosten für Städte und Gemeinden obendrauf.
Diese Entwicklung, noch einmal verschärft durch das
krisenbedingte Wegbrechen der Gewerbesteuer, führte
im letzten Jahr dazu, dass die Städte und Gemeinden insgesamt 7,1 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben, als
sie im selben Zeitraum eingenommen haben. Für dieses
Jahr wird - die Genossin Gesine hat es eben schon gesagt ({1})
ein Rekorddefizit von 12 Milliarden Euro erwartet.
Für mein Bundesland NRW heißt dies ganz konkret,
dass sich die Haushaltspläne der Kommunen inzwischen
zu reinen Sparlisten entwickelt haben, dass in Hagen und
Oberhausen der Gesamtwert des städtischen Besitzes inzwischen geringer ist als ihre Verbindlichkeiten und in
Städten wie Duisburg, anders als etwa eben in Düsseldorf, die Entwicklung der Gewerbesteuer zur reinen
Glückssache geworden ist. Diese völlige Schieflage, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist aus Sicht der betroffenen Kommunen nicht haltbar.
({2})
Aber erst jetzt, nachdem die Kommunen beginnen,
sich öffentlich zu wehren, und angesichts der anstehenden NRW-Landtagswahl sieht sich endlich auch unsere
Bundesregierung gezwungen, sich in dieser Frage zu bewegen. Dazu hat sie erst einmal eine Kommission zur
Erarbeitung von Reformvorschlägen eingesetzt. Wie
halbherzig dieser Ansatz ist, zeigt sich, anders als Kollegin Tillmann es eben behauptet hat, darin, dass schon der
Einsetzungsbeschluss der Bundesregierung keine Änderung der Finanzverteilung vorsieht. Dies führt doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen, die ganze Angelegenheit ad absurdum.
({3})
Das bedeutet faktisch, dass eine echte Mitbestimmung der einbezogenen kommunalen Spitzenverbände
genauso wenig vorgesehen ist wie etwa die weiterer
kommunaler Verbände, Gewerkschaften oder gar der
Bürgerinnen und Bürger.
Auch der vorliegende Antrag der SPD geht hier völlig
ins Leere. Ein verbindliches Mitspracherecht der Kommunen taucht auch hier nicht auf. Sowohl Rot-Grün als
auch -
Kollegin Remmers, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Tillmann?
Ungern.
Ja oder nein?
Sowohl Rot-Grün als auch Schwarz-Rot
({0})
waren in den vergangenen Jahren die Belange der Kommunen augenscheinlich ziemlich egal. Die Linke fordert,
die Kommunen endlich in die Entscheidungen über ihre
eigenen Angelegenheiten einzubeziehen und ihnen dabei
selbstverständlich reale Mitwirkungsrechte zuzugestehen.
({1})
Darüber hinaus fordern wir die Weiterentwicklung
der Gewerbesteuer zur sogenannten Gemeindewirtschaftsteuer. Dazu gehören unter anderem die Einbeziehung der freien Berufe; alle Schuldzinsen und Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und
Lizenzgebühren sollen künftig in voller Höhe bei der Ermittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden und Gewinne und Verluste dann steuerlich geltend gemacht
werden, wenn sie tatsächlich anfallen, um hier Steuerschlupflöcher zu verhindern. Um kleinere Gewerbetreibende nicht zu stark zu belasten, soll der Freibetrag für
Freiberufler, kleine Unternehmen und Existenzgründer
von derzeit 24 500 Euro auf 30 000 Euro erhöht werden.
Nicht zuletzt muss man nach unseren Vorstellungen
nicht, wie es hier eben gesagt worden ist, die Gewerbesteuer abschaffen, sondern die Gewerbesteuerumlage der
Kommunen an den Bund und die Länder schrittweise,
aber schnell senken.
({2})
Diese Vorschläge, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bieten einen praktikablen Weg, um die Eigenständigkeit der Kommunen endlich wieder herzustellen.
Da, wo die Kommunen einsparen müssen, braucht es
meines Erachtens eine neue Debatte über die Frage, was
in Zukunft eigentlich Pflichtaufgabe und was freiwillige
Leistung sein soll.
Zuletzt sage ich noch einmal klipp und klar, dass auch
der Ausverkauf öffentlichen Eigentums - Beispiel Düsseldorf - die faktische Handlungsunfähigkeit der Kommunen mitverursacht hat.
({3})
Man kann es nicht oft genug sagen: Der Verkauf von
Wohnungen, Stadtwerken und Öffentlichem Personennahverkehr sowie die Einführung von Public-Private
Partnerships fanden aus akutem Geldmangel statt und
verschlechtern auch noch die langfristigen Aussichten.
Damit wird nicht nur die politische Kontrolle über die
Infrastruktur weitgehend ausgelagert; auch die möglichen Einnahmen öffentlicher Betriebe verschwinden
völlig. Da drängt sich doch schon fast der Eindruck auf,
die gewollte Finanznot der Kommunen hätte Methode.
({4})
Die Linke hat mit ihren Anträgen, wie ich Ihnen gerade aufgezeigt habe, erfolgversprechende Vorschläge
auf den Tisch gelegt. Wir fordern nun die Bundesregierung auf, endlich dafür zu sorgen, dass die Kommunen
wieder handlungsfähig werden, und dabei intelligente
Vorschläge auch über Fraktionsgrenzen hinweg aufzunehmen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Lage der kommunalen Finanzen, der Kommunen ist
schwierig. Ich hatte bei manchen Beiträgen, die ich eben
in dieser Debatte gehört habe, fast das Gefühl, dass es
schon ein bisschen aus dem Blick geraten ist: Die Lage
ist wirklich ungewöhnlich ernst. Wahr ist auch: 2008 haben die kommunalen Gebietskörperschaften saldiert einen deutlichen Überschuss erzielt.
({0})
Es ist also richtig, dass ein Teil der Probleme eine Folge
der tiefgreifenden Finanz- und Wirtschaftskrise ist, die
uns in den letzten zwei Jahren ereilt hat. Wahr ist aber
auch, dass wir bei den Kommunalfinanzen ein grundsätzliches Problem haben, das sich über eine viel längere
Zeit hinweg entwickelt hat. Es kommen also beide
Dinge zusammen.
({1})
Ich glaube, es ist unstreitig - deswegen ist es gut, dass
wir diese Debatte führen -, dass die Lebensfähigkeit
und Leistungsfähigkeit der Kommunen die Grundlage
für die Nachhaltigkeit und Stabilität unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung bildet. Wir dürfen
das nicht aus dem Blick verlieren. Ich habe schon ein
paar Mal an dieser Stelle gesagt: In einer Welt der Globalisierungen, in einer Zeit, in der Bindungen aufgrund
vielfältiger Entwicklungen eher schwächer werden und
es schwierig erscheint, die Menschen zu erreichen, ist es
umso wichtiger, dass die kommunale Selbstverwaltung
- die Bindung der Bürgerinnen und Bürger an die Gemeinde, die Eigenverantwortung und die Gestaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Gemeinde - vital bleibt. Das ist die Grundlage für die
Stabilität und Nachhaltigkeit unserer Freiheitsordnung.
({2})
Wir müssen diese Aufgabe in unserer föderalen Ordnung erfüllen. Wir wissen spätestens seit den beiden Föderalismusreformen, dass diese Ordnung kompliziert ist.
Daraus ergeben sich praktische Konsequenzen. Ich begrüße sehr, dass wir uns bei der Frage der Jobcenter darauf verständigt haben, eine gute Grundlage zu schaffen.
Wir sehen an jedem dieser Punkte, welche Rahmenbedingungen unsere förderale Ordnung für die Lösung
dieser Probleme setzt. Ich füge hinzu - das muss man
gelegentlich den Kommunalvertretern sagen -: Unser
Bundesstaat, die Bundesrepublik Deutschland, besteht
aus den staatlichen Ebenen des Bundes und der Länder,
nicht aus drei Ebenen. Die kommunale Selbstverwaltung
bildet eine wichtige Grundlage; aber sie ist etwas anderes als eine dritte staatliche Ebene. Das muss man sich
gelegentlich ins Bewusstsein rufen.
Ich finde es richtig - das muss ich entgegen manch
kritischem Einwand sagen -, dass wir uns dafür entschieden haben, die Kommission, in der wir die Probleme aufarbeiten und Lösungsvorschläge erarbeiten
wollen - wir wollen und wir werden die Vorschläge noch
in diesem Jahr dem Hohen Haus präsentieren -, mit Vertretern der Bundesländer und der Kommunen, der kommunalen Spitzenverbände, zu führen. Deswegen haben
wir die Kommission so gebildet. Sie hat ihre Arbeit mit
hoher Dringlichkeit aufgenommen. Daran liegt mir, weil
das eine prioritäre Aufgabe ist, die wir erfüllen müssen.
Ich will zwei Bemerkungen hinzufügen. Ich glaube,
dass Ad-hoc-Zuweisungen an die Kommunen durch
den Bund, durch Programme des Bundes bis hin zu Rettungsschirmen, wie man sie damals spannte - die aber
auch nicht lange halten; sonst hätten Sie nicht so viele
Rettungsschirme aus der Vergangenheit erwähnen können, und die Probleme bestehen trotzdem weiterhin -,
generell allenfalls die zweitbeste Lösung sind
({3})
- wenn überhaupt -, und zwar im Wesentlichen aus zwei
Gründen: Zum einen führen sie nicht gerade zur Stärkung der kommunalen Eigenverantwortung. Die Kommunen können nicht selbst gestalten; denn auch der goldene Zügel ist ein Zügel. Zweitens befördern sie
natürlich nicht gerade die optimale Ressourcenallokation. Denn wenn man Zuweisungen, Zuschüsse bekommt, wendet man in dem Bereich notfalls auch Eigenmittel auf, auch wenn man das anderenfalls nicht
machen würde.
Deswegen ist es besser - und das ist unser grundsätzlicher Ansatz -, die Grundlagen der kommunalen Finanzen zu stärken, und zwar in zweierlei Hinsicht. Den
ersten Punkt habe ich in der bisherigen Debatte ein wenig vermisst. Wir sollten gemeinsam mit den Ländern
und Gemeinden überlegen, ob wir den Kommunen bei
der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht größere Gestaltungsund Entscheidungsspielräume geben können. Das heißt,
wir müssen prüfen: Müssen in Bezug auf die Ausgabenseite und die Leistungsstandards bundeseinheitliche Vorgaben gemacht werden, oder können wir uns zu mehr Eigenverantwortung, zu Regionalisierung, Benchmarking,
Wettbewerb bekennen? Ich bin für das Zweite. Genau
dafür muss diese Arbeitsgruppe Vorschläge machen.
({4})
Wenn wir das Problem nicht von der Ausgabenseite,
sondern nur von der Einnahmeseite her angehen, werden
wir es nicht zureichend lösen können. Im Übrigen befördern wir auf diese Weise langfristig die Entwicklung,
dass viele, die sich in der kommunalen Selbstverwaltung
heute dankenswerterweise noch engagieren, keine Lust
mehr dazu haben, weil sie nichts mehr entscheiden können. Das gilt übrigens auch im Zusammenhang mit der
Auslagerung vieler Eigenbetriebe in manchen Kommunen; aber das ist ein anderes Thema. Wir werden diesen
Trend nur stoppen, wenn wir der kommunalen Ebene
selbst wieder mehr Entscheidungsspielraum und Entscheidungsverantwortung geben. Diesen Aspekt dürfen
wir nicht aus dem Auge verlieren.
({5})
Der zweite Punkt sind die kommunalen Finanzquellen. Es ist ein altes Thema, dass die Gewerbesteuer eine
besonders konjunkturanfällige Steuerquelle der Gemeinden ist. Das kann man nicht ernsthaft bestreiten.
({6})
- Aber Sie wissen genau, Herr Kollege Poß: In dem
Maße, in dem Sie sie verbessern, gehen Sie im Zweifel
stärker
({7})
in Richtung Substanzbesteuerung.
({8})
Dadurch erreichen wir genau das Gegenteil. Wir haben
im Zusammenhang mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz darüber diskutiert. Ich halte die Entscheidung nach wie vor für zwingend notwendig und richtig,
dass wir bei der gegebenen Lage etwa des Einzelhandels
in Großstädten und Mittelstädten die begrenzten Korrekturen im Wachstumsbeschleunigungsgesetz festgeschrieben haben, die natürlich zulasten der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer gehen.
({9})
Das ist wahr. Aber wenn die Unternehmen pleitegehen
würden, dann wäre die Bemessungsgrundlage null. Damit wäre auch nichts gewonnen.
({10})
Das zeigt doch nur die Reformbedürftigkeit.
Das kann also nicht falsch, sondern muss richtig sein.
Wir haben ja auch einen gewissen internationalen Vergleich. Wir haben uns mit dem Dualismus in der Besteuerung in Deutschland lange beschäftigt, bis hin zur Anrechnung im Rahmen der Einkommensteuer - auch darüber
ist schon gesprochen worden -, um das Problem zu minimieren. Die Grundüberlegung, eine Verbreiterung der
Finanzierungsgrundlage der Kommunen durch eine Verstetigung des Zuschlags - nicht nur durch die Beteiligung an der Einkommensteuer, sondern auch durch ein
Zuschlagsrecht einschließlich Hebesatzrecht bei Einkommen- und Körperschaftsteuer - herbeizuführen, ist
doch nichts Schlimmes, sondern dient im Ergebnis der
Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in der
Breite der Bevölkerung.
({11})
Ich weiß schon, dass die Interessenlage und die Betroffenheit der Kommunen unterschiedlich sind. Ich
weiß auch, dass das alles andere als einfach ist. Aber genau deswegen sagen wir: Wenn wir den Gesamtzusammenhang, Beteiligung an der Umsatzsteuer, Revitalisierung der Grundsteuer - darüber ist noch gar nicht
geredet worden -, Zuschlagsrecht auf Einkommen- und
Körperschaftsteuer, sehen, dann hätten wir eine Chance,
die Einnahmebasis der Kommunen im Sinne einer Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung zu festigen.
Das ist des Schweißes aller Beteiligten wert. In genau
diese Richtung wollen wir arbeiten.
({12})
Wenn wir dies mit mehr Entscheidungsspielräumen
für die Kommunen bei den Ausgaben verbinden, dann
erfüllen wir unsere Aufgabe, nämlich die Stärkung der
kommunalen Selbstverwaltung. Dafür bitte ich um Ihre
Mitwirkung.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen von der CDU/CSU und der FDP, ich kann es
Ihnen nicht ersparen:
({0})
Das Thema ist die Umsatzsteuer. Ich weiß, Sie können es
nicht mehr hören; denn die guten Argumente sind vielfach genannt
({1})
und von Ihnen, wie ich immer wieder merke, gehört, von
vielen auch verstanden und - das lese ich zwischen den
Zeilen - für richtig befunden. Nehmen Sie sich doch mal
zusammen. Der doch sehr lebendige Vortrag von Kollegin Bätzing hat es vielleicht ein bisschen in den Hintergrund gerückt:
({2})
Wir reden immerhin von 1 Milliarde Euro, die dem Staat
nicht mehr zur Verfügung stehen, weil Sie dieses Geld
durch die Umsatzsteuerermäßigung für Hoteliers weggeben. Erkennen Sie dies als Fehler an und nehmen Ihr Gesetz zurück. Stimmen Sie dem Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen zu!
({3})
Lassen Sie mich in der knappen Redezeit, die ich
habe, eine grundsätzliche Bemerkung machen. Ich will
mit einem Zitat anfangen:
Es ist nicht Aufgabe der Bundesregierung, Lobbygruppen zu vertreten. Aufgabe der Bundesregierung
ist vielmehr, ein Steuerrecht zu schaffen, das den
berechtigten Belangen der Gesellschaft … gerecht
wird.
Würden Sie dem zustimmen? Das hat Kollege Wissing
2008 in der Diskussion zu einem Antrag gesagt, der den
Umsatzsteuersatz für Produkte und Dienstleistungen für
Kinder beinhaltete. Herr Wissing, Glückwunsch zu dieser Bemerkung und zu dieser klaren ordnungspolitischen
Aussage. Aber dann machen Sie doch das, was Sie gesagt haben. Handeln Sie so, wie Sie sprechen.
Auch Herr Kolbe von der CDU hat im Übrigen durch
sein Abstimmungsverhalten beim Wachstumsbeschleunigungsgesetz eine klare Aussage getroffen. Dabei ist
Herr Kolbe kein Geringerer als derjenige, der bei Ihnen
für die Umsatzsteuer verantwortlich ist. Beide Kollegen
wissen nämlich, dass die Umsatzsteuer eben kein Steuerungsinstrument ist. Sie eignet sich dafür nicht. Sie wissen auch, dass es jetzt umso schwieriger sein wird, diese
Sündenfälle zu stoppen. Was 2008 die Schweineohren
waren, sind jetzt die Hoteliers.
({4})
Kehren Sie auf den Pfad der Ordnungspolitik zurück. Sie
wollen eine Kommission zur Reform der Umsatzsteuer
einsetzen. Sie verlieren doch hier Ihre Glaubwürdigkeit,
wenn Sie dieses Gesetz zur Umsatzsteuerermäßigung
nicht sofort stoppen.
({5})
Sie müssen doch die grundsätzlichen Probleme der
Umsatzsteuerermäßigung anerkennen. Sie wirkt nicht
zielgenau. Sie weist hohe Mitnahmeeffekte auf. Sie hat
kaum eine Verteilungswirkung, weil Einkommensmillionäre genauso wie Hartz-IV-Empfänger betroffen sind. In
vielen Fällen kommt sie gar nicht beim Verbraucher an.
Gehen Sie einmal zu McDonald’s. Kaufen Sie einen
Hamburger zum Mitnehmen, dann zahlen Sie 7 Prozent
Mehrwertsteuer. Kaufen Sie einen zum Verzehr vor Ort,
dann sind es 19 Prozent Mehrwertsteuer. Wer profitiert
von dieser Differenz von 12 Prozentpunkten? Nicht der
Verbraucher, sondern McDonald’s. So ist die Wirklichkeit. Die Einnahmeausfälle für den Fiskus sind enorm.
Wenn Sie etwas für eine nachhaltige Entwicklung tun
wollen, dann investieren Sie bitte in den Klimaschutz,
dann investieren Sie bitte in Bildung, aber bitte geben
Sie das Geld nicht einfach so den Hoteliers.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Bernhard Kaster für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die finanzielle Situation der Gemeinden und Städte ist
schlecht, sie ist dramatisch schlecht. Die Wirtschaftskrise - das haben wir in der Debatte schon mehrfach gehört - ist auf der Ebene angekommen, auf der das reale
Leben vor Ort stattfindet, nämlich bei unseren Kommu3140
nen. Die Wirtschaftskrise hat dazu geführt, dass das
Bruttoinlandsprodukt im vergangenen Jahr um 90 Milliarden Euro, also um 5 Prozent gesunken ist.
Was ist nun zu tun? Die SPD beantragt einen Rettungsschirm. Ich sage: Nein, wir brauchen keinen
Schirm. Wir brauchen für die Kommunen dauerhaft und
nachhaltig gutes Wetter.
({0})
Sie fordern eine kurzfristige Stabilisierung, Herr
Scheelen. Sie wollen auf zwei Jahre befristete Hilfen bei
den Kosten der Unterkunft. So steht es in Ihrem Antrag.
Das heißt nichts anders als: Schirm auf, Schirm zu.
Für uns, für die Union als Kommunalpartei ist die
politische und finanzielle Handlungsfähigkeit unserer
Gemeinden und Städte niemals Thema für populistische
Anträge.
({1})
Die kommunale Ebene, die kommunale Selbstverwaltungsgarantie und die Subsidiarität sind bei uns politisches Fundament. Deshalb werden wir diese Legislaturperiode nutzen, um die politische und finanzielle
Handlungsfähigkeit unserer Kommunen nachhaltig zu
sichern.
Die eingesetzte Regierungskommission unter Leitung von Finanzminister Dr. Schäuble und unter Beteiligung unseres Innenministers de Maizière hat drei große
Aufgabenstellungen: erstens die notwendige Verstetigung der Einnahmeseite, zweitens die Begrenzung der
Ausgaben und Standards sowie die Schaffung von mehr
Flexibilität und drittens die stärkere Beteiligung der
Kommunen bei den sie betreffenden politischen Entscheidungsprozessen.
Auch auf der Einnahmeseite gehen wir im Hinblick
auf nachhaltige Finanzstrukturen ohne Tabus an dieses
Thema heran. Das heißt, wir reden über die Ausgestaltung der Gewerbesteuer und auch über Alternativen,
über den Anteil am Umsatzsteueraufkommen und über
den Anteil am Einkommensteueraufkommen.
Als ehemaliger Bürgermeister sage ich Ihnen, dass es
mir wichtig ist, bei der Gestaltung der kommunalen Finanzen weiterhin an drei wichtigen Beziehungen, an
drei wichtigen Bezugspunkten festzuhalten. Dies sind
der Bezugspunkt Gemeinde und Bürger, der Bezugspunkt Gemeinde und Grund und Boden sowie der Bezugspunkt Gemeinde und Wirtschaft. Bei der Ausgestaltung des dritten Bezugspunkts, bei der Ausgestaltung
einer wirtschaftsbezogenen Steuer, müssen wir uns Gedanken machen.
Aber auch auf der Ausgabenseite müssen wir zwingend über Standards nachdenken. Dies betrifft viele Bereiche und erfordert mehr Flexibilität.
Dazu fällt mir ein Beispiel aus meiner Heimatstadt
Trier ein. Über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg befanden sich dort französische Streitkräfte und deren französische Familien. Noch kurz vor dem Abzug der französischen Streitkräfte konnten wir uns damals als Stadträte
die französischen Schulen und die französischen Kindergärten ansehen. Wir haben gesehen, wie wohl sich die
Kinder dort gefühlt haben.
Als wir diese Schulen und Kindergärten jedoch übernommen haben, waren plötzlich Millioneninvestitionen
notwendig, weil es hieß, die Scheiben seien zu dünn, der
Boden sei zu hart, die Fliesen seien zu glatt usw. Wir
brauchen also mehr Flexibilität.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist schon etwas dreist, wer sich heute hier als der Retter der Kommunen aufspielen will. Das muss in dieser Debatte einmal gesagt werden.
({2})
Die Wirtschaftskrise - daran gibt es nichts herumzudeuteln - hat die Kommunen in große finanzielle
Schwierigkeiten gebracht. In den rot-grünen Jahren von
1998 bis 2005 hat es einer solchen Wirtschaftskrise aber
nicht bedurft, um die Gemeinden finanziell abstürzen zu
lassen. Das hat Rot-Grün damals ganz allein geschafft.
({3})
5 Milliarden Euro Minus im Schnitt in dieser Zeit. Das
war damals so gewesen. Ich könnte mehrere Beispiele
nennen, wie die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage
usw.
Lassen Sie mich noch etwas als Rheinland-Pfälzer sagen. Ich finde es schon gewagt, dass Sie in Ihrem Antrag
Vergleiche zu Rheinland-Pfalz anstellen. Ich bitte Sie!
({4})
- Herr Scheelen, Rheinland-Pfalz kümmert sich um die
Kommunen in der Weise, dass in Rheinland-Pfalz die
Pro-Kopf-Verschuldung der Kommunen aufgrund eines
ganz miesen Finanzausgleichs um 30 Prozent höher ist
als in allen anderen westlichen Flächenländern. Ich will
gar nicht davon sprechen, wofür in Rheinland-Pfalz
sonst noch Geld ausgegeben wird. Nürburgring lässt
grüßen.
({5})
Ein Finanzminister ist schon zurückgetreten. Ich sage
aber auch: In dieser Gemeindefinanzkommission wird
auch Rheinland-Pfalz vertreten sein. Der Finanzminister
wird, solange er im Amt ist,
({6})
auch da mitwirken können.
Noch ein Wort zu Ihrer doch sehr populistischen und
falschen Steuerdiskussion. Dass wir zum 1. Januar das
Kindergeld, die Kinderfreibeträge und den Grundfreibetrag erhöht und den Steuertarif um 330 Euro nach rechts
verschoben haben, das war richtig.
({7})
Es war deswegen richtig, weil es nicht sein kann, dass
die Finanzmisere, in der sich Bund, Länder und Kommunen befinden, ausgerechnet von den Bürgern mit mittleren und kleineren Einkommen bezahlt werden soll, die
über Jahre Steuern zahlen. Es kann nicht sein, dass sie
still und heimlich über die Jahre inflationsbedingt in höhere Steuersätze hineinrutschen und wir einfach zuschauen. Das ist unfair gegenüber den Bürgern. Das
muss man korrigieren, und das haben wir gemacht.
({8})
Wir brauchen Fairness gegenüber den Bürgern und
Fairness gegenüber den Kommunen. Die Koalition und
die Union als Kommunalpartei
({9})
werden auch in schwieriger Zeit diese Fairness gewährleisten; denn unser Grundsatz gilt: Geht es den Gemeinden gut, geht es dem ganzen Land gut. Deswegen wiederhole ich: Wir brauchen keinen Schirm, sondern
dauerhaft gutes Wetter für unsere Kommunen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich dem Kollegen Poß das Wort gebe, sei mir der Hinweis gestattet,
dass wir noch zwei Redner in dieser Debatte haben und
beiden ermöglichen sollten, hier zu reden. Allen, die im
Saale sind, sollten wir ermöglichen, sie zu hören und zu
verstehen. Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die zur namentlichen Abstimmung schon herbeigeeilt sind, Platz zu nehmen, sodass wir die Debatte zu
Ende führen können.
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Kaster, die Kommunen brauchen jetzt keinen
Schönwetterredner, sondern sie brauchen eine sofortige
Hilfe,
({0})
weil sie mit den Folgen der Krise nicht mehr klarkommen, weil sie die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur wie Kindertagesstätten nicht mehr aufrechterhalten
können. Die haben nichts von Ihren Sprüchen und von
den Ankündigungen von Herrn Schäuble, die er hier gemacht hat. Denen muss jetzt und wirksam geholfen werden,
({1})
und zwar nicht, um abstrakt Kommunen zu helfen, sondern um den wirklich Betroffenen, den Kindern und Jugendlichen in den Kommunen, zu helfen. Das ist die
Aufgabe. Das müssen Sie doch erkennen.
Diese Feststellung wird nicht einmal mit einem Vorwurf garniert. Wir alle fühlen uns doch zu Recht nicht
schuldig wegen der Krise. Wir haben nicht die schwerste
Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir bisher in der Nachkriegszeit erlebt haben, herbeigeführt, und zwar keiner
von uns. Wir müssen uns nur der Realität stellen. Sie haben einen Koalitionsvertrag gemacht, der die Realität
leugnet. Das ist doch das Problem. Deswegen kommen
Sie im Moment mit der Realität nicht klar.
({2})
Das dürfen nicht die Kommunen ausbaden, weil Sie
Schwierigkeiten haben, irgendetwas von Ihrem „Kollisionsvertrag“, wie meine Kollegin gesagt hat, überhaupt
umzusetzen, was kein Wunder ist. Alles, was Sie bisher
durchgesetzt haben, wirkte krisenverschärfend für die
Kommunen. Das ist die Wahrheit. Da helfen die schönen
Reden von Frau Merkel auf dem CDU-Landesparteitag
in Münster oder die von Herrn Rüttgers, der die Gemeinden beschwört, nichts. In der Realität machen Sie das
Gegenteil von dem, worüber Sie reden. Bei Ihnen klaffen Reden und Handeln notorisch auseinander. Das geht
zulasten der Kommunen. Das zu ändern, ist die Aufgabe.
({3})
Sie, Herr Bundesfinanzminister, beginnen jetzt von
neuem, das durchzubuchstabieren, was schon 2003 in einer großen Kommission unter Beteiligung aller Ebenen
erörtert wurde, nämlich alle Modelle der letzten
30 Jahre, die Sie so gut wie ich kennen. Die Wahrheit ist:
Damals, im Jahr 2003, hat die rot-grüne Koalition - ich
war der Verhandlungsführer der SPD im Vermittlungsausschuss - im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben,
die Gewerbesteuer gerettet; denn starke Kräfte in der
Union - ich erinnere an den Leipziger Parteitag - wollten die Gewerbesteuer abschaffen. Das ist die historische
Wahrheit und nicht das, was Sie gesagt haben.
({4})
Es waren die Sozialdemokraten, die in der Großen
Koalition in der Koch-Steinbrück-Arbeitsgruppe dafür
gesorgt haben, dass die Gewerbesteuer gefestigt wurde.
Das ist die historische Wahrheit. Das war nicht die
Union; von der FDP rede ich erst gar nicht.
({5})
Wenn es also eine Kommunalpartei in Deutschland gibt,
dann können die Sozialdemokraten das für sich in Anspruch nehmen und niemand anderes. Das muss klargestellt werden.
({6})
Herr Schäuble, zu unserer gemeinsamen Vergangenheit gehört, dass Sie als Fraktionsvorsitzender der CDU/
CSU Mitte der 90er-Jahre die Aushöhlung der Gewerbesteuer als Ihr wichtigstes Anliegen begriffen hatten. Sie
sind nämlich damals vehement für die Abschaffung der
Gewerbekapitalsteuer eingetreten.
({7})
Sie haben damals gesagt, dies führe zu einem enormen
Aufwuchs an Arbeitskräften. Die Gewerbekapitalsteuer
wurde abgeschafft. Die Gewerbesteuer wurde dadurch
instabiler und konjunkturanfälliger. Ein Aufwuchs an
Arbeitskräften ist nicht eingetreten. Daraus sollten Sie,
was Ihre Einschätzungsfähigkeit angeht, lernen, Herr
Schäuble.
({8})
Sie sollten den Einbruch der Wirtschaftskraft um
5 Prozent im vergangenen Jahr nicht als Alibi nutzen, um
die wichtigste Einnahmequelle der Kommunen - diese
haben wir damals in Verhandlungen mit Ihnen in Art. 28
des Grundgesetzes gefestigt - zu beschädigen. Die FDP
sagt es im Klartext: Wir wollen die Gewerbesteuer endlich weghaben. - Das ist die schwarz-gelbe Zukunft für
die Gemeinden. Da können die Gemeinden nur noch
schwarzsehen. Es muss, auch nach dem 9. Mai - denn
Herr Rüttgers macht, was Politik für die Gemeinden betrifft, nur Sprüche -, eine stärkere Sozialdemokratie her,
um das zu verhindern. In Nordrhein-Westfalen geht es
am 9. Mai auch um die Zukunft der Gemeinden.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für
die Unionsfraktion.
({0})
Werter Herr Kollege Poß, wir hatten im Mittelteil unserer Debatte eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung
über die sehr ernsthafte finanzielle Lage der Kommunen.
Insbesondere als unser Minister Dr. Schäuble dazu gesprochen hat, konnten Sie feststellen, wie ernsthaft wir
uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir debattieren nicht nur darüber, sondern wir handeln. Wir setzen
konkret diese Kommission mit speziellen Untergruppen
ein. Wir veranstalten keine Wahlkampfshow, wie Sie das
in Ihrem Beitrag versucht haben.
({0})
Uns geht es nämlich nicht um Wahlkampf, sondern uns
geht es wirklich darum, ein schwieriges Thema in den
Griff zu bekommen.
({1})
Es ist schon verwunderlich und ziemlich scheinheilig,
wie Sie sich hier aufgeführt haben. Wer hat denn elf
Jahre lang den Finanzminister in der Bundesrepublik
Deutschland gestellt? Wer war denn elf Jahre verantwortlich in diesem wesentlichen Ressort?
({2})
Diese Regierung ist jetzt seit fünf Monaten im Amt. Sie
wollen sie für das derzeitige Szenario in den Kommunen
verantwortlich machen. Das ist schon ziemlich daneben.
({3})
Die Kommunen befinden sich aus zwei Gründen - Bundesminister Schäuble hat sie eben deutlich gemacht - in
einer ernsthaften finanziellen Situation. Ein wesentlicher
Gesichtspunkt ist der starke Zusammenbruch bei der Gewerbesteuer. Das ist auch logisch; denn die Gewerbesteuer ist vor allen Dingen eine sehr wirtschaftsnahe und
unternehmensnahe Steuer. Wir sehen bei den Bundessteuern, auch bei der Körperschaftsteuer, mit einem
Rückgang des Aufkommens von über 50 Prozent die
stärksten Einbrüche.
Das deutet das Dilemma der Kommunen an. Wir
müssen die Finanzierung der Kommunen auf stabilere
Standbeine stellen als bisher. Das heißt, dass es eine Modifikation bei der Gewerbesteuer geben muss. Deshalb
ist es richtig, diese Kommission, in die die Länder und
auch die kommunalen Spitzenverbände einbezogen sind,
jetzt einzusetzen.
({4})
Das ist jedenfalls weitaus intelligenter als die Schnellschüsse, die Sie uns heute per Antrag vorlegen. Sie sind
kein ernsthafter Beitrag zur Lösung.
Ich persönlich bin allerdings auch der Ansicht: Wir
brauchen eine kommunale Steuer, die einen Bezug zur
wirtschaftlichen Entwicklung in den Kommunen hat. Ich
denke, das sollte uns klar sein; denn sonst würden wir all
die Kommunen bestrafen, die sich in den letzten Jahren
und Jahrzehnten für die Ansiedlung von Unternehmen
und damit für Arbeitsplätze engagiert haben. Das wollen
wir nicht tun. Das wäre der falsche Anreiz.
({5})
Ich komme zum Thema Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung, das zu kritisieren. Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz genau das
Richtige gemacht haben.
({6})
Für die jetzige Situation kann es nicht verantwortlich
sein; denn es gilt erst seit drei Monaten. Wir haben in der
Tat auch bei der Besteuerung der Leasingunternehmen
und bei der Frage der Funktionsverlagerung, die wir anders geklärt haben, richtig gehandelt. Das stärkt auf
Dauer unseren Investitionsstandort und auch die steuerliche Basis. Das wird auf mittlere und längere Sicht die
Einnahmesituation der Kommunen verbessern.
({7})
Sie reden sich ein, Sie hätten durch allerlei Hinzurechnungen die Gewerbesteuer und damit die Einnahmesituation der Kommunen stabilisiert. Gerade die derzeitige Krisensituation zeigt, dass das völliger Unsinn ist;
({8})
denn Sie besteuern damit die Substanz von Unternehmen, denen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals
steht. Sie würden in dieser Situation die Unternehmen
und damit die Arbeitsplätze wegsteuern
({9})
und die steuerliche Basis vieler Kommunen vernichten.
Wir haben dem Mittelstand Luft verschafft.
({10})
Er braucht nämlich vor allen Dingen eines: Liquidität.
Sie beschwören immer wieder die Kreditklemme. Indem
wir Liquidität für den Mittelstand geschaffen haben, sind
wir dieses Problem angegangen. Wir geben den mittelständischen Unternehmen mehr Möglichkeiten, über Kapital frei zu verfügen.
({11})
Interessanterweise hat die SPD im Kreistag des Landkreises Emsland eine Resolution gegen das Wachstumsbeschleunigungsgesetz einbringen wollen. Der dortige
Landrat hat sich dezidiert mit einzelnen Punkten dieses
Gesetzes auseinandergesetzt und sehr fundiert dargelegt,
warum es für den Mittelstand in den Gemeinden im
Landkreis Emsland nützlich ist. Letztendlich ist es nämlich ein kommunalfreundliches Gesetz. Sie werden lachen: Noch bevor es zur Debatte über diese Resolution
kam, hat die dortige SPD-Kreistagsfraktion ihren Resolutionsantrag zurückgezogen. So empfehlen wir Ihnen
das mit Ihrem vorliegenden Antrag auch.
({12})
An uns - das unterscheidet uns von Ihnen - haben die
Kommunen noch Erwartungen. Von Ihnen erwartet man
bei diesem Thema nichts mehr. Das drückt sich auch in
der Presseinformation des Deutschen Städte- und Gemeindebundes aus, die Ende vergangener Woche herausgegeben wurde. Es ging um das Thema Hartz-IV-Gesetze. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat
ausgeführt, dass Ihre Korrekturvorschläge zum Thema
Hartz IV unbezahlbar seien. Es gelte, die Eigenverantwortung der Bürger zu stärken, statt immer wieder den
Eindruck zu vermitteln, der Staat könne weiterhin ein
Rundum-sorglos-Paket finanzieren. Konkret heißt es:
Wer aus eigener Arbeitskraft oder mit eigenem Vermögen seinen Unterhalt bestreiten kann, darf nicht
noch zusätzliche Transferleistungen erhalten …
Weiter heißt es:
Das sei auch eine Frage von sozialer Gerechtigkeit
gegenüber Menschen, die mit ihren Steuern das Sozialsystem finanzieren.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat recht.
({13})
Ich darf mit folgender Feststellung schließen. Sie - das
machen Ihre Anträge deutlich - entfernen sich immer
weiter von der Realität. Uns geht es nicht um Tamtam,
sondern um einen ernsthaften Beitrag zur Lösung des
Problems. Deswegen empfehle ich, dass wir Ihre Anträge ablehnen.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1152, 17/1142 und 17/1143 an die
an der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Änderung
des Umsatzsteuergesetzes. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/869, den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/520 abzulehnen. Wir stimmen
nun über den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion
der SPD namentlich ab. Vorher möchte ich noch darauf
hinweisen, dass wir im Anschluss daran noch eine einfa-
che Abstimmung durchführen werden.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Plätze be-
setzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen, damit wir die Abstimmungen zur Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/869
fortsetzen können.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/447
mit dem Titel „Umsatzsteuerermäßigung für Hotellerie
zurücknehmen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der
1) Ergebnis Seite 3148 D
Vizepräsidentin Petra Pau
SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 28 a bis 28 e und
28 h bis 28 j sowie die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
28 a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({0}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung ({1})
Zukunftsreport - Ubiquitäres Computing
- Drucksache 17/405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Adulte Stammzellforschung ausweiten, Forschung in der regenerativen Medizin voranbringen und Deutschlands Spitzenposition
ausbauen
- Drucksache 17/908 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Verbraucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen
einführen
- Drucksache 17/1029 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Federführung strittig
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Verhandlungen über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union eröffnen
- Drucksache 17/1059 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik Island zur Europäischen Union und zur
Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/1190 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Übergangsmaßnahmen zur Zusammensetzung
des Europäischen Parlamentes nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon
- Drucksache 17/1179 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
i) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland
- Drucksache 17/1162 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Krüger-Leißner, Martin Dörmann,
Siegmund Ehrmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Vizepräsidentin Petra Pau
Für eine Kinodigitalisierung, die den Erhalt
unserer Kinolandschaft sichert
- Drucksache 17/1156 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partei-Sponsoring transparenter gestalten
- Drucksache 17/1169 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({11})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Ulrich Maurer, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Parteien-Sponsoring im Parteiengesetz regeln
- Drucksache 17/892 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({12})
Rechtsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 28 c. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1029 mit dem Titel „Verbraucherfreundliche kostenfreie Warteschleifen bei telefonischen Dienstleistungen einführen“ an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Überweisungsvorschlag ist gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b, 28 d und 28 e,
28 h bis 28 j sowie Zusatzpunkte 3 a und 3 b. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Die Vorlage auf Drucksache 17/1059, Tagesordnungspunkt 28 d, soll abweichend von der Tagesordnung nicht
an den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 h sowie
die Zusatzpunkte 4 a bis 4 k auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 29 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Abkommens vom
15. Dezember 1950 über die Gründung eines
Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens
- Drucksache 17/759 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({13})
- Drucksache 17/1207 Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Nicolette Kressl
Richard Pitterle
Lisa Paus
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1207, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/759 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu den Änderungsurkunden vom 24. November 2006 zur Konstitution und zur Konvention
der Internationalen Fernmeldeunion vom
22. Dezember 1992
- Drucksache 17/760 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14})
- Drucksache 17/1197 Berichterstattung:
Abgeordneter Andreas G. Lämmel
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1197,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/760 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion, der SPD-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/800 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({15})
- Drucksache 17/1198 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1198, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/800 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen der
Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beschlagnahmung von Generika in Europa
stoppen - Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika sichern
- Drucksachen 17/448, 17/871 Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss ({17})
Karin Roth ({18})
Helga Daub
Uwe Kekeritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/871, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/448 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion,
der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({19}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Achtundachtzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/441, 17/1136 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/441 nicht zu verlangen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPDFraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({20}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Neunundachtzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/442, 17/1136 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
Der Ausschuss empfiehlt weiterhin in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/442 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der UnionsfrakVizepräsidentin Petra Pau
tion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({21}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertneunundfünfzigste Verordnung zur
Änderung der Einfuhrliste
- Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - Drucksachen 17/443, 17/1136 Berichterstattung:
Abgeordneter Paul K. Friedhoff
Auch hier empfiehlt der Ausschuss in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1136, die Aufhebung der Verordnung auf Drucksache 17/443 nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({22}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher
Vorschriften
- Drucksachen 17/862, 17/940 Nr. 2, 17/1212 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Dr. Matthias Miersch
Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1212, der Verordnung auf
Drucksache 17/862 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({23})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvG 1/10
- Drucksache 17/1192 Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder
({24})
Der Rechtsausschuss empfiehlt, in dem Streitverfahren Stellung zu nehmen und den Präsidenten zu bitten,
Herrn Professor Dr. Christian Seiler als Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dafür? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 61 zu Petitionen
- Drucksache 17/1180 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 61 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 62 zu Petitionen
- Drucksache 17/1181 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 62 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der FDP-Fraktion und der SPDFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 63 zu Petitionen
- Drucksache 17/1182 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 63 ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 4 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 64 zu Petitionen
- Drucksache 17/1183 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 64 ist gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 65 zu Petitionen
- Drucksache 17/1184 3148
Vizepräsidentin Petra Pau
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 65 ist bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 66 zu Petitionen
- Drucksache 17/1185 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 66 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Zusatzpunkt 4 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 67 zu Petitionen
- Drucksache 17/1186 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 67 ist gegen die Stimmen der Fraktion der SPD angenommen.
Zusatzpunkt 4 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 68 zu Petitionen
- Drucksache 17/1187 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 68 ist gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bei Zustimmung der übrigen Fraktionen angenommen.
Zusatzpunkt 4 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 69 zu Petitionen
- Drucksache 17/1188 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen
der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
angenommen.
Zusatzpunkt 4 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 70 zu Petitionen
- Drucksache 17/1189 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 70 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der FDP-Fraktion gegen die
Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe Ihnen nun
das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD „Entwurf eines
… Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes“,
Drucksachen 17/520 und 17/869, bekannt: abgegebene
Stimmen 557. Mit Ja haben 248 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit Nein haben 309 Kolleginnen und Kollegen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist damit abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 556;
davon
ja: 248
nein: 308
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({35})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({36})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Angelika Graf ({37})
Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({38})
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({39})
Frank Hofmann ({40})
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe ({41})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({42})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Vizepräsidentin Petra Pau
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({43})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Dr. Wilhelm Priesmeier
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({44})
({45})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({46})
Dr. Hermann Scheer
({47})
Werner Schieder ({48})
Ulla Schmidt ({49})
Silvia Schmidt ({50})
Ottmar Schreiner
Swen Schulz ({51})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Stefan Schwartze
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Kerstin Tack
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
({52})
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Jan van Aken
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. Gregor Gysi
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Andrej Konstantin Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Jens Petermann
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer ({53})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({54})
Volker Beck ({55})
Cornelia Behm
Alexander Bonde
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz ({56})
Ulrike Höfken
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Maria Anna Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({57})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Kerstin Müller ({58})
Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Tabea Rößner
Claudia Roth ({59})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({60})
Manfred Behrens ({61})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
({62})
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({63})
Dirk Fischer ({64})
Axel E. Fischer ({65})
Klaus-Peter Flosbach
({66})
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Ute Granold
Hermann Gröhe
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Vizepräsidentin Petra Pau
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({67})
Dr. Egon Jüttner
Steffen Kampeter
Alois Karl
Volker Kauder
Siegfried Kauder ({68})
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({69})
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({70})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({71})
Nadine Müller ({72})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({73})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({74})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({75})
Anita Schäfer ({76})
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({77})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
({78})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({79})
Detlef Seif
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({80})
Lena Strothmann
Dr. Peter Tauber
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({81})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({82})
Peter Weiß ({83})
Sabine Weiss ({84})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({85})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({86})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({87})
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner ({88})
Michael Link ({89})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({90})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({91})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({92})
Cornelia Pieper
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Heiko Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Johannes Vogel
({93})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({94})
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Konsequenzen aus den zahlreichen bekannt
gewordenen Fällen sexuellen Missbrauchs in
kirchlichen und weltlichen Einrichtungen
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat die Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
gut, dass das Thema Kindesmissbrauch den Deutschen
Bundestag endlich im Rahmen eines ordentlichen Tagesordnungspunktes beschäftigt. Es ist schlecht, dass, obwohl wir seit Ende Januar massiv von neuen Fällen hören, die Bundesregierung sich bis heute an dieser Stelle
nicht erklärt hat. Ich hätte erwartet, dass die zuständige
Bundesministerin längst eine Regierungserklärung abgegeben und uns dargelegt hätte, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Vorfälle aufzuarbeiten
und Kinder in Zukunft zu schützen.
({0})
Welche Maßnahmen müssen jetzt ergriffen werden,
das ist die Frage. Stattdessen bietet uns diese Regierung
einen runden Tisch. Da gab es einen Vorschlag von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, dem die anderen nicht folgen wollten. Dann hat Frau Schavan - bis vor kurzem
Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken erklärt, sie wolle auch einen runden Tisch. Da waren es
schon zwei. Die Bundesministerin, die eigentlich zuständig ist, kam auch irgendwann. Noch ein runder Tisch. Am
Ende wurde ein runder Tisch mit zwei Untergruppen und
einer Beauftragten eingerichtet. Seit Ende Januar ist das
sozusagen die erste Aussage der Bundesregierung. Das
hilft den Kindern nicht.
Meine Damen und Herren, ich erwarte, dass die für
Familie und Kinder zuständige Ministerin jeden Tag
Leute vorlädt - ob aus dem Bereich Schule, ob aus dem
Bereich Heimaufsicht, ob aus dem Bereich der Träger
dieser Internate oder Freizeiteinrichtungen -, nach Berlin einlädt und von ihnen jetzt und hier ganz konkrete
Schritte fordert, zum Beispiel die klare Aussage: Ab sofort wird bei jedem Gerücht und jedem Verdachtsfall das
an unabhängige Dritte gegeben, und das geht auch sofort
an Polizei und Staatsanwaltschaft. - Republikweit so etwas zu organisieren, Frau Schröder, wäre Ihre Pflicht gewesen als Reaktion auf die Hunderte von Vorfällen, die
wir sehen und die wahrscheinlich nur die Spitze des Eisberges darstellen. Stattdessen wollen Sie es am runden
Tisch diskutieren.
({1})
Ihre Aufgabe wäre gewesen, Vertreter der Länder vorzuladen und dafür Sorge zu tragen, dass überall - in jedem Bundesland, in jedem Regierungsbezirk - Anlaufstellen eingerichtet werden, zum Beispiel dass es im
Jugendamt eine Person gibt mit getrennter Aktenführung
und Schweigepflicht, an die sich Kinder, Jugendliche,
Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter sofort wenden
können. Das muss man jetzt für alle Fälle, die noch passieren können - und das wissen wir -, einrichten. Stattdessen diskutieren Sie das an einem runden Tisch.
Ich sage Ihnen eines ganz klar: Bei solchen Straftaten
- den vergangenen und auch denen in der Zukunft - gibt
es überhaupt keinen Grund, an einem runden Tisch zu
diskutieren, weil es dort nichts zu erörtern gibt. Es gibt
die moralische Pflicht, innerhalb einer Schule über Gerüchte des sexuellen Missbrauchs nicht zu diskutieren,
sondern den Kindern sofort zu helfen. Ich muss sagen:
An der Stelle scheinen Sie mir überfordert.
({2})
Wollen Sie beispielsweise mit einem Vertreter der katholischen Kirche, sozusagen dem Arbeitgeber eines Paters, der sexuellen Missbrauch betrieben hat, an einem
runden Tisch diskutieren, wie die Meldepflichten sind?
Das geht gar nicht.
({3})
- Doch, auch darum geht es bei diesem runden Tisch,
und wenn es darum nicht geht, dann muss die Bundesministerin die Vertreter der Länder und Institutionen
jetzt vorladen und ganz klar sagen, was sie will.
An dieser Stelle sage ich: Die Ministerin ist überfordert, und Frau Merkel hat zugelassen, dass hier am Ende
mehr Rücksicht auf die Institutionen genommen wurde,
als dass man tatsächlich etwas getan hat.
({4})
- Doch, das stimmt. - Es gab an dieser Stelle keinerlei
Grund, irgendjemanden für seine Aufklärungsarbeit zu
loben, und schon gar nicht den Papst. Lesen Sie einmal,
wie viele neue Fälle bei uns bekannt geworden sind.
({5})
Wenn Sie die internationale Presse lesen, zum Beispiel
die New York Times, dann sehen Sie, welche Probleme
auch die Kirche aufzuarbeiten hat.
Ich sage an dieser Stelle: Ich will, dass wir wirklich
ganz klare Linien ziehen. Wenn es um den aktuellen
Schutz geht, dann gibt es nichts zu diskutieren. Sie können an einem runden Tisch oder in einem anderen Gremium über einen Entschädigungsfonds und über die
Veränderung der Verjährungsfristen zum Beispiel im Zivilrecht reden, aber Sie sind jetzt, nachdem Wochen verstrichen sind, verpflichtet, endlich dafür Sorge zu tragen,
dass das falsche Verhalten, diese Wagenburgmentalität
und dieses Bestreben, die Institutionen zu schützen
- egal ob katholische Kirche oder Reformpädagogik -,
({6})
endlich ein Ende findet.
({7})
Wir wissen eines: Der Bundestag muss Position beziehen, und die Bundesregierung muss Position beziehen. Die Kinder und nicht der Papst oder andere öffentliche Institutionen brauchen unseren Schutz und unsere
Unterstützung. Die Kinder brauchen einen Anwalt.
Die Opfer, die es schon gibt und die noch heute als
Erwachsene leiden, brauchen einen öffentlichen Bericht,
in dem ganz deutlich gesagt wird, was war. In den Fällen, in denen Verjährung eingetreten ist, erleben die Opfer
nicht mehr, dass sich eines Tages ein Richter erhebt und
sagt: Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. - Unsere Verpflichtung ist es, gegenüber diesen Opfern klarzumachen, dass es einen öffentlichen Bericht geben
wird, in dem steht, was dort passiert ist, sodass die gesamte Gesellschaft dies aufnimmt. Sie haben das Recht,
dass sich solche Dinge ab heute nicht wiederholen können.
Ich bitte Sie inständig: Regeln Sie die Dinge, die
heute zu regeln sind, und verschieben Sie sie nicht an irgendeinen runden Tisch oder an eine Kinderschutzbeauftragte! Heute brauchen viele Kinder in diesem Land
unseren Schutz und unsere schützende Hand. Dies ist
kein Delikt der Vergangenheit, sondern ein Delikt, das
noch heute an Kindern begangen wird.
Ich sage: Frau Ministerin, walten Sie endlich einmal
Ihres Amtes, statt sich nur zu verstecken!
({8})
Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schockierendes war in den letzten Wochen über sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen in kirchlichen,
in weltlichen und in pädagogischen Einrichtungen zu lesen und zu hören. Nicht weniger schockierend ist das
Schweigen, das diese Verbrechen über viele Jahrzehnte
begleitet hat; denn durch dieses Schweigen wurden
Mauern zementiert, hinter denen viele Kinder und Jugendliche Pädophilen hilflos ausgeliefert waren und hinter denen manche der Betroffenen auch heute noch gefangen sind.
Ich glaube, dass wir uns nicht im Geringsten vorstellen können, welche Verletzungen Missbrauchserlebnisse Kinderseelen zufügen und wie tief diese Narben
sind, die ein Leben lang bleiben.
Verantwortung zu übernehmen, bedeutet deshalb zunächst einmal, den Opfern Gehör zu schenken und die
Fakten klar und schonungslos zu benennen, über die viel
zu lange geschwiegen wurde.
({0})
Der nüchterne Begriff des sexuellen Kindesmissbrauchs bringt nur vage auf den Punkt, worüber wir hier
reden: In kirchlichen und weltlichen Einrichtungen sind
Kinder und Jugendliche über Jahre hinweg vergewaltigt,
misshandelt und gedemütigt worden. Diese Verbrechen
haben Menschen begangen, denen die Kinder vertrauten,
die sie respektierten und gern hatten und von denen sie
sich Aufmerksamkeit, Zuwendung und Anerkennung erhofften. Zu den Tätern gehörten Priester, Lehrer und Erzieher. Zu den Verantwortlichen gehörten aber auch diejenigen, die die Mauern des Schweigens aufgebaut und
aufrechterhalten haben: durch Wegsehen, durch Vertuschen, durch Banalisieren, aber auch zum Beispiel durch
die Versetzung von Tätern in die nächste Schule, in die
nächste Gemeinde, in den nächsten Verein, wo sie es
wieder mit Kindern zu tun hatten.
Es gab aber auch couragierte Frauen und Männer, die
ihre Verantwortung ernst nahmen. Stellvertretend für
viele nenne ich zum einen Pater Klaus Mertes, den Rektor des Berliner Jesuiten-Gymnasiums Canisius-Kolleg.
Er hat im Januar Berichte über sexuelle Übergriffe
zweier Patres in den 70er- und 80er-Jahren öffentlich gemacht und damit die aktuelle Debatte erst ausgelöst.
({1})
Zum anderen nenne ich Margarita Kaufmann, die Direktorin der Odenwaldschule in Hessen. Auch sie hat die
Vorwürfe ehemaliger Schüler öffentlich gemacht und
sich von Anfang an um Aufklärung und Aufarbeitung
bemüht. Allen, die sich wie diese beiden in kirchlichen
und weltlichen Einrichtungen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen, gebührt unser Respekt, meine Damen und Herren.
({2})
Jetzt geht es darum, so wie Margarita Kaufmann und
Klaus Mertes Verantwortung zu übernehmen für das,
was geschehen ist. Das sind wir den Opfern schuldig.
Und es geht darum, alles in unseren Möglichkeiten Stehende zu tun, um sexuellen Missbrauch in Zukunft zu
verhindern. Das sind wir den Kindern schuldig, das sind
wir aber auch den Eltern schuldig. Denn jede Mutter, jeder Vater wird sich doch jetzt fragen: Wie kann ich
meine Kinder vor solchen Erfahrungen schützen? Die
aufrichtige Antwort muss lauten: Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Aber es gab in kirchlichen und
weltlichen Einrichtungen offenbar Schutzräume für Pädophile, in denen Kindesmissbrauch lange unbemerkt
und ungestraft bleiben konnte. Solche Schutzräume dürfen wir nicht länger zulassen.
({3})
Deshalb hat das Kabinett gestern die Einrichtung eines runden Tisches beschlossen, der sich mit sexuellem
Missbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen
befassen wird - auch in Familien. Wir wollen unserer
doppelten Verantwortung für Aufarbeitung und wirksamen Kinderschutz gerecht werden: zum einen durch die
Anerkennung des Leidens der Opfer und möglicherweise notwendige rechtspolitische Folgerungen, zum anderen aber auch durch präventive Maßnahmen und effektive Interventionsmöglichkeiten.
Diese Aufgaben kann kein Ressort alleine bewältigen.
Deshalb danke ich meinen Kolleginnen Frau Schavan
und Frau Leutheusser-Schnarrenberger herzlich für die
gute und enge Zusammenarbeit. Gemeinsam haben wir
Umsetzungsvorschläge erarbeitet, die wir am runden
Tisch unter Beteiligung aller relevanten gesellschaftlichen Institutionen und mit Unterstützung von Kinderschutz- und Opferorganisationen zur Diskussion stellen
und konkretisieren wollen.
Zur Prävention schlagen wir unter anderem vor: Maßnahmen zur behutsamen Sensibilisierung und zur Stärkung von Jungen und Mädchen - sie sollen Missbrauch
erkennen und klar benennen können -, Maßnahmen zur
Sensibilisierung und Weiterbildung von Fachkräften und
Eltern - sie sollen Indizien sexualisierter Gewalt erkennen und intervenieren können -, strukturelle Maßnahmen wie die Überprüfung von Aus- und Fortbildungen,
aber auch Zulassungsbedingungen für pädagogisch tätiges Personal.
Wir müssen aber auch direkt bei den Neigungen pädophiler Männer ansetzen. Vorbildlich sind hier die Projekte der Charité im Rahmen der Kampagne „Kein Täter
werden.“, die in den letzten Jahren - gemeinsam gefördert von Bundesjustizministerium und Bundesfamilienministerium - entwickelt wurden. Hier können sich
Männer konkret beraten und therapieren lassen, bevor
aus ihren pädophilen Fantasien pädophile Handlungen
werden.
Über diese präventiven Maßnahmen hinaus müssen
wir aber auch zusätzlich zum Strafrecht wirksame Interventionsstrategien erarbeiten. Dazu gehören zum Beispiel klare Verhaltensregeln, die wir in Form von Selbstverpflichtungserklärungen festlegen wollen. All das
betrifft den künftigen Schutz von Kindern und Jugendlichen.
Diejenigen aber, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind,
haben einen Anspruch auf umfassende Anerkennung ihres Leids. Deshalb freue ich mich, dass wir mit Frau
Dr. Christine Bergmann eine erfahrene Fachfrau als unabhängige Beauftragte gewinnen konnten. Sie bringt die
für dieses sensible Thema richtige Mischung aus Fingerspitzengefühl und Durchsetzungsvermögen mit. Dadurch kann sie zum einen Ansprechpartnerin für die Opfer sexuellen Missbrauchs sein. Sie kann zum anderen
aber auch Vorschläge erarbeiten, wie Opfern materiell
und immateriell umfassend geholfen werden kann.
Einen Beitrag zur Prävention wird schließlich auch
die geplante Reform des Kinderschutzgesetzes leisten,
auf die ich hier nur am Rande eingehen kann. Unter anderem geht es dabei um die Neuregelung der Befugnisnorm für Berufsgeheimnisträger, um zum Beispiel eine
bessere Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten und Jugendämtern zu ermöglichen.
Die Debatte über sexuellen Missbrauch, die wir hier
führen, ist eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Wir
sollten diese Debatte - darum bitte ich Sie - immer auf
eine Art und Weise führen, die der Perspektive der Opfer
gerecht wird. Dazu gehört auch, dass wir uns bei allen
Meinungsunterschieden über den richtigen Weg gegenseitig ein aufrichtiges Interesse an Aufarbeitung, Aufklärung und Kinderschutz unterstellen. Dafür bitte ich Sie
um Ihre Unterstützung.
({4})
Das Wort hat der Kollege Olaf Scholz für die SPDFraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Mir geht es wie Ihnen und
vielen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland: Wir
verfolgen atemlos, was alles an neuen Berichten bekannt
wird. Jeden Tag, wenn man die Zeitung aufschlägt,
Nachrichten hört oder im Fernsehen sieht, was berichtet
wird, denkt man: Das kann und darf in unserem Land
doch nicht sein. - Aber es ist so.
Deshalb gehört, finde ich, zu den Feststellungen, die
uns leiten sollten, eine klare Aussage: Niemand darf deshalb, weil wir über lange zurückliegende Vorfälle diskutieren, den Eindruck haben, es handele sich um ein Problem der Vergangenheit. Sexueller Missbrauch von
Kindern in Schulen und Einrichtungen kirchlicher oder
weltlicher Art findet auch heute statt, und wahrscheinlich in viel größerem Umfang, als jeder von uns es wahrhaben will. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns um diese
Frage kümmern, und zwar nicht nur um gute Aufklärung
der Vergangenheit, sondern auch um Handlungsstrategien, die jetzt notwendig sind. Ich glaube, wir sollten
das, was jetzt neu herauskommt, zum Anlass nehmen,
dafür zu sorgen, dass die Dunkelfeldforschung in
Deutschland mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet wird,
und zu versuchen, herauszufinden, wie groß das Ausmaß
des Missbrauchs ist, über das wir nichts wissen, weil niemand darüber redet. Das muss jetzt dringend geschehen.
({0})
Ich finde es gut, dass nach dem vielen Hin und Her,
von dem wir gehört haben, jetzt in der Regierung Einigkeit über die Bildung eines gemeinsamen runden Tisches
besteht. Dabei muss eines klar sein - darin bin ich mir
mit der Kollegin Künast einig -: Ein runder Tisch ist
kein Ersatz für eigenes Handeln und eigene Politik. Die
Regierung ist jetzt nicht suspendiert und darf warten,
was der runde Tisch macht; vielmehr muss sie jeden Tag
handeln. Denn die Probleme sind drängend und können
nicht auf spätere Zeiten vertagt werden.
Selbstverständlich ist es richtig, dass man versucht,
möglichst viele einzubeziehen. Dass Sie die frühere Ministerin Bergmann als Beauftragte für diesen Prozess mit
einbezogen haben, ist ein guter Schritt, und zwar deshalb, weil sie eine gute Ministerin war, von der wir alle
wissen, dass sie gerade auf dem Feld der Bekämpfung
des sexuellen Missbrauchs viele gesetzliche und staatliche Initiativen auf den Weg gebracht hat.
({1})
Ich glaube aber, dass man dabei nicht stehen bleiben
sollte, und habe mir nun sehr sorgfältig angehört, was
bei Ihren verschiedenen Bemühungen, miteinander klarzukommen, herausgekommen ist. Eine Frage scheint mir
darüber aber vergessen worden sein, und deshalb stelle
ich sie hier: Haben Sie auch an das Parlament gedacht?
Selbstverständlich muss in diesem Kommunikationsprozess nicht nur die Regierung mit irgendwem in der Welt
reden, sondern eben auch mit dem Parlament. Deshalb
fordere ich Sie an dieser Stelle auf: Sorgen Sie dafür,
dass auch Abgeordnete des Deutschen Bundestages - aller Fraktionen in diesem Parlament - an diesem runden
Tischen teilnehmen können!
({2})
Ich habe gesagt: Wir müssen heute handeln. - Dies
können und müssen wir durchaus in einer Kontinuität
von Gesetzgebung und Problembewältigung tun, die in
den letzten Jahren, gerade in den Regierungen von RotGrün und der Großen Koalition, stattgefunden haben.
Deshalb noch einmal zur Erinnerung: Da ist ganz schön
viel passiert. Das Strafmaß ist massiv heraufgesetzt worden. Viele, die früher ganz harmlos davongekommen
sind, können dies heute nicht mehr, weil sich eben der
Strafrahmen verändert hat. Wir haben auch dafür gesorgt, dass diese Taten nicht mehr so einfach verjähren
können, wie es in der Vergangenheit der Fall war, indem
wir sowohl die zivilrechtliche als auch, was noch wichtiger ist, die strafrechtliche Verjährung erst zu einem Zeitpunkt beginnen lassen, an dem ein erwachsener Mensch
darüber entscheiden kann, was er mit den schrecklichen
Erlebnissen seiner Jugend in dieser Hinsicht machen
will.
Aber wir lernen ja auch aus den jetzigen Berichten.
Wir lernen, dass es sehr lange dauert, bis manche Debatten und manche Ereignisse öffentlich und breit diskutiert
werden. Das ist in einer bestimmten Hinsicht sehr bemerkenswert; denn es hat ja in großen Wellen immer
wieder neue Diskussionen über sexuellen Missbrauch
gegeben, die auch zu Konsequenzen sowie dazu geführt
haben, dass sich flächendeckend viele melden und sagen: Ich bin ein Opfer dieser Taten gewesen und will,
dass das jetzt endlich in Ordnung gebracht wird. - Aber
immer wieder gibt es neue Wellen. Deshalb glaube ich,
dass dies ein fortschreitender Prozess von Aufklärung,
von Problembewusstsein ist, der in der Gesellschaft
stattfindet, dass dieser Prozess aber bestimmt noch lange
nicht abgeschlossen ist, und ich glaube auch, dass wir
Handlungsinstrumente brauchen, die gerade für diese
Straftaten eine andere Form von Verjährung möglich
machen, als das heute schon der Fall ist.
Deshalb sollte bei dem, was wir jetzt diskutieren, geschaut werden, ob wir - das wäre ein gewisser Systembruch zu dem Prinzip der Verjährung - in diesem Zusammenhang eine regelhafte zwanzigjährige Verjährung
auch für solche Straftaten möglich machen, die eigentlich schneller verjähren. Denn es muss möglich sein,
dass sich jemand später noch ein Herz fasst und sagt: Ich
will, dass das jetzt diskutiert wird. - Auch muss für die
Täter klar sein, dass sie nicht nur kurze Zeit abwarten
müssen, bis Dinge nicht mehr verfolgt werden, die sie
für harmlos halten, die für die Betroffenen aber eine
schwere Demütigung darstellen, die sie möglicherweise
ein ganzes Leben lang nicht vergessen. Deshalb sollten
wir auch darüber diskutieren, speziell im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und
Schutzbefohlenen, eine zwanzigjährige Verjährung regelhaft zu machen, die sicherstellt, dass alle Straftaten
möglichst ans Tageslicht kommen und immer wieder
neue Wellen dieses Prozesses dazu führen können, dass
eines Tages die Dunkelziffer bei diesem Problem kleiner
geworden und nicht mehr so groß ist wie heute.
Schönen Dank.
({3})
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs in
Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in Institutionen
privater und kirchlicher Art sowie im familiären Umfeld
muss man nicht nur sehr verantwortungsbewusst, sondern auch sorgfältig und ernst umgehen. Da helfen keine
vordergründigen Vorschläge, dass jetzt die Bundesregierung anfangen solle, dass halbe Land vorzuladen und
zum Rapport zu bitten.
Ich denke, Frau Künast, in Hamburg werden Sie sich
dafür eingesetzt haben, dass entsprechende Angebote
gemacht werden, wie es gerade auch in Bayern, in der
Bayerischen Staatsregierung geschieht. Es ist wichtig,
dass nicht nur die Bundesregierung ihrer Verantwortung
gerecht wird.
({0})
- Dann hätten Sie einmal von den guten Beispielen berichten können.
({1})
Wir sind froh über alle Anregungen und greifen sie
gerne auf.
({2})
Eines ist doch auch selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Der runde Tisch - es gibt ja gute Vorbilder für die Wirkungskraft runder Tische; ich erinnere
in diesem Zusammenhang an die deutsche Einheit - ist
die Möglichkeit, gesellschaftlich relevante Kräfte zusammenzubringen, um über zwei wichtige Bereiche zu
reden
({3})
und dort zu Empfehlungen und Vorschlägen zu kommen.
Nie und nimmer kann dies aber die Arbeit der Regierung
und die wichtige Aufgabe des Parlaments ersetzen.
({4})
Die Diskussion unter den Beteiligten kann aber wichtige
Anstöße geben. Man wird von den Vertretern der betroffenen Institutionen fordern, nicht nur alles zu tun, damit
weiter aufgeklärt wird, sondern auch eine Untersuchung
der Strukturen in den jeweiligen Einrichtungen vorzunehmen, damit es zu Verbesserungen kommt, damit früher aufgeklärt wird und Informationen früher an die
Staatsanwaltschaft vor Ort weitergegeben werden. Wenn
die Informationen möglichst früh - sobald man Anhaltspunkte hat - weitergegeben werden, wenn nicht interne
Untersuchungen eine frühe Weitergabe verhindern, dann
haben wir die Chance, die Verantwortlichen wirklich zur
Rechenschaft zu ziehen. Es muss ein Ergebnis des runden Tisches sein, zu entsprechenden Veränderungen bei
den jeweiligen internen Strukturen zu kommen.
({5})
Herr Scholz, Sie haben die Frage angesprochen: Was
ist mit dem Parlament? Natürlich muss auch das Parlament am runden Tisch vertreten sein. Die Parlamentarier
ergänzen die Vertreter von Organisationen und gesellschaftlich relevanten Einrichtungen, die eingeladen werden. Meine Kollegin, Frau Schröder, hat schon eine entsprechende Liste vorgelegt und den 23. April als Termin
festgelegt; eine Einladung ist bereits herausgegangen.
Wir drei Ministerinnen, jeweils für einen Bereich zuständig, werden jetzt, nach dem Kabinettsbeschluss, den
Teilnehmerkreis des runden Tisches erweitern, weil der
runde Tisch mehr Aufgaben bekommen hat. Er wird
über die Aufarbeitung der Vergangenheit - ein wichtiges
zweites Standbein -, die Durchsetzung des staatlichen
Strafanspruchs, rechtspolitische Folgerungen und mögliche Rechtsänderungen debattieren. Selbstverständlich
muss auch das Parlament bei diesem runden Tisch vertreten sein.
Wir werden hier unabhängig von dem, was der runde
Tisch und die unabhängige Beauftragte zu leisten in der
Lage sind, Debatten zu diesem Thema führen; denn wir
wollen, dass gerade durch die Diskussion eine öffentliche Debatte erzeugt wird, die dazu führt, dass in den Institutionen selbst für Änderungen gesorgt wird.
({6})
Um an dieser Stelle die katholische Kirche anzusprechen: Hier geht es auch um interne Richtlinien, die bisher nicht so klare Anweisungen enthalten haben; Vertreter der katholischen Kirche, gerade auch aus Bayern,
haben jetzt aber Änderungen gefordert. Der runde Tisch
kann hier Unterstützung geben und diesen Prozess befördern. Weder der runde Tisch noch das Parlament können
aber die notwendigen Entscheidungen ersetzen, die von
den Verantwortlichen in den Institutionen getroffen werden müssen.
Wir können einen Beitrag leisten, indem wir Vorschläge unterbreiten, wie Strukturen so verbessert werden können, dass sich Kinder und Jugendliche, die sich
in Abhängigkeitssituationen befinden, trauen, zu den
Ansprechpartnern und Anlaufstellen zu gehen. In welch
einer fürchterlichen Situation befinden sich diese jungen
Menschen! Sie haben vielleicht Angst, sich an ihre Eltern zu wenden, weil sie befürchten, dort nicht ernst genommen zu werden. Sie trauen sich nicht, sich an einen
Lehrer zu wenden, weil sie nicht wissen, wie das in der
jeweiligen Einrichtung - in der Schule, im Internat, im
Kloster, wo auch immer - behandelt wird. Sie brauchen
also externe Ansprechpartner. Wir benötigen also vertrauensbildende Maßnahmen dieser Institutionen, damit
die jungen Menschen sehen: Wenn es hier zu sexuellem
Missbrauch kommt - er kann in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlicher Intensität stattfinden -,
gibt es, wenn sich die Betroffenen nicht trauen, sich
gleich an die Polizei oder an die Staatsanwaltschaft zu
wenden, vertrauliche Ansprechpartner und -partnerinnen, die mit den Informationen so umgehen, wie es der
Situation angemessen ist. ({7})
Hier eine Struktur aufzubrechen, die das bisher nicht ermöglicht hat, ist ein ganz wichtiges Anliegen des runden
Tisches. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir damit wirklich etwas bewegen können.
({8})
Wir werden natürlich Debatten führen, die schon in der
Vergangenheit geführt worden sind. Ich war Anfang der
90er-Jahre Justizministerin, als wir im Parlament die Regelung verabschiedet haben, dass die Verjährungsfrist
bei sexuellem Missbrauch erst mit dem 18. Lebensjahr
des Opfers beginnt und abgestuft nach der Höhe der
Strafandrohung 10 und 20 Jahre beträgt.
Ich habe in den letzten Tagen viele Gespräche geführt, sowohl mit Beauftragten von betroffenen Institutionen, zum Beispiel des Jesuitenordens, als auch mit
Beauftragten und Verantwortlichen außerhalb dieser Institutionen, die sich schon jetzt mit diesem Thema befassen. In diesen Gesprächen kam immer wieder zum Aus3156
druck, dass es für das Opfer am allerschlimmsten ist,
wenn nach 20 oder 30 Jahren Informationen an die
Staatsanwaltschaft gehen, der mögliche Täter die Tat
nicht zugibt, es zu einem Gerichtsverfahren und zur Beweisaufnahme kommt, man sich auf konkrete Daten
nicht mehr einlassen kann, weil die Erinnerung einfach
nicht mehr da ist, und dann der Sachverhalt nicht mehr
aufklärbar ist. Denn was bleibt dann? Es bleibt ein Opfer, das zum zweiten Mal zum Opfer geworden ist, weil
es das Gefühl hat, dass ihm trotz eines Gerichtsverfahrens keine Gerechtigkeit widerfährt. Das muss bei der
Debatte über die Länge und den Beginn von Verjährungsfristen im strafrechtlichen Bereich immer mit berücksichtigt werden. Deshalb bin ich hier so zurückhaltend. Ich glaube, wir müssen vor allem alles daransetzen,
dass frühzeitiger aufgeklärt werden kann.
({9})
Aber es geht um sehr viel mehr. Es geht auch um die
Frage: Wie gehen wir mit den Taten um, die verjährt
sind? Was können wir noch für die Opfer tun, wenn zivilrechtliche Ansprüche verjährt sind? Eine vertrauensbildende Maßnahme könnte sein, dass die Verantwortlichen laut und deutlich sagen, dass sie das Eintreten der
Verjährung außer Acht lassen. Das könnte schon ein
wichtiger Schritt sein. Aber natürlich sind weitere
Schritte notwendig. Diese müssen zusammen mit den Institutionen und den Verantwortlichen erörtert werden.
Das kann einen Weg weisen und eine Perspektive eröffnen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass mit dem runden
Tisch und der Berufung einer unabhängigen Beauftragten zwei gute Entscheidungen im Kabinett getroffen
worden sind. Wenn wir hier ein gemeinsames Ziel verfolgen, dann sollten wir uns darüber unterhalten, welche
Maßnahmen im Einzelnen getroffen werden müssen,
aber nicht darüber streiten, ob ein runder Tisch richtig ist
oder nicht.
Vielen Dank.
({10})
Für die Fraktion Die Linke hat Diana Golze das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Gewalt an Kindern, auch und gerade
sexuelle Gewalt, ist ein Straftatbestand, der nicht zu entschuldigen ist und der weder vertuscht noch verharmlost
werden darf. Es hat mich wütend gemacht, wenn ich in
den letzten Tagen gehört habe, dass die Kirche nur bei einem erhärteten Verdacht einen Staatsanwalt eingeschaltet
oder irgendwie auf den Rechtsstaat zurückgegriffen hat.
Das kann nicht sein. Ich sehe es so: Die Kirche ist Teil der
Gesellschaft; sie will Teil der Gesellschaft sein. Dann
müssen aber auch für ihre Mitglieder, für ihre Angestellten und für ihre Mitarbeiter dieselben Regeln gelten wie
für alle anderen. Dazu zählt, dass man sich rechtsstaatlichen Verfahren stellt und dass Kindern und Jugendlichen
die Möglichkeit gegeben wird, diesen Weg zu wählen.
({0})
Ich möchte, ebenso wie es die Frau Ministerin getan
hat, meine Achtung vor den Menschen ausdrücken, die
ein Tabu gebrochen haben, indem sie dieses Thema an
die Öffentlichkeit gebracht und die ganze Gesellschaft
zum Hinschauen und hoffentlich auch zum Handeln gezwungen haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie
viel Überwindung so etwas gekostet haben muss, wenn
bisher die oberste Priorität der Schutz der Institutionen
war. Jetzt endlich setzt ein Umdenken ein und der Schutz
der Kinder und Jugendlichen wird zur obersten Priorität.
Ich möchte diesen Menschen dafür meinen ausdrücklichen Dank aussprechen.
({1})
Ich möchte aber nicht nur über die Kirche und die
jetzt zutage getretenen Fälle sprechen; denn sexuelle Gewalt an Kindern ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die jüngst bekannt gewordenen Fälle machen
deutlich: Es sind Vergehen von Erziehenden gegenüber
Kindern und Jugendlichen, die mit einem Missbrauch
von Macht einhergehen. Hier werden Hierarchien und
Strukturen genutzt, um diejenigen zu Opfern zu machen,
die in einem Abhängigkeitsverhältnis, in einem Vertrauensverhältnis gestanden haben und die sich aus diesen
Strukturen nicht befreien konnten. Je hierarchischer und
autoritärer eine solche Struktur aufgebaut ist, umso
leichter fällt es den Tätern, Opfer zu finden und diese zu
jahrelangem Schweigen zu bringen; denn hier ist die
Macht ganz klar verteilt. Die Kinder sind die Ohnmächtigen. Sie haben in diesem Machtverhältnis die geringsten Möglichkeiten, sich zu wehren.
Ich spreche ganz bewusst nicht vom „Missbrauch von
Kindern“, sondern von Machtmissbrauch; denn der Wortgebrauch „Missbrauch von Kindern“ legt nahe, es gäbe
einen richtigen „Gebrauch“ von Kindern. Das macht Kinder wieder nur zu Objekten.
({2})
Deshalb bitte ich gerade die Grünen, die die Aktuelle
Stunde mit diesem Titel beantragt haben, diesen Sprachgebrauch zu ändern. Es geht nicht um den sexuellen
Missbrauch von Kindern, sondern es geht um Machtmissbrauch und um Opfer. Mit einer solchen Formulierung werden Kinder wie Objekte behandelt, obwohl sie
Subjekte sind. Das müssen wir als Gesetzgeber unterstreichen. Ich fordere an dieser Stelle noch einmal die
Aufnahme von Kinderrechten ins Grundgesetz. Wir
müssen die Machtverhältnisse zugunsten der Kinder verändern.
({3})
Kinder und Erwachsene müssen sich auf Augenhöhe
und dürfen sich nicht hierarchisiert begegnen. Kinder und
Jugendliche müssen dann aber auch ihre Rechte kennen.
Das ist schon gesagt worden; ich möchte es aber noch einmal unterstreichen. Sie müssen ihre eigenen Grenzen und
ihre Rechte kennen. Sie müssen damit umgehen lernen.
Sie müssen wissen und darauf vertrauen können: Wann
darf und muss ich Nein sagen, wenn meine Grenzen überschritten werden? Das muss diesen Kindern klar werden.
Ganz egal, ob in der Familie, in der Schule oder im Sportverein - wir hören regelmäßig von Vorfällen, in denen
Trainer übergriffig werden -: Kinder müssen ihre Rechte
und ihre Grenzen kennen.
Um sich für ihre Rechte einzusetzen, brauchen sie
schnell erreichbare Hilfen: Notrufnummern, möglichst
bundesweit einheitlich, die überall bekannt sind und
überall veröffentlicht sind, wo am anderen Ende der Leitung gut geschultes Personal ist, wo man schnell Hilfe bekommt. Dabei geht es auch um von den Institutionen unabhängige Hilfen. Natürlich spreche ich mich für den
verstärkten Einsatz von Schulsozialarbeitern aus. Aber
wir brauchen auch Hilfe, die unabhängig von diesen Institutionen existiert. Stellen Sie sich folgende Situation
vor: Das Kind sieht auf dem Schulhof den Lehrer, von
dem es sich angefasst gefühlt hat, mit dem Schulsozialpädagogen sprechen. Diesen Schulsozialpädagogen spricht
es doch nicht an, um ihn um Hilfe zu bitten. - Es muss
also auch außerhalb der Institutionen verlässliche und bekannte Hilfe für die Kinder und Jugendlichen geben.
({4})
Klar ist: Für das gesunde Aufwachsen von Kindern
und Jugendlichen und ihren bestmöglichen Schutz müssen wir Ressourcen zur Verfügung stellen. Jugendämter
- ich will es nur schlagwortartig ansprechen - dürfen
nicht mehr nur als Feuerwehr fungieren, sondern müssen
wieder agieren können. Sie brauchen Personal. Wir brauchen Jugendeinrichtungen mit geschultem pädagogischen Personal. Wir brauchen Beratungsstellen, die nicht
dem kommunalen Sparzwang unterliegen. Wir brauchen
schlicht und ergreifend eine Gesellschaft, die ihre Verantwortung übernimmt - auf allen Ebenen und vor allem
dort, wo die Kinder sind.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Michael Grosse-Brömer für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die Aktuelle Stunde,
beantragt von den Grünen, behandelt die Konsequenzen
aus den zahlreich bekannt gewordenen Fällen sexuellen
Missbrauchs.
Ich finde, die Bundesregierung hat zügig gehandelt.
Die erste Konsequenz ist dieser runde Tisch. Man kann
das kritisch sehen; man kann runde Tische im Allgemeinen für unzureichend halten. In diesem speziellen Fall
- das haben die Beiträge vorhin gezeigt - gibt es aber
schon viele Vorschläge und viele Überlegungen, die im
Vorfeld eingebracht wurden. Ich halte es sogar für eine
kluge Entscheidung, dass wir uns angesichts der Ernsthaftigkeit dieses Themas ganz bewusst auf eine andere
Art, als es sonst in Gesetzgebungsverfahren üblich ist,
auf einen runden Tisch mit verschiedenen Arbeitsgruppen eingelassen haben, um so zu versuchen, Lösungsvorschläge oder -ansätze dazu zu finden.
Es beschäftigen sich vier starke Frauen mit diesem
Thema, drei amtierende Ministerinnen und eine ehemalige Ministerin. Ich glaube, dass die Chance groß ist,
dass in den Arbeitsgruppen, die vorwärtsgewandt strafrechtliche Aspekte, aber auch rückwärtsgewandt Aspekte der Wiedergutmachung im Blick haben, gute Vorschläge erarbeitet werden. Herr Kollege Scholz,
natürlich bin auch ich der Auffassung, dass das Parlament dem nicht zusehen kann. Spätestens dann, wenn es
darum geht, Ergebnisse bzw. Vorschläge in Gesetzesform zu gießen, muss das Parlament beteiligt werden.
({0})
- Wir werden es natürlich entscheiden. Wir werden uns
sinnvollerweise auch im Vorfeld an der Diskussion beteiligen.
({1})
Die Rechtspolitiker der CDU/CSU und der FDP haben
sich schon den einen oder anderen Gedanken gemacht.
Ich glaube, wir sind auf einem sehr guten Weg, uns zu
einigen und uns auch daran zu beteiligen.
Die Bedeutsamkeit und die schwerwiegenden Fälle
von Kindesmissbrauch muss man nicht besonders erwähnen. Kindesmissbrauch findet überall statt, vorwiegend im privaten Bereich. Es ist widerlich, was Kindern
teilweise angetan wird. Selbst im sogenannten Arbeiterund Bauernparadies - so schreibt Die Welt am 21. März hat es allein in Thüringen über 160 ehemalige Insassen
von sogenannten Jugendwerkhöfen gegeben, die sich
wegen sexueller Übergriffe zu ihren Lasten gemeldet haben. Wir sehen also: Diese Taten finden überall und immer statt. Deswegen ist es richtig, zu versuchen, deren
Zahl zu minimieren, sie frühzeitig aufzudecken und eine
langfristige Belastung der Opfer zu vermeiden.
Es wurden schon gute Projekte genannt, zum Beispiel
das Projekt „Kein Täter werden“ der Charité. Meines Erachtens würde es sehr viel Sinn machen, dass sich nicht
nur Berlin mit solchen Projekten beschäftigt, sondern
auch Hamburg, Frankfurt, Köln und München. Es ist ein
richtiger Ansatz, zu sagen: Wenn man Missbrauch vermeiden kann, muss man sich gar nicht erst über Bestrafung und Opferentschädigung unterhalten.
Das muss man aber gleichwohl tun, wenn Missbrauch
stattgefunden hat. Deswegen sind wir der Auffassung
- das ist mittlerweile unstreitig -, dass es sinnvoll ist, die
zivilrechtliche Verjährungsfrist zu verlängern. Es ist
nicht nur sinnvoll zu wissen, dass der Täter bestraft wird,
sondern es ist auch sinnvoll zu wissen, dass man eine
Entschädigung für das erlittene Leid bekommt. So bekommt man vielleicht die Kosten der Therapie erstattet
oder - was meines Erachtens noch wichtiger ist - sogar
Schmerzensgeld aufgrund dieser massiven Eingriffe in
die körperliche und seelische Integrität.
Die CDU/CSU-Fraktion ist der Auffassung, dass man
den Täter in genügendem Maße abschrecken muss. Angesichts dieser abscheulichen Form der Kriminalität halten wir es zudem für sinnvoll, diese Form des Missbrauchs endlich als das zu bewerten, was es ist, nämlich
als ein Verbrechen. Das ist ein Teil der Gesamtstrategie;
aber auch über den strafrechtlichen Aspekt der Abschreckung sollte nachgedacht werden.
({2})
Aus meiner Sicht muss man über eine Verlängerung
von Fristen auch im strafrechtlichen Bereich nachdenken; Herr Kollege Scholz hat das auch angesprochen.
Dabei gibt es eine gewisse Diskrepanz, vielleicht auch
eine gewisse Problematik, die darin besteht, dass sich
manche nicht offenbaren können. Strafrechtlich gesehen
gibt es das Problem der Aufklärung nach langer Zeit.
Persönlich beim Opfer besteht das Problem, dass man
nicht sofort in der Lage ist, sich zu offenbaren, erst recht
nicht, wenn man noch ein Kind ist und missbraucht
wurde.
Da wir in der vergangenen Woche auch über dieses
Thema diskutiert haben und die Grünen Antragsteller
dieser Aktuellen Stunde sind, möchte ich abschließend
Folgendes sagen: Herr Kollege Montag hat erwähnt,
dass Rot-Grün nach dem Regierungswechsel 1998 nichts
Eiligeres zu tun gehabt habe, als ein veraltetes und täterfreundliches Sexualstrafrecht zu verschärfen. Im Anschluss an die vergangene Sitzung habe ich mich schlaugemacht: In Wahrheit war es so, dass die Reform erst
einmal gar nicht stattfand, sondern fünf Jahre nach dem
Regierungswechsel, nämlich im Jahr 2003, und zwar
auch deshalb, weil der Bundesrat und die CDU/CSUFraktion über Jahre hinweg eigene, zum Teil wesentlich
schärfere Gesetzentwürfe vorgelegt haben, die zum Beispiel von den Grünen abgelehnt wurden. Ich zitiere abschließend aus der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses dazu:
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hob hervor,
dass die parlamentarischen Debatten um die Reform des Sexualstrafrechts als ein offener Dialog
geführt worden seien. Es stimme, dass sich die Koalition in einigen Punkten nach der Anhörung und
der notwendigen Abwägung der juristischen … Argumente der Position der Union angenähert habe.
Im Laufe dieser Diskussion habe es auch Positionen
gegeben, die man nicht mehr vertrete.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Ende.
Das war in diesem Fall sicherlich sehr sinnvoll. Vielleicht können wir uns darauf verständigen, dass wir uns
auch diesmal annähern und für die Opfer gute Lösungen
finden. In diesem Fall freue ich mich auf die Zusammenarbeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist Marlene Rupprecht für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „sexueller Missbrauch“ oder „sexualisierte Gewalt gegen Kinder“ eignet sich wirklich nicht für Parteipolitik, nicht für
Populismus und auch nicht für kurzfristige Schlagzeilen.
Das Thema bedarf ganz großer Ernsthaftigkeit und Hartnäckigkeit; denn es geht um die Zerstörung von Kindern ihrer Körper, ihrer Seelen und ihres ganzen Lebens. Darum geht es. Deshalb erwarte ich große Ernsthaftigkeit.
Die Menschenrechte gelten überall - so sind sie festgelegt - und für jeden Menschen, auch für unsere Kinder. Niemand auf dieser Welt - das muss man sich täglich sagen - hat das Recht, die Rechte eines Kindes zu
missachten. Weder in Familien noch im Bekanntenkreis,
in Vereinen oder in irgendeiner Institution duldet die Demokratie Menschenrechtsverletzungen, weder in Kirchen und kirchlichen Einrichtungen noch in Reformpädagogikschulen oder sonst irgendwo. Die Straftaten,
über die wir derzeit öffentlich reden, wurden in Institutionen begangen, in Schulen und Internaten. Diese bildeten mit ihrem geschlossenen System den Schutzraum
und den Nährboden für die Täter, die hier ihren Neigungen nachgehen und diese ausleben konnten, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Das ist das System, nach
innen abgeschottet.
Wir alle können hier nicht versprechen, dass es nie
mehr Kinderschänder geben wird. - Ich benutze bewusst
dieses Wort und nicht ein griechisches oder ein sonstiges
Fremdwort, weil ich denke, dass es eindeutig und klar
ist. Das sind Kinderschänder, und da gibt es kein Pardon. Was wir aber versprechen müssen, ist, dass wir alles tun
werden, um den Tätern den Schutzraum zu nehmen, damit sie nicht unentdeckt bleiben.
Was muss also getan werden? Wir fangen bei der Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexualisierten Gewalt nicht bei null an. Das sollten wir sehen.
Wir haben Aktionspläne geschrieben; wir haben eine
Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet, die immer
noch existiert und in der Vertreter des Bundes, der LänMarlene Rupprecht ({0})
der und von Nichtregierungsorganisationen sind. Wir
brauchen eine rückhaltlose Aufklärung aller Fälle.
Ich erwarte von den Tätern und den Institutionen,
dass sie sich klar und eindeutig zu ihrer Schuld bekennen
und dass sie sich für dieses Unrecht entschuldigen. In
der Bibel heißt es:
Eure Rede aber sei: ja ja; nein nein. Was darüber ist,
das ist von Übel.
Diese Klarheit erwarte ich von den Institutionen, egal
von welcher. Ich erwarte auch, dass sie alles unternehmen, die geschlossenen Systeme aufzubrechen, um die
ihnen anvertrauten Kinder vor Gewalt zu schützen. Und:
Alle Opfer brauchen die notwendige Unterstützung, um
ihre Traumatisierungen zu verarbeiten. Das gilt auch für
diejenigen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen. Auch
diese Opfer haben ein Recht darauf.
Wir müssen die seit Jahren begonnene Arbeit zum
Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung und Missbrauch fortsetzen. Hier ist wirklich viel getan worden.
Dabei geht es nicht um Parteipolitik, nicht darum, wer
was mehr gemacht hat. Das Thema ist schon lange in der
Politik angekommen. Wir haben sowohl im Strafrecht
und im Jugendhilferecht als auch in der Öffentlichkeit
sehr viel dafür getan. Wenn der runde Tisch dazu beiträgt, die Aufgaben der Aufarbeitung und der Hilfe für
die Opfer, soweit möglich, zu erfüllen - wir können die
Taten nicht ungeschehen machen -, wenn wir für die Zukunft lernen, dann hat der runde Tisch einen Sinn, aber
nur dann.
Was wir nicht machen dürfen, sind leere Versprechungen und großes Getöse. Ich verspreche, mich im parlamentarischen Raum und außerhalb im Sinne der Betroffenen und aller Kinder ernsthaft, ehrlich und offen dafür
einzusetzen, dass wir an diesem Thema arbeiten und ihnen Schutz gewähren. Das erwarte ich übrigens vom
ganzen Haus. Das erwarte ich von jedem Mitglied dieser
Gesellschaft. Wenn wir sehen, dass ein Kind von Gewalt
betroffen bzw. Gewalt ausgesetzt ist, dann müssen wir
- ich, Sie, wir alle - hinsehen, handeln und helfen. So
- „Hinsehen. Handeln. Helfen!“ - hieß übrigens im
April 2004 die erste Kampagne in diesem Bereich. Millionen Menschen haben sie mitbekommen. Ich hoffe,
dass wir sie fortsetzen können. Ich mache mich dafür
stark.
Wenn Sie in diesem Sinne handeln, dann haben Sie
mich, sehr verehrte Ministerinnen, an Ihrer Seite. Ich
kämpfe gern dafür, dass wir einen Riesenschritt im Sinne
der Kinder und der Betroffenen vorwärts machen.
Danke schön.
({1})
Christian Ahrendt hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Kolleginnen und Kollegen! Frau Rupprecht, ich glaube,
dass wir alle in dieser Stunde versuchen, uns diesem
Thema sehr ernsthaft zu nähern, und dass das in dieser
Aktuellen Stunde gut gelungen ist. Sie weisen zu Recht
darauf hin, dass dieses Thema parteiübergreifend angegangen werden muss und dass es für dieses Thema keine
schnellen Lösungen gibt.
Als ich mich gestern Nachmittag auf diese Aktuelle
Stunde vorbereitet habe, ist mir eine dpa-Meldung in die
Hände gekommen, aus der ich kurz zitieren will:
Die Mutter der Mädchen hatte ihren Bekannten öfter auf die Kinder aufpassen lassen. Als sie den
Missbrauch bemerkte, ließ sie den Mann nicht mehr
in die Wohnung, zeigte ihn aber nicht an.
Das ist die Situation. - Wenn wir versuchen, nach Antworten zu suchen, dann kommt es darauf an, dass wir
uns die richtigen Fragen stellen. Diese Fragen müssen
uns auch im Zusammenhang mit der katholischen Kirche
beschäftigen. Sie erschrecken uns. Die Fragen lauten:
Wie lange dauert es, bis ein Opfer den Weg nach draußen findet? Warum liegen die Fälle des Missbrauchs 10,
20 und mehr Jahre zurück, bevor die Opfer den Mut finden, sich zu öffnen und die Tat, die an ihnen verübt worden ist, bekannt zu machen?
Wenn man sich die Fragen so stellt, wird man eine
Antwort in erster Linie im Bereich der Prävention suchen müssen. Das Projekt „Kein Täter werden“ der Charité in Berlin ist schon angesprochen worden. Es gibt ein
vergleichbares Projekt an der Universität Kiel und ein
ähnliches an der Universität Regensburg. Die Projekte
wenden sich an potenzielle Täter, also an Pädophile, die
noch keine Tat verübt haben, um sie zu therapieren. Ich
halte es deswegen für wichtig, dass sich der runde Tisch
mit der Frage beschäftigt, wie wir dieses Projekt auch an
anderen Universitäten, die ähnliche Lehrstühle haben,
etablieren können, um ein Angebot zu schaffen; denn
das Besondere an dem Angebot ist die Anonymität.
Wenn wir in diese Richtung denken, dann müssen wir
auch in Richtung der Opfer denken. Wir müssen - das ist
eine Aufgabe, die wir als Parlament an den runden Tisch
bringen müssen - uns die Frage stellen, ob wir nicht
auch ein Projekt mit der Überschrift „Kein Opfer werden“ brauchen. Das ist sicherlich etwas unglücklich formuliert; denn wenn ein Mensch, ob Junge oder Mädchen, in die Situation kommt, missbraucht zu werden,
dann ist er schon ein Opfer. Aber die Opfer müssen einen Ausgang finden, weil sie sich in der Situation befinden - das wurde bereits angesprochen -, dass der Täter
aus demselben sozialen Netzwerk kommt: Er kommt aus
der Familie, er ist, wie ich es eben vorgelesen habe, der
Bekannte der Mutter, er ist der Lehrer, in der Kirche der
Priester oder möglicherweise auch der Lehrer.
Tatsache ist auch, dass Dritte, die diese Taten beobachten, nicht unmittelbar die Kraft und den Mut finden, sich dieser Situation zu stellen. Deswegen müssen
wir nach geeigneten Stellen suchen - ähnlich wie bei den
Projekten der Charité, in Kiel oder in Regensburg -, an
die sie sich wenden können, um ihre Beobachtungen
oder möglicherweise ihren eigenen Missbrauch vortragen zu können, um Hilfe und Beratung zu erhalten. Da3160
mit öffnen wir eine Tür, damit die Menschen aus diesem
Problembereich herauskommen.
Wir müssen uns auch die Frage stellen: Was müssen
wir im Strafrecht tun, um die vorhandenen Instrumente
stärker auf Prävention auszurichten? Es kann doch nicht
sein, dass jemand, der zum ersten Mal mit 1,6 Promille
im Verkehr unterwegs ist, nach einem Jahr seinen Führerschein nicht wiederbekommt, ohne eine sogenannte
MPU, eine Medizinisch-Psychologische Untersuchung,
gemacht zu haben, während wir im Strafrecht die Situation haben, dass - wenn niedrige Freiheitsstrafen, niedrige Geldstrafen, überhaupt Strafen unter zwei Jahren
verhängt werden - die Maßregeln, die wir im Strafrecht
zur Verfügung haben, um den Täter zu einer Therapie zu
bewegen, nicht genügend angewendet werden. Das
Strafrecht bietet gerade bei Tätern, die im Bereich der
Kinderpornografie ihre „Täterkarriere“ beginnen, einen
durchaus sinnvollen Ansatz - eine Ordnung in der Struktur in der Maßregel, was eine therapeutische Behandlung
als Auflage in einem Urteil angeht -, um zu Ergebnissen
zu kommen und weiterhin einen präventiven Schutz zu
gewährleisten.
Ausgehend von der Frage, die ich aufgeworfen habe,
sind das mögliche Antworten. Viele andere Ansätze sind
heute genannt worden. Es liegt eine Diskussion vor uns,
die von den Ergebnissen des runden Tisches wesentlich
beeinflusst werden wird. Ich glaube, wir alle haben die
Ernsthaftigkeit, um am Ende die richtigen Entscheidungen zu treffen, um auf die Frage, wie wir den Missbrauch von Kindern erfolgreich bekämpfen, eine gute
Antwort zu geben.
Danke schön.
({0})
Ekin Deligöz hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Missbrauch von Kindern, insbesondere in Institutionen, ist ein abscheuliches Verbrechen. Darin sind wir uns
einig. Wir dürfen das nicht bagatellisieren. Wir dürfen
das nicht verharmlosen, indem wir sagen: Das gab es
schon immer und wird es auch immer geben. Ich glaube,
auch darin sind wir einer Meinung. Das Parlament steht
in der Mitverantwortung, wenn es darum geht, Kinder zu
schützen. Auch darin wäre ich gerne mit Ihnen einer
Meinung.
({0})
Wenn man in den vergangenen Tagen und Wochen die
Berichterstattung der Medien verfolgt hat, konnte man
das nicht wirklich herauslesen. Was haben die zuständigen Ministerinnen dazu beigetragen? An dem Punkt, an
dem man geradezu erpicht darauf war, zu handeln, die
Dinge beim Namen zu nennen, nichts zu vertuschen und
schonungslos aufzuklären, haben uns die Medien ein
Schauspiel von drei Ministerinnen, von drei - Zitat „starken Frauen“ geliefert. Das war ein Schauspiel, in
dem sie sich gezankt haben, in dem sie Zwistigkeiten
hatten und in dem nicht klar war, wer welche Kompetenzen hat. Sie haben Parteipolitik gemacht. Sie haben Ressortinteressen vertreten. Sie haben einzelne Interessengruppen geschützt und gedeckt. Sie haben uns ein
Schauspiel geliefert, und Sie haben sich nicht den drängenden Fragen gestellt. Das müssen Sie sich vorwerfen
lassen.
({1})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, vieles von dem,
was Sie gesagt haben, habe ich sehr geschätzt. Aber
wenn Sie sich heute hier hinstellen und sagen: „Wir holen uns Anregungen vom runden Tisch“, dann sage ich
Ihnen: Sie waren doch schon einmal viel weiter. Sie waren auch bei Ihren Forderungen schon viel weiter. Warum stehen Sie nicht dazu? Sie haben doch schon einmal
genau das Richtige gefordert. Sie haben gesagt: Wir
brauchen eine Aufarbeitung der Verbrechen. Das brauchen wir. Dafür reicht ein runder Tisch aber nicht aus.
Wir brauchen unabhängige Stellen. Auch das haben Sie
einmal gefordert. Stehen Sie doch dazu. Das ist richtig.
Wie soll denn der runde Tisch funktionieren? An einem
runden Tisch, ohne klare Kompetenzen, sollen sich die
Betroffenen selbst analysieren und sich selbst kritisieren? Sie sollen selbst schauen, was bei ihnen in die Brüche gegangen ist, was bei ihnen falschgelaufen ist? Das
wissen Sie doch. Sie waren doch schon viel weiter. Setzen Sie sich doch durch. Lassen Sie sich doch nicht einlullen von Ihren Kollegen, und lassen Sie sich auch nicht
einreden, ein runder Tisch sei der richtige Ort, um so etwas aufzuarbeiten.
({2})
Wir brauchen diese Anregungen nicht. Wir brauchen
eine schonungslose Aufklärung. Wir müssen herausbekommen, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass
so etwas passiert ist, welche Umstände dazu geführt haben, welche Rahmenbedingungen das ermöglicht haben
und was wir tun können, damit so etwas in Zukunft in
dieser Form nicht wieder vorkommt; denn wir brauchen
mehr als Aufklärung.
Es ist immer noch nicht ganz klar, was Sie mit dem
runden Tisch erreichen wollen. Einen Rechercheauftrag
gibt es nicht. Einen Analyseauftrag, einen Ermittlungsauftrag gibt es nicht. Es ist überhaupt nicht klar, wer was
wie veröffentlichen soll oder wird.
Noch eines ist anzumerken, wenn man nach vorne
schaut - das sage ich gerade der CDU/CSU-Fraktion, die
immer gesagt hat: „Kinderrechte sind in der Verfassung
schon verankert. Deshalb brauchen wir sie nicht noch
einmal aufzunehmen“ -: Nehmen Sie diesen Auftrag
ernst, und sagen Sie, dass es hier auch um Kinderrechte
geht, dass wir das in den Vordergrund stellen.
({3})
Dann agieren Sie doch auch so. Nehmen Sie sich selbst
beim Wort. Davon ist leider nichts, aber auch gar nichts
zu spüren.
Frau Schröder, Sie sagen, dass es keine Schutzräume
für Pädophile geben soll. Konkretisieren Sie das: Was
meinen Sie damit? Wie soll das aussehen? Wie wollen
Sie das verhindern? Was sind Ihre Antworten? Sagen Sie
uns nicht Sachen, die sowieso jeder weiß und jeder
kennt. Sagen Sie uns, wie Ihre Vorstellung aussieht, wie
Sie handeln wollen. Wir wollen Sie handeln sehen. Wir
wollen Sie nicht nur reden hören. Wir wollen auch nicht,
dass Sie lavieren. An diesem Punkt haben wir die Verantwortung, im Parlament und in der Regierung.
Wir lassen viele Opferverbände alleine. Wir können
nicht nur die Charité unterstützen, sondern müssen auch
Wildwasser und Zartbitter unterstützen. Das sind viele
Frauen, die Tag für Tag mit den Opfern arbeiten. Auch
sie kommen in unseren Debatten nicht vor.
({4})
Auch Kinderschutzbund und Kinderschutzhäuser müssen Sie einbeziehen. Sie fühlen sich im Moment alleingelassen. Sie fühlen sich im Stich gelassen.
({5})
Unser Auftrag lautet: schonungslose Aufklärung und
konsequenter Schutz von Kindern, und das ohne Wenn
und Aber, ohne Lavieren, nicht mit unverbindlichen runden Tischen, sondern mit einem klaren Handlungsauftrag. Das fordern wir von Ihnen ein.
({6})
Die Kollegin Dorothee Bär hat jetzt das Wort für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir haben heute
eine Aktuelle Stunde, der es meines Erachtens nicht an
Ernsthaftigkeit gefehlt hat - egal wer ans Rednerpult getreten ist, ob Herr Scholz, Frau Golze oder Frau
Rupprecht. Auch die Beiträge der Kolleginnen und Kollegen von den Oppositionsfraktionen waren sehr konstruktiv.
Deswegen verstehe ich ehrlich gesagt nicht, warum
Sie, Frau Künast und Frau Deligöz, so viel Redezeit dafür verwenden, zu sagen, was Sie alles nicht in Ordnung
finden, warum Sie meinen, die Ministerinnen an dieser
Stelle vorführen zu müssen.
({0})
Die Debatte ist dafür viel zu ernst. Ich würde mich
freuen, wenn die Grünen bei diesem Thema gemeinsam
mit allen Fraktionen im Bundestag an einem Strang ziehen würden.
({1})
Seitdem der Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin an
die Öffentlichkeit gegangen ist - das ist auch von Ministerin Schröder angesprochen worden -, vergeht kein
Tag, an dem nicht weitere Fälle bekannt werden, in denen Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch wurden. Es
ist wichtig, in dieser Debatte anzusprechen, dass nicht
eine einzelne Gruppierung dafür verantwortlich ist.
Diese Misshandlungen, dieser Missbrauch, diese unterlassene Hilfe für die Opfer findet nicht nur in kirchlichen
Einrichtungen statt, sondern auch in weltlichen, in Internaten, in Schulen, in Sportvereinen, und leider Gottes
eben auch in Familien.
Es ist auch angesprochen worden, dass diese Taten,
die hier jetzt ans Tageslicht kommen, schon sehr viele
Jahre zurückliegen, weil die meisten Opfer aus Scham
geschwiegen haben. Diejenigen, die gesprochen haben,
haben oft sehr schnell wieder geschwiegen, weil ihnen in
vielen Fällen nicht geglaubt wurde. Durch dieses
Schweigen und Wegsehen wurde großes menschliches
Leid verursacht. Aus falsch verstandener Sorge um den
Ruf der Schule, des Vereins, der Kirche, aber auch aus
Angst vor Skandalen hat man die Opfer alleingelassen.
Ich bin sehr dankbar, dass das Verschweigen und
Wegsehen ein Ende hat und dass eine Enttabuisierung
stattfindet, und zwar so, dass sich jedes Opfer melden
und sagen kann, dass es ihm passiert ist, ohne damit
rechnen zu müssen, in eine Ecke gestellt und mit komischen Begriffen tituliert zu werden, leider Gottes auch
vor Gericht. Diese Enttabuisierung findet endlich statt.
Frau Künast, wenn Sie die Ministerin kritisieren und
sagen, sie hätte hier eine eigene Regierungserklärung abgeben müssen, dann müssen Sie doch feststellen, dass
sogar die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung
auf das Thema Bezug genommen und zum Thema Missbrauch Stellung genommen hat. Ich denke, höher angesiedelt als bei der Bundeskanzlerin ist das in diesem
Land nicht möglich.
({2})
Die Bundeskanzlerin hat gesagt - ich zitiere -: Klarheit
und Wahrheit sind das, was die Opfer, aber auch die Gesellschaft als Ganzes brauchen. - Nur so können Übergriffe in der Zukunft verhindert werden.
Wir alle wissen, dass es besonders perfide ist, dass es
in der Regel Vertraute sind, die die Opfer angreifen. Es
sind Lehrer, es sind Sporttrainer, es sind Chorleiter, nahe
Verwandte und Bekannte. Mit dieser Tat werden nicht
nur die Körper zerstört, sondern auch das Vertrauen, die
Unbeschwertheit, die Unbefangenheit und das ganze Leben dieser Kinder. Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt
diese Transparenz und Offenheit haben. Die Idee der
Bundesregierung - die drei Ministerinnen wurden ange3162
sprochen -, einen runden Tisch zu installieren, ist gut.
Ich begrüße das sehr.
Wir müssen den Opfern natürlich auch materiell helfen - Schmerzensgeld ist angesprochen worden -, aber
Geld ist nicht das Einzige, und mit Geld kann kein Leid
aufgewogen werden. Aber oft ist es so - auch das muss
man hier feststellen -, dass die Berufsbiografien von Opfern, die sich nach Jahren oder Jahrzehnten melden, so
zerstört sind, dass Geld wichtig ist, damit sie sich beispielsweise durch Fortbildungen oder Weiterbildungen
die Möglichkeit schaffen können, eine neue berufliche
Existenz aufzubauen. Das erleben wir sehr oft.
Wir müssen natürlich die Kinder sehr starkmachen;
das ist klar. Die Verbesserung der Möglichkeiten für Opfer, sich jemandem anzuvertrauen, ist angesprochen
worden. An dieser Stelle muss eine stärkere Sensibilisierung stattfinden, sodass hauptamtliche und ehrenamtliche Mitarbeiter fortgebildet werden und dass über Strategien gesprochen wird. Wir brauchen natürlich auch
Rahmenbedingungen, die es den Tätern erschweren,
neue Opfer zu finden. Deswegen müssen zunächst die
Berufe, aber auch die Ehrenämter identifiziert werden,
bei denen potenzielle Täter sehr nah an Opfer herankommen. Wir haben schon über das erweiterte Führungszeugnis für den Bereich Jugend- und Bildungsarbeit gesprochen, das künftig zur Pflicht werden soll, damit ein
auffällig gewordener Lehrer, Übungsleiter oder Trainer
keine weitere Anstellung bekommt, bei der er mit Kindern und Jugendlichen arbeitet.
Dass die Taten jetzt öffentlich werden, hat den positiven Nebeneffekt, dass jetzt mehr Opfer den Mut fassen
- deswegen werden jetzt jeden Tag neue Fälle bekannt -,
sich zu melden. Alle haben realisiert, dass es sich nicht
um Einzelfälle handelt, sondern um ein Kartell des Wegschauens, des Schweigens und des Bagatellisierens, das
diesen Missbrauch über viele Jahre erst ermöglicht hat.
Der runde Tisch ist wichtig und richtig, auch aufgrund der aktuellen Debatte. Meiner Kollegin Miriam
Gruß und mir ist es auch ganz wichtig - an dieser Stelle
sind wir Koalitionsfraktionen uns einig -, dass wir parallel dazu weiter mit Hochdruck, wie versprochen, am
Kinderschutzgesetz arbeiten. Auch das ist zum Teil der
aktuellen Debatte geschuldet. Nichts darf unversucht
bleiben, um im Vorfeld präventiv so tätig zu sein, dass
wir in Zukunft nicht mehr so viel mit Aufarbeitung zu
tun haben werden. Wir wollen verhindern, dass so viele
Fälle überhaupt stattfinden können. Das ist ein ganz
wichtiger Schritt.
Herr Scholz hat bereits das Thema Verjährungsfristen
angesprochen.
Frau Kollegin.
Ich weiß; das ist der letzte Satz. - Herr Scholz, über
die Verjährungsfristen sollten wir uns wirklich in Ruhe
unterhalten, weil bei vielen Betroffenen oft noch nach
20 Jahren keine Bereitschaft besteht, etwas aus ihrer
Kindheit preiszugeben. Oft kommt der Missbrauch erst
wesentlich später als nach 20 Jahren heraus. Ich habe in
meinem eigenen Wahlkreis erlebt, dass manche Opfer
erst nach 30 Jahren in der Lage sind,
Frau Kollegin!
- über den Missbrauch zu sprechen. Ich finde es gut,
dass wir alle Fraktionen an unserer Seite haben, wenn
wir uns dieses Themas annehmen.
Danke schön.
({0})
Die Kollegin Sonja Amalie Steffen hat jetzt das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Eine ungeheure, ja
eine ungeheuerliche Zahl von Missbrauchsfällen in katholischen Einrichtungen, Klöstern, Schulen, Chören ist
bekannt geworden, der Strom der schlechten Nachrichten reißt nicht ab, und auch ehemalige Schüler einer reformpädagogischen Schule sind betroffen.
Hinter den nun aufgedeckten Missbrauchsfällen stehen Einzelschicksale, die alle eines gemeinsam haben
- das ist vorhin schon angesprochen worden -: Alle Täter kamen über die Strenge und die Autorität zu ihren Taten. Zuerst wurde die hierarchische Stellung benutzt, um
die Integrität der Kinderkörper durch Schlagen und
Züchtigen zu verletzen, dann durch sexuellen Missbrauch. Die Hand, die schlug, wurde zur Hand, die streichelte, wo sie wollte, und sich griff, was ihr beliebte.
Schließlich wurde sie zur Hand, die Jahre, oft sogar Jahrzehnte Vorwürfe abwehrte.
In der Vergangenheit haben wir gerade im Sexualstrafrecht bedeutende Erfolge erzielt. Diese Erfolge sind
zum größten Teil der rot-grünen Regierung zu verdanken. Mit der 2004 in Kraft getretenen Gesetzesnovelle
wurden bereits erhebliche Strafverschärfungen im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Kinder und gegen widerstandsunfähige Personen beschlossen.
Aus der Praxis wissen wir jedoch, dass es oft sehr
lange dauert, bis Missbrauchsopfer in der Lage sind, die
Straftat anzuzeigen; die aktuellen Fälle machen dies erneut auf schockierende Art und Weise deutlich. Erst
wenn die Opfer über das Geschehene reden, in Therapie
gehen und verdrängte Bilder zulassen, kommen viele zu
dem Schluss, dass der Missbrauch geahndet werden
muss.
In Ländern wie Kanada oder Großbritannien müssen
Sexualstraftäter mit lebenslanger Strafverfolgung rechnen. Rechtsanwälte und Opferschutzorganisationen in
diesen Ländern stellen eine erhebliche Verbesserung der
Strafverfolgung fest, auch deshalb, weil der Zeitdruck
bei der Beweisbeschaffung wegfällt.
Auch im deutschen Strafrecht ist eine Korrektur der
regelmäßigen Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch geboten. Nach unserem gegenwärtigen Recht
ruht die Verjährung bei Sexualstraftaten, bis das Opfer
18 Jahre alt geworden ist; das ist, wie ich denke, eine
Reform, die wirklich sehr gut war. Jedoch ist die Zeit,
die dem Opfer dann bleibt, um die Straftat zur Anzeige
zu bringen, zu kurz; das haben wir in den aktuellen Fällen erneut feststellen müssen. Sie beträgt bei Missbrauch
von Jugendlichen nur fünf Jahre und bei Missbrauch von
Kindern unter 14 Jahren zehn Jahre. Das bedeutet, dass
die jugendlichen Opfer mit ihrer Anzeige schon im Alter
von 24 Jahren zu spät kommen, die Opfer, die als Kinder
missbraucht wurden, bereits mit 29 Jahren. Hier ist eine
Verlängerung der Verjährungsfrist angezeigt.
Jedoch ist dieser Schritt allein nicht ausreichend. Besonders wichtig ist es, den Opfern professionelle Hilfe
an die Hand zu geben, wenn sie sich nach Jahren der
Verzweiflung und des Verdrängens zur Anzeige entschließen. Für zahlreiche Missbrauchsopfer werden die
langwierigen Verfahren mit Vernehmungen bei Gerichten, bei der Polizei und bei der Staatsanwaltschaft und
mit Glaubwürdigkeitsgutachten zur Tortur. Den Opfern
muss eine juristische und vor allem eine intensive psychologische Unterstützung gewährt werden.
Der runde Tisch, der am 23. April seine Arbeit aufnehmen wird, ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Aufdeckung von sexuellem Missbrauch und zur Verstärkung
der Präventionsmaßnahmen. Es wird sich jedoch nicht
am runden Tisch allein entscheiden, wie Deutschland
künftig mit Missbrauch umgeht. Die Tische, auf die es
ankommt, sind eckig. Sie stehen in Schulen, in Vereinsbüros, in Jugendklubs, in Esszimmern, in Küchen und in
Kneipen. Wie oft an diesen Tischen den Kindern zugehört und den Tätern Nein gesagt wird, davon hängt alles
ab. Dass die Dunkelziffer bei Taten, die sich zu
90 Prozent im sozialen Nahbereich der Opfer abspielen,
besonders hoch ist, verwundert nicht; das wissen wir
alle.
Die Hamburger Initiative gegen sexuelle Gewalt an
Kindern hat ermittelt, dass ein Kind bis zu sieben Personen ansprechen muss, bevor ihm geholfen wird. Es muss
daher auch darüber nachgedacht werden, ob die Mittäterschaft derjenigen, die wissen, schweigen und die Täter oftmals sogar noch decken, nicht stärker unter den
strafrechtlichen Fokus genommen werden soll.
Im Kampf gegen Gewalt und sexuellen Missbrauch
von Kindern und Jugendlichen kommt es darüber hinaus
entscheidend darauf an, den Kindern auf breiter Ebene
neutrale Vertrauenspersonen in den Schulen, Internaten
und Vereinen, aber auch als neutrale Anlaufstelle außerhalb dieser Einrichtungen zur Seite zu stellen, die ihre
Sprache sprechen, ihnen zuhören und helfen.
Besonders begrüße ich an dieser Stelle, dass mit
Christine Bergmann eine im Kampf gegen den Missbrauch sehr erfahrene Sozialdemokratin von der Bundesregierung zur Missbrauchsbeauftragten bestimmt wurde.
({0})
Es ist unsere Aufgabe, unsere Kinder stark zu machen.
Wir müssen alles dafür tun, dass dieses Engagement auf
eine breite gesellschaftliche Basis gestellt wird. Denn es
ist zu bedenken: Die Opfer sexueller Gewalt bekommen
immer lebenslänglich.
Vielen Dank.
({1})
Frau Steffen, für Sie war das die erste Rede hier im
Plenum. Dazu gratulieren wir Ihnen alle ganz herzlich
und wünschen viel Erfolg für die weitere Arbeit.
({0})
Elisabeth Winkelmeier-Becker hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Taten,
über die wir heute sprechen, sind wirklich erschütternd.
Die Fallzahlen, die wir zur Kenntnis nehmen müssen,
machen uns sehr betroffen. Solche Taten verletzen die
Würde, die Integrität, die körperliche und seelische Gesundheit der Opfer. Sie bekommen in der Tat lebenslänglich. Die Verarbeitung solcher Taten dauert Jahre, und
oft hört das Leid, das dadurch verursacht wurde, niemals
auf.
Deshalb müssen wir uns hier die Frage stellen, wie
wir damit umgehen und welche Konsequenzen wir ziehen. Mir ist wichtig, an den Anfang zu stellen, dass bei
der Erarbeitung möglicher Konsequenzen die Perspektive der Opfer in den Vordergrund gestellt werden muss.
Die möglichen Konsequenzen müssen außerdem auf ihre
Wirksamkeit geprüft werden. Es geht nicht vorrangig darum, Täter zu schützen und sie zu therapieren. Man muss
die Sicht der Opfer berücksichtigen, wenn es darum
geht, herauszufinden, was nötig ist.
Es geht um Aufarbeitung, um Aufklärung, um Bestrafung der Täter. Es geht aber auch um Schadensersatz
nach dem Zivilrecht. Einerseits geht es um Geld, das helfen kann, Therapien zu finanzieren. Andererseits ist damit auch eine Genugtuungswirkung verbunden, da der
Täter an dieser Stelle noch einmal zur Verantwortung gezogen wird. Wir brauchen darüber hinaus Veränderungen in den Einrichtungen, bei den Trägern. Wir brauchen
Hilfe für Menschen mit pädophilen Neigungen; das ist
hier bereits erwähnt worden. Wir müssen bei den Kindern ansetzen, sie sensibilisieren und sie starkmachen,
sodass sie sich trauen, Nein zu sagen, und sich wehren
können, aber auch sich äußern können, wenn etwas passiert ist, und sich gegen weitere Übergriffe wehren können.
Ich empfehle, bei den Dingen anzusetzen, die in unserem Handlungsbereich liegen. Bereits angesprochen
wurden die Änderungen im strafrechtlichen Bereich.
Sinnvoll ist zum Beispiel die Verlängerung der Verjährungsfrist; denn eine dreijährige Verjährung ab dem
21. Geburtstag bei zivilrechtlichen Ansprüchen ist zu
kurz. Wir erleben aufgrund der bekannt gewordenen
Fälle gerade jetzt, dass das Bewusstsein, dass einem
massives Unrecht angetan worden ist, und die Fähigkeit,
darüber zu reden, manchmal erst später eintreten. Die
Opfer können meist erst in einem fortgeschritteneren Alter darüber sprechen, da die Verletzung so tief liegt. Dies
soll nicht den Täter vor Strafe oder vor zivilrechtlicher
Verfolgung schützen. Wir brauchen vielmehr einen
Schutzraum für die Opfer. Deshalb müssen wir prüfen,
was wir in Bezug auf die Verjährungsfristen tun können.
Auch hinsichtlich der Straftatbestände gibt es Wertungswidersprüche. Selbst wenn man das flüchtige Berühren über der Kleidung nicht dramatisieren muss, kann
man Wertungswidersprüche nicht stehen lassen. Sexuelle Nötigung bei Erwachsenen stellt ein Verbrechen dar.
Eine vergleichbare Tat kann im Grundtatbestand bei
Kindern nicht nur als Vergehen bewertet werden.
Wir müssen näher an die Kinder herankommen. Wir
müssen ihnen Ansprechpartner in ihrem Umfeld zur Verfügung stellen, zu denen sie Vertrauen aufbauen können.
Das geht aber natürlich nicht per Dekret. Gerade dies ist
Aufgabe des runden Tisches. Er ist unter anderem sinnvoll, weil man dort mit den betroffenen Institutionen darüber sprechen kann, welche strukturellen Veränderungen helfen, damit Kinder genau dieses Angebot
vorfinden können.
Meine Damen und Herren, es sind schon viele Aspekte angesprochen worden. Ich möchte nicht alles wiederholen, aber noch einmal darauf eingehen, welche
Strukturen wir vielleicht verändern müssen, wie wir da
herangehen müssen, und da beginnen mit einer Einschätzung von Zartbitter Köln, nämlich dass es tatsächlich einen Zusammenhang gibt zwischen der Häufigkeit von
sexuellem Missbrauch und der Struktur einer Organisation.
Offene, klar organisierte Strukturen, ein Mitspracherecht, Möglichkeiten, sich zu beschweren, helfen gegen
Missbrauchsanfälligkeit. Wenn die Persönlichkeit des
Kindes ernst genommen wird, wenn - das ist nicht wirklich überraschend - nicht zu viel Autorität herrscht, aber
auch kein diffuses Laisser-faire - damit zitiere ich die
Leiterin von Zartbitter Köln -, wird Missbrauch nicht
begünstigt. In beiden Extremen ist den Kindern nicht geholfen. Demokratische, offene, klare Strukturen sind
das, was hilft. Das muss der Maßstab sein für alle Strukturveränderungen, die in Institutionen diskutiert und in
Angriff genommen werden.
Erschreckend ist, dass anscheinend auch ein hoher
moralischer Anspruch nicht davor schützt, dass Missbrauch passiert, sondern ihn sogar noch schlimmer machen kann. Ich möchte aber auch betonen, dass es bei
dem moralischen Anspruch, mit dem die Institutionen
- die Reformpädagogen, aber auch die Kirchen - wirken, gerade darum geht, das Wohl des Menschen, das
Wohl des Kindes in den Mittelpunkt zu rücken. Die Anliegen dieser Institutionen, auch die Glaubensbotschaft,
dürfen nicht insgesamt dadurch diskreditiert werden,
dass in ihren Einrichtungen Taten begangen worden
sind, die Missbrauch darstellen.
Ich schließe mich hier Heiner Geißler an, der mit seiner Kritik an den Strukturen ja nicht gerade zimperlich
ist. Er hat aber auch ganz klar gesagt: Aus seiner Erfahrung als Jesuitenschüler sind die Vorfälle in den Orden
keine typischen Vorfälle. Die kirchliche Botschaft besagt
ganz klar: Wer einem Kind etwas antut, der wäre besser
mit einem Mühlstein um den Hals im Meer versenkt
worden.
Deshalb glaube ich der Kirche und nehme es ernst,
wenn sie jetzt sagt, dass sie neue Leitlinien entwickeln
will, die verhindern, dass es zu Missbrauch kommt, die
verhindern, dass verdeckt wird, die verhindern, dass der
Täter geschützt wird. Genau das ist der Sinn des runden
Tisches.
Frau Kollegin.
Ich wünsche den drei Ministerinnen viel Glück. Ich
denke, dieser runde Tisch ist der richtige Rahmen, um
darüber zu sprechen, wie man die inneren Strukturen so
verändern kann, dass man den Kindern tatsächlich helfen kann.
Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Michaela Noll hat jetzt das Wort für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Künast ist gegangen, und das ist auch nicht schlimm; man hat sie entsprechend entschuldigt. Ich will dennoch sagen, dass ich ihren Vorwurf, wir reagierten mit Schnellschüssen, nicht
angebracht fand.
Ich bin sehr dankbar, dass wir heute diese Debatte
führen. Ich mache den Grünen an dieser Stelle aber den
Vorwurf, dass sie das Thema einengen auf sexuellen
Missbrauch in kirchlichen und weltlichen Einrichtungen.
Es ist zwar richtig, dass gerade vermehrt Fälle von Missbrauch in solchen Einrichtungen ans Licht kommen;
aber es gibt jährlich circa 20 000 Fälle von Missbrauch.
Missbrauch findet überall statt.
Was glauben Sie, was Opfer von sexuellem Missbrauch denken, die diese Aktuelle Stunde verfolgen?
Viele Opfer werden sich fragen: Warum wird nicht auch
über Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie gesprochen?
Ich finde es wichtig, zu betonen, dass es uns darum
gehen muss, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Wir
haben auch im Familienausschuss darüber gesprochen:
94 Prozent der Täter kommen aus dem unmittelbaren sozialen Nahfeld, das heißt, aus dem Familien-, Bekannten-, Verwandtenkreis. Nur 6 Prozent der Täter sind
Fremde. Ich glaube, es wäre hilfreicher gewesen, wenn
Sie das Thema weitergefasst hätten.
Wir müssen Lösungen finden, um Missbrauch zu verhindern, egal wann und wo er stattfindet. Meiner Meinung nach wäre es wichtig, die Opfer in den Fokus zu
nehmen. Deswegen bin ich den Ministerinnen dankbar,
dass sie diesen runden Tisch eingerichtet haben. Das
zeigt, dass sie einen breiten Lösungsansatz suchen.
Viele Kollegen haben schon von Veränderungen im
Strafrecht gesprochen. Dafür werden wir sorgen. Es
müssen aber vielleicht auch die zivilrechtlichen Vorschriften geändert werden. Ich bin hier relativ nah auch
bei Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger; denn wir
haben doch eben davon gesprochen: Opfer schaffen es
oft nicht, ihr Schweigen zu brechen. Sie brauchen Jahre,
um sich zu öffnen und zu sagen, was passiert ist. Die
Verjährungsfrist beträgt aber nur drei Jahre.
Es gibt Momente, in denen man sich freut, wenn man
morgens die Zeitung liest. Der Fuldaer Bischof hat gesagt, er rege an, dass die Kirche über eine freiwillige
Entschädigung nachdenkt. Ich glaube, das wäre wirklich
einmal eine vertrauensbildende Maßnahme für die Kinder, die in den Einrichtungen zu Schaden gekommen
sind. Ich würde das begrüßen.
({0})
Genauso sollten wir darüber nachdenken, wie wir das
Schweigen der Täter und der Opfer durchbrechen können. Es ist hier mittlerweile meine dritte Legislaturperiode. Schon in der ersten habe ich mich vehement für
„Opferschutz vor Täterschutz“ eingesetzt und von dem
Mainzer Modell gesprochen. Das Mainzer Modell besagt, dass ein Kind dann, wenn es zum Strafprozess
kommt, dem Täter im Verfahren nicht noch einmal gegenübersitzen muss, sondern über eine Videokamera
vernommen werden kann. Dadurch wird das Kind entlastet, und das Kind wird nicht erneut zum Opfer.
Sie haben das damals unter Rot-Grün zulasten der
Kinder aber abgelehnt. Das fand ich bitter. In der Großen
Koalition haben wir die Videovernehmung dann zugelassen und das 2. Opferrechtsreformgesetz auf den Weg
gebracht. Ich glaube, das war ein ausgesprochen wichtiger Schritt.
Wir müssen - vor allem als Familienpolitiker - die
Kinder starkmachen, sodass die Kinder selbstbewusst
sind; denn die Täter suchen keine Gegner, die Täter suchen Opfer. Wir müssen das Selbstbewusstsein der Kinder dahin gehend stärken, dass sie vielleicht auch bei ihren eigenen Eltern „nein“ sagen.
Ich nenne auch das Projekt, das der Kollege Ahrendt
vorgeschlagen hat, „Kein Opfer werden“. Genauso haben Sie auch in der Presse angesprochen, dass die Therapieplätze in der Charité weiter ausgebaut werden müssen. Hier bin ich ganz bei Ihnen. Das halte ich für
ausgesprochen wichtig. Man sollte vielleicht auch über
eine Therapiepflicht von Sexualverbrechern nachdenken. Auch das halte ich für wichtig.
Jetzt muss ich aber leider einmal mit den Grünen abrechnen.
({1})
- Nein, die habe ich schon, nämlich 1 Minute und
17 Sekunden. - Kollegin Künast sprach: Die Kinder
brauchen Schutz, aber nicht der Papst. Frau Künast
appellierte an die moralische Pflicht. Sie sagte auch
noch - ({2})
- Vielleicht sollten Sie sich ein bisschen verstecken;
denn ich hatte das Glück, vor zwei Tagen das Morgenmagazin zu sehen. Ihre Kollegin war dort zu Gast und
wurde auf den Programmparteitag 1985 angesprochen.
Das machte mich neugierig. Also habe ich angefangen
zu forschen.
Jetzt kurz zur Erinnerung: Die Grünen sagten damals,
Sex mit Kindern sei für beide Teile - so wörtlich - angenehm, produktiv, entwicklungsfördernd, kurz: positiv.
({3})
Es sei nicht hinzunehmen, dass Erwachsene, die sexuelle
Wünsche von Kindern und Jugendlichen ernst nehmen
und liebevolle Beziehungen zu ihnen unterhalten, mit
Gefängnis von bis zu zehn Jahren bedroht werden.
({4})
- Nein, das hat nichts mit Propaganda zu tun. Ich finde
einfach nur im Ganzen, Sie hätten das gar nicht thematisieren müssen.
({5})
Sie werfen uns vor, dass wir keine Schnellschüsse
machen. Ich bitte Sie um eines: Bevor Sie uns und die
Regierung auffordern, aufzuklären, klären Sie die Wähler in NRW darüber auf, was Sie tatsächlich wollen.
Vielen Dank.
({6})
Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich schließe die Aus-
sprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b
auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des ErneuerbareEnergien-Gesetzes
- Drucksache 17/1147 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothée Menzner, Eva Bulling-Schröter, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Solarstromförderung wirksam ausgestalten
- Drucksache 17/1144 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. - Vielleicht kann die Fortsetzung der vorherigen Debatte woanders stattfinden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin
Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bundesumweltminister Röttgen hat gestern neue Zahlen
über die Entwicklung der erneuerbaren Energien vorgelegt. 2009 machten die Erneuerbaren 10 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs aus. Der Anteil am Stromverbrauch steigerte sich auf 16 Prozent, und es ließ sich ein
deutlicher Zuwachs des Zubaus im Bereich Biogas-, Fotovoltaik- und Windenergieanlagen verzeichnen.
({0})
Die Investitionssumme ist auf insgesamt 17,7 Milliarden
Euro angestiegen. Die Zahl der Beschäftigten stieg auf
300 000 an. Das sind 8 Prozent mehr als im Vorjahr.
Man kann tatsächlich zu Recht sagen: Die Erneuerbaren
haben sich als der Stabilitätsanker in Zeiten der Krise erwiesen.
({1})
Damit ist das, was im Koalitionsvertrag beschrieben
wird, nämlich der Weg in das regenerative Zeitalter,
nicht nur eine Frage des Klimaschutzes, sondern er bietet vielmehr gewaltige Potenziale für Innovation, Wachstum und Beschäftigung beim Umbau unseres Energiesystems.
Ich begrüße, dass die Bundesregierung nun Aufträge
erteilt hat, die Grundlagen für das Energiekonzept durch
Forschungsinstitute errechnen zu lassen, damit wir eine
Grundlage für die politische Entscheidung haben, wie
der dynamische Energiemix der Zukunft aussehen soll,
in dem die konventionellen Energieträger mehr und
mehr durch regenerative Energien ersetzt werden sollen.
Im Energiemix der Zukunft wird Fotovoltaik eine
sehr, sehr wichtige Rolle spielen. Wir wollen Fotovoltaik
weiter ausbauen. Das zeigt sich auch daran, dass wir den
Zielkorridor für den jährlichen Zuwachs nahezu verdoppelt haben, nämlich auf 3 000 Megawatt im Jahr. Das ist
ein echtes Wort.
Aber jetzt ist es wichtig, die Akzeptanz für die Fotovoltaik in der Bevölkerung auf dem hohen Niveau zu erhalten, auf dem sie schon jetzt besteht.
({2})
Denn von nichts kommt nichts: Natürlich fallen Kosten für den Ausbau der Erneuerbaren an. 2009 betrugen
sie 1,1 Cent pro Kilowattstunde. In 2010, in diesem Jahr,
werden sie vermutlich 2 Cent pro Kilowattstunde erreichen. Das sind immerhin 6 Euro pro Monat für einen
Durchschnittshaushalt - ein Betrag, dessen Höhe ohne
Zweifel erträglich ist, der aber erklärt werden muss. Und
es ist schwierig zu erklären, dass im Jahr 2008 der Strom
aus Fotovoltaik, deren Anteil am Stromverbrauch
5 Prozent beträgt, letztendlich 45 Prozent der Umlage
verursacht hat. Zweistellige Renditeerwartungen müssen
zumindest erklärt werden. Deshalb musste die Bundesregierung und muss dieses Haus auf den Umstand reagieren, dass in 2009 die Systempreise - das heißt, die Preise
für die Module plus Installationskosten - insgesamt
durchschnittlich um 30 Prozent gesunken sind. Für dieses Jahr erwartet man noch einmal einen Preisrückgang
von 10 Prozent. Das liegt daran, dass der spanische
Markt nahezu zusammengebrochen ist. Das liegt auch
daran, dass es einen gewaltigen Zubau an Produktionskapazitäten gegeben hat. Deshalb müssen wir jetzt moderat umsteuern. Genau das wollen wir mit der Novelle
tun.
({3})
Wir wollen die Vergütung der Preisentwicklung anpassen, und zwar durch zusätzliche Degressionsschritte
zwischen 11 und 16 Prozent.
In der Fotovoltaiknovelle wollen wir einen weiteren
Komplex angehen, und zwar das Thema der Flächenkonkurrenz. Darüber haben wir schon in ganz anderen
Zusammenhängen gesprochen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Biokraftstoffen. Flächen, gerade Ackerflächen, werden zur Produktion von Nahrungsmitteln und
Futtermitteln, aber eben auch von Rohstoffen zur energetischen oder stofflichen Nutzung gebraucht. Wenn
dazu noch eine Nutzung durch Fotovoltaik kommt
- dazu ist es im letzten Jahr vermehrt gekommen -, dann
haben wir tatsächlich ein Problem, zu erklären, wie wir
diese unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten unter
ein Dach bekommen und dazu noch den Flächenverbrauch, der im Moment bei 100 Hektar pro Tag liegt,
realistisch und schnell zurückfahren wollen. Deshalb
wollen wir die Nutzung auf Ackerflächen einschränken
und stattdessen viel stärker als bislang noch Konversionsflächen in den Mittelpunkt der Nutzung durch Fotovoltaik stellen.
({4})
Ein dritter Punkt ist uns ganz wichtig, nämlich die
Förderung des Eigenverbrauchs: Wie bekommen wir es
hin, die Nachfrage dem volatilen Angebot anzupassen?
Das ist durch intelligente Haushaltsgeräte möglich, zum
Beispiel durch eine Waschmaschine oder Kühltruhe, die
zu laufen beginnen, wenn der Fotovoltaikstrom entsprechend produziert wird.
Wir hoffen aber auch, dadurch, dass wir den Eigenverbrauch so viel besserstellen als die Einspeisung ins
Netz, einen besonderen Anreiz für Innovationen im Bereich der Speichertechnologie zu schaffen und damit das
EEG nicht nur quantitativ auszubauen, sondern letztendlich auch qualitativ zu verändern. Ich glaube, dass wir
damit einen sehr interessanten und ausgesprochen notwendigen Weg einschlagen.
({5})
Wir werden im Rahmen der Diskussionen im Ausschuss insbesondere darauf Wert legen, Planungssicherheit zu gewährleisten, und zwar für die Investoren, die
bereits investiert haben und auf der Grundlage der bestehenden gesetzlichen Regelung in finanzielle Vorleistung
gegangen sind, gerade wenn sie sich in längeren Planungsphasen befinden, weil für die Realisierung ihres
Projektes zum Beispiel Bebauungspläne erforderlich
sind. Das wird ein Hauptteil unserer Arbeit sein und sicherlich auch im Rahmen der Anhörung eine Rolle spielen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen Sie mit
auf den Weg, das EEG qualitativ weiterzuentwickeln!
Ich freue mich auf unsere Diskussionen im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({6})
Der Kollege Dirk Becker hat das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Das alles heute als qualitative Weiterentwicklung zu verkaufen, ist ein netter Versuch. Für die qualitative Weiterentwicklung des EEG ist
zwar einiges zu tun, was Sie auch erwähnt haben, was
aber nicht Gegenstand der von Ihnen vorgesehenen Gesetzesänderung ist, um die es heute geht.
Einen Punkt will ich für die SPD-Fraktion ganz deutlich machen: Wir haben zu jeder Zeit gesagt, dass wir
auch die Akzeptanz dieses Gesetzes im Blick haben
müssen. Überförderungen dürfen nicht eintreten. Wir
müssen auf Überförderungen reagieren.
Wir haben 2009 - Frau Dr. Flachsbarth hat das angesprochen - die Marktdynamik gerade beim Thema Fotovoltaik aufgegriffen. In der Begründung zum Gesetz
heißt es, dass mit sinkenden Produktions- und Stromgestehungskosten zu rechnen ist. Deshalb wurden sowohl
die Degressionsschritte erhöht als auch der flexible Korridor oder atmende Deckel, wie er auch genannt wird,
eingeführt.
Das zeigt, dass wir schon darauf achten, wie sich der
Markt entwickelt. An der Marktentwicklung machen wir
fest, ob weitere Kürzungsschritte nötig sind oder ob die
Kürzungen geringer ausfallen können.
Entscheidend ist für mich eine einzige Frage: Wie ermittelt man verlässlich, was im Markt geht, und wie begründet man das? An diese Frage will ich anknüpfen;
denn es ist der Hauptpunkt unserer Kritik. Die Vergütungssätze werden immer wieder mit der schlechten
Preisentwicklung in Verbindung gebracht. Doch angesichts der Preisentwicklung muss man zur Kenntnis nehmen, dass Preisentwicklungen nicht nur von Kostensenkungspotenzialen abhängen, sondern dass insbesondere
im letzten Jahr auch der Zusammenbruch des spanischen
Marktes und die Wirtschaftskrise zu einem Absinken der
Modulpreise geführt haben. Das hing nicht nur mit dem
Kostensenkungspotenzial zusammen.
Wenn man das weiß und zur Kenntnis nimmt, dann
muss man sehr sorgfältig analysieren, wie viel künftig
im Markt möglich ist. An dieser Stelle gehen die Meinungen weit auseinander. Sie, die Regierungsfraktionen,
schlagen uns 16 Prozent vor. Der Fachverband hat 5 Prozent genannt.
({0})
Die SPD hat bisher bewusst noch keine Zahl in die Welt
gesetzt, weil es uns wichtig ist, dass die Höhe nicht nach
Gemüt oder nach Stimmung, sondern so sachverständig
wie möglich ermittelt wird. Deshalb haben wir eine
Sachverständigenanhörung gefordert und werden nach
der Sachverständigenanhörung einen Vorschlag unterbreiten, was geht.
Ich sage nur eine Hausnummer: Die Landesbank Baden-Württemberg, die nicht im Verdacht steht, der SPD
nahezustehen, hat gesagt, dass sie alles über 10 Prozent
als gefährlich für die Branche ansieht, was den deutschen Markt angeht.
Wir haben versucht, beim Bundesminister in Erfahrung zu bringen, auf welcher Grundlage diese 16 Prozent
entstehen. Wir haben, wie gesagt, die Sachverständigenanhörung beantragt. Mittlerweile hat der Kollege Kelber
nach mehrfacher Rückfrage ein Gutachten bekommen,
das an mehreren Punkten bemerkenswert ist.
Erstens. Bisher haben Sie argumentiert, sie wollten
Preisentwicklungen der Vergangenheit aufnehmen, um
dann zu einer einmaligen zusätzlichen Absenkung zu
kommen. Das Zitat in dem Gutachten sagt etwas anderes. Da geht man davon aus, dass Erhebungen zufolge
für 2010 Preissenkungen von 10 bis 15 Prozent zu erwarten sind. Dass man aufgrund einer Prognose für das
laufende Jahr bereits in das Gesetz eingreifen will, widerspricht dem bisherigen Grundsatz der Degression,
wie wir ihn im Gesetz verankert haben.
({1})
Zweitens. Entscheidend ist aber auch die Frage, woher diese 10 bis 15 Prozent kommen. Da unterstellt man,
dass in einer so wichtigen Frage Wissenschaftler, Wirtschaftsinstitute und wer auch immer gefragt wurden.
Wenn man dann liest, woher das kommt, staunt man: Es
ist eine Umfrage einer Zeitung. Auf der Grundlage von
Daten einer Zeitung kommt diese Regierung zu diesen
16 Prozent. Es kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein, in einer so wichtigen Frage Ihre Entscheidung von Meinungsumfragen einer Zeitung abhängig zu machen.
({2})
- Photon. - Wir erwarten einfach, dass in diesen Fragen,
bei denen es auch um 50 000 Arbeitsplätze in diesem
Land geht, in der Tat eine breite wissenschaftliche Basis
Gegenstand der Kürzungsschritte ist.
Drittens. Diese Studie arbeitet, wie ich finde, nicht
ganz fair mit anderen Studien. Man sucht ganz geschickt
aus verschiedensten Studien Zahlen zusammen und vermengt sie ein wenig, um dann zu dem Ergebnis zu kommen, das man - das behaupte ich - erreichen wollte. So
wird die BP-Studie zitiert. Man greift Modulkosten aus
dieser BP-Studie auf, argumentiert dann aber nicht im
Sinne dieser Studie zu Ende. Man sagt nur: BP sagt;
1 600 Euro bis 1 700 Euro sind zu erwarten; davon gehen wir jetzt einmal aus. Unter dem Strich heißt das,
dass wir um 16 Prozent kürzen können. BP kommt zu einem ganz anderen Ende. BP sagt, wie ich vorhin ausgeführt habe, dass die Preissenkungen des vergangenen
Jahres noch nicht durch Maßnahmen in den Unternehmen in dem Sinne umgesetzt werden konnten, dass sie
auch zu Kostensenkungen wurden, und kommt zu dem
Ergebnis, dass eine Kürzung über 10 Prozent den deutschen Markt nachhaltig beeinflussen würde. Das heißt,
dass deutsche Unternehmen massenhaft große Probleme
bekommen und wahrscheinlich sogar nicht mehr im
Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Meine Damen und
Herren, ich habe einfach die Bitte: Wenn Sie solche Gutachten vorlegen, dann zitieren Sie fair und gehen Sie
auch auf die Ergebnisse und Argumente der anderen Studien ein.
({3})
Ich will noch kurz auf Folgendes eingehen: Das Wirtschaftsministerium hat zu Recht festgestellt, dass die
Branche, also die PV-Industrie, ihre Rolle als weltweiter
Technologieführer sichern muss, indem sie an der Spitze
der Bewegung steht. Das heißt technologischer Fortschritt made in Germany als besonderes Aushängeschild, was zugleich einen Wettbewerbsvorteil bedeutet.
Nur sage ich noch einmal: Dazu braucht es Zeit. Das
geht nicht in einem solchen Hauruckverfahren mit derartigen Kürzungen innerhalb eines Jahres.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal auf die Regierung des Freistaates Bayern Bezug nehmen muss. Ich
mache dies aber gerne.
({4})
- „Gott sei Dank“, sagt Herr Kauch.
({5})
- Ach so, dann kam es aus Thüringen. Es heißt hier ganz
klar: Die kurzfristige Umsetzung dieser Pläne überfordert die Anpassungsfähigkeit der deutschen Solarwirtschaft. Eine zu abrupte und drastische Kürzung birgt die
Gefahr schwerer Marktverwerfungen und bedeutet den
Verlust wertvoller Arbeitsplätze in einer hochmodernen
Branche.
({6})
Ich habe gehört, dass sich Frau Gönner in einem heute
erschienenen Interview ähnlich geäußert hat und sich
dieser Auffassung anschließt.
Ich habe nur die Bitte: Seien Sie so fair, offen in diese
Anhörung zu gehen, sodass wir mit einem gemeinsamen
Ergebnis herausgehen! Beteiligen Sie die Branche in
Gänze! Verwenden Sie nicht nur die Meinungsumfrage
eines Magazins als Entscheidungsgrundlage! Das Thema
ist dafür zu wichtig, sowohl im Hinblick auf den Ausbau
der erneuerbaren Energien als auch die vielen Arbeitsplätze in unserem Land.
Herr Kollege.
Herr Bundesminister, ich habe die herzliche Bitte:
Werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst und gehen
Sie auf unsere Argumente ein!
Vielen Dank.
({0})
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Becker hat einen richtigen Punkt angesprochen: Es ist
für die Politik sehr schwer, im Bereich des EEG die richtigen Preise zu finden. Man stellt sich nur die Frage, warum es die SPD in elf Jahren Regierungszeit, davon zehn
nach Verabschiedung des EEG, nicht geschafft hat, eine
staatliche, unabhängige Marktbeobachtungsstelle an
eine der vorhandenen Behörden anzuhängen.
({0})
Wir sind in dieser Diskussion immer wieder auf interessengeleitete Informationen angewiesen. Man muss
sich auch bei einer Bank wie der LBBW fragen: Was haben die in ihren Investmentportfolios? Dass uns die
Branche andere Zahlen nennt als die Verbraucherschützer, ist möglicherweise auch nicht überraschend. Ich
ziehe eine erste Lehre aus diesem Gesetzgebungsverfahren - erstmals nicht in der Opposition, sondern als Vertreter einer Regierungsfraktion -: Wir müssen uns bei
den Beratungen zum Haushalt 2011 darüber unterhalten,
ob wir hier nicht eine unabhängige staatliche Beobachtung der Marktentwicklung einführen sollten.
({1})
- Das sind Fehler, die Sie gemacht haben. Das FDP-geführte Wirtschaftsministerium hat die einzige unabhängige Studie, das Prognos-Gutachten, eingeholt, die diesen Beratungen zugrunde liegt. Wir sind noch hinter den
Vorschlägen geblieben, die dieses Gutachten zur Degression macht.
Lassen Sie mich, um dieses Thema abzuschließen, etwas aus dem Bauernblatt-Sonderdruck zitieren. Dort
schreibt der Bundesverband Solarwirtschaft, vertreten
durch Kai Lippert:
Selbst nach einer zusätzlichen Kürzung der Einspeisevergütung zum Halbjahreswechsel werden
Photovoltaikanlagen weiterhin eine attraktive und
überdurchschnittlich rentable Geldanlage für Hausbesitzer und sicherheitsorientierte Investoren sein.
Was gilt denn nun? Einerseits sagt der BSW, dass eine
Degression um mehr als 5 Prozent die Branche ruiniert;
andererseits empfiehlt er im Bauernblatt-Sonderdruck,
in die Solarenergie zu investieren, weil dies eine „überdurchschnittlich rentable Geldanlage“ sei. Nur eines
kann richtig sein. Man muss das im Lichte dessen beurteilen.
({2})
Die FDP will, dass wir den Weg in das regenerative
Zeitalter beschreiten. Die Solarbranche ist eine Zukunftsbranche, die wir am Standort Deutschland ausbauen wollen. Klar ist aber auch: Die ganze Förderung
wird am Schluss von den Verbraucherinnen und Verbrauchern bezahlt. Wir haben als Gesetzgeber eine Verantwortung gegenüber den Bürgern, die die Rechnung
zahlen. Wir sind dafür, eine Förderung zu betreiben, um
die Solarenergie auszubauen, wir erhöhen sogar die Ausbauziele; aber es kann doch nicht sein, dass Anleger auf
Kosten der Stromverbraucher Traumrenditen erwirtschaften. Familien mit Kindern müssen hier die größte
Zeche zahlen. Die SPD redet hier einer Umverteilung
von unten nach oben das Wort.
({3})
Der Solarkompromiss gefährdet nicht das Wachstum
im Bereich der Solarenergie. Wir senken zwar die Vergütungen ab; aber wir erweitern den Ausbaukorridor. Zugleich hat die FDP in den Verhandlungen erreicht, dass
die Degression im Jahr 2011 im Vergleich zum BMUVorschlag abgemildert wurde. Ich glaube, wir müssen
uns auf diesen Punkt konzentrieren.
Jetzt geht es darum, die Kostensenkungen der vergangenen Jahre nachzuvollziehen. Aber es geht in der Entwicklung der Branche auch darum, was nach dem Jahr
2010 geschieht. Ein Punkt in der Anhörung, auf den wir
noch etwas Sachverstand verwenden sollten, wird sein:
Was ist für die Zukunft das richtige Maß, und vor allen
Dingen was ist der richtige Beobachtungszeitraum für
unsere Berechnungen in Bezug auf das nächste Jahr?
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein
Thema ansprechen, das für die FDP von herausragender
Bedeutung war und ist, nämlich das Thema Vertrauensschutz. Wir haben erreicht, auch vor dem Hintergrund
des harten vergangenen Winters, dass die Fristen bei den
Dachanlagen verschoben wurden und dass die Degression nicht zum 1. April, sondern erst zum 1. Juli wirksam wird.
({4})
Unser Anliegen ist auch, dass Investoren, die im Vertrauen auf das EEG schon deutlich vor der Bundestagswahl in Freiflächenanlagen investiert haben, nicht plötzlich vor den Trümmern ihrer Investitionsentscheidung
stehen. Auch hier haben wir Verbesserungen erreicht.
Aber wir müssen in der Anhörung herausfinden, ob das
in allen Fällen ausreichenden Vertrauensschutz bietet.
Das ist die Offenheit, mit der wir in die Anhörung gehen.
Offen sind wir beispielsweise auch in der Frage des
Eigenverbrauchs. Auf die Frage, inwieweit der Eigenverbrauch vorangebracht werden kann, ohne dass es zu
Mitnahmeeffekten kommt, wird die Anhörung ebenfalls
eine Antwort bringen müssen. Die Diskussion darüber
müssen wir ergebnisoffen führen.
({5})
Eine Frage, die wir bereits in den vergangenen Wochen intensiv diskutiert haben und bei der die Emotionen
sehr stark sind, ist mir noch wichtig: Sollen Solaranlagen
auf Äckern installiert werden oder nicht? Es kann aus
unserer Sicht keine sinnvolle Lösung sein, wenn man
großflächig auf besten Böden Solaranlagen installiert.
Aber wir haben in der Koalition einen Kompromiss
schließen müssen, zu dem wir auch stehen. Die FDP hat
erreicht, dass im Gegenzug zum Ausschluss der Äcker
die Konversionsflächen in ihrer wirtschaftlichen Nutzung deutlich ausgeweitet wurden. Aber sollte die CSU
ihre Position jetzt ändern, wie es der bayerische Ministerpräsident angedeutet hat, dann wird dies an der FDP
nicht scheitern. Auch das werden wir in den nächsten
Wochen miteinander diskutieren müssen, um bei den
Freiflächenanlagen, die der Billigmacher der Solarbranche sind, zu einem guten Ergebnis zu kommen.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem die Bundesregierung seit Monaten mit Verlautbarungen Unruhe, Ängste und Chaos in der Branche
der erneuerbaren Energien schürt und wöchentlich eine
neue energiepolitische Sau durchs Dorf treibt, liegt nun
ein Gesetzentwurf der Koalition dazu vor. Ich halte ihn
für einen Salto rückwärts. Der Antrag, den wir vorgelegt
haben, will da einiges ausbügeln.
Deutschland steht vor einer Systementscheidung. Der
notwendige Ausbau der erneuerbaren Energien ist mit
einer Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken
und dem Neubau von Kernkraftwerken nicht vereinbar.
({0})
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung spricht von einem grundlegenden Systemkonflikt zwischen einem hohen Anteil von Strom aus
Grundlastkraftwerken auf der Basis von Kohle und Uran
und einem weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Das
sind klare Worte. Ich frage mich: Warum ignorieren Sie
eine solche Aussage? Wenn Sie die Aussagen des Sachverständigenrates immer ignorieren, bräuchten Sie sich
eigentlich keinen zu leisten.
({1})
Seit Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes
ist - das wurde schon dargelegt - der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf über
16 Prozent angestiegen. Bei jährlichen Minderungen von
gegenwärtig etwa 110 Millionen Tonnen Kohlendioxid
leisten erneuerbare Energien damit einen wichtigen
Beitrag zum Klimaschutz. Also müssen sie ausgebaut
werden. Wesentliche Ursache dieser dynamischen Entwicklung ist die durch das EEG garantierte Einspeisevergütung für Strom aus erneuerbaren Energien. Die
ebenfalls dort verankerte jährliche Absenkung der Einspeisevergütung - das ist die Degression - hat sich als
Anreiz für technische Innovationen und die Optimierung
in der Anlagenproduktion bewährt.
Für Investoren und auch für die produzierenden Unternehmen brauchen wir Planungssicherheit durch mittelfristig festgelegte Vergütungssätze und Degressionsschritte. Das ist von zentraler Bedeutung.
({2})
Unter dem Motto „Wenn es am schönsten ist, soll
man aufhören“ legt uns die Koalition einen Gesetzesentwurf auf den Tisch, der die positive Entwicklung im Bereich Solarstrom beenden soll;
({3})
zumindest - so schätzen wir das ein - besteht die große
Gefahr. Eigentlich könnte es uns, den Linken, egal sein,
wenn Schwarz-Gelb wieder einmal Fehler macht und
sich ein ums andere Mal als verlängerter Arm der Konzerne profiliert.
({4})
- Hören Sie doch zu! - Es ist uns aber nicht egal, wenn
Sie Tausende Arbeitsplätze in Gefahr bringen und zugleich energie- und klimapolitisch zur Rolle rückwärts
ansetzen. Wir halten Ihren Gesetzesentwurf für kontraproduktiv. Ich sage es noch einmal: Seine Verabschiedung gefährdet viele heimische Produzenten. Bereits
jetzt mussten einige Kommunen und Privatanleger ihre
Solarprojekte auf Eis legen oder absagen, weil sie die
Kostenfrage nicht mehr klären können.
({5})
Von der Koalition kamen im Januar nebulöse Ankündigungen. Zuerst hieß es, dass zum 1. April gekürzt werden soll. Jetzt soll die Kürzung zum 1. Juli erfolgen. Jedes Mal stehen andere Zahlen im Raum. Jede Woche
gibt es einen anderen Sachverhalt. Niemand weiß mehr,
wie es eigentlich weitergehen soll. Das ist unverantwortlich gegenüber der ganzen Branche.
({6})
Sie kommen mit Entwürfen, die sämtlichen Solarunternehmen die Haare zu Berge stehen lassen und den
Beschäftigten den Angstschweiß auf die Stirn treiben.
Sie sind in diesen Fragen ziemlich beratungsresistent.
Sie agieren in Rambo-Manier und gefährden - ich sage
es noch einmal - Tausende Arbeitsplätze, insbesondere
an Solarstandorten mit vielen kleineren Unternehmen in
den strukturschwachen Regionen Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
({7})
Aber auch in Bayern gibt es Widerstand. Auch Herr
Seehofer hat sich dazu geäußert. Mich würde interessieren, ob er die Sonderausgabe des Bauernblatts gelesen
hat. Sie zerstören auch international Vertrauen in die
Verlässlichkeit deutscher Umwelt- und Energiepolitik mit unabsehbaren Folgen.
Nur noch einmal als Merkposten: 300 000 Menschen
arbeiten hierzulande in der Branche der erneuerbaren
Energien - Tendenz stark steigend. Das sind zehnmal so
viele wie in der konventionellen Energieerzeugung. Allein 60 000 Beschäftigte entfallen auf die Fotovoltaikbranche, vor allem im produzierenden Gewerbe und im
Handwerk.
Jetzt behauptet die Regierungskoalition, die konkreten Zahlen und Vorhaben in engem Kontakt mit Solarwirtschaft und Interessenverbänden abgesprochen zu haben. Ich weiß nicht, mit wem Sie da gesprochen haben.
Wir haben viele Mails und Briefe erhalten. Wir haben
auch mit dem Bundesverband Erneuerbare Energie gesprochen. Da sind uns andere Zahlen vorgelegt worden;
das wurde vorher schon angedeutet. Ich meine, dass wir
das in der Anhörung sehr intensiv diskutieren müssen.
Wir fordern einen Austausch mit den Betroffenen aller Ebenen. Den werden wir führen. Wir fordern in unserem Antrag, die Einspeisevergütung
({8})
im einstelligen Prozentbereich zu kürzen, keine Deckelung des jährlichen Leistungsausbaus vorzunehmen und
vor allem keinen Axthieb auszuführen, sondern eine
schrittweise Anpassung vorzusehen.
({9})
Sowohl die Branche als auch die Verbraucher müssen
sich so auf die Anpassung einstellen können. Dazu benötigt man natürlich auch Zeit. Unser Antrag wird dieser
Tatsache gerecht.
Die von der Koalition vorgesehene flexible Marktanpassung der Einspeisevergütung, nach der die Degression um weitere 3 Prozentpunkte angehoben wird, wenn
zu viele Solaranlagen gebaut werden, widerspricht unserer Meinung nach dem eigentlichen Förderzweck des
EEG. Marktwachstum ist kein Maß für die Kostenentwicklung bei der Herstellung von Solarmodulen.
Möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hinsken zulassen?
Nein, will ich nicht. - Im Übrigen verschweigt die
Koalition elegant, dass zur Einmalabsenkung mit dem
Jahreswechsel 2011 noch eine Sonderabsenkung um
2 Prozent dazukommt.
Bereits in Ihrem eigenen Gesetzentwurf wird davon
ausgegangen. Sie versuchen, als Leistung zu verkaufen,
dass die Zielmarke des Solarausbaus hochgesetzt wird.
Ich frage Sie: Was ist das für eine Zielmarke, von der Sie
bereits jetzt wissen, dass sie überschritten wird? Das ist
keine Zielmarke, sondern eine Schranke.
Wem nützt es letztendlich, wenn der Ausbau der
Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien gebremst
wird? Das nützt denjenigen, die aus abgeschriebenen
Kernkraftwerken Milliardenprofite machen, und den
politischen Akteuren, die als Lobbyisten der Energiekonzerne auftreten und sich für Laufzeitverlängerungen
starkmachen.
({0})
- Sie haben über Profite gesprochen, die abgeschöpft
werden. Dabei haben Sie uns an Ihrer Seite. In den vergangenen Jahren haben wir dafür gekämpft, die Profite
der großen Konzerne abzuschöpfen, um endlich Mittel
für die Menschen zu haben, die weniger Geld verdienen.
Das haben Sie aber nicht getan.
Sie verfolgen Ihre Ziele jetzt in der Solarbranche, die
schwach ist.
Frau Kollegin!
Die großen Konzerne hingegen fassen Sie nicht an.
Mit denen gehen Sie - wie es Gregor Gysi heute Vormittag schon gesagt hat - lieber zum Essen.
({0})
Hans-Josef Fell hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Gestern hat Umweltminister Röttgen die aktuelle Erfolgsbilanz der erneuerbaren Energien vorgestellt: Gegen den Trend der
Wirtschaftskrise sind sie - Frau Kollegin Flachsbarth hat
schon darauf hingewiesen - weiter gewachsen. Die Investitionen in dieser Branche sind im vergangenen Jahr
auf knapp 18 Milliarden Euro gestiegen. Sie bieten bereits 300 000 Arbeitsplätze, allein 60 000 davon in der
Solarwirtschaft. Kein anderer Industriezweig in Deutschland hatte in den letzten zehn Jahren eine solche Bilanz
vorzuweisen. Das ist eine hervorragende rot-grüne Erfolgsgeschichte, die von Union und FDP nicht initiiert,
sondern anfänglich sogar bekämpft wurde.
({0})
Sehr geehrter Herr Röttgen, Sie reden viel von erneuerbaren Energien. Wir glauben Ihren schönen Worten
aber nicht mehr, weil Sie mit Ihren Handlungen offensichtlich auf die Beendigung dieser Erfolgsgeschichte
abzielen. Ihr Plan einer achtjährigen Laufzeitverlängerung und Ihre Unterstützung für den Neubau von Kohlekraftwerken werden eine massive Mauer gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien aufbauen.
({1})
Gleichzeitig greifen Sie heute mit der Vorlage der Novelle zum Erneuerbare-Energien-Gesetz massiv in die
Erfolgsgeschichte der Solarwirtschaft ein. Sie wollen
nach der zum Jahreswechsel erfolgten Senkung der Solarvergütung um etwa 10 Prozent nun zum Juli erneut
um bis zu 16 Prozent senken und zu Beginn des nächsten
Jahres noch einmal um circa 10 Prozent zulangen. Einnahmeverluste von mehr als 30 Prozent innerhalb eines
Jahres kann keine Branche schadlos überstehen.
({2})
Zusätzlich wollen Sie mit den besonders kostengünstigen Freiflächen auf den Äckern sogar ein ganzes Marktsegment völlig zum Erliegen bringen.
Alle diese Vorschläge sind hochgefährlich für die
deutsche Solarwirtschaft. Das sieht neben den Ministerpräsidenten der Ostbundesländer nun sogar die badenwürttembergische Umweltministerin Gönner so.
Herr Fell, Herr Kollege Hinsken würde Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne, Herr Hinsken.
Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Kollege Fell, zunächst einmal herzlichen Dank,
dass Sie meine Frage zulassen.
Vorweg möchte ich bemerken, dass ich grundsätzlich
für Solarenergie bin. Ich sage das, damit hier kein falscher Eindruck entsteht.
({0})
Halten Sie es für gerechtfertigt, dass jemand im sonnigen Regierungsbezirk Niederbayern mit 100 000 Euro
Bargeld in der Tasche zu einer Bank gehen und einen
Kredit in Höhe von 15 Millionen Euro beantragen kann,
um sich 10 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zu
kaufen und darauf eine Solaranlage zu errichten? Das
heißt, es wäre möglich, mit einem Einsatz von 0,6 Prozent Eigenkapital 15 Millionen Euro zu investieren und
so in den folgenden 20 Jahren letztlich Millionen herauszuholen. Ist das nicht ein bisschen überzogen? Ist das
noch nachvollziehbar? Ist das gerechtfertigt? Sind Sie
nicht ebenfalls der Meinung, dass diese Förderung vollkommen überzogen ist und dass deshalb dringend Korrekturen erforderlich sind?
({1})
Herr Kollege Hinsken, ich würde Ihr Bekenntnis zur
Solarenergie ernster nehmen, wenn Sie dieselben Maßstäbe, die Sie hier in Bezug auf die hohen Renditen an
die Solarwirtschaft anlegen, auch an die Atomwirtschaft
und die Kohlewirtschaft, die überzogene Gewinne erzielen, anlegen würden. Ich habe noch nie gehört, dass Sie
diese kritisiert haben.
({0})
Es sind Milliardengewinne, die in Unternehmen dieser
Branche durch Strompreiserhöhungen, die unsere Kunden immer mehr belasten, erwirtschaftet werden; ich
werde in dieser Rede noch darauf eingehen. Diese Gewinne thematisieren Sie nicht.
In der Tat bin ich in einem Punkt ganz bei Ihnen:
Auch überzogene Gewinne der Solarwirtschaft müssen
gecancelt werden; dazu stehen wir. Wir reden aber erst
dann ehrlich miteinander, wenn Sie endlich auch die
überzogenen, weitaus höheren Milliardengewinne der
Unternehmen, die mit konventionellen, klimaschädlichen Technologien produzieren, kritisieren. Genau das
habe ich von Ihnen aber noch nie gehört.
({1})
Viele der jungen deutschen Solarfabriken haben bereits 2009 rote Zahlen geschrieben. Vielfältige Ursachen
stehen hinter dem Preisverfall. Der politisch verordnete
Zusammenbruch des spanischen Marktes, die massive
Unterstützung Chinas für den Aufbau neuer Solarfabriken, die Probleme mit einem unterbewerteten Yuan, all
das sind Randbedingungen, die die deutschen Solarfabriken aus eigener Kraft nicht ändern können. Was die Unternehmen hier brauchen, ist eine klare Innovationsunterstützung. Aber auch hier machen Sie von der Union
das glatte Gegenteil, indem Sie, statt die Fotovoltaikforschungsmittel im Haushalt zu erhöhen, diese sogar noch
um 4 Millionen Euro kürzen. Viele Experten befürchten,
dass mit Ihren Vorschlägen zur Solarvergütung und zur
Kürzung der Fotovoltaikforschungsmittel Zehntausende
Jobs in den deutschen Solarfabriken gefährdet sind.
Symbolische Werksschließungen und Protestkundgebungen der Belegschaften lassen Sie einfach kalt.
Als Jobverluste in der Automobilwirtschaft drohten,
haben Sie von der Union zusammen mit den Sozialdemokraten über die Abwrackprämie gleich 6 Milliarden
Euro neue Schulden gemacht, um den Kauf von spritfressenden Autos zu unterstützen, die sogar das Klima
schädigen. Doch in der Branche mit der Klimaschutztechnologie Fotovoltaik produzieren Sie Arbeitslose.
Wie passt das zusammen? Es gelten bei Ihnen offensichtlich unterschiedliche Gesetze.
Sie folgen aufgebauschten, überzogen hochgerechneten Belastungsszenarien, die vor allem von Atom- und
Kohlekonzernen vorgelegt werden oder in von ihnen finanzierten wissenschaftlichen Studien erscheinen. Sie
fürchten Dutzende Milliarden Euro Markteinführungshilfen für die Fotovoltaik in den nächsten 20 Jahren. Geflissentlich verschweigen Sie in der Debatte, dass die
Atomwirtschaft in Deutschland rund 165 Milliarden
Euro staatliche Förderung erhalten hat, weit mehr, als
die Fotovoltaik jemals benötigen wird. Sie verschweigen
auch die Folgekosten der Atomwirtschaft: Mindestens
40 Milliarden Euro kostet den Steuerzahler die Entsorgung der Atomforschungseinrichtungen. Niemals wird
die Fotovoltaik solche Schäden verursachen können.
({2})
Sie verschweigen auch, dass für die Atomkraft damals der Strompreis massiv erhöht wurde. Sie verschweigen zudem, dass die Steinkohlewirtschaft rund
180 Milliarden Euro an Beihilfen erhalten hat und dass
sogar im schwarz-gelben Haushalt wieder 2 Milliarden
Euro für Kohlesubventionen bereitgestellt werden. Wo
ist die Gleichwertigkeit der Betrachtung, wenn Sie die
überzogenen Kosten für die Fotovoltaik thematisieren?
Ich höre nichts davon, dass Sie selber konventionelle
Technologien immer noch zu stark unterstützen. Klimaschutz und Zukunftsinvestitionen sehen wahrhaftig anders aus. Sie von der Union und der FDP beklagen sich
auch über die angeblich hohe Belastung durch die
Strompreise und verschweigen, dass die erneuerbaren
Energien schon heute zur Senkung der Strompreise über
den sogenannten Merit-Order-Effekt beitragen. Schamlos streichen die Stromkonzerne die darüber erzielbaren
Gewinne ein und erhöhen mit ihrer Monopolmacht die
Strompreise. Allein 6 Milliarden Euro haben die Konzerne im letzten Jahr den Stromverbrauchern zusätzlich
abgeknöpft, ohne dass irgendeine Gegenleistung erbracht wurde. Der Gipfel der Frechheit ist, dass sie diese
Strompreiserhöhungen mit den Mehrkosten für erneuerbare Energien begründen. Herr Kauch, auch Sie haben
die hohen Strompreise kritisiert. Ich habe von Ihnen bisher nichts über diese überzogenen Milliardengewinne
der Konzerne gehört. Mit dem Kampf dagegen können
Sie Verbraucherschutz praktizieren und nicht mit der
Kürzung der Solarvergütung.
({3})
Sie von Union und FDP verschweigen zudem wichtige positive volkswirtschaftliche Effekte, die die Strompreiserhöhungen sogar überkompensieren. Obwohl die
Fotovoltaik erst in den Anfängen steckt, wurden durch
sie 2009 bereits 3,6 Millionen Tonnen CO2 eingespart.
Steuereinnahmen in Höhe von über 3 Milliarden Euro
wurden in der Solarstrombranche erwirtschaftet, und
Kosten in Höhe von rund 400 Millionen Euro für Energieimporte, vor allem von Kohle und Erdgas, wurden
durch die Fotovoltaik letztes Jahr vermieden.
All diese ökologischen und volkswirtschaftlichen
Vorteile spielen für Sie aber keine Rolle. Sie wollen die
wichtigste Energiequelle der Zukunft, mit der die Bürgerinnen und Bürger bald kostengünstig selbst Strom erzeugen können, zum Schutz der Atom- und Kohlekonzerne ausbremsen.
Längst haben wir Grüne vielfältige Vorschläge gemacht, wie die Balance zwischen Vermeidung überzogener Gewinne und einem weiteren Ausbau der Fotovoltaik gelingen kann. Wir haben Ihnen aufgezeigt, dass die
Vergütung in diesem Jahr in drei gestaffelten Schritten
um jeweils 3 Prozent gesenkt werden kann. Dies vermeidet überhöhte Gewinne und gleichzeitig abrupte Marktverwerfungen. Lösen Sie doch einfach den Konflikt um
die Ackerflächen, indem Sie eine agrarische Nutzung
der Freiflächen zulassen. Es wird keinen Konflikt zwischen Lebensmittelerzeugung und Solarstrom geben, da
selbst bei einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien nicht mehr als 0,5 Prozent der deutschen Ackerflächen für Freiflächenanlagen gebraucht würden.
({4})
Mit dem Aufgreifen der grünen Vorschläge im parlamentarischen Verfahren würde auch der skurrile Streit
innerhalb der CSU endlich beendet werden. In Bayern
lacht man Sie doch inzwischen aus. Nur eine Stunde
nach der Kabinettsentscheidung in Berlin hat Ministerpräsident Seehofer die CSU-Minister Guttenberg,
Aigner und Ramsauer heftig kritisiert, indem er sagte,
dieser Beschluss sei das Ende der bayerischen Solarwirtschaft. Herr Seehofer hat recht. Nur, warum hat er seine
Minister nicht vorher zurückgepfiffen?
Herr Kollege Fell, Sie müssen zum Schluss kommen.
Das Spiel wird immer klarer. Sie reden zwar viel von
erneuerbaren Energien; in Wirklichkeit geht es Ihnen
aber um den Schutz der Atom- und Kohlekonzerne.
({0})
Sie greifen so massiv ein, um den Ausbau erneuerbarer
Energien auszubremsen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Norbert
Röttgen.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den relativ aufgeregten Reden der Opposition will ich mich dem Versuch zuwenden, die Debatte
auf ihren Kern zurückzuführen, in dem wir in diesem
Hause, so glaube ich, weitgehend übereinstimmen. Ich
möchte die Frage stellen: Was folgt aus der Übereinstimmung in diesem Haus für die Förderung der Fotovoltaik,
der Solarenergie?
Die Erfolgsgeschichte der erneuerbaren Energien
- auch die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: 300 000 Arbeitsplätze ({0})
ist geschildert worden. Sie ist nicht nur schön, sondern
sie ist auch notwendig als energiepolitische Schlussfolgerung: Es bedarf eines Strukturwandels, den der Bundespräsident in dieser Woche beschrieben hat. Ich bin
außerordentlich dankbar dafür und nutze diese Debatte
bewusst, um das entscheidende und aus meiner Sicht
wichtigste Zitat aus einem Interview des Bundespräsidenten in diese Debatte einzuführen, weil das der Gesamtkontext der Strategie zur Förderung der erneuerbaren Energien ist. Ich zitiere aus einem Interview des
Bundespräsidenten von dieser Woche:
Wir müssen jetzt den Paradigmenwechsel hin zu einer Wirtschaftsweise einleiten, die unser Planet verkraftet und die letztlich auch mehr Sinn stiftet.
({1})
Der Befund ist doch eindeutig: Die Rohstoffe werden knapper, die Energie wird knapper, die Umweltschäden werden größer. Für mich gibt es keinen Zweifel: Die Nation, die sich am schnellsten,
am intelligentesten auf diese Situation einstellt,
wird Arbeitsplätze und Wohlstand schaffen.
Genau so ist es. Ich finde, wir können dem Bundespräsidenten dankbar sein, dass er das in dieser Klarheit formuliert hat. Das darf eine Würdigung in diesem Hause
finden.
({2})
- Ich weiß nicht, warum Sie sich selbst dann empören,
wenn der Bundespräsident etwas Richtiges sagt, von
dem ich unterstelle, dass auch Sie es für richtig halten. ({3})
Daran sollten wir uns orientieren. Der Bundespräsident
hat die entscheidende Orientierung gesetzt.
Die erneuerbaren Energien sind die Strategie im Kontext des allgemeinen wirtschaftlichen Strukturwandels,
den wir angehen müssen. Darum setzen wir auf die erneuerbaren Energien, übrigens auch als Teil eines globalen Trends. Heute kam die Meldung, dass China erstmals
weltweit an der Spitze der Länder liegt, die am meisten
in die erneuerbaren Energien investieren.
Das zeigt: Wir befinden uns auf einem globalen Markt,
der rund 5 000 Milliarden Dollar umfasst, und in einem
globalen Wettbewerb.
({4})
Es geht um die Frage, welche Strategie wir verfolgen,
um die Nutzung der erneuerbaren Energien voranzutreiben. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein erfolgreiches Instrument. Ich habe übrigens keine Schwierigkeiten damit, zu erkennen, dass gelegentlich auch andere
etwas richtig machen.
({5})
Vielleicht könnten Sie sich in dieser Hinsicht etwas fortentwickeln.
({6})
Die Frage ist: Was ist die Philosophie des Erneuerbare-Energien-Gesetzes? Messen wir die Qualität dieses
Gesetzes daran, dass Subventionen, die die Stromkunden
finanzieren, möglichst lange und in möglichst großem
Umfang fließen? Oder ist die Philosophie des Erneuerbare-Energien-Gesetzes die eines Gesetzes zur Markteinführung erneuerbarer Energien, zur Technologieförderung, die umso erfolgreicher ist, je früher und je
schneller sie nicht mehr der Subventionierung bedarf?
Denn die erneuerbaren Energien werden entweder auf
dem Markt erfolgreich sein, oder sie werden gar nicht erfolgreich sein.
({7})
Nebenbei bemerkt: Das ist eine Investition in die erneuerbaren Energien. Aber das betrifft nur ein Bruchteil
der Strompreiserhöhungen, die in den letzten Jahren
stattgefunden haben.
({8})
Es ist wissenschaftlich völlig unbestritten, dass die
Strompreiserhöhungen der letzten Jahre auf den fehlenden Wettbewerb auf dem Strommarkt zurückzuführen
sind. Es ist die oligopolistische Struktur dieses Marktes,
die Wettbewerb verhindert.
({9})
Auch in diesem Zusammenhang sind die erneuerbaren
Energien von strategischer Bedeutung, weil sie Wettbewerb in diesen Markt bringen, der in Wahrheit noch viel
zu wenig ein Markt ist.
({10})
Weil das so ist, wollen und werden wir die Solarenergie ausbauen. Auch das ist mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beabsichtigt. Die Solarenergie hat bislang
eine Nischenfunktion. Ich weise darauf hin: Die Koalition wird durch Verabschiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs die Solarenergie aus ihrer Nische herausholen und für einen relevanten Anteil der Solarenergie
an der Stromversorgung sorgen. Das ist eine zentrale
Aussage, die mit diesem Gesetz verbunden ist.
Wenn in den letzten Jahren die Systempreise, von denen hier gesprochen worden ist, im Verhältnis zu dem
Zeitpunkt, als die staatliche Vergütung festgesetzt wurde,
um 30 Prozent gesunken sind und wenn wir nun für dieses Jahr erneut mit einem Preisrückgang von 10 bis
15 Prozent rechnen, also am Ende des Jahres einen
Preisrückgang von 40 bis 45 Prozent im Vergleich zu
dem haben, was die Stromkunden derzeit zahlen müssen,
dann muss der Gesetzgeber reagieren,
({11})
wenn es bei der Markteinführung bleiben und nicht zu
einer Subventionierung von Investmentfonds kommen
soll.
({12})
Das ist nicht das Ziel, das wir verfolgen. Wir wollen die
Markteinführung.
Nebenbei bemerkt: Auf den Preiswettbewerb zwischen den Herstellern von Modulen - ob es sich um einen deutschen oder um einen chinesischen Hersteller
handelt - hat die Einspeisevergütung von vornherein
keine Auswirkungen. Sie wirkt sich darauf schlicht und
ergreifend nicht aus.
({13})
Ihr Argument ist in ökonomischer Hinsicht definitiv
falsch. Wir haben diesen Preiswettbewerb übrigens
schon bei der heutigen Vergütung. Die Einspeisevergütung hat dabei keinerlei Auswirkungen.
Herr Kollege Fell, bei aller Wertschätzung: Auch die
Aussage, dass wir nicht auf Forschung setzen, ist falsch.
In diesem Haushalt setzen wir vermehrt auf Forschung.
Mit diesem Haushalt, der ein Spar- und Konsolidierungshaushalt ist, werden gegen die Notwendigkeit, zu
sparen, zusätzlich 10 Millionen Euro in die Forschung
investiert. Natürlich setzen wir auf die Forschung, weil
es um die Zukunft geht.
({14})
Wir führen ein System ein, das Verlässlichkeit in die
Finanzierung bringt.
({15})
Wir schaffen dadurch Verlässlichkeit, dass wir in Zukunft die Vergütung an die Marktentwicklung koppeln.
Im Gesetzentwurf ist keine fixe Vergütung vorgesehen,
die immer wieder angepasst werden muss, je nachdem,
wie sich der Markt entwickelt. Wir führen vielmehr einen flexiblen Vergütungsmechanismus ein, der an die
Marktentwicklung gekoppelt wird und Verlässlichkeit
für Finanzierung und Planung bringt. Damit vermitteln
wir Investitionssicherheit.
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fell zulassen?
Ja.
Herr Minister Röttgen, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie gerade behauptet, die Mittel für die
Fotovoltaikforschung würden in diesem Bundeshaushalt
gegenüber dem letzten Haushalt erhöht. Ich habe gesagt
- das war meine Kritik -, dass das nicht richtig ist, dass
die Mittel vielmehr gesenkt werden. Die heutige Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von mir hat
klar bestätigt, dass die Mittel in diesem Haushalt für die
Fotovoltaikforschung von 32,9 Millionen Euro auf
28 Millionen Euro gesenkt werden. Wer hat nun recht?
Ist die Antwort der Bundesregierung an mich richtig
oder Ihre Aussage, die Mittel würden erhöht werden?
Ich habe gesagt, dass wir in diesem Haushalt die Mittel für die Förderung der erneuerbaren Energien von
110 Millionen Euro auf 120 Millionen Euro gesteigert
haben.
({0})
- Wir haben die Forschungsmittel für den Bereich der
erneuerbaren Energien von 110 Millionen Euro auf
120 Millionen Euro erhöht. Damit setzen wir auf Forschung. Das war meine Aussage. So einfach ist das.
({1})
Ich komme zu einem weiteren Element - ich will das
in aller Kürze vortragen -, das diese Novelle prägt. Was
wir tun, ist mehr als eine Reaktion auf den Preisrückgang; an einer Stelle fördern wir sogar stärker als bisher.
Es geht um den Bereich, in dem die Solarenergie nicht
eingespeist, sondern vom Haushalt selber genutzt wird.
Das ist in hohem Maße sinnvoll, weil wir damit einen
Anreiz für Verhaltensänderungen bieten. Wir geben einen wirtschaftlichen Anreiz, den Verbrauch nach der Erzeugung auszurichten. Wir geben einen Anreiz für Entwicklungen im Bereich Batterietechnologie. Es soll sich
lohnen, diese Installationen im Privathaushalt vorzunehmen. Außerdem ist das ein Angebot an die Bürger, mitzumachen. Sie haben die Chance, sich selber zu versorgen. Das ist ein Anreiz, davon Gebrauch zu machen.
Eine letzte Bemerkung: Es geht bei diesem Vorschlag
auch um die Kürzung von Subventionen. Was ist der
Kern? Es geht um Geld und um Interessen. Ich finde,
dass das nicht die Orientierung dieser Debatte und dieser
Gesetzgebung sein darf. Ich meine, wir müssen uns an
dem strategischen Ziel orientieren, die Nutzung der erneuerbaren Energien durch eine verlässliche Rahmensetzung zu fördern, damit der in unserem Land eingeschlagene Weg der Energiegewinnung erfolgreich wird.
Die einen sagen: Es ist viel zu viel gekürzt worden.
Die anderen sagen: Es ist noch viel zu wenig gekürzt
worden. Ich glaube, dass wir mit Augenmaß und einer
konzeptionellen Klugheit einen Rahmen setzen, was
dazu führen wird, dass die erneuerbaren Energien und
speziell die Solarenergie in Deutschland weiter eine Erfolgsgeschichte schreiben. Unser Gesetz ist nicht nur gut
gemeint, sondern auch richtig gut gemacht. Die Solarenergie erhält somit eine wirkliche Förderung.
Danke sehr.
({2})
Waltraud Wolff hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Erneuerbare Energien über den grünen Klee loben, Anerkennung für
300 000 Arbeitsplätze zollen, Visionen für die Zukunft
der erneuerbaren Energien haben und die Zukunft schön
ausmalen, das ist das eine, Herr Minister Röttgen. Aber
gleichzeitig verlängern Sie die Laufzeit der Atomkraftwerke um acht Jahre. Das nenne ich wirklich konsequent!
In der letzten Woche, in der Haushaltsdebatte, habe
ich von einem CDU-Kollegen zum Haushalt eine Frage
gestellt bekommen, nämlich: Ist es gerecht und richtig,
dass die kleinen Stromkunden jemanden für seine Fotovoltaikanlage 10 Prozent Rendite zahlen sollen? Ich will
heute noch einmal Bezug auf diese Frage nehmen und
mit einer Gegenfrage antworten: Ist es eigentlich okay,
dass Union und FDP genau diesen Stromkunden mehr
als 46 Milliarden Euro Zusatzgewinne für die Atomkraftbetreiber abverlangen?
({0})
2009 betrugen die Kosten für Strom aus erneuerbaren
Energien 4,6 Milliarden Euro.
({1})
Auf mindestens 46 Milliarden Euro beziffert eine Studie
des Öko-Instituts vom Oktober letzten Jahres die Gewinnmitnahme der Betreiber von Atomkraftwerken bei
einer zusätzlichen Laufzeit von acht Jahren - 46 Milliarden Euro zusätzliche Gewinne, die Union und FDP auslösen wollen.
({2})
Es ist richtig: Weder Verbraucher noch Steuerzahler
sollen die Melkkuh der Nation sein.
({3})
Aber können Sie mir bitte schön erklären, wie es kommt,
dass die kleinen Leute bei Ihren Entscheidungen überhaupt keine Rolle spielen,
({4})
wenn es zum Beispiel um Milliarden für Hotelbesitzer
geht,
({5})
wenn es zum Beispiel um Milliarden für die Betreiber
von Atomkraftwerken geht und wenn es um Zusatzbeiträge bei der Krankenversicherung geht?
({6})
Ganz einfach - ich kann Ihnen die Frage beantworten -:
Es geht Ihnen nicht um die kleinen Leute. Ihnen geht es
nur um billige Begründungen und um nichts anderes.
({7})
Fakt ist: Die Strompreise werden immer mehr zur Belastung. Aber: Während die durchschnittlichen Strompreise für Haushalte in den letzten zehn Jahren um
9,3 Cent auf 23,2 Cent pro Kilowattstunde gestiegen
sind, hat sich der Anteil der EEG-Umlage im gleichen
Zeitraum lediglich von 0,2 auf 1,1 Cent pro Kilowattstunde erhöht;
({8})
einer von fünfzehn durch das EEG. Geht es der Regierungskoalition wirklich um die Verbraucherinnen und
Verbraucher,
({9})
geht es der Regierungskoalition um eine Senkung von
Kosten? Nein, die Regierungskoalition setzt auf Dinosauriertechnologie statt auf Zukunft. Sie wissen doch
ganz genau, dass die Investitionen in die erneuerbaren
Energien heute für bezahlbare Strompreise morgen sorgen.
({10})
Sie wissen auch ganz genau, dass sinkende Preise nur
durch einen funktionierenden Wettbewerb erreichbar
sind. Das alles wissen Sie. Also hören Sie doch auf, hier
Nebelkerzen zu werfen.
({11})
Im Oktober letzten Jahres hat der damalige Kartellamtspräsident Bernhard Heitzer auf einen wichtigen
Punkt hingewiesen - ich zitiere -:
Wenn die Laufzeiten verlängert werden, wird die
hohe Verdichtung der Erzeugungskapazitäten zementiert …
Gemeint sind die vier Energieriesen in Deutschland.
({12})
Auf dem Strommarkt - das wissen wir alle - herrscht
kein Wettbewerb. Wir müssen die Strukturen ändern,
wenn wir Wettbewerb wollen. Laufzeitverlängerungen
bewirken das Gegenteil.
Waltraud Wolff ({13})
({14})
Sie zementieren die Strukturen, die seit Jahren private
und gewerbliche Energiekunden mehr und mehr Geld
kosten. Sie verhindern, dass in Zukunftstechnologien investiert wird.
Ein großes Problem - darauf haben andere schon hingewiesen - ist, dass Sie die Fotovoltaik auf Ackerflächen beenden wollen. Wieder ist Ihre Argumentation
einfach nur unehrlich. Richtig ist: Es gibt Flächenkonkurrenz. Richtig ist auch: Der Ackerboden ist begrenzt.
Aber ich frage mich: Warum gehen Sie hier wieder auf
den kleinsten Mitspieler los? Der Sachverständigenrat
für Umweltfragen hat zu Ihrer Biomassestrategie festgestellt, dass bei der Biomasse die Nutzungskonkurrenzen
nicht ausreichend berücksichtigt sind. Die Produktion
von Biomasse - das wissen wir alle; ich komme aus dem
Landwirtschaftsbereich und beschäftige mich hiermit
schon seit zwölf Jahren - hat auf Ackerflächen eine wesentlich größere Bedeutung als Fotovoltaik. Das heißt,
Biomasse zur Energieerzeugung hat einen vielfach größeren Flächenbedarf als Fotovoltaik.
Zusammengefasst: Auch hier stimmen Ihre Begründungen vorne und hinten nicht. Im Übrigen ist die SPD
explizit der Meinung, dass wir nicht in die Hoheitsrechte
der kommunalen Verwaltungen eingreifen sollten. Die
Kommunen haben selber genug Sachverstand, um zu
entscheiden, ob sie auf ihren Äckern Fotovoltaikanlagen
installieren lassen oder nicht. Das können Sie denen zutrauen.
({15})
Am 12. März 2010 hat Ministerpräsident Seehofer
verlauten lassen: „Die von der Bundesregierung angestrebten Senkungen der Solarförderung sind zu hoch.“
Ihre eigenen Ministerpräsidenten - hier sind schon andere angeführt worden - haben die wesentlichen Probleme schon benannt und Vorschläge gemacht. Hören
Sie doch wenigstens denen zu! Der Ministerpräsident
meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt, Herr Professor
Böhmer, ist sicherlich kein Ministerpräsident der lauten
Worte. Aber selbst er hat Sie aufgefordert, „die Folgen
der beschlossenen Kürzung zu überdenken.“
({16})
Ich glaube, dass er nur aus Gründen der Parteiräson nicht
die Rücknahme Ihrer Vorschläge, sondern lediglich Ersatzlösungen durch eine stärkere Unterstützung der Solarzellenhersteller gefordert hat. Es geht um Arbeitsplätze, nur falls es Sie interessiert.
Meine Damen und Herren, das Erneuerbare-Energien-Gesetz - Kollege Fell hat das vorhin deutlich gemacht - ist eine Erfolgsgeschichte. Diese Erfolgsgeschichte erkennen auch Sie an. Die Fotovoltaik ist ein
sehr wichtiger Teil der Zukunft unserer Energieversorgung. Dafür steht die SPD. Ich fordere allerdings auch
die Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, die
sich als Freunde der Sonnenenergie betiteln, auf: Helfen
Sie mit! Lehnen Sie die strengen Kürzungen, die vorgenommen werden sollen, gemeinsam mit der Opposition
ab!
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe wirklich ein Problem mit dem Politikverständnis, das der eine oder andere hier hat.
({0})
Herr Fell kommt auf die Idee, zu sagen: Die Kohle
wurde im Laufe der Jahre zu stark subventioniert. Deswegen dürfen wir jetzt keine Übersubventionierungen
bei der Fotovoltaik verhindern. - Welche Logik liegt
dem zugrunde?
({1})
Weil das eine gewollt und das andere ungewollt ist?
({2})
Es geht nicht darum, dass wir in diesem Bereich Arbeitsplätze schaffen oder gefährden wollen, sondern es geht
um nicht mehr und nicht weniger als darum, dass staatlich garantierte Traumrenditen nicht auf Kosten des kleinen Mannes finanziert werden sollen;
({3})
das ist das Entscheidende.
({4})
Frau Wolff, es ist eine absurde Vorstellung, zu glauben, dass, wenn wir die Förderung pro Kilowattstunde
für die Fotovoltaikindustrie in Deutschland nicht kürzen
würden, Arbeitsplätze gerettet würden. Ganz im Gegenteil, das würde nämlich den Wettbewerb im Ausland verschärfen. Dort profitiert man von unserer Unterstützung
nämlich genauso wie in Deutschland. Wir müssen dafür
sorgen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt,
dass sie forscht und selbst in Forschung investiert. Dann
ist sie anderen einen Schritt voraus, nicht dann, wenn sie
viel Unterstützung bekommt.
({5})
Ein solches Verständnis führt mit Sicherheit nicht dazu,
dass in Deutschland mehr Arbeitsplätze entstehen. Diese
Arbeitsplätze werden in China entstehen.
Es gibt ein grundsätzliches Verständnisproblem. Wer
glaubt, dass es ökologisch ist, Investoren möglichst hohe
Renditen zu versprechen, der denkt überhaupt nicht logisch, ökologisch schon gar nicht. Der denkt nur im Interesse derer, die es sich leisten können und genug Geld
haben, um in großem Umfang zu investieren. Der denkt
aber nicht im Interesse des kleinen Mannes.
({6})
Mir ist vollkommen unverständlich, wie es sein kann,
dass gerade die Linkspartei auf die Idee kommt, zu sagen: Wer bei der Fotovoltaik kürzt, denkt nicht an den
kleinen Mann. - Das genaue Gegenteil ist der Fall.
({7})
Für dieses Jahr werden Ausbauziele von 4 bis
6 Gigawatt erwartet. Das ist toll und erfreulich. Das
heißt, dass die Fotovoltaikbranche auf einem sehr guten
Weg ist. Das heißt aber auch, dass sie die Kürzungen, die
vorgesehen sind, gut verkraften kann.
Sie haben davon gesprochen, dass der eine oder andere Vertreter eines Verbandes der Fotovoltaik- oder Solarwirtschaft gesagt hat, die Förderung sei zu hoch. Vielleicht wollen Sie ja, gerade wenn Ihnen der kleine Mann
so wichtig ist, auch hören, was der Chef des Verbraucherzentrale Bundesverbandes gesagt hat. Er sagte:
Wenn die Absenkung nicht noch deutlich höher erfolgen
wird, werden die Kosten in Zukunft in nicht tragbare Dimensionen vorstoßen. - Vielleicht sollten Sie sich auch
diese Aussage einmal zu Herzen nehmen.
({8})
Das ist nämlich das Entscheidende. Darüber müssen wir
uns Gedanken machen.
({9})
Ich meine, dass wir damit begonnen haben, einen
wirklich guten Weg einzuschlagen.
({10})
Ich bin mir sicher, dass wir in die richtige Richtung gehen. Diejenigen Unternehmen, die aufgrund dieser Kürzung nicht wettbewerbsfähig sind, müssen sich in Zukunft besonders anstrengen; das ist das Entscheidende.
Wir können keinen Arbeitsplatz garantieren. Wir können
nur die Rahmenbedingungen schaffen, und das passiert
gerade.
({11})
Ein Thema möchte ich noch ganz kurz ansprechen.
Heute haben wir den vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Nun folgt ein offenes parlamentarisches Verfahren. Wir werden zu diesem Thema auch eine Anhörung
durchführen. Ich bin überzeugt, dass es noch die eine
oder andere Änderung geben kann. Frau Dr. Flachsbarth
hat bereits darauf hingewiesen, dass die Vergütung für
Anlagen auf Ackerflächen eingeschränkt werden muss.
Hier sind wir uns absolut einig, und das ist auch vernünftig. Über die Frage, ob ein Förderstopp für Anlagen auf
Ackerflächen vernünftig ist, kann man durchaus diskutieren, weil Fotovoltaik dort natürlich deutlich günstiger
ist als auf dem Dach.
({12})
Gleichzeitig müssen aber die Bedürfnisse der Landwirtschaft befriedigt werden, indem man sagt: Wir wollen keine riesigen Parks. Wir wollen keine Investorenmodelle, die von auswärts oder sonst woher kommen.
Das ist klar. Die Größen zu begrenzen oder nach Bodenpunkten des Werbers zu gehen, könnte beispielsweise
ein Kompromiss sein.
({13})
Das Gleiche gilt für den Eigenverbraucher. Wir müssen aufpassen, dass wir keinen zusätzlichen Subventionstatbestand schaffen. Wenn uns das gelingt, wird es
im Rahmen des Verfahrens zu einer für alle befriedigenden Lösung kommen. Die Fotovoltaikindustrie wird
weiterhin wachsen. Erneuerbare Energien sind die Zukunft.
Vielen Dank.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Scheer das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben eben gehört, dass auch seitens der Koalitionsfraktionen und der Regierung noch Überlegungsspielraum vorhanden sein soll. Außerdem wird es ein Hearing geben.
Am Schluss der Debatte möchte ich aber eine Sache
zu bedenken geben: Wir haben erst vor kurzem eine Debatte anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Erneuerbare-Energien-Gesetzes geführt. Im Rahmen dieser
Debatte ist gelegentlich zitiert worden, welche schwerwiegenden Bedenken und Warnungen es vor diesem Gesetz vonseiten der CDU/CSU und der FDP gegeben hat.
All diese negativen Voraussagen sind nicht eingetreten,
und all die positiven Voraussagen bezüglich der Wirkung
des Gesetzes sind eingetreten und werden heute bestätigt. Deswegen wundert mich die Selbstsicherheit, mit
der all diejenigen, die sich nachweislich geirrt haben
- das haben sie selbst zugegeben -, jetzt meinen, dass ihr
Ansatz, wie es mit dieser Schlüsseltechnologie weitergehen soll, richtig ist.
Ich möchte Sie bitten, bei der jetzt anstehenden Debatte und dem Hearing das eigene Wort ernst zu nehmen.
Schauen Sie sich die Dinge ganz genau an, damit im
Hinblick auf diese Frage kein wesentlicher Fehler passiert. Was von Deutschland aus aufgebaut worden ist, bis
hin zu den Produktionen in China, ist eine Weltindustrie
für Fotovoltaik, die es ohne das Erneuerbare-EnergienGesetz so nicht gäbe. Ein wesentlicher Fehler wäre also,
wenn ausgerechnet Deutschland auf einmal einen solchen Einbruch erleidet, dass das, was wir angestoßen haben, am Ende von anderen gemacht wird. Das kann doch
wohl nicht in unserem Interesse liegen.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Meierhofer, bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Scheer, die
Angst kann ich Ihnen nehmen. Für die Anhörung wurden Experten geladen. Das haben übrigens auch der Herr
Minister und die FDP-Fraktion getan. Es werden die unterschiedlichsten Interessenvertreter gehört, mit denen
dann besprochen wird, worum es geht.
Das Wichtigste an dieser Novellierung ist, dass man
die Zukunft der erneuerbaren Energien nicht gefährdet.
Wir haben vorher gehört, welche Verwicklungen es beispielsweise in Spanien gegeben hat. Dort war man irgendwann nicht mehr bereit, die Subventionen zu reduzieren, obwohl man rechtzeitig gemerkt hat, dass
entsprechend große Profite gemacht werden, sodass zusätzliche Unterstützung gar nicht nötig war, um die Wirtschaft anzutreiben. Irgendwann kommen dann Politiker
und sagen: Um Himmels willen, so viele Milliarden
Euro, wie ihr sie hier an Steuergeldern ausgebt, können
und wollen wir uns nicht mehr leisten. Deswegen ist
jetzt Schluss mit diesem Wahnsinn.
Genau das wollen wir verhindern. Genau das werden
wir dadurch verhindern, dass wir vernünftige Kürzungen
vornehmen, die die Branche nicht gefährden, die aber
dafür sorgen, dass es für den Verbraucher bezahlbar
bleibt. Wir werden damit den Ausbaupfad der erneuerbaren Energien, insbesondere der Fotovoltaik, immer weiter vorantreiben. Sie ist zwar im Moment noch teuer, hat
aber das Potenzial, günstig zu werden. Dann wird sie ohnehin nicht mehr aufzuhalten sein.
({0})
Nun hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir führen diese Debatte über Fotovoltaik nun seit Wochen,
wenn nicht seit Monaten, mit einer Emotionalität, wie
ich sie in diesem Bundestag noch nie erlebt habe.
({0})
Die SPD hat heute die bayerische Staatsregierung zitiert. Die FDP hat das Bauernblatt zitiert. Dies zeigt, wie
schwierig die Gefechtslage an dieser Stelle ist. Deshalb
will ich einleitend versuchen, zwei grundsätzliche Dinge
festzuhalten, über die es in diesem Hause einen Konsens
geben sollte: Erstens. Wir wollen mit dem EEG Technologien fördern und nicht Investmentfonds.
({1})
Zweitens. Die Fotovoltaikbranche hat eine besondere
Verantwortung für das EEG. 45, wenn nicht 50 Prozent
der Differenzkosten gehen zulasten der Fotovoltaik. Die
Fotovoltaik produziert aber nur gut 6 Prozent des aus erneuerbaren Energien erzeugten Stromes. Wir haben da
also noch immer ein großes Missverhältnis. Nun ist das
erklärbar, weil es sich bei der Fotovoltaik um eine junge
Technologie handelt, die man in den Markt einführen
möchte. Aber es muss doch unser gemeinsames Anliegen sein, meine Damen und Herren, das möglichst rasch
zu tun, um nicht Kritiker auf den Plan zu rufen, die am
Beispiel der Fotovoltaikförderung das EEG insgesamt
diskreditieren. Dieses Potenzial bietet die Fotovoltaikförderung, weil sie sehr hoch ausfällt.
Der Meilenstein, den wir erreichen müssen, ist, dass
der Strom, der vom Dach kommt, vergütet wird wie der
Strom, der aus der Steckdose kommt. Da sind wir auf einem guten Weg. Eigentlich sollte die Branche die Vorschläge von Minister Röttgen aufgreifen, ihn unterstützen und sagen: Yes, we can; wir können das. Das wäre
ein Ansatzpunkt, der die entsprechende Begeisterung für
die erneuerbaren Energien unterstreichen würde.
({2})
Wir sind dabei, die entsprechenden Konsequenzen zu
ziehen mit Sonderabschlägen, über die man natürlich
diskutieren muss. Wir führen eine Anhörung dazu durch,
die ergebnisoffen sein wird, aber natürlich das Ziel hat,
das, was bei der Fotovoltaik zu viel gefördert wird, abzuschöpfen. Wer wie Herr Becker von der enormen Preisentwicklung spricht, die sich deutlich abzeichnet, der
muss dafür sein, übermäßige Förderung abzuschöpfen.
Wie der Minister es richtig ausgeführt hat: Es hilft doch
der Branche nicht, wenn man das nicht tut. Am Ende
blieben nur überhöhte Renditen stehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kelber?
Angesichts meiner kurzen Redezeit gern.
Bitte sehr.
Die Absicht meiner Fragestellung, Herr Kollege
Nüßlein, war auch, Ihnen mehr Redezeit zu verschaffen;
Sie sind ja der vorletzte Redner insgesamt und auch Ihrer
Fraktion.
Wären Sie bereit, die zusätzliche Redezeit zu nutzen,
um nicht mehr abstrakt über die Frage der Vergütung zu
sprechen? Die Koalitionsfraktionen haben einen konkreten Gesetzentwurf eingebracht, mit dem sie die Förderung der Fotovoltaik kürzen wollen. Legen Sie einmal
dar, wie ein Qualitätsprodukt wie Solarmodule unter diesen Bedingungen noch in Deutschland produziert werden und seinen Markt finden kann. Nutzen Sie die zwei
Minuten, die Ihnen die Präsidentin bestimmt dafür einräumen wird.
Ich nutze die Gelegenheit, das im Rahmen der Beantwortung Ihrer Frage außerhalb meiner Redezeit zu diskutieren.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, was Minister
Röttgen vorhin ökonomisch präzise analysiert hat: Die
Einspeisevergütung hat mit der Entwicklung der Modulpreise nichts zu tun.
({0})
Am Markt spielt die entscheidende Rolle nicht die Kostensituation der Unternehmen, sondern der Preis. Wenn,
obwohl die Preise sinken, die Einspeisevergütung gleich
hoch bleibt, wem wird die Differenz zugutekommen?
Müssen wir nicht davon ausgehen, dass der Investor
seine Rendite maximieren will?
({1})
Er wird die hohe Einspeisevergütung gerne kassieren,
den Strom aber trotzdem mit asiatischen Modulen erzeugen, weil so seine Gewinnspanne am höchsten ausfällt.
Das ist ein Problem, das wir mit dem EEG nicht lösen
können. Insofern haben all diejenigen Kolleginnen und
Kollegen recht, die sagen: Das EEG ist kein Instrument
zur Subventionierung, das heißt, kein Instrument dazu,
zielorientiert bestimmte Unternehmen der deutschen
Wirtschaft zu fördern. Jemand hat vorhin gesagt, es gehe
um den Weltmarkt. Meine Damen und Herren, glauben
Sie denn ernsthaft, dass wir über das EEG den Weltmarkt beeinflussen können? Das glauben Sie doch sicher
auch nicht, sehr geehrter Herr Kollege.
({2})
- Da Sie es konkret haben wollen, nenne ich Ihnen die
Abschläge, um die es hier geht: 15 Prozent bei Freiflächen, 16 Prozent bei Dachflächen und 11 Prozent bei
Konversionsflächen, also entsprechend weniger, sind die
Vorschläge, die wir an dieser Stelle jetzt gemacht haben,
über die wir in der Anhörung aber durchaus noch diskutieren werden. Ich gehöre zu denen, die nicht sagen:
„Das ist zementiert, das ist betoniert“, sondern wir wollen das auch dort noch einmal verifiziert bekommen.
({3})
Das Umweltministerium hat eine Rechnung vorgelegt, die ich für plausibel halte, und diese Rechnung wird
man im Rahmen der Anhörung dann auch weiter verifizieren.
({4})
Herr Kollege, es gibt noch einen Kollegen, nämlich
den Herrn Becker, der Ihnen die Redezeit verlängern
möchte.
Das kann der Kollege Becker auch noch tun.
({0})
- Sie können doch 15 Prozent von der Einspeisevergütung berechnen. Ich erwarte, dass Sie das können. Das
traue ich Ihnen zu.
({1})
Herr Kollege Nüßlein, ich habe nur eine ganz kurze
Nachfrage.
Sie haben ja gerade ausgeführt, dass Sie den Berechnungen des Bundesumweltministers vollumfänglich folgen können. Sie haben auch seine wirtschafts- und
marktpolitische Logik herausgestellt und ihm in dem,
was er vorgelegt hat, recht gegeben.
Da Sie ja derselben Partei wie der bayerische Ministerpräsident angehören, heißt das für mich, dass Herr
Seehofer diese Voraussetzung logischerweise nicht erfüllt, weil er etwas anderes fordert. Stimmen Sie mir in
dieser Deutung zu?
Das ist eine wunderschöne Frage. Wir können bei Bewertungen natürlich durchaus zu anderen Ergebnissen
kommen, weil insbesondere die Branche, die bestimmte
Interessen verfolgt, etwas anderes behauptet. Der Minister steht zwischen dem Verbraucherschutz auf der einen
Seite und den Brancheninteressen auf der anderen Seite.
Ich habe nicht gesagt, dass das, was der Minister hier
vorschlägt, bereits der endgültige Vorschlag ist, sondern
ich habe gesagt: Wir haben jetzt einen Vorschlag auf
dem Tisch, der im Rahmen dieser Anhörung, zu der auch
entsprechende Experten geladen werden, noch einmal
verifiziert wird und von dem wir aber glauben, dass wir
damit grundsätzlich richtig liegen. Wenn wir zu einem
anderen Ergebnis kommen, dann bitte gern, aber das
muss an der Stelle dann auch entsprechend fundamentiert erfolgen.
({0})
Was für mich an diesem Punkt ganz wesentlich und
wichtig ist, ist das Thema Vertrauensschutz. Das ist nicht
ein Anliegen der FDP allein. Wir werden uns noch einmal gemeinsam darüber unterhalten, ob das, was jetzt im
Vorschlag steht, ausreicht. Das ist das eine.
Das andere ist das Thema Ackerland. Hier muss ich
die Kollegen von der FDP nun auch klar enttäuschen.
Die Ackerlandauflage macht keinen Sinn. Sie hat schon
zu rot-grüner Zeit keinen Sinn gemacht. Wie erklären
Sie denn, dass es die Fotovoltaik auf Ackerland geben
soll - neben Konversionsflächen und vorbelasteten Flächen? Damit hat sich Rot-Grün damals vor der Verantwortung gegenüber dem Natur- und Landschaftsschutz
drücken wollen. Ich nehme an, dass Sie das deshalb gemacht haben. Das muss gestrichen werden, weil es nicht
konsequent und nicht sinnvoll ist.
({1})
Wir werden dann auch noch einmal darüber diskutieren,
ob die Alternativen, die Flächen, die jetzt im Gesetzentwurf vorgeschlagen sind, ausreichen, um das ganze
Thema entsprechend voranzubringen.
Ich möchte auch noch einmal betonen: Ich hätte mir
gewünscht, dass auch der Kollege Fell die flexible Vergütung - das, was Minister Röttgen mit Blick auf die
Verlässlichkeit gesagt hat - in ganz besonderer Weise
gewürdigt hätte. Lieber Kollege Fell, wenn ich mich
recht entsinne, war das nämlich bei der letzten EEG-Novellierung ein Vorschlag der Grünen. Ich würde mir
wünschen, auch einmal ein bisschen für das gewürdigt
zu werden, was wir hier an der Stelle umsetzen. Das
macht mehr Sinn als der Versuch, das Ganze politisch zu
instrumentalisieren, die alte Leier „Kernenergie gegen
erneuerbare Energien“ zu spielen und so zu tun, als ob es
da eine Konkurrenz gibt. Diese gibt es nicht.
({2})
Wir stehen für den Einspeisevorrang erneuerbarer
Energien. Deshalb hat die Laufzeitverlängerung für
Atomkraftwerke nichts, aber auch gar nichts mit dem
Thema erneuerbare Energien und Fotovoltaik und deren
Ausbau zu tun.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den
Horrorszenarien, die gerade von der Opposition gezeichnet wurden, möchte ich die Diskussion noch einmal etwas versachlichen und betonen, dass das Gegenteil von
dem der Fall ist, was Sie derzeit behaupten: Wir werden
in den Bereich der Fotovoltaik nach wie vor enorm viel
investieren; die Förderung wird enorm hoch sein. Kein
Träger erneuerbarer Energien wird in den nächsten Jahren so stark gefördert wie die Fotovoltaik.
({0})
Ich glaube, das wird in den nächsten Jahren auch zu einem enormen Ausbau in diesem Bereich führen. Die
Zahlen zeigen ganz deutlich, dass es in diesem Jahr eine
Steigerung um 3 000 bis 5 000 Megawatt geben wird.
Das heißt, allein in diesem Jahr gibt es einen Aufwuchs
um 30 bis 50 Prozent. Der deutsche Anteil am Weltmarkt in diesem Bereich wird nach wie vor 50 Prozent
betragen, obwohl der deutsche Markt nicht gerade der
Markt ist, auf dem die Sonne am meisten scheint. Auch
das muss man sicherlich in der Diskussion berücksichtigen.
Herr Kauch hat mir ein Zitat vorweggenommen, aber
ich muss das doch noch einmal sagen, weil ich glaube,
dass es in dieser Debatte enorm wichtig ist, die Positionen klarzustellen. Der Bundesverband Solarwirtschaft
hat vor wenigen Tagen ganz klar gesagt: Bei einer gezielten Eigennutzung des erzeugten Stroms besteht ab
2010 durchaus Potenzial, die Vorjahresrendite noch einmal zu übertreffen. - Meine Damen und Herren, allein
diese Aussage sagt doch alles. Ich glaube, sie zeigt, dass
eine Anpassung dringend notwendig ist.
Ich meine, wir sollten in dieser Debatte unsere Ziele
noch einmal in den Mittelpunkt stellen.
({1})
Das erste Ziel ist, die Träger erneuerbarer Energien
schrittweise auszubauen, wo es nur geht. Dann müssen
wir prüfen, an welchen Stellen wir das tun. Wir werden
das im Bereich der Fotovoltaik massiv tun, aber wir
müssen die Diskussion auch ehrlich führen und anerkennen, dass wir im Bereich der Fotovoltaik und Solarenergie nur ein begrenztes Potenzial haben. Selbst die größten Optimisten sagen, dass wir in den nächsten Jahren
nur 5, 6, 7 oder 8 Prozent der Stromerzeugung durch Fotovoltaik erzielen können.
({2})
Trotzdem werden wir in den nächsten zehn Jahren
80 Milliarden Euro in diesen Bereich investieren. Ich
glaube, es ist richtig, dass wir das tun. Denn die Experten sagen uns, dass es in den nächsten zwei bis drei Jahren gerade in diesem Bereich noch Technologiesprünge
geben wird. Ich glaube deshalb, es ist richtig, in die Fotovoltaik zu investieren.
Aber wir müssen auch das zweite Ziel verfolgen - das
wurde schon angesprochen -, nämlich die Solarbranche
wettbewerbsfähig zu machen, damit sie auf dem internationalen Markt bestehen kann.
({3})
Denn nur so können langfristig sichere Arbeitsplätze
entstehen; und nur so können wir eine Branche aufbauen, die zukunftssicher ist.
Bei aller Diskussion dürfen wir nicht vergessen - es
ist mir wichtig, das noch zu erwähnen -, dass wir mit
gleichem Druck dafür sorgen müssen, die Energie, die
wir durch Fotovoltaik erzeugen, auch speichern zu können. Die ganz große Herausforderung für die nächsten
Jahre ist, Speichertechnologien zu entwickeln. Ich
glaube, neben dem Netzausbau wird die große Herausforderung im Bereich der erneuerbaren Energien sein,
Speichertechnologien zu entwickeln, um die Solarbranche zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist,
glaube ich, der Ansatz richtig, die Eigenförderung erheblich auszubauen und zu versuchen, neue Innovationen zu
ermöglichen.
Meine Damen und Herren, ich meine, durch die Anpassung, die wir jetzt vornehmen - und es ist eine Anpassung und keine Kürzung -, werden wir der wettbewerbsfähigen Solarbranche eher den Rücken stärken, als
dass wir sie abwürgen. In diesem Sinne freue ich mich
auf die kommende Anhörung und die kommenden Beratungen in den Ausschüssen. Ich glaube, wir sind in diesem Bereich auf dem richtigen Weg.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1147 und 17/1144 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Alexander Ulrich, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Eurozone reformieren - Staatsbankrotte verhindern
- Drucksache 17/1058 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, auch damit sind Sie einverstanden. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Michael Schlecht für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Griechenland ist durch massiven Druck aus Brüssel bzw.
aus der EU mitten in der Wirtschaftskrise gedrängt und
verpflichtet worden, ein massives Sparprogramm aufzulegen, zum Beispiel durch Lohnkürzungen und Einsparungen im öffentlichen Dienst, eine Mehrwertsteuererhöhung und dergleichen mehr. Das wird das Problem
in Griechenland nicht lösen. Im Gegenteil: Diese von außen aufgezwungene Politik des Sparens wird die Wirtschaftskrise in Griechenland nur noch weiter verschärfen
und letzten Endes die Staatsverschuldung tendenziell
weiter erhöhen.
Der britische Schatzkanzler hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dies eine Verrücktheit ist. Ich sage deutlich: Für Verrücktheiten steht die Linke nicht zur Verfügung. Das lehnen wir ab.
({0})
Die Verrücktheit wird sich möglicherweise noch steigern, wenn auf Intervention der deutschen Regierung der
IWF auf Griechenland losgelassen wird. Was für verheerende Folgen die IWF-Politik für die Binnenstruktur von
Ländern hat, konnte man in den letzten Jahrzehnten in
diversen Ländern der Dritten Welt verfolgen.
({1})
Das griechische Volk wehrt sich zu Recht gegen die
massiven Verschlechterungen. Es bleibt aus unserer
Sicht nur zu hoffen, dass sich das griechische Volk möglichst erfolgreich gegen diese Verschlechterungen wehrt;
denn es ist im Interesse des Landes und letztlich auch im
Interesse Europas, dass diese Politik nicht aufgeht. Es ist
deswegen völlig klar, dass die Linke diese Auseinandersetzung unterstützt.
({2})
Überhaupt ist festzuhalten, dass andere Bereiche, in
denen man in der Tat einsparen könnte, bisher nicht ins
Blickfeld geraten sind. Die Militärausgaben zum Beispiel belaufen sich in Griechenland auf mehr als 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ungefähr dreimal
so viel wie in Deutschland. Es ist mir jedenfalls bisher
aber nicht bekannt, dass ein einziger Politiker der deutschen Bundesregierung den Griechen vorgeschlagen hat,
ihren Rüstungshaushalt herunterzufahren. Nein, man muss
im Gegenteil immer wieder feststellen, dass gerade auch
deutsche Minister eher darauf hinwirken, die Griechen
zur Steigerung der Rüstungsausgaben zu animieren und
sich zu Lobbyisten deutscher Rüstungsunternehmen zu
machen. Auch das geht im Grunde nicht so weiter. Wir
sind ganz klar dagegen.
({3})
Man sieht an diesem Beispiel, dass das eigentliche
Problem in Griechenland auch sehr viel mit Deutschland
zu tun hat. Das eigentliche Problem ist die Entwicklung
der deutschen Wirtschaftspolitik, und zwar die Politik
des deutschen Lohndumpings in Europa und in der Welt.
Die Lohnstückkosten sind in den letzten zehn Jahren
in der Eurozone um 27 Prozent und in Griechenland um
28 Prozent angestiegen. Nur in Deutschland sind sie um
gerade einmal 7 Prozent angestiegen. Dahinter steht,
dass Deutschland das einzige Land ist, in dem die Reallöhne in den letzten zehn Jahren gesunken sind.
Insofern kann man der französischen Finanzministerin Lagarde nur zustimmen, die letzte Woche das deutsche Lohndumping sehr stark kritisiert hat. Mir ist nach
wie vor völlig unverständlich, weshalb in diesem Hause
auch von Vertretern der Bundesregierung diese Kritik relativ läppisch abgetan worden ist, ohne sich damit auseinanderzusetzen.
Deutschland hat von 2000 bis 2008 einen Außenhandelsüberschuss von 1,3 Billionen Euro erzielt. Interessanterweise deckt sich das Defizit der Euro-Südländer genau
mit dieser Zahl. Die Euro-Südländer haben in diesen acht
Jahren ein Defizit von 1,3 Billionen Euro aufgehäuft. Dieser Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in
den Euro-Südländern ist auch der entscheidende Grund
für das Desaster ihrer Staatshaushalte.
Wenn es nicht gelingt, diese Politik umzukehren - sicherlich neben einer Reihe von Hausaufgaben, die in den
Ländern selbst zu erledigen sein wird - und in Deutschland eine andere Politik durchzusetzen, die viel stärker
auf die Kräftigung und den Ausbau des Binnenmarktes
setzt und dadurch zu fairen Außenhandelsbeziehungen
führt, dann werden diese Probleme in Europa nicht gelöst
werden. Dann werden nach Griechenland noch Spanien,
Portugal und weitere Länder folgen. Ich sage voraus:
Dann ist die Gefahr, dass der Euro auseinanderfliegt, extrem groß, und dann könnten die Erfolge von 60 Jahren
europäischer Integration am Ende in hohem Maße gefährdet sein.
({4})
Außerdem besteht die Gefahr, dass wir in Europa wieder
zu einer verhängnisvollen Entwicklung gelangen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Antrag, den die Fraktion Die Linke heute hier einbringt, trägt die falsche Überschrift. Nicht „Euro-Zone
reformieren - Staatsbankrotte verhindern“ ist das Ziel
dieses Antrags, sondern damit soll der Weg zu einer sozialistischen Staatswirtschaft in Europa geöffnet werden.
({0})
Dieser Antrag, meine sehr geehrten Damen und Herren der Linken, ist wohl Ausfluss des in dieser Woche
vorgestellten Entwurfs Ihres neuen Parteiprogramms.
Die Financial Times Deutschland bewertet die dort aufgeführten Ziele als naive Utopien. Wenn man diesen Antrag liest, dann kommt es einem zum Teil so vor, als
wollten Sie die Kräfte des Marktes außer Kraft setzen,
als hätte die Utopie wieder einmal Einzug in die Realpolitik gehalten.
({1})
Weiter schreibt die Financial Times Deutschland:
Die Linke denkt nur in Schwarz-Weiß.
({2})
Für sie gibt es nur die da unten und die da oben, die
Linkspartei und alle anderen.
- Welch treffende Einschätzung, wenn man den vorliegenden Antrag liest!
Wer ist schuld an der Krise Griechenlands? Da holen
Sie zum Rundumschlag aus, wie wir gerade gehört haben:
natürlich die EU und der Internationale Währungsfonds,
weil sie von Griechenland Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst und Sozialabbau verlangen, Deutschland,
weil wir für das Leistungsbilanzdefizit von Mitgliedstaaten der Euro-Zone verantwortlich sind und Steuerdumping bei Unternehmensteuern betreiben, die Ratingagenturen und wahrscheinlich viele andere mehr.
Meine sehr geehrten Damen und Herren Antragsteller, hätten Sie doch einmal in die Stellungnahme des Rates zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Griechenlands für 2010 bis 2013 geschaut, die uns in der letzten
Sitzung des Finanzausschusses vorgelegen hat. Ein paar
Zitate daraus zeigen, wie falsch Sie in Ihrer Einschätzung liegen: deutlich über dem Produktionswachstum
liegender Anstieg der Reallöhne, Abkopplung der Löhne
von Arbeitsmarktbedingungen und Produktivitätsentwicklung. Die Kerninflation wird den Prognosen zufolge
rascher zunehmen als im Durchschnitt des Euro-Raums.
Die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlands muss auch im
nichtpreislichen Bereich verbessert werden; Forschungsund Entwicklungsinvestitionen müssen gefördert werden. Außerdem werden die Reform der öffentlichen Verwaltung, Qualität der Bildung und Reformen bei den
Renten gefordert. All diese Dinge haben Sie in Ihrem
Antrag ganz verquer dargestellt. Ich kann nicht nachvollziehen, wie Sie auf diese Einschätzung gekommen
sind.
({3})
Mit Ihrem Antrag, meine sehr geehrten Damen und
Herren der Linken, würden Sie die Krise in Griechenland verschärfen. Sie vergeben die Chance, die in dieser
Krise steckt, eine zukunftsfähige Entscheidung für den
Stabilitäts- und Wachstumspakt zu treffen.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
haben in dieser außerordentlich schwierigen Situation
das einzig Richtige getan. Sie haben durch ihre konsequente Politik dazu beigetragen, dass Griechenland in
kurzer Zeit ein ambitioniertes Sparprogramm vorgelegt
hat. Das ist der einzige Weg von Griechenland aus der
Krise und in eine stabile Zukunft.
Die Krise in Griechenland ist keine Krise des Euros,
wie gestern der frühere Bundesfinanzminister Theo
Waigel in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung feststellte; vielmehr habe die nationale Finanz-,
Wirtschafts- und Lohnpolitik einiger Mitgliedstaaten diese
Probleme geschaffen. Aus diesem Grund ist der deutsche
Weg, der Weg von Bundeskanzlerin Merkel, der einzig
richtige. Der nötige Reformdruck auf Griechenland muss
aufrechterhalten werden. Hier passt sehr gut der Satz:
Hilf dir selbst, dann ist dir geholfen!
({4})
Erst wenn es gar nicht mehr anders geht - das hat die
Bundeskanzlerin heute dargestellt -, muss man helfen,
muss die Bundesrepublik Deutschland als Ultima Ratio
gemeinsam mit anderen Mitgliedsländern der Europäischen Union und dem Internationalen Währungsfonds
eingreifen und so ihrer Verantwortung gerecht werden.
In der ganzen Debatte dürfen wir nicht vergessen,
dass Deutschland den höchsten Nettobeitrag zum Haushalt der EU leistet
({5})
- Bayern selbstverständlich auch - und somit den Aufhol- und Transformationsprozess jüngerer EU-Mitgliedstaaten fördert.
Ein zentraler Punkt bei der Bekämpfung der aktuellen
Krise in Griechenland ist es, die Kontrolle der Staaten
auszubauen und den Stabilitäts- und Wachstumspakt mit
Nachdruck durchzusetzen. Die Pflicht aller Euro-Staaten
zur Einhaltung dieses Paktes muss oberstes Gebot bleiben. Es ist wichtig, in Zukunft Tricksereien in der Haushaltspolitik, wie sie in Griechenland stattgefunden haben, zu unterbinden,
({6})
Kontrollen zu verstärken und wirkungsvolle Instrumente
der Prävention und Sanktion zu schaffen.
({7})
Die von den Linken eingebrachten Vorschläge sind nicht
zielführend.
Es ist wichtig und richtig - Minister Schäuble hat es
gesagt -, den Stabilitäts- und Wachstumspakt zu erweitern und zu überlegen, was hier der richtige Weg ist. Die
Wirtschaftsweise Weder di Mauro sagte: „Wir müssen
dem Stabilitätspakt Zähne geben.“
Ich komme zum Schluss. Der ehemalige Finanzminister Waigel hat im vorhin angesprochenen Artikel ein Gedicht von Reiner Kunze zitiert:
Wort ist
währung
Je wahrer,
desto härter
Das ist richtig. Die Worte Ihres Antrags sind nicht unterstützenswert.
Danke.
({8})
Manfred Zöllmer ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Wirtschafts- und Währungsunion hat viele Väter:
Giscard d'Estaing, Helmut Schmidt, Helmut Kohl,
François Mitterrand, um nur einige zu nennen. Sie hat
die Idee verbunden, die wirtschaftliche Integration in
Europa mit einem einheitlichen Währungsraum zu vollenden. Dahinter stand die Vision einer politischen
Union, einer gemeinsamen Währung als Ausdruck einer
kollektiven europäischen Identität. Die währungspolitische Integration in Europa ist Schritt für Schritt vorangekommen. Die Einführung des Euro war ein Glücksfall,
auch für Deutschland;
({0})
denn der Euro war und ist ein Hort der Stabilität. Ohne
ihn müssten wir jetzt über völlig andere Krisenszenarien
in Europa sprechen, als wir es jetzt tun. All dies - Integration, Einführung des Euro - ist von den Linken, damals noch PDS, konsequent bekämpft und abgelehnt
worden. Gilt das jetzt eigentlich noch? Sie formulieren
in Ihrem Antrag: „Die Europäische Währungsunion ist
bedroht.“ Jetzt wollen Sie offenkundig das, was Sie vorher vehement bekämpft haben, retten, nach dem Motto:
Wir wissen nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer
Kraft.
({1})
Griechenland hat über einen sehr langen Zeitraum
massiv über seine Verhältnisse gelebt. Es gibt eine große
Wettbewerbsschwäche des Landes. Griechenland steht
vor dem Problem, sein exorbitantes Haushaltsdefizit zu
finanzieren. Griechenland hat ein fiskalisches Problem.
Lieber Kollege Schlecht, es ist im Übrigen wirklich
aberwitzig, die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf dem
Weltmarkt als Ursache dieser Probleme zu bezeichnen.
({2})
Liest man den Antrag der Linken, so findet man überhaupt nichts zu der Verantwortung Griechenlands, seine
Probleme zuerst selbst zu lösen. In Ihrem Antrag fordern
Sie des Weiteren, die EZB, also die Europäische Zentralbank, solle Staatsschuldtitel entsprechend der Praxis in
den USA erwerben dürfen, um damit Haushaltsfinanzierung zu betreiben. Ich sage Ihnen ganz klar: Das geht gar
nicht.
({3})
Wir wollen aus der Stabilitäts- keine Inflationsunion machen.
({4})
Wir müssen Defizite abbauen - das sage ich auch in
Richtung CDU/CSU und FDP -, im Übrigen auch in
Deutschland. Schauen Sie sich das einfach einmal an.
Die griechische Krise zeigt, dass das System des
Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes überprüft werden muss. Was ist zu tun? Griechenland hat einen glaubwürdigen Haushaltsplan vorgelegt, der schnell
umgesetzt werden muss. Griechenland braucht dringend
ein funktionierendes und gerechteres Steuersystem,
({5})
ein System, das sicherstellt, dass auch die Besserverdienenden sich an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
Griechenland braucht dringend entschiedene Maßnahmen gegen die grassierende Korruption. Wir brauchen Wahrheit und Klarheit über die Zahlen. Es darf
nicht wieder passieren, dass Eurostat sozusagen hereingelegt wird, dass Entscheidungen auf einer völlig falschen Datengrundlage getroffen werden. Wir brauchen
darüber hinaus ein entschiedenes Vorgehen gegen die
Spekulanten, die in dieser Situation Griechenland und
auch andere Länder weiter destabilisieren wollen.
Wir brauchen im Euro-Raum eine stärkere Koordination der Wirtschaftspolitiken; denn eine nationale Zinsund Wechselkurspolitik steht nicht mehr zur Verfügung.
Wir müssen aber auch darüber nachdenken, wie wir
ein System der Bereitstellung von Notfallliquidität
schaffen, das den strikten Grundsatz des No-bail-out
- Artikel 125 des EU-Vertrages - nicht außer Kraft setzt,
sondern durch ein Notfallsystem ergänzt wird. Das ist
entscheidend.
({6})
Nun schauen wir uns einmal an, wie die Bundesregierung in dieser Situation agiert hat. Statt beruhigend zu
wirken, wurde Öl ins Feuer gegossen.
({7})
- Nein, das ist völlig richtig. - Uns wurde ein besonderes Schauspiel der Regierungskunst vorgeführt. Es kam
der Vorschlag der Kanzlerin, man möge unbotmäßige
Mitglieder der Währungsunion einfach hinauswerfen.
({8})
Gut, darüber kann man nachdenken, aber nicht laut,
wenn man deutsche Bundeskanzlerin ist. Mit wem ist
dieser Vorschlag eigentlich abgestimmt worden? Wie
soll das durchgesetzt werden? Welche Verbündeten gibt
es? Viele Fragen, auf die die Regierung keine Antwort
hatte. In der Süddeutschen Zeitung hieß es nur: „Abfuhr
für Merkel“. Jean-Claude Trichet von der EZB sagte, er
werde solche „absurden Hypothesen“ nicht kommentieren.
Dann gab es den nächsten Akt, den man überschreiben kann mit „Schäuble gegen Merkel“ oder „Merkel
gegen Schäuble“, wie auch immer. Der Bundesfinanzminister hielt es für „blamabel“, wenn der Eindruck entstünde, die EU könne sich nicht selbst helfen. Er war der
Meinung, der IWF sei zu stark amerikanisch dominiert
und bei Hilfe durch den IWF könnten die Amerikaner in
die Haushaltspolitik der EU-Länder eingreifen. Dann
gab es die Befürchtung, dass die Unabhängigkeit der
EZB möglicherweise beeinträchtigt sei. Das waren substanzielle, fundamentale Bedenken, und der Bundesfinanzminister hatte deshalb einen anderen Vorschlag
gemacht, nämlich den eines EWF.
Auf einmal kam die Kehrtwende um 180 Grad,
Motto: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Nun soll es doch der IWF sein. Ich sage sehr deutlich: Das wäre eine Möglichkeit; denn der IWF hat in
Lettland, Ungarn und anderen Ländern bereits geholfen.
Lieber Kollege Schlecht, die Linke lebt ja größtenteils in
den 80er-Jahren - auch Sie; das haben Sie hier deutlich
gemacht -; aber Sie müssen einfach einmal zur Kenntnis
nehmen, dass sich der IWF unter Strauss-Kahn deutlich
verändert hat. Er ist nicht mehr der neoliberale Teufel,
der er früher in der Tat einmal war.
Liebe Bundesregierung, was war das für ein blamables Schauspiel, das insgesamt hier gegeben wurde!
„Merkel brüskiert EU-Partner“, titelte die Financial
Times Deutschland. Dieses Agieren der Bundesregierung ist der Situation nicht angemessen, passt aber nahtlos in die bisherige Performance, die die Bundesregierung hier abgegeben hat.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Zöllmer, Sie haben viel
Richtiges gesagt. Sie haben am Ende krampfhaft versucht, noch Schuldzuweisungen gegenüber der Bundesregierung zu tätigen.
({0})
Das sei Ihnen als Opposition zugestanden. Wer heute die
Regierungserklärung verfolgt hat, hat aber eine Regierungschefin erlebt, die sich mit einem hohen Maß an
Verantwortungsbewusstsein dieser großen Aufgabe
stellt,
({1})
die einen ganz klaren Blick hat für die Verantwortung für
die Gelder der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, aber auch für unsere gemeinsame europäische
Währung, für die Stabilität dieser europäischen Währung. Diese Entschlossenheit, die heute in diesem Hohen
Hause zum Ausdruck gekommen ist, ist ein wichtiges
Signal gewesen. Dafür sind wir der Bundeskanzlerin
sehr dankbar.
({2})
Der Euro erlebt eine historische Bewährungsprobe.
Es gibt zahlreiche Mitgliedsländer, die vor gewaltigen
wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen
stehen. Das ist wahrhaftig keine einfache Stunde. Wir
sind gut beraten - das will ich der Linken sagen -, in dieser Situation nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen,
sondern die europäischen Länder als Partner zu sehen.
Wir haben ein gemeinsames Ziel, ein gemeinsames Interesse, und deswegen müssen wir auch gemeinsam nach
Lösungen suchen.
({3})
Der Euro ist nicht nur eine Währungsgemeinschaft; er
ist auch eine Schicksalsgemeinschaft für uns Europäer.
Derzeit wird viel über griechische Probleme geredet. Sie
tun das in Ihrem Antrag. Sie machen Schuldzuweisungen. Sie zeigen mit dem Finger auf andere und sagen,
was die alles falsch machen und wie schlimm da alles
ist. Ich will einmal daran erinnern, dass es nicht die
Griechen waren, die eine Aufweichung des Stabilitätsund Wachstumspaktes betrieben haben.
({4})
Es waren nämlich der deutsche Bundeskanzler Gerhard
Schröder
({5})
und sein Finanzminister Hans Eichel, die das getan haben.
({6})
Herr Kollege Zöllmer, ich erinnere mich noch gut an
die scheinheilige Begründung der Sozialdemokraten.
Damals haben sie gesagt, Maastricht sei nicht nur ein
Stabilitäts-, sondern auch ein Wachstumspakt, und es
dürfe nicht immer nur um Stabilität gehen. Das war die
Begründung, mit der Gerhard Schröder damals mit Unterstützung der Sozialdemokraten eine Aufweichung der
Maastricht-Kriterien betrieben hat.
({7})
Wir haben Ihnen damals gesagt, dass es falsch ist, und
heute werden wir darin bestätigt. Das war ein historischer Fehler sozialdemokratischer Finanzpolitik.
({8})
Lassen Sie mich auf die Situation Griechenlands zurückkommen. Wir wollen das im Geiste einer Partnerschaft und im Miteinander regeln. Wir wollen keine Besserwisserei gegenüber Griechenland betreiben. Arroganz
und Überheblichkeit, wie sie in dem Antrag der Linken
zum Ausdruck kommen, sind schwer erträglich und sollten in diesem Haus keine Mehrheit finden.
({9})
Die Griechen haben Probleme. Die Linken kennen die
Ursache. Sie kennen die Problemlösung. Sie wissen alles. Sie wissen, dass Steuerhinterziehung an der Situation schuld ist, dass Steuerdumping daran schuld ist,
dass eine ungenügende Besteuerung von Kapital für die
Lage verantwortlich ist. All das wissen die Linken. Man
fragt sich manchmal, warum sich der griechische Ministerpräsident nicht mit Gregor Gysi, sondern mit der Bundeskanzlerin trifft.
In Wahrheit ist es eben die Bundeskanzlerin, die den
Ausweg aufzeigt und die in Partnerschaft eine Lösung
für Griechenlands Probleme sucht. Sie hat klar erkannt
- sie hat das auch zum Ausdruck gebracht -, dass Hilfe
zur Selbsthilfe das Gebot der Stunde ist. Das unterscheidet die Bundesregierung von der Opposition: Die einen
suchen nach einem Weg, wie man Hilfe zur Selbsthilfe
leisten kann, und die anderen - Sie nämlich - zeigen mit
dem Finger auf andere.
Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
haben es von Anfang an abgelehnt, Griechenland mit
deutschen Steuergeldern zu helfen, und sie haben gut daran getan. Es war ein wichtiges Zeichen, dass deutlich
gemacht wurde: Griechische Schulden müssen griechische Schulden bleiben. - Deutschland kann vieles leisten
- wir sind eine große Volkswirtschaft -, aber es gibt
auch für uns Grenzen. Man kann den Euro nicht stärken,
indem man die stärksten Volkswirtschaften des EuroRaums schwächt.
({10})
Die Probleme Griechenlands haben ihren Ursprung in
Griechenland. Sie haben eine nationale Ursache, und
deswegen können sie nachhaltig auch nur auf nationaler
Ebene gelöst werden.
Deutschland ist sicher ein wirtschaftlich starkes Land,
aber auch starke Länder können sich übernehmen. Deswegen finde ich es verantwortungslos, wie bereitwillig
Sie das Geld der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler europaweit zur Verfügung stellen wollen.
({11})
Die Vorschläge in Ihrem Antrag sind nicht Ausdruck
europäischer Solidarität; sie sind Ausdruck nationaler
Verantwortungslosigkeit.
Nehmen Sie nur Ihre Forderung nach einer Euro-Anleihe. Allein das zeigt doch, wie wenig Sie die Probleme
des eigenen Landes im Blick haben. Wenn Sie eine
Euro-Anleihe fordern, sollten Sie auch dazu sagen, dass
das mit einer jährlichen Mehrbelastung in Milliardenhöhe für die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verbunden wäre. Deutschland müsste höhere Zinsen
bezahlen, wenn wir uns auf so etwas einlassen würden.
Damit führen Sie die Opfer, die die Bürgerinnen und
Bürger bei uns erbracht haben, ad absurdum. Deutschland ist deshalb kreditwürdiger als andere Länder, weil
Deutschland bereit ist, sich ernsthaft der Konsolidierungsaufgabe zu stellen. Deutschland profitiert aufgrund
der Sparopfer der Bürgerinnen und Bürger von günstigeren Kreditkonditionen.
Sie wollen diese Früchte nationaler Anstrengung zugunsten einer Euro-Anleihe opfern. Ihre Idee ist nicht
europäisch, sie ist entsetzlich, meine Damen und Herren.
({12})
Ihre Forderungen führen nicht etwa zu einer verantwortungsbewussteren Haushalts- und Finanzpolitik in
Europa, nein, Sie zementieren Verantwortungslosigkeit
mit Ihren Vorschlägen. Sie fordern tatsächlich einen
Fonds, um längerfristige Defizite der Mitgliedstaaten zu
finanzieren.
Das wäre ein Blankoscheck für unsolide Haushaltsund Finanzpolitik nach dem Motto: Die Staaten verschulden sich, und wenn die Schulden hoch genug sind,
dann werden sie aus einem großen Topf beglichen.
Meine Damen und Herren, das funktioniert in keiner
Familie, das funktioniert in keinem kleinen und in keinem großen Unternehmen, und das funktioniert schon
gar nicht in Europa.
({13})
Sie verlieren auch kein Wort darüber, wer diesen
Wunderfonds bestücken soll, wer die Zeche bezahlen
soll. Sie tun immer so, als seien Sie diejenigen, die die
Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
wahrnehmen. Tatsächlich wollen Sie aber die Menschen
zur Kasse bitten für Ihren europäischen Fonds. Wir machen Ihre Idee des Schuldentransfers auf dem Rücken
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland aber nicht mit. Wir werden die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wahrnehmen, indem
wir Ihren wirklich nicht zu verantwortenden Antrag ablehnen.
Herzlichen Dank.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Viola von Cramon-Taubadel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich denke, Herr Wissing hat recht. Der Euro befindet
sich in einer historischen Bewährungsprobe. Die Qualität von Bündnissen zeigt sich aber in Krisen. In Krisensituationen wird deutlich, ob sich nur Vorteilssucher
zusammengefunden haben oder ob man gewillt ist, gemeinsam Probleme zu lösen.
({0})
Ein weiteres Merkmal von Krisensituationen ist sicherlich der Auftritt ungewöhnlicher Ratgeber. Wenn eine
europaskeptische Partei wie Die Linke sich plötzlich um
die EU sorgt, dann stellt sich die Frage: Sind die Linken
klüger geworden, oder ist die Lage in Europa bedrohlicher geworden?
({1})
Den zweiten Teil der Frage beantworte ich mit einem
eindeutigen Ja. Allerdings - und das muss im Zentrum
dieser Auseinandersetzung stehen - hat die Politik der
Bundesregierung erheblich dazu beigetragen, dass wir
uns in einer derart schwierigen Situation in Europa befinden.
Es ist doch offensichtlich: Wer auch immer in der aktuellen Europadebatte das Sagen hat - der Finanzminister,
die Kanzlerin oder sogar einmal der Außenminister -, sie
reden über Europa, aber sie denken an den Wahlkampf in
Nordrhein-Westfalen.
({2})
Ich hoffe, dass diese durchsichtigen Manöver irgendwann einmal aufhören; denn das hat Europa nicht verdient.
({3})
Wir brauchen jetzt eine starke Europapolitik. Diejenigen, die von einem gemeinsamen Europa und insbesondere von der Währungsunion stark profitieren - und dabei ist Deutschland nun einmal die Nummer 1 -, müssen
auch die größte Solidarität zeigen. Solidarität heißt aber
nicht Blindheit. Gute Partner müssen es ertragen, dass
man sich kritisch über bestimmte Verhaltensweisen auslässt.
Die Regierung Griechenlands und die Bevölkerung
Griechenlands haben sicher schon erkannt: Jahrzehntelange Klientelpolitik, mangelhafte Bekämpfung von
Korruption, eine weit verbreitete laxe Steuermoral und
ein überdimensionierter öffentlicher Sektor, eine solche
Politik hält kein Staatshaushalt der Welt lange aus.
Allerdings hat die Welt, haben insbesondere die Partner in der EU viel zu lange tatenlos zugeschaut. Griechenland hat bereits am 21. Oktober des vergangenen
Jahres sein Haushaltsdefizit von 12,7 Prozent offiziell
bekannt gegeben. Damit hätte die Bundesregierung genügend Zeit gehabt, um ein Konzept mit den Partnern in
der Euro-Zone abzustimmen und die Währungsunion
mit neuen Instrumenten für die Zukunft zu stärken. Wegschauen ist keine kluge Politik. Die Bedienung nationaler Ressentiments ist sogar eine sehr dumme Politik.
Aber genau so handelt diese Bundesregierung.
({4})
Was die Euro-Zone und Griechenland betrifft, muss
genau hingeschaut werden. Dort hat die Regierung ein
ambitioniertes Sparpaket vorgelegt. Das sollte man anerkennen. Genau hinschauen muss man aber auch auf die
Rüstungsausgaben des Landes. Den Griechen sollte klar
sein: Der vermeintlichen finanziellen Bedrohung, der sie
ausgesetzt sind, kann man nicht mit Waffen begegnen.
Sie müssen alle Möglichkeiten nutzen, ihren Militärhaushalt zu reduzieren.
({5})
Dabei dürfen wir nicht übersehen: 35 Prozent der Rüstungsgüter Griechenlands werden aus Deutschland importiert. Dennoch konnte es Außenminister Westerwelle bei
seinem Staatsbesuch am 3. Februar nicht unterlassen, für
die deutsche Rüstungsindustrie zu werben. Der Außenminister hilft bei Exporten, und die Bundeskanzlerin
denkt offen über einen Ausschluss aus der Währungsunion nach und blockiert anschließend auf dem Frühjahrsgipfel auch noch den dringend erforderlichen Hilfsmechanismus zur Unterstützung Griechenlands. Das ist
eine kalte Verweigerungshaltung, das ist unsolidarisch,
das ist im Kern antieuropäisch. Es ist antieuropäisch,
weil nicht auf eine europäische Lösung gesetzt wird.
Natürlich heißt europäische Solidarität nicht, Geld
nach Athen zu tragen.
({6})
Ich habe in Griechenland mit Vertretern des Parlaments,
der Gewerkschaften und der Zentralbank gesprochen.
Dabei hat mich überrascht, dort nicht eine einzige Forderung nach Finanztransfers erhalten zu haben. Die Griechen erwarten lediglich ein Bekenntnis der Bundesregierung zu einer europäischen Solidarität.
({7})
Nein, es geht wirklich darum, Griechenland nicht
dem Spiel der Spekulanten zu überlassen. Der Haushalt
muss konsolidiert werden, aber die Zinsen dürfen aufgrund von Spekulationen an den Finanzmärkten nicht
weiter hochgetrieben werden. Deshalb brauchen wir
- das sehen Sie anders; das weiß ich - eine europäische
Anleihe, die Griechenland einen niedrigen, einen tragbaren Zinssatz ermöglicht.
({8})
Die Krise muss und sie kann auch nur innerhalb der
Europäischen Währungsunion gelöst werden. Sie kann
aber nur gelöst werden, wenn sich die Bundesregierung
konstruktiv verhält. Schon jetzt sollte man die richtigen
Lehren aus dieser Krise ziehen: Auch langfristig darf die
Bundesregierung einer verbesserten wirtschaftspolitischen Koordination in der Euro-Zone und in der Europäischen Union nicht weiter im Wege stehen.
Die EU, aber auch die Mitgliedstaaten der Euro-Zone
müssen diese Krise nutzen, um die jetzt offen zutage getretenen fundamentalen Schwächen zu beseitigen. Dafür
muss der Stabilitätspakt weiterentwickelt und auch das
außenwirtschaftliche Gleichgewicht als Ziel mit aufgenommen werden. Anders als im vorliegenden Antrag der
Linken müssen neben den Mitgliedstaaten mit hohen
Überschüssen, wie Deutschland, auch jene mit hohen
Defiziten verbindliche Empfehlungen zur Reduktion von
Ungleichgewichten bekommen. Hier brauchen wir sicherlich mehr Kontrolle durch die EU-Kommission oder
in diesem Fall Eurostat.
Wir brauchen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
mehr Gemeinsamkeit. Bei der Herstellung der Gemeinsamkeit hat diese Bundesregierung bisher versagt, zum
Schaden für die EU, für die Währungsunion und letztlich
auch für unser Land.
Vielen Dank.
({9})
Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und Freude bei der Arbeit.
({0})
Nun hat der Kollege Leo Dautzenberg für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man einige der Forderungen aus dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Euro-Zone reformieren - Staatsbankrotte verhindern“ liest und die Überschrift wirken lässt, könnte man
sagen: Euro-Zone reformieren - Staatsbankrotte herbeiführen. Damit haben Sie ja in der Vergangenheit durchaus Erfahrungen gemacht.
({0})
Ich möchte mich auf einige Punkte konzentrieren und
darstellen, was die Regierung gerade in Bezug auf Griechenland getan hat. Ich nehme an, dass Sie Ihren Antrag
nicht nur aufgrund des Tatbestandes Griechenland eingebracht haben, sondern dass sich Ihr Antrag auch auf eine
allgemeine Reform der Euro-Zone bezieht. Es ist festzustellen, dass diese Bundesregierung handlungsfähig ist,
dass sie auf europäischer Ebene Verantwortung für die
Stabilität des Euros übernommen hat und den Nachweis
dafür bisher immer wieder erbracht hat. Es wäre nämlich, noch in der letzten Woche, ein Leichtes gewesen,
auf den Vorschlag des Kommissionspräsidenten Barroso
positiv einzugehen, der dazu geführt hätte, dass wir mit
Hilfen für Griechenland den Euro geschwächt und nicht
gestärkt hätten. Dass das nicht so gekommen ist, wurde
durch den Einsatz unserer Regierung, der Kanzlerin
Merkel und des Finanzministers, auf europäischer Ebene
gewährleistet.
({1})
Man muss natürlich auch feststellen, dass die Handlungsanweisungen, die wir teilweise von der europäischen Ebene bzw. von europäischen Partnern aus der
Euro-Zone bekommen, nicht nur Beiträge zur Stabilisierung des Euros und des Euro-Verbundes, unseres Währungssystems auf europäischer Ebene, sind, sondern
auch eine interessengeleitete Politik darstellen. Wenn
man sich manche Vorstellungen unserer Freunde in
Frankreich und in anderen Ländern vor Augen führt,
dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sie teilweise danach ausgerichtet sind, wie sehr man in diesen Ländern
in der griechischen Wirtschaft, zum Beispiel bei Banken,
engagiert ist. Das spiegelt sich in manchen französischen
Vorschlägen wider.
Wenn man darüber hinaus den südeuropäischen Bereich betrachtet, sieht man, dass man sich dort anders
verhält und sich für Hilfen einsetzt und sogar danach
schreit. Dies entspricht zum Teil durchaus auch dem Interesse des Kommissionspräsidenten Barroso. Das
würde nichts anderes bewirken, als dass weitere Länder
Hilfen beanspruchen würden und damit innerhalb des
Euro-Verbundes ein Trend hervorgerufen würde, den wir
nicht verantworten können. Denn die Bundesrepublik
Deutschland wäre bei diesen vorschnellen Hilfen der
Hauptzahler.
({2})
Aber in den jeweiligen Ländern würden in der Zwischenzeit nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen,
sich selber zu helfen und auf den Weg der Stabilität zurückzukehren. Auch das gehört zur jüngsten Geschichte
bei der Betrachtung von Stabilisierungsmaßnahmen auf
europäischer Ebene.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Sarrazin?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben von den Interessen gesprochen, die hinter manchen Vorschlägen,
manchen Aktivitäten stecken. Ich bin weit davon entfernt, beispielsweise der konservativen französischen
Regierung nicht unterstellen zu wollen, dass auch sie Interessen hat, die sie zum Teil in ihren Vorschlägen untergebracht hat. Aber ich finde, es gehört zur Ehrlichkeit,
dass Sie eine Antwort auf folgende Frage geben: Ist es
eine nicht interessengeleitete Politik, wenn der Außenminister Leo Dautzenberg ({0}):
Welcher Außenminister?
- Außenminister Westerwelle -, wie von der Kollegin
von Cramon-Taubadel dargestellt, nach Griechenland
fährt und dafür sorgen will, dass dort eine unglaublich
hohe Rüstungsquote durch den Export von Rüstungsgütern durch deutsche Unternehmen aufrechterhalten wird,
anstatt dafür zu sorgen, dass im Interesse des Euros gespart wird? Halten nicht auch Sie das für eine schlechte,
von rein nationalen Interessen getragene Politik?
Ich glaube, jedes Land in Europa sollte so souverän
sein, im Rahmen seiner Sicherheitspolitik seine Interessen wahrzunehmen und seinen Teil zur Sicherheit beizutragen. Da sollten wir auch unserem Partner Griechenland keine Vorschriften machen und sollten keine
Ratschläge erteilen, sondern wir sollten, wenn unsere
Wirtschaft Chancen hat, dort Produkte abzusetzen, diese
auch nutzen. Da brauchen wir uns nichts vorhalten zu
lassen. Wenn Sie das aus einer Ideologie der Abrüstung
heraus zum Nachteil unserer Wirtschaft interpretieren,
ist das Ihre Sache. Meine Fraktion und ich sehen das anders. Man sollte das politische Selbstbestimmungsrecht
der jeweiligen Länder akzeptieren und sie nicht bevormunden, weil das in die falsche Richtung führt.
({0})
Herr Kollege Dautzenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?
Wenn es der Sache dient, ja.
Das wird sich zeigen.
({0})
Nein, nicht zu wenig Redezeit, aber es gibt einen Anlass, noch eine weitere Frage zu stellen. - Sie sprechen
sich dafür aus, dass wir es den griechischen Politikern
und Politikerinnen überlassen sollten, die Probleme in
ihrem Land selbst zu lösen, und dass wir uns nicht bevormundend einmischen sollten. Wie bewerten Sie dann
die Stellungnahmen aus Ihrer Fraktion, dass man vielleicht auch griechische Inseln verkaufen könnte? Es gibt
noch weitere wohlgemeinte Vorschläge, die gerade das
sind: Sie sind bevormundend und tragen massiv zu einer
Verschlechterung der Beziehungen bei.
({0})
- Es waren Herr Schlarmann und Herr Wanderwitz,
wenn Sie es genau wissen wollen.
Sehr geehrter Herr Kollege Schick, wir sind hier im
Parlament, und ich kann mich nicht daran erinnern, dass
ein Kollege aus der CDU/CSU-Fraktion einen solchen
Vorschlag unterbreitet hat.
({0})
Ich glaube, dass auch Sie genauso wenig die Verantwortung für eine Aussage eines Mitglieds der Grünen übernehmen können wie ich für ein Mitglied meiner Partei.
Vielmehr geht es darum, was von den Abgeordneten im
Plenum gesagt wird. Das sollte man ernst nehmen und
nicht das, was Sie zitieren.
({1})
Herr Kollege Dautzenberg, ich muss Sie noch einmal
unterbrechen. Auch die Frau Kollegin Hendricks möchte
mit Ihnen diskutieren.
Ja.
Herr Kollege Dautzenberg, ich wollte im Prinzip dieselbe Frage stellen wie Herr Kollege Schick. Herr
Schlarmann ist der Vorsitzende des Wirtschaftsrates der
CDU.
Nein, er ist Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung.
Ja gut, dann eben der Mittelstandsvereinigung. - Sie
sind stolz darauf, dass mehr Mitglieder von Ihnen in der
Mittelstandsvereinigung sind, als wir Mitglieder in der
ganzen Fraktion haben. Demnach müssten auch Sie alle
in der Mittelstandsvereinigung sein. Das nehmen wir zur
Kenntnis. Außerdem ist Herr Kollege Wanderwitz auch
Mitglied Ihrer Fraktion. Zu erwähnen ist auch der Kollege Schäffler aus der FDP-Fraktion, der besonders
sachkundig ist.
Ich habe diesbezüglich eine Frage an die Bundesregierung gestellt. Die Bundesregierung hat immerhin darauf geantwortet, dass sie sich diese Vorschläge nicht zu
eigen macht. Aber dass Bevormundung enthalten war,
wollen Sie doch nicht in Abrede stellen?
({0})
Wieso ist das eine Bevormundung? Aus Ihrer Tätigkeit als Parlamentarische Staatssekretärin im Finanzministerium wissen Sie, dass jeder für seine Aussage
verantwortlich ist. Dabei sollten wir es auch belassen.
({0})
Es wurde bereits richtigerweise angesprochen, dass
wir uns als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland
nicht dazu aufschwingen sollten - ich sage salopp: die
Backen dick aufzublasen -, Griechenland zu erzählen,
wie es sich verhalten solle. Dass wir erwarten, dass sie
die angekündigten Reformmaßnahmen im eigenen Land
durchsetzen, ist völlig klar. Darauf setzen wir. Griechenland ist am besten zu helfen, indem man hilft, dass es
sich selber helfen kann. Aber wir sollten uns nicht - das
klang schon an - aufspielen, sondern daran erinnern,
dass von Herrn Schröder und von Herrn Eichel als verantwortlichem Finanzminister in der Zeit der rot-grünen
Koalition das 3-Prozent-Kriterium des Stabilitätspaktes
nicht eingehalten werden konnte. Gegen uns wurde ein
Verfahren eröffnet, das zwischenzeitlich aufgeweicht
worden ist. Da muss man sich nicht wundern, wenn dieses Handeln Schule macht und andere Länder für sich in
Anspruch nehmen, ähnlich zu verfahren.
({1})
Man sollte behutsam mit diesem Thema umgehen und
den Griechen klarmachen, dass wir erwarten, dass sie
ihre Maßnahmen fortsetzen. Wir haben keine aktuelle
Äußerung des griechischen Ministerpräsidenten vorliegen, die besagt, dass er finanzielle Hilfe in Anspruch
nehmen will. Die Griechen werden auch dieses Jahr gut
ihre Schwierigkeiten meistern, wenn sie ihre Refinanzierungen für die fälligen Anleihen im April und im Mai tätigen. Wir sollten Griechenland dahin gehend unterstützen, dass diese Leistungen am Finanzmarkt möglich
werden.
Wenn man die Forderungen der Linken sieht, muss
man fragen: Wollen Sie das Verbot von Bail-out aufheben? Wollen Sie im Grunde Finanzierungshilfen der Nationalstaaten für den Haushalt Griechenlands? Wollen
Sie vielleicht sogar Anleihen auf europäischer Ebene
auflegen, um damit Griechenland zu helfen? Wo wollen
Sie die Einnahmen generieren, um die Anleihen bedienen zu können, wenn sie fällig werden? Wer soll das
übernehmen? Die Partner, die an der Finanzierung des
europäischen Haushalts beteiligt sind? Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrem Versuch, den deutschen Steuerzahler dazu zu bringen, dass er Ihre Auffassung teilt,
dass dies ein Weg ist, um Griechenland in dieser akuten
Situation zu helfen.
Was noch wichtiger ist: Sie wollen das zur Grundlage
einer Reform der Euro-Zone machen. Wir brauchen aber
genau das Gegenteil.
({2})
Aufgrund der Erfahrungen, die wir bei den jetzigen Vorgängen gemacht haben, wissen wir das. Man sollte den
Schöpfern des Euros nicht vorhalten, dass sie das 1998/
1999 und bei den Maastrichter Verträgen nicht berücksichtigt haben; denn es war damals nicht erkennbar, dass
Euro-Länder in eine Situation kommen können, in der
sie die Vorgaben der Stabilitätskriterien nicht einhalten
können. Aber die Lehre daraus muss sein, dass wir diese
Verträge weiterentwickeln. Bevor wir sie öffnen, müssen
wir aber sicher sein, dass wir mit den Staaten, die das betrifft, eine Reform durchbringen können, die dafür sorgt,
dass am Ende engere Maßstäbe hinsichtlich des Stabilitätskriteriums angelegt werden. Bevor man beginnt, darüber zu diskutieren, bevor man dieses Fass aufmacht,
muss man sicher sein, dass es nicht dazu kommt, dass
andere Länder in genau die andere Richtung gehen. Deshalb sollte man sich genau überlegen, wann man damit
beginnt. Es darf keine weitere Aufweichung stattfinden,
sondern es müssen Kriterien entwickelt werden, die dazu
beitragen, dass der Euro stabilisiert, dass diese Währung
im Grunde weiterentwickelt wird.
Eines ist doch wohl klar: Wenn wir die Währung Euro
nicht seit 1998 - in physischer Ausführung seit 2001 hätten, dann hätten wir all die Krisen, die wir seitdem erlebt haben - angefangen mit 9/11 - so nicht überstanden,
({3})
dann wäre in Europa gegen jede einzelne Währung spekuliert worden, auch gegen die dominierende Währung
in Europa, die D-Mark. Mit dem Euro haben wir schon
viele Krisen überstanden. Es wäre fatal, wenn wir diese
Währung jetzt nicht weiterentwickeln würden, sondern
Elemente zulassen würden, die ein Aushöhlen möglich
machen. Damit würden wir das Gegenteil von dem erreichen, was wir eigentlich erreichen wollen.
Deshalb ist das, was bisher vonseiten der Regierung
auch auf europäischer Ebene unternommen worden ist,
richtig. Der Beitrag unseres Finanzministers Wolfgang
Schäuble war so zu verstehen, dass auch er einen Instrumentenkasten haben will, um die Stabilität des Euros
weiter festigen zu können. Ihm geht es nicht darum, unter dem Stichwort „Europäischer Währungsfonds“ einen
Zahlungsausgleich, im Grunde ein Funding für schwächere Länder, in Europa zu entwickeln. Diesen Ansatz
sollten wir als Grundlage nehmen und uns nicht die
Empfehlungen der Fraktion Die Linke zu eigen machen;
denn dann würden wir in der Tat beim Staatsbankrott
landen.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Lothar Binding für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Leo Dautzenberg hat
eben Hans Eichel ins Gespräch gebracht. Ich will an etwas erinnern: Wir denken bei 13 Ländern an ein Defizitverfahren, 13 von 16 Ländern in der Euro-Zone.
({0})
- Das macht es nicht besser, erklärt aber ein bisschen,
dass es eine eingeschränkte Sicht ist, wenn man ein Land
hervorhebt. Nur Finnland, Luxemburg und Zypern sind
bisher nicht davon betroffen.
Herr Aumer hat vorhin einen wichtigen Satz gesagt:
„Sparen ist für die Griechen der einzig richtige Weg.“
Das zeigt einen falschen Denkansatz. Es gibt nicht den
einzig richtigen Weg. Es gibt nicht den einen Parameter,
den man nur ändern muss, und dann wird alles gut.
Manfred Zöllmer hat einen ganzen Strauß von notwendigen Dingen aufgezählt, über die Griechenland selbst
nachdenkt und möglicherweise anstoßen will. Vielleicht
könnte Griechenland auch wieder auf Vertrauen setzen,
vertrauensbildende Maßnahmen durchführen, um zum
Beispiel den - verglichen mit deutschen Staatsanleihen hohen Spread zu vermindern, um so die eigene Situation
zu verbessern.
Kollege Wissing hat vorhin ein Wort genannt; das
habe ich nicht verstanden. Er hat von Konsolidierungsanstrengungen in Deutschland gesprochen. Diese müssten ja irgendwo zu finden sein. Im Moment sind sie aber
nirgends zu finden. Die Staatsverschuldung ging viel
stärker als nötig in die Höhe.
({1})
Es gab eine Reihe von Klientelgesetzen, die nicht dem
Sparen geschuldet waren, sondern anderen Zielen. Es ist
erschreckend, wie wenig eine Regierung in fünf Monaten hinsichtlich der Konsolidierung schaffen kann.
({2})
Es gibt keine Perspektive für die Kommunen, keine
Perspektive für die Länder, es gibt auch keine Perspektive für den Bundeshaushalt, geschweige denn eine Perspektive für Europa. Ich glaube, es gibt außer dem „Kollisionsvertrag“, wie wir heute von Sabine Bätzing
gelernt haben, jetzt auch Kommissionen; diese sind aber
nicht zielführend.
Ähnlich reduziert ist dieser Antrag zu betrachten. Er
fängt mächtig an. Die Überschrift lautet: „Euro-Zone reformieren - Staatsbankrotte verhindern“. Dann kommen
zwei magere Seiten, die viele Denkfehler und Oberflächlichkeiten enthalten und dieser Überschrift überhaupt
nicht gerecht werden. Der mächtigste Satz steht gleich
am Anfang:
Die Europäische Währungsunion ist bedroht.
Einmal angenommen, der Bundestag würde so etwas
beschließen - manche Länder sind ja besonders bedroht -: Was ist eigentlich wichtig, wenn man eine Bonitätseinschätzung eines Landes vornimmt, Fundamentaldaten oder auch die Stimmung? Die subjektive Erwartung
und die Stimmung sind extrem wichtig. Wenn wir das machen würden, was Sie jetzt vorschlagen, könnte es zum
Beispiel sein, dass der Preis für CDS, Credit Default
Swaps, Kreditausfallversicherungen, plötzlich ansteigt.
Das Maß der Wahrscheinlichkeit einer Zahlungsunfähig3192
Lothar Binding ({3})
keit von Griechenland würde ansteigen. Was würde das
bedeuten? Der Preis für die CDS würde ansteigen. Was
würde das wiederum bedeuten? Die Wahrscheinlichkeit,
dass Griechenland schlecht eingestuft wird, würde steigen. Was würde das bedeuten? In der Erwartung der steigenden Kosten für CDS würden viele gekauft, und wenn
viele gekauft würden, würden die Kosten für die CDS
weiter ansteigen. Was würde dann mit Griechenland passieren? Es würde in gigantische Probleme geraten. Deshalb ist diese Art von Sätzen extrem gefährlich.
Aber wie einfältig - so will ich es nennen - dieser
Antrag vorgeht, erkennt man an einem weiteren Satz:
Die Probleme Spaniens … gehen auf unzureichende Steuereinnahmen sowie die staatlichen Rettungsmaßnahmen für Banken zurück.
Als ob es in Spanien keine anderen Probleme gegeben
hat! Ich will nur eines nennen: Wer sich den Bauboom er ist künstlich erzeugt - und den Wohnungsmarkt in
Spanien ansieht, der bekommt eine Ahnung davon, dass
es möglicherweise noch andere Ursachen gibt als die,
die in diesem so mächtig daherkommenden Antrag genannt werden.
In dem Antrag steht auch:
Deutschland betreibt … Steuerdumping bei den
Unternehmensteuern.
Jetzt frage ich mich: Warum haben wir uns eigentlich so
angestrengt, die Gewinnverlagerung zu verhindern? Das
haben Unternehmen in einem Steuerdumpingland doch
gar nicht nötig. Warum sollten sie Gewinne verlagern,
wenn es ihnen hier so gut geht? Das alles hat keinen
Sinn. Das zeigt, warum wir diesem Antrag nicht folgen
können.
Ich will noch eine monokausale Ableitung, die der
Antrag nahelegt, ansprechen. Es ist richtig: Die Reallöhne in Deutschland sollten steigen. Aber folgende
Maßnahmen sind eine zu einfache Ableitung: Reallöhne
erhöhen, Exportüberschuss senken, Leistungsbilanzdefizit in Griechenland ausgleichen, Verschuldung in Griechenland senken, Wohlstand in Griechenland steigern
und mit den Reallöhnen auch den Wohlstand in Deutschland steigern. Dies soll nach Ihrer Vorstellung einen
Wundereffekt bewirken, durch den es Europa plötzlich
besser geht.
({4})
- So einfach ist es leider nicht.
Dabei wird vergessen, was die anderen Staaten machen. Was machen eigentlich Unternehmen? Saniert
Griechenland? Sparen die Deutschen oder investieren
sie?
({5})
- Ihr habt es leider nicht kapiert, sonst hättet ihr euch gar
nicht getraut, den Antrag vorzulegen.
({6})
Man muss darauf hinweisen, dass Griechenland - das
weiß es natürlich selbst am Besten - sehr viel mehr über
die Lösung der eigenen Probleme nachdenken muss, als
es bisher der Fall war.
Ich will noch einen Satz sagen zur Idee gemeinsamer
Euro-Anleihen und der Idee, einen EWF einzurichten.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass solche Maßnahmen - wenn man nur wenig neben dem liegt, was
man machen müsste; Ihrem Antrag kann man allerdings
nicht entnehmen, was genau das sein könnte - auch Instrumente sein können, um Schulden zu verteilen. Das
kann auch dazu führen, dass Verantwortung sinkt. Warum gilt das dann nicht auch für andere Länder? Man
muss sich überlegen, was man damit erzeugt. Man mindert die Eigenverantwortung, und letztendlich werden
die Schulden in allen Ländern steigen. In der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass es so ist.
Die Summe der Argumente macht es notwendig, dass
wir Ihren Antrag ablehnen müssen.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1058 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie.
Ich lasse nun zuerst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Die Linke abstimmen, das heißt Federfüh-
rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvor-
schlag ist abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, das
heißt Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen?
- Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist ange-
nommen. Das heißt, die Federführung liegt beim Finanz-
ausschuss.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Riegert, Holger Haibach, Peter Altmaier, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga
Daub, Joachim Günther ({0}), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP
Haiti eine langfristige Wiederaufbauperspek-
tive geben
- Drucksache 17/1157 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche ZuVizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
sammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Zukunft für Haiti - Nachhaltigen Wiederauf-
bau unterstützen
- Drucksachen 17/885, 17/1214 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Harald Leibrecht
Thilo Hoppe
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heike
Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung
jetzt - Süd-Süd-Kooperation stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Tom Koenigs, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Haiti entschulden und langfristig beim Wiederaufbau unterstützen
- Drucksachen 17/774, 17/791, 17/1099 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Harald Leibrecht
Thilo Hoppe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann können
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Harald Leibrecht für die FDP-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Für jedes Land wäre ein Erdbeben in dem
Ausmaß, wie es in Haiti geschehen ist, verheerend. Für
ein Land, das zum Zeitpunkt des Erdbebens bereits ein
sogenannter Failed State, also ein gescheiterter Staat,
war und das bereits vor der Katastrophe zu 60 Prozent
auf Nahrungsmittelimporte angewiesen war, gilt das natürlich in ganz besonderem Maße. Es hat die Ärmsten
der Armen getroffen. Darum müssen wir dem Wiederaufbau des Landes eine Chance geben.
Wir müssen die Menschen und das Land jetzt so unterstützen, dass ein neuer, moderner und vor allem demokratisch fester Staat entstehen kann, ein Staat, der die
Menschenrechte und den Rechtsstaat achtet, der aber
auch auf wirtschaftlich festen Beinen steht und seine Zukunft wieder selbst in die Hand nehmen kann.
({0})
Es ist wichtig, dass sich die vielen Hilfsorganisationen und vor allem die Geber auf der Wiederaufbaukonferenz in New York bei ihren Hilfsmaßnahmen eng abstimmen, damit der bestmögliche Effekt und somit die
größtmögliche Hilfe für die Menschen in Haiti erzielt
werden. Deutschland und seine europäischen Partner
müssen auf der Konferenz geschlossen auftreten, und die
EU muss mit einer Stimme sprechen.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute drei
Anträge, in denen es um die Frage geht, wie die deutsche
Hilfe für Haiti aussehen sollte. Die Linken meinen leider, das Schicksal Haitis dafür nutzen zu müssen, um
einmal mehr antiamerikanische Ressentiments zu schüren und dieses Thema damit unnötigerweise zu ideologisieren. Der Antrag der Linken impliziert, dass es sich
beim amerikanischen Engagement um eine Besatzung
Haitis handelt. Dabei war es die Regierung von Haiti
selbst, die nach dem Beben die USA um Hilfe gebeten
hat. Wir Liberale jedenfalls begrüßen das Engagement
der USA in Haiti, ohne das die umfangreiche humanitäre
Hilfe und die Sicherheit im Land nicht so schnell hätten
gewährleistet werden können.
({1})
Ein Land, das schätzungsweise 300 000 Tote zu beklagen hat, braucht dringend Hilfe und keinen ideologischen Streit. Haiti braucht jetzt eine langfristige Wiederaufbauperspektive. Hilfe für die Betroffenen kommt
derzeit nur von außen und kann auch nur von außen logistisch koordiniert werden. Daher begrüßen wir auch
das Engagement der Vereinten Nationen.
Im gestrigen Expertengespräch im Ausschuss wurden
von allen Fachleuten zwei Punkte besonders unterstrichen: erstens die Notwendigkeit einer langfristigen Unterstützung für Haiti und zweitens die Zusammenarbeit
mit der Regierung bei gleichzeitiger Einbeziehung der
Zivilgesellschaft. Wenn die Hilfe von außen nicht im Inneren des Staates und in seiner Gesellschaft verankert
wird, schaffen wir nur neue Abhängigkeiten und nicht
den so dringend benötigen Neuaufbau.
Die Bundesregierung hat nach der Katastrophe
schnell gehandelt und zunächst 17 Millionen Euro für
Maßnahmen der humanitären Hilfe bereitgestellt. Unter
anderem setzte die GTZ mit diesem Geld den Bau von
1 400 Einfachhäusern für etwa 7 000 Menschen um. Insgesamt unterstützt Deutschland die Maßnahmen zur unmittelbaren Nothilfe und zum Wiederaufbau mit insgesamt 179 Millionen Euro. Das ist sehr viel Geld. Auch die
Menschen hierzulande haben mit ihrer Hilfsbereitschaft
Fantastisches geleistet und annähernd 200 Millionen Euro
gespendet. Das ist das höchste Spendenvolumen in ganz
Europa. Hierfür danke ich meinen Landsleuten.
({2})
Wichtig ist jetzt, in Haiti kein Vakuum zwischen der
humanitären Soforthilfe, der Nothilfe, dem Wiederaufbau und der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit
entstehen zu lassen. Einige wichtige Aspekte müssen
beim Wiederaufbau des Landes beachtet werden. Diese
möchte ich hier kurz unterstreichen: Das Wichtigste ist,
die Infrastruktur wiederherzustellen. Dazu zählen die
Häfen, die Flughäfen, die Hauptstraßen und die Wasserversorgung. Außerdem muss die Basis für ein funktionierendes Staatswesen gelegt werden. Dazu gehören eine
gute Regierungsführung, Eigenverantwortung und die
Stärkung der Zivilgesellschaft.
Zu den wichtigen Aspekten gehört aber auch, Haiti zu
entschulden. Deutschland hat es bereits getan. Zusammen mit den G-7-Staaten muss sich die Bundesregierung
bemühen, so schnell wie möglich eine Lösung zum Erlass der noch ausstehenden Schulden beim Internationalen Währungsfonds, bei der Weltbank und bei der Interamerikanischen Entwicklungsbank zu finden.
Ich bin überzeugt, dass wir mit den soeben genannten
Schritten den richtigen Weg einschlagen hin zu einem
nachhaltigen Wiederaufbau Haitis, zu einem Haiti, das
in die Weltgemeinschaft zurückfindet, zu einem Land, in
dem die Menschen wieder Perspektiven haben und von
ihrer Not befreit werden. Hierzu können Deutschland
und Europa einen ganz wichtigen Beitrag leisten. Die
Bundesregierung ist bereit, diesen Beitrag zu leisten, und
hat bereits erste Schritte in diese Richtung unternommen. Dafür möchte ich mich bei dieser Gelegenheit bedanken.
({3})
Derzeit hören wir immer wieder von illegalen Adoptionen in Haiti. Das ist ein sehr dunkles Thema, das gerade in schwierigen Zeiten, in Zeiten der Not immer wieder aktuell wird. Ich möchte an dieser Stelle die
Bundesregierung auffordern, in diesem Punkt gemeinsam mit Hilfsorganisationen tätig zu werden und nicht
zuzusehen, wie Kinder aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden, was oft auf falsch verstandenen guten Willen und falsch verstandene Hilfsbereitschaft zurückzuführen ist. Wenn wir hier eine Milderung oder
vielleicht sogar den Stopp dieser illegalen Adoptionen
erreichen könnten, wäre viel getan.
Ich danke Ihnen.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Sascha Raabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! In Haiti, einem Land mit einer Bevölkerung von
10 Millionen Menschen, gab es 230 000, vielleicht sogar
300 000 Tote. Das sind 3 Prozent der Bevölkerung. Auf
Deutschland umgerechnet wären das 2,4 Millionen Tote.
Das ist ein unfassbares Leid und eine Tragödie, die wir
uns kaum vorstellen können, und das in einem der ärmsten Länder der Erde. Deswegen geht in der heutigen Debatte das Mitgefühl aller Fraktionen an die Angehörigen
der Opfer.
({0})
Ich glaube, dass sich die Entwicklungspolitiker aller
Parteien in diesem Haus einig in der Feststellung sind,
dass das eine Tragödie ist. Normalerweise eignet sich ein
solches Unglück auch nicht für eine parteipolitische
Auseinandersetzung. Aber der Bundestag ist kein Kirchentag, und es reicht auch nicht aus, wenn wir uns in
diesem Hohen Hause gegenseitig unserer Betroffenheit
versichern - wir müssen handeln.
Ich habe persönlich lange gezögert mit Kritik an der
Bundesregierung, weil ich mir gewünscht hätte, dass ich
als Oppositionspolitiker gemeinsam mit den Politikern
der anderen Parteien ein Lob hätte aussprechen können,
wie es Politiker aller Parteien gemacht haben in einer
vergleichbaren Situation: als 2004 bei dem Tsunami in
Südostasien 220 000 Menschen ums Leben gekommen
waren. Da hat die rot-grüne Bundesregierung 500 Milliarden Euro zugesagt.
({1})
- 500 Millionen Euro.
Nach dem Erdbeben auf Haiti waren es zunächst
7 Millionen Euro, dann 9 Millionen Euro, dann 17 Millionen Euro. Das sind lediglich 3,4 Prozent des Geldes,
das damals bei einer vergleichbaren Katastrophe zugesagt wurde. Auch wenn zu den genannten 17 Millionen
Euro noch deutsche Anteile aus multilateralen Beiträgen
wie der EU-Soforthilfe kommen, ist das angesichts des
Ausmaßes der Katastrophe viel zu wenig. Bei der Anhörung im Ausschuss, die am Mittwoch stattfand, haben
die Vertreter der zivilen Hilfsorganisationen dies kritisiert und gesagt, dass die Bundesregierung auf diesen
Beitrag nicht stolz sein kann.
({2})
Stolz sein können wir hingegen auf unsere Bürgerinnen und Bürger, auf die Kinder, auf die Schülerinnen
und Schüler, die insgesamt 200 Millionen Euro gespendet haben. Dieses Geld haben die Menschen von ihrem
zum Teil kleinen Einkommen abgezwackt. Darauf können wir stolz sein, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({3})
Wenn man das vergleicht, sieht man, wie gering das
Engagement der Bundesregierung ist. Darauf können
wir leider - ich sage wirklich: leider - nicht stolz sein.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bei den Haushaltsberatungen einen Sonderfonds für den Wiederaufbau
Haitis beantragt mit Barmitteln in Höhe von 150 Millionen Euro und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe
von 130 Millionen Euro. Leider wurde dieser Sonderfonds von der Regierungskoalition, von CDU/CSU und
FDP, abgelehnt.
Nachdem wir diesen Antrag gestellt hatten, hat Entwicklungsminister Niebel selbst erkannt, dass die bisher
zur Verfügung gestellten Mittel nicht ausreichen. Er hat
in einem Brief an die Haushälter der Fraktionen um die
Einrichtung eines Sonderfonds, wie wir ihn gefordert haben, gebeten, wenngleich nur ausgestattet mit Barmitteln
in Höhe von 25 Millionen Euro und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 91 Millionen Euro - aber immerhin. Ich zitiere aus dem Brief von Minister Dirk
Niebel:
Mit möglicherweise bis zu 300 000 Toten,
250 000 Verletzten und rd. 1,2 Mio. Obdachlosen
haben die Folgen dieses Erdbebens das Ausmaß der
Tsunamikatastrophe des Jahres 2004 erreicht.
Deutschlands internationale Glaubwürdigkeit und
Hilfsbereitschaft werden an unserer Reaktion auf
dieses Unglück gemessen werden.
Weiter heißt es:
Um sich angemessen an der internationalen Hilfe für
Haiti beteiligen zu können, ist die Ausbringung zusätzlicher Verpflichtungsermächtigungen in Höhe
von 91 Mio. € sowie die Erhöhung der Baransätze
um 24 Mio. € erforderlich.
Minister Niebel schließt mit den Worten:
Um die notwendige Flexibilität im Rahmen des
noch laufenden Abstimmungsprozesses in der EU
und im sonstigen internationalen Geberkreis zu sichern und entsprechend der sehr guten Erfahrungen
mit dem „Tsunami-Titel“ empfiehlt sich die Schaffung eines eigenen „Haiti-Wiederaufbautitels“.
Richtig, Herr Minister.
Doch was ist mit Ihrem Antrag passiert? Die Kollegen von FDP und CDU/CSU haben ihn abgelehnt. Sie
sind mit Ihrem guten Vorhaben kläglich gescheitert. Ich
sage an die Kollegen von CDU/CSU und FDP gerichtet:
Damit haben Sie nicht nur Ihrem Minister einen Bärendienst erwiesen, da haben Sie auch den Ärmsten der Armen in Haiti einen Bärendienst erwiesen. Das war falsch
und schändlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Ich frage mich auch: Wo war die Kanzlerin? Immer
wieder hat sie sich bei Fernseh-Spendengalas für Haiti
feiern lassen, schon immer hat sie auf Kirchentagen oder
bei anderen Anlässen betont, wie wichtig ihr die Ärmsten der Armen seien. Aber wenn es darauf ankommt, zu
handeln, dann taucht sie ab.
Selbst wenn die Bundesregierung auf der internationalen Geberkonferenz Ende des Monats neue Zusagen
für den internationalen Hilfsfonds für Haiti geben sollte,
wären diese nicht mehr zusätzlich - das hätten wir nur im
Rahmen der Haushaltsberatungen erreichen können -,
sondern gingen zulasten der Zusagen gegenüber anderen
Staaten, zum Beispiel afrikanischen Staaten. Wir dürfen
die Ärmsten der Armen nicht gegeneinander ausspielen,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Jeden Tag sterben 24 000 Menschen, vor allem Kinder, an den Folgen von Hunger und Armut. Das ist alle
zehn Tage ein stiller Tsunami oder ein Erdbeben vom
Ausmaß des Erdbebens auf Haiti.
Um diesen Menschen ein selbstbestimmtes Leben
ohne Hunger und Armut zu ermöglichen, müssen wir
insgesamt mehr Mittel und Hilfe geben. Die Kanzlerin
hatte sich ja auch dazu verpflichtet, 0,51 Prozent des
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Ich mache gerne einen
Werbeblock für die Regierung in dem Sinne, dass ich
aus einer Rede der Kanzlerin zitiere. In der Regierungserklärung 2005 sagte die Kanzlerin:
Wir haben uns deshalb dazu verpflichtet, … bis
2010 mindestens 0,51 Prozent … des Bruttoinlandsprodukts für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufzubringen. Ich weiß, was ich da
sage.
Das hat sie damals gesagt. Offensichtlich wusste sie
nicht, was sie sagt; denn sie hat ihr Versprechen bei den
diesjährigen Haushaltsberatungen eiskalt gebrochen.
Wir werden mit 0,4 Prozent weit unter dem Ziel liegen.
Die Steigerungen sind geringer, nämlich nur ein Viertel
dessen, was in den Jahren zuvor unter unserer Ministerin
zur Verfügung gestellt worden ist, und das in einem Jahr,
in dem die ärmsten Länder besonders hart von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen sind. Selbst das unfassbare Unglück in Haiti hat die Kanzlerin nicht zur
Einhaltung ihres Versprechens bewegen können. Was
muss denn noch passieren?
Dazu, dass man so kaltblütig ein Versprechen bricht,
sage ich: Ich bin enttäuscht von Frau Merkel. Gemessen
an der Zahl der ärmsten Menschen, denen sie das Versprechen gegeben hat, nämlich 1 Milliarde hungernder
Menschen, ist das für mich persönlich der größte Wortbruch einer Kanzlerin, den es je gegeben hat.
({6})
Herr Fischer, es hat konkrete Auswirkungen, dass
diese Mittel fehlen. Das gilt nicht nur bezogen auf die
Nothilfe, sondern auch bezogen auf die Zukunft Haitis;
denn wir reden hier nicht nur von irgendwelchen Zahlen.
Vielmehr hat uns im Ausschuss auch der Vertreter der
KfW-Entwicklungsbank gesagt, dass aufgrund der Tatsache, dass die Regierung nur so klägliche Mittel zur Verfügung stellt - zum Beispiel für die Zukunft Haitis -,
Aufforstungsprogramme, die man geplant hat, jetzt ge3196
stoppt wurden, weil man das Geld für die Nothilfe gebraucht hat.
Herr Kollege.
Wer sich Haiti von oben angeguckt hat, der wird festgestellt haben, dass in Haiti alles abgeforstet ist. Nur
noch 1 Prozent des Landes ist Wald, während in der Dominikanischen Republik noch viele Wälder sind. Dort ist
quasi fast eine Mondlandschaft. Deswegen wäre es ganz
wichtig, dass wir den Menschen vor Ort auch mit deutschen Hilfsmitteln - zum Beispiel mit „Cash for Work“ die Möglichkeit geben, dort Aufforstung zu betreiben.
Dann würden sie - bei 80 Prozent Arbeitslosigkeit in
diesem Land - auch ein Einkommen haben, und wir
würden einen Beitrag für die Zukunft leisten.
Deswegen sage ich: Wir müssen hier endlich mehr
tun; wir müssen vorangehen.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Herr
Günther möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Kollege Raabe, Sie hinterlassen hier den Eindruck, Deutschland stelle zu wenig Mittel zur Verfügung.
({0})
Ich muss Sie fragen: Waren Sie nicht in der Ausschusssitzung dabei, in der alle Fachexperten erklärt haben, dass, international gesehen, genügend Mittel für
Haiti zur Verfügung stehen, dass es dort eine korrupte
Regierung gibt, dass deshalb versucht werden sollte,
diese Mittel effektiv einzusetzen, und dass in dieser
Phase mit Sicherheit dann auch von Deutschland die
Chance wahrgenommen wird, wenn es notwendig ist,
weitere Mittel bereitzustellen?
Etwas anderes stand nie zur Debatte, und ich glaube,
dass die Mittel, die Deutschland zur Verfügung gestellt
hat, in der jetzigen Situation völlig ausreichend sind.
Herr Kollege, es tut mir leid, dass ich Ihnen sagen
muss - Sie sind ja von der FDP -, dass Ihr Minister Ihnen da weit voraus ist. Ihr Minister hat das genauso wie
wir erkannt. Es geht nicht in erster Linie um die Mittel
der Nothilfe. Es geht darum, dass wir für den langfristigen Wiederaufbau Mittel brauchen. Deswegen haben wir
damals nach dem Tsunami ja auch nicht gesagt, dass wir
500 Millionen Euro in zwei Monaten irgendwo „verbraten“ wollen, sondern wir haben damals gesagt: Wir brauchen nach so einer Katastrophe mehrere Jahre, um die
Region wieder aufzubauen.
Deswegen haben wir als SPD-Fraktion gesagt - darum geht es mir mit Blick auf die Mittel, die fehlen -,
dass wir für die nächsten Jahre einen ähnlich hohen Betrag zur Verfügung stellen müssen. Das hat ja sogar auch
Ihr Minister erkannt. Jetzt widersprechen Sie ihm; Sie
fallen ihm in den Rücken. Er hat ja selbst gesagt: Es ist
zu wenig Geld für die nächsten Jahre zugesagt worden.
Herr Kollege, wir müssen doch jetzt die Weichen für
die Zukunft stellen, und wir müssen gerade jetzt dafür
sorgen, dass zum Beispiel wieder Bäume gepflanzt werden, weil wir so etwas gegen die Erosion tun können,
weil Häuser ansonsten wegrutschen und weil auch die
Auswirkungen eines Sturmes anderenfalls viel größer
sind.
Deswegen brauchen wir jetzt auch für die gute Regierungsführung, die Sie angesprochen haben, Mittel, damit
man einen Rechtsstaat aufbauen kann, damit Flächen in
ein Kataster aufgenommen werden können, damit es
Landtitel gibt und damit wir auch die Zivilgesellschaft
und die Kommunen dort mit Dezentralisierungsprojekten einbinden können. Dafür brauchen wir einen langfristigen Plan und langfristige Mittel. Darum geht es mir
hier.
Auch Ihr Minister sagt: Da hat die Bundesregierung
zu wenig getan. - Hier stimme ich ihm ausnahmsweise
zu. Das heißt aber nicht, dass sich die Regierung aus der
Verantwortung dafür stehlen kann, dass sie hier bisher so
kläglich versagt hat.
Herr Kollege Raabe, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, dieses Mal vom Kollegen Fischer?
Gerne.
Herr Kollege Raabe, Sie haben darauf hingewiesen,
wie sich die entwicklungspolitische Situation in Haiti
bereits vor dem Erdbeben dargestellt hat und dass bereits
zu diesem Zeitpunkt zu wenig getan worden ist. Können
Sie mir erklären, warum Sie in der Großen Koalition
nicht den Antrag gestellt haben, Haiti in die Länderliste
des BMZ aufzunehmen, damit dort ganz spezielle Programme aufgelegt werden können?
Herr Fischer, das erkläre ich Ihnen gerne. Ich möchte
Sie auch daran erinnern,
({0})
dass es Ihre Fraktion war, die bei der Aushandlung des
Koalitionsvertrags darauf gedrungen hat, die Liste der
Partnerländer stark zu verkleinern und in diesem Zusammenhang immer darauf zu achten, dass eine gute Regierungsführung gegeben ist.
({1})
Im Fall Haiti war der Staat in den Jahren vor dem
Erdbeben leider unstrittig fragil; es gab kaum funktionierende Verwaltungsstrukturen. Wir hatten auch keine Ansprechpartner, um eine normale staatliche Entwicklungszusammenarbeit durchzuführen. Deswegen haben wir
uns dort über die zivilen Organisationen und im Rahmen
unserer multilateralen Beteiligung weiter engagiert.
Aber wir haben immer gesagt: Wenn eine Regierung gebildet wird, der wir vertrauen können,
({2})
bei der wir das Gefühl haben, dass sie die Mittel für die
Menschen einsetzt, dann werden wir die entsprechenden
Mittel auch zur Verfügung stellen.
Herr Kollege Fischer, Sie sind ja auch ein langjähriger Experte, Sie erinnern sich sicherlich: Nach dem Tsunami gab es in Indonesien zum Beispiel in der Region
Banda Aceh große Konflikte zwischen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen. Diese Katastrophe damals hat
aber auch die Chance eröffnet, die Konfliktparteien wieder ein Stück weit zu versöhnen. Zumindest in dieser
Region wurde ein positiver Versöhnungsprozess eingeleitet. Ich wünsche mir, dass wir es gemeinsam schaffen,
Herr Kollege, die Regierung in Haiti vor dem Hintergrund der Katastrophe zu der Einsicht zu bewegen, dass
sie mehr für die Menschen tun muss. Ich wünsche mir,
dass wir es schaffen, eine Zivilgesellschaft mit einer Opposition aufzubauen, sodass nach freien Wahlen eine
bessere Regierungsführung möglich ist.
Deswegen widerspreche ich ausdrücklich der Aussage des Entwicklungsministers, der in seinem Brief
schreibt, Haiti solle kein Partnerland mehr werden. Wir
wollen, dass die Liste unserer Partnerländer alle zwei bis
drei Jahre überprüft wird. Da wir uns nach der Katastrophe in Haiti dort mindestens vier bis fünf Jahre engagieren müssen, Herr Kollege Fischer, müssen wir Haiti
auch wieder als Partnerland aufnehmen. Wir müssen dafür sorgen, dass dort in Zukunft demokratische Strukturen vorherrschen.
({3})
Zu der alten Regierung, Herr Fischer, muss man sagen: Der Präsident ist nach dem Erdbeben erst einmal für
zwei bis drei Monate abgetaucht.
({4})
Einer solchen Regierung sollten wir als Partnerland
keine staatlichen Mittel zur Verfügung stellen. Deswegen müssen wir jetzt gemeinsam versuchen, die Ziele zu
erreichen. Denn wir wollen ja nicht einer Regierung helfen, sondern den Menschen. Deswegen glaube ich, Herr
Kollege, dass wir Haiti in Zukunft wieder als Partnerland in die Liste aufnehmen sollten - allerdings nur unter
der Bedingung, dass dort faire und demokratische Verhältnisse vorherrschen und unsere Mittel auch bei den
Ärmsten der Armen ankommen.
({5})
In diesem Sinne legt unser Antrag sehr viel Wert auf
Dezentralisierung, Demokratisierung und den Aufbau
rechtsstaatlicher Strukturen. Wir fordern ganz ausdrücklich, dass die Zivilgesellschaft an der Verteilung der Mittel, die der Internationale Währungsfonds verwalten
wird, beteiligt wird. Nicht nur die haitianische Regierung und die Geberländer sollen beteiligt werden, sondern die Zivilgesellschaft sollte diese Mittel mitverwalten und in einem Beirat oder anderen Gremium
mitbestimmen können, wohin die Mittel fließen. Das ist
ein sehr wichtiger Punkt unseres Antrags.
Wir fordern eine langfristige Perspektive. Dazu gehört es übrigens auch, die Landwirtschaft in Haiti zu fördern, sodass die Menschen von ihren eigenen Agrarprodukten leben können. Wie war denn die Situation in
Haiti? - Vor noch ungefähr 20 Jahren hat sich Haiti mit
Lebensmitteln vollständig selbst versorgt. Dann kamen
hochsubventionierte Importe aus den USA, und der
Reisanbau und die Hühnerzucht sind zusammengebrochen. Es kam zu Abrodungen, sodass die landwirtschaftlichen Flächen schlechter geworden sind.
({6})
Diese beiden Faktoren haben dazu geführt, dass Haiti
zurzeit von Lebensmittelimporten abhängig ist, obwohl
es von den klimatischen Verhältnissen her durchaus
möglich wäre, alle Menschen mit dort angebauten Lebensmitteln zu versorgen.
Deswegen sage ich - auch an die Bundesregierung
gerichtet -: Wir brauchen eine kohärente Entwicklungspolitik. Das bedeutet, dass mit den Agrarexportsubventionen und den internen handelsverzerrenden Unterstützungen Schluss sein muss. Wenn ich daran denke, dass
die Landwirtschaftsministerin Aigner im letzten Jahr
Agrarexportsubventionen bei Milchpulver zugestimmt
hat
({7})
und wir die gleichen Fehler, die in Haiti gemacht wurden, in anderen Ländern dieser Welt wiederholen, muss
ich sagen: Es muss Schluss sein mit Agrarexportdumping. Wir brauchen endlich faire Handelsbedingungen
für Haiti und alle Entwicklungsländer.
({8})
Ich möchte abschließend festhalten, dass wir aus meiner Sicht zum einen eine schlechte Regierungsführung in
Haiti genauso wie in Afrika nicht zum Vorwand nehmen
dürfen, keine Mittel zu vergeben, zum anderen aber auch
- das sage ich mit Blick auf die Anträge der anderen Parteien - Anreize setzen müssen, dass dort Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit Einzug halten.
Ich glaube, wir haben einen umfassenden Antrag vorgelegt, der sehr stark auf Demokratisierung und Dezentralisierung, aber auch auf einen langfristigen Wiederaufbau setzt, damit künftig Katastrophen wie in Haiti
kein so schlimmes Ausmaß mehr annehmen können. Wir
werden Erdbeben nicht verhindern können, aber dass in
Chile ein vergleichbar starkes Erdbeben ein paar Hundert Todesopfer gefordert hat, während es in Haiti zu
300 000 Toten geführt hat, zeigt, dass ein Großteil der
Katastrophe von Menschen gemacht ist. Wir alle in diesem Hause sollten ein gemeinsames Interesse daran haben, dass das in Zukunft verhindert wird. Ich lade Sie
alle dazu ein, dass wir gemeinsam daran mitwirken, die
Zukunft Haitis in eine gute Richtung zu lenken.
Vielen Dank.
({9})
Klaus Riegert von der CDU/CSU-Fraktion ist nun der
nächste Redner.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Haiti
wurde einmal die „Perle der Karibik“ genannt. Im
18. Jahrhundert hat Haiti 60 Prozent des Kaffees und
40 Prozent des Zuckers für Europa angebaut und geliefert. Allerdings haben einige wenige Weiße die Schwarzen versklavt. Die Lebenserwartung der versklavten Bevölkerung betrug im Durchschnitt etwa 21 Jahre.
Zwischen 1825 und 1947 wurden Haiti von der Kolonialmacht Frankreich Entschädigungszahlungen im Wert
von umgerechnet 22 Milliarden Dollar aufgezwungen.
Zwischen 1957 und 1986 haben die Duvaliers, bekannt
als „Papa Doc“ und „Baby Doc“, ihr Unwesen getrieben
und das Land geknechtet und unterdrückt. Danach kamen Wirren, Putsche, blutige Unruhen, das militärische
Eingreifen der USA und regelmäßig Naturkatastrophen
wie Wirbelstürme und Überschwemmungen hinzu.
Dieses Land wurde im Januar von einem schrecklichen
Erdbeben mit bis zu 300 000 Toten heimgesucht - die genaue Zahl der Toten konnte nicht festgestellt werden -,
mit über 310 000 Verletzten und 1 Million Obdachlosen.
Wir stehen in der Tat in dem Zielkonflikt, dass es in
Haiti auf der einen Seite nur eine schwache bis gar nicht
vorhandene Regierung und keine Zivilgesellschaft in unserem Sinne gibt, aber auf der anderen Seite die Gebergemeinschaft nicht gegen die Interessen der Menschen
handeln soll. Damit haben wir ein riesengroßes Problem,
das man sicherlich nur behutsam angehen kann. Das
braucht seine Zeit.
Der Wiederaufbauplan, der erstellt worden ist, beziffert die Kosten in den nächsten drei Jahren mit 8,3 Milliarden Euro. Ich zitiere aus der Zeit vom 21. Januar:
Staatsaufbau heißt nicht, einem schwer traumatisierten Land innerhalb kurzer Zeit ein Mehrparteiensystem samt parlamentarischer Geschäftsordnung hinzustellen. Staatsaufbau bedeutet, Straßen
und Krankenhäuser zu bauen, Polizisten und Richter auszubilden. Also ein Minimum an Sicherheit
zu schaffen, damit eine Bevölkerung von 10 Millionen Überlebenskünstlern, Haitis einzige Ressource,
sich möglichst schnell selbst helfen kann.
({0})
So weit das Zitat aus der Zeit.
Die Bundesregierung hat mit 17 Millionen Euro für
humanitäre Soforthilfe schnell geholfen. Ich bin schon
etwas enttäuscht, lieber Kollege Raabe, dass Sie die mittel- und langfristigen EU-Zusagen in Höhe von 84 Millionen Euro, die wir gegeben haben, nicht erwähnt haben,
({1})
sondern mit Blick auf die 17 Millionen Euro so getan haben, als hätten wir nichts gegeben. Wir sind auch für die
private Hilfe in Höhe von fast 200 Millionen Euro dankbar. Das wurde schon erwähnt; für dieses Engagement
kann man unseren Bürgern nur herzlich danken.
({2})
Ebenso vorbildlich haben wir die Entschuldung vorangetrieben. Bilateral hat Deutschland die Schulden erlassen. Wir fordern die anderen Länder auf, es uns
gleichzutun, und wir sind der Meinung, dass der Internationale Währungsfonds, die Interamerikanische Entwicklungsbank und die Weltbank ebenfalls über entsprechende Schuldenerlasse nachdenken sollten.
Wie sieht jetzt die Zukunftsperspektive aus? Ich
denke, mit „build back better“ ist gut beschrieben, wie
vorher der Zustand war und vor welcher riesigen Aufgabe wir hier stehen. Dies bedeutet zum einen eine Koordinierung der Hilfen. Deswegen setzen wir auf die
Wiederaufbaukonferenz am 31. März in New York. Wir
wollen, dass verlässliche Strukturen geschaffen werden.
Auf der anderen Seite muss der Demokratisierungsprozess mit den Menschen und der dortigen Regierung vorangebracht werden. An dieser Stelle war Ihre Rede
reichlich naiv, lieber Kollege Raabe, weil es im Hinblick
auf ein Land, das bisher Unterdrückung und Diktatur erlebt hat, naiv ist, zu glauben, aus den Trümmern entstehe
plötzlich eine demokratische Kultur. Auch da werden
wir langen Atem brauchen.
({3})
- Das Ziel habe ich gerade so formuliert; da sind wir uns
dann wieder einig.
Initiativen wie „Cash for Work“, Mikrokreditprogramme und Investitionen, auch private, brauchen wir in
Haiti. Außerdem sollten wir schon klar sagen, dass wir
die Chancen ergreifen müssen, und zwar vom Tourismus
bis zum UNO-Sonderbeauftragten Bill Clinton. Es gibt,
glaube ich, keine professionelleren Spendensammler als
ehemalige amerikanische Präsidenten. Da sollten wir die
Chancen ergreifen.
Den Dank an die UNO hat der Kollege Leibrecht
schon ausgesprochen. Die UNO-Hilfsmission wurde bei
dem Erdbeben stark betroffen und hat deswegen einige
Tage gebraucht, um die Lage in den Griff zu bekommen.
Deshalb gilt der UNO erst recht der Dank für die Hilfe,
die dort geleistet wird.
Ich zitiere noch einmal die Zeit vom 28. Januar:
Haiti könnte als positives Beispiel für Staatsaufbau
in die Geschichte eingehen, wenn die Lehren aus
vergangenen Fehlern beherzigt werden. Zu den
wichtigsten gehören: Kurzfristige Nothilfe und
langfristiger Wiederaufbau müssen gemeinsam geplant werden. Und: Nichts geht ohne die Bevölkerung …
Wenn die Zusammenarbeit zwischen Geberländern,
Hilfsorganisationen, Staat und Zivilgesellschaft
nicht funktioniert, dann zementiert internationale
Hilfe ebenjene soziale Ungleichheit, die schon vor
der Naturkatastrophe herrschte.
Viel Spielraum für Irrtümer bleibt nicht - auch
nicht bei der Nothilfe. Im Mai beginnt die Hurrikan-Saison.
So weit die Zeit.
Deshalb sind wir froh, dass es einen Wiederaufbauplan gibt, den 150 haitianische Regierungsbeamte und
90 internationale Experten gemeinsam entworfen haben.
Er stellt eine gute Arbeitsgrundlage dar.
So grundlegend wie jetzt in Haiti ist ein Staatsaufbau
noch nie versucht worden. Aber er kann gelingen, wenn
die internationale Gemeinschaft genügend langen Atem
beweist. Hierzu wollen wir die Bundesregierung mit unserem Antrag ermuntern.
Lieber Sascha Raabe, wenn das keine parteipolitische
Rede war, die Sie gerade gehalten haben, dann bin ich
gespannt, wie es sein wird, wenn Sie hier einmal eine
parteipolitische Rede halten.
({4})
- Ja, Sie sind nicht in der Kirche; aber wir haben vier
Anträge vorliegen. Ich habe im Ausschuss schon gesagt,
dass ich es nicht verstehe, dass es uns bei den geringfügigen Unterschieden, um die es da geht - sie machen
sich nur an einem Sondertitel fest; ansonsten muss man
die Unterschiede ja krampfhaft suchen -,
({5})
nicht gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag vorzulegen, zumal wir auf der einen Seite in der letzten Woche
beim Haushalt über 80 Milliarden Euro Neuverschuldung diskutiert haben - das haben Sie in der Generaldebatte kritisiert und trotzdem für jeden Einzelhaushalt
neue Mittel gefordert - und auf der anderen Seite am
31. März die Wiederaufbaukonferenz haben werden. Da
wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass die
EU mit einer Stimme spricht. Wir werden im Rahmen
der internationalen Gemeinschaft unseren Beitrag leisten
und die auf uns entfallenden Mittel zusätzlich zu den bis
jetzt zugesagten Mitteln bereitstellen.
Ich verstehe nicht, dass wir uns bei einer solch wichtigen Sache immer wieder auseinandersetzen, obwohl wir
gemeinsam der Meinung sind, dass man bei einem gebeutelten Land wie Haiti einen langen Atem haben muss
und man die Menschen dort nicht vergessen darf, wenn
das Fernsehen, die Medien nach vier Wochen nicht mehr
hinschauen. Sie können das aber noch heute heilen, indem Sie unserem guten Antrag zustimmen. Dazu darf
ich Sie herzlich auffordern.
In diesem Sinne danke ich.
({6})
Für die Fraktion Die Linke hat Heike Hänsel das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Bei dem schweren Erdbeben in Haiti am 12. Januar sind
wahrscheinlich bis zu 300 000 Menschen ums Leben gekommen; meine Vorredner haben das erwähnt. Das ist
eine unvorstellbare Zahl; damit ist unvorstellbares Leid
verbunden. Mehr als 350 000 Menschen wurden zum
Teil schwer verletzt. Große Teile der Infrastruktur des
Karibik-Staats wurden durch die Erdstöße zerstört.
Mittlerweile sind die meisten Journalisten wieder weg
und die Kameras abgeschaltet, doch in Haiti beginnt ein
neuer Albtraum: die Regenzeit. Ganze Landstriche haben sich bereits in Teiche verwandelt, andere Regionen
sind mit aufgeweichter Erde überzogen, Erdrutsche drohen. Auch ohne Kameras und Berichterstattung steht
fest: Die Menschen in Haiti brauchen noch für lange Zeit
unsere Solidarität.
({0})
Herr Kollege Riegert, hier unterscheiden sich unsere Anträge: Wir fordern mehr Geld für Haiti und einen Sondertitel, um eine langfristige Hilfe zu gewähren. Das
steht in Ihrem Antrag eben nicht.
({1})
Experten schätzen die Schäden auf bis zu 14 Milliarden Dollar. Die Bundesregierung hat bisher die Bereitstellung von 17 Millionen Euro für Haiti beschlossen.
Zudem gibt es im gerade verabschiedeten Haushalt keinen Sondertitel, um eine mittel- und langfristige Hilfe
für Haiti zu gewährleisten. Herr Niebel, ich muss es wie3200
derholen: Das ist ein Armutszeugnis für diese Regierung.
({2})
Geld gäbe es genug; die Linke hat viele Vorschläge für
mögliche Einsparungen gemacht. Allein der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr kostet mittlerweile mehr als
1 Milliarde Euro pro Jahr. Damit könnte man in Haiti
mehr als 2 000 Schulen und 250 000 Lehrer und Lehrerinnen finanzieren. Am kommenden Mittwoch findet in
New York eine internationale Geberkonferenz für Haiti
statt. Herr Niebel, ich frage mich natürlich, welche konkrete, langfristige Hilfe Sie dort eigentlich im Namen
der Bundesregierung anbieten wollen. Ich sehe nichts
davon.
Für die Fraktion Die Linke ist auch entscheidend - das
haben wir in unserem Antrag formuliert -, dass der Aufbau Haitis in den Händen der haitianischen Regierung
und der haitianischen Zivilgesellschaft liegt.
({3})
Es gibt dort viele demokratische Initiativen, selbstorganisierte Basisgruppen, Frauengruppen und Nachbarschaftshilfe, über die hier nicht berichtet wird, die aber
maßgeblich zur stabilen Sicherheitslage in Haiti beitragen. Ein Protektorat Haiti, wie es sich manche vorstellen, lehnen wir ab.
({4})
Wir setzen uns auch für die Stärkung der Süd-SüdKooperation ein. Es gibt nämlich bereits eine langjährige, vorbildliche Entwicklungszusammenarbeit vieler
lateinamerikanischer Staaten. Ich nenne als Beispiel
Kuba: Mehr als 400 kubanische Ärzte und Ärztinnen arbeiten seit Jahren vor allem in ländlichen Regionen
Haitis; jetzt sind über 200 Ärzte hinzugekommen. Diese Erfahrungen und die bereits bestehende Infrastruktur wären gute Voraussetzungen für eine trilaterale
Zusammenarbeit zwischen Kuba, Haiti und Deutschland
oder auch der EU. Folgen Sie deshalb, Herr Niebel, dem
Beispiel der norwegischen Regierung, die ein solches
Abkommen mit Kuba nach dem Erdbeben unterzeichnet
hat.
({5})
Während das Geld für den zivilen Aufbau bei weitem
nicht ausreicht, wird allerdings sehr viel Geld für die
Präsenz von Militär in dem kleinen Land ausgegeben.
Die US-Regierung hatte mehr als 20 000 Soldaten stationiert. Jetzt werden einige abgezogen; aber nach wie vor
plant die US-Regierung, langfristig ein Kontingent von
mehreren Tausend Soldaten in Haiti zu halten. Auch die
UN-Mission MINUSTAH wurde auf jetzt über 9 000 Soldaten aufgestockt. Sie kostet über 400 Millionen Euro
im Jahr. Wir lehnen diese Militarisierung von Aufbauhilfe ab, die in unseren Augen einer neuen Besatzung
Haitis gleichkommt. Wir fordern den Abzug aller Truppen und eine rein zivile Aufbaumission.
({6})
Das fordern auch über 100 Organisationen weltweit, unter anderem La Via Campesina, oder der argentinische
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel; sie alle
wenden sich gegen die Militarisierung der Aufbauhilfe.
Für uns ist ganz klar die Armut das Hauptproblem Haitis
und nicht die Sicherheit. Deshalb braucht Haiti nicht
mehr Soldaten, sondern mehr Ärztinnen und Ärzte und
mehr Lehrerinnen und Lehrer.
({7})
Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi
Klein bringt es auf den Punkt: Haiti ist eigentlich kein
Schuldnerland, sondern ein Gläubigerland. Wir müssen
hier endlich einmal über Wiedergutmachung für Haiti
sprechen, Wiedergutmachung für die verheerenden Folgen von Sklaverei, US-Besatzung, von außen unterstützter blutiger Diktatur, von aufgezwungenem Freihandel,
Schuldendienst und jetzt des Klimawandels. - Haiti gehört zu den am meisten vom Klimawandel betroffenen
Ländern, obwohl es ihn nicht verursacht hat. Neue verheerende Hurrikans werden in diesem Jahr erwartet. Dafür sind wir in den Industriestaaten verantwortlich, und
deshalb hat Haiti einen Anspruch auf unsere Unterstützung.
({8})
Das ist keine Frage von Goodwill.
Frau Kollegin!
Vielmehr besteht ein Anspruch auf diese Unterstützung. Dafür setzen wir uns ein.
({0})
Der Kollege Thilo Hoppe hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Viele haben, als sie die Nachricht gehört haben, dass
Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert worden ist, gestöhnt und gefragt: Warum wieder Haiti, ausgerechnet Haiti, ein Land, das vom Schicksal schwer geprüft ist? Klaus Riegert und Heike Hänsel haben schon
einiges zur Geschichte Haitis gesagt.
Ich stelle fest: In dieser Debatte gibt es einerseits sehr
viele Gemeinsamkeiten. Wir alle sind tief betroffen von
dem schrecklichen Leid, das den Menschen in Haiti
widerfahren ist. Wir haben in vielen Reden gehört, wie
schlimm die Verhältnisse sind und wie groß die Herausforderung ist. In der Tat könnte man fragen: Können wir
uns nicht auf einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag einigen?
Aber leider gibt es bei all den Gemeinsamkeiten doch
auch Unterschiede, die nicht so klein sind.
({0})
Der Streit fängt meistens dann an, wenn es ums Geld
geht. Viele Experten haben gestern in der Anhörung gesagt, dass es bei solchen Katastrophen oft Wellenbewegungen gibt. Wenn die Fernsehbilder, schreckliche,
furchtbare Bilder, um die Welt gehen, dann ist die Spendenbereitschaft groß. Alle möglichen Hilfsorganisationen und Hilfswerke werden mobilisiert. Manchmal
schwappt sogar so viel Geld ins Land, dass es gar nicht
sofort sinnvoll eingesetzt werden kann. Aber wenn die
Scheinwerfer wieder ausgeschaltet sind, geht die Hilfsbereitschaft massiv zurück. Diese Wellenbewegungen
sind - das haben uns viele Experten gesagt - sehr
schlecht für eine nachhaltige Entwicklung, für den Aufbau von Institutionen und Strukturen, die auch über die
Krisenzeit hinaus tragfähig sind.
Gerade aus diesem Grund ist es so wichtig, langfristig, mit sehr langem Atem, zu helfen und einen Sondertitel einzustellen, wie ihn die drei Oppositionsfraktionen
gefordert haben. Auch der Entwicklungsminister hat
dies gefordert - einige Redner haben es schon gesagt -,
ebenso, wie ich glaube, die meisten Kollegen aus dem
Entwicklungsausschuss. Dennoch ist der Sondertitel leider nicht durchgekommen. Er ist an den Haushältern von
CDU/CSU und FDP gescheitert. Da besteht die größte
Differenz. Ich glaube, im Entwicklungsausschuss hätten
wir größere Chancen, zu einem gemeinsamen Antrag zu
kommen.
Ich denke, einiges kann aber noch geheilt werden.
Wir wünschen uns sehr, dass die Bundesregierung die
Knauserei endlich ablegt, ermutigt durch die Debatte zu
der Wiederaufbaukonferenz nach New York fährt, dort
deutlich mehr Geld in die Hand nimmt und sich dabei
wirklich eher an dem orientiert, was Deutschland nach
der Tsunami-Katastrophe geleistet hat. Eines ist nämlich
schon klar: Die Zahl der Opfer ist höher als damals, und
auch die Schäden sind größer; sie übersteigen bei weitem das, was die verheerende Tsunami-Katastrophe angerichtet hat. Also muss die Antwort entsprechend sein.
Ich hoffe, dass es einen gemeinsamen Appell an die
Bundesregierung gibt, dort wirklich mehr zu leisten und
ambitionierter aufzutreten.
({1})
Vielleicht kann sogar noch im nächsten Haushalt ein
Sondertitel eingerichtet werden.
Bei der Aufbauhilfe - das Wort „Wiederaufbau“ passt
eigentlich nicht, weil man zu einem neuen Status kommen muss; man soll nicht den Status wiederherstellen,
den es vor dem Erdbeben gegeben hat - sind drei Aspekte wichtig, die hier auch schon benannt worden sind.
Zwei möchte ich ganz dick unterstreichen.
Erstens: keine Entwicklung an den Menschen in Haiti
vorbei!
({2})
Die Aufbaupläne dürfen nicht am Reißbrett von Entwicklungsagenturen entstehen. Wir haben da einen gewissen Zielkonflikt. Humanitäre Hilfe muss sofort greifen, um Menschenleben zu retten. Aber jetzt geht es um
den Aufbau, und da muss ein schwieriger Prozess organisiert werden: mit der Regierung in Haiti, so schwer es
auch ist. Wir haben gestern gehört, dass die Regierung
das Vertrauen eigentlich verspielt hat. Trotzdem führt
kein Weg daran vorbei, auch dort Bildungsprogramme,
Capacity-Building zu machen, damit man zumindest
mittelfristig auch zu tragfähigen staatlichen Strukturen
kommt. Die Bevölkerung muss einbezogen werden. Es
gibt sehr aktive Nachbarschaftskomitees und eine sehr
aktive Zivilgesellschaft. Gebergemeinschaft, Regierung
und Zivilgesellschaft müssen zusammenkommen.
Dann ist ein zweiter Aspekt ganz wichtig - neben der
Entschuldung; darüber sind wir uns, glaube ich, alle einig -, nämlich dass der ländliche Raum endlich in den
Fokus gerückt werden muss.
({3})
Sascha Raabe hat es gesagt: Haiti ist ein Land, das sich
früher selbst versorgen konnte, das Lebensmittel sogar
exportieren konnte, und zwar nicht nur in der Zeit der
Sklaverei. Es ist in den 80er-Jahren durch IWF und Weltbank gezwungen worden - das ist kein Geheimnis -,
Strukturanpassungsmaßnahmen durchzuführen und den
Außenschutz abzubauen. Daraufhin ist es von hochsubventioniertem Reis und anderen Agrarprodukten aus den
USA überschwemmt worden. Die Landwirtschaft ist
durch diese verfehlte Handelspolitik und durch diese
auch verfehlte Liberalisierungspolitik völlig zerstört worden.
Auch dabei muss es jetzt zwei Stufen geben: Soforthilfe in Form von Nahrungsmittelhilfe, dann aber unbedingt Saatguthilfe, damit die Regenzeit für die Aussaat
genutzt werden kann. Wir brauchen eine Unterstützung
für den ländlichen Raum in Haiti, damit vor allem die
Kleinbauern in die Lage versetzt werden, die eigene
Bevölkerung auf nachhaltige Weise zu ernähren. Mittelfristig muss dann auch an einen besseren Außenschutz
gedacht werden, also an eine Rücknahme von Liberalisierungsschritten.
({4})
Wir haben jetzt über vier Anträge abzustimmen, die
viele Gemeinsamkeiten haben.
Herr Kollege, ich glaube, Sie können jetzt nicht mehr
über alle vier Anträge sprechen.
Dann sage ich das jetzt ganz schnell. - Wir haben den
wirklich umfassenden Antrag vorgelegt,
({0})
in dem auch der größte Sondertitel gefordert wird. Es
wäre natürlich ein tolles Zeichen, wenn jetzt alle dem
Grünen-Antrag zustimmen würden.
({1})
Wir werden auch dem SPD-Antrag zustimmen. Darin
steht nichts Falsches, aber er bleibt ziemlich vage.
Herr Kollege!
Beim Antrag der Linken kann ich eines nicht verstehen, nämlich dass die Sicherheitsfrage völlig außer Acht
gelassen wird. Dafür, dass Sie Skepsis gegenüber den
amerikanischen Truppen haben, habe ich ein bisschen
Verständnis.
Nein.
Aber dass selbst das UN-Mandat abgelehnt wird, können wir nicht mittragen. Deshalb leider eine Ablehnung.
Der Koalitionsantrag
Herr Kollege!
({0})
- enthält nur Allgemeinplätze.
Das wird nicht funktionieren, weil mein Verständnis
jetzt ganz am Ende ist.
Deshalb bestenfalls eine Enthaltung.
Danke.
({0})
Der Kollege Frank Heinrich hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Jetzt noch etwas Neues zu sagen, wäre eine
sehr große Herausforderung. Das maße ich mir nicht unbedingt an. Ich möchte noch einmal die Bilder in Erinnerung rufen, die dem einen oder anderen vielleicht mehr
präsent sind. Ich selbst habe Freunde, die davon direkt
betroffen sind, und auch Freunde in NGOs. Wir alle haben aber noch die Bilder aus den Medien vor Augen. Ich
habe aber nicht nur dieses Bild des Leides in Erinnerung.
Ich habe auch das Bild in Erinnerung, das Herr Leibrecht
ganz am Anfang aufgezeigt hat, das Dank bei mir hervorruft, und zwar das Bild von Deutschland, wie es reagiert hat, wie die Bürger in Deutschland reagiert haben.
Vor vier Jahren standen wenige Hundert Meter von hier
entfernt unsere Kicker - wir haben den dritten Platz belegt - und haben ein T-Shirt mit der Aufschrift getragen:
Danke, Deutschland. - Ich möchte hier anknüpfen und
„Danke, Deutschland“ sagen, und zwar gerichtet an unsere Bürgerinnen und Bürger sowie an die Helferinnen
und Helfer, die sich aufgemacht haben, um in die Tat
umzusetzen, was viele nur bei Worten belassen haben.
({0})
Die Klage, wie wenig wir aufgebracht hätten, hört
sich manchmal wie eine Leier an. Dabei haben Sie vielleicht mehr die Regierung in den Fokus genommen. Ich
danke aber auch der Bundesregierung. Ich danke auch
den Vertretern des Auswärtigen Amtes, die koordiniert
haben. Ich habe selbst an solchen Sitzungen teilgenommen und weiß, wie gut die Zusammenarbeit zwischen
Technischem Hilfswerk, Welternährungsprogramm, der
GTZ usw. war. Ich war begeistert, dabei sein zu können,
wie das entwickelt wurde. Die gute Zusammenarbeit und
die Hilfe sind einen großen Dank wert.
Das heißt aber nicht - die Gefahr wurde hier realistisch festgestellt -, dass jetzt aufgehört werden darf. Das
machen wir auch nicht. Vieles war gut, und vieles kann
man vielleicht noch besser machen. Wir dürfen aber
nicht aufhören. Wir dürfen uns jetzt nicht aus der Affäre
stehlen. Das machen wir auch nicht. Das haben wir im
Übrigen mit allen Anträgen auf unterschiedliche Weise
bewiesen. Auch den Bürgern rufe ich zu, jetzt bitte nicht
aufzuhören, sondern bei den Organisationen, bei denen
sie gespendet haben, nachzuhaken: Seid ihr noch dort?
Seid ihr noch dran? Braucht ihr noch weitere Hilfe? - So
können wir beweisen, dass wir nicht nur kurzfristig, sondern langfristig Herz haben.
({1})
In der heutigen Debatte geht es darum, Haiti eine
langfristige Wiederaufbauperspektive zu geben. Für
mich als Novize in diesem Haus ist es schön, zu erleben,
dass unsere Grundsätze und auch unsere Anträge in diesem Haus eine große Schnittmenge aufweisen. Das ist
nicht in allen Politikbereichen der Fall. Manchmal wäre
es wünschenswert, wenn sich das übertragen wurde.
Schon vor dem Erdbeben war Haiti eines der ärmsten
Länder, das ärmste Land Lateinamerikas. Nach dem
Erdbeben, das nach dem Tsunami die größte Katastrophe
dieses Jahrhunderts ist, haben wir jetzt die Chance - unabhängig davon, ob die Medien davon berichten -, das
Thema nach einigen Wochen noch einmal aufzugreifen.
Noch nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti wahr. Teilweise
nimmt die Weltöffentlichkeit Haiti deshalb noch wahr,
weil sich Amerika in diesem Prozess so stark engagiert
hat.
Die Hilfe ist aber auch mit einem politischen Auftrag
verbunden. Dem kommen wir heute ein Stück weit nach.
Wir wollen - das steht auch in unserem Antrag - neue
Strukturen schaffen, und zwar sowohl im politischen Bereich als auch in den Bereichen der Gerichte, der Polizei
und im militärischen Bereich, aber auch in anderen Bereichen der Gesellschaft bis hin zur Infrastruktur.
Ich denke, politische Fehler und gegenseitige Vorwürfe sind genügend ausgetauscht worden. Die vier
politischen Notwendigkeiten, die wir auch in unserem
Antrag beschrieben haben, betreffen unter anderem die
Koordinierung des Wiederaufbaus. Deshalb verstehe ich
nicht, weshalb Sie unsere Forderung hinsichtlich der
UNO ablehnen. Wir wollen abwarten - deshalb gibt es
diesen Titel bei uns noch nicht explizit -, was zum Beispiel die Geberkonferenz beschließt und was die Recherchen ergeben, die dann zusammenfließen. Wir wollen
auch abwarten, welchen Bedarf die Geberkonferenz im
Juni zusammenträgt. Jetzt Schnellschüsse zu machen, ist
die Sache meines Erachtens nicht wert. Dafür ist das
Problem zu groß.
({2})
Die Entschuldung ist vergessen worden. Deutschland
hat im vergangenen Jahr entschuldet. In unserem Antrag
haben wir die Forderung aufgenommen, andere aufzufordern - insbesondere die Inter-American Development
Bank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung -, diesem Beispiel zu folgen. Das wäre der
zweite Bereich.
Der dritte Bereich bezieht sich auf den Finanzbedarf,
bei dem wir uns noch nicht hundertprozentig festlegen,
wie viel das am Schluss sein wird. Da kursieren viele
Zahlen. Wir sind uns einig, dass es sich um viel Geld
und um eine langfristige Investition über mehrere Jahre
handelt.
Der vierte Bereich betrifft den Aufbau eines Rechtsstaates. Die Verwaltung soll bei der UNO bleiben. Die
Sofortmaßnahmen zu Beginn waren positiv. Die Neuausrichtung der Mission MINUSTAH ist ebenfalls positiv. Es soll innerhalb der EU konzertiert gearbeitet werden. Die NGOs sollen selbstverständlich wie auch die
vor Ort arbeitenden Bürgerbewegungen - das geschah
schon bei der Soforthilfe - einbezogen werden. Natürlich sollen auch die Wahlen, die Ende des Jahres stattfinden sollen und ganz entscheidend sein werden, begleitet
und kontrolliert werden.
Maßnahmen gegen Kinderhandel und illegale Adoption habe ich in dem einen oder anderen Antrag vermisst. Ich denke, es steht uns an, darauf ein Auge zu
werfen.
Lassen Sie uns die Medien und die Bürger auffordern,
weiterhin den Fokus auf Haiti zu richten. Stimmen Sie
auch für den Antrag der CDU/CSU und der FDP, damit
das Signal, das mehrfach angesprochen wurde, ausgesendet werden kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/1157 mit dem Titel „Haiti eine langfristige
Wiederaufbauperspektive geben“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist der Antrag bei Zustimmung der Koalitionsfraktionen angenommen. Dagegen haben die SPD und
die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Zukunft für
Haiti - Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1214, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/885 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben
dagegen gestimmt. Enthaltungen gab es keine.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 17/1099. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/774 mit dem Titel „Nachhaltige Hilfe für
Haiti: Entschuldung jetzt - Süd-Süd-Kooperation stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung durch die Fraktion Die Linke
angenommen. Zugestimmt haben alle anderen Fraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/791 mit dem Titel „Haiti entschulden und langfristig beim Wiederaufbau
unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen und die Linke angenommen. Dagegen hat das Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Die Fraktion der SPD hat sich enthalten.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Dr. Hermann Ott, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzmärkte ökologisch, ethisch und sozial
neu ausrichten
- Drucksache 17/795 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Verabredet ist, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Das Wort als erster Redner hat der Kollege
Dr. Gerhard Schick für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht
in dem Antrag, den wir vorlegen, um ein Thema, das mir
persönlich sehr wichtig ist, weil ich davon überzeugt bin,
dass Menschen nicht nur nach ihrem wirtschaftlichen
Vorteil streben, sondern durchaus bereit sind, auch ökologische, soziale und ethische Erwägungen zu berücksichtigen, und wir deswegen unser Finanzwesen nicht
nur auf die Rendite ausrichten dürfen.
({0})
Wenn man von diesem Menschenbild ausgeht, dann
sieht man, dass in der bisherigen Diskussion darüber,
was an den Finanzmärkten neu gemacht und verändert
werden muss, eine Dimension völlig fehlt. Das ist die
Dimension: Wie schaffen wir es, dass die Menschen Verantwortung für das übernehmen können, was mit ihrem
Geld geschieht? Wir sollten nicht nur die Frage beantworten, warum Banken pleitegegangen sind und Anleger
viel Geld verloren haben, sondern auch die Frage: Warum fließt so viel Geld in Investitionen, die volkswirtschaftlich wertlos oder sogar schädlich sind? Denken Sie
nur an die vielen Gelder, die zur Zerstörung des Regenwaldes beitragen, oder an andere umweltschädliche Investitionen. Deutsche Anleger haben über Fonds - in
dem Film Let’s make Money ist deutlich geworden, dass
die Anleger nicht wissen, wohin ihr Geld fließt - völlig
sinnlose Immobilienprojekte in Spanien mitfinanziert,
die dort auch noch in Umweltschutzgebieten gesetzeswidrig durchgeführt worden sind. Wir wollen eine Neuausrichtung an den Finanzmärkten. Die Menschen und
die Märkte sind weiter als der Gesetzgeber. Deswegen
müssen wir nachlegen. Dies fordern wir in unserem Antrag.
({1})
Nach einer Studie der DZ Bank vom Herbst 2009 sagen 55 Prozent der Menschen, dass sie bei ihrer Anlageentscheidung ökologische Aspekte berücksichtigen wollen, das sei ein wichtiges Kriterium. 74 Prozent der
Menschen sagen, es gebe zu wenige Informationen, vieles sei intransparent. Es ist ja auch wenig erklärlich, warum in Großbritannien bei über 20 Prozent der Anlagegelder solche Kriterien mitberücksichtigt werden und
darüber informiert wird, in Deutschland aber nur bei einem Prozent der Anlagegelder. Ich glaube nicht, dass die
Deutschen weniger ethisch denken als die Briten, sondern ich glaube, dass es hier einen Mangel in der deutschen Gesetzgebung gibt, den wir korrigieren müssen.
({2})
Nehmen Sie ein weiteres Beispiel, das Carbon Disclosure Project. An diesem Projekt sind 475 institutionelle
Investoren beteiligt. Sie fragen bei den Unternehmen ab,
in welcher Höhe sie CO2-Emissionen ausstoßen und wie
sie in Bezug auf den Klimawandel dastehen. Das Projekt
krankt daran, dass es keine vergleichbaren standardisierten Informationen aus den Unternehmen gibt. Wir müssen jetzt die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dass
Investoren, die Klimarisiken berücksichtigen wollen,
dies auch tun können.
({3})
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen. Die
evangelische Kirche hat ein Projekt gestartet, das ich
sehr gut finde. Man hat gesagt: Wir legen unsere Gelder
zusammen und werden in Zukunft schauen, dass die Kriterien, die wir auch sonst anlegen, nämlich ethische und
soziale Aspekte, auch bei unseren Investitionen berücksichtigt werden. Wir werden unsere Stimmrechte bündeln und als aktive Aktionäre dafür sorgen, dass sich in
den Unternehmen etwas ändert. ({4})
Die katholische Kirche will sich dem anschließen. Der
Vorsitzende der Bischofskonferenz sagt, es sei für Anleger außerordentlich schwierig, erfolgreiche und ethisch
zuverlässige Unternehmen von anderen mit zweifelhaftem Ruf zu unterscheiden. Es ist daher die Aufgabe des
Gesetzgebers, dafür zu sorgen, dass die Menschen, die
ethisch handeln wollen, dies auch tun können und die
dafür notwendigen Informationsgrundlagen haben.
({5})
Ein letztes Beispiel, das zeigt, dass es nicht darum
geht, etwas völlig Neues zu machen, sondern dass wir
als Gesetzgeber im Rückstand sind und aufholen müssen: Die Deutsche Vereinigung für Finanzanalyse und
Asset Management, DVFA, sagt, dass es notwendig ist,
dass der Gesetzgeber Standardisierungen im Bereich der
nichtfinanziellen Indikatoren der Unternehmensleistung
vornimmt. Auch das sollten wir aufgreifen.
Meine Bitte ist: Greifen Sie dieses Anliegen, diese
fehlende Dimension in unserer bisherigen Finanzmarktdiskussion, auf. Lassen Sie uns die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Menschen in dieser Hinsicht Verantwortung übernehmen können, zumindest
diejenigen, die das schon heute wollen. Da sind wir als
Gesetzgeber in der Pflicht.
Danke schön.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Klaus-Peter Flosbach.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Nachfrage nach Geldanlagen, die ethische, soziale und ökologische Dimensionen berücksichKlaus-Peter Flosbach
tigen, nimmt zu. Das begrüßen und unterstützen wir ausdrücklich.
({0})
Herr Schick, ich frage Sie: Warum werben Sie nicht stärker für nachhaltige Anlagen und legen uns stattdessen
diesen unausgereiften Antrag vor?
({1})
Ihr Antrag schießt weit über das Ziel hinaus. Er ist ein
Sammelsurium von Vorschriften und Berichtspflichten,
das nicht das Bewusstsein für nachhaltige Anlagen
schärft, sondern eine Bürokratie ungeahnten Ausmaßes
verursacht.
({2})
Lassen Sie mich verschiedene Punkte ansprechen.
Erstens. Sie fordern, dass bei allen Altersvorsorgeprodukten und Investmentfonds - ich bitte, zuzuhören jährlich von allen Aktien, Unternehmensanteilen, Unternehmensfinanzierungen und Unternehmensanleihen die
direkten Treibhausemissionen im Verhältnis zum Portfoliowert ausgewiesen werden müssen.
({3})
Wer macht das? Mit welchem Aufwand? Mit welchen
Kosten? Mit welchem Effekt? Wo ist die Bemessungsgrundlage? Wie kann man dieses wichtige Thema der
nachhaltigen Geldanlage so ins Abseits führen?
({4})
Meine Damen und Herren, die Konsequenz wäre eine
Bürokratie ungeahnten Ausmaßes. Bei der letzten großen
Debatte zum Investmentänderungsgesetz am 13. Juni
2007 sagte Herr Kollege Dr. Schick im Deutschen Bundestag - ich zitiere -:
Wenn also durch den Gesetzentwurf bürokratische
Hemmnisse abgebaut werden und die Investmentbranche dadurch entlastet sowie im Wettbewerb gestärkt wird, dann ist dies auch ein Anliegen der
Grünen.
Warum halten Sie sich nicht daran?
({5})
Herr Kollege Schick, Die Wirtschaftswoche schrieb
am 24. Juli 2009 zu Ihrem achtseitigen Wahlkampfpapier, das nahezu identisch mit dem vorliegenden Antrag ist:
({6})
„Die Grünen entdecken die Finanzkrise“ und setzen „die
ordnungspolitischen Daumenschrauben an“. - In der Tat
waren Sie 2003 bei der Deregulierung der Finanzmärkte
dabei.
({7})
Jetzt suchen Sie den Platz an der Sonne und sind für alles Nachhaltige, aber nicht, weil Sie für Windkraftanlagen sind, sondern weil Sie Ihr Fähnchen nach dem Wind
richten.
({8})
Wir begrüßen es, dass sich das Angebot an nachhaltigen Anlageformen erweitert. In Deutschland gab es
2008 76 Publikumsfonds, deren Anlagepolitik dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet ist. Allerdings sank
das Volumen von 6,6 Milliarden Euro in 2007 mit dem
Ausbruch der Finanzkrise und dem Einbruch der Wertpapierbörsen auf 3,9 Milliarden Euro. Viele Anlagen
sind also nicht unabhängig von den sonstigen Marktentwicklungen.
Zweitens. Es ist sehr problematisch, wenn Sie bei Kapitallebensversicherungen oder Rentenversicherungen
Ihren Blick einseitig auf die Verwendung der Versicherungsbeiträge unter ökologischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkten richten. Die aufsichtsrechtlichen
Ziele lauten: Sicherheit, Rendite, Liquidität und Streuung. Selbstverständlich kann die Nachhaltigkeit ein weiteres Kriterium sein, aber es darf nicht im Widerspruch
zu den anderen Zielen stehen. In diesem Zusammenhang
sollten wir uns die Riester-Rente noch einmal genauer
anschauen. Es gibt bereits Berichtspflichten, aber sie
sind in der jetzigen Form wirkungslos, wie Sie selbst in
der Begründung Ihres Antrages schreiben. Sie könnten
Ihre Auffassung zu diesem Thema noch einmal überdenken; denn wer fördert, kann auch Auflagen machen.
Drittens. Sie wollen die Vertriebsvorschriften für alle
Finanzdienstleistungsprodukte so ändern, dass nicht nur
schriftlich auf die ethische Dimension der Kapitalanlage
hingewiesen wird; vielmehr soll in jedem Beratungsgespräch auch die sozial-ökologische Interessenlage des
Kunden abgefragt werden. Meine Güte! Offensichtlich
halten Sie die Bürgerinnen und Bürger für unmündig. Ihr
Antrag entfacht in der Tat eine wahre Regulierungswut
und bevormundet den Bürger in seiner freien Entscheidung, wie er sein Geld anlegen will. Das machen wir
nicht mit.
({9})
Versuchen Sie nicht, mit der Keule nachhaltige Geldanlagen unters Volk zu bringen. Die Nachfrage und das
Bewusstsein für solche Geldanlagen steigen, und das
sollten wir unterstützen.
({10})
Herr Dr. Schick, entscheidend ist doch, dass ausreichend
Produkte zum Verkauf und zum Kauf zur Verfügung stehen. Ihr Hinweis auf Großbritannien ist nicht in Ordnung, Herr Dr. Schick. Bei den 20 Prozent handelt es sich
ausschließlich um institutionelle Anleger bei Pensions3206
fonds. Das sind nicht private Anleger. Da sollten Sie
noch einmal genau nachsehen.
({11})
In 2007 haben wir das Investmentgesetz geändert und
unter dem Begriff „sonstige Sondervermögen“ die Möglichkeit eröffnet, in Deutschland Mikrofinanzfonds aufzulegen;
({12})
darüber wurde auch in der vorangegangenen Debatte
diskutiert. Wir können also auch in Deutschland Mikrofinanzfonds auflegen, Fonds für Kleinkredite zur Bekämpfung weltweiter Armut. Ein Hinweis: Herr
Dr. Schick und die Grünen haben das abgelehnt, als wir
das vor drei Jahren hier vorgeschlagen haben.
({13})
Leider wurden die Bedingungen im Gesetz durch unseren damaligen Koalitionspartner, die SPD, so eingeschränkt, dass in Deutschland nicht ein einziger Fonds
aufgelegt wurde und das Geld nach wie vor ganz offiziell nach Luxemburg und in die Schweiz fließt, Frau
Dr. Hendricks.
({14})
Diese Anlagen waren übrigens, sofern sie im Ausland
waren, nicht von der Finanzkrise betroffen.
Ich fordere Sie auf - die Grünen, aber auch die SPD -:
Unterstützen Sie uns, wenn wir im Sommer vor dem
Hintergrund der Erfahrungen im Bereich Entwicklungshilfe und der Erfahrungen der kirchlichen Banken und
Investmentgesellschaften - um die geht es vor allem einen neuen Vorschlag zum Thema Mikrofinanzfonds
vorlegen.
Die Bereitschaft der Anleger, hier Geld zu investieren, ist da. Versuchen Sie es ganz einfach einmal mit sozialer Marktwirtschaft. Das ist und bleibt unser Erfolgsrezept. Ihr Antrag ist vielleicht gut gemeint, aber sehr
schlecht gemacht.
({15})
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Kerstin Tack
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Finanzmärkte nachhaltig auszurichten, ist unser
aller Anliegen; das ist ganz selbstverständlich. Die heutige Debatte bietet aber auch die Chance, noch einmal
insgesamt über nachhaltige Maßnahmen infolge der Finanzkrise zu reden.
Wenn es um Nachhaltigkeit auf den Finanzmärkten
geht, dann geht es nicht nur um die ökologische, ethische
und soziale Ausrichtung von Produkten, sondern es geht
insbesondere auch um die Frage, welchen Schutz wir
Verbraucherinnen und Verbrauchern auf dem Finanzmarkt bieten. Auch das ist ein Aspekt von Nachhaltigkeit und Teil einer nachhaltigen Strategie und muss berücksichtigt werden, wenn wir über Auswirkungen auf
den Finanzmarkt reden wollen.
({0})
Im Juli des letzten Jahres wurde im Deutschen Bundestag ein umfangreicher Katalog mit Maßnahmen vorgelegt. Die CDU/CSU, die damals gemeinsam mit der
SPD Antragsteller war, will heute kaum bis gar nicht
mehr wissen, welchen Antrag sie damals beschlossen
hat. Deshalb will ich darauf hinweisen, dass diese Bundesregierung die Umsetzung einiger bereits beschlossener Maßnahmen noch schuldig ist. Das ist selbstverständlich nachzuholen; denn es geht explizit um die
Verbraucherinnen und Verbraucher, wenn wir über die
Frage reden, welche Form an Beratung und welche Angebotspalette ihnen in Zukunft zur Verfügung stehen
werden.
Welche Vorlagen erwarten wir also? Welche Lehren
sollen bezüglich des Schutzes von Verbraucherinnen und
Verbrauchern aus der Krise gezogen werden? Alles
wurde beschlossen von der Großen Koalition - die FDP
hat sich damals enthalten -:
Erstens. Die Bundesregierung wollte und will sich auf
europäischer Ebene dafür einsetzen, dass Regelungen im
Finanzmarktbereich getroffen werden, die eine deutlich
stärkere Regulierung zur Folge haben. Wo stehen wir
heute? Nichts ist passiert.
({1})
Zweitens. Nationale Maßnahmen sind zu ergreifen,
um alle Finanzprodukte einer Regelung und einer Kontrolle zu unterziehen, was selbstverständlich auch für die
Finanzberaterinnen und -berater gilt. Was ist geschehen?
Nichts.
({2})
Das Eckpunktepapier von Herrn Schäuble ist in diesem
Punkt völlig unzureichend.
({3})
Drittens: Mindeststandards für alle Finanzvermittler
und Finanzvermittlerinnen sowie Finanzberater und Finanzberaterinnen. Es geht dabei um Berufsqualifikation,
um Weiterbildung, um Registrierung und um die Frage
einer Berufshaftpflicht. Was ist bis heute passiert?
Nichts.
Viertens. Es geht um die Unabhängigkeit von Beratung für Verbraucherinnen und Verbraucher, und zwar
auch zu alternativen Produkten und deren Wirkungsgrad.
Damals ist beschlossen worden, dass man den Verbraucherzentrale Bundesverband personell und finanziell
ausbaut und verstärkt und dass man die Verbraucherzentralen der Länder beim Ausbau unterstützt. Eine Finanzierung über vier Jahre wollte man ihnen zubilligen. Was
ist passiert? Nichts. Kein einziger Cent ist geflossen.
Verbraucherschutzministerin Aigner hatte vor Weihnachten großspurig angekündigt, man wolle im Verbraucherschutz Kartellstrafen einführen. Sie ist erbärmlich
gescheitert. Nichts ist passiert. Die Verbraucherzentralen
gucken weiter in die Röhre. Das wäre eine Maßnahme
gewesen, um auch Finanzprodukte nachhaltig in die Beratung aufzunehmen.
({4})
Fünftens. Eine Aufklärungskampagne für die Verbraucherinnen und Verbraucher sollte es geben. Was ist
geschehen? Nichts.
({5})
- Ehrenamtlich muss man das machen? Also wirklich!
({6})
Sechstens. Zusammen mit den Ländern, mit Verbänden und Organisationen sollte ein Forum initiiert werden,
um gemeinsam Konzepte und Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Bildung und der Finanzkompetenz zu erarbeiten. Diverse Regierungskommissionen
sind eingerichtet worden, damit die Koalition darüber reden kann, was sie überhaupt will. Aber dieses Forum
konnte bisher nicht eingerichtet werden. Das Thema war
anscheinend nicht wichtig genug. Nichts ist passiert.
({7})
Zusammenfassend lässt sich die Tätigkeit der Bundesregierung bei der Nachhaltigkeit und der Regulierung
der Finanzmärkte folgendermaßen beschreiben: nichts,
nichts und noch mal nichts.
({8})
Stattdessen soll es eine Bankenabgabe geben, wodurch
letztendlich die Verbraucherinnen und Verbraucher in
die Pflicht genommen werden. Das kann es nicht sein.
Deswegen sagen wir: Ziehen Sie die richtigen Konsequenzen. Sorgen Sie dafür, dass eine Aufsicht für alle Finanzprodukte gewährleistet wird. Sorgen Sie dafür, dass
Vermittlerinnen und Vermittler erstens eine vernünftige
Berufsqualifikation haben
({9})
und zweitens eine Berufshaftpflicht.
({10})
Sorgen Sie dafür, dass Kostentransparenz für alle Bereiche besteht
({11})
und den Verbrauchern deutlich signalisiert werden kann.
({12})
Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherverbände eine Beschwerdemöglichkeit erhalten und Musterklagen durchführen können.
({13})
Sorgen Sie dafür, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher Zugang zu einer unabhängigen Beratung haben, zu Menschen, die beraten und nicht verkaufen wollen. Sorgen Sie dafür, dass die beschlossenen
Produktinformationsblätter einheitlich und insbesondere
verständlich sind.
({14})
Sorgen Sie dafür, dass auch in Europa einheitliche Finanzregeln gelten. Sorgen Sie dafür, dass Leerverkäufe
verboten werden. Für diese nachhaltigen Maßnahmen
haben Sie alle Zeit der Welt gehabt. Legen Sie endlich
los!
Herzlichen Dank.
({15})
Frau Tack, das war Ihre erste Rede hier im Haus.
Dazu gratulieren wir Ihnen und wünschen alles Gute.
({0})
Für die FDP hat der Kollege Frank Schäffler das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schick, Sie haben hier einen
Schönwetterantrag vorgelegt. Er passt zum heutigen
Wetter, aber er löst nicht die Probleme, die wir auf den
Finanzmärkten und bei der Vermittlung von Finanzprodukten in Deutschland haben. Vielmehr bedient er grüne
Klientel. Das mag auch der aktuellen Situation geschuldet sein; aber ich glaube, wirkliche Probleme löst Ihr
Antrag nicht.
Was ist in Deutschland wie in allen modernen Volkswirtschaften das Problem bei der Altersvorsorge und der
Geldanlage?
({0})
Das Problem ist, dass es immer mehr ältere Menschen
gibt - glücklicherweise werden wir immer älter - und
dass es immer weniger junge Menschen gibt.
({1})
Das heißt, der Altersquotient, also das Verhältnis der
über 65-Jährigen zu Personen im erwerbsfähigen Alter,
wird in den nächsten 25 Jahren von 35 Prozent auf
65 Prozent ansteigen.
({2})
Deshalb müssen wir uns Gedanken über die Frage machen: Wie kann man die junge Generation in die Lage
versetzen, sich eine eigene Altersvorsorge aufzubauen?
Es wäre gut, wenn Sie sich einmal angeschaut hätten,
was Sie selbst in der Vergangenheit, nämlich in der rotgrünen Koalition, auf diesem Gebiet getan haben. Damals war - das muss man sagen - nicht alles schlecht.
Das, was Sie mit der Riester-Rente geschaffen haben,
war sicherlich ein Paradigmenwechsel in Deutschland.
Es wäre gut, wenn Sie auf diese Grundlage zurückkehren würden. Diesen Bereich müssen wir weiter ausbauen.
({3})
Das wollen wir tun. Beispielsweise wollen wir RiesterVerträge auch für Selbstständige öffnen.
({4})
Denn auch die Altersarmut von Selbstständigen ist ein
Thema, mit dem wir uns beschäftigen müssen.
Außerdem wollen wir zum Bürokratieabbau beitragen; auch dies ist ein zentrales Thema. Die Durchführungswege im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge
sind sehr undurchsichtig. Sie müssen entschlackt und
vereinfacht werden, damit sie für Arbeitnehmer und Arbeitgeber verständlicher werden.
Auch die Regelungen der sogenannten Rürup-Rente
müssen flexibilisiert werden. Unter anderem muss das
wichtige Thema Berufsunfähigkeit im Rahmen von
Rürup- und Riester-Rente stärker berücksichtigt werden.
Ich glaube, dass der Antrag, den Sie vorgelegt haben,
zwar gut gemeint ist, dass er unter dem Strich aber nicht
hilft.
Die Praxis, die Sie beschreiben, macht deutlich,
welch „nachhaltige“ Wirkung Ihre Konzepte haben. Sie
weisen in Ihrem Antrag darauf hin, dass bei Riester-Renten eine Prüfung sozialer, ethischer und ökologischer
Gesichtspunkte erfolgt. Gleichzeitig stellen Sie fest, dass
nur 1 Prozent der Riester-Verträge tatsächlich nach sozialen, ethischen oder ökologischen Gesichtspunkten abgeschlossen wird. Man muss sich fragen: Wenn das am
Markt nicht nachgefragt wird, wieso sollte man es erzwingen? Wer soll am Ende die Kriterien festlegen: ein
paritätisch besetzter Beirat aus Arbeitnehmervertretern,
also Gewerkschaften, und Arbeitgebervertretern? Ein
Beamter im Ministerium oder bei der BaFin? Wer soll
das letztlich machen?
({5})
Entscheidend ist, dass wir auf die Altersvorsorge setzen und Anreize schaffen, damit die Menschen für ihre
Altersvorsorge sparen. Dafür brauchen wir eine nachhaltige wirtschaftliche Dynamik. Sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Menschen in die Lage versetzt
werden, für ihre Altersvorsorge zu sparen.
Die Steuerreform ist für die christlich-liberale Koalition die Mutter ihrer Reformen. Wir haben uns die Ziele
Steuersenkung und Steuervereinfachung auf die Fahnen
geschrieben.
({6})
Es ist zu einfach, wenn Sie auf der letzten Seite Ihres
Antrags schreiben - das passt allerdings zu diesem Antrag -:
Grüne Rhetorik allein wird den Klimawandel nicht
aufhalten können.
({7})
Sie sollten sich, statt solche Anträge in den Bundestag
einzubringen, um die wirklichen Probleme in diesem
Land kümmern.
({8})
Die Menschen müssen wieder mehr Geld in der Tasche
haben, um für ihre Altersvorsorge sparen zu können. Der
Staat darf ihnen nicht immer mehr Geld aus der Tasche
ziehen.
Vielen Dank.
({9})
Barbara Höll hat für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Was sagt Ihr Antrag aus? Sie wollen durch
mehr Berichte und klare Kriterien Klarheit in die Finanzmärkte bringen. Sie wollen nicht mehr und nicht weniger, als sie neu auszurichten. Herr Schick, Ihr Anliegen
in allen Ehren. Aber glauben Sie allen Ernstes, dass
durch veränderte Kriterien in alten Strukturen ein erneutes Marktversagen verhindert werden kann? Ich sage Ihnen ganz klar: Sie setzen an der falschen Stelle an. Sie
behalten Ihre Marktgläubigkeit bei und handeln nach
dem Motto: Der Markt wird es schon richten.
Der Markt macht, was er will. Das Profitstreben steht
über allem anderen. Dass Sie in Ihrem Antrag Schweden, Frankreich und Großbritannien als Beispiel für Länder nennen, in denen entsprechende Maßnahmen bereits
funktionieren, spricht eine beredte Sprache. Denn diese
Länder sind genauso von der Finanzkrise betroffen wie
wir.
Wir müssen endlich die Spielregeln auf den Finanzmärkten ändern. Die Finanzmärkte tatsächlich neu auszurichten, bedeutet nach Meinung der Linken unter anderem
({0})
eine Stärkung ihrer Funktion,
({1})
die Absicherung der unternehmerischen Tätigkeit, die
Absicherung von Krediten und ihren Risiken, Anlagefunktionen für Sparerinnen und Sparer sowie die Absicherung des Zahlungsverkehrs. Das sind die entscheidenden und eigentlichen Funktionen der Finanzmärkte.
Die Märkte sind nur Mittel zum Zweck.
({2})
Wenn die Mittel nicht dem öffentlichen Interesse,
sondern den Interessen Einzelner dienen, und zwar auf
Kosten der Mehrheit, muss die Politik eingreifen und regulieren. Das könnten Sie endlich einmal tun.
({3})
Wir fordern deshalb ein Verbot von Spekulationen.
({4})
Wir fordern zum Beispiel ein Verbot der Leerverkäufe.
Wir fordern die Einführung einer Finanztransaktionsteuer. Diese Maßnahmen würden nämlich dafür sorgen, die Märkte zu entschleunigen und tatsächlich regulierend einzugreifen.
({5})
Meine Damen und Herren von den Grünen, ich vermisse bei Ihrem Anliegen leider einen wichtigen Punkt:
Es muss doch darum gehen, die Finanzmärkte in ihrem
Volumen zu verringern. Denn die Masse frei schwebenden Kapitals auf den Finanzmärkten führt automatisch
zu Spekulationsblasen. Es gab bereits eine DotcomBlase. Damals suchten zahlreiche Anleger nach Renditemöglichkeiten. Wir erinnern uns noch daran, dass Anfang dieses Jahrtausends die Technologieblase geplatzt
ist.
Frau Höll, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schick zu?
Ja.
Bitte schön.
Frau Höll, damit wir nicht in die Gefahr kommen, aneinander vorbeizureden, wäre es vielleicht gut - daher
meine Nachfrage -, wenn Sie Folgendes zur Kenntnis
nähmen: Wir Grünen sind für eine Finanzumsatzsteuer,
die natürlich auch eine Volumenreduktion beinhaltet.
({0})
Wir haben in den letzten Debatten zahlreiche Beiträge
geliefert. Wir haben auch Anträge vorgelegt, in denen
wir uns für eine Regulierung aussprechen, damit die Finanzmärkte stabiler werden.
({1})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es hier
um eine andere Dimension geht, die wir in dieser Debatte zusätzlich brauchen? Der vorliegende Antrag sagt
also nicht aus, dass wir die gesamte Regulierungsdiskussion ersetzen wollen. Wir wollen vielmehr eine zusätzliche Dimension schaffen. Wenn man in seinem Menschenbild den Menschen als ethisches und soziales
Wesen wahrnimmt, muss man an den Finanzmärkten die
entsprechenden Voraussetzungen für Wahlmöglichkeiten
schaffen. Denn viele Menschen interessieren sich nicht
nur für die Rendite; das geht aus Umfragen hervor. Sie
wollen auch anderes berücksichtigen. Sie bekommen
aber die dafür notwendigen Informationen nicht. Darum
geht es in dem Antrag. Er soll nicht anstelle einer
Finanzumsatzsteuer oder anderer regulatorischer Maßnahmen treten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das
klarstellen könnten.
Herr Schick, ich danke Ihnen für die Frage. Ich hoffe,
dass wir im Bundestag gemeinsam - sogar gemeinsam
mit der SPD - Vorschläge für die Regulierung der Finanzmärkte erarbeiten werden.
({0})
Ich finde es schade, dass sich die Koalitionsfraktionen
weigern, zeitnah darüber zu diskutieren, wie wir künftig
mit der Frage der Besteuerung des Kapitalverkehrs umgehen.
({1})
Das ist diese Woche nämlich passiert: Sie von der CDU/
CSU haben eine zeitnahe Anhörung zur Transaktionsteuer abgelehnt.
Da sind wir uns einig. So, wie Ihr Antrag formuliert
ist, erwecken Sie aber den Anschein - das steht auf
Seite 1 Ihres Antrages -, die Finanzmärkte könnten der
zentrale Hebel für eine Neuausrichtung werden. Das ist
Marktgläubigkeit, die Bände spricht. Die Kriterien, die
Sie formuliert haben, sind gut, und wir werden uns sicherlich an etlichen Stellen einigen können.
Das Grundproblem - dass die Finanzmärkte diesen
enormen Umfang haben - haben Sie jedoch nicht er3210
kannt. Das liegt natürlich auch ein bisschen an den politischen Entscheidungen, die Sie in der rot-grünen Regierung getroffen haben.
Die Grünen haben gemeinsam mit der SPD eine absolute Ausweitung der privaten Altersvorsorge verabschiedet. Das steht in einem scharfen Gegensatz dazu, dass
das Umlageverfahren gestärkt werden müsste. Wenn das
Geld, das heute eingezahlt wird, gleich morgen ausgegeben wird - die Rücklage ist ja sehr gering -, dann muss
gar nicht erst nach Anlagemöglichkeiten gesucht werden.
Die ganzen Alterssicherungsfonds weltweit sind ein
wesentlicher Motor des Aufblähens der Finanzmärkte
gewesen, weil natürlich all diese Fonds mit möglichst
hohen Renditen geworben haben. Deshalb ist es eine
entscheidende Frage, wie man es erreicht, dass das Kapitalvolumen insgesamt wieder geringer wird.
Das bedeutet für die Linke - wir haben die Ausweitung der privaten Altersvorsorge von Anfang an abgelehnt -: Wir müssen das solidarische Rentensystem stärken, indem wir zurückkommen zu einer tatsächlich
paritätischen Finanzierung, zu einem System, in das alle
einzahlen und bei dem die Beitragsbemessungsgrenze
aufgehoben wird.
({2})
Dann hätten die wirklich Vermögenden in diesem Lande
wesentlich weniger Geld, für das sie nach ökologisch,
ethisch und sozial sauberen Anlagemöglichkeiten suchen könnten.
Wenn Sie für niedrige Steuersätze kämpfen - der
Spitzensteuersatz soll, wenn es nach Ihnen geht, ganz
weit unten liegen -, führt das dazu, dass Spitzenverdiener nach Anlagemöglichkeiten suchen. Jemand, der über
ein sehr hohes Einkommen verfügt, kann dann für ein
ruhiges Gewissen leicht auf 1 oder 2 Prozent Rendite
verzichten. Wir fordern - Sie wissen das - einen wesentlich höheren Spitzensteuersatz. 53 Prozent halten wir für
angemessen.
({3})
Wir halten es auch für angemessen, dass bei der Rentenversicherung die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben
wird.
({4})
Dann hätten die Millionäre wesentlich weniger Geld, für
das sie nach sauberen Anlagemöglichkeiten suchen
könnten.
Wenn ich den Antrag der Grünen im Gesamtzusammenhang betrachte, muss ich angesichts des Anspruchs,
der ausgedrückt wird, leider sagen: Das ist ein Tarnmäntelchen. Der Antrag ist nett und unschädlich; aber er
wird das Grundproblem nicht ändern. Bei den einzelnen
Punkten werden wir mit Ihnen gemeinsam schauen, auf
welche Kriterien wir uns einigen können. Das Grundproblem wird nicht geändert; da müssen wir noch streiten.
Ich hoffe, dass sich das im Plenum auf andere Fraktionen ausweitet.
Danke.
({5})
Der Kollege Ralph Brinkhaus hat jetzt das Wort für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zur Abwechslung zum Thema, nämlich zu dem
Antrag, reden.
({0})
Ich halte diesen Antrag für wichtig, Herr Dr. Schick.
Der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, der Erhalt unserer Umwelt ist ohne Zweifel die große Herausforderung unserer politischen Generation. Umso bedauerlicher ist es, dass diese Frage anscheinend in den
Hintergrund gerückt ist. Wir reden sehr viel über die Bewältigung der Finanzkrise und über Arbeitsplätze, aber
zu wenig über die Umwelt und über ethische Fragen. Insofern ist es richtig, wenn wir gerade jetzt prüfen, wie
wir an die großen ökologischen Herausforderungen herangehen. Genau in diesem Kontext sehe ich Ihren Antrag und nehme ihn durchaus ernst.
Trotzdem hatte ich beim Lesen dieses Antrags ein
Störgefühl. Ich musste lange überlegen, warum ich dieses Störgefühl hatte. Eine erste schnelle Antwort war:
Die Grundidee ist gut; aber muss es dieses riesige bürokratische Paket von zwölf Maßnahmen, Regulierungen
und Bestimmungen sein? Das hat mich an unser Steuersystem erinnert: Genau durch eine solche Regelungswut
haben wir unser Steuersystem nachhaltig verwüstet und
dadurch bei den Bürgerinnen und Bürgern diskreditiert.
Das hat mein Unbehagen aber noch nicht ganz erklärt.
Ich habe mich dann gefragt: Wer soll eigentlich festlegen, was ökologisch, ethisch oder sozial richtig und was
falsch ist? Ich denke, bei der Produktion von Landminen
sind wir uns schnell einig. Bei der Kernkraft - Sie sehen
das an den Diskussionen in der einen oder anderen
Partei - wird das schon schwieriger. Bei Mindestlöhnen
wird es recht kontrovers. Ich will damit sagen, dass die
Bewertungen, die Sie fordern, immer subjektiv sind, von
den Kriterien des jeweiligen Bewertenden abhängen. Ich
halte es für sehr gefährlich, ein Unternehmen, das sich
im Rahmen der geltenden Gesetze bewegt, nach den
subjektiven moralischen Vorstellungen derjenigen, die
aktuell über die politische Deutungshoheit verfügen, in
gut und schlecht einzuteilen.
({1})
Aber das war es ehrlich gesagt auch noch nicht, was
mich an Ihrem Antrag letztlich besonders irritiert hat.
Ich glaube, das war vielmehr der Geist, den ich hinter Ihren Formulierungen vermute,
({2})
ein Geist, der geprägt ist von mangelndem Zutrauen in
die Urteilsfähigkeit der Menschen in diesem Land, ein
Geist - und dies ist jetzt bei allem Respekt vor Ihrem
Antrag meine subjektive Deutung - der Bevormundung.
Ich möchte das auch erläutern. Wir haben in Deutschland eine Bevölkerung, die für ökologische und ethische
Fragen hochsensibel ist - niemand trennt so viel Müll
wie wir Deutschen, und es gab, das haben wir gerade in
der Diskussion vorher gehört, eine unglaubliche Spendenbereitschaft für Haiti -, eine Bevölkerung, der ich
also sehr wohl zutraue, die Entscheidung zu treffen,
mehr in nachhaltige Finanzprodukte zu investieren. Die
Wachstumszahlen bei derartigen Produkten zeigen dies
auch.
Wir sollten diese Menschen für die ethische und vor
allem ökologische Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gewinnen und vielleicht sogar begeistern. Begeistern, Herr Schick, funktioniert aber weder durch ein Paket aus zwölf neuen Vorschriften noch durch jährliche
schriftliche Berichte und auch nicht durch Stimmrechtsübertragungen bei Hauptversammlungen.
({3})
Das ist es, was mich an der Vorlage wirklich stört: Es
ist neben der Kleinteiligkeit der ein bisschen über allem
schwebende erhobene Zeigefinger. Wir sollten uns wirklich überlegen, ob das der richtige Weg ist, um für die
Menschen in Deutschland, die an den von Ihnen aufgeworfenen Fragen, glaube ich, wirklich interessiert sind,
eine innovative, motivierende Politik zu machen, eine
Politik, die dazu führt, dass die Verbraucher aus eigener
Entscheidung und aus eigener Überzeugung mehr ökologische und ethische Produkte nachfragen.
Wir haben hier im Übrigen nicht nur im Finanzbereich einen erheblichen Nachholbedarf. In unserer sozialen Marktwirtschaft hat es eigentlich immer ganz gut
geklappt, durch Nachfrage, also durch den Verbraucherwillen, auch das entsprechende Angebot zu generieren.
Warum soll das also nicht auch bei nachhaltigen Finanzprodukten funktionieren?
({4})
Begeisterung und den Willen, etwas zu ändern, können wir aber nur befördern, wenn wir als Politiker die
Dinge beim Namen nennen und die Menschen für unsere
Ideen gewinnen. Genau das ist unsere Aufgabe. Insofern
ist Ihr Antrag nicht ganz falsch; denn ausbeuterische
Kinderarbeit ist genauso ein Skandal wie die Produktion
von Streumunition.
({5})
Den Raubbau an unseren Ressourcen und den Klimawandel dürfen wir nicht mit einem Achselzucken zur
Kenntnis nehmen. Herr Schick, es ist richtig: Viele dieser Dinge würden nicht passieren, wenn sich nicht jemand finden würde, der das finanziert.
Insofern bin ich Ihnen grundsätzlich sehr dankbar,
dass Sie das Thema der ökologischen und ethischen
Ausrichtung der Finanzmärkte auf die Agenda gesetzt
haben. Wir haben vielleicht unterschiedliche Ansätze,
aber wir sollten gerade in dieser Zeit gemeinsam weiter
an diesem Projekt arbeiten.
Danke schön.
({6})
Für die SPD hat der Kollege Dr. Carsten Sieling das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In dem letzten Beitrag ist in der Tat ein bisschen stärker
auf den Geist und die Grundidee, die hinter diesem Antrag stehen, eingegangen worden. Dass wir im Rahmen
unserer vielen Diskussionen über die notwendige Regulierung der Finanzmärkte, über viele Bestimmungen und
über quantitative Steuerungen reden müssen, ist die eine
Sache. Ich glaube, das ist auch das Vorrangige.
Ich finde es aber ganz angenehm - das muss ich wirklich sagen -, hier auch einmal eine Debatte zu führen,
die sich auch darum rankt, wie die qualitativen Orientierungen und Prozesse eigentlich gesteuert werden können
und wohin wir mit unserer Gesellschaft gehen wollen.
Das ist doch ein klarer Punkt.
Ich teile natürlich die Auffassung, dass wir einen
überschäumenden Reichtum auch durch Besteuerung
und andere Dinge sicherlich in stärkerer Weise als bisher
gemeinwohlorientierten Finanzierungen zuführen müssen. Wir müssen aber auch immer im Kopf haben - das
habe ich in dem Redebeitrag von Frau Höll von den Linken nicht verstanden -, dass wir Gott sei Dank ein wohlhabendes Land sind und dass wir natürlich dafür sorgen
müssen, dass in dieser sozialen Marktwirtschaft, die natürlich ökologische und ethische Komponenten braucht
und auch hat, auch das Nachfrageverhalten entsprechend
gesteuert wird, sodass nachhaltige, vertretbare und gut
gestaltbare Produkte und Anlageformen nachgefragt
werden.
Das ist das, was der Antrag thematisiert und was sozusagen als Idee dahintersteht. Ich wäre froh, wenn wir
alle sagen würden: In diese Richtung müssen wir weiterdenken.
({0})
Nachhaltigkeit ist eine Aufgabe, der wir uns in Deutschland stellen müssen.
An dieser Stelle möchte ich sagen: Die Finanzkrise ist
entstanden, weil kurzfristiges Denken und profitorientiertes Handeln im Vordergrund standen. Ich kann nie3212
manden verstehen, der sagt - Kollege Flosbach und Kollege Schäffler haben das gemacht -: Es gibt zu viele
Regularien, hier werden zu viele Leitplanken gezogen.
({1})
Wir brauchen eine langfristige Orientierung, eine
langfristige Ausrichtung, eine langfristige Politik. Das
hat viel mit Nachhaltigkeit zu tun.
({2})
Diese Kriterien gehen dann auch in den sozialen, ökologischen und ethischen Bereich hinein. Dabei gibt es Verbindungen, die auch unterstützt werden müssen.
({3})
Ich weiß ja, warum sich die Regierungskoalition immer so aufregt.
({4})
Denn wenn man den Nachhaltigkeitstest einmal bei den
Maßnahmen, die Sie in den Raum stellen, durchführt,
dann wird man feststellen, wie wenig davon vorhanden
ist.
({5})
Wir haben in diesem Hause viel darüber diskutiert
- auch die Regierung hat lange darüber geredet -, dass
die Verbraucherseite durch Produktinformationen, Vertriebsvorschriften und viele andere wichtige Dinge, die
in dem Antrag auch genannt werden, gestärkt werden
muss. Aber außer Papier kommt nichts dabei heraus; es
folgt kein Handeln. Dazu kann ich nur sagen: beim
Nachhaltigkeitstest durchgefallen.
({6})
Ebenso sind doch die Maßnahmen zur Regulierung
- wir haben es jüngst diskutiert - von Ratingagenturen,
Hedgefonds und anderen Dingen nicht auf Nachhaltigkeit und Langfristigkeit ausgerichtet.
({7})
Genau das, Herr Dautzenberg, brauchen wir aber.
Zum Schluss möchte ich gerne sagen: Ihr Paradepferd
ist ja ganz plötzlich die Bankenabgabe. Auch dabei muss
man vielleicht einmal den Nachhaltigkeitstest machen.
Man muss sich einmal fragen, ob die Bankenabgabe eigentlich geeignet ist, die gewaltige Belastung der öffentlichen Haushalte und der Steuerzahler zu mindern.
Herr Kollege!
Ich komme zum Ende. - 100 Milliarden Euro für die
HRE, 18 Milliarden Euro allein für die Commerzbank und Sie kommen mit einer Abgabe, die 1 Milliarde Euro
erbringen soll.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kommen.
Das ist Symbolik, das ist wirkungslos. Wir brauchen
erheblich weiter reichende Maßnahmen. Ich finde, der
Antrag spricht diese Punkte an.
Herr Kollege!
Ich teile nicht alle Aspekte des Antrags, halte das aber
für eine unterstützenswerte und richtige Diskussion. Ich
bedanke mich bei der Präsidentin für ihre Geduld und
bei Ihnen, meine Damen und Herren, fürs Zuhören.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlage
auf Drucksache 17/795 an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung vorgeschlagen sind. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freie und faire Wahlen im Sudan sicherstellen,
den Friedensprozess über das Referendum
2011 hinaus begleiten sowie die humanitäre
und menschenrechtliche Situation verbessern
- Drucksache 17/1158 Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Johannes Selle für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diesen
interfraktionellen Antrag zum Sudan gibt es, weil dieses
Land vor einer historischen Chance steht. Nach über
zwei Millionen Toten und vier Millionen Vertriebenen
im Süden des Sudan - der Sudan hat insgesamt
38 Millionen Einwohner - und einem mühevollen Prozess von 2002 bis 2005 in Naivasha überwanden die
Bürgerkriegsparteien Feindseligkeit und Misstrauen und
schlossen einen Friedensvertrag: das Comprehensive
Peace Agreement.
Dieser Vertrag hat es in sich; denn es geht um verabredete Machtteilung, um Ressourcenteilung, um Grenzziehung in ölreichen Gebieten, um Entmilitarisierung
und gesetzliche Grundlagen zur Vorbereitung der Wahlen. Dabei waren circa 40 Kommissionen und Überwachungsgremien zu bilden.
Nach der kurzen Übergangszeit von fünf Jahren finden im April dieses Jahres Wahlen auf allen parlamentarischen Ebenen statt. Das sind acht Wahlvorgänge in einem Jahr. In unserem Superwahljahr 2009 hatten wir
vier Wahlen zu drei Terminen.
Die Menschen stehen vor einer großen Herausforderung, und die Analphabetenquote ist hoch. Es wird zu
Recht hinterfragt, ob die Vorbereitungen umfassend und
ausreichend sind. Aber ich kann Ihnen aus eigener Anschauung versichern, dass die erste Wahl nach 20 Jahren
Aufbruchstimmung erzeugt. Die Parteien wollen jetzt
die Erfahrung einer freien Wahl machen, auch wenn die
regierenden Parteien ungleich mehr finanzielle und publizistische Vorteile haben.
Unser Antrag richtet sich an die Bundesregierung mit
dem Ansinnen, in dieser entscheidenden Phase zusammen mit der internationalen Gemeinschaft alles zu tun,
dass diese Wahlen frei von Gewalt, unter Wahrung der
Versammlungs- und Pressefreiheit und mit entsprechender logistischer Unterstützung stattfinden können und
das Ergebnis von den Parteien akzeptiert wird. Denn
schon in einem Jahr soll in einem Referendum darüber
entschieden werden, ob sich Südsudan abtrennt und aus
dem Sudan zwei Staaten entstehen.
Das wichtigste Überwachungsgremium ist die Assessment and Evaluation Commission. Die Kommission
ist aus Vertretern der beiden Konfliktparteien, der Unterzeichnerstaaten und weiteren internationalen Vertretern
zusammengesetzt. Sie soll die Implementierung überwachen und nach der Hälfte der Interimsperiode den Prozess evaluieren.
Die Kommission hat sich entschieden, entsprechend
der Bedeutung der Situation im Januar dieses Jahres eine
ausführliche Bewertung des CPA-Prozesses durchzuführen. Der Bericht zeigt auf, was alles erreicht wurde - der
Frieden hat gehalten -, aber auch, welche Mängel bestehen.
Sorgen machen die nicht abgeschlossene Grenzziehung, die fehlende Friedensdividende für den kleinen
Mann, die Vervollständigung der Entmilitarisierung, die
Vorbereitung des Referendums und der Maßnahmeplan
für die Zeit nach dem Referendum.
Trotz allem macht der Bericht der Kommission Hoffnung, und er macht deutlich, dass die Zeit knapp und die
internationale Gemeinschaft gefordert ist. Auch deshalb
haben wir diesen Antrag vorgelegt. Ein Scheitern würde
die Konflikte wieder aufflammen lassen und wahrscheinlich ganz Afrika destabilisieren.
Es ist großartig, dass dieser Vertrag geschlossen werden konnte, und es ist großartig, dass er bis heute gehalten hat. Mit dem CPA wird aber nur ein Konflikt angesprochen. Ungelöst sind die Krisenherde in Darfur und
im Ostsudan. Mit unserem Antrag wollen wir einfordern,
dass eine gesamtsudanesische Strategie notwendig ist.
Das CPA könnte dabei das Modell werden, wie es auch
Mohamed Adam, der Generalsekretär der Übergangsbehörde in Darfur, vorschlägt.
Ziel dieses Antrags ist außerdem, die Beachtung der
Menschenrechte im Sudan zu fördern. Insbesondere Organisationen, deren Ziel es ist, eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Minderheiten und die Einhaltung
von Menschenrechten in Darfur, aber auch im Südsudan
zu bewirken, erhalten unsere volle Unterstützung.
Es gilt, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein kohärentes Konzept für den Umgang mit dem Sudan zu
entwickeln, das die unterschiedlichen Rollen und Interessen der Nachbarländer Sudans beachtet und die Demokratiedefizite sowie die schwachen staatlichen Strukturen im Sudan selbst berücksichtigt.
Der Sudan ist eigentlich reich. Das größte Land Afrikas ist neunmal so groß wie die Bundesrepublik. Es gibt
Wasser, Sonne, Bodenschätze und Öl. Die Chinesen haben das erkannt. Sie sind präsent und nutzen die Ressourcen des Landes. Am 1. März übergaben sie
1 Million von insgesamt 10 Millionen Dollar für demokratische Wahlen. Der chinesische Beauftragte für den
Sudan erklärte, dass China mit zehn Wahlbeobachtern
und weiterer technischer Hilfe die Wahlen unterstützen
wird.
Deutschland und Europa sollten sich in Sachen Demokratie nicht von China übertreffen lassen.
({0})
Deutschland sollte auch die Chancen einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit in den Blick nehmen. Deutschland wird zugetraut, den Aufbau fair, partnerschaftlich
und ökologisch zu unterstützen.
Hilfsorganisationen tragen seit Jahren dafür Sorge,
dass diese für den Sudan historische Situation erfolgreich bewältigt wird. Ich erinnere an den Appell vom
Juni letzten Jahres. Im Januar 2010 hatten Amnesty International, World Vision, das Bonn International Center
for Conversion, die Gesellschaft für bedrohte Völker,
Media in Cooperation and Transition und Oxfam zu einer Podiumsdiskussion zum fünften Jahrestag des CPA
eingeladen. Dafür möchte ich danken. Denn der vorliegende gemeinsame Antrag ist auch ein Ergebnis dieser
Veranstaltung. Die Fraktionen haben lange daran gefeilt
und Gedanken ausgetauscht.
({1})
Ein gemeinsamer Antrag ist der sudanesischen Situation angemessen. Wir haben das gemeinsame Ziel eines
dauerhaften Friedens im Blick, und das erwarten wir
auch von den Konfliktparteien.
Man kann den Fortschritten misstrauen; man kann die
zweifellos vorhandenen Gefahren immer wieder vorschieben. Ich plädiere dafür, die Parteien beim Wort zu
nehmen und zu den noch fehlenden Vertragselementen
zu ermutigen.
({2})
Wir sollten das tatkräftig unterstützen, was wir gewollt
haben. Heute brauchen Afrika und der Sudan unsere Unterstützung. Bei all den globalen Problemen, vor denen
wir stehen, werden wir ziemlich bald Afrika und den Sudan brauchen.
({3})
Für die SPD spricht der Kollege Christoph Strässer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst schließe ich mich
dem Dank an, den der Kollege Selle zum Ausdruck gebracht hat. Ich glaube, die Initialzündung für diesen Antrag ist der Arbeit vieler Nichtregierungsorganisationen
zu verdanken. Dass vier Fraktionen es hingekriegt haben, sich fraktionsübergreifend zu verständigen, ist auch
ein gutes Signal. Deshalb beginne ich meine Rede auch
mit einem Zitat aus einer Schrift von zehn Nichtregierungsorganisationen aus dem Januar:
Die nächsten zwölf Monate werden für die Zukunft
des Sudans entscheidend sein. Während das Land
den fünften Jahrestag der Unterzeichnung des
Nord-Süd-Friedensabkommens von 2005 begeht,
das einen mörderischen Bürgerkrieg beendete, hat
im Südsudan die Gewalt erheblich zugenommen.
Im Jahr 2009 wurden rund 2 500 Menschen getötet,
und 350 000 mussten fliehen. Bevorstehende historische Wahlen und ein späteres Referendum werden
das brüchige Friedensabkommen auf eine harte
Probe stellen. Es ist zu befürchten, dass die Gewalt
eskaliert - es sei denn, die dringend benötigte internationale Unterstützung wird gewährt.
Wegen des letzten Satzes habe ich dieses Zitat vorgelesen; denn wir alle wissen, dass die Lage im Sudan
- nicht nur im Sudan, sondern in der kompletten Region außerordentlich fragil ist. Es gibt die eine oder andere
positive Nachricht, beispielsweise über eine angebliche
Annährung zwischen der Zentralregierung des Sudans
und dem Tschad. Es gibt Meldungen über Friedensabkommen, die in Darfur, einer der großen Krisenregionen,
zwischen der größten Rebellenorganisation und der Regierung geschlossen worden sind. Aber all dies ist mit
Vorsicht zu genießen; das wissen wir. Meldungen über
Friedensabkommen aus dieser Region haben selten die
Zeit überlebt, in der man in diesem Hohen Hause überhaupt darüber diskutieren konnte.
Deshalb ist in dieser fragilen Situation natürlich auch
die Frage zu stellen, ob es gut und richtig ist, Wahlen anzuberaumen. Das ist aber auch die Wahrheit, die hinter
diesem Wahlprozess steht: Wir haben über das CPA,
über das Friedensabkommen zwischen Nord und Süd,
gesprochen, und wir haben auch festzustellen, dass die
Wahlen und das anschließende Referendum im Jahr
2011 tragende Elemente und wichtige Pfeiler dieses
Friedensabkommens sind. Deshalb müssen wir trotz der
schwierigen Situation in den Krisenherden in Darfur, im
Osten des Sudans und insbesondere im Süden klarmachen, dass wir, der Westen, die Staatengemeinschaft, die
Afrikanische Union und alle anderen, hinter diesem Prozess stehen. Wir müssen die Menschen ermutigen und
dürfen sie nicht erneut enttäuschen und ihnen die Friedensdividende, die sie erwarten, nicht länger vorenthalten. Das ist, glaube ich, die Kernbotschaft unseres heutigen Antrages. Ich bin wirklich der Meinung, dass dieser
Antrag eine breite Unterstützung in diesem Hohen
Hause verdient hätte.
({0})
Wir wissen auch, wenn wir über Friedensdividende
reden, was im Land wirklich los ist. In den letzten fünf
Jahren bin ich sechsmal im Südsudan gewesen. Wir haben einfach festzustellen: Der Fortschritt ist dort langsamer als eine Schnecke. Wir wissen, dass fast jeder
zweite Mensch im Südsudan keinen Zugang zu Wasser
hat. Es gibt dort keine funktionierende Infrastruktur.
Hunger, Elend und Gewalt bestimmen nach wie vor den
Alltag. Deshalb mehren sich ja nun auch die Stimmen,
die die Frage stellen, ob es unter diesen Umständen
wirklich sinnvoll ist und einen Fortschritt bedeutet, hier
Wahlen abzuhalten.
Ich habe es eben schon gesagt: Eine Botschaft von
hier, von den Vereinten Nationen und anderen Institutionen, diese Wahl jetzt, wenige Wochen, bevor sie stattfinden soll, abzubrechen, wäre trotz all der Schwierigkeiten
das absolut falsche Signal. Es gibt dort viele Menschen,
gerade junge Leute, die noch nie in ihrem Leben wählen
konnten, die noch nie über ihre eigene Zukunft mitbestimmen konnten. Sagten wir ihnen, weil es schwierig
ist, helfen wir euch nicht, enttäuschten wir diese jungen
Leute und verspielten ihre Zukunft. Das kann und darf
an dieser Stelle nicht sein.
Wir haben - das ist der einzige Punkt, bei dem ich
auch etwas größere Kritik an den Formulierungen im
Antrag habe - mittlerweile gehört, dass der amtierende
Präsident des Sudans, Herr Baschir, Wahlbeobachtern
die Einreise verweigern und sie des Landes verweisen
will. Das muss man hier zur Kenntnis nehmen. Ich bin
definitiv der Meinung - ich kritisiere die Nachgiebigkeit
an diesem Punkt -, dass die internationale Staatengemeinschaft, die im Weltsicherheitsrat den Auftrag erteilt
hat, zum Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Herrn Baschir stehen muss.
({1})
So schwierig das außenpolitisch ist - ich weiß, dass die
Gespräche sehr schwierig sind -: Es kann nicht sein,
dass Herr Baschir - er leugnet alles, weist alles von sich
und schiebt anderen die Schuld zu - bei der ersten Bewährungsprobe des Internationalen Strafgerichtshofes zum ersten Mal gibt es einen Haftbefehl gegen einen amtierenden Staatspräsidenten - ungeschoren davonkommt.
Das wäre eine Niederlage für den internationalen
Rechtsschutz; das kann sich die internationale Staatengemeinschaft nicht leisten. Deshalb geht es darum, weiterhin den Wahlprozess zu forcieren, aber auch alle Mittel und Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit das
internationale Recht bei Herrn Baschir angewendet werden kann.
({2})
Wir sollten an dieser Stelle der Auseinandersetzung
auf das CPA zurückkommen, das Abkommen, das diesen Konflikt regelt. Viele von uns - Kollege Fischer war
auch dabei - waren im Jahr 2004 im Sudan. Damals waren wir der Meinung, in jenem Jahr würde in Naivasha
der Prozess beendet und das Abkommen unterschrieben.
Wir waren bereit, einen Bus zu chartern und dorthin zu
fahren, um das zu feiern und die Menschen zu beglückwünschen. 2004 hat es nicht geklappt; aber das macht
nichts. 2005 ist es dann zum Abschluss des Vertrages gekommen.
Man sollte zwei Feststellungen machen:
Erstens. CPA, das umfassende Friedensabkommen,
hat seine Mängel. Es hat strukturelle Mängel: Beispielsweise haben nur zwei große Konfliktparteien verhandelt,
auf der einen Seite die herrschende Partei NCP im Norden, auf der anderen Seite die Befreiungsbewegung des
Südens. Viele kleinere Gruppen, zivile Gruppen, waren
nicht daran beteiligt.
Zweitens. In der Konsequenz handelte es sich nur um
eine Befriedung des Nord-Süd-Konflikts; der Konflikt in
Darfur wurde nicht geregelt, nicht gelöst, der Zustand im
Osten ist sehr fragil.
Man muss also bei der Bewertung dieses Friedensabkommens vorsichtig sein. Viele Menschen, die dort
arbeiten, vertrauen aber auf die Wirkung dieses Vertragswerkes. Ich möchte etwas überspitzt zum Friedensprozess im Sudan, insbesondere zum Konflikt zwischen Süd
und Nord, sagen - in Abänderung eines Zitats von Willy
Brandt; irgendwie finde ich den Vergleich zutreffend -:
Dieser Friedensschluss, dieses umfassende Friedensabkommen ist nicht alles; aber ohne diesen Friedenschluss
wäre alles nichts. Das sollten wir bedenken. Wir müssen
die Sudanesen unterstützen, damit der Friedensprozess
gelingt. Ich finde es ganz wichtig, dass sich die internationale Staatengemeinschaft einmischt, dass sie insbesondere - das hat Gerhart Baum in einem Interview in
der heutigen Financial Times Deutschland bekräftigt die Forderung nach einer UN-Konferenz zum Sudan
endlich umsetzt, um einen umfassenden Friedensprozess
zu gewährleisten.
Ich schließe mit einem Zitat derselben Nichtregierungsorganisation, die ich schon zu Beginn meiner Rede
zitiert habe:
Die Bevölkerung im Südsudan hat außergewöhnliche Ausdauer bewiesen, als es darum ging, nach
den Kriegsjahrzehnten neu anzufangen. Wenn die
Menschen Hoffnung auf eine Zukunft haben sollen,
benötigen sie dringend spürbare Entwicklungsfortschritte und Schutz vor Gewalt. Der Sudan steht vor
vielen miteinander verknüpften Herausforderungen,
die jedoch gemeistert werden können, wenn die internationale Gemeinschaft jetzt handelt.
Ich hoffe und wünsche, dass heute vom Bundestag für
diese Handlungsfähigkeit ein deutliches Signal ausgeht.
Herzlichen Dank.
({3})
Marina Schuster hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst einmal möchte auch ich einen Dank
vorausschicken. Ich denke, wir haben sehr konstruktive
Antragsberatungen erlebt. Dafür gilt mein Dank den beteiligten Fraktionen. Ich danke aber auch den NGOs
- manche sind heute auf der Tribüne vertreten -, die sich
so engagiert beteiligt haben und wichtige Informationsgeber waren.
({0})
Außerdem freue ich mich, dass ich gestern im Auswärtigen Ausschuss vernommen habe: Auch die Bundesregierung begrüßt diesen Antrag vollumfänglich. Ich
freue mich noch mehr, wenn ich sehen kann, dass unsere
Bundesregierung die Forderungen dieses Antrages
Schritt für Schritt umsetzt. Da setze ich große Hoffnungen auf Staatsministerin Cornelia Pieper, Dirk Niebel
und natürlich auch den Außenminister.
({1})
Mit dem interfraktionellen Antrag senden wir ein sehr
starkes Signal, was die Wahlen betrifft; das ist heute
schon angesprochen worden. Es geht darum, dass freie
und faire Wahlen stattfinden. Diesbezüglich haben wir in
unseren Antrag verschiedene Forderungen aufgenommen: Es muss Wahlbeobachter geben. Bei der Vorbereitung der Wahlen ist logistische Unterstützung erforderlich. Wichtig ist auch, dass sowohl die Konfliktparteien
als auch die politischen Parteien alles in ihrer Macht Stehende tun, vor Ort für gewaltfreie und faire Wahlen zu
sorgen.
Der Antrag legt den Fokus aber auch auf die kritische
Phase danach und auf die Abstimmungen, die 2011 beim
Referendum stattfinden werden. Das ist sozusagen das
Herzstück des Antrages. Wir wissen nicht, wie das Referendum ausgehen wird, wie sich die Bürgerinnen und
Bürger entscheiden werden. Aber eines ist klar: Die
Konfliktparteien müssen mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft dafür Sorge tragen, dass es nicht
zu einem neuen Krieg kommt. Das heißt, es muss klare
Vorgaben für den Fall geben, dass sich der Südsudan für
eine Abspaltung entscheidet. Es muss geregelt werden,
wie es dann in Bezug auf die Staatsangehörigkeit und die
Aufteilung der Öleinnahmen weitergeht. Ich denke, es
ist eine ganz, ganz wichtige Forderung, dass das im Rahmen der Konferenz umgesetzt wird.
Der Antrag nimmt sich aber nicht nur des Konfliktes
zwischen Nord und Süd an, sondern auch der anderen
Regionen. Denn vieles ist miteinander verwoben und
hängt voneinander ab. Die entscheidende Frage ist: Sind
die jeweiligen Regionen und die jeweiligen Stämme genügend eingebunden? Haben sie ihren Anteil an der politischen Mitwirkung und an der Wirtschaftsentwicklung?
Ohne die Einbindung der Zivilgesellschaft vor Ort ist
kein tragfähiger Frieden möglich.
({2})
Auch dürfen wir nicht die unterschiedlichen Rollen
der Nachbarstaaten außer Acht lassen, die mit sehr verschiedenen Agenden ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen. Nach wie vor sehe ich die Gefahr eines
Flächenbrandes. Deshalb ist auch die Berücksichtigung
der Interessen der Nachbarländer als Forderung in unserem Antrag enthalten. Denn man kann den Sudan nicht
losgelöst von den Problemen der Nachbarn sehen.
Zwei Punkte möchte ich noch erwähnen. Wir werden
natürlich Debatten zu den Mandaten UNAMID und
UNMIS führen; sie werden im Sommer kommen. Ich
habe bei der ersten Mandatierung von UNAMID schon
davor gewarnt, die Gegebenheiten vor Ort falsch einzuschätzen. Erst wurde laut nach dem UN-Hybrid-Mandat
gerufen, und dann standen die Truppen auf verlorenem
Posten, ohne volle Truppenstärke und ohne ausreichende
Transportkapazitäten. Ich denke, wir tun gut daran, wenn
wir uns im Rahmen der Vereinten Nationen wirklich für
eine Anpassung der Mandate an die Gegebenheiten vor
Ort einsetzen.
({3})
Das Gleiche betrifft das UNMIS-Mandat. Wir legen
den Fokus auf die Konfliktprävention. Ein Schlüssel
dazu ist die Polizeiausbildung im Rahmen des Mandates,
die wir verstärken möchten.
Ich komme zum letzten Punkt des Antrages, zu den
Menschenrechten. In einer wegweisenden Entscheidung
hat der UN-Sicherheitsrat den Internationalen Strafgerichtshof mandatiert, Kriegsverbrechen im Sudan zu verfolgen. Für mich ist vollkommen klar, dass es - das haben wir auch im Koalitionsvertrag niedergeschrieben keine Kultur der Straflosigkeit geben darf. Die massiven
Menschenrechtsverletzungen müssen geahndet werden,
und deswegen unterstützen wir die Haftbefehle gegen
Baschir, Kony und Weitere, die angeklagt sind.
({4})
Baschir hat in einem Interview im Spiegel erklärt,
dass der Haftbefehl seine Popularität gesteigert habe.
Diese persönliche Schlussfolgerung darf uns nicht beirren.
({5})
Wir dürfen nicht zulassen, dass der Internationale Strafgerichtshof belächelt oder seine Autorität untergraben
wird. Es ist an uns, geschlossen gegen Kriegsverbrechen
und Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzutreten
und die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.
({6})
Ich komme zum Schluss. Mit dem Antrag, der heute
vorliegt, halten wir Wort. Wir haben bei der Podiumsdiskussion am 7. Januar das Versprechen gegeben, uns zu
einem interfraktionellen Antrag zusammenzufinden, und
wir haben unser Versprechen gehalten. Wir tun mit diesem Antrag aber noch viel mehr: Wir beweisen den hoffnungsvollen Menschen im Sudan, dass wir ihre Unterstützer sind auf einem Weg zu einem Leben in Frieden,
Freiheit und Menschenwürde.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Niema Movassat hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist heute schon deutlich geworden: Bei dem Sudan
handelt es sich um eines der ärmsten Länder der Erde.
Laut einem Bericht von Nichtregierungsorganisationen
hat im Südsudan weniger als die Hälfte der Bevölkerung
Zugang zu Trinkwasser; jedes siebte Kind stirbt vor dem
sechsten Lebensjahr. Es ist also dringend notwendig, in
Gesundheit, in Bildung und in den Zugang zu sauberem
Wasser zu investieren,
({0})
und zwar nachhaltig; denn die häufig geleistete Nothilfe
ist selten entwicklungsorientiert. Sie trägt vielmehr dazu
bei, die lokale Selbstversorgung zu behindern.
Allerdings ist die Art, wie man sich hierzulande mit
dem Sudan beschäftigt, höchst bedenklich; denn dabei
geht es weniger um die Herstellung von sozialer Sicherheit als vielmehr um die Vorbereitung auf die Abspaltung des ölreichen Südsudan vom Norden.
({1})
Das Friedensabkommen sieht zwar ein Referendum über
die Frage „Abtrennung oder Autonomie?“ vor, betont
aber ausdrücklich, dass die Einheit des Sudan attraktiv
gemacht werden soll, auch weil eine Abtrennung die Gefahr eines neuen Krieges um die Ölressourcen birgt.
In dieser Hinsicht ist in den letzten Jahren nichts geschehen. Im Gegenteil: Wenn die GTZ im Südsudan ein
Programm zum Staatsaufbau durchführt, wenn sie Straßen baut, die den Südsudan vor allem mit Kenia anstatt
mit der Hauptstadt Khartoum verbindet, und wenn
gleichzeitig der Nordsudan in der Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt wird, dann trägt Deutschland
dazu bei, dass die Abspaltung vorangetrieben wird.
({2})
Wozu das alles? Damit Deutschland und die EU beste
Kontakte zur zukünftigen südsudanesischen Regierung
aufbauen und damit das notwendige Klima dafür geschaffen wird, dass deutsche und europäische Firmen
beim künftigen Poker um Aufbauverträge und Erdöl auf
der Gewinnerseite stehen.
({3})
So hat heute in Berlin ein Planspiel des Afrika-Vereins
der deutschen Wirtschaft stattgefunden - und zwar in einer Einrichtung des Verteidigungsministeriums -, Titel:
„The Day After - Planspiel für Unternehmer in Konfliktregionen“. Ziel des Planspiels ist es, am Beispiel des
- Sie ahnen es - Südsudan die Handlungsmöglichkeiten
deutscher Unternehmen bei kriegerischen Auseinandersetzungen zu diskutieren.
({4})
Deutschland trägt also zur Abtrennung bei und plant
schon jetzt die Beteiligung deutscher Firmen an sich ergebenden zukünftigen Geschäftsmöglichkeiten.
({5})
Das ist geschmacklos und kommt Naomi Kleins Schockstrategie gefährlich nahe.
({6})
Diese neokolonialistische Herangehensweise schlägt
sich auch in Ihrem Antrag nieder;
({7})
denn Sie schreiben, dass im Rahmen einer Sudan-Konferenz ein größtmöglicher Konsens zwischen der EU, den
USA, der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und
China über die zentralen politischen Ziele hergestellt
werden soll. Dreimal dürfen Sie raten, wer bei dieser
Aufzählung fehlt: Die dann neugewählte sudanesische
Regierung und damit die sudanesische Bevölkerung.
Wie wäre es, sie zu fragen, was ihre zentralen politischen Ziele sind?
({8})
Ich finde in Ihrem Antrag auch keinerlei Kritik an der
Aufrüstung und Ausbildung südsudanesischer Milizen
durch Kenia und Äthiopien, obwohl diese Aufrüstung
dem Friedensabkommen widerspricht und obwohl - oder
gerade weil - Äthiopien wichtigster Partner Deutschlands
in der Region ist.
Herr Movassat, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schuster zulassen?
Nein, ich möchte meine Rede gern zu Ende führen.
({0})
Ein letzter Punkt. Im Rahmen von UNMIS wollen Sie
die Polizeiausbildung personell und materiell intensivieren. Sie waren doch bei dem Treffen mit den Nichtregierungsorganisationen hier im Bundestag und haben ihre
Kritik an diesem Programm gehört: Die Polizeiausbildung stärkt vor allem eine bestimmte Bevölkerungsgruppe im Südsudan und stellt somit ein Potenzial für
zukünftige Spannungen dar. Die Mehrzahl der Polizisten
in spe kann außerdem weder lesen noch schreiben. Hier
muss man ansetzen; sonst hat man schlechte Voraussetzungen für eine an Rechtsstaatlichkeit gebundene Polizei.
({1})
Alles in allem haben wir es mit einem Antrag zu tun,
der wieder einmal vorgibt, Frieden und Entwicklung
durch Militärmissionen zu erreichen, und durch den der
deutsche Einfluss im Südsudan sichergestellt werden
soll. So einem Antrag wird die Linke auf keinen Fall zustimmen.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat Kerstin Müller für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Auch ich will zunächst einmal sagen, dass ich es sehr begrüße und mich freue, dass es gelungen ist, einen interfraktionellen Antrag einzubringen; denn dieses Thema
ist wichtig. Dieser Antrag beinhaltet einen klaren Arbeitsauftrag an die Bundesregierung. Die Sudankrise ist
nicht irgendeine Krise; ihre Überwindung stellt eine der
größten außenpolitischen und menschenrechtlichen Herausforderungen dar. Das muss in der künftigen Außenpolitik stärker deutlich werden.
Ich finde es bedauerlich, dass die Linke nicht eingebunden war. Ich fände es gut, wenn die Union ihre Position an dieser Stelle überdenken würde. So vorzugehen,
wie sie es tut, ist politisch einfach nicht klug.
Kerstin Müller ({0})
({1})
Herr Kollege Movassat, anhand Ihres Beitrags und
auch im Ausschuss durch Herrn van Aken ist klar geworden, dass Sie an einer bestimmten Stelle ausgestiegen wären, nicht zuletzt wegen UNMIS und UNAMID.
Das, was Sie hier deutlich gemacht haben, zeigt, dass
Ihre Position zu den Mandaten außenpolitisch schlichtweg abenteuerlich ist.
({2})
Wenn Sie einen Einsatz, der nachweislich zur Stabilisierung der Lage im Südsudan entscheidend beigetragen
hat und zu dem Deutschland Beobachter und zivile Mitarbeiter, die unter größten Anstrengungen ihren Beitrag
leisten, entsendet, als Kampfeinsatz bezeichnen, dann ist
das einfach nur abenteuerlich und außenpolitisch nicht
seriös. Sie stellen sich damit ins Abseits. Ich glaube, die
Klugen bei Ihnen wissen das. Sie werden da sicherlich
zu einer Veränderung ihrer Position kommen; denn sonst
brauchen Sie sich an dieser Stelle gar nicht mehr einzumischen.
({3})
Gerade jetzt, im letzten Jahr der Umsetzung des CPA,
muss deutlich werden, dass wir es ernst meinen mit der
Krisenprävention und der internationalen Schutzverantwortung, der R2P, gegenüber den Menschen im Sudan.
Ein solches Signal ist bitter nötig; denn der Sudan steht
am Scheideweg, zum einen wegen der Wahlen im April,
zum anderen wegen des Referendums im nächsten Jahr.
Der Friedensprozess ist ins Stocken geraten. Wenn das
CPA auf den letzten Metern scheitert, dann könnte der
Sudan erneut zum größten Katastrophenfall Afrikas werden, und zwar mit einem neuen Krieg, der das gesamte
Horn von Afrika mit in den Abgrund zieht und der Folgen für Europa und Deutschland hätte.
Die Wahlen im April sind in Gefahr, weil die al-Baschir-Partei durch Tricksereien, falsche Wahlregister und
repressive Sicherheitsgesetze keinen fairen Wahlkampf
und keine freie Wahlen zulässt. Wer diese Probleme
beim Namen nennt, dem droht al-Baschir mit Rausschmiss. Sie haben alle das Zitat gelesen: „Wenn sich
andere in unsere Angelegenheiten einmischen, dann
werden wir ihnen die Finger abschneiden und sie unter
unseren Schuhen zerquetschen.“ Das ist eine unakzeptable Äußerung des Präsidenten al-Baschir. Wir werden
nicht zulassen, dass die Wahlen eine Wahlshow für alBaschir werden, aus der er wieder Legitimation ziehen
will. Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen ihn bleibt bestehen. Er muss sich Den Haag
stellen. Das machen wir alle gemeinsam mit diesem Antrag noch einmal deutlich.
({4})
Die Wahlen sind aber nur der Auftakt. Die eigentliche
Zäsur, und zwar für ganz Afrika, steht mit dem Referendum bevor. Es wird wahrscheinlich zum ersten Mal passieren, dass sich die postkolonialen Grenzen durch
Abstimmung verändern. Die Frage ist, ob das die Geburtsstunde eines neuen Failing State ist, und zwar mit
dramatischen Folgen, oder ob es die Chance auf eine
friedliche Abspaltung gibt.
Ich glaube, nichts wird gut sein im Sudan, wenn wir
uns jetzt nicht intensiv engagieren, wenn es nicht eine
große internationale Kraftanstrengung gibt. Genau deshalb fordern wir eine UNO-Konferenz zum Thema Sudan, bei der alle an einem Strang ziehen. Die Europäische Union, die UNO, China, aber auch die Arabische
Liga und die AU müssen eingebunden werden; das ist
die Lehre aus dem CPA. Das CPA kam nach mehr als
25 Jahren Bürgerkrieg zustande, weil alle an einem
Strang gezogen haben, weil man Druck auf die Konfliktparteien ausgeübt hat. Es müssen jetzt genauso große
Anstrengungen unternommen werden, eine Sudan-Konferenz durchzuführen, damit dort ein Fahrplan zur Bearbeitung der strittigen Fragen ausgearbeitet werden kann,
und zwar für die Zeit vor und nach dem Referendum.
Wenn diese Konferenz nicht zustande kommt, dann besteht die große Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, und den
müssen wir unbedingt verhindern.
({5})
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende bitte.
Ich komme zum Schluss. - Bei der Sudan-Krise reicht
es nicht aus, bloß mitzuschwimmen, sondern wir müssen
zeigen, dass wir es mit der Krisenprävention ernst meinen. Das ist der wichtige Arbeitsauftrag an die Bundesregierung. Sie können sicher sein, dass wir Sie an diesem
Auftrag messen und dieses Thema immer wieder auf die
Tagesordnung setzen werden.
Frau Kollegin.
Wir haben ein großes außenpolitisches Interesse daran, einen neuen Krieg im Sudan zu verhindern.
Vielen Dank.
({0})
Hartwig Fischer hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein herzliches Dankeschön an alle, die durch die Mitarbeit an diesem Antrag gezeigt haben, dass sie es mit dem
Frieden für den Sudan ernst meinen.
({0})
Wir haben eine Chance. Ob diese Chance aber Realität wird, hängt auch davon ab, wie man sich als Parlament international präsentiert, ob man diese Chance
ernst nehmen will und was man aus dieser Chance
macht. Die Menschen dort sind geschunden. Ich kann
nur sagen: Herr Movassat, was Sie hier gesagt haben,
grenzt an Realitätsverweigerung. Hier sind Kollegen,
auch aus Ihrer Fraktion, die Menschen haben sterben sehen. Herr Leutert war mit in Darfur und hat miterlebt,
was dort mit den Menschen vorgeht. Herr Leutert aus Ihrer Fraktion weiß, dass die Helfer ohne UNAMID und
ohne UNMIS überhaupt keine Chance hätten, den Menschen dort zu helfen. Ich finde es deprimierend, wenn
dennoch von Neokolonialismus gesprochen wird.
({1})
Sie zeigen hier auf, dass die Hälfte der Menschen im
Südsudan keinen Zugang zu Wasser hat, verweigern sich
aber der Realität, dass über 400 000 südsudanesische
Flüchtlinge in den vergangenen anderthalb Jahren aus
Kenia und aus Uganda in den Südsudan zurückgekehrt
sind. Unter anderem hat dies die GTZ möglich gemacht,
weil sie eine Infrastruktur für diese Rückkehrer aufgebaut
hat, weil sie Wasserlöcher gebohrt und den Menschen
eine Chance gegeben hat, aus den Flüchtlingslagern in
ihre Heimatgebiete zurückzukehren. Auch das wäre ohne
eine entsprechende Hilfestellung der UN nicht möglich
gewesen.
Auch bei dem Wahlprozess stehen wir in der Verantwortung, auch wenn wir das in den Antrag nicht expressis verbis aufgenommen haben; denn es muss auch diplomatische Auseinandersetzungen geben. Al-Baschir
ist ein Straftäter, auf den ein internationaler Haftbefehl
ausgestellt ist. Dies muss man in einer Debatte offen sagen. Das muss auch für die Zukunft gelten; sonst glauben Machthaber, einen Freibrief für Völkermord zu haben, wie wir ihn an vielen Stellen auf dieser Erde immer
wieder erlebt haben.
Wenn wir diesen Friedensprozess und auch den Wahlprozess im Sudan vorantreiben wollen, dann dürfen wir,
die Weltgemeinschaft, nicht zulassen, dass Wahlbeobachter aus diesem Land vertrieben werden. Wir wissen,
dass die Wahlvorbereitungen einigermaßen anständig
abgelaufen sind. Aber die letzten Tage müssen genutzt
werden, um die deutliche Aufbruchstimmung, die es in
der Bevölkerung gibt, zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die Menschen über diese Wahlen eine Chance
bekommen.
Unser Außenministerium und unser Entwicklungsministerium müssen sich darauf vorbereiten, dass wir,
wenn dieser Wahlprozess in einer vernünftigen Form abläuft und sich dann eine Regierung bildet, dazu beitragen, dass dort in Zukunft ein Aufbau erfolgt. Das heißt,
Herr Movassat, dass wir den Aufbau nicht nur über Entwicklungszusammenarbeit organisieren; vielmehr müssen wir als Deutsche ein Interesse daran haben, dass es
Unternehmen gibt, die bereit sind, dort partnerschaftlich
aufzubauen. Man muss diesem Land beim Übergang
vom informellen zum formellen Sektor helfen, um den
Menschen im Sudan eine nachhaltige Teilhabe zu ermöglichen.
({2})
Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Menschen im
Südsudan, in Darfur oder in anderen Regionen handelt.
Der nächste Schritt wird dann sein, dass sich dieses
Volk eigenständig auf der Grundlage von Regeln, die
man getroffen hat, entscheidet, ob es sich teilt oder ob es
sich nicht teilt. Diese Entscheidung wird nicht in internationalen Gremien getroffen,
({3})
sondern durch ein Referendum. Wenn diese Entscheidung getroffen ist, geht es darum, entweder einem oder
zwei sudanesischen Staaten eine Friedensdividende zu
geben. In diesem Sinne bitte ich Sie alle - ich fordere die
Linke auf, dem Appell von Herrn Movassat nicht zu folgen -, für Frieden und Gerechtigkeit im Sudan zu stimmen.
({4})
Ich beende die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/1158 mit dem Titel „Freie
und faire Wahlen im Sudan sicherstellen, den Friedens-
prozess über das Referendum 2011 hinaus begleiten so-
wie die humanitäre und menschenrechtliche Situation
verbessern“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag ange-
nommen bei Zustimmung durch die einbringenden Frak-
tionen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt.
Enthaltungen gab es keine.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a und b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mobilität nachhaltig gestalten - Erfolgreichen
Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwickeln
- Drucksache 17/1060 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit grüner Elektromobilität ins postfossile
Zeitalter
Drucksache 17/1164 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine halbe
Stunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Sehr geehrte Herren und Damen! Bald ist
es so weit: Die Osterferien kommen auch für uns näher
und mit ihnen zahlreiche Staus auf unseren Straßen. Kilometerlang rollen gewaltige Blechlawinen - meist gen
Süden -, und so mancher Urlaub beginnt mit Stress. Von
der erhofften Erholung sind die, die im Stau stehen, im
wahrsten Sinne des Wortes kilometerweit entfernt.
Was wir wollen, ist, schnell, bequem und sicher sowie
preisgünstig von A nach B zu kommen. Unsere Wirtschaft braucht für eine immer spezialisiertere, hocharbeitsteilige Produktion Rohstoffe und Fertigteile just
in time in ganz Europa. Eine gut ausgebaute Infrastruktur ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine
funktionierende Wirtschaft.
({0})
Die Globalisierung hat die Fahrstrecken verlängert.
Diese von uns allen gewollte Mobilität aber hat ihren
Preis, nicht nur in Form von Tarifen und Treibstoffkosten, sondern auch in Form von Verkehrslärm, Luftverschmutzung, Flächenverbrauch und Zerschneidung von
Städten und Landschaften. Der Energieverbrauch, der
mit der Verkehrsleistung verbunden ist, verursacht erhebliche Umweltbelastungen. So geht ein Fünftel aller
CO2-Emissionen auf das Konto des Verkehrs.
Wir stehen vor der Herausforderung, Mobilität zu ermöglichen, gleichzeitig aber die Belastung für Menschen und Umwelt zu senken. Die Bewältigung der
künftig noch wachsenden Verkehrsprobleme setzt eine
integrierte Verkehrspolitik voraus.
({1})
Teillösungen und das Fokussieren auf einzelne Verkehrsträger sind der falsche Weg. Nötig ist eine zukunftsfähige Verkehrspolitik aus einem Guss.
({2})
Wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen haben dies bereits früh erkannt und haben schon im Jahr
1999 im SPD-geführten Bundesministerium für Verkehr,
Bau und Wohnungswesen eine Arbeitsgruppe „Integrierte Verkehrspolitik“ einberufen, die das damals noch
neuartige Konzept in einem breiten Dialog weiterentwickeln sollte. Im Verkehrsbericht 2000 und im Rahmen
der Mobilitätsoffensive des damaligen Bundeskanzlers
Gerhard Schröder im Jahr 2002 wurde diese Integrationsidee aufgegriffen und zur Grundlage unseres Regierungsarbeitens in den vergangenen Jahren gemacht.
Die zentrale Aufgabe einer nachhaltigen, integrierten
Verkehrspolitik ist es, die gesellschaftlich notwendige
Mobilität möglichst umweltverträglich zu gestalten. Dieser Ansatz hat nicht nur eine bessere Vernetzung der einzelnen Verkehrsträger zum Ziel, sondern muss auch die
städtebauliche Entwicklung berücksichtigen.
Meine Herren und Damen von der Regierungskoalition, Sie können froh sein, dass Sie mit der
nationalen Stadtentwicklungspolitik, dem Programm der
Städtebauförderung, dem Investitionspaket und dem
Programm zur energetischen Gebäudesanierung wirkungsvolle Instrumentarien zur Gestaltung der Zukunftsaufgaben in unseren Städten und Gemeinden von Ihrem
Vorgänger übernehmen konnten.
({3})
Ich hoffe, Sie wissen dies auch zu schätzen. Zumindest
haben Sie den Haushaltsentwurf von Herrn Tiefensee bei
der Städtebauförderung fast - aber leider eben nur fast unverändert übernommen.
Dennoch frage ich mich: Wo sind Ihre neuen Impulse? Sie schreiben in Ihrem Koalitionsvertrag, dass die
Hinterlassenschaften von Rot-Grün in der Verkehrspolitik endgültig der Vergangenheit angehören.
({4})
Wie sieht Ihre neue Verkehrspolitik aus? Das würde ich
gerne wissen. Ein planvolles Handeln kann ich nicht erkennen.
({5})
Wir fordern Sie auf, endlich ein Gesamtkonzept vorzulegen. Wie zum Beispiel wollen Sie die Herausforderungen eines wachsenden Güterverkehrs bewältigen?
Wir hören immer, dass Sie die Verlagerung auf die
Schiene wollen. Aber wie? Indem Sie die Bahn aushungern? Um die Maßnahmen umzusetzen, die bereits im
vordringlichen Bedarf stehen, werden jährlich 1,8 Milliarden Euro benötigt. Tatsächlich stehen der Bahn nach
den Planungen des Bundesverkehrsministers in den
kommenden Jahren jährlich 600 Millionen Euro weniger
zur Verfügung.
Der Bahnchef persönlich ist mit Mitgliedern des Verkehrsausschusses die sogenannte Streichliste durchgegangen und hat erklärt, was kommt, was vielleicht
kommt und was mit der Politik der schwarz-gelben BunKirsten Lühmann
desregierung gar nicht kommen kann. Dabei konnte man
feststellen, dass zum Beispiel die Y-Trasse nicht finanziert ist und bei den geplanten Transaktionsvolumina
auch nicht finanzierbar ist. Wie soll da der Güterverkehr
auf die Schiene gebracht werden? Das müssen Sie mir
bitte erklären.
({6})
Gleichzeitig kürzen Sie die Mittel für den kombinierten Verkehr um 64 Millionen Euro. Das bedeutet, dass in
diesem Bereich mehr als die Hälfte der Zuschüsse für Investitionen privater Unternehmen gestrichen wird, und
dies in einem Jahr, in dem die Branche nach der Wirtschaftskrise wieder Fuß fassen will. Damit lassen Sie
Unternehmen mit ihren Logistikproblemen im Stich. Sie
enthalten der Bahn wichtige Neukunden für den Güterverkehr vor.
Ihr Vorhaben, verkehrsträgerbezogene Finanzkreisläufe zu stärken, bedeutet konkret, dass die Lkw-Maut
nur noch in den Erhalt und den Ausbau der Straße fließen soll und dass damit die Weiterentwicklung der
Schienen- und Wasserwege geschwächt wird. Das heißt
doch, dass Sie vorne Löcher stopfen, indem Sie hinten
neue, größere Löcher aufreißen. Meine Frage ist: Wo
bleibt der Blick auf das Ganze?
({7})
Wir möchten, dass der unter der rot-grünen Bundesregierung angestoßene Prozess zur Entwicklung eines Gesamtkonzepts für eine integrierte Verkehrspolitik konsequent fortgeführt und weiterentwickelt wird.
({8})
Nur damit werden wir einem zukunftsfähigen Verkehrssystem gerecht. Damit befasst sich unser Antrag, in dem
wir unsere Forderungen an die Bundesregierung in elf
Punkten zusammengefasst haben.
Wir fordern Sie auf, der zentralen Rolle des Ausbaus
und der Optimierung des umweltfreundlichen Verkehrsträgers Schiene gerecht zu werden. Dazu bedarf es eines
umfassenden, transparenten und langfristig stabilen Finanzierungskonzeptes. Außerdem beantragen wir, dass
Sie für die ehemalige Gemeindeverkehrsfinanzierung
ein Konzept für die Förderung des ÖPNV vorlegen.
In Ihrer Koalitionsvereinbarung bekennen Sie sich
zum öffentlichen Personennahverkehr als unverzichtbarem Bestandteil der Daseinsvorsorge auch in der Fläche.
Dann sagen Sie aber bitte auch, was Sie dafür tun wollen. Ihr Bekenntnis wird zur leeren Sprechblase, wenn
Sie zugleich ankündigen, dass Sie den kommerziellen
Verkehr vorrangig bedienen wollen. Sorgen Sie dafür,
dass die Wettbewerbsbedingungen im öffentlichen Nahverkehr und vor allem die Gestaltungsspielräume der
Kommunen so ausgestaltet werden, dass sich Mobilität
nicht zu einem Exklusivprodukt entwickelt.
({9})
Mobilität muss bezahlbar bleiben, auch im ländlichen
Raum. Nur auf diese Weise können sich Menschen wirklich an der Arbeitswelt, an Bildung und Kultur sowie am
Gesellschaftsleben insgesamt beteiligen. Wir fordern
dazu auch barrierefreie Mobilität. Bedürfnisse von behinderten Menschen, von Familien und von älteren Bürgern und Bürgerinnen müssen Bestandteil der Stadtentwicklung und der Verkehrspolitik sein.
Wir wollen ein Konzept für die aussterbenden Städte
im Osten wie im Westen. Der demografische Wandel
sitzt uns im Nacken, und alles, was Sie machen, ist abwarten und an den falschen Stellen sparen.
({10})
Sie machen Klientelpolitik zulasten der Menschen,
zulasten einer zukunftsorientierten Mobilität, zulasten
von Umwelt und Natur und zulasten von Arbeitnehmenden in wichtigen Bereichen von Transport und Logistik.
Das lehnen wir ab. Ich hoffe, dass Sie in den Beratungen
des Antrages den nötigen Mut aufbringen und sich unseren Vorschlägen anschließen, damit Mobilität in
Deutschland nachhaltig gestaltet wird und der erforderliche Ansatz der integrierten Verkehrspolitik weiterentwickelt werden kann.
Herzlichen Dank.
({11})
Frau Lühmann, hier im Haus war das Ihre erste Rede.
Dazu gratulieren wir Ihnen alle herzlich und wünschen
für Ihre Arbeit Erfolg.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Gero Storjohann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Sozialdemokraten vollführen mit ihrem Antrag heute einen verkehrspolitischen Rundumschlag.
({0})
Bei der Lektüre stößt man auf viele schöne Worte und
eine Vielzahl von Allgemeinplätzen.
({1})
Zur Verdeutlichung möchte ich gerne einiges zitieren:
„Mobilität … hat einen sehr hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft“, heißt es dort. Dem stimmen wir alle
hier sicherlich uneingeschränkt zu. Sie machen weiterhin aufmerksam auf negative Folgewirkungen des Verkehrs: auf Lärm, Luftverschmutzung, Benzinkosten für
den Einzelnen, Flächenverbrauch.
({2})
Auch hier sind wir Verkehrspolitiker uns eigentlich alle
einig.
({3})
Schließlich leiten Sie daraus eine Schlussfolgerung ab:
Die strategische Ausrichtung einer zukunftsfähigen
Verkehrspolitik muss „aus einem Guss“ erfolgen.
Das nennen Sie dann integrierte Verkehrspolitik.
Wir brauchen in der Tat ein verbessertes Gesamtverkehrssystem. Dafür zu sorgen, ist die ständige Aufgabe
von uns Verkehrspolitikern und der Politik allgemein.
Ich nehme stark an, dass darüber in allen Fraktionen Einigkeit besteht. Was soll mit diesem Antrag also erreicht
werden? Sie bleiben im Allgemeinen; Sie verweisen
wiederholt auf längst bekannte Handlungsfelder; Sie bieten nicht unbedingt Lösungen an, sondern fordern die
Regierung auf, Lösungen zu bieten. Nichts an Ihrem Antrag ist wirklich neu, nichts ist innovativ. Schon der Titel
entlarvt Sie:
({4})
Den „… Erfolgreichen Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwickeln“. Das machen wir doch. Verlassen
Sie sich darauf!
({5})
Dazu hätte es dieses Antrages der SPD nicht bedurft.
({6})
Eines ist ganz klar: Dieser Antrag kommt viel zu spät.
Sozialdemokratische Verkehrspolitiker hatten elf Jahre
Zeit, all das umzusetzen, was Sie hier aufgeschrieben haben.
({7})
In Oppositionszeiten formulieren Sie schöne Anträge.
Sie hätten handeln und agieren können. Dieser Antrag
überrascht mich doch sehr.
({8})
Ihr Antrag kommt also zu spät.
Die Verkehrspolitik der christlich-liberalen Koalition
enteilt Ihnen.
({9})
Union, FDP und der neue Bundesverkehrsminister, Peter
Ramsauer, haben für eine neue Dynamik und Vitalität in
der Bundesverkehrspolitik gesorgt.
({10})
- Es ist erstaunlich, dass Sie das noch nicht merken. ({11})
Der Mief der sozialdemokratischen Führung im Verkehrsministerium ist jetzt weg. Wir können nach vorne
schauen.
({12})
CDU/CSU und FDP haben die angesprochenen
Handlungsfelder selbstverständlich angenommen. Wir
entwickeln eine zukunftsfähige, ökologische und sozial
ausgewogene Verkehrspolitik. Für uns in der CDU/CSUFraktion gilt: Mobilität besitzt eine Schlüsselfunktion in
unserer Gesellschaft. Mobilität schafft die Voraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Freiheit. Wir wollen mit einer effizienten Verkehrspolitik die
Mobilität für die Zukunft sichern. Das ist unser eigenes
vitales Interesse. Unsere Verkehrspolitik wird den Anforderungen des Klima-, Umwelt- und Lärmschutzes gerecht.
Aus diesem Grund hat der Bundesminister in seinem
Haus eine eigene umweltpolitische Abteilung geschaffen. Es geht darum, zwei Bedürfnisse der Bürgerinnen
und Bürger in Einklang zu bringen: auf der einen Seite
das Bedürfnis nach Mobilität und Verkehr - die Menschen wollen mobil sein -, auf der anderen Seite das Bedürfnis nach Klimaschutz, nach Lärmschutz und nach
verantwortungsvoller Verkehrspolitik mit Blick auf die
nachfolgenden Generationen. Die Abteilung für Umweltfragen bringt diese Bedürfnisse in Einklang. Es war
keine rot-grüne Bundesregierung, kein sozialdemokratischer Bundesverkehrsminister, der diese Abteilung eingerichtet hat. Das heißt, Umweltfragen haben ihren festen Platz in unserem Bundesverkehrsministerium. Das
ist schön, und das können Sie nur begrüßen.
({13})
Ein weiterer Punkt Ihres Antrages betrifft die soziale
Ausgestaltung der Bundesverkehrspolitik. Mobilität soll
ein Gemeingut bleiben. Sie fordern die besondere Berücksichtigung der Interessen von Menschen mit Behinderung, von Familien und älteren Bürgerinnen und Bürgern. Auch hier rennen Sie bei uns offene Türen ein; das
wissen Sie. Wir sagen: Mobilität sichert die Teilhabe des
Einzelnen am gesellschaftlichen Leben. Deshalb muss es
unser Ziel sein, Mobilität für alle Bevölkerungsgruppen
zu garantieren.
Um dieses Ziel zu erreichen, orientieren wir uns an
folgenden Grundsätzen: Mobilität muss bezahlbar sein,
sie muss vielfältig angeboten werden, und sie muss flächendeckend angeboten werden. Wir bekennen uns zum
öffentlichen Personennahverkehr. Der ÖPNV ist ein fester Bestandteil der Daseinsvorsorge.
({14})
Wir setzen uns für die Verbesserung des ÖPNV ein. Das
ist eine Daueraufgabe. Wenn der ÖPNV attraktiv ist und
eine durchgängige Reisekette möglich ist, wird er auch
vermehrt von den Bürgerinnen und Bürgern angenomGero Storjohann
men. Hierdurch wird die soziale Aufgabe von Verkehrspolitik gewahrt. Wir leisten auch einen Beitrag zum Klimaschutz, wenn immer mehr Bürgerinnen und Bürger
die Vorteile des ÖPNV für sich persönlich erkennen.
Mobilität in Deutschland wird immer vielfältiger.
Dies hat auch die Bundesregierung erkannt. Wie Sie in
Ihrem Antrag richtig festgestellt haben - jetzt kommt ein
Lob -, ändert sich das Mobilitätsverhalten der Bürgerinnen und Bürger. Um auf diese Entwicklung zu reagieren,
setzen wir in einem vernetzten Verkehrssystem auf die
spezifischen Stärken eines jeden einzelnen Verkehrsträgers.
({15})
Die Vielfalt der Mobilität ist unser Leitprinzip. Zur Vielfalt der Mobilität gehört, dass wir innovative Verkehrskonzepte fördern und neue Mobilitätsoptionen schaffen.
({16})
Elektrofahrzeuge, Carsharing und öffentliche Fahrradverleihsysteme sind die Stichworte, mit denen wir uns
jetzt beschäftigen. Das wollen wir voranbringen.
({17})
In vielfältigen Initiativen wie dem Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität oder dem Nationalen Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie wirkt die Bundesregierung aktiv an der
zukünftigen Verkehrsgestaltung mit. Die Verkehrspolitik
der Koalition ist modern, nachhaltig, vielfältig und
orientiert sich an den Bedürfnissen der Bürgerinnen und
Bürger. Wir arbeiten mit aller Kraft daran, die Verkehrspolitik für Deutschland und Europa optimal zu gestalten.
Sie sind aufgefordert, sich aktiv daran zu beteiligen.
({18})
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Herbert Behrens.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir hörten eben einen Bericht der Großen Koalition, die
ihre vierjährige gemeinsame Verkehrspolitik kurz hat
Revue passieren lassen. Ich meine, diese müsste man
noch ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen. In
dem Antrag der SPD geht es darum, dass der erfolgreiche Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fortentwickelt werden soll. Das setzt erstens voraus, dass es diesen erfolgreichen Ansatz gibt,
({0})
und zweitens, dass man ihn wirklich fortsetzen will. Beides kann ich im Unterschied zu Ihnen, Frau Lühmann, so
nicht erkennen.
Sie haben eben dargestellt, welche konkreten Aussagen dieser Antrag beinhaltet. Ich erkenne diese inhaltlichen Forderungen nicht.
({1})
Ich finde vielmehr, Herr Beckmeyer, Ihr Antrag ist eine
Ansammlung von verkehrspolitischen Phrasen und Widersprüchen.
({2})
Sie schreiben, die CO2-Belastung habe, bedingt durch
den Autoverkehr, seit 1990 zugenommen. Hier von erfolgreicher Verkehrspolitik zu sprechen, das geht nun
wirklich nicht.
Mobilität habe ihren Preis, heißt es an anderer Stelle
in Ihrem Antrag. Dazu gehöre Verkehrslärm, Luftverschmutzung und Flächenverbrauch. Sie führen aber auch
an, dass im Straßenverkehr in Deutschland jährlich
4 000 Menschen getötet und 70 000 schwer verletzt werden. Das ist eine Bilanz. Das ist aber keine Bilanz einer
erfolgreichen Verkehrspolitik, sondern, im Gegenteil,
die Bilanz einer erfolglosen und kontraproduktiven Verkehrspolitik.
({3})
Das ist auf jeden Fall kein erfolgreicher Ansatz.
({4})
- Wenn Sie sagen, dass das Hohn ist, sollten Sie Ihren
eigenen Antrag lesen. Das steht nämlich so in diesem
Antrag drin.
({5})
Sie machen in Ihrem Antrag Ausführungen zur sozialen Dimension der Verkehrspolitik. Doch auch hier machen Sie keine konkreten Lösungsvorschläge. Sie bleiben bei der Beschreibung und vermeiden beispielsweise
die Aussage, dass ärmere Menschen durch Fahrpreiserhöhungen beim ÖPNV ausgeschlossen werden. Sie können nicht spontan eine Fahrt unternehmen und haben
Schwierigkeiten, mit dem öffentlichen Personennahverkehr zu ihrer schlecht bezahlten Arbeitsstelle zu kommen. Wenn Sie das jetzt so sehen, frage ich mich: Warum haben Sie unseren Anträgen, beispielsweise zur
Einführung einer Sozial-Bahncard, nicht zugestimmt?
({6})
Sie haben es auch abgelehnt, Sozialticketinitiativen vor
Ort zu unterstützen. Immer dann, wenn es konkret wird,
entziehen Sie sich der Verantwortung. Das werden wir
nicht akzeptieren.
({7})
- Herr Kollege Beckmeyer, da Sie gerade „Schwätzerei“
gesagt haben,
({8})
nenne ich Ihnen einige Beispiele. Ein Vorschlag, den wir
eingebracht haben, um für mehr Verkehrssicherheit zu
sorgen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren, ist die Einführung eines Tempolimits von 130 Stundenkilometern
auf deutschen Autobahnen.
Diesen Antrag haben wir vor zweieinhalb Jahren eingebracht. Sie haben ihn abgelehnt, obwohl der Parteitag
der SPD nur zwei Wochen zuvor festgestellt hat: Wir
brauchen ein Tempolimit, und die Bundestagsfraktion
soll diese Forderung aufgreifen.
({9})
Ein weiteres Beispiel ist die Umstellung der KfzSteuer hin zu einer Bemessung nach dem CO2-Ausstoß.
Auch diese Forderung haben Sie nicht vernünftig umgesetzt.
({10})
Im Gegenteil, Ihr damaliger Umweltminister Sigmar
Gabriel hat diese Umstellung blockiert. Umweltverbände haben ihn deshalb schon damals als Autominister
bezeichnet; ich meine, zu Recht.
({11})
Es wurde schon erwähnt: Sie hatten als Regierungspartei elf Jahre Zeit, vier davon in der Großen Koalition.
Sie haben es aber nicht geschafft, die Konzepte, die Sie
heute fordern, umzusetzen.
({12})
Jetzt wollen Sie Ihre Versäumnisse erneut auf die Tagesordnung setzen. Sie bringen einen Antrag ein, in dem
Sie formulieren, was Sie in den vergangenen elf Jahren
nicht durchsetzen konnten. So darf man mit innovativen
Verkehrskonzepten nicht umgehen. Ich denke, mit diesem Antrag tun Sie sich selbst keinen Gefallen.
({13})
Sie müssen konkreter werden. Denn integrierte Verkehrspolitik ist eigentlich intelligente Verkehrspolitik,
und die erwarten wir von Ihnen.
Vielen Dank.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Werner Simmling für
die FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen! In den vorliegenden Anträgen geht es darum, wie ein Industrieland wie Deutschland seine wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Zukunft im Bereich der integrierten Mobilität gestalten kann: mit
Friktionen oder ohne Friktionen. Auf die vielen Selbstverständlichkeiten, die Sie in den vorliegenden Anträgen
formuliert haben, möchte ich jetzt gar nicht eingehen.
Mobilität hat in unserer Gesellschaft eine Schlüsselfunktion - das wurde vorhin schon gesagt -: Sie schafft die
Voraussetzungen für Beschäftigung, Wohlstand und persönliche Freiheit.
({0})
Das soll nach unserem Willen auch in Zukunft so sein.
Uns geht es darum, langfristig für jedermann - das betone ich ausdrücklich - eine umweltfreundliche und integrierte Mobilität zu ermöglichen.
({1})
Wo es sinnvoll ist, wollen wir die Verlagerung von
der Straße auf die Schiene fördern.
({2})
Gleichzeitig müssen wir den Verkehrssektor auf den Abschied vom Zeitalter der fossilen Energien vorbereiten.
Zur kurzfristigen Verbesserung der Klimabilanz werden
wir die Optimierung von fossilen Antriebstechnologien
verstärken. An dieser Stelle können wir noch sehr
schnell Einsparungen von bis zu 30 Prozent realisieren,
und zwar ohne Einbußen bei Komfort, Sicherheit und
Benutzerfreundlichkeit.
({3})
Parallel dazu wollen wir hin zur Elektromobilität. Die
Weichen für diesen Strategiewechsel stellen wir jetzt.
Wir wollen Deutschland zu einem Leitmarkt und Leitanbieter für Elektromobilität machen. Bis zum Jahr 2020
wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge auf die Straßen
bringen. Das ist eine Anstrengung bzw. ein Versuch - je
nachdem, wie Sie wollen - in einer Größenordnung, die
es in Deutschland bisher noch nicht gegeben hat.
Wir handeln schnell.
({4})
Aber wir werden uns trotzdem die nötige Zeit nehmen,
um diesen Paradigmenwechsel einzuleiten.
({5})
Dieser Strategiewechsel hat Konsequenzen. Er bedeutet nicht nur völlig neuartige Mobilitätssysteme, sondern
auch eine vollkommen neue Wirtschaftsstruktur, und
zwar weltweit; das muss Ihnen einmal klar werden. Dieser Systemwechsel muss zukunftsfest sein. Die Stabilität
unserer Wirtschaft darf dabei zu keinem Zeitpunkt in
Gefahr geraten.
({6})
Wenn er zum Erfolg führen soll, müssen wir in diesem Prozess alle Beteiligten rechtzeitig mitnehmen, um
die Zukunft verantwortungsvoll gestalten zu können.
Dabei sollen aber nicht ein Strukturbruch in Wirtschaft
und Gesellschaft mit vielen Tausenden Arbeitslosen oder
ein Zusammenbruch von unzähligen mittelständischen
Unternehmen riskiert werden. Das gilt besonders für die
Automobilindustrie und die Zulieferer, die derzeit
750 000 Menschen einen Arbeitsplatz bieten. Es gilt,
diese Arbeitsplätze zu erhalten und sogar noch auszubauen.
Unter Berücksichtigung des eben Gesagten ist die
Strategie der christlich-liberalen Koalition nur folgerichtig.
({7})
Am 3. Mai 2010 wird im Kanzleramt ein Elektrogipfel
stattfinden, der gleichzeitig den Startschuss für die nationale Plattform zukünftiger Elektromobilität darstellt.
({8})
Elektromobilität ist für uns das Zukunftsthema. Es ist
eine nationale Herausforderung. Wir brauchen dazu unsere besten Wissenschaftler und Forscher. Wir brauchen
ein enges Zusammenspiel zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Unser Ziel muss es sein, unseren Bürgerinnen und Bürgern in der Zukunft ein integriertes
Mobilitätsangebot zu unterbreiten, welches ihren Anforderungen und Wünschen gerecht wird und ihnen die
freie Entscheidung lässt.
({9})
Das zukünftige Mobilitätsangebot muss mehr bieten.
Es muss umweltfreundlicher, sicherer und komfortabler
sein als heutige Lösungen. Dabei muss es für alle bezahlbar und jederzeit verfügbar sein.
({10})
- Schön, dass Sie mir da zustimmen. - Der Fortschritt
muss sichtbar werden. Nur dann werden wir weltweit
weiter an der Spitze bleiben und den gewünschten Erfolg
haben. Ein führendes Industrieland wie Deutschland lebt
eben nun einmal von seinen technischen Innovationen.
({11})
Die hier zur Debatte stehenden Anträge vom Bündnis 90/Die Grünen und von der SPD beinhalten leider
Eingriffe in den Markt und setzen nicht nur Rahmendaten. Sie geben keine zukunftsfähigen Antworten im Hinblick auf die vor uns liegenden Herausforderungen,
({12})
sondern wiederholen nur Altbekanntes. Es wurde vorher
bereits auf Verkehrstote und anderes eingegangen. Das
wissen wir alles. Heute schon über finanzielle Anreize
beim Kauf oder die Größe von Kraftfahrzeugen zu spekulieren, ist absolut verfrüht.
Der Elektrogipfel am 3. Mai 2010 wird ein wichtiger
Meilenstein
({13})
unserer durchdachten, verantwortungsvollen und damit
überzeugenden Strategie auf dem Weg zur Zukunft der
Elektromobilität sein. Sie können sich gerne daran beteiligen und den Erfolg dann mit uns gemeinsam feiern.
In diesem Sinne danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu dem Antrag der SPD ist fast alles gesagt worden; dem brauche ich eigentlich nichts hinzuzufügen.
Von einer Partei, die elf Jahre die für die Verkehrspolitik
verantwortlichen Minister gestellt hat, muss mehr kommen, als nach dem großen Gesamtentwurf zu verlangen.
({0})
Die Menschen in unserem Land wollen Antworten,
sie wollen von uns ganz konkret wissen, mit welchen
Vorschlägen wir unser Land voranbringen wollen, zum
Beispiel bei dem wichtigen Zukunftsthema Elektromobilität.
({1})
Noch enttäuschender als der Antrag der SPD ist nur
die Regierung: Sie macht ihre Arbeit schlecht.
({2})
Erinnert sei nur an das Gutachten der Expertenkommission „Forschung und Innovation“. Es besagt ganz deut3226
lich: Deutschland ist kein Leitmarkt für Elektromobilität.
Jetzt bestätigt Ihnen auch noch der Bundesrechnungshof
- Sie bekommen es schriftlich -: Die vorhandenen Mittel für Elektromobilität werden „zu langsam, zu bürokratisch und zu unkoordiniert“ eingesetzt. Das kennen wir
schon von der Hotelbesteuerung: Eine schlechte Idee
wurde auch noch bürokratisch umgesetzt.
({3})
Ist das der Maßstab der neuen Regierung?
Wir Grüne halten dagegen: Mit unserem Antrag zur
Elektromobilität zeigen wir, dass Politik aus einem Guss
möglich ist. Vier Punkte sind für uns entscheidend: Erstens sorgen wir langfristig dafür, dass der CO2-Ausstoß
des Verkehrs endlich reduziert wird. Bislang kennt der
Verkehr nur eine Steigerung des Ausstoßes klimaschädlicher Gase. Zweitens können wir Deutschland auf einem wichtigen Zukunftsmarkt nach vorne bringen und
dafür sorgen, dass wir bei Forschung und Entwicklung
nicht den Anschluss verlieren. Mit einem umfassenden
Forschungs- und Entwicklungsprogramm wollen wir
den technologischen Rückstand aufholen. Drittens
schaffen wir die Voraussetzungen für eine neue Mobilität, die unabhängig von den zur Neige gehenden fossilen
Ressourcen ist. Viertens können wir mit intelligenten
Systemen zur Stabilität des Stromnetzes beitragen.
({4})
Klar ist jedoch: Von allein wird hier wenig passieren.
Wenn wir jetzt untätig bleiben, werden Elektrofahrzeuge
in Deutschland wie in den letzten 20 Jahren neugierig
bestaunte Prototypen auf Automobilmessen bleiben. Es
wäre der absolut falsche Weg, wenn wir bei dieser Ankündigungspolitik blieben. Die Menschen würden sich
von der Politik immer mehr abwenden, und die Arbeitsplätze würden dorthin abwandern, wo heute Milliarden
in die Elektromobilität fließen: nach China, Korea und
Japan. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
({5})
Deswegen müssen wir heute investieren. Mit einem
Marktanreizprogramm wollen wir besonders saubere
Fahrzeuge wie Elektromobile oder Plug-in-Hybride mit
einer Barprämie von 5 000 Euro fördern, und zwar kostenneutral; wir müssen nur die Kfz-Steuer endlich reformieren und zu einem Bonus-Malus-System umgestalten.
Werte Kolleginnen und Kollegen, im postfossilen
Zeitalter wird sich unsere Mobilität ändern. Es wird darauf ankommen, die Stärken der einzelnen Verkehrsträger aufeinander abzustimmen. Elektromobilität bedeutet
nicht einfach ein paar neue Autos mit anderem Antrieb,
Elektromobilität muss in ein umfassendes grünes Mobilitätskonzept integriert sein. Müssen wir denn immer alle
Strecken mit dem eigenen Auto fahren? Die junge Generation macht es uns vor, Sie ist nicht mehr so autofixiert:
Die Bahn für die Langstrecke, ÖPNV oder Carsharing
vor Ort.
Auf eines will ich explizit hinweisen: Das alles ist nur
sinnvoll, wenn erneuerbare Energien zum Einsatz kommen.
Unser Antrag zeigt deutlich, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, um einer Zukunftstechnologie
zum Durchbruch zu verhelfen. Hier werden nicht - wie
bei der Abwrackprämie - für veraltete und umweltschädliche Ideen Milliarden verplempert, sondern Ökonomie und Ökologie sinnvoll verbunden. Die Bundesregierung hat eine nationale Plattform für Elektromobilität
bisher nur angekündigt. Geschehen ist nichts. Wir fordern Sie auf, endlich zu handeln und breite gesellschaftliche Gruppen einzubeziehen;
({6})
denn eines ist doch klar: Nur mit einem breiten Bündnis
ist der Rückstand aufzuholen, und die Zukunft des Verkehrs ist grün.
Vielen Dank.
({7})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Steffen Bilger für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Antriebsart für den motorisierten Individualverkehr
der Zukunft ist der Elektromotor. In dieser Form der
Fortbewegung stecken viele Chancen für die Lebensqualität der Bevölkerung, für die deutsche Wirtschaft und
insbesondere auch für die Umwelt.
({0})
Mit der Nutzung von erneuerbaren Energien für die
Elektromobilität - und hierfür stehen wir als Union werden Luftverschmutzung, Lärmbelastung, CO2-Emissionen, Treibstoffkosten und die Abhängigkeit vom Öl
verringert.
({1})
Das Thema Elektromobilität ist eines der großen Zukunftsthemen, wie auch heute Morgen im Plenum in Bezug auf die europäische Agenda 2020 noch einmal verdeutlicht wurde. Weil die Elektromobilität so viele
Chancen bietet, dürfen wir dieses Thema nicht verschlafen, und das tun wir auch nicht.
({2})
Die Bundesregierung hat mit ihrem Nationalen Entwicklungsplan Elektromobilität und mit ihrem klaren
Bekenntnis im Koalitionsvertrag die Weichen gestellt.
Kollege Simmling hat darauf hingewiesen: Deutschland
soll Leitmarkt für Elektromobilität werden. - Es ist richSteffen Bilger
tig, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Elektromobilität zur Chefsache erklärt hat.
({3})
Dass im Grünen-Antrag ausdrücklich ein Programm
„Anwendbare nächste Generation von Energiespeichern
und Leistungselektronik in Automobilen“ - kurz:
ANGELA - gefordert wird, habe ich durchaus erfreut
zur Kenntnis genommen.
({4})
Dadurch wird doch unterstrichen, dass auch die Grünen
das Engagement der Bundeskanzlerin anerkennen. Am
3. Mai 2010 findet jedenfalls der Kanzlergipfel zur Elektromobilität statt. Wir begrüßen diese Initiative der Bundesregierung ausdrücklich.
Wenn ich mir den SPD-Antrag anschaue, dann muss ich
schon sagen: Die Bedeutung des Themas Elektromobilität ist zwar unbestritten - alle reden davon -, nichtsdestotrotz kommt die Elektromobilität in Ihrem Antrag weder inhaltlich noch vom Wort her vor; Frau Dr. Wilms
hat bereits darauf hingewiesen.
({5})
Dabei geht es Ihnen doch angeblich um nachhaltige
Mobilität. Dass Nachhaltigkeit gerade bei der Mobilität
wichtig ist, wird hier im Hause wahrscheinlich keiner
bestreiten. Wer von Nachhaltigkeit in der Verkehrspolitik spricht, der darf die Elektromobilität nicht verschweigen. Wir als Union reden über beides und handeln auch.
({6})
Weil wir nachhaltige Mobilität wollen, haben wir im
Koalitionsvertrag mit der FDP festgelegt, ein umfassendes Entwicklungsprogramm aufzustellen. Außerdem
haben wir das Ziel, bis zum Jahr 2020 1 Million Elektrofahrzeuge auf die Straßen zu bringen. Ein zukunftsweisendes, ganzheitliches Verkehrskonzept steht ebenfalls
auf dem Programm, von der Weiterentwicklung der
Brennstoffzelle und der Wasserstofftechnologie und vom
Aufbau eines Ladestellennetzes für Elektrofahrzeuge in
Ballungsräumen ganz zu schweigen.
({7})
Dabei ist unser Ziel von 1 Million Elektrofahrzeugen
auf deutschen Straßen bis 2020 bereits ambitioniert.
Eine glatte Verdopplung auf 2 Millionen, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern, ist nach allem, was uns Experten sagen, unrealistisch und lehnen wir daher ab.
Auch die Grünen-Forderung der direkten Marktanreize durch eine 5 000-Euro-Barprämie beim Kauf eines
Elektroautos ist für uns nicht tragbar,
({8})
zumal derzeit nicht erkennbar ist, dass die Prämie den
deutschen Unternehmen zugutekommen würde. Viel
sinnvoller wäre beispielsweise eine direkte Förderung
bei Taxis, Fahrzeugen des öffentlichen Personennahverkehrs, Carsharing-Wagen, öffentlichen Fuhrparks oder
bei Kurierdiensten im Innenstadtbereich,
({9})
sobald eben die nötigen Kapazitäten vorhanden sind.
({10})
Investiertes Geld ist besser in Forschung und Entwicklung angelegt. Hier gilt es, besonders die Speichertechnologie und Batterieproduktion weiter voranzutreiben. Wir müssen hier an die Weltmarktspitze
aufschließen.
Jetzt aber bereiten wir uns auf den Kanzlergipfel am
3. Mai vor und warten seine Ergebnisse ab. Nach dem
Gipfel müssen und werden wir die Diskussion im Verkehrsausschuss und im Parlament weiterführen.
Vielen Dank.
({11})
Herr Kollege Bilger, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und
wünsche Ihnen weiterhin viel Freude und Erfolg.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1060 und 17/1164 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c
auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP
Menschenrechte weltweit schützen
- Drucksachen 17/257, 17/1135 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Marina Schuster
Annette Groth
Volker Beck ({2})
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Angelika Graf ({3}),
Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Menschenrechtsverteidiger brauchen den
Schutz der Europäischen Union
- Drucksache 17/1048 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({5}), Marieluise Beck ({6}), Viola
von Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Schutz für Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger
- Drucksache 17/1165 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP liegen sechs
Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Serkan Tören für die Fraktion der
FDP das Wort.
({8})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, wie
sehr ich mich über die Ernennung von Markus Löning
zum neuen Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe freue. Gerade
für meine Kollegen war Markus Löning immer ein sehr
geschätzter Parlamentarier in persönlicher wie fachlicher
Hinsicht.
({0})
- Deshalb habe ich auch „war“ gesagt, Herr Beck. Konzentrieren Sie sich doch bitte!
({1})
Kommen wir nun zu den Anträgen. Zur Bewertung
der Anträge der Opposition ist zu sagen, dass der EUMinisterrat Leitlinien zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern verabschiedet hat, um das langfristige Handeln der EU gegenüber Drittstaaten zu verbessern. Die
von Deutschland nachdrücklich unterstützten Leitlinien
sehen zum Beispiel den Aufbau und die Pflege systematischer Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern durch
die EU-Auslandsvertretungen vor.
Deutschland setzte sich während der Dauer der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007
für die konsequente Umsetzung der Leitlinien zu Menschenrechtsverteidigern ein und ergriff die Initiative zur
weltweiten Erarbeitung lokaler Implementierungsstrategien der EU.
Die derzeitige Bundesregierung fördert die Arbeit
von Menschenrechtsverteidigern weltweit nach Kräften.
Sie setzt sich insbesondere für ihren verbesserten Schutz
und die umfassende Anerkennung ihrer Tätigkeit im
menschenrechtlichen Sinne ein. Die christlich-liberale
Koalition ist sich dessen bewusst, dass ohne das mutige
Wirken von Menschenrechtsverteidigern die weltweite
konsequente Durchsetzung der Menschenrechte undenkbar wäre.
({2})
Die Unterstützung der Arbeit von Menschenrechtsverteidigern stellt daher auch einen Schwerpunkt der Projektförderung des Auswärtigen Amtes im Bereich der Menschenrechte dar.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die meisten Forderungen in dem SPD-Antrag als überflüssig gelten können, da sie bereits Bestandteil der Leitlinien der aktuellen Bundesregierung sind und, insbesondere was die
Forderung in Punkt 7 des SPD-Antrages angeht, durch
unseren Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“ abgedeckt werden.
({3})
Wir lehnen daher die Anträge der Opposition ab.
Ich bitte hier im Hohen Hause um Zustimmung zu unserem Antrag „Menschenrechte weltweit schützen“. Die
christlich-liberale Koalition hat einen sehr ausgewogenen und in sich stimmigen Antrag eingebracht. Punkt für
Punkt werden in diesem Antrag Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Für uns als FDP ist klar, dass
alle Menschen schon allein aufgrund ihres „Menschseins“ die gleichen universellen, unveräußerlichen und
unteilbaren Grundrechte besitzen. Nicht zuletzt steht die
Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik Deutschland in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten
für die Menschenrechte in der Innen- und Außenpolitik.
({4})
Auch setzen wir uns für die weltweite Abschaffung
der Todesstrafe sowie für das absolute Folterverbot ein.
({5})
Regime, die ihre Bürger steinigen und ihren Kindern
Bildung verweigern, die das Internet zensieren und Journalisten ermorden lassen und die Glaubensfreiheit mit
Füßen treten, müssen unseren Druck spüren. All dies ist
in unserem Antrag eindrucksvoll dargelegt und wird das
Fundament unserer Menschenrechtspolitik für die nächsten vier Jahre sein.
Lassen Sie mich abschließend auf zwei konkrete Beispiele eingehen, die die Wichtigkeit unseres Antrages
„Menschenrechte weltweit schützen“ noch einmal dokumentieren, nämlich zum einen die Menschenrechtslage
im Iran und zum anderen die Menschenrechtslage in
Kuba. Deutschland und seine Partner stehen hinsichtlich
des Irans vor der doppelten Herausforderung, einerseits
eine konstruktive Lösung im Streit um das iranische Nuklearprogramm zu finden und gleichzeitig einen Beitrag
zur Verbesserung der Menschenrechtslage im Iran zu
leisten.
Mit wachsender Sorge verfolgen wir als FDP die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate im Iran. Ich
möchte ausdrücklich die schweren Menschenrechtsverletzungen im Iran scharf verurteilen. Die blutige Niederschlagung von Demonstrationen, die Unterdrückung von
Meinungen und die unerträgliche Missachtung weiterer
elementarer Menschenrechte können und dürfen wir
nicht ignorieren.
({6})
Auch vor dem Hintergrund des iranischen Nuklearprogramms muss die internationale Gemeinschaft ein
deutliches Signal an Teheran senden. Dabei wird entscheidend sein, dass sich Sanktionen nicht gegen die Bevölkerung, sondern gezielt gegen die das Regime tragenden Kräfte richten.
({7})
Es bleibt zu hoffen, dass die iranische Regierung bald
erkennt, dass sie durch ihre provokative Außenpolitik
nicht von ihrer Unfähigkeit, die materiellen und freiheitlichen Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu befriedigen, ablenken kann. Der Mut der Opposition in den Monaten
seit der Präsidentschaftswahl hat gezeigt, dass der Wille
zur Veränderung ungebrochen ist. Die Menschen im Iran
sollten wissen: Wir sind fest an ihrer Seite.
Auch in Kuba ist die Menschenrechtslage mehr als
prekär. Als FDP-Bundestagsfraktion möchten wir unsere
Bestürzung über die Nachricht vom Tod des kubanischen
Menschenrechtsaktivisten Orlando Zapata Tamayo zum
Ausdruck bringen. Als Mitglied der Oppositionsgruppe
Republikanische Alternative starb Zapata Tamayo nach
85-tägiger Leidenszeit aufgrund eines Hungerstreiks in
einem kubanischen Gefängnis.
Die Vorstellung, dass Herrn Tamayo vorsätzlich zu
lange ärztliche Hilfe vorenthalten wurde, ist unerträglich. Als FDP protestieren wir ausdrücklich gegen diese
menschenverachtende Unterlassung von lebenserhaltenden Maßnahmen und fordern die rückhaltlose Aufklärung der Geschehnisse um den tragischen Tod.
({8})
- Dass Sie das stört, ist mir klar.
Ferner sind wir tief besorgt über den körperlichen
Zustand des unabhängigen kubanischen Journalisten
Guillermo Fariñas, den wir als FDP in seiner Forderung,
alle kranken politischen Häftlinge aus kubanischen Gefängnissen freizulassen, ausdrücklich unterstützen. Wir
gehen sogar noch einen Schritt weiter und fordern von
der Republik Kuba, alle politischen Gefangenen unverzüglich und bedingungslos freizulassen.
({9})
Ich möchte die kubanische Regierung mit Nachdruck daran erinnern, dass die Inhaftierung von politischen Gegnern sowie die Vorenthaltung von deren medizinischer
Versorgung schwerwiegende Menschenrechtsverstöße
sind, die die politische Glaubwürdigkeit der Republik
Kuba schwer erschüttern.
Lassen Sie Fariñas nicht dasselbe Schicksal erleiden
wie Tamayo und beenden Sie die menschenrechtswidrige Inhaftierung von politischen Oppositionellen!
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Strässer
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
An einer Stelle schließe ich mich Ihren Ausführungen
an, Herr Tören.
({0})
- Ja, schon das ist eigentlich übertrieben, aber ich mache
es trotzdem. - Dem Glückwunsch an den neuen Menschenrechtsbeauftragten schließe ich mich ausdrücklich
an. Ich weiß zwar noch nicht, welche Politik er in diesem Bereich verfolgen wird, weil ich bisher noch nichts
von ihm dazu gehört habe, aber das muss nicht schlecht
sein. Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn es zu einer
guten und konstruktiven Zusammenarbeit kommen
würde.
({1})
Allem anderen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege,
muss ich ernsthaft widersprechen, zumindest Ihrer Aussage, Sie hätten einen guten Menschenrechtsantrag vorgelegt, mit dem Sie etwas umgesetzt hätten, das Sie irgendwo anders niedergeschrieben haben.
Das, was ich in Ihrem Antrag lese, ähnelt Ihrem Koalitionsvertrag: erstens nichts Neues, zweitens alte Kamellen, und drittens wird nichts umgesetzt.
({2})
Umgesetzt wird gar nichts. Er enthält eine Reihe von
massiven Ankündigungen, aber damit ist es auch gut. Ich
werde noch auf einzelne Punkte eingehen. Denn in Ihrer
Überschrift über diesem Antrag fehlt ein entscheidender
Satz. Der Titel lautet „Menschenrechte weltweit schützen“, und wenn man Ihren Antrag weiterliest, dann wird
klar: aber nicht in Deutschland.
({3})
- Ja, darauf können Sie gespannt sein.
Auch wir haben einen Antrag vorgelegt. Sie haben
völlig recht. Der Antrag ist gut, und er ist richtig. Wir haben ihn deshalb formuliert, weil Sie bei Ihren Ausführungen etwas vergessen haben, nämlich dass es eine spanische EU-Ratspräsidentschaft gibt, die festgestellt hat,
dass das, was die EU-Richtlinie zu diesem Thema umfasst, nicht ausreicht. Sie hat dafür eine Kommission eingesetzt. COHOM hat die Arbeit bereits aufgenommen.
Die aktuellen Schlussfolgerungen des Rates zur Änderung der EU-Richtlinie über Menschenrechtsverteidiger enthalten 64 Empfehlungen. Die Schlüsselrolle bei
diesen Empfehlungen spielen Punkte, die gerade auch in
Deutschland in den Umsetzungsrichtlinien noch nicht
ausreichend verwirklicht worden sind. Sie enthalten zum
Beispiel so etwas wie Koordinierungsstellen oder Kontaktstellen in allen EU-Botschaften, in den Botschaften
aller Länder. Da geht es nicht, wie Sie es ganz verschämt
in Punkt 17 Ihres Antrags schreiben, darum, dass es da
gute Beziehungen gibt, dass man das unterschreibt und
gegebenenfalls unter den Bedingungen des Ausländerrechtes auch bedrohten Menschenrechtsverteidigern Zugang zum Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
gewährt. Dies, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist pure Ankündigungspolitik. Das
hat noch nicht einmal etwas mit den Richtlinien der
OSZE zu tun, sondern das ist schlicht und ergreifend viel
zu wenig und entspricht nicht dem Stand in vielen anderen EU-Ländern, die uns in diesem Bereich etwas vormachen.
({4})
Noch zwei Anmerkungen zu den Menschenrechtsverteidigern, die mir wichtig sind und die mich dann auch
dazu bringen, noch einmal zu Ihrem Antrag Stellung zu
nehmen: Ich will jetzt gar nicht abstrakt darüber reden,
was in den entsprechenden Beschlüssen der VN-Generalversammlung von 1998 steht, sondern nur einmal
zwei Namen nennen, die Menschenrechtsverteidiger im
Moment aktuell betreffen und auch bei uns diskutiert
werden.
Der eine ist Kamal al-Labwani; er wird Ihnen wahrscheinlich aus den menschenrechtlichen Debatten bekannt sein. Herr Labwani ist 53 Jahre alt, er ist Arzt und
Künstler, er ist mehrfacher Familienvater. Er ist wegen
„Schwächung des Nationalgefühls“, wegen „Kommunikation mit einem ausländischen Staat zur Anstachelung
eines Angriffs auf Syrien“ und wegen Verleumdung eines Staatsoberhauptes verurteilt. Herr Labwani sitzt seit
2005 im Adra-Gefängnis in Damaskus im Flügel Nr. 5;
auch er ist unter Menschenrechtlern bekannt, weil dort
die Gewaltkriminellen sitzen, weil dort gefoltert wird
und weil dort medizinische Behandlung für die Gefangen nicht stattfindet.
Ich nenne Anwar el-Bunni; ihn kennen Sie wahrscheinlich auch. Er hat im Dezember 2009 den Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes verliehen
bekommen. Er ist seit 2007 inhaftiert. Der Vorwurf: Verbreitung staatsgefährdender Falschinformationen. Seine
Tat: Anprangerung systematischer Folter in syrischen
Gefängnissen.
Das ist jetzt der Übergang zu dem, was aus meiner
Sicht in Ihrem Antrag fehlt: die komplette innenpolitischen Dimension der Menschenrechtsfrage. Deshalb
habe ich Syrien genannt. Wir haben ja nun mit großer
Verbitterung und Empörung vernommen, dass das, was
Ihre Bundesregierung im Dezember noch für richtig befunden hat, nämlich die Aussetzung des Rückführungsabkommens mit Syrien, jetzt wieder eingeführt worden
ist. Meine Damen und Herren, ich kenne die Argumente
mit Einzelfallprüfung und allem, was damit zusammenhängt. Aber wenn selbst die Bundesregierung, wenn
selbst der Innenminister, wenn ein Völkerrechtler wie
Herr Tomuschat bei der Verleihung des Preises an Herrn
al-Bunni sagt, Syrien sei ein Folterstaat, dann kann ich
doch bitte schön nur darauf hinweisen, dass es der Menschenwürde widerspricht, wenn man in einen solchen
Staat, in dem systematisch gefoltert wird, Menschen zurückführt.
({5})
Das heißt aus meiner Sicht völlig klar und eindeutig: In
diesem Fall geht es nicht um Einzelfallprüfung, sondern
in diesem Fall geht es um das Verbot der Rückführung in
einen solchen Staat. - Das ist ein Punkt, um den wir uns
zu kümmern haben.
Ein zweiter Punkt ist dann, wie ich finde, schon eine
sehr bemerkenswerte Geschichte: An keiner Stelle des
Antrags „Menschenrechte weltweit schützen“ befassen
Sie sich mit der Situation von Flüchtlingen, an keiner
Stelle! Ich kann Ihnen nur sagen - wir haben das in unserem Ausschuss und in anderen Ausschüssen massiv diskutiert -: Was an den Grenzen der Europäischen Union
mit Unterstützung der Bundesregierung abläuft, ist ein
menschenrechtlicher Skandal. Diesen Skandal in einem
solchen Antrag nicht zu benennen, ist ein weiterer Skandal. Diesen Skandal werden wir auch immer und immer
wieder benennen.
({6})
- Da können Sie empört sein, wie Sie wollen, da können
Sie auch sagen, wer das früher alles gemacht hat. Sie behaupten in diesem Antrag, Sie machten eine konseChristoph Strässer
quente und kohärente Menschenrechtspolitik. Aber Sie
tun es an dieser Stelle nicht nur nicht, sondern machen
sogar noch das genaue Gegenteil. Dafür werden wir Sie
auch in allen öffentlichen Diskussionen stellen; das ist
völlig klar.
({7})
Es gibt noch eine andere Geschichte, die aus meiner
Sicht sehr wichtig ist: Sie fordern in Ihrem Antrag - wie
ich finde: zu Recht - die Einhaltung, die Umsetzung und
die Ratifizierung völkerrechtlicher Abkommen durch
andere Staaten, die dies noch nicht getan haben. Auf der
anderen Seite tun Sie aber so, als hätten wir das alles
schon erledigt. Ich frage Sie: Wo sind denn die Feststellungen zum Beispiel zum Zusatzprotokoll zum WSKAbkommen? Wenn es darum geht, einmal exakt zu sagen, dass es in diesem Bereich ein Beschwerderecht gibt,
kneifen Sie. Nichts kommt, nichts steht in Ihrem Antrag.
Ich halte dies für ein eklatantes Versagen, nicht zuletzt
im Hinblick auf die Gespräche, in denen Sie anderen
Ländern vorhalten, etwas zu tun oder zu unterlassen. Sie
selber tun nichts, und das ist Doppelstandard in der Menschenrechtspolitik. Das ist gefährlich, und das halten uns
andere Länder zu Recht vor.
({8})
Aber es gibt nicht nur diesen Part. Es geht auch noch
um ein paar andere Dinge. Ich will darauf hinweisen, wo
in Ihrem Antrag nach meiner Meinung ebenfalls ein
Doppelstandard zum Ausdruck kommt - Frau Steinbach,
Sie werden das wahrscheinlich relativieren -: bei der Religionsfreiheit. Ich kann nur sagen: Jeder Satz zur weltweiten, universellen Religionsfreiheit ist richtig. Herr
Tören, Sie haben gerade die Situation im Iran angesprochen.
({9})
Die am meisten gefährdeten Menschen im Iran sind wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit angeklagt und von der
Todesstrafe bedroht: die Bahai. Jetzt sagen Sie einmal
den Bahai: Die Menschenrechtspolitik in Deutschland ist
darauf ausgerichtet, die Religionsfreiheit unter besonderer Berücksichtigung des Christentums durchzusetzen.
Das ist ein doppelter Standard; das geht nicht. Die Religionsfreiheit muss für alle Religionen auf dieser Welt
gleichermaßen gelten, nicht besonders für bestimmte
Religionen. Wenn Sie das nicht vertreten, verabschieden
Sie sich von einer glaubwürdigen Menschenrechtspolitik. Deshalb können wir Ihrem Antrag auf keinen Fall
zustimmen.
({10})
Erika Steinbach ist nun die nächste Rednerin für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Menschenrechte sind universell, unteilbar
und unveräußerlich.
({0})
Herr Strässer, für Sie mögen das olle Kamellen sein;
aber man kann das nicht oft genug wiederholen. Nur steter Tropfen höhlt den Stein; das möchte ich deutlich hinzufügen.
({1})
Ich möchte etwas zu Ihren Ausführungen sagen. Ich
war doch schon ein wenig verblüfft:
({2})
Bis vor kurzem haben Sie all das, was zu den EU-Außengrenzen geregelt wurde, als Regierungsfraktion mitgetragen.
({3})
Heute, ein paar Monate später, stellen Sie das an den
Pranger und klagen es an. Da ist irgendwo etwas Schizophrenie im Spiel. Sie sind da zu sich selber nicht ganz
ehrlich.
({4})
Die Menschenrechte sind leider in vielen Teilen der
Welt nicht einmal ansatzweise Realität. Wir können das
beklagen, wir wollen das beklagen.
({5})
Wir müssen alles tun, damit es sich bessert. In einigen
Regionen befinden sich Menschenrechte sogar auf dem
Rückzug; das kann man leider nicht verkennen. Die Einforderung des besonderen Schutzes von Minderheiten
und der Einsatz gegen jegliche Benachteiligung aufgrund von Religion und ethnischer Herkunft sind aktueller denn je. Herr Strässer, da haben Sie recht: Im Iran
sind die Bahai die am intensivsten verfolgte Religionsgruppe. Wir haben erst vor wenigen Tagen mit dem Vorsitzenden der Bahai hier in Deutschland gesprochen; das
wissen Sie genauso gut wie ich. Natürlich gehört es bei
der Religionsfreiheit dazu, dass wir uns hinter die Bahai
stellen; das ist doch selbstverständlich.
({6})
In der vergangenen Woche drohte der türkische Ministerpräsident Erdoğan, bis zu 100 000 im Lande lebende Armenier auszuweisen. Das sind Drohgebärden,
die den Umgang der Türkei mit ihren christlichen Minderheiten schlaglichtartig und massiv erhellen. Sie bewirken noch etwas anderes: Sie erinnern beklemmend
an den Genozid des Osmanischen Reiches an den Ar3232
meniern und den anderen Christen damals in den Jahren
1915 und 1916. So nimmt es auch nicht Wunder, dass
der türkische Staat bis zum heutigen Tage nicht bereit ist,
diese traurige Erblast auch nur ansatzweise aufzuarbeiten. Das halte ich bei einem Land, das Mitglied der Europäischen Union werden will, schon für einen Skandal.
({7})
Es ist gut und richtig, dass sich der Deutsche Bundestag für Menschenrechte weltweit einsetzt. Ich halte es
für genauso unverzichtbar, dass wir - Herr Kollege
Strässer, da gebe ich Ihnen recht - auch vor unserer eigenen Tür kehren, dass wir uns mit Defiziten im eigenen
Lande auseinandersetzen. Da muss ich schon sagen: Die
bundesweiten Berichte der letzten Wochen und Monate
über sexuellen Missbrauch von Kindern schrecken zutiefst auf. Es ist gut, dass seitens der Bundesregierung intensiv über weitergehende Prävention nachgedacht wird.
Es ist gut, dass dabei alle gesellschaftlichen Gruppen
eingebunden werden sollen.
Allerdings registriere ich in den Debatten der letzten
Wochen über die Vergehen mit tiefem Befremden eine
Fokussierung auf die katholische Kirche. Hier ist die Gewichtung, bezogen auf die Anzahl der Täter, inzwischen
schlicht und ergreifend vollständig verschoben. Auch in
katholischen Einrichtungen hat es Missbrauchsfälle gegeben. Auch dort sind nicht in jedem Einzelfall die richtigen Maßnahmen getroffen worden. Aber der katholischen Kirche den Willen zur Aufklärung und das
Mitgefühl für die Opfer abzusprechen, das halte ich für
schlichtweg infam. Dahinter steckt Methode. Als Nichtkatholikin sage ich das in aller Deutlichkeit.
({8})
Tatsache ist: Die überwiegende Zahl, nämlich rund
99 Prozent dieser scheußlichen Vergehen spielen sich in
anderen gesellschaftlichen Bereichen ab. Der prozentuale Anteil aus dem Bereich katholischer Einrichtungen
liegt bei nicht einmal einem Prozent.
({9})
Wenn ich nun die Stimmen aus dem Bereich der Grünen in Richtung katholische Kirche vernehme, so erinnert mich das sehr drastisch an den Täter, der anderen in
die Hosentasche greift und ruft: „Haltet den Dieb!“ Die
Äußerungen der Grünen sind pures Ablenkungsmanöver
von sich selbst.
({10})
Es waren Grüne in der Bundesarbeitsgemeinschaft
„Schwule und Päderasten“ - so hieß diese Bundesarbeitsgemeinschaft -, die 1985 den Schutz Minderjähriger, den Schutz von Kindern, vor sexuellem Missbrauch
insgesamt aufheben wollten.
({11})
- Es ist eine Menschenrechtsfrage. - Es waren Sie, Herr
Kollege Beck, der 1988 eine Entkriminalisierung der Pädosexualität als nächsten Schritt nach der Mobilisierung
der Schwulenbewegung einforderte.
({12})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Ich will den Gedanken nur zu Ende führen; dann kann
er gerne eine Frage stellen. ({0})
Ihre strategischen Überlegungen, Herr Beck, sind nachlesbar als Beitrag in dem Buch „Der pädosexuelle Komplex“, das übrigens bis zur Stunde in der Bundestagsbibliothek vorhanden und ausleihbar ist. Es ist gut, Herr
Beck, dass Sie sich inzwischen davon distanziert haben.
Vielleicht erübrigt sich damit Ihre Frage.
Ich mache mir große Sorgen um Ihr Erinnerungsvermögen,
({0})
da Sie die gleiche Schote schon in der letzten Menschenrechtsdebatte gebracht haben. Da habe ich Ihnen erklärt,
dass das damals ein verfälschter, nichtautorisierter Artikel von einem unter Pseudonym veröffentlichten Herausgeber war. Angelika Graf hat unseren Schlagabtausch damals korrekt bewertet. Hätten Sie Anstand,
würden Sie sich für Ihre Äußerung entschuldigen.
({1})
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass weder ein Verband der Bundespartei der Grünen noch die
Bundespartei der Grünen sich jemals die Forderung, die
Sie gerade zitiert haben, zu eigen gemacht hat? Wären
Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass auf meinen Antrag hin der Bundeshauptausschuss, meiner Erinnerung nach im Jahre 1986, die Nichtanerkennung dieser
Bundesarbeitsgemeinschaft beschlossen hat und daraufhin eine neue Arbeitsgemeinschaft gegründet wurde?
Wenn Sie aus Ihren Political-incorrect-Seiten hier solche
Falschbehauptungen zusammenkramen, finde ich das
wirklich unanständig, und wenn Sie es zum zweiten Mal
tun, dann zeigt das, dass Sie nicht bereit sind, dazuzulernen. Das ist nicht mehr Kollegialität unter Demokraten,
und das ist Ihrer nicht würdig, Frau Kollegin.
({2})
Volker Beck ({3})
Sie sollten sich vielleicht einmal mit der Vergangenheit Ihres Verbandes auseinandersetzen, wenn Sie schon
meinen, für die katholische Kirche hier Entlastungsvorwürfe vorbringen zu müssen. Ich habe das Gefühl, die
Deutsche Bischofskonferenz ist da wesentlich weiter als
Sie. Sie setzt sich nämlich an die Aufarbeitung, und das
ist auch gut so, wenn auch nicht alle Bischöfe gleichermaßen die richtige Tonlage gefunden haben.
Herr Beck, ich habe eben gesagt, es ist gut, dass Sie
sich von diesem Beitrag distanziert haben.
({0})
Allerdings muss ich hinzufügen: Wie ich Sie kenne, Herr
Beck - Sie sind ein guter Jurist -,
({1})
hätten Sie, wenn Sie die Möglichkeit gehabt hätten, dieses Buch längst verboten, wenn es so gewesen wäre, wie
Sie hier behaupten.
({2})
Ich glaube, es ist nötig, zu schauen: Wer hat damals
die grüne Bundesarbeitsgemeinschaft „Schwule und Päderasten“, Schwup, mitgetragen und ist heute noch bei
den Grünen aktiv? Den Vorstellungen auch Grüner entsprach doch das pädosexuelle Binnenleben in der Reformschule im Odenwald. Dieses Eldorado für Kinderschänder unter dem Deckmantel von Fortschritt und
moderner Erziehung galt doch als erstrebenswertes Modell.
({3})
Es ist heute nötig, dass die Grünen einmal in sich gehen, in ihren eigenen Reihen forschen und ihre eigene
Vergangenheit aufarbeiten, ehe sie mit dem Finger auf
andere zeigen. Ich habe die jüngsten Presseerklärungen
gelesen, die vonseiten Ihrer Fraktion dazu abgegeben
worden sind. Aber bei der Vergangenheitsbewältigung,
so scheint mir, ist Ihnen wohl ein bisschen mulmig zumute.
({4})
Anders kann ich die Äußerungen Ihres Kollegen Jerzy
Montag, der gerade eingetroffen ist,
({5})
nicht interpretieren. Herr Montag, Sie haben zur Frage
der Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung gesagt,
das sei fundamentalistische Rachsucht. Das kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen. Fundamentalistische
Rachsucht ist das mit Sicherheit nicht.
Frau Kollegin, der Herr Montag würde gern eine Zwischenfrage stellen.
Ja, aber gern.
Sehr geehrte Frau Kollegin, wenn Sie schon zitieren,
wozu Sie offensichtlich nicht in der Lage sind, ({0})
Aber selbstverständlich!
- dann benennen Sie bitte die Fundstelle und zitieren
Sie richtig und vollständig.
Ich habe mich in dem in der Zeitung veröffentlichten
Artikel ganz konkret und sachlich mit der Frage auseinandergesetzt, was für und was gegen die Verlängerung
von Verjährungsfristen in bestimmten Bereichen des Zivilrechts und des Strafrechts spricht. Dabei habe ich
auch ausgeführt, was nach meiner Überzeugung hinter
bestimmten Forderungen steht. Dazu stehe ich und sage
es heute noch einmal: Hinter dem, der die Forderung
aufstellt, für bestimmte Straftaten - außer Völkermord
und Mord - jegliche Verjährungsfristen aufzuheben, vermute ich tatsächlich statt einer rationalen Kriminalitätspolitik eine Strafsucht, die in einem demokratischen
Rechtsstaat nichts zu suchen hat.
Benennen Sie also bitte die Fundstelle genau und zitieren Sie mich richtig, statt hier solche Verfälschungen
vorzutragen!
({0})
Aber Herr Montag, Sie haben das doch im Grunde genommen gerade bestätigt. Ich bin der festen Überzeugung, dass Kinder über Vorfälle gerade in diesem Bereich häufig nicht reden können, sondern erst darüber
reden können, wenn sie erwachsen sind. Deshalb braucht
man eine längere Spanne.
({0})
Das als eine bestimmte Art zu qualifizieren, macht schon
deutlich, dass man das eigentlich wegschieben möchte.
({1})
- Das habe ich gerade heute in der Hand gehabt; das war
in einem Bericht.
({2})
Wenn die Grünen sich seinerzeit mit dem durchgesetzt hätten, was sie im Bereich Pädophilie angedacht
haben - in Teilen, natürlich nicht alle -, dann hätten wir
heute diese Debatte nicht, weil all das, was wir heute debattieren, überwiegend straffrei gewesen wäre - zulasten
von Kindern. Das, meine Damen und Herren, ist massiv
gegen Menschenrechte gerichtet.
Ich bedanke mich.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selten
hat man solch unseriöse Reden hier gehört, Frau
Steinbach.
({0})
Dabei haben Sie auch noch auf falschen Behauptungen
beharrt, etwa bezüglich Herrn Beck. Er ist ein guter und
engagierter Abgeordneter. Das sage ich, auch wenn ich
politisch nicht alle seine Positionen teile. Er ist kein Jurist. Das muss man schon sehen.
Selten ist mehr Heuchelei im Deutschen Bundestag
zu hören als dann, wenn es um das Thema Menschenrechte geht. Die kurzfristig zeitweilige Aufnahme von
Menschenrechtsverteidigern ziehen Sie aus der Koalition in Ihrem Antrag unter den entsprechenden Vorschriften des geltenden Ausländerrechts gegebenenfalls
in Erwägung. Angesichts der Tatsache, dass das Ausländerrecht kaum noch Schutz für politisch Verfolgte bietet,
ist das eigentlich zynisch.
({1})
Jahr für Jahr erreichen weniger Flüchtlinge überhaupt
den Geltungsbereich dieses Ausländerrechts, weil sie
von der Europäischen Union und auch von der Bundesregierung mit martialischen Mitteln wie der Grenzschutzagentur FRONTEX an der Flucht und an der Einreise gehindert werden und im Mittelmeer sterben
müssen. Ein wertvoller Beitrag zum Schutz der Menschenrechte ist für die Linke ein freier Zugang für
Flüchtlinge und ein umfassendes Asylrecht.
({2})
Doch davon ist in den vorliegenden Anträgen natürlich keine Rede; denn Menschenrechtsverletzungen findet man leider immer nur bei anderen. Glaubwürdig ist
man bei Menschenrechten aber nur dann, wenn man bei
sich selbst beginnt.
({3})
Beim Rüstungsexport haben Sie eine Politik zu verantworten, die Sie unglaubwürdig macht. Wie sonst erklären Sie es sich, staatlich finanzierte Ausstattungshilfe
für die Armeen in Georgien, in Nigeria, im Jemen und in
Marokko zu leisten? Wie sonst ist zu erklären, dass die
deutsche Rüstungsindustrie mittlerweile im internationalen Vergleich auf Platz drei liegt und das weltweite Geschäft mit dem Tod in Deutschland derart boomt? Wie
sonst ist es zu erklären, dass Sie zu der monarchistischen
Diktatur in Saudi-Arabien einfach immer nur schweigen,
aber exzellente Handelsbeziehungen zu ihr pflegen?
({4})
Wie ist die Partnerschaft mit Marokko menschenrechtlich für Sie vereinbar, zumal die Westsahara weiterhin völkerrechtswidrig besetzt ist und ständig Menschenrechte der Saharauis verletzt werden, wie jüngst
die Verhaftung von sieben Menschenrechtsaktivisten,
die im Hungerstreik sind? Wie sieht es mit Ihrer Menschenrechtspolitik hinsichtlich der Menschenrechtsverteidiger aus Honduras aus? Jesús Garza und Bertha
Oliva waren hier im Bundestag und haben über die Menschenrechtssituation in Honduras gesprochen. Der Leiter
der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung denunziert
diese Menschen in der honduranischen Zeitung und
nennt sie Spalter. Das ist ein Skandal, meine Damen und
Herren.
({5})
Ist es mit Menschenrechten vereinbar, dass deutsche
Konzerne wie ThyssenKrupp - unterstützt durch Zuschüsse und Steuererleichterungen durch die Regierung Milizen als Werkschutz anheuern, die mit Morddrohungen gegen protestierende Fischer vorgehen?
Warum schweigen Sie dazu, dass alle fünf Sekunden
in der Welt ein Kind unter zehn Jahren verhungert,
50 000 Menschen täglich an Hunger sterben
({6})
und eine Milliarde Menschen permanent unterernährt ist,
während Nahrungsmittel zur Gewinnung von Treibstoffen für Industrieländer verbrannt werden? Was sagen Sie
dazu, dass Ende 2008 allein in Europa in wenigen Tagen
1,7 Billionen Euro für Banken und Konzerne bereitgestellt wurden und gleichzeitig das Welternährungsprogramm von 6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro reduziert wurde, weil Industriestaaten die Mittel für
humanitäre Soforthilfe gekürzt haben?
Das hat nichts mehr mit Menschenrechten zu tun. Wer
Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie im Südsudan
meint, wer politische Rechte für Bürger in anderen Staaten einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denen ihnen Folter droht, wer Meinungsfreiheit anderswo
einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder vorbeSevim Daðdelen
reitet, wer öffentliche Dienstleistungen, das Rentensystem und die Gesundheitsvorsorge privatisiert, der
verwandelt den Kampf um Menschenrechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und imperialer Politik.
({7})
Wir, die Linke, verstehen Menschenrechte als Widerstandsrechte gegen Neoliberalismus, entfesselten Kapitalismus und Krieg.
({8})
- Es ist klar, dass das von der FDP kommt.
Menschenrechte sind nur dann von Dauer, wenn sie
auf einer Wirtschafts- und Sozialordnung beruhen, die
die strukturellen Ursachen der andauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigt.
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
Deshalb treten wir für eine neue, für eine gerechte
Wirtschafts- und Sozialordnung ein. Deshalb setzen wir
uns für ein Exportverbot von Rüstungsgütern ein.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Volker Beck für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie
in der Menschenrechtsdebatte in diesem Hohen Haus
noch einmal ernst genommen werden wollen, dann ziehen Sie bitte nach dem heutigen Auftritt die menschenrechtspolitische Sprecherin Steinbach aus dem Ausschuss zurück.
({0})
Diese Art, mit Falschbehauptungen die Menschenrechtsdebatte zu bestreiten, obwohl man es besser weiß,
ist angesichts der Vorlagen, die hier auf dem Tisch liegen, unglaublich.
Wir haben uns um sexuellen Missbrauch von Kindern
schon 1984 mit einer Großen Anfrage hier im Bundestag
gekümmert. Damals waren wir erst ein Jahr im Parlament. Wir brauchen uns bei diesem Thema nichts vorwerfen zu lassen. Dass es bestimmte Diskussionen gab,
die abwegig waren, sei dahingestellt. Das war nie Beschlusslage.
({1})
- Sie hatten Diskussionen mit Leuten, die Sie ausgeschlossen hatten. Das waren jede Menge Personen.
Wenn ich Sie mit den Positionen dieser Leute identifizieSevim Dağdelen
ren würde, würden Sie sich das zu Recht verbitten. Also
bitte, lassen Sie die Kirche im Dorf.
({2})
Ich möchte jetzt zu den Menschenrechten sprechen
und mich nicht von Ihren Nebenkriegsschauplätzen ablenken lassen. Es liegen Anträge vor, die die spanische
Ratspräsidentschaft unterstützen und das Ziel haben,
Menschenrechtsverteidigern besser zu helfen. Die spanische Präsidentschaft schlägt vor, einen Liaison-Offizier,
also einen Verbindungsbeamten, für die Menschenrechtsverteidiger einzusetzen, wie ihn die Spanier bereits
haben. In Spanien ist es Praxis, dass gefährdete Menschenrechtsverteidiger von Spanien, ohne dass ein Asylantrag gestellt werden muss, für zwölf Monate aufgenommen und anständig mit 1 200 Euro im Monat
finanziell unterstützt werden. Wer es mit der Unterstützung von Menschenrechten und Menschenrechtsverteidigern im Ausland ernst meint, muss Konsequenzen ziehen und ihnen Schutz gewähren, wenn sie ernsthaft
gefährdet sind.
({3})
Dazu steht in Ihrem Antrag kein Sterbenswörtchen.
Wenn Sie jetzt schon wissen, dass Sie das alles ablehnen,
und wenn Sie sich gegen die Ratspräsidentschaft wenden, dann ist das europapolitisch und außenpolitisch ein
Armutszeugnis.
Lassen Sie mich zu Ihrem Antrag kommen. Wir haben uns zum Erstaunen der SPD ernsthaft Mühe gemacht
und gedacht, dass wir, auch wenn die Themenzusammenstellung ein bisschen nach „copy and paste“ aussieht, versuchen sollten, das Beste daraus zu machen;
denn am Ende wird es womöglich beschlossen. Aber mit
dem Antrag verhält es sich wie mit dem Anfang Ihrer
Rede: allgemeine Worte, ein Blick ins Ausland; aber
Konsequenzen sucht man in diesem Antrag bei jedem
Punkt vergebens. Bei Ihnen ist es wie im Kino: Je weiter
die Menschenrechtsverletzungen weg sind, desto besser
sehen Sie sie. Wenn sie direkt vor Ihnen stattfinden oder
da, wo man etwas tun könnte, dann können Sie sie nicht
mehr erkennen.
({4})
Stichwort Guantánamo. Wer Guantánamo kritisiert
und auflösen will, muss dazu bereit sein, auch hier Menschen aufzunehmen, die offensichtlich unschuldig sind.
({5})
Wenn Sie den uigurischen Gefangenen sagen, sie sollten
nach Amerika gehen, in das Land, das sie zu Unrecht gefangen gehalten hat, dann ist das genauso, als wenn wir
1945 zu den deutschen Vertriebenen gesagt hätten, sie
sollten sich in Sibirien ansiedeln. Das ist einfach eine
Volker Beck ({6})
Unverschämtheit. So kann mit Menschen in Not nicht
umgehen.
({7})
Wenn Sie über Menschenhandel schimpfen und Frauenhandel kritisieren, dann müssen Sie schauen, wie es
funktioniert. Wir stellen hier einen Antrag, dass Sie
Konsequenzen aus Ihren großen Worten ziehen. Diese
Opfer brauchen ein Bleiberecht.
({8})
- Herr Grindel, Sie müssen ertragen, dass im Moment
überwiegend ich das Wort habe. - Den Opfern des Menschenhandels kann man nur dadurch helfen, dass sie,
wenn sie in Deutschland zur Polizei gehen, aussagen und
Strafanzeige erstatten, nicht in das Land abgeschoben
werden, in dem die Banden sitzen, die sie verschleppt
haben. Jeder, der hier aussagt und nach dem Prozess zurück muss, muss um Leib und Leben fürchten; er muss
nicht den Staat fürchten, sondern die kriminellen Banden, die so etwas machen.
({9})
Im heutigen Zeitalter, in dem Wirtschaftskonzerne international eine immer stärkere Bedeutung bekommen
und mächtiger als manche Staaten sind, müssen wir uns
auch über das Thema „Menschenrechte und Wirtschaft“
unterhalten. Wir wissen, dass gerade in Afrika viele Bürgerkriege und Menschenrechtsverletzungen nur wegen
des Rohstoffhungers in der Welt stattfinden. Es muss
klar sein: Wer Opfer von Menschenrechtsverletzungen
wird, auch unter Beteiligung von Firmen, die hier Töchter oder Muttergesellschaften haben, dem muss es auch
noch nach Jahren möglich sein, unabhängig von den engen Verjährungsregelungen des jetzigen Zivilrechts, hier
Schadensersatz von diesen Firmen einzuklagen. Ansonsten ist das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ mit
all den wunderbaren freiwilligen Vereinbarungen, die
Sie in Ihrem Antrag aufgezählt haben, leeres Geschwätz;
denn sie helfen den Opfern nicht, sie wirken nicht generalpräventiv, und Menschenrechtsverletzungen zahlen
sich weiter aus.
Es fehlt Ihnen in allen Punkten an der Konsequenz.
Deshalb ist dies eine in Antragsform gegossene Schönwetter- und Sonntagsrede zum Thema Menschenrechte.
Mehr ist aber notwendig, wenn man ernsthafte Menschenrechtspolitik machen will.
({10})
Der Kollege Dr. Egon Jüttner hat seine Rede zu Pro-
tokoll gegeben.1)
1) Anlage 8
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen.
Zunächst zum Tagesordnungspunkt 12 a. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP mit dem Titel „Menschenrechte weltweit
schützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1135, den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/ 257 in der Ausschussfassung anzunehmen.
({1})
Nun liegen dazu sechs Änderungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die wir zuerst abstimmen. Zunächst zum Änderungsantrag auf
Drucksache 17/1227. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist damit
abgelehnt. - Besteht Einverständnis darüber, dass wir ab
22 Uhr bei den Änderungsanträgen pauschal Ablehnung
und Zustimmung signalisieren, oder möchten Sie im
Protokoll die genauen Abstimmungsvoten der Fraktionen haben?
({2})
- Dann stelle ich das Ergebnis fest: Der Änderungsan-
trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Enthaltung der SPD-Fraktion gegen die Stim-
men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke.
Änderungsantrag auf Drucksache 17/1228. Wer
stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt mit dem gleichen Stim-
menverhältnis.
Änderungsantrag auf Drucksache 17/1229. Wer ist
dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände-
rungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der SPD-Fraktion.
Wir kommen zum Änderungsantrag auf
Drucksache 17/1230. Wer stimmt dafür? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abge-
lehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion.
Änderungsantrag auf Drucksache 17/1231. Wer
stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion und der Fraktion Die Linke.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache
17/1232. Wer stimmt dafür? - Wer ist dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion.
Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Ge-
genstimmen der Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkte 12 b und 12 c. Hier wird inter-
fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/1048 und 17/1165 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da-
mit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c
auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 17/1047 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Ingrid Hönlinger,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({5})
- Drucksache 17/1150 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Katrin Kunert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen
- Drucksache 17/1146 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Rüdiger Veit für die SPDFraktion.
({8})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD-Fraktion möchte sich heute Abend mit einem
- aus ihrer Sicht jedenfalls - alten und lieben Bekannten
befassen. Es handelt sich um die Grundgesetzänderung
im Rahmen des Art. 28 Abs. 1 Satz 3. Es geht darum, die
Möglichkeit zu schaffen, dass Länderparlamente darüber
entscheiden können, dass ausländische Mitbürger, die
aus Drittstaaten kommen, an Kommunalwahlen teilnehmen können. Das hat der Bundesrat übrigens schon 1997
auf Antrag der SPD beschlossen. In diesem Haus hat er
bisher noch keine Mehrheit gefunden. Ich sage ganz offen: Ich war wenig begeistert davon, dass wir im vorletzten Jahr nach einer Anhörung im Parlament dem Antrag,
der von anderer Seite gestellt worden war, aus Gründen
der Koalitionsräson nicht zustimmen konnten.
Ich halte zunächst einmal zufrieden fest, dass wir
heute einen Antrag beraten, der aus unserer Feder
stammt, der identisch mit dem Wortlaut des Bundesratsbeschlusses ist und der auch wortgleich von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und sinngemäß, jedenfalls in der
Begründung, von der Fraktion Die Linke eingebracht
worden ist.
Weil das alles schon recht bekannt ist und die Diskussion schon viele Jahre geführt wurde,
({0})
kann ich verstehen, dass der eine oder andere es nicht
gerade als sensationell empfindet,
({1})
dass er sich heute Abend noch damit befassen muss,
Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Mayer.
({2})
Ich kann Ihnen das aber nicht ersparen;
({3})
denn wir sprechen von ungefähr 4 Millionen Menschen,
die in Deutschland leben und die weder den deutschen
Pass noch einen Pass aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union haben. Es handelt sich um Ausländerinnen und Ausländer aus sogenannten Drittstaaten, also
aus Staaten außerhalb der Europäischen Union. Um deren Mitwirkungsmöglichkeit im kommunalen Bereich
- wir wollen ihre Teilhabe an der Gesellschaft, wir wollen eine Mitmachgesellschaft - geht es.
({4})
Die genannte Zahl ist nicht klein. Berlin hat, wie ich
heute gelesen habe, aufgrund des Bevölkerungswachstums derzeit 3,4 Millionen Einwohner zu verzeichnen.
Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn eine solche Zahl
an Deutschen auf diese Art und Weise von der Wahl ausgeschlossen ist.
Im Übrigen: Wenn wir uns die Situation bei kommunalen Wahlen genau anschauen, dann stellt man fest,
dass es praktisch drei Gruppen gibt. Es gibt dort, wo
viele Menschen mit ausländischem Pass leben, ungefähr
ein Drittel, das nicht wählen darf, ein Drittel, das nicht
wählen will, und ein Drittel, das wählen geht. Sie sind
es, die über die Zusammensetzung der Kommunalparlamente entscheiden. Man kann nicht sagen, dass das eine
zufriedenstellende demokratische Legitimation ist. Wir
wünschen uns mehr Beteiligung von allen, die hier leben. Deswegen haben wir diesen Antrag gestellt.
({5})
- Herr Kollege, das will ich Ihnen gleich erklären.
Vorher will ich Ihnen aber eine Frage stellen - dazu
ist die Stunde nun doch noch nicht zu spät -: Was haben
der Freiherr vom Stein, die Kollegin LeutheusserSchnarrenberger von der FDP und die CDU-Oberbürgermeisterin der Stadt Frankfurt gemeinsam? Alle drei sind
für das kommunale Ausländerwahlrecht: Der Freiherr
vom Stein schon 1808 im Bereich seiner Städteordnung,
die er damals geschaffen hat. Frau Roth hat damals anlässlich der Oberbürgermeisterwahlen geäußert: Wir hatten bis jetzt etwa 50 000 wahlberechtigte EU-Ausländer.
Wenn alle Ausländer wählen dürften, hätten wir rund
140 000 Wahlberechtigte. Ich hätte gerne, dass diese übrigen 90 000 Frankfurter ebenfalls wählen dürften. - Das
finde ich richtig.
({6})
Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat am 21. August
2009 gesagt, dass sie die Kampagne „Demokratie
braucht jede Stimme“ für ein kommunales Ausländerwahlrecht in Bayern unterstütze. Die Arbeitsgemeinschaft der Ausländerbeiräte Bayerns hat sie dafür ausdrücklich gelobt.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Koalition, fassen Sie sich ein Herz und überlegen Sie, ob Sie
dieser Verfassungsänderung nicht doch zustimmen sollten.
Was spricht denn dagegen? Gerade aus Ihrem Bereich
wird immer wieder geäußert: Wahlrecht setzt Staatsbürgerschaft voraus. Sie sind aber nicht konsequent und
ehrlich genug, um zu sagen: Dann lassen Sie uns bitte
einmal die Voraussetzungen für die Einbürgerung erleichtern, damit wir wenigstens annähernd solche Zahlen
haben wie beispielsweise Schweden oder die Niederlande.
({8})
Deutschland hinkt bei den Einbürgerungszahlen im EUVergleich weit hinterher.
({9})
Wenn, dann seien Sie bitte auch konsequent: Stimmen
Sie den Veränderungen im Bereich des Staatsbürgerschaftsrechtes zu. Dann kann ich Ihr Argument ernst
nehmen, sonst nicht.
Ich vermag nicht einzusehen, warum jemand die deutsche Staatsbürgerschaft braucht, um auf kommunaler
Ebene beispielsweise zu entscheiden, ob in einem Bebauungsplan genügend Freiraum für Spielflächen für
Kinder vorgesehen ist. Ich vermag nicht zu erkennen,
warum man die deutsche Staatsbürgerschaft braucht, um
verantwortungsvoll entscheiden zu können, in welcher
Weise und mit welchen Finanzmitteln Kindergärten oder
Schulen gebaut werden sollen. Man braucht die deutsche
Staatsbürgerschaft auch nicht, um auf kommunaler
Ebene zu entscheiden, dass man ein städtisches Krankenhaus nicht an irgendjemanden verhökert und verkauft. So ließe sich die Reihe der Beispiele ohne weiteres fortsetzen.
Wir haben - dieses Argument von Ihnen kenne ich
schon - anlässlich der Expertenanhörung im Innenausschuss des Bundestages sieben Experten gehört. Sechs
davon waren Juristen. Nun gibt es ja das böse Sprichwort: Zwei Juristen, drei Meinungen. Ich sage Ihnen
aber einmal: Unter diesen sieben Sachverständigen - wie
gesagt, sechs Juristen darunter - gab es nur zwei mit einer abweichenden Meinung.
({10})
Sie haben gesagt: Es gibt verfassungsrechtliche Bedenken, Ausländern, die aus Drittstaaten kommen, das kommunale Wahlrecht einzuräumen.
Kollege Mayer, die ganze Diskussion knüpft an die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den
Ländergesetzen von Schleswig-Holstein und Hamburg
aus dem Jahr 1990 an. Damals gab es noch nicht, was
dann zum 31. Dezember 1992 beschlossen worden ist,
nämlich die Bestimmung, dass alle EU-Ausländer bei
Kommunalwahlen wahlberechtigt sind. Nun weiß ich
auch, dass man nicht jeden Sachverhalt über einen
Kamm scheren kann. Es gibt sicherlich Unterschiede
- das verkenne ich nicht -, aber ich bestreite entschieden
- so hat es auch die Mehrheit der Sachverständigen getan -, dass es eine unüberwindbare verfassungsrechtliche Hürde für die Einführung des Kommunalwahlrechts
für ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt.
Das setzt eine Verfassungsänderung voraus. Wir Sozialdemokraten wollen das schon sehr lange. Wir wollen das
auch weiterhin. Wir werben bei Ihnen allen um entsprechende Unterstützung.
Ich darf meinen Appell wiederholen: Nehmen Sie
sich ein Beispiel an Frau Roth, der Oberbürgermeisterin
von Frankfurt. Sie hat Erfahrung im Umgang mit Migrantinnen und Migranten. Frankfurt hat einen sehr hohen Ausländeranteil. Nehmen Sie sich auch ein Beispiel
an unserer jetzigen Justizministerin, Frau LeutheusserSchnarrenberger.
({11})
Dann bekommen wir in diesem Haus und in der zweiten
Kammer vielleicht eine Verfassungsänderung hin. Das
würde ich mir wünschen. Wir wollen das. Wir wollten
das schon immer. Es bleibt dabei. Wir werden dieses
Projekt weiter intensiv verfolgen.
Danke sehr.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die letzte Debatte über das Thema „Kommunalwahlrecht für Ausländer“ haben wir, Herr Veit, vor zehn Monaten, am 28. Mai 2009, geführt. An der Sachlage hat
sich seitdem nichts geändert. Ihre Argumente haben sich
auch nicht geändert. Insofern werden Sie nicht böse sein,
dass sich an der Position der CDU/CSU-Fraktion auch
nichts geändert hat.
Ich würde mich aber freuen, Herr Kollege Veit, wenn
die Opposition hier einmal mit neuen, weiterführenden
Ideen kommen würde, wie man die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund weiter verbessern
kann, anstatt hier immer wieder die gleichen Anträge zu
stellen, mit denen Sie den Menschen tatsächlich in ihrer
konkreten Lebenssituation überhaupt nicht helfen.
({0})
Sie werden doch nicht ernsthaft behaupten, dass die
Integration von Migranten in den Ländern, in denen es
ein Kommunalwahlrecht für Ausländer gibt, signifikant
besser gelungen ist. Nein, unsere ausländischen Mitbürger wollen Angebote zur Verbesserung ihrer Sprachkompetenz. Sie wollen gute Perspektiven für ihre Kinder im
Kindergarten und in der Schule. Außerdem wollen sie,
dass die Arbeitslosigkeit bei Ausländern nicht immer
deutlich höher ist als bei den deutschen Arbeitnehmern.
In all diesen Feldern echter Integrationspolitik sind wir
unter der Verantwortung von Bundeskanzlerin Angela
Merkel und der im Kanzleramt angesiedelten Staatsministerin für Integration, Maria Böhmer, gut vorangekommen. Das ist konkrete Integrationspolitik. Davon haben
unsere ausländischen Mitbürger etwas, aber nicht von
Ihren relativ sinnentleerten Anträgen.
({1})
Die Vertreter der Oppositionsparteien wissen ganz genau, dass es gravierende verfassungsrechtliche Gründe
gibt, die gegen ein Kommunalwahlrecht für Ausländer
sprechen. Diese Bedenken können, wie uns Verfassungsrechtler bei der bereits angesprochenen öffentlichen Anhörung im Jahre 2008 erklärt haben, auch nicht durch
eine Verfassungsänderung ausgeräumt werden. Eine Erweiterung des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehörige über den Kreis der EU-Bürger hinaus wird von einer Reihe von Verfassungsrechtlern als Verstoß gegen
die verfassungsrechtliche Ordnung schlechthin betrachtet.
Der Grundsatz, wonach alle Staatsgewalt vom Volke
ausgeht, unterliegt der Ewigkeitsgarantie des Art. 20
Grundgesetz und kann selbst durch eine Verfassungsänderung nicht außer Kraft gesetzt werden. Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist das
Staatsvolk in der Bundesrepublik Deutschland das deutsche Volk und wird von den deutschen Staatsangehörigen gebildet. Eine Ausnahme - das ist wahr - kann es insoweit nur für die Staatsangehörigen anderer Länder der
Europäischen Union geben, weil ihnen nach dem Vertrag
von Maastricht die Unionsbürgerschaft zukommt, die
auch das kommunale Wahlrecht umfasst.
({2})
Bei den Kommunalwahlen regeln die Bürger einer
Gemeinde, einer Stadt oder eines Landkreises ihre örtlichen Angelegenheiten. Es geht um das Wohl der Kommune, die die Menschen im Blick haben.
({3})
Die Frage ist, Herr Kollege Veit, ob ein ausländischer
Mitbürger, der nicht der Unentrinnbarkeit der deutschen
Staatsgewalt unterliegt, weil er nicht zum deutschen
Staatsvolk gehört und sich dementsprechend jederzeit
der Wirkung der Staatsgewalt entziehen könnte, bei seiner Wahlentscheidung auch nur das Wohl der Kommune
im Blick hat.
Daran - das sage ich Ihnen ganz offen - wird man
Zweifel haben dürfen, wenn man die jüngsten Reden des
türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan nachliest.
Erdoğan hat seine Landsleute in Deutschland aufgerufen, die deutsche Staatsbürgerschaft in Form der doppelten Staatsbürgerschaft zu erwerben, um mehr Einfluss
für türkische Interessen ausüben zu können. Wenn also
schon bei doppelten Staatsbürgern zu befürchten ist, dass
aus dem Loyalitätskonflikt ein Loyalitätsverzicht gegenüber dem deutschen Staat wird, dann ist eine solche Befürchtung erst recht angebracht, wenn es sich um Personen handelt, die ausschließlich nur die türkische
Staatsbürgerschaft besitzen, obwohl sie zum Teil viele
Jahre in unserem Land leben.
Herr Veit, Sie haben gesagt: Lass sie doch entscheiden, ob Schulen gebaut werden. - Ich will, dass sie darüber entscheiden, wie die Schulen für die Schüler inhaltlich gut gemacht werden. Ich will nicht, dass sie über
türkische Gymnasien entscheiden, um das ganz klar zu
sagen.
({4})
Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk sind die drei
Säulen, auf denen die Staatlichkeit eines Gemeinwesens
ruht. Unklarheiten führen dabei - das lehrt uns die Geschichte in vielen Ländern - nur zu Konflikten. Deshalb
bin ich für Klarheit: Wer als Ausländer sich gut integriert
hat, auf Dauer bei uns leben möchte und wer auf die Gestaltung seines Gemeinwesens, von der Gemeinde bis
hin zur Bundesebene, Einfluss nehmen will, der ist herzlich eingeladen, die deutsche Staatsbürgerschaft unter
Verzicht auf seine bisherige Staatsangehörigkeit zu erwerben. Dann kann er auf allen staatlichen Ebenen durch
ein aktives und passives Wahlrecht Einfluss nehmen.
Es bleibt bei unserem Grundsatz: Die Verleihung der
deutschen Staatsbürgerschaft und der Erwerb des aktiven und passiven Wahlrechts stehen am Ende eines gelungenen Integrationsprozesses und sind keine Eintrittskarte.
({5})
Ein Wahlrecht für alle staatlichen Ebenen macht auch
insoweit Sinn, als viele Fragen, die die Menschen mit
Migrationshintergrund in besonderer Weise betreffen,
eben im Landtag oder Bundestag entschieden werden.
Ein Kommunalwahlrecht für Ausländer würde den Antrieb, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, weiter erlahmen lassen. Im Ergebnis würde es die Integration also nicht befördern, sondern behindern.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Grindel, ich frage mich wirklich, von wo Sie immer
Ihre Argumente hervorzaubern.
({0})
Sie sagen, Drittstaatsangehörigen oder ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern könne man kein kommunales Wahlrecht geben. Diese Menschen sind nach
Ihrer Auffassung offenbar nicht in der Lage, im Interesse
bzw. zum Wohle der Kommune zu entscheiden.
({1})
Seit 1992 gibt es das kommunale Wahlrecht für EUBürgerinnen und EU-Bürger, die nicht deutsche Staatsangehörige sind. Wollen Sie jetzt behaupten, dass Millionen EU-Bürgerinnen und EU-Bürger, die in Deutschland das kommunale Wahlrecht haben, nicht zum Wohl
der Kommune entscheiden, sondern für irgendetwas anderes? Ich finde, das sollten Sie sich sparen.
Sie möchten die Integration mit der sozialen Frage
verbinden; auch das ist für meine Ohren neu. Aber bei
diesem Thema geht es nicht nur um Integration. Hier
geht es um Gleichstellung, hier geht es auch um Partizipation, und hier geht es um das Kernstück der Demokratie: Wir wollen mehr als 4 Millionen Menschen das
Recht einräumen, sich an Wahlen zu beteiligen. Dieses
Recht möchten wir diesen Menschen nicht vorenthalten.
Deshalb unterstützen wir diese Initiative selbstverständlich.
Es geht bei diesem Thema um Gleichstellung. In 16
der 27 EU-Mitgliedstaaten wurde das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige, wenn auch mit unterschiedlichen gesetzlichen Bestimmungen, bereits realisiert. Es kann also keine Rede davon sein, dass diese
Menschen nicht im Interesse der Kommune entscheiden.
({2})
Es wurde deutlich: Das Verständnis, das Schwarz-Gelb
von Integration hat, ist offenkundig gleichbedeutend mit
Ungleichheit; denn Sie wollen die bestehende Ungleichheit zementieren.
Ich möchte mich auch an Herrn Veit und die SPD
wenden. Es ist nicht zu verhehlen - da hat Herr Grindel
recht -: Es ist Wahlkampf. Ich frage Sie, Herr Veit: Was
ist innerhalb der letzten zehn Monate passiert? Noch vor
zehn Monaten haben Sie hier im Bundestag bei einer namentlichen Abstimmung gegen das kommunale Wahlrecht für Drittstaatenangehörige gestimmt.
({3})
Aber jetzt, kurz vor den Landtagswahlen in NordrheinWestfalen, meinen Sie Ihr vermeintliches Herz für Migrantinnen und Migranten entdecken zu müssen.
Auch in diesem Kontext ist zu sehen, dass Sie heute
eine Pressekonferenz einberufen haben, und zwar nur
deshalb, um zu Ihrem heute zu beratenden Gesetzentwurf Stellung zu nehmen. Das macht Sie nicht glaubwürdiger. Sie haben es in Ihren elf Regierungsjahren
nicht geschafft, bei diesem Thema eine Initiative auf den
Weg zu bringen. Herr Veit, wo war die SPD in diesen elf
Regierungsjahren? Warum haben Sie keine Initiative ergriffen, um Drittstaatenangehörigen das Wahlrecht zumindest auf der kommunalen Ebene zu geben? Sie haben
nichts getan. Jetzt, kurz vor der Landtagswahl in NRW,
wollen Sie etwas tun. Das ist für die SPD schändlich,
Herr Veit.
({4})
Sie sagen - insbesondere von der Union, aber auch
von der FDP hört man das immer wieder -, die Menschen sollen sich einbürgern lassen und deutsche Staatsangehörige werden; dann können sie auch von ihrem
Wahlrecht Gebrauch machen. Ich frage mich: In welcher
Welt leben Sie eigentlich? Sie haben das Staatsangehörigkeitsgesetz in den letzten Jahren immer weiter verschärft. Im September 2008 haben Sie den Einbürgerungstest eingeführt. Die vorherige rot-grüne Regierung
hat das Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahre 2000 reformiert. Auch diese Reform hat übrigens zu einem Rückgang der Zahl der Einbürgerungen geführt.
Sevim Daðdelen
Der Einbürgerungstest, den Sie im Jahr 2008 eingeführt haben, hatte zur Folge, dass die Zahl der Einbürgerungen im Jahr 2009 im Vergleich zu 2008 um
19 Prozent gesunken ist. Seit dem Jahr 2000, also seit
der großen Reform unter Rot-Grün, beträgt der Rückgang 55 Prozent. Es ist also Quatsch, zu sagen: Die
Leute sollen sich einbürgern lassen. - Vielmehr müssen
wir Einbürgerungen massiv erleichtern,
({5})
damit die Menschen überhaupt eingebürgert werden und
bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai
Gebrauch von ihrem Wahlrecht machen können. Wir
brauchen aber auch ein kommunales Wahlrecht, damit
wir - aus demokratietheoretischen Gründen sage ich das,
Herr Grindel - in Deutschland weniger demokratiefreie
Zonen haben. Wie können Sie in den Kommunen Stadträte legitimieren, wenn dort 30 oder 35 Prozent der Bevölkerung an den Wahlen nicht teilnehmen können?
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. Wir als Linke fordern demokratische und soziale Rechte für alle in Deutschland
lebenden Menschen - und das, liebe SPD, nicht nur
dann, wenn sie uns gerade mal wahltaktisch genehm
sind.
({0})
Nun hat der Kollege Serkan Tören für die FDP-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die wichtigsten Orte der Integration sind jene, in denen
das alltägliche Leben stattfindet. Das ist dort, wo unsere
Kinder zur Schule gehen, wo wir Mitglied in Sportvereinen sind und wo es um Bebauungspläne für Wohngebiete geht. Gerade vor Ort ist es von besonderer Bedeutung, dass sich Migranten politisch einbringen und die
Entscheidungen mitgestalten können. Es existieren dort
bereits einige Modelle, so zum Beispiel Ausländerbeiräte und Integrationsräte. Ich spreche aber ein offenes
Geheimnis an, wenn ich sage, dass deren Sinnhaftigkeit
zweifelhaft ist. Denn diese Gremien werden de facto nur
sehr schlecht angenommen.
({0})
Ich will nur auf die letzten Integrationswahlen in NRW
verweisen. Da lag die Wahlbeteiligung bei nur 11 Prozent. Hören Sie sich das genau an: nur 11 Prozent. Ein
Gremium zu wählen, das die wirklich entscheidungsbeSevim Dağdelen
rechtigten Kommunalvertretungen nur berät, ist nun einmal nicht sonderlich attraktiv.
Die FDP hat sich schon immer für eine Ausweitung
demokratischer Mitbestimmung und für eine Verbesserung politischer Teilhabe von Migranten eingesetzt, allerdings immer unter bestimmten Voraussetzungen und
unter dem klaren Leitbild eines mündigen Bürgers, der
sich in die öffentlichen Belange einmischt und auch einmischen kann.
Die Linke und die SPD fordern als einzige Voraussetzung dafür, das Kommunalwahlrecht zu erlangen, den
ständigen Wohnsitz. Ich sage Ihnen ganz klar: Das ist
nicht ausreichend. Das ist schwammig. Das zeigt auch,
dass Sie sich mit Ihrem eigenen Antrag überhaupt nicht
beschäftigt haben.
({1})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, führen benachbarte Länder wie Belgien, Schweden
oder auch Irland als glänzende Beispiele an. Dann möchte
ich Ihnen auch mal erzählen, wie es dort tatsächlich aussieht: Erstens. Die Wahlbeteiligung der Migranten ist in
diesen Ländern stets niedriger als die der Staatsbürger
ohne Migrationshintergrund.
({2})
Zweitens. Besonders niedrig ist dabei die Wahlbeteiligung in Gemeinden mit einem hohen Migrantenanteil.
Drittens. Migranten in diesen Ländern nehmen das passive Wahlrecht - wenn überhaupt - nur sehr selten wahr.
Das hat natürlich Gründe: Dazu zählen eine mangelnde
Kenntnis der jeweiligen politischen Systeme, oft auch ein
anderes kulturelles Verständnis von Interessenvertretungen, teilweise auch die geringe Bereitschaft der Parteien,
sich zu öffnen, oder einfach ein genereller Politikverdruss, wie man ihn auch bei Deutschen hier in Deutschland kennt.
({3})
All diese Punkte zeigen: Das Wahlrecht ist nicht - so
behaupten es die Damen und Herren der Linken - die
entscheidende Komponente erfolgreicher Integrationspolitik. Es sollte auch bitte nicht als solche verkauft werden. Damit machen Sie es sich viel zu einfach.
({4})
Auch das Argument der Ungleichbehandlung gegenüber
EU-Bürgern halte ich für nicht tragfähig, und ich wundere mich darüber immer wieder. Anscheinend kennen
Sie die EU-Verträge und das, was damit verbunden ist,
nicht. Deutschland ist in die EU integriert. Es gibt diese
Verträge nun einmal. Sie müssen sie sich einmal genau
durchlesen.
({5})
Wir als FDP können uns durchaus vorstellen, dass ein
Ausländerwahlrecht in bestimmten Kommunen sinnvoll
ist. Es muss dann allerdings an Bestimmungen geknüpft
sein. Wenn sich ein Drittstaatenausländer mindestens
fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufhält, sollte es
den Kommunen grundsätzlich ermöglicht werden, ihm
das Wahlrecht zu verleihen. Dazu darf es aber keine
starre Vorschrift im Grundgesetz geben. Denkbar wäre
an dieser Stelle zum Beispiel eine Länderöffnungsklausel nach dem Subsidiaritätsprinzip, die es den Ländern in
ihrer Hoheit ermöglicht, den Kommunen die Entscheidung über ein solches Ausländerwahlrecht und dessen
Voraussetzungen zu überlassen und es zu gestalten.
({6})
Worum es in dieser Debatte tatsächlich geht, ist das
Ziel einer verbesserten Integration. Es geht um das Ziel
einer vollen gesellschaftlichen und politischen Teilnahme von Migrantinnen und Migranten in Deutschland.
Dazu ist das kommunale Wahlrecht sicherlich nicht das
geeignete Mittel. Der Königsweg ist und bleibt die Einbürgerung. Gleichwohl: Wir alle kennen die ernüchternde Situation, dass sich von 45 möglichen Personen
nur eine tatsächlich einbürgern lässt. Das ist nicht befriedigend. Wir müssen für die deutsche Staatsangehörigkeit
werben. Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich sagen:
Ein paar warme Worte reichen nicht aus. Wir müssen
konkrete Anreize schaffen. Ein Ansatzpunkt kann die
zügigere Einbürgerung für besonders erfolgreich integrierte Migranten sein. Indem die Einbürgerung von bestimmten Integrationsleistungen abhängt, gibt sie nämlich allgemeine Zielstellungen vor.
({7})
Diese sind wichtig und unabdingbar für die Motivation
der Migranten, insbesondere aber für unser Gemeinwesen. Ein Beispiel: Studiert ein junger Mensch erfolgreich
in Deutschland, lernt er Land und Leute kennen und
lernt er die Sprache, ist er hochqualifiziert, so sind dies
die Integrationsleistungen, die bei der Wartezeit Berücksichtigung finden sollten.
Meine Damen und Herren, man kann sich darüber
streiten - wir tun dies, auch heute -, ob die Einbürgerung
am Anfang oder am Ende einer erfolgreichen Integration
stehen sollte. Lassen Sie es mich so formulieren: Die
Einbürgerung ist ein Meilenstein im Integrationsprozess.
Die Zahl der Einbürgerungen zu steigern, muss in unser
aller Interesse sein.
({8})
Ein kommunales Wahlrecht für Ausländer ist nichts
Halbes und nichts Ganzes. Sorgen wir dafür, dass Migranten voll und ganz teilhaben an Staat und Gesellschaft! Sorgen wir dafür, dass Migranten sich voll und
ganz zu Staat und Gesellschaft als deutsche Patrioten bekennen!
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Memet Kilic für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe gerade mit Erstaunen zur Kenntnis genommen,
dass die Unionsparteien eine Erweiterung des kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatler für verfassungswidrig
halten
({0})
und unsere Kollegen von der FDP eine Erweiterung des
kommunalen Wahlrechts auf Drittstaatler für nicht erforderlich halten, sich vielmehr dafür aussprechen, dass die
Kommunen das über eine Öffnungsklausel gestalten
können.
({1})
Das zeigt, dass die Koalitionsparteien noch einiges zu
klären haben.
({2})
Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir Grüne
einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des kommunalen
Wahlrechts auf Angehörige von Drittstaaten in den Bundestag eingebracht.
({3})
Unser Entwurf wurde bedauerlicherweise mit den Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt.
Es ist erfreulich und macht Hoffnung, dass die SPD unsere Meinung in dieser wichtigen Frage nun doch teilt.
({4})
Ein großer Teil unserer Bevölkerung, nämlich über
4 Millionen Menschen in Deutschland, darf an Wahlen
nicht teilnehmen. Der Ausschluss dieser Menschen aus
Drittstaaten von der politischen Teilhabe ist weder mit
dem Demokratieprinzip vereinbar noch mit einer erfolgreichen Integrationspolitik.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum kommunalen Wahlrecht für Ausländer im Jahr
1990 betont, dass es der demokratischen Idee entspricht,
eine Übereinstimmung zwischen der Wohnbevölkerung
und der Wahlbevölkerung herzustellen. Folgerichtig hat
es die Politik aufgefordert, möglichst viele dauerhaft in
Deutschland lebende Bürgerinnen und Bürger in das
Wahlrecht einzubeziehen.
Solange Bürgerinnen und Bürger aus Drittstaaten das
kommunale Wahlrecht nicht erhalten, wird ein erheblicher Teil unserer Gesellschaft von der wichtigsten politischen Teilhabe in einer Demokratie ausgeschlossen. In
einigen Kommunen mit einem hohen Anteil an Immigrantinnen und Immigranten entstehen so demokratiefreie Zonen.
Die Ausübung des kommunalen Wahlrechts ist aber
auch für die Integration der in Deutschland lebenden Immigrantinnen und Immigranten von großer Bedeutung.
Eine erfolgreiche Integration lässt sich nur durch Teilhabe, also die Einräumung von Rechten, erreichen.
Ein wesentliches Recht in der Demokratie ist das
Wahlrecht. Die Notwendigkeit der politischen Teilhabe
von Immigrantinnen und Immigranten haben wir Deutsche und Europäer bereits 1992 erkannt und mit dem
Vertrag von Maastricht das kommunale Wahlrecht für
EU-Bürgerinnen und -Bürger eingeführt. Seitdem haben
jede Unionsbürgerin und jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in Deutschland das aktive und passive Wahlrecht bei
kommunalen Wahlen. Die Erfahrungen damit sind äußerst positiv.
Dass das Demokratieprinzip und der Integrationsgedanke für Nicht-EU-Immigranten nicht gelten soll, ist
sachlich nicht gerechtfertigt und verfassungsrechtlich
höchst bedenklich; denn die Lebenssituation von Drittstaatsangehörigen unterscheidet sich nicht von der Lebenssituation von EU-Bürgern und Deutschen. Es geht
um Menschen, die seit Jahren legal in Deutschland leben, hier arbeiten und Steuern zahlen. Ihre Kinder besuchen gemeinsam mit unseren Kindern die Schule oder
den Kindergarten. Der einzige Unterschied ist, dass
diese Bürgerinnen und Bürger die Angelegenheiten ihrer
Kommune nicht mitbestimmen dürfen. Diese Einteilung
in Ausländer erster und zweiter Klasse ist ungerecht und
stellt eine institutionelle Diskriminierung dar.
({5})
In vielen anderen europäischen Ländern ist das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige eine Selbstverständlichkeit. In Finnland, Schweden, Dänemark, Estland, Luxemburg, Irland, Belgien und den Niederlanden
traut man den Drittstaatsangehörigen längst mehr zu, als
zu arbeiten, Steuern zu zahlen oder Fußball zu spielen.
Dort dürfen sie mitbestimmen, wenn es um das Schicksal
ihrer Kommune geht.
Deshalb fordern wir, das Grundgesetz dahin gehend
zu ergänzen, dass auch Nicht-EU-Bürgerinnen und -EUBürger, die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland haben, das Kommunalwahlrecht erhalten.
Ich bedanke mich.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Stephan Mayer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr verehrte Kollegen! Ich möchte zunächst
einmal eines feststellen: Seit die CDU/CSU wieder in
Regierungsverantwortung ist, seit dem Jahr 2005, steht
das Thema Integration endlich wieder ganz oben auf der
politischen Tagesordnung.
({0})
Wir reden nicht nur von Integration, wir machen auch etwas für Integration.
({1})
Es gibt eine außerordentlich engagierte und sehr erfolgreiche Integrationsbeauftragte der Bundesregierung,
Frau Staatsministerin Professor Böhmer. Wir als CDU/
CSU haben klargemacht, dass es nicht an den finanziellen Ressourcen scheitern darf, Ausländern oder auch
Aussiedlern die erforderlichen deutschen Sprachkenntnisse beizubringen. Das gilt sowohl für Ausländer und
Aussiedler, die schon länger in Deutschland sind, als
auch für die, die neu in unser Land kommen.
({2})
Wir haben auch in den Ländern einiges dafür getan,
dass wirklich praktische Integrationsarbeit vor Ort geleistet werden kann. Ich möchte nur noch daran erinnern:
Bevor Jürgen Rüttgers Ministerpräsident in NordrheinWestfalen wurde, bevor die CDU dort in Regierungsverantwortung kam, haben türkische Hauptschulabsolventen
aus Bayern im Fach Mathematik besser abgeschnitten als
deutsche Hauptschulabsolventen aus Nordrhein-Westfalen. Daran sieht man: Es gibt auch in den Bundesländern
ganz hervorragende und herausragende Beispiele für erfolgreiche Integration.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinsichtlich
der jetzt zu behandelnden Gesetzentwürfe und des jetzt
zu behandelnden Antrages gilt es festzuhalten, dass ein
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Bereich gegen die Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes,
gegen Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz, verstoßen würde.
Ebenso kann ich mich nur dem renommierten Staatsrechtler Josef Isensee anschließen, der der Auffassung
ist, dass ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Bereich auch gegen das Homogenitätsgebot gemäß Art. 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verstoßen würde.
Es ist nun einmal so, dass das Staatsvolk einheitlich
ist. Man kann das Staatsvolk bei einer Kommunalwahl
nicht anders definieren als bei einer Landtags- oder bei
einer Bundestagswahl.
({4})
Deswegen ist es nun einmal so, dass das Staatsvolk gemäß Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz so definiert wird, dass
die Grundvoraussetzung dafür die deutsche Staatsangehörigkeit ist. Deswegen ist es auch richtig, dass das aktive Wahlrecht sowohl im kommunalen Bereich als auch
im überregionalen Bereich an die deutsche Staatsangehörigkeit gebunden ist.
({5})
Stephan Mayer ({6})
Darüber hinaus würde ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige im kommunalen Bereich gegen das Völkerrecht verstoßen. Im Völkerrecht gilt der Grundsatz, dass
eine Rechtsposition eines Landes nur gewährt wird,
wenn gemäß dem Prinzip der Gegenseitigkeit das andere
Land die gleiche Rechtsposition dem ersteren Land auch
gewährt. Dieser Grundsatz des Völkerrechts wäre also
nicht eingehalten.
Darüber hinaus möchte ich auch klarmachen, dass das
Kommunalrecht und der kommunale Bereich keine Versuchsfelder sein können. Es geht hier auch um elementare Entscheidungen, die die Menschen vor Ort teilweise
unmittelbarer betreffen als manche Entscheidungen, die
auf Landes- oder Bundesebene getroffen werden. Ich
warne davor, das Kommunalwahlrecht hier als Versuchskaninchen zu betrachten.
Abgesehen davon bitte ich schon, sich noch einmal
deutlich vor Augen zu führen, dass in den EU-Ländern,
in denen Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht im kommunalen Bereich eingeräumt wurde, die Wahlbeteiligung durch die Bank bei weit unter 30 Prozent liegt.
Man sieht also ganz konkret: Es wird von diesem kommunalen Wahlrecht für Drittstaatsangehörige nicht Gebrauch gemacht.
Ich glaube, eines sollte auch in aller Deutlichkeit festgehalten werden: Eine erfolgreiche Integration kann
nicht mit dem Gewähren des aktiven und passiven Wahlrechts im kommunalen Bereich erreicht werden. Die
Möglichkeit, sich im kommunalen Bereich aktiv und
passiv an Wahlen zu beteiligen, kann erst am Ende einer
erfolgreichen Integration stehen.
({7})
Darauf gilt es meines Erachtens auch in aller Deutlichkeit hinzuweisen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen?
({0})
Ich bin auch zu später Stunde selbstverständlich noch
gerne bereit, die Frage zu beantworten.
({0})
Vielen Dank, das ist der bayerische Charme. - Ich
habe wirklich nur eine ganz kurze Frage. Sie haben auf
die niedrige Wahlbeteiligung der Drittstaatsangehörigen
in den EU-Ländern hingewiesen, in denen es das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige gibt.
Herr Kollege Mayer, in Deutschland - sowohl auf
kommunaler Ebene als auch bei Landtagswahlen oder
bei der Bundestagswahl - beklagen sehr viele Organisationen, selbst die Parteien, dass die Wahlbeteiligung immer geringer wird.
({0})
Immer mehr Menschen bleiben zu Hause.
Würde man Ihrer Logik folgen, müsste man eventuell
auch den Deutschen das Wahlrecht wieder entziehen,
weil sie sich an den Wahlen nicht beteiligen.
({1})
Sehe ich das richtig?
({2})
Sehr verehrte Frau Kollegin, Sie sehen das eklatant
falsch. Es ist vollkommen richtig, dass wir mehr dafür
tun müssen, Ausländer in Deutschland dafür zu interessieren, sich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen,
insgesamt mehr Interesse an einer Partizipation an der
Gesellschaft an den Tag zu legen.
({0})
Aber ich bin dezidiert der Auffassung, dass dieser richtige Wunsch nicht dadurch erfüllt wird, dass man ausländischen Mitbürgerinnen oder Mitbürgern das kommunale Wahlrecht gibt. Ganz im Gegenteil: Wenn ich bei
mir im Wahlkreis mit Ausländerinnen und Ausländern
spreche, dann sagen sie nicht, dass es ihr hehrster
Wunsch ist, endlich an Kommunalwahlen teilzunehmen.
Sie sagen, dass sie ordentlich geleistete Integrationsarbeit an den Schulen wollen. Sie wollen natürlich auch
einen Job; sie wollen Arbeit, mit der sie auch ihre Familie ernähren können. Sie wollen, was das gesellschaftliche Leben insgesamt anbelangt, gleich behandelt werden. Aber ich habe noch von keinem ausländischen
Mitbürger den Wunsch gehört, endlich an einer Kommunalwahl teilzunehmen zu können.
({1})
Vor diesem Hintergrund sehe ich dieses Thema derzeit
als absolut am unteren Ende der politischen Agenda angesiedelt an.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition, mir fehlt in Ihren Anträgen bzw. Gesetzentwürfen vor allem auch ein Hinweis darauf, welche
Mindestaufenthaltszeit erfüllt sein sollte, damit ein Ausländer sein aktives und passives Wahlrecht im Kommunalbereich wahrnehmen kann.
({2})
Nach Ihren Anträgen bzw. Gesetzentwürfen dürfte ein
Ausländer, auch wenn er sich nur drei oder sechs Monate
in Deutschland aufhält, in seiner Heimatgemeinde an der
Stephan Mayer ({3})
Kommunalwahl teilnehmen. Das ist doch in jeder Hinsicht absurd und vollkommen illusorisch.
({4})
Wenn dann immer wieder gesagt wird: „Wir haben
doch jetzt seit den 90er-Jahren auch das kommunale
Wahlrecht für EU-Ausländer“, dann bitte ich dabei zu
bedenken, dass in Deutschland der Grundsatz gilt: Gleiches muss gleich und Ungleiches muss ungleich behandelt werden.
({5})
Es besteht nun einmal ein Unterschied zwischen einem
EU-Ausländer und einem Drittstaatsangehörigen. In der
Präambel unseres Grundgesetzes gibt es den ganz klaren
Hinweis, dass es unser Ziel ist, uns in die Europäische
Union zu integrieren. Es gibt den Art. 23 des Grundgesetzes. Es gilt festzuhalten, dass ein elementarer Unterschied zwischen EU-Ausländern und Drittstaatsangehörigen besteht. Deswegen ist es meines Erachtens nur
folgerichtig und sachgerecht, dass EU-Ausländern sehr
wohl das aktive und passive Kommunalwahlrecht eingeräumt wird, Drittstaatsangehörigen hingegen nicht.
({6})
Es ist schon auf die meines Erachtens sehr bemerkenswerte Rede des türkischen Ministerpräsidenten
Recep Tayyip Erdoğan vom 27. Februar in Istanbul hingewiesen worden. Manche Passagen daraus - ich zitiere
nur: Wir sind alle Geschwister; wir sind Kinder desselben Stammes - zeigen meines Erachtens schon, wes
Geistes Kind Tayyip Erdoğan ist.
({7})
Letzten Endes geht es ihm darum, ein Pantürkentum zu
schaffen. Demzufolge besteht meines Erachtens die
eklatante Gefahr, dass, wenn es das kommunale Ausländerwahlrecht für Drittstaatsangehörige gäbe, offenkundig die Möglichkeit bestände, dass auf die in Deutschland lebenden Türken bei Kommunalwahlen
entsprechend eingewirkt werden würde. Die Möglichkeit der Instrumentalisierung ist meines Erachtens beileibe nicht von der Hand zu weisen. Das ist meiner Meinung nach auch ein entscheidender Grund, sich
vehement gegen ein aktives und passives kommunales
Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auszusprechen. Deswegen kann ich zum Schluss nur in aller Deutlichkeit
festhalten: Es ist sowohl dem Gesetzentwurf der SPDFraktion als auch dem der Grünen-Fraktion sowie dem
Antrag der Linkspartei die Absage zu erteilen.
Ich bitte Sie, endlich die Argumente zur Kenntnis zu
nehmen und die Debatte über ein kommunales Wahlrecht für Drittstaatsangehörige in Deutschland zu beenden. Lassen Sie uns die Zeit lieber darauf verwenden,
uns damit zu befassen, was wir machen können, um die
in Deutschland lebenden Ausländer noch besser und intensiver in die deutsche Gesellschaft zu integrieren.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/1047,
17/1150 und 17/1146 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0}) zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das
Inverkehrbringen und die Verwendung von
Biozidprodukten ({1}) ({2})
({3})
KOM({4}) 267 endg.; Ratsdok. 11063/09
- Drucksachen 17/136 Nr. A.94, 17/1218 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingbert Liebing
Dr. Bärbel Kofler
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Ingbert Liebing, Josef
Göppel, Dr. Bärbel Kofler, Dr. Lutz Knopek, Ralph
Lenkert und Dorothea Steiner.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1218, in Kenntnis der Unterrichtung eine
Entschließung anzunehmen. Gleichwohl müssen wir
auch über diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dage-
gen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE
Zur Stabilisierung des Rentenniveaus: RiesterFaktor streichen - Keine nachholenden Rentendämpfungen vornehmen
- Drucksache 17/1145 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einver-
standen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben dies
getan: Peter Weiß, Max Straubinger, Anton Schaaf,
Dr. Heinrich Kolb, Matthias Birkwald und Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1145 an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anbau von gentechnisch veränderter Kartoffel Amflora verhindern
- Drucksache 17/1028 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wurde interfraktionell vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu geben. - Auch hier sind Sie da-
mit einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und
Kollegen: Carola Stauche, Josef Rief, Elvira Drobinski-
Weiß, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Kirsten
Tackmann und Ulrike Höfken.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1028 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Modernisierungspartnerschaft mit Russland -
Gemeinsame Sicherheit in Europa durch stär-
kere Kooperation und Verflechtung
- Drucksache 17/1153 -
1) Anlage 10
2) Anlage 11
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, auch hier die
Reden zu Protokoll zu geben. - Auch damit sind Sie
einverstanden. Es sind folgende Kolleginnen und Kolle-
gen: Karl-Georg Wellmann, Franz Thönnes, Dr. Bijan
Djir-Sarai, Wolfgang Gehrcke und Marieluise Beck.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1153 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 18 sowie
Zusatzpunkt 6:
18 Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen streichen
- Drucksache 17/1148 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Haushaltsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sören Bartol, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Altschuldenentlastung für Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
- Drucksache 17/1154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Parlamentarischer
Staatssekretär Jan Mücke, Volkmar Vogel, HansJoachim Hacker, Petra Müller, Heidrun Bluhm und
Stephan Kühn.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung haben wir lei-
der immer noch mit den Altlasten der DDR-Vergangen-
heit zu kämpfen - auf vielen Gebieten des gesellschaftli-
chen Lebens.
Eines der wichtigsten Felder war ein menschenwür-
diges Wohnumfeld, und zwar überall. Ein intakter, be-
zahlbarer und sozial ansprechender Wohnungsmarkt ist
unser Ziel. Gerade ostdeutsche Wohnungsunternehmen
stehen vor großen Herausforderungen, die sie meistern
müssen. Dazu gehören die zu DDR-Zeiten aufgebürde-
ten Altschulden und gleichzeitig hoher Leerstand durch
Wegzug und demografischen Wandel.
3) Anlage 12
Volkmar Vogel ({0})
Um es klar zu sagen: Alle Akteure am ostdeutschen
Wohnungsmarkt haben Hervorragendes geleistet in den
letzten Jahren. Die christlich-liberale Koalition wird
das weiterentwickeln, was sie bereits 1993 mit dem Altschuldengesetz auf den Weg brachte. Auch das Programm Stadtumbau Ost wird fortgesetzt und durch weitere Felder ergänzt.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag festgehalten,
dass „beim Stadtumbau Ost die Aufwertung von Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz gestärkt
und der Rückbau der technischen und sozialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden soll. Der Erfolg
des Programms soll nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Abriss
von Wohnungsleerstand gefährdet werden.“ Damit haben wir einen klaren Arbeitsauftrag formuliert, den die
Koalitionsfraktionen und die Regierung sorgfältig,
überlegt und zielführend umsetzen.
Zugleich möchte ich auch noch mal deutlich die bisherigen Leistungen hervorheben. Denn im Rahmen des
Solidarpaktes I von 1993 - nach dem Altschuldengesetz
({1}) vom 23. Juli 1993 - wurden bereits 14 Milliarden
Euro an Teilentlastungen und 2,6 Milliarden Euro an
Zinshilfen gezahlt. Den Wohnungsgesellschaften und
Genossenschaften, deren Existenz infolge Leerstands
gefährdet ist - und dies ist ab einer Leerstandsquote von
15 Prozent der Fall -, erhalten zusätzlich eine Altschuldenentlastung nach der Härtefallregelung des Paragrafen 6 a AHG, soweit diese ihren Antrag bis zum
31. Dezember 2003 bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau eingereicht haben.
Mit dem seit 2002 laufenden Förderprogramm Stadtumbau Ost konnte ein Meilenstein für die Entwicklung
ostdeutscher Städte gesetzt werden. Das milliardenschwere Programm hat es ermöglicht, städtebauliche
Fehlentwicklungen zu korrigieren und Quartiere aufzuwerten. Das Programm geht auf eine Initiative der rotgrünen Bundesregierung im Jahre 2001 zurück und war
nach Vorlage des Berichts einer Expertenkommission
zum wohnungswirtschaftlichen Strukturwandel in den
neuen Ländern ergriffen worden. Neben der Stabilisierung von Stadtteilen sollten auch besonders wertvolle
innerstädtische Altbaubestände mit überdurchschnittlichen Leerständen gerettet werden. Von Anfang an waren
zwei Dinge in dem Programm klar: Abriss und Aufwertung sind zwei Seiten derselben Medaille. Es ging nicht
nur darum, überschüssigen Wohnraum zu entfernen,
sondern gleichzeitig Wohnbedingungen in Quartieren
durch Sanierungen zu verbessern. Und zweitens: Das
Programm war und ist ein „lernendes Programm“, das
sich ständig weiterentwickeln sollte. Es war damit im
Zusammenspiel von Bund, Ländern und Gemeinden bestens geeignet, Lösungen für die Probleme bei der Stadtentwicklung in den neuen Ländern umzusetzen.
Die Städte und die Wohnungsunternehmen in den
neuen Ländern standen nach der Wiedervereinigung vor
gewaltigen Herausforderungen. Durch Abwanderung
und Wegzug ins Städteumland war ein immer größer
werdender Wohnungsleerstand zu beklagen. Die wenigsten Wohnungen waren auf modernen Standard saniert.
Die Wohnungsunternehmen standen in den letzten zwei
Jahrzehnten also vor enormen Aufgaben. Sie hatten
noch eine weitere Last zu tragen: Altschulden. Im Zuge
der Herstellung der deutschen Einheit wurden die Altschulden aus dem DDR-Wohnungsbau auf die Wohnungsunternehmen übertragen und belasten sie bis
heute. Aufgrund der Qualität der Wohnungen und durch
hohe Leerstände konnten die Unternehmen nur wenig
Mieteinnahmen erzielen. Hinzu kam die gesetzliche Begrenzung von Mietsteigerungen im Interesse der Mieter.
Damit drückten die Altschulden besonders. Das Altschuldenhilfe-Gesetz ermöglichte den Abriss von Wohnungen bei gleichzeitiger Befreiung von Altschulden.
250 000 Wohnungen wurden auf diese Weise bis Ende
2009 zurückgebaut. Die Unternehmen wurden dadurch
in die Lage versetzt, in einem Milliardenumfang Modernisierungs- und Verbesserungsmaßnahmen für das
Wohnumfeld zu finanzieren.
Der Wohnungsleerstand konnte damit aber noch
nicht gänzlich beseitigt werden. Jetzt droht aufgrund der
demografischen Entwicklung eine zweite Leerstandswelle in den neuen Ländern. Zu der einen Million leerstehender Wohnungen könnten Schätzungen zufolge bis
2020 weitere 430 000 hinzukommen. Neue finanzielle
Belastungen drohen den ostdeutschen Wohnungsunternehmen: weitere Mietrückgänge und höhere Betriebskosten in der alten Gebäudesubstanz. Mit etwa
4 000 Euro Restschuld pro Wohnung stehen die ostdeutschen Wohnungsunternehmen noch in der Kreide. Sie
müssen davon dringend entlastet werden, um den Spielraum dafür zu gewinnen, weiter ihren Beitrag zu einer
Aufwertung der Quartiere leisten zu können. Viele nach
1990 instandgesetzte Wohnungen müssen bald wieder
saniert werden. Bei vielen Wohnungen ist dringend eine
energetische Sanierung notwendig. Leerstehende Wohnungen müssen zu einem großen Teil zurückgebaut, das
Wohnumfeld verbessert werden. Dafür brauchen die ostdeutschen Wohnungsunternehmen Luft, die sie durch
eine Entlastung bei den Altschulden erhalten können.
Bei der Evaluation des Programms Stadtumbau Ost
im vergangenen Jahr waren wir uns einig, dass dieses
Programm erfolgreich war und fortgesetzt werden muss.
Wir haben uns dazu mit einem Beschluss des Bundestages bekannt. Ein Teil des Beschlusses beinhaltete die
Prüfung, wie eine weitere Entlastung der Wohnungsunternehmen von Altschulden ausgestaltet werden
könnte. Hier setzt der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion an. Wir fordern eine abschließende Regelung der
Altschuldenproblematik, die es den Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern ermöglicht, durch Umbau
bzw. Abriss und Wohnumfeldmaßnahmen Quartiere zu
stabilisieren und aufzuwerten. Uns geht es darum, allen
Wohnungsunternehmen gleichermaßen die Chance für
Investitionen in Rückbaumaßnahmen, energetische Sanierung und altersgerechten Umbau zu geben. Die Altschulden müssen bedient werden. Sie dürfen aber nicht
Hindernis für die dringend erforderlichen Investitionen
sein. In diesem Sinne sollten wir gemeinsam den Antrag
beraten und danach beschließen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Beim Stadtumbau Ost soll die Aufwertung von Innenstädten und die Sanierung von Altbausubstanz
gestärkt und der Rückbau der technischen und sozialen Infrastruktur besser berücksichtigt werden.
Der Erfolg des Programms soll nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsunternehmen bei Abriss von Wohnungsleerstand gefährdet werden.
So steht es im Koalitionsvertrag, und genau so werden wir auch mit dieser Frage umgehen.
Das Altschuldenhilfe-Gesetz trat 1993 in Kraft. Die
ostdeutschen Wohnungsunternehmen wurden dadurch
etwa um die Hälfte ihrer noch aus DDR-Zeiten stammenden Altschulden entlastet. Ende 1993 betrugen die
Altschulden einschließlich aufgelaufener Zinsen circa
30 Milliarden Euro. Im Rahmen des Solidarpaketes I erhielten die ostdeutschen Wohnungsunternehmen eine
Teilentlastung von rund 14 Milliarden Euro zulasten des
Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe von Bund und
Ländern. Im Jahr 2001 wurde das Gesetz dahin gehend
ergänzt, dass Wohnungsunternehmen, deren Existenz infolge Leerstands ab 15 Prozent gefährdet ist, zusätzliche
Altschuldenentlastung nach der Härtefallregelung in
§ 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetz erhalten. Der entsprechende Antrag musste bis zum 31. Dezember 2003 bei
der KfW eingegangen sein. Es erfolgte somit eine Förderung des Abrisses, verbunden mit dem Erlass der Altschulden. Bei einem Abriss bis Ende 2013 wird durch die
KfW ein Tilgungszuschuss bis zu 77 Euro pro Quadratmeter gewährt.
Der Stadtumbau Ost unterstützt die Kommunen bei
der Bewältigung der städtebaulichen Folgen des demografischen und wirtschaftlichen Strukturwandels durch
Maßnahmen der städtebaulichen Aufwertung und des
städtebaulich bedingten Rückbaus von dauerhaft nicht
mehr benötigten Wohnungen. Es geht um eine nachhaltige Aufwertung und Stabilisierung von Stadtquartieren
mit dem Ziel, den Strukturwandel der ostdeutschen
Städte zu unterstützen und eine Konsolidierung des
Wohnungsmarktes zu bewirken.
Der Stadtumbau Ost ist eine Erfolgsgeschichte. Der
Schrumpfungsprozess der Städte geht meist einher mit
hoher Arbeitslosigkeit sowie geringer Steuereinnahmen
und Kaufkraft. Deshalb müssen im Mittelpunkt die
Quartieraufwertung, der bedarfsgerechte Umbau und
der Wohnungsrückbau stehen. Neben dem Abriss müssen wir uns auch um die Sanierung von historischen und
stadtbildprägenden Altbauten kümmern und so den Erhalt und die Sanierung historischer Quartiere weiter vorantreiben. Seit 2008 können Mittel der Altschuldenhilfe
in Einzelfällen statt zum Abriss auch zur Sanierung von
stadtbildprägenden Altbauten verwendet werden.
Wir stehen vor der Herausforderung, unsere Städte
und Gemeinden fit zu machen für die Zukunft. Als stadtentwicklungspolitische Sprecherin meiner Fraktion lege
ich großen Wert auf einen ganzheitlichen Ansatz und
nicht nur auf die Lösung von Detailproblemen einzelner
Stadtteile. Diesen ganzheitlichen Ansatz verfolgt auch
mein Zukunftsprojekt, die energetisch-dynamische
Stadtentwicklung, die bereits im FDP-Landeswahlprogramm NRW verankert ist.
Es ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer abschätzbar, inwieweit die Fortführung des Programms von einer Weiterführung der Altschuldenhilfe abhängt. Unbestritten
ist, dass es durch einen behutsamen Rückbau zu einer
Aufwertung der betroffenen Quartiere gekommen ist. Allein deshalb hat der Bund mit der Ersten Verordnung zur
Änderung der Altschuldenhilfeverordnung vom 14. November 2008 zum Beispiel die Abrissfrist von 2010 auf
2013 verlängert.
Wir erwarten, dass die Wohnungsunternehmer und
Kommunen über die integrierten Stadtentwicklungskonzepte und die Flexibilisierung der Stadtumbauprogramme eine noch engere Zusammenarbeit in Betracht
ziehen. Die Länder haben über die Verwaltungsvereinbarung 2010 sowie über die Bauministerkonferenz die
Möglichkeit, sich auszutauschen. Wir werden prüfen, ob
es bezüglich § 6 a des Altschuldenhilfe-Gesetzes eine
Anschlussregelung für die Härtefallregelung geben
wird. Die heutigen Anträge der SPD und der Linken lehnen wir deshalb ab.
Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der
Wohnungsunternehmen und Kommunen durch unsere
Städtebauförderprogramme und die KfW-Förderprogramme wesentlich verbessert. Das Evaluierungsgutachten zum Stadtumbau Ost aus 2008 hat gezeigt, dass
sich bei fast allen sogenannten §-6-a-Unternehmen die
wirtschaftliche Situation verbessert hat. Ob in Zukunft
weiter die Altschuldenhilfe notwendig ist, werden wir
eingehend prüfen. Dabei wird die Haushaltskonsolidierung nicht aus dem Blick verloren. Ab dem Jahr 2011
stehen wir vor einer finanzpolitischen Herausforderung,
für die es bislang in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik kein Beispiel gibt.
So oft, wie dieses Thema schon in diesem Haus zur
Debatte stand, sollten Sie alle hier eigentlich genug davon haben und endlich der längt überfälligen Streichung
der Altschulden ostdeutscher Wohnungsunternehmen
zustimmen. Dass Sie, meine Damen und Herren auf der
Regierungsbank, das ja eigentlich und unter bestimmten
Voraussetzungen vielleicht sogar wollen würden, haben
Sie doch im Koalitionsvertrag - wenn auch ein wenig
verschämt - zum Ausdruck gebracht. Frei nach Karl
Valentin: „Möchten hätten wir schon gewollt - aber
dürfen ham mer uns nicht getraut.“ Nur „eigentlich“
und „vielleicht“ reichen - wie so oft - auch dieses Mal
nicht. Geben Sie sich endlich einen Ruck! Handeln Sie
jetzt, und tun Sie es gründlich! Aussitzen lässt sich dieses Problem ohnehin nicht, und je länger Sie warten,
umso dramatischer und kostspieliger wird die Lage vieler ostdeutscher Wohnungsunternehmen am Ende für
uns alle. Ich werde, da können Sie sicher sein, in dieser
Angelegenheit hartnäckig bleiben, bis Sie Ihre eigenen
Ankündigungen ernst nehmen.
Altschulden nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz waren
von Anfang an ein willkürliches politisches Konstrukt
und bleiben eine schreiende Ungerechtigkeit. Fernab
Zu Protokoll gegebene Reden
von jeder wirtschaftlichen Verantwortung der Wohnungsunternehmen für die Staatsschulden der DDR und
um einen unliebsamen Mitbewerber in der Wohnungsund Immobilienbranche dauerhaft zu schwächen, sind
denen in einem historisch wohl einmaligen politischen
Willkürakt Milliardenlasten aufgebürdet worden, wegen
der sie sich bis heute nicht zu der treibenden Kraft beim
Stadtumbau Ost entwickeln konnten, die sie eigentlich
sein müssten. Diese Ungerechtigkeit und wirtschaftspolitische Unvernunft werden nicht gerechter oder vernünftiger, wenn Sie sie bis zum bitteren Schluss durchhalten wollen und in der Konsequenz schließlich uns
allen damit schaden.
Wir stehen mit unserer Forderung nach Altschuldenentlastung ja auch längst nicht allein. Auch der GdW,
der Bundesverband der deutschen Wohnungs- und Immobilienunternehmen, hat jüngst - zum wiederholten
Mal - gemeinsam mit ostdeutschen Mitgliederverbänden in seiner Leipziger Erklärung gefordert: „Wir
brauchen eine Lösung der Altschuldenfrage, um das erfolgreiche Fortschreiten des dringend notwendigen
Stadtumbaus in Ostdeutschland und damit die weitere
positive Entwicklung der ostdeutschen Städte nicht zu
gefährden.“ Es geht bei der Entscheidung „Altschulden
streichen oder nicht“ längst nicht mehr nur um die Existenz und wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Wohnungsunternehmen, sondern, auch das hat der GdW richtig erkannt, um die Zukunftsfähigkeit der ostdeutschen Städte.
Deshalb wollen wir ja auch gar nicht, dass die noch mit
Schulden belasteten Unternehmen den Erlass zum Nulltarif bekommen. Wir wollen, dass die Wohnungsunternehmen, statt noch weitere 25 bis 30 Jahre Kapitaldienst
an die Banken zu leisten, die frei werdenden Mittel in die
Kofinanzierung der Gebäudesanierungs- und Stadtumbauprogramme stecken, die Sie hier gerade vor wenigen
Tagen mit dem Haushalt 2010 beschlossen haben. Dazu
benötigen sie Eigenkapital, das diese Unternehmen
nicht in ausreichendem Maße haben, weil Sie es ihnen
vorenthalten.
Wir wollen die entlasteten Unternehmen verpflichten,
frei gewordene Mittel in die Umsetzung des CO2-Gebäudesanierungsprogrammes zu leiten und dabei die Kaltmiete für einige Jahre stabil zu halten, damit Segregation und Entmischung des sozialen Gefüges ganzer
Stadtteile entgegengewirkt werden kann. Das wäre ökologisch und sozial. Wir wollen die Unternehmen in die
Lage versetzen - und zwar auch das verbindlich -, Mittel aus den Programmen zum Stadtumbau in Anspruch
zu nehmen und in den Beginn von Stadtumbau hin zur
„Sozialen Stadt“ zu investieren. Das wäre konjunkturbelebend und politisch verantwortlich.
Es geht nämlich schon lange nicht mehr nur darum,
rückwärtsgewandt Fehler zu korrigieren und Schaden
zu begrenzen, sondern es geht trotz des dramatischen
Wohnungsleerstandes in einigen Regionen Ostdeutschlands darum, dem drohenden strukturellen Wohnungsmangel, der auf wachsende Städte zukommt, rechtzeitig
und programmatisch entgegenzuwirken. Der Altschuldenerlass für die ostdeutschen Wohnungsunternehmen
- das ist uns selbstverständlich bewusst - ist nicht der
Zauberschlüssel zur Lösung aller wohnungspolitischen
Probleme. Aber er würde wirken wie der Einstieg in ein
neues Konjunkturpaket und könnte signalisieren, dass
auch die Bundesregierung allmählich eine Ahnung davon bekommt, was uns auf dem Gebiet von Wohnungsund Städtebau in den nächsten Jahrzehnten bevorsteht.
Nur so können wir unsere stärksten Partner im Stadtumbau erhalten.
Zum wiederholten Male wird die Problematik der Altschulden der ostdeutschen Wohnungsunternehmen in
diesem Hause debattiert. Ich bin auch durchaus der
Meinung, dass die Altschuldenproblematik einen Konstruktionsfehler der deutschen Einheit darstellt, der die
ostdeutsche Wohnungswirtschaft nachhaltig belastet.
Deswegen haben Bündnis 90/Die Grünen sich in der
Kleinen Anfrage „Fortführung und inhaltliche Ausrichtung des Programms Stadtumbau Ost“, Drucksache
17/974, auch nach verlässlichen Zahlen zur Problematik
erkundigen wollen, um überhaupt einmal die Dimension
des Problems realistisch einschätzen zu können. Wir
mussten feststellen, dass der Bundesregierung auf die
Frage der Höhe der Altschulden der kommunalen und
genossenschaftlichen Unternehmen anscheinend keine
Informationen vorliegen. Auf unsere Frage, ob denn
weitere Entlastungen für die Wohnungsunternehmen
oder ein Erlass der Altschulden geplant seien, wurde etwas wortkarg geantwortet: „Dies wird zur Zeit geprüft.
An einen Erlass der Altschulden ist nicht gedacht.“ Meinen Sie nicht, dass es an der Zeit ist, diese Informationen
einzuholen und an die Bundestagsfraktionen weiterzugeben? Der aktuelle Kenntnisstand des Ministeriums
dient jedenfalls nicht einer lösungsorientierten Debatte.
Wir benötigen verlässliche Zahlen als Grundlage für
die politische Diskussion. Diese bekommen wir auch
beim Antrag der Linken übrigens nicht dargestellt. Sie
übernehmen ohne weiteres Hinterfragen des GdW-Bundesverbands die Angabe 4 000 Euro durchschnittliche
Belastung pro Wohnung zur Beschreibung des Problems,
schweigen sich aber über die Anzahl der belasteten
Wohnungen aus, sodass wir wiederum keine Erkenntnis
zur finanziellen Dimension des Themas erhalten. Woher
nimmt die Linke die Erkenntnis, dass „ohne Altschuldenentlastung sich Wohnungsunternehmen nicht oder
nur in Ausnahmefällen am Stadtumbau beteiligen können“?
Sie wissen, dass es diese Entlastung durch die Altschuldenhilfe bereits gibt. Sie wissen auch, dass sehr
viele Unternehmen die Unterstützungen wahrnehmen.
Laut der Beantwortung unserer Anfrage sollen 78 Prozent der abgerissenen Wohnungen dank der Altschuldenhilfe abgerissen worden sein. Bis 2013 stehen laut
Ministerium noch 230 Millionen Altschuldenhilfemittel
zur Verfügung. Die Frage ist gegenwärtig, ob diese Mittel für den bevorstehenden Stadtumbau ausreichen werden oder nicht? Laut unserer Anfrage „wird dies zurzeit
geprüft“. Wir sind gespannt auf die Antwort und die
Zeit, die das Ministerium für diese Antwort benötigt.
Ich sage Ihnen schon einmal: Wir von Bündnis 90/Die
Grünen sind auch nicht zufrieden mit dem AltschuldenZu Protokoll gegebene Reden
hilfe-Gesetz. Wir fördern Abriss mit Finanzhilfen, die eigentlich für den Aufbau Ost vorgesehen sind. Die Altschuldenhilfe wird aus dem Korb II des Solidarpakts II
finanziert. Diese Mittel sind absehbar endlich. Und ein
Behelf ist keine nachhaltige Lösung. Sollte eine Neuauflage der Altschuldenhilfemittel notwendig werden, dann
muss über eine ganzheitliche, nachhaltige Lösung der
Altschuldenfrage nachgedacht werden. Dafür fordern
wir von der Bundesregierung verlässliche Zahlen. Ansonsten führen wir noch 2020 Debatten über Altschulden, die ans Fischen im Trüben erinnern.
Nach dem Koalitionsvertrag soll der Erfolg des Programms Stadtumbau Ost nicht durch ungelöste Altschuldenprobleme einzelner Wohnungsunternehmen beim Abriss von Wohnungsleerstand gefährdet werden. Dies
bedeutet, wir werden genau prüfen, ob eine Anschlussregelung für die Härtefallregelung nach § 6 a Altschuldenhilfe-Gesetz - Kosten von circa 800 Millionen Euro bis
2016 - notwendig ist, damit sich die Wohnungsunternehmen weiter am Abrissteil des Programms Stadtumbau
Ost beteiligen können. Die Altschuldenregelung ist kein
wohnungswirtschaftliches, sondern vielmehr ein städtebauliches Instrument. Eine vollständige Altschuldenentlastung aller von Altschulden betroffenen Wohnungsunternehmen unabhängig von der Leerstandsquote wie im
Antrag der Linken gefordert lehnen wir ab. Dies ist angesichts der Kostenbelastung von mehreren Milliarden
Euro völlig illusorisch und wäre auch sachlich nicht zu
rechtfertigen.
Im Einzelnen: Altschulden sind aus der Zeit der DDR
übernommene Wohnungsbaudarlehen. Die Finanzierung des Wohnungsneubaus erfolgte aus dem Staatshaushalt sowie aus Krediten, die aus den Spareinlagen
der Bürger der DDR bei den Sparkassen refinanziert
wurden. Vor der Währungsumstellung hatte die Staatsbank der DDR rund 75 Milliarden Mark offene Forderungen für Wohnungsbaukredite. Diese wurden wie alle
Schulden im Verhältnis 2:1 umgestellt. Die Deutsche
Kreditbank AG - DKB - sowie die Berliner Stadtbank
AG - BSB - hatten diese Schulden übernommen. Nach
Art. 22 Abs. 4 des Einigungsvertrages wurden die Kommunen oder die Wohnungsgenossenschaften Schuldner
der Baukredite. Wohnungen und Schulden wurden in der
Regel von den Kommunen auf neu gegründete kommunale Wohnungsunternehmen übertragen. Die Wohnungen der Wohnungsgenossenschaften sind einschließlich
der Verbindlichkeiten in deren Eigentum verblieben.
Die Altschulden betrugen am 31.Dezember 1993 einschließlich aufgelaufener Zinsen circa 30 Milliarden
Euro. Die ostdeutschen Wohnungsunternehmen erhielten im Rahmen des Solidarpaktes I von 1993 bisher nach
Altschuldenhilfe-Gesetz - AHG - vom 23. Juli 1993 eine
hälftige Teilentlastung in Höhe von 14 Milliarden Euro
zulasten des Bundes und 2,6 Milliarden Euro Zinshilfe
zulasten von Bund und Ländern. Diese Teilentlastung
senkte die Altschulden auf durchschnittlich 77 Euro pro
Quadratmeter Wohnfläche. Über die bei den Wohnungsunternehmen verbliebenen Altverbindlichkeiten haben
diese neue Kreditverträge mit Banken ihrer Wahl geschlossen. Darüber hinaus erhalten die Wohnungsunternehmen, deren Existenz infolge Leerstands ab 15 Prozent
gefährdet ist, seit 2001 zusätzliche Altschuldenentlastung nach Härtefallregelung § 6 a Altschuldenhilfe-Gesetz, soweit ihr Antrag bis zum 31. Dezember 2003 bei
der KfW eingegangen ist. Bei Abriss der entsprechenden
Wohnfläche bis spätestens Ende 2013 wird den Unternehmen durch die KfW ein Tilgungszuschuss bis zu
77 Euro pro Quadratmeter gewährt. Rechtsgrundlage ist
die Altschuldenhilfeverordnung - AHGV - vom 15. Dezember 2000, die auf der Ermächtigungsgrundlage des
§ 6 a AHG beruht. Die Härtefallregelung ergänzt die
umfassende Altschuldenentlastung für ostdeutsche Wohnungsunternehmen von 1993.
Mit einem Entschuldungsvolumen von insgesamt
1,1 Milliarden Euro wird so der Abriss von circa
280 000 Wohnungen bis 2013 gefördert - zusätzlich zu
den Abrisshilfen des Programms Stadtumbau Ost. Bisher wurden davon 80 Prozent - 885 Millionen Euro ausgezahlt. Die tatsächlich erfolgten Abrisse blieben
2007 und 2008 hinter den ursprünglichen Abrissplänen
der Unternehmen zurück - 50,7 Millionen Euro Ausgabereste.
Mit der Ersten Verordnung zur Änderung der AHGV
vom 14. November 2008, die unter anderem die Abrissfrist von 2010 auf 2013 verlängert, hat der Bund auf zunehmende Probleme der Wohnungswirtschaft beim Freiziehen für den Abriss vorgesehener Gebäude reagiert.
Der Leerstand betrifft häufig nur noch Gebäudeteile, sodass die Wohnungsunternehmen in langwierigen Verfahren vor Abriss Gebäude freiziehen oder die weitere
Leerstandsentwicklung abwarten müssen. Im Übrigen
können mit dem 2008 eingeführten Haushaltsvermerk
Mittel der Altschuldenhilfe statt zum Abriss auch zur Sanierung von stadtbildprägenden Altbauten verwendet
werden. Diese Regelung dient zusammen mit den Sicherungs- und Aufwertungsmaßnahmen des Programms
Stadtumbau Ost dem Erhalt von Altbauten.
Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Situation der
Wohnungsunternehmen durch die Städtebauförderungen
- unter anderem Abrisspauschale und Aufwertungsmittel im Programm Stadtumbau Ost - sowie durch die Altschuldenhilfe, aber auch durch die sehr günstige Zinsentwicklung wesentlich gebessert. Entsprechend dem
Gutachten zur Evaluierung des Programms Stadtumbau
Ost in 2008 ist bei fast allen sogenannten §-6-a-Unternehmen eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situation zu verzeichnen. Nach Erhebungen des GdW hat sich
die Leerstandsquote von 16,2 Prozent 2002 auf circa
10 Prozent Ende 2009 reduziert. Außerdem sind eine
Steigerung der Gesamt- und Eigenmittelrentabilität sowie ein besseres Rating bei den Gläubigerbanken zu verzeichnen. Wohnungsunternehmen zahlen inzwischen
zum Teil Dividenden an ihre Kommunen.
Inwieweit der Erfolg des Programms Stadtumbau
Ost, zu dem auch der bedarfsgerechte Abriss von leerstehenden Wohnungen gehört, der von der Programmevaluierung mit 200 000 bis 250 000 Wohnungen bis
2016 ermittelt wurde, tatsächlich von der Weiterführung
Zu Protokoll gegebene Reden
der Altschuldenhilfe abhängt, ist vor diesem Hintergrund schwer abschätzbar. Einerseits erfolgten knapp
80 Prozent der bisherigen Abrisse durch Wohnungsunternehmen mit Altschuldenentlastung. Andererseits haben die Unternehmen durch die grundsätzlich kostendeckenden Abrisshilfen des Stadtumbaus, auch ohne
Altschuldenhilfe, starke Anreize zum Abriss, um ihre
Leerstandskosten weiter zu reduzieren. Ob und inwieweit zusätzlich dabei die Altschuldenhilfe notwendig ist,
bedarf der eingehenden Prüfung. Dabei sind die schwierige Situation des Bundeshaushalts und die verfassungsrechtlichen Konsolidierungsvorgaben zu berücksichtigen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1148 und 17/1154 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 7:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
({1}), Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen - Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
- Drucksachen 17/792, 17/1208 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Stier
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Undine Kurth ({2})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. - Damit sind Sie einverstanden. Es
sind folgende Kolleginnen und Kollegen: Dieter Stier,
Heinz Paula, Dr. Christel Happach-Kasan, Alexander
Süßmair und Undine Kurth.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1208, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/792 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit an-
genommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-
Fraktion.
1) Anlage 13
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kooperationsverbot in der Bildung unverzüglich aufheben
- Drucksache 17/785 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sollen die
Reden auch hier zu Protokoll genommen werden. Es
handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Tankred Schipanski, Marianne Schieder, Swen Schulz,
Patrick Meinhardt, Dr. Rosemarie Hein und Priska Hinz.
„Rütteln am Grundgesetz“, so die „Süddeutsche Zeitung“ am 1. März 2010, „Schavan für Bund-LänderBund“, so die „FAZ“ am 17. März 2010, „Bildung
macht immer Ärger“, so die „Zeit“ vom 10. Dezember
2009. Die Berichterstattungen befassen sich alle mit Äußerungen unserer Bundesministerin Schavan, die zu einem Nachdenken über das sogenannte grundgesetzlich
verankerte Kooperationsverbot anregen sollen. Unsere
Ministerin gibt Denkimpulse und hinterfragt die gegenwärtige strikte Aufgabentrennung im Bildungsbereich
von Bund und Ländern in einem Bundesstaat. Das ist legitim und richtig. Im Unterschied zur Opposition fordert
die Ministerin aber nicht die sofortige Neuordnung der
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungsbereich. Vielmehr hat die Ministerin klargestellt:
Föderalismus beinhaltet eine klare Verteilung von Aufgaben und Verantwortung. An dieser für moderne föderale Systeme kennzeichnenden klaren Verteilung sollten
wir festhalten. Ich verweise auf die Rede von Bundesministerin Schavan vor dem Deutschen Bundestag am
18. März 2010. Diese Einschätzung teilt auch die christlich-liberale Koalition.
Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bildungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und
Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Bei einer
Partnerschaft braucht es keine verfassungsrechtliche
Diskussion über sogenannte Kooperationsverbote. In einem föderativ gestalteten Staat wie der Bundesrepublik
Deutschland stehen die Aufgabenbereiche von Bund und
Ländern grundsätzlich nebeneinander. Das Grundgesetz
geht daher in Art. 30 in Verbindung mit Art. 83 sowie
Art. 104 a Abs. 1 grundsätzlich von einer strikten Aufgaben- und Ausgabentrennung zwischen Bund und Ländern und einem Verbot der Mischverwaltung und -finanzierung aus. Diese verfassungsrechtliche Trennung der
Zuständigkeiten ist also staatsstrukturell bedingt und für
einen Bundesstaat elementar.
Von dem Grundsatz der Aufgabentrennung gibt es
Ausnahmen, die ausdrücklich im Grundgesetz geregelt
sind. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die Gemeinschaftsaufgaben, Art. 91 a bis d GG. Auch für den
Bildungs- und Forschungsbereich verlangt das GG Zusammenarbeit und somit Kooperation, wie Art. 91 b
Abs. 1 GG ausdrücklich kodifiziert. Nach Art. 91 b
Abs. 1 Nr. 1 GG können Bund und Länder bei der Förderung von Einrichtungen und Vorhaben der wissenschaftlichen Forschung außerhalb von Hochschulen zusammenwirken. Beispielhaft dafür steht der Pakt für
Forschung und Innovation. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 2 GG ist
die Grundlage für den Hochschulpakt 2020 sowie für
die Exzellenzinitiative. Art. 91 b Abs. 1 Nr. 3 GG besagt,
dass Bund und Länder bei Forschungsbauten an Hochschulen, einschließlich Großgeräten, zusammenwirken
können. Die Ausgestaltung des Art. 91 b Abs. 2 GG zeigt,
dass der Bund eine begrenzte Rolle im Bildungsbereich
hat. Hier wünscht sich unsere Ministerin die Möglichkeit
eines stärkeren Engagements. Art. 104 b GG enthält und
enthielt auch vor den Föderalismusreformen keine generelle Befugnis zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bildungs- und Forschungsbereich. Der Bund
scheint danach nicht befugt zu sein, über Investitionshilfen hinaus inhaltlich Einfluss auf die Bildungspolitik der
Länder zu nehmen.
Wir dürfen aber eines nicht vergessen: Die klare Aufgabenzuweisung im Bundesstaat ist eingebettet in unsere
Verfassung. Unsere Verfassung ist gekennzeichnet von
verschiedenen Verfassungsprinzipien. So ist im BundLänder-Verhältnis der Grundsatz des bundesfreundlichen
Verhaltens, die sogenannte Bundestreue, elementar. Dieses Prinzip ist - als ungeschriebene Generalklausel als staatsrechtliche Ausprägung des Grundsatzes von
Treu und Glauben zu verstehen. Es verpflichtet den Bund
und die Länder, „bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das
Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange
der Länder zu nehmen“ ({0}).
Zwar eröffnet die Bundestreue keine gesetzgeberische
Kompetenz des Bundes. Dennoch lässt er sich meines
Erachtens im Zusammenhang mit der Kritik am sogenannten Kooperationsverbot ins Feld führen: Soweit die
Kritiker befürchten, dass ein Kooperationsverbot zu weit
auseinanderklaffenden Differenzen in der Bildungslandschaft führt, dürfte dem die Bundestreue entgegenstehen. Sie wirkt nämlich als Verpflichtung zur Zusammenarbeit, Abstimmung, Koordination, gegenseitigen
Information und Rücksichtnahme, die insbesondere bei
Ausübung an sich gegebener Kompetenzen zu beachten
ist. Im Einzelfall kann sie dabei als Kompetenzschranke
wirken. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Bundestreue verlangt von den Ländern eine Gesamtverantwortung für Deutschland. Dies gilt auch für den Bereich
der Bildung. Das heißt: Bei der Herstellung von Bildungsgerechtigkeit müssen die Länder eine gesamtstaatliche Verantwortung wahrnehmen.
Aktuell betrachtet bedeutet dies: Der Bund hat durch
die Bundesregierung der christlich-liberalen Koalition
umfangreiche Finanzmittel für unsere Bildungsrepublik
Deutschland zur Verfügung gestellt bzw. zugesichert.
Wir brauchen klare rechtliche Grundlagen, damit wir
diese Gelder sinnvoll in unserer Bildungsrepublik einsetzen können. Ziel der christlich-liberalen Koalition ist
es, Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Allen Kindern und
Jugendlichen in unserem Lande soll - unabhängig von
ihrer sozialen Herkunft - der Zugang zu einer qualitativ
hochwertigen Bildung offen stehen. Zudem geht es uns
darum, Deutschland zu einem attraktiven und international wettbewerbsfähigen Wissenschafts- und Forschungsstandort weiterzuentwickeln. Diese Ziele haben
für uns absolute Priorität.
Das von ihnen vorgetragene sogenannte Kooperationsverbot gibt es in dieser Form nicht; Kooperationen
sind nicht per se verboten. Eine gesamtstaatliche Verantwortung lässt sich nicht verbieten. Gute Bildung ist
in Deutschland nicht verboten. In den Bereichen, in denen eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern
nicht ausdrücklich kodifiziert ist, haben wir den Grundsatz der Bundestreue zu beachten, der ein Zusammenwirken von Bund und Ländern erfordern kann. Wir sind
dabei, unsere Erfahrungen der Föderalismusreform I
zusammenzutragen. Unsere Ministerin hat mit Blick auf
Art. 91 b Abs. 2 GG ihre Erfahrungen in die Diskussion
eingebracht. Die Bundesländer werden nunmehr ihre
Erfahrungen kommunizieren. Wir Parlamentarier werden eine Gesamtbetrachtung der Ergebnisse vornehmen
und die unterschiedlichen Interessen abwägen. Erst
dann kann sich ein Parlamentarier eine abschließende
Meinung bilden, allen voran in einem so sensiblen Bereich wie einer Grundgesetzänderung. Unser Meinungsbildungsprozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich darf
Ihnen jedoch bereits jetzt versichern, dass im Zentrum
unseres Meinungsbildungsprozesses die Frage stehen
wird, wie wir als Bund mit den Ländern und Kommunen
zusammenwirken können, um unseren Kindern und
Jugendlichen die bestmöglichen Bildungschancen zu eröffnen und den Wissenschaftsstandort Deutschland voranzubringen. Dabei werden wir auch überlegen, in welcher Form wir die Zusammenarbeit weiterentwickeln
können.
Bildung ist ein wichtiges Gut, insbesondere für
Deutschland als innovatives Land der Dichter und Denker. Wir tun gut daran, unser Bildungssystem ständig
weiterzuentwickeln, zu optimieren und allen Menschen
unserer Gesellschaft einen gerechten Zugang zu ermöglichen. Kontraproduktiv wäre es, die Sorge um das Bildungswesen dem Diskurs um Kompetenzen zu unterwerfen.
In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den
letzten 60 Jahren der Bildungsföderalismus grundsätzlich bewährt. Daher macht es auch Sinn, an ihm festzuhalten. Die aktuellen Herausforderungen im Bildungswesen haben jedoch gezeigt, dass die Absolutheit, mit
der der Bildungsföderalismus derzeit zementiert und von
den Bundesländern verteidigt wird, infrage zu stellen ist.
Daher macht es Sinn, das im Grundgesetz festgeschriebene Kooperationsverbot zu überarbeiten. In diesem
Punkt gehe ich mit dem Antrag der Fraktion Die Linke
noch d’accord. Schwierig wird es allerdings mit dem
Wie. In erster Linie soll der Bund zum Finanzhilfengeber
für die Länder im Bereich Bildung mutieren. Und das ist
mir zu wenig, wenn es darum gehen soll, unser Bildungswesen für den internationalen Vergleich fit zu maZu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({0})
chen und vor allem für mehr Bildungsgerechtigkeit zu
sorgen.
Wir brauchen eine enge Kooperation in verschiedensten Bereichen des Bildungswesens, wenn wir weiterkommen wollen. Wir brauchen eine Kooperation zwischen
Bund und Ländern. Wir brauchen eine Kooperation unter den Bundesländern. Derzeit haben wir leider die Situation, dass mit jeder Kultusministerkonferenz in
Deutschland neue Unterschiede zwischen den Bundesländern entstehen. Da muss sich etwas ändern. Hier
sind der Bund und insbesondere das Bundesbildungsministerium gefordert, moderierend einzugreifen und
sich darum zu kümmern, die Legitimation dafür zu haben. Bisher haben wir leider nur leere Ankündigungsreden von Frau Ministerin Schavan, dass sich hier etwas
ändern müsse.
Ich fordere die schwarz-gelbe Regierung auf, die
noch vorhandenen Mehrheiten zu nutzen und den Worten
endlich Taten folgen zu lassen, um eine effektive Kooperation zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen zu
ermöglichen. Zusammenarbeit beinhaltet auch, aufeinander zu hören, miteinander zu reden und im Dialog
Vereinbarungen zu treffen. Dies, meine Damen und Herren von der Linken, vermisse ich in Ihrem Antrag, wenn
es hier heißt, dass: „der Bund die Kompetenz erhält, in
allen Bereichen der Bildung bei Aufgaben von überregionaler Bedeutung, insbesondere durch die Gewährung
von Finanzhilfen, beim Ausbau des Bildungssystems
mitzuwirken“. Wenn das Kooperationsverbot im Bildungswesen fällt, dürfen wir nicht neue Problemstellungen schaffen, indem wir den Bund entweder zur Finanzmelkkuh verkommen lassen oder den Bund auf Bereiche
mit sogenannter überregionaler Bedeutung begrenzen.
Qualifizierte Bildungspolitik für die Herausforderungen
von morgen braucht mehr. Genauso fatal wäre es, dem
Bund einseitig die Kompetenz zu geben, ohne Rückkopplung mit den Ländern in die Bildungspolitik hineinagieren zu können.
Ich halte daher fest, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Linken: Im Grunde ist ihr Anliegen unterstützenswert, doch in der Ausgestaltung bleiben viele Fragen offen, und es droht eine Engführung, die neue Probleme
provoziert. Die letzten Jahre haben zur Genüge gezeigt,
dass blinder Aktionismus in der Bildungspolitik überhaupt nicht hilft. Bleibt zu hoffen, dass wir in diesem
Hohen Haus baldmöglichst über einen konkreten und
ausgereiften Gesetzentwurf zur Frage des Kooperationsverbotes im Bildungswesens abstimmen können
und uns nicht weiter an Willenserklärungen abarbeiten
müssen. Abschließend kann ich für meine Fraktion sagen, dass wir daran arbeiten, diesem Anspruch gerecht
zu werden.
Der Radikalföderalismus in der Bildungspolitik hat
sich überlebt. Leider haben das aber noch nicht alle erkannt. Dabei liegt auf der Hand, dass die Herausforderungen im Bildungswesen, die Notwendigkeiten zu Verbesserungen zur Erreichung optimaler Bildung für alle
- egal welcher Herkunft sie sind und welchen familiären
Hintergrund sie haben - eine Zusammenarbeit aller
Ebenen nötig machen. Die Ergebnisse des Bildungsföderalismus sind ausweislich der PISA-Studien und anderer
wissenschaftlicher Erhebungen auch nicht so ermutigend, dass alle anderen Nationen mit Neid auf unseren
schönen Föderalismus schauen. Das hat inzwischen sogar Bundesministerin Schavan erkannt. Dabei hatte sie
sich als Bildungsministerin Baden-Württembergs noch
ganz anders geäußert. Inzwischen freuen wir uns aber
über ihren Erkenntnisgewinn. Sie möchte den Bund als
Akteur auch in der Schulpolitik sehen, um etwa Grundschulen in sozialen Brennpunkten unterstützen zu können. Darüber kann man im Einzelnen reden - wenn es
denn eine Grundgesetzänderung gäbe und das sogenannte Kooperationsverbot abgeschafft würde. Leider
vermissen wir bis heute bei allen schönen Reden und
Wolkenschiebereien der Frau Schavan eine konkrete,
handfeste Initiative zur Grundgesetzänderung.
Die kommt nun von der Fraktion Die Linke, aber leider nur halbherzig. Der Bund soll bei Aufgaben von
überregionaler Bedeutung beim Ausbau des Bildungssystems mitwirken, insbesondere durch die Gewährung
von Finanzhilfen. Was ist von überregionaler Bedeutung
und was nicht? Ist die Einrichtung von Ganztagsschulen
von überregionaler oder regionaler Bedeutung? Und die
Hilfe für besonders belastete Schulen? Und warum nur
Finanzhilfen? Warum soll der Bund nicht auch pädagogisches Personal stellen können? Nein, die optimale Lösung liegt doch wohl eher in der Schaffung einer echten
Kooperationsmöglichkeit von Bund und Ländern für die
Bildung ohne einschränkende Bedingungen, die dann
sowieso nur juristischen Streit provozieren.
Ich habe, wie in der Haushaltsdebatte bereits angekündigt, Bundesministerin Schavan in einem Brief angeboten, dass wir eine gemeinsame, überparteiliche Initiative zur Grundgesetzänderung ergreifen. Man darf
gespannt sein auf die Antwort. Natürlich gibt es viele
Widerstände gegen eine Grundgesetzänderung. Das hat
mit Eitelkeiten einiger Akteure zu tun, die schlicht nicht
zugeben möchten, dass die Föderalismusreform ein Fehler war, und mit Verlustängsten: Die Bundesländer sehen den wichtigsten Kern ihrer Kompetenz - und damit
ihrer Existenzberechtigung - bedroht. Doch das sind
Debatten, über die wir alle nur den Kopf schütteln werden, wenn sie einmal überwunden sind. Denn erstens
wollen wir den Ländern doch nichts wegnehmen, sondern nur bei der Bewältigung von Problemen zusammenarbeiten. Und zweitens: Kann sich heute noch jemand vorstellen, dass bei der Föderalismusreform auch
jede Zusammenarbeit von Bund und Ländern in der
Hochschulpolitik grundgesetzlich verboten werden
sollte? Es war die SPD-Bundestagsfraktion, die mit der
Androhung der Ablehnung der gesamten Reform eine
Öffnung des Grundgesetzes zur Kooperation in der Wissenschaft erzwungen hat. Und dann gab es in Windeseile
große und erfolgreiche Kooperationen von Bund und
Ländern für die Hochschule, etwa den Hochschulpakt.
Man stelle sich nur für einen Moment vor, jemand wollte
jetzt das Grundgesetz ändern und diese Kooperation
verbieten wollen. Er würde ausgelacht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
So, genau so wird es auch beim Thema Schule gehen.
Wir müssen nur endlich einmal durchsetzen, dass die lebende Leiche Radikalföderalismus auch endlich beerdigt wird.
Der hier vorliegende Antrag der Linken zeigt ganz
klar, dass es hier nicht um eine seriöse bildungspolitische Diskussion geht, sondern ausschließlich um ideologische Vorurteile. Die Linke zeigt wieder einmal, dass
sie ein grundsätzliches Problem mit der föderalistischen
Ordnung des Grundgesetzes hat.
Sie verstehen das Prinzip des Föderalismus nicht und
deshalb haben sie ein Problem damit. Wie in vielen Bereichen hat sich die Linke auch in dieser Frage bis heute
nicht von ihrer Vergangenheit lösen können. Sie streben
weiterhin ein zentralistisches Einheitssystem an, eine
zentralistische Bildung möglichst einheitlich an jedem
Ort dieser Bundesrepublik. Wir Liberale setzen dagegen
auf einen bürgernahen Staat, auf Selbstverantwortung
vor Ort und Entscheidungsfreiheit der Betroffenen.
Über 1 Billion Euro hat die öffentliche Hand in dreißig Jahren für Bildung ausgegeben. Und mit welchem
Ergebnis? Die PISA-Studie und andere Studien haben
uns nicht das beste Zeugnis ausgestellt. Und nur um eines klarzustellen: Wir reden dabei über die Zeit vor der
Föderalismusreform. Wir reden über die Zeit, als die
Kooperation zwischen Bund und Ländern bestand und
nicht gegriffen hat. Hören Sie also auf, das unsinnige
Märchen zu verbreiten, ohne das Kooperationsverbot
hätten wir ein besseres Bildungssystem in Deutschland.
Hören Sie auf, den Eindruck zu erwecken, dass man nur
mehr Geld für Bildung ausgeben muss und so alle Probleme lösen könnte. Und hören Sie auf, die föderalen
Strukturen für Probleme verantwortlich zu machen, die
durch diese föderale Ordnung überhaupt erst zu Tage
treten. Die Bundesländer, die sich modernen Konzepten
in der Bildungs- und Hochschulpolitik geöffnet haben,
haben in allen Vergleichsstudien gut oder sehr gut abgeschnitten. Die Landesregierungen, die an ihren ideologischen Vorstellungen festgehalten haben, wurden mit den
entsprechenden Ergebnissen abgestraft.
Und schließlich muss man sich auch noch die Frage
stellen, welche angeblichen Reformen Sie denn durch
bundeseinheitliche Maßnahmen fördern möchten. Etwa
die staatliche Monopolisierung von Bildung, wie sie in
Mecklenburg-Vorpommern oder Bremen betrieben
wird? Oder doch lieber das Tombolasystem ihrer rotroten Parteifreunde in Berlin, wo die Chancen auf einen
Platz an einem Gymnasium und damit die Zukunftschancen eines Kindes vom Losglück abhängen, und zwar nur
deshalb, weil Sie ideologische Probleme mit dieser
Schulform haben. Nein, meine Damen und Herren, diese
Ostalgie in der Bildungspolitik machen wir nicht mit. Sie
setzen auf jene Konzepte, mit denen Sie schon in der Vergangenheit gescheitert sind. Wir wollen moderne Ideen
und Kreativität fördern. Deshalb hat sich die Koalition
der Mitte auch klar für eine Bildungspartnerschaft von
Bund, Ländern und Kommunen unter Wahrung der jeweiligen staatlichen Zuständigkeit ausgesprochen.
Wir glauben an das Prinzip der Subsidiarität auch in
der Bildungspolitik, und zwar nicht deshalb, weil wir es
vor Jahrzehnten einmal beschlossen haben - das wäre
der Weg, den Sie mit Ihrer Zentralismusgläubigkeit gehen. Wir halten am Prinzip der Subsidiarität deshalb
fest, weil es sich als der richtige Weg erweist, als der
richtige Weg gegen Bürokratie, gegen Innovationsfeindlichkeit und für eine moderne Bildungspolitik, die nahe
bei den Menschen ist. Der Wettbewerb um die beste Bildung ist auch ein Wettbewerb der Länder um die beste
Bildungspolitik.
Wir haben hier also einen Antrag vorliegen, der ganz
klar an der Sache vorbeigeht. Wir brauchen keine endlosen Debatten über Zuständigkeiten. Wir brauchen
Debatten über die besseren Bildungskonzepte. Doch bei
dieser Frage versagen Sie regelmäßig, meine Damen
und Herren von den Linken. Wo haben wir denn die
wirklichen Probleme in der Bildungspolitik? Nicht in
Baden-Württemberg, nicht in Hessen und auch nicht in
Schleswig-Holstein. Die großen Probleme haben wir
dort, wo Linke oder SPD oder Grüne regieren und regiert haben. Wenn Sie der Ansicht sein sollten, dass wir
diesen Länderregierungen wirklich die Kompetenz für
die Bildungspolitik entziehen sollten, dann könnte ich
dies sogar nachvollziehen. Weil die Länder, in denen
linke Bildungspolitik gemacht wird, den Vergleich weder
national noch international standhalten, wollen Sie den
Zentralismus. Und damit wollen sie letzen Endes nur
vertuschen, dass Sie keine sinnvollen Ideen in der Bildungspolitik bieten können. Wissen Sie, Sie sollten endlich verstehen, dass es einzig und alleine um die Kinder
und Jugendliche in der Bildungspolitik geht.
Wir brauchen in Deutschland eine klare Zuordnung
der Kompetenzen als Voraussetzung für ein modernes
und effizientes Bildungssystem. Zu lange haben wir Debatten über Zuständigkeiten geführt, die uns von wichtigen inhaltlichen Diskussionen abgehalten haben. Dass
Sie diese Debatte erneut aufgreifen, zeigt einfach nur,
dass es Ihnen nur um populistische und ideologische Parolen geht und nicht um die beste Bildung für unsere
Kinder und Jugendlichen.
Vier Jahre ist es her, dass mit der Föderalismusreform die Kooperation und damit die gemeinsame
Finanzierungsverantwortung von Bund und Ländern im
Bereich der Bildung unmöglich gemacht wurden. Heute
findet man kaum noch jemanden, der diesen Schritt von
damals verteidigt. Hätte man bei der Anhörung im Bundestag genau hingehört, wäre das Kooperationsverbot
wohl nicht verhängt worden. Dort erklärten mehrere
Sachverständige in großer Deutlichkeit, dass sie diesen
Schritt für einen Fehler halten. So hob der Föderalismusexperte Professor Dr. Schneider vom deutschen
Föderalismusinstitut Hannover hervor, dass sich - ich
zitiere aus dem Protokoll der Anhörung im Deutschen
Bundestag - „das Erziehungs- und Bildungswesen am
allerwenigsten zu einer strikten Trennung von Bundesund Landeskompetenzen“ eigne. Damals bestanden vor
allem die Bundesländer darauf, die alleinige Verantwortung auf dem Gebiet der Bildung übernehmen zu wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Heute hört man in Ost wie West Forderungen nach
mehr Einheitlichkeit im Bildungswesen, und es scheint
so etwas wie eine Gegenbewegung zu geben. Inzwischen
sind sich alle Parteien einig, dass Bildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sein muss. Wir als Linke sprechen von einer Gemeinschaftsaufgabe und verstehen darunter die gemeinsame Verantwortung der öffentlichen
Hand auf allen Ebenen. Doch heute darf der Bund sich
grundsätzlich nicht mehr an den Investitionen in den
Bau von Schulen beteiligen, und so erfinden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ministerien fleißig
Programme, mit denen dieses Verbot der Zusammenarbeit und gemeinsamen Verantwortungsübernahme
diskret unterlaufen werden kann. Ohne dies wären auch
die lokalen Bildungsbündnisse nicht zu fördern. Von
„Bildungspartnerschaften“ ist dann die Rede und von
„Sicherung der Nachhaltigkeit“ früherer Programme.
Aber eigentlich geht auch das alles nach dem Grundgesetz nicht. Darum musste erst das Grundgesetz in der
Föderalismusreform II geändert werden, sodass wenigstens in Katastrophenfällen geholfen werden kann. Sonst
hätten Schulen und Kultureinrichtungen vom Konjunkturpaket II gar nicht profitieren können.
Tatsächlich leistet der Bund für das Ziel, künftig
7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung auszugeben, nicht viel. Der Bildungsanteil in den Länderhaushalten beträgt im Durchschnitt heute bereits mehr
als 32 Prozent; der in den Kommunen dürfte, je nach Berechnung, bei 20 Prozent liegen. Der Bildungsanteil im
Bundeshaushalt liegt deutlich unter 5 Prozent. Dabei
formuliert der Bund ständig Erwartungen und setzt sogar gesetzliche Rahmen, die Konsequenzen für bildungspolitische Entwicklungen haben müssten: die Erwartung, die starke Abhängigkeit des Bildungserfolges
von der sozialen Herkunft zu mindern, die UN-Konvention über inklusive Bildung umzusetzen und einen
Rechtsanspruch auf frühkindliche Bildung zu verwirklichen. Die Maßnahmen dazu reichen zwar längst nicht
aus, sind aber schon jetzt auf allen Ebenen unterfinanziert.
Das Ganztagsschulprogramm wurde initiiert, um ein
flächendeckendes Ganztagsschulangebot zu entwickeln.
Das Ziel ist richtig. Aber das vom Bund bezuschusste
Bauprogramm war nur der Startschuss und löste bei den
Ländern und Kommunen massive Folgekosten aus.
Ganztagsschulen müssen nicht nur unterhalten, sondern
auch mit Leben erfüllt werden. Dazu gehört nicht nur die
dauerhafte materielle Ausstattung der Schulen, sondern
auch die Bezahlung von Lehrkräften und anderem pädagogischen Personal. Es geht um die Sicherung der inhaltlichen Qualität des Ganztagsschulbetriebs. Dafür
aber reichen Bauprogramme nicht aus.
Oder nehmen wir den frühkindlichen Bereich: Hier
hat die Bundesregierung sogar einen Rechtsanspruch
festgeschrieben - auch das ist richtig -, wenngleich nur
halbherzig, weil kein Ganztagsanspruch formuliert
wurde. Dass aber für frühkindliche Bildung mehr als gut
aufgeschriebene Programme nötig sind, nämlich massenhaft gut ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher, ist
im Eifer der guten Tat untergegangen. Nach den jüngsten Zahlen der Bundesregierung über den Ausbaustand
fehlen schon für das Erreichen des angestrebten Ziels
für die unter Dreijährigen bis 2013 noch immer
78 000 Erzieherinnen und Erzieher in der frühkindlichen Bildung. Für den Ausbau der Kinderbetreuung ist
von der Bundesregierung aber bis auf ein kleines Bauprogramm aus dem Jahre 2007 von 2,15 Milliarden
Euro nichts geleistet worden. Für alle anderen Kosten
sind die Länder und Kommunen zuständig. Nicht umsonst mehren sich heute die Klagen, dass die Aufgabe
bis 2013 nicht zu schaffen ist. Alleine die Stadt Magdeburg, aus der ich komme, gibt über 49 Millionen Euro
pro Jahr für Kinderbetreuung aus.
Wenn künftig Bildung als Gemeinschaftsaufgabe verstanden werden soll, muss auch der Bund seiner Verantwortung nachkommen können für mehr Vergleichbarkeit
in der Bildung, für die Überwindung sozialer Ausgrenzung, für die Sicherung einer hohen Bildungsqualität
und für eine gute Ausstattung der Bildungsinstitutionen.
Darum muss als erster Schritt das Kooperationsverbot
fallen. Dafür soll unser Antrag den Aufschlag geben. Sie
alle wissen, dass das Kooperationsverbot bildungspolitisch nicht zu begründen ist. Darum springen Sie einmal
über Ihren Schatten. Stimmen Sie unserem Antrag einfach zu.
Mittelfristig muss man weiter gehen. Die Gemeinschaftsaufgabe Bildung ist im Interesse einer modernen
Ausgestaltung des Föderalismus durch alle Bildungsbereiche hinweg neu zu definieren. Die Abteilung „Programmerfindung“ im BMBF kann dann künftig anderweitig beschäftigt werden. Dazu aber bedarf es einer
umfangreichen Debatte zwischen Bund, Ländern und
Kommunen, die heute begonnen werden muss.
Lassen Sie mich eines gleich zu Beginn sagen: Mit
der Einführung des Kooperationsverbots im Rahmen der
Föderalismusreform I im Jahre 2006 haben sich Bund
und Länder einen Bärendienst erwiesen. Dies ist keine
neue Erkenntnis, musste aber offensichtlich so lange
wiederholt werden, bis auch Bundesministerin Schavan
so langsam zu der Erkenntnis kam, dass man wohl damals einen Fehler gemacht hat. Denn was ist die Konsequenz? Der Bund kann seinen Teil der gesamtstaatlichen
Verantwortung für Bildung nicht wahrnehmen. Stattdessen wird viel Energie verschwendet, Umwege dafür zu
suchen, wie der Bund die Länder doch unterstützen
kann. Das Konjunkturprogramm II ist ein Beispiel dafür.
Weil die Finanznot von Ländern und Kommunen groß
ist, der Bund aber keine direkte Unterstützung beim
Schulbau leisten darf, wurde die Begründung „energetische Sanierung“ bemüht, um den Schulen dennoch Geld
zukommen lassen zu können. Viel sinnvoller wären aber
gemeinsam von Bund und Ländern ausgehandelte und
finanzierte Programme, die zu einer Qualitätssteigerung
im Bildungsbereich führen: ganztägige gute Bildung,
längeres gemeinsames Lernen, ein inklusives Schulsystem, die Förderung von Migrantenkindern, ein besserer
Übergang von der Schule in die Ausbildung. Die Liste ist
lang.
Zu Protokoll gegebene Reden
Priska Hinz ({0})
Seit einiger Zeit spricht Bundeskanzlerin Merkel ja
gerne von der „Bildungsrepublik Deutschland“. Doch
was ist bisher daraus geworden? Zwei gescheiterte Bildungsgipfel 2008 und 2009. Der nächste steht im Juni
dieses Jahres an. Doch warum soll das Ergebnis besser
sein als bei den vorangegangenen? Wenn die Bundesregierung nicht endlich anfängt, eine Initiative zur Aufhebung des Kooperationsverbotes einzuleiten, dann
wird auch dieser Gipfel zu einer Farce. Selbst Frau
Schavan, einst Kämpferin für eine „Nichteinmischung“
des Bundes in Bildungsfragen, gibt inzwischen zu, dass
das Kooperationsverbot ein Fehler war. Es sei 2006 aus
einer „momentanen Missstimmung“ zwischen Bund und
Ländern, in erster Linie auf Drängen der Ministerpräsidenten, beschlossen worden. Ich frage Sie: Sollen wir
jetzt weitere Jahre wegen einer „Missstimmung“ das
Kooperationsverbot weitertragen, das verhindert, dass
wir gerade in einem so wichtigen Bereich wie der Bildungspolitik eine Stagnation erleben? Das Kooperationsverbot ist eine selbstverordnete Einschränkung der
politischen Handlungsfähigkeit von Bund und Ländern.
Der sogenannte Wettbewerbsföderalismus hat das Bildungsniveau insgesamt nicht gesteigert, die Qualität der
Schulen nicht verbessert. Initiativen wie das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ für
mehr Ganztagsschulen haben gezeigt, dass es wichtig
ist, Programme gemeinsam aufzulegen, durchzuführen
und zu finanzieren.
Sehr geehrte Ministerin Schavan, ziehen Sie die folgerichtige Konsequenz aus Ihrer späten Erkenntnis,
dass das Kooperationsverbot ein Fehler war. Ergreifen
Sie die Initiative für eine Grundgesetzänderung, damit
die Kooperation von Bund und Ländern im Bereich der
allgemeinen Bildung wieder möglich wird. Wir unterstützen Sie dabei gerne.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/785 an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentlichung aller
Studienergebnisse einführen
- Drucksache 17/893 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
In der Tagesordnung wurde schon ausgewiesen, dass
auch hier die Reden zu Protokoll genommen werden.
Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Rolf Koschorrek, René Röspel, Dr. Marlies Volkmer,
Lars Lindemann, Dr. Petra Sitte und Birgitt Bender.
Mit der Redewendung „Eulen nach Athen tragen“
bezeichnet man gemeinhin eine überflüssige Tätigkeit.
„Eulen nach Athen tragen“ wäre auch eine passende
Überschrift für den hier vorgelegten Antrag der Linken
zur Registrierung und Veröffentlichung aller klinischen
Studien und ihrer Ergebnisse, denn die Bundesregierung
ist längst dabei, die zentralen Forderungen des hier vorgelegten Antrags auf den Weg zu bringen.
Auf europäischer Ebene: Innerhalb der Europäischen
Union besteht bereits eine Registrierungspflicht für alle
hier durchgeführten klinischen Studien in der - zurzeit
allerdings noch nur behördenintern zu nutzenden EudraCT-Datenbank. Die Bundesregierung setzt sich
auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Daten der
klinischen Studien für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und engagiert sich dementsprechend bei
der Erarbeitung der erforderlichen EU-Richtlinien.
Konkret geht es dabei um die Festlegung der Datenfelder, die der Öffentlichkeit sinnvollerweise bereitgestellt
werden sollen. Als maßgebliches Kriterium hierfür sieht
die Bundesregierung, dass die zugänglich zu machenden
Informationen für die Öffentlichkeit von Nutzen sein
müssen.
In Deutschland: An der Universität Freiburg befindet
sich mit Förderung des Bundesforschungsministeriums
ein nationales Studienregister für klinische Studien im
Aufbau, das Deutsche Register Klinischer Studien,
DRKS. Es umfasst neben Arzneimittelstudien und Studien zu Medizinprodukten Studien zu medizinischen,
physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Verfahren. Es wird in enger Zusammenarbeit mit der WHO
- speziell mit der International Clinical Trials Registry
Platform, ICTRP - konzipiert. Das DRKS ist seit Oktober 2008 als WHO-Primärregister anerkannt und erfüllt
damit die Anforderungen des International Committee
of Medical Journal Editors, ICMJE, dessen Mitglieder
bereits im September 2004 die prospektive Registrierung klinischer Studien als Voraussetzung für eine Veröffentlichung beschlossen haben. Es zählt zu den derzeit weltweit zehn Primärregistern, die in die WHOPlattform „International Clinical Trial Registry Platform“, ICTRP, mit einem internationalen Standard für
die Registrierung klinischer Studien integriert ist.
Das DRKS bietet die Möglichkeit, Informationen zu
laufenden und abgeschlossenen klinischen Studien in
Deutschland zu suchen oder eigene Studien über die Registrierung anderen zugänglich zu machen. Im Geschäftsbereich des BMBF ist die Registrierung klinischer Studien Voraussetzung für eine Förderung, zum
Beispiel in der Fördermaßnahme „Klinische Studien“.
Eine verpflichtende Registrierung aller klinischen Studien beim DRKS lässt sich derzeit gesetzlich nicht verankern. Allerdings wird auf untergesetzlicher Ebene darauf hingewirkt, dass möglichst viele Studien im Rahmen
des Antragsverfahrens bei den Ethikkommissionen freiwillig beim DRKS registriert werden.
Dies ist der aktuelle Sachstand der laufenden Bemühungen und des aktiven Einsatzes der Bundesregierung
hinsichtlich der Registrierung von klinischen Studien
und zu den Neuregelungen, wie der Zugang für Ärzte,
Patienten und die Wissenschaft zu den Daten der klinischen Studien national und international optimiert wird.
Anstelle weiterer Ausführungen dessen, was aus unserer
Sicht zu dem hier eingebrachten Antrag darzulegen
wäre, ist hier auf die ausführliche Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Fraktion Die Linke,
Drucksache 17/349, hinzuweisen, die dem Parlament
vorliegt und darüber hinaus allgemein zugänglich ist.
Klinische Studien sind ein wichtiger Baustein moderner Gesundheitsforschung. Jedoch leidet auch dieser
Forschungszweig unter einem Problem, das zwar
menschlich verständlich, in diesem Bereich aber überhaupt nicht angebracht ist: positive Ergebnisse werden
überbetont, negative Ergebnisse hingegen zu oft verheimlicht. Dies gilt insbesondere, wenn die klinischen
Studien durch Unternehmen finanziert werden und das
eigentliche Ziel der Studie nicht der Wissensgewinn,
sondern der Nachweis positiver Wirkungen etwa eines
Arzneimittels, ist. Dieser sogenannte „Publication
Bias“ ist ein vielfach nachgewiesenes und seit langem
bekanntes Problem. Kritisch wird dieser Sachverhalt vor
allem dort, wo es um eine gute und finanziell dem Nutzen
angemessene medizinische Versorgung kranker Menschen geht.
Die Probleme, vor denen etwa das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen in der
Vergangenheit stand und bis heute steht, sind korrekt im
Antrag der Fraktion Die Linke beschrieben. Wir müssen
uns fragen, ob wir als Gesellschaft wirklich akzeptieren
wollen, dass, wie im vorliegenden Fall für drei Antidepressiva, bei insgesamt rund 5 100 Testpersonen nur
Daten von 1 600 Probanden transparent verfügbar sind
und publiziert wurden. Die beste Lösung für dieses Problem kann nur sein, dass wir eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischer Studien, die in Deutschland
durchgeführt werden, einführen.
Es war und ist gut und richtig, dass das Bundesministerium für Bildung und Forschung knapp 2,3 Millionen
Euro aufgewandt hat, um das „Deutsche Register klinischer Studien“, DRKS, aufzubauen. Man muss sich aber
fragen, ob die Schaffung von Anreizen für eine freiwillige Registrierung der Studien beim DRKS ausreicht.
Die Bundesregierung vertritt laut Bundestagsdrucksache 17/349 die Auffassung, dass diese Anreize ausreichen. Wir als Fraktion der SPD teilen diese Bewertung
ausdrücklich nicht. Man muss sich fragen, wer einen
Nutzen aus dem Verzicht auf eine allgemeine Registrierungspflicht hat und hier kommen einem sicherlich weder die Probanden noch die Kranken noch unsere Gesellschaft allgemein in den Sinn.
Nicht nur aus Gründen der Verbesserung der Versorgung, sondern auch aus forschungspolitischer Sicht ist
eine Verpflichtung zur Registrierung aller klinischer
Studien wünschenswert. So steht zu hoffen, dass eine
umfassende Registrierung etwa dazu führt, dass es Personen, die an seltenen Krankheiten leiden, leichter möglich sein wird, sich an einer Studie zu beteiligen. Ohne
Registrierungspflicht hätte die Mehrzahl dieser Personen vermutlich nie von der Studie erfahren. Forschung
und Wissenschaft leben vom freien Austausch von Informationen. Ohne eine allgemeine Registrierungspflicht
kann man jedoch nie sicher die Frage beantworten, welche Studien zur Krankheit X oder zum Arzneimittel Y bereits durchgeführt wurden. Doppelstudien, die durchaus
auch Gefahren für die Probandinnen und Probanden beinhalten können, sind die Folge. Ohne Not werden hier
Ressourcen verschwendet, die man besser in zusätzliche
Studien investieren sollte.
Wer gegen eine allgemeine Registrierungspflicht argumentiert, der sollte sich bewusst sein, dass offenkundig in Deutschland größere Bedenken bestehen als in
anderen Ländern. So haben etwa die USA eine solche
Verpflichtung bereits in geltendes Recht übernommen und die USA gelten wahrlich nicht als Land, in dem Forschung und Freiheit durch bürokratische Fesseln gehemmt werden.
Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam mit der Fraktion der CDU/CSU einen guten
Antrag zur Förderung nichtkommerzieller klinischer
Studien, Bundestagsdrucksache 16/6775, auf den Weg
gebracht. Diese kollegiale Zusammenarbeit im Sinne
der Patientinnen und Patienten sollten wir fortsetzen.
Wir werden daher ebenfalls einen Antrag in die parlamentarische Beratung einbringen. Dieser wird unter anderem, ausgehend von der genannten Drucksache, Vorschläge unterbreiten, um den öffentlichen Zugang zu
Informationen über klinische Studien umfassend sicherzustellen.
Im Gegensatz zum Vorschlag der Fraktion Die Linke
werden wir aber auch stärker darauf Rücksicht nehmen,
dass die Sponsoren klinischer Studien ebenfalls berechtigte Interessen haben. So darf etwa eine Registrierungspflicht nicht zum Einfallstor für den Diebstahl von Ideen
und Forschungsdesigns werden. Dieser Aspekt wird im
Antrag der Fraktion Die Linke leider nicht ausreichend
berücksichtigt. Daher sehen wir den Antrag der Linken
als interessanten Impuls für unsere parlamentarische
Debatte; aber wir werden einen besseren Vorschlag zur
Lösung der im vorliegenden Antrag beschriebenen Probleme unterbreiten.
Bereits seit Jahren diskutieren wir darüber, wie die
Transparenz über laufende, beendete oder abgebrochene klinische Studien erhöht werden kann. Heute kann
es keinen Zweifel mehr darüber geben: Die Zeit der freiwilligen Selbstverpflichtungen ist vorbei. Registrierungen und Veröffentlichungen auf freiwilliger Basis werden niemals zu einem vollständigen Überblick über die
Studien zu einem Arzneimittel oder einem therapeutischen Verfahren führen. Seit den ersten Diskussionen um
die Einführung von Studienregistern hat sich einiges getan. Heute bezweifelt niemand mehr ernsthaft den Sinn
einer Registrierung von Studien. Register sind unter anZu Protokoll gegebene Reden
derem notwendig, weil die Berichterstattung über Studienergebnisse, positive und negative, vollständig sein
muss. Dies ist wichtig bei der Bewertung des Nutzens einer Therapie. Zudem ist überflüssige Forschung am
Menschen unethisch und muss vermieden werden. Darüber hinaus müssen Patientinnen und Patienten sowie
Ärztinnen und Ärzte die Möglichkeit erhalten, sich über
laufende Studien zu einzelnen Erkrankungen zu informieren, aber auch über die besten Behandlungsmöglichkeiten in bestimmten klinischen Situationen.
Mittlerweile gibt es international eine ganze Reihe
von Registern, die allerdings unterschiedlich zugänglich
und bekannt sind. Das europäische Register EudraCT
dürfte eines der umfangreichsten Register in Europa
sein, da jede klinische Prüfung mit Arzneimitteln dort registriert sein muss, bevor die Prüfung begonnen wird. Allerdings beinhaltet EudraCT ausschließlich Arzneimittelstudien und ist weder Ethikkommissionen noch Ärzten
oder gar der Öffentlichkeit zugänglich. Es gibt Register
in anderen Ländern wie das Register des National Institute of Health in den USA, www.clinicaltrials.gov. Leider
ist der Anteil der Studien, die Firmen mit Sitz in
Deutschland dort registrieren, nach Aussagen von Experten äußerst gering. Es wird davon ausgegangen, dass
lediglich 10 bis 30 Prozent aller in Deutschland durchgeführten Studien dort registriert werden. Es ist bekannt,
dass die Mehrheit der deutschen Ärzteschaft nicht einmal regelmäßig englischsprachige Artikel in Fachzeitschriften zur Kenntnis nimmt. Vor diesem Hintergrund
verwundert es nicht, dass auch nur einer Minderheit das
amerikanische Register überhaupt bekannt ist - was zudem nichts über seine Nutzung sagt.
Argumentiert wird häufig, dass für die Publikation in
einer großen Fachzeitschrift eine Registrierung ohnehin
notwendig sei. Nur: Nicht jede klinische Prüfung wird
publiziert. Vor allem von abgebrochenen Studien und
von Studien mit negativen Ergebnissen, zum Beispiel,
wenn das Arzneimittel nicht die erhoffte Wirkung hatte,
erfahren in der Regel nur die zuständige Bundesoberbehörde und die Ethikkommission, sonst niemand. So
kommt es dazu, dass die Wirksamkeit zum Beispiel von
Arzneimitteln systematisch überschätzt wird, die Risiken
hingegen unterschätzt werden. Das kann fatale Folgen
bei der Behandlung von Patienten haben; denn das bestehende Risiko durch nutzlose oder schädliche Behandlungen kann kein Arzt aus eigener Kraft recherchieren.
Aber auch Institutionen wie das Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, stoßen
an Grenzen. Das IQWiG hat die Aufgabe, den Nutzen
von Arzneimitteln und anderen Therapien und das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu bewerten, und zwar durch Vergleich mit anderen Arzneimitteln und Behandlungsformen. Die Bewertung ist dabei maßgeblich von der
Vollständigkeit der publizierten Literatur abhängig. Um
das Problem der lückenhaft publizierten Studien aus der
Welt zu schaffen, hat das IQWiG mit den pharmazeutischen Herstellern bereits 2005 eine grundsätzliche Einigung zur Übergabe solcher Daten vereinbart. Allerdings
ist auf diese Ankündigungen kein Verlass. Nach Aussagen des IQWiG gab es in den letzten Jahren wiederholt
Fälle, in denen es Firmen abgelehnt hatten, dem Institut
Unterlagen zu Studien zur Verfügung zu stellen, die es
für die Nutzenbewertung von Arzneimitteln benötigte.
Das IQWiG schildert konkret eine Bewertung von Arzneimitteln zur Behandlung von Depressionen. In diesem
Fall fehlten in der öffentlich zugänglichen Literatur die
Ergebnisse von etwa zwei Dritteln der behandelten Patienten. Dabei suggerierten die veröffentlichten Ergebnisse einen Nutzen, der sich letztlich bei Betrachtung aller Daten nicht belegen ließ.
Vor diesem Hintergrund braucht es dringend eine Registrierungs- und eine Veröffentlichungspflicht klinischer Studien. Die Registrierungspflicht muss sich auf
das Deutsche Register für Klinische Studien, DRKS, beziehen, das seit 2007 mit finanzieller Unterstützung des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung aufgebaut wird. Anders als andere Register, zum Beispiel auch
das geplante europäische EudraPharm-Register, umfasst das DRKS über Arzneimittelstudien hinaus Studien
zu Medizinprodukten und Studien zu medizinischen,
physiotherapeutischen oder psychotherapeutischen
Verfahren. Anders als andere Register bietet es durch
die deutsche Sprache Patientinnen und Patienten und
Ärztinnen und Ärzten einen einfachen Zugang. Zudem
soll es - auch das ist nicht unbedingt Usus - eines Tages
Studienergebnisse verzeichnen können. Deshalb braucht
das DRKS langfristig eine ausreichende finanzielle und
personelle Ausstattung.
Sie sehen, dass ich die Hauptargumente des vorliegenden Antrags teile. Im Detail sehe ich Verbesserungsbedarf vor allem hinsichtlich der konkreten Umsetzung
der Registrierungspflicht. Deshalb wird die SPD-Fraktion einen eigenen Antrag vorlegen.
Die Linke hat uns hier einen Antrag vorgelegt, in dem
sie eine uneingeschränkte und undifferenzierte Registrierungs- und Veröffentlichungspflicht für klinische Studien fordert. Als Begründung wird eine „systematische
Verzerrung in der Bewertung von diagnostischen und
therapeutischen Verfahren“ im gegenwärtigen Forschungsbetrieb genannt. Dabei umfasst der Geltungsbereich des Antrages Studien forschender Unternehmen
ebenso wie öffentlicher Institute. Ziel soll es sein, falsche Wirksamkeits- und Risikobewertungen zu verhindern. Dieses Ziel teilen wir. Wir haben ein Interesse daran, dass nur solche Arzneimittel auf den Markt
kommen, die wirksam und sicher sind. Und wir haben
ein Interesse an einer guten Verfügbarkeit von Daten
und einer verständlichen Kommunikation der relevanten
Ergebnisse. Sie allerdings nutzen selbst dieses Thema
dazu, Ideologie zu transportieren, statt sachdienliche
Vorschläge zu machen; denn von der Sache haben Sie
ganz offensichtlich nicht viel Ahnung. So zeichnen Sie
einmal mehr das düstere Bild von Forschung, als wäre
sie nicht Hoffnung und Heilsbringer kranker Menschen,
sondern das Reich des Bösen. Sie stellen die Forschergemeinde unter den Generalverdacht der Manipulation
und schießen scharf auf ihren Klassenfeind. Gleichzeitig
beweisen Sie Ihre Realitätsferne, indem Sie die qualitativen Selbstregulationsmechanismen des Wissenschaftsbetriebes ignorieren und keinerlei Differenzierung etwa
Zu Protokoll gegebene Reden
zwischen Phase-I- und Phase-III-Studien vornehmen.
Forscher sollen bei Androhung von Strafe gezwungen
werden, ihre sämtlichen Ergebnisse nicht nur für Fachadressaten zu formulieren, sondern stets auch laienverständlich. Aber was heißt das eigentlich in der Wirklichkeit? Können Sie mir sagen, welcher Bürger sich für die
pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Daten
einer Substanz interessiert, die bereits in dieser Phase
aus dem Prozess fliegt und niemals in der Klinik landet?
Wie kann man ohne Fachausbildung überhaupt die Relevanz dieser Parameter beurteilen? Und haben Sie eine
Vorstellung, welche zusätzliche bürokratische Belastung
sie den Forschergruppen zumuten? Das ist wirklich
nicht Ihre Welt; das merkt man in jeder Zeile Ihres Antrages.
Wissenschaftliche Fragestellungen sind differenziert,
Studienpublikationen haben bestimmte Adressaten, und
nicht jede Studie hat Fragestellungen, die sich auf eine
einfache Aussage reduzieren lassen. Und wollen Sie
ernsthaft sagen, dass ein Laie die statistische Signifikanz einer Korrelation mathematisch nachvollziehen
will? Für den Bürger ist wichtig, dass ein Mittel wirksam und sicher ist und für die richtige Indikation verwendet wird. Die Aufgabe, dies sicherzustellen, hat die
Zulassungsbehörde, in der die Fachleute sitzen, die Studien in ihrer wissenschaftliche Tiefe beurteilen und alle
Informationen auch einordnen können. Dem bürokratischen Aufwand stünde gerade bei Phase-I-Studien keinerlei Nutzen gegenüber. Deshalb setzt übrigens auch
die amerikanische Food and Drug Administration, FDA,
den Filter bei Studien, die sich auf zugelassene Arzneimittel beziehen.
Darüber hinaus schüren Sie Ängste, es würden in großem Stil gefährliche Medikamente, Hilfs-, Heilmittel und
Verfahren zugelassen. Dabei ignorieren Sie völlig die
gute Arbeit des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, des Instituts für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, IQWiG, der europäischen Arzneimittelagentur, EMEA, des Paul-Ehrlich-Institutes, der Forschungsinstitute selbst, der wissenschaftlichen Fachzeitschriften, der medizinischen
Fachgesellschaften, der forschenden Pharmaunternehmen, der Krankenkassen, der Ärzte und Therapeuten.
Damit sind nur einige genannt, die einen international
extrem hohen Standard der Qualitätssicherung in
Deutschland sicherstellen.
Niemand wird in Abrede stellen, dass Untersuchungsergebnisse wissenschaftlicher Studien in Ausnahmefällen gefälscht oder auch zielorientiert erstellt werden.
Dass dies möglich ist, liegt vor allem daran, dass der
stetig wachsenden Masse von Publikationen - abgesehen von solchen, die Teil von Zulassungsverfahren sind,
kaum Ressourcen zur Überprüfung gegenüberstehen.
Aber was ändert Ihr Vorschlag daran? Wer die kriminelle
Energie aufbringt, Protokolle zu fälschen oder Messwerte zu schönen, der wird nicht dadurch abgeschreckt,
dass er seine Studie registriert hat und sie neben dem
Fachjournal noch in einer zusätzlichen Datenbank veröffentlicht. Kommt es zu einem Zulassungsverfahren, müssen die Daten spätestens den strengen Kriterien des Verfahrens standhalten. Und hier sind dann auch die
Ressourcen.
Wir befürworten eine bessere Verfügbarkeit wissenschaftlicher Daten aus medizinischen Studien. Deswegen begrüßen wir die Selbstverpflichtung zur Registrierung und Publikation sämtlicher Studien, die sich der
Verband Forschender Arzneimittelhersteller, vfa, auferlegt
hat. Diese ist so angelegt, dass ein vollständiger Überblick
über die in einem bestimmten Indikationsgebiet durchgeführten Studien ermöglicht wird. Hier ist die europäische
Datenbank für klinische Studien, EUDRACT, eingebunden.
Aktivitäten auf europäischer Ebene, die eine Erweiterung
der Zugänglichkeit der EUDRACT-Daten anstreben,
halten wir für sinnvoll. Der Aufbau eines zusätzlichen
nationalen Registrierungs- und Publikationssystems
liegt aber eindeutig nicht im Interesse einer einfacheren
Zugänglichkeit von Daten.
Punktum: Ihr Antrag ignoriert die bestehenden Mechanismen und enthält nichts, was Sicherheit und Qualität von Arzneimitteln erhöhen würde. Stattdessen wollen
Sie die Forschergemeinde durch kontraproduktive Bürokratie noch mehr belasten. Das schadet nicht nur der
Forschung, sondern schließlich auch den kranken Menschen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Gestern hat US-Präsident Obama das größte innenpolitische Projekt der Legislaturperiode, eine Gesundheitsreform samt Versicherungspflicht für alle Bürger,
auf den Weg gebracht. Das amerikanische Gesundheitssystem ist bekanntermaßen das teuerste der Welt, auch
die Arzneimittelkosten liegen an der globalen Spitze.
Obama hat mit der Versicherungspflicht einen ersten
richtigen Schritt getan. Nun folgen die Mühen der
Ebene: Das Versicherungssystem darf kein Selbstbedienungsladen für die Leistungserbringer und Pharmafirmen werden, sondern muss die bestmögliche Versorgung
zu vertretbaren Kosten im Blick haben. Ein Teil dieser
Debatte wird sich um die Kosten-Nutzen-Bewertung von
Arzneimitteln drehen. Während den USA viele Bewertungsinstrumente fehlen, haben sie Deutschland jedoch
eines voraus: eine gesetzliche Pflicht zur Registrierung
und Veröffentlichung der Daten aus klinischen Studien.
Seit 2008 enthält der Food and Drug Administration
Amendment Act, FDAAA, die Vorschrift, dass alle Registrationsdaten klinischer Studien, aber auch die Ergebnisse der Untersuchungen im Internet zu veröffentlichen
sind.
Warum hat sich dieses industriefreundliche Land zu
solch einem radikalen Schritt entschlossen? Weil es der
Publikationspraxis industriegeführter Pharmaforschung
nachweislich an Transparenz mangelt. Dies verwundert
nicht. Schließlich sind positive Studienergebnisse ein
Push-up für Absatz und Börsenkurs, während die Nachricht von Unwirksamkeit oder gar Komplikationen und
Nebenwirkungen von Wirkstoffen Milliardenumsätze
verhindern können. Auch die Frage, ob ein neues Medikament besser wirkt als ein bereits am Markt befindliches, hat Auswirkungen auf den Umsatz der Pharmakonzerne. Wenn die Kassen das neue Medikament nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
erstatten, dann entsteht unter Umständen gar kein Markt
dafür.
Aber nicht nur die sogenannten Sponsoren der Studien, also die Industrieunternehmen, haben ein Interesse
an positiven Ergebnissen. Auch der wissenschaftlichen
Reputation von Forscherinnen und Forschern und von
Redaktionen der Journales helfen Erfolge in der Wirkstoffentwicklung eher als deren Risiken und Nebenwirkungen. Es gibt also handfeste Interessenlagen, die den
sogenannten Publikations-Bias hervorrufen. Studienergebnisse mit positivem Inhalt werden dreimal so häufig
publiziert wie solche mit negativem Inhalt. Viele Studien
bleiben nach Abschluss oder Abbruch in der Schublade
der Sponsoren, auch wenn sie vorher ordentlich bei den
europäischen Behörden registriert worden sind. Verschiedene Untersuchungen haben festgestellt, dass zwischen den angemeldeten Studien und den dann in der
Fachliteratur publizierten Ergebnissen häufig eine
große Lücke klafft. Eine 2008 erschienene Untersuchung verglich Studienergebnisse, die der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA gemeldet wurden, mit
denen, die dann in der Fachliteratur auftauchten. Ergebnis: Die Daten der FDA können keinen signifikanten
therapeutischen Nutzen der zwölf untersuchten Antidepressiva nachwiesen; lediglich 51 Prozent der Studienergebnisse waren positiv. In der Fachliteratur hingegen
wurden Prüfungen mit 94 Prozent positivem Ergebnis
dargestellt. Der Rest fiel zumindest für die Augen von
Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten und
Krankenversicherungen einfach unter den Tisch.
Der Publikations-Bias ist kein amerikanisches Problem. Gerd Antes, Leiter des renommierten CochraneZentrums in Heidelberg, geht davon aus, dass etwa die
Hälfte der in Deutschland angekündigten Studien nie
veröffentlicht wird. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen IQWiG, das den
Nutzen neuer Medikamente bewerten soll, muss sich zum
Teil mit noch schlechterer Datenlage begnügen. So verweigerte der Pharmahersteller Pfizer trotz gegenteiliger
Vereinbarung die Einsicht in die Patientendaten zum Antidepressivum Edronax, das bereits seit zwölf Jahren auf
dem Markt ist. Lediglich 1 600 Datensätze wurden dem
Institut zur Verfügung gestellt; die 3 000 weiteren seien
nicht zur Bewertung des Medikaments geeignet - so die
lapidare Aussage des Konzerns gegenüber dem IQWiG.
Von den 17 Studien, die zu Edronax durchgeführt worden
sind, tauchten nur sieben in wissenschaftlichen Publikationen auf - natürlich die mit positivem Ergebnis.
Wir finden, dass dieser Zustand der Intransparenz
und Vertuschung ein Ende haben sollte. Erkenntnisse
aus klinischen Studien sind keine „Geschäftsgeheimnisse“ und auch keine Privatsache der Financiers. Zum
einen wurden diese Studien fast immer unter Nutzung öffentlicher Infrastrukturen und öffentlicher Grundlagenforschung durchgeführt. Zum anderen haben viele Akteure ein Recht auf diese Ergebnisse: zuerst die
Probandinnen und Probanden selbst, die sich der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Aber auch die wissenschaftliche Community, deren Diskurs auf Transparenz
und Validität gründet. Und nicht zuletzt sind alle Akteure
in der Gesundheitsversorgung auf die Daten angewiesen. Patientinnen und Patienten wollen die verschriebenen Therapien überprüfen können, Ärztinnen und Ärzte
die wirksamsten Medikamente verschreiben und die
Selbstverwaltung des Gesundheitswesens auf effizienten
Mitteleinsatz der Versichertenbeiträge und Steuermittel
achten.
Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht nur auf
europäischer Ebene um eine Veröffentlichungspflicht zu
ringen, sondern hier in Deutschland mit gutem Beispiel
voranzugehen. In Heidelberg wird, unterstützt durch das
Bundesforschungsministerium, seit 2007 das Deutsche
Register für Klinische Studien - kurz DRKS - aufgebaut.
Obwohl einige namhafte Forschungszeitschriften die
Registrierung der Studie in einem zertifizierten Register
zur Voraussetzung einer Publikation machen, wächst
der Datenbestand auf freiwilliger Basis nur äußerst
schleppend. Mit Stand von gestern waren 203 Studien
registriert. 1 300 klinische Tests werden jedoch nach
Aussage der Bundesregierung pro Jahr durchgeführt.
Das zeigt: Freiwilligkeit löst das Problem nicht. Wir
brauchen eine gesetzliche Pflicht zur Veröffentlichung
aller Daten aus klinischen Studien. Das DRKS, offiziell
von der WHO anerkannt, bietet für solch ein Vorhaben
die passende Infrastruktur. Sie müssen nur den Mut haben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
dem renditestärksten Industriezweig Grenzen zu setzen
und die Interessen der Öffentlichkeit in den Vordergrund
zu rücken. Dass zu den ersten Amtshandlungen des Gesundheitsministers der sanfte Druck zur Absetzung des
renommierten IQWiG-Leiters Peter Sawicki gehörte,
stimmt mich in dieser Hinsicht zwar pessimistisch. Wir
setzen jedoch auf den sanften Druck der öffentlichen Debatte, die in den letzten Monaten immer deutlicher eine
Veröffentlichungspflicht für klinische Studien gefordert
hat. SPD und Grüne, selbst Herr Spahn von der Union
und der Staatssekretär im Gesundheitsministerium Herr
Bahr von der FDP zeigten sich einer solchen Regelung
gegenüber aufgeschlossen. Dann sollte sie doch auch
umzusetzen sein.
Zugleich, das soll hier zum Schluss angemerkt sein,
kann die Debatte um Transparenz und Freiheit der medizinischen Forschung mit diesem Vorhaben nicht abgeschlossen werden. Eine Studie hat im Auftrag des deutschen Ärztetages im vergangenen Jahr festgestellt:
„Veröffentlichte Arzneimittelstudien erzielen häufig ein
für pharmazeutische Unternehmen günstiges Forschungsergebnis, wenn diese Studien vom Herstellerunternehmen finanziert wurden oder sich ein Autor in einem ökonomischen Interessenkonflikt befindet.“ Ergo:
Es muss um die Ermöglichung von mehr industrieunabhängiger Forschung gehen. Wir brauchen objektives
Wissen über den Nutzen und Schaden der immer komplexer werdenden therapeutischen und diagnostischen
Möglichkeiten.
Die fehlende Transparenz über bestehende Studien
und der fehlende Zugang zu deren Ergebnissen sind
nicht hinnehmbar und schaden letztlich allen Beteiligten
im Gesundheitswesen. Seit Jahren setzen wir Grüne uns
für ein öffentlich zugängliches, verpflichtendes Arznei-
Zu Protokoll gegebene Reden
mittelstudienregister und die Veröffentlichung aller Stu-
dienergebnisse ein. Daher stößt der Antrag der Linken,
der dieses Thema parlamentarisch aufgreift, auf unsere
ungeteilte Zustimmung.
Ein öffentlich zugängliches und verpflichtendes Stu-
dienregister ist notwendig, da es erstens Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer an Forschungsvorhaben vor unnöti-
gen und gegebenenfalls schädlichen Studien schützt, da
es zweitens Forschende unterstützt, sich tatsächlich
neuen, bisher noch nicht erforschten Gebieten zu wid-
men, statt Redundantes zu erforschen oder sich in den
gleichen Sackgassen zu verlaufen wie andere zuvor, da
es drittens Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit bietet,
auf einer möglichst sicheren Basis Therapieempfehlun-
gen und Leitlinien zu entwickeln, und da es viertens
Patientinnen und Patienten nicht - im Extremfall tödli-
chen - Nebenwirkungen aussetzt, die unter Umständen
den Herstellern bekannt waren, von ihnen aber ver-
schwiegen werden.
Wie notwendig ein solches Vorgehen ist, zeigen Arz-
neimittelskandale der letzten Jahre. Genannt seien aus
dem Jahr 2000 Vioxx, wo Hinweise auf ein erhöhtes kar-
diovaskuläres Risiko der Öffentlichkeit offenbar systema-
tisch vorenthalten wurden, und aus dem Jahr 2007 das
Antidepressivum Seroxat. Hier wurde dem Hersteller
vorgeworfen, Forschungsergebnisse, die eine erhöhte
Selbstmordgefahr bei Teenagern zeigten, zurückzuhalten.
Auf den aktuellen Fall, die Vorenthaltung von Studien ge-
genüber dem IQWiG - auch hier handelte es sich um An-
tidepressiva -, weist der Antrag ja bereits hin.
Seit Jahren bohren wir Grüne an diesem dicken Brett.
Dass dies nicht immer einfach ist, davon kann ich ein
Lied aus den letzten Wahlperioden im Bundestag singen.
2003/2004 stand die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz
auf der Tagesordnung. Wir gingen damals mit zwei For-
derungen, die einen engen Bezug zur heutigen Debatte
haben, in die Verhandlungen mit dem Koalitionspartner
SPD. Zum Ersten mit der Forderung nach einem natio-
nalen Register aller genehmigten klinischen Prüfungen,
das regelmäßig evaluiert werden sollte. Zum Zweiten mit
der Forderung nach expliziten Auskunftsrechten von
Probandinnen und Probanden zu den Ergebnissen der
Studie, an der sie selbst teilgenommen haben. Mit beiden
Anliegen sind wir gescheitert. Damals fehlte es an einer
Unterstützung aus der SPD-Fraktion. Immerhin ist ein
Teil der SPD kurz danach aufgewacht. Ende 2004 nach
einer Anhörung der Enquete-Kommission Ethik und
Recht in der modernen Medizin schrieben sie sich ein
verpflichtendes Studienregister plötzlich auf die Fahne.
Erreicht haben wir Grüne damals nur einen kleinen
Schritt in die richtige Richtung. Den Ethik-Kommissio-
nen wurde ein indirekter Zugang zur europäischen Da-
tenbank EudraCT ermöglicht. Mit § 42 Abs. 2 a AMG
wurde das BfArM oder PEI verpflichtet, die zuständigen
Ethikkommissionen zu unterrichten, wenn Informatio-
nen insbesondere zu abgebrochenen oder vorzeitig be-
endeten klinischen Prüfungen vorliegen, die für die Be-
wertung der beantragten Studie von Bedeutung sind.
In der letzen Wahlperiode forderten dann Abgeord-
nete der Regierungskoalition, versteckt im Antrag
„Nichtkommerzielle klinische Studien in Deutschland
voranbringen“, von ihrer eigenen Regierung ein natio-
nales Register und eine Erleichterung des öffentlichen
Zugangs zu nationalen und europäischen Registern für
klinische Studien. Der politische Wille einiger Koali-
tionsabgeordneten war da, aber es fehlte ihnen die poli-
tische Macht zur Durchsetzung.
Im Interesse der Patientinnen und Patienten, der Ärz-
tinnen und Ärzte und der Forscherinnen und Forscher
sollten wir als Parlament geschlossen fordern, dass
diese Bundesregierung endlich wirklich aktiv wird und
längst Überfälliges umsetzt. Sie sollte sich nicht mit dem
Verweis darauf, dass für Arzneimittel die europäische
Datenbank EudraCT in Zukunft in Teilen öffentlich zu-
gänglich ist, drücken. Denn EudraCT hat ein zentrales
Manko: Es fehlen Informationen zu den Studienergeb-
nissen. Für Medizinprodukte und alle anderen medizini-
schen Studien sieht die Situation viel düsterer aus. Ein
erster Silberstreifen am Horizont ist das freiwillige
Deutsche Register Klinischer Studien. Jedoch deuten die
ersten Zahlen der dort registrierten Studien darauf hin,
dass mit einer Freiwilligkeit, selbst wenn die Registrie-
rung eine Voraussetzung für eine Publikation in Fachor-
ganen ist, bei weitem keine Vollständigkeit erzielt wer-
den kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/893 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Ge-
sundheit, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung.
Wir stimmen zunächst über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke ab, das heißt Federführung
beim Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol-
genabschätzung. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Er ist damit
abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen,
nämlich Federführung beim Ausschuss für Gesundheit.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvor-
schlag ist angenommen. Das heißt, die Federführung
liegt beim Ausschuss für Gesundheit.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Klaus Ernst, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entfristung der freiwilligen Weiterversicherung in
der Arbeitslosenversicherung
- Drucksache 17/1141 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Freiwillige Arbeitslosenversicherung für
Selbstständige entfristen und ausbauen
- Drucksache 17/1166 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegen
zu Protokoll gegeben: Paul Lehrieder, Gabriele
Lösekrug-Möller, Johannes Vogel, Sabine Zimmermann
und Brigitte Pothmer.
Bevor ich auf den Gesetzentwurf der Linken und den
Antrag der Grünen eingehe, möchte ich kurz etwas zum
Gegenstand der Initiativen sagen, die wir heute hier debattieren, der freiwilligen Arbeitslosenversicherung.
Seit dem 1. Februar 2006 können sich bestimmte Gruppen von Selbstständigen nach § 28 a SGB III freiwillig
in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung weiterversichern. Voraussetzung dafür ist, dass die selbstständige
Tätigkeit mehr als 15 Stunden wöchentlich umfasst, dass
der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor
Beginn der Selbstständigkeit mindestens zwölf Monate
in einem Versicherungspflichtverhältnis gestanden oder
eine Entgeltersatzleistung bezogen hat. Wichtig ist auch,
dass unmittelbar vor Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat
oder eine Entgeltersatzleistung bezogen wurde und dass
der Antrag auf freiwillige Weiterversicherung spätestens
innerhalb eines Monats nach Aufnahme der selbstständigen Tätigkeit gestellt wird. Für die einen erhöht sich
dadurch die Dauer eines möglichen Anspruchs auf Arbeitslosengeld. Für die anderen wird der Antrag auf
ALG II und die damit verbundene unangenehme Bedürftigkeitsprüfung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Zweck der freiwilligen Weiterversicherung ist es, Arbeitslosen, die sich selbstständig machen, um ihre Arbeitslosigkeit zu beenden, die Angst zu nehmen, bei einem Scheitern der Existenz sozial schlechter zu stehen
als zuvor. § 28 a SGB III stellt deshalb sicher, dass sie
den bereits erworbenen Versicherungsschutz durch eine
Weiterversicherung aufrechterhalten können.
Gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 SGB III endet das Versicherungspflichtverhältnis von Selbstständigen und Arbeitnehmern, die vorübergehend im Ausland außerhalb
der EU oder EU-assoziierten Staaten tätig sind, spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2010. Dann stünde ab
2011 nicht nur Neugründern die Möglichkeit der freiwilligen Arbeitslosenversicherung nicht mehr zur Verfügung, sondern auch bereits Versicherte nach § 28 a
SGB III könnten in der Folge die Arbeitslosenversicherung nicht weiterführen. In ihrem Gesetzentwurf fordern
die Linken deshalb, die bestehende Möglichkeit zur freiwilligen Weiterversicherung schnell zu entfristen und
diese auch für die langjährig Selbstständigen zu öffnen
und für solche, die vorher Leistungen nach dem SGB II
bezogen haben.
Wie schade, dass Sie nicht gründlich recherchiert haben, bevor Sie Ihren Entwurf zu Papier brachten! Dann
würden Sie nämlich die Antwort der Bundesregierung
vom 18. Februar dieses Jahres auf eine Kleine Anfrage
der Grünen kennen, Drucksache 17/749. Dort teilte die
Bundesregierung mit, dass sie „prüft, ob die freiwillige
Weiterversicherung über den 31. Dezember 2010 hinaus
fortgeführt werden soll. Bei dieser Prüfung wird sie
auch die bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen
Weiterversicherung berücksichtigen. Die Beratung innerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen.“ „… Vor dem Hintergrund der Veränderung in den
Erwerbsbiographien beurteilt die Bundesregierung die
bisherige Wirkung der freiwilligen Arbeitslosenversicherung positiv.“ Allerdings sei auch zu berücksichtigen, dass „die Förderung und Absicherung selbständig
Tätiger … eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft und
nicht nur der Beitragszahler zur Bundesagentur für Arbeit“ sei. Meine Damen und Herren von den Linken, ich
denke, diese Aussage spricht für sich. Sie hätten sich
also wirklich viel Arbeit sparen können.
Die Grünen wiederum haben einen reinen Schaufensterantrag abgeliefert. Die Antwort der Bundesregierung, datiert vom 18. Februar 2010, ist deutlich genug
und zufriedenstellend. Trotzdem preschen die Grünen
vor und unterstellen der Bundesregierung gewissermaßen Untätigkeit. Redlich ist das nicht. Ein einfacher Anruf im Bundesarbeitsministerium oder in unserer Fraktion hätte ausgereicht. Dann hätten wir Ihnen gerne
noch einmal bestätigt, dass innerhalb des Ministeriums
in Abstimmung mit anderen Ressorts an einer schnellstmöglichen Lösung gearbeitet wird. Im Laufe des normalen Gesetzgebungsverfahrens können Sie dort dann Ihre
Vorstellungen einbringen. Ihrem Vorwurf, die Bundesregierung versäume es, die Versicherungsoption zu verlängern, und nehme so die Verunsicherung der betroffenen Bevölkerung in Kauf, widerspreche ich entschieden.
Er ist durch nichts belegt. Im Gegenteil: Am 1. März dieses Jahres teilte das Bundesarbeitsministerium dem Onlinewirtschaftsportal „ad-hoc-news“ auf Anfrage mit:
„Die entsprechenden Rechtsänderungen, die auch die
bisherigen Erfahrungen mit der freiwilligen Weiterversicherung berücksichtigen, werden zurzeit erarbeitet“.
Eine Leserin hat diese Nachricht daraufhin wie folgt
kommentiert: „Das sind wirklich gute Neuigkeiten …
aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen, dass diese
Möglichkeit der Weiterversicherung ein wichtiger unterstützender Faktor bei der Entscheidung ist, die Arbeitslosigkeit durch den Schritt in die Selbständigkeit zu
beenden - vor allem, wenn es Familienväter und -mütter
sind, die eine Gründung erwägen. Das ist ein wichtiges
Stück Basis-Absicherung für Selbständige!“ Eine weitere Leserin schreibt: „Auch ich bin erleichtert, dies zu
hören! Die Arbeitslosenversicherung gibt mir die nötige
Sicherheit, mir keine Sorgen machen zu müssen, was
passiert, wenn das Geschäft einmal am Ende sein sollte
und man darüber nachdenken muss, aufzugeben.“ Verunsicherung sieht anders aus.
Wie Sie alle wissen, messen wir, misst die Bundesregierung der unternehmerischen Selbstständigkeit und
der Gründung von Unternehmen einen sehr hohen Stellenwert für unsere Volkswirtschaft bei. Es ist deshalb
auch unser Ziel, die steuerlichen und investiven Rahmenbedingungen für Selbstständige und mittelständische Unternehmen zu verbessern, deren Finanzierungsmöglichkeiten zu erweitern, bürokratische Hemmnisse
systematisch und nachhaltig abzubauen und eine neue
Gründerdynamik anzustoßen. Deshalb hat die Bundesregierung am 25. Januar 2010 die Initiative „Gründerland Deutschland“ gestartet, um einen Mentalitätswandel und ein gesellschaftliches Klima zu fördern, das
Unternehmergeist und die Lust auf Selbstständigkeit fördert. Gründungen stehen für die Schaffung von Neuem,
für Kreativität und unternehmerische Freiheit. Sie tragen wesentlich zum Innovationsgeschehen und zum
Strukturwandel unserer Volkswirtschaft bei.
Lassen Sie mich dazu aus dem Koalitionsvertrag zitieren:„Wir werden die Förderprogramme für Gründungen und Gründungsfonds sowie für die Betriebsnachfolgen zusammen mit der Wirtschaft stark ausbauen,
bessere Rahmenbedingungen für Chancen- und Beteiligungskapital schaffen und für ein Leitbild der unternehmerischen Selbständigkeit werben.
Wir wollen junge, innovative Unternehmen von unnötigen Bürokratielasten befreien, um Gründungen zu erleichtern und intensiv zu fördern.
Wir werden einen High-Tech-Gründerfonds II als Public-Private Partnership auflegen, der auf den Erfahrungen des ersten Fonds aufbaut. Darüber hinaus wollen wir dringend benötigtes privates Kapital für
deutsche Venture Capital Fonds mobilisieren, indem wir
institutionellen Investoren eine anteilige Garantiemöglichkeit zur Risikoabsicherung ihrer Fondseinlagen anbieten.
Wir werden das Umfeld für die Tätigkeiten von Business Angels in Deutschland verbessern. Wir wollen das
Angebot von Mikrokrediten ausweiten, insbesondere für
Gründer und Kleinunternehmer.
Wir wollen Gründern nach einem Fehlstart eine
zweite Chance eröffnen. Dazu wird die Zeit der Restschuldbefreiung auf drei Jahre halbiert. Der Pfändungsschutz für die private Altersvorsorge im Insolvenzfall
verringert das Risiko der Altersarmut für Selbständige
deutlich. Wir werden deshalb die Pfändungsfreigrenzen
für die Altersvorsorge Selbständiger regelmäßig anpassen.“
Last, but not least werden wir die Aufgeschlossenheit
der Schulen für Projektarbeit zum Thema „Selbstständigkeit“ und zum Üben des „Gründens und Führens“ eines Unternehmens erhöhen. Hierfür werden wir unter
Federführung des BMWi die Initiative „Unternehmergeist in die Schulen“ weiter stärken. Wir werden die
BMWi-unterstützten Maßnahmen JUNIOR und Deutscher Gründerpreis für Schüler zusammen mit den Projektverantwortlichen weiter ausbauen. Beschäftigungspolitisch tritt eine Sologründung an die Stelle einer
abhängigen Beschäftigung oder bietet einen Weg aus
der Arbeitslosigkeit. Damit trägt sie zur Entlastung des
Arbeitsmarktes bei und bietet mittelfristig die Chance
auf das Angebot zusätzlicher Arbeitsplätze. Vor allem
innovative Gründungen schaffen zahlreiche neue und
nachhaltige Arbeitsplätze.
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Finanzkrise
und der damit verbundenen Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt ist eine verstärkte Nachfrage nach dem Gründungszuschuss, der Mitte 2006 den
Existenzgründungszuschuss und das Überbrückungsgeld abgelöst hat, nicht unwahrscheinlich. Die Gründung einer selbstständigen Existenz ist als Alternative
zur Arbeitslosigkeit nach bisherigen Erfahrungen
durchaus attraktiv. Aus der Perspektive der Sozialversicherungsträger ist es wünschenswert, dass Gründerinnen und Gründer auch als Arbeitgeber tätig werden dies gilt besonders für Gründungen, die mit Mitteln der
Arbeitslosenversicherung unterstützt werden.
Von Ludwig Erhard stammen die Worte: „Ich will
mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des
Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, daß ich dazu in
der Lage bin.“
In diesem Sinne hat meine Fraktion immer Politik im
Sinne der Selbstständigen gemacht. Darin bleiben wir
uns treu. Deshalb lehnen wir Ihre Initiativen, liebe Kollegen von den Grünen und den Linken, guten Gewissens
ab.
„Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
gab es bisher nicht. Ab dem 1. Februar 2006 können
Existenzgründer einen freiwilligen Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zahlen. Somit besteht die Möglichkeit, im Falle der Aufgabe des Unternehmens einen
Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erhalten oder aufzubauen,“ so können es Gründungswillige auf der Homepage www.gruenderlexikon.de lesen.
Ja, vor dem 1. Februar 2006 gab es diese Möglichkeit
gar nicht! Also schon vor fünf Jahren haben die Sozialdemokraten erkannt, dass wir Selbstständigen vom Start
an ein solidarisches Angebot zu Risikoabsicherungen
machen müssen. Und wir haben entsprechend gehandelt. Wenn Gelb-Schwarz heute das Lied „Deutschland
muss wieder ein Gründerland werden“ intoniert, dann
wissen die Kundigen: Neu ist weder die Melodie noch
der Text.
Warum ist die Weiterentwicklung dieses Grundgedankens der solidarischen Risikoabdeckung für Gründer
und Selbstständige uns Sozialdemokraten so wichtig?
Für abhängig Beschäftigte kämpfen wir für einen gesetzlichen Mindestlohn. Für Frauen streiten wir für
„equal pay“. Für Leiharbeit fordern wir das Ende des
Missbrauchs. Und für jene, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, brauchen wir das Angebot eines umfassenden Konzeptes der solidarischen Absicherung.
Daran arbeiten wir Sozialdemokraten. Vier Fallbeispiele zeigen die Notwendigkeit: Beispiel eins: der junge
Freelancer! Kreativ, engagiert und in der Zukunft zu
Zu Protokoll gegebene Reden
Hause. Kurze Zeit war er angestellt, und dann wurde
ihm der Rahmen zu eng. Dank unserer Initiative kann er
freiwillig die Arbeitslosenversicherung nutzen. Das ist
gut, und deshalb sind auch wir Sozialdemokraten, wie
Grüne und Linke, für die Entfristung dieser Regelung.
Beispiel zwei: Die junge Soloselbstständige! Mutig
und erfolgreich. Sie geht in die Selbstständigkeit, nachdem mit Ablauf der Elterngeldzeit faktisch keine Perspektive für angestellte Tätigkeit und Familienarbeit bestand. Auch für sie besteht die Möglichkeit der
freiwilligen Versicherung in der Arbeitslosenversicherung. Auch für sie wird es richtig sein, wenn wir die Befristung dieser Regelung aufheben.
Beispiel drei: Der Langzeitarbeitslose! Viele Jahre
hart gearbeitet. Dann ging die Firma baden. Jahrelang
beworben und abgelehnt, qualifiziert und doch fünf
Jahre lang keinen Job bekommen, will er nicht länger
Grundsicherungsempfänger sein und hat sich für Selbstständigkeit entschieden. Mit guter Beratung, solidem
Businessplan und viel Tatkraft legt er los - und hat keinen Anspruch auf freiwillige Versicherung in der Arbeitslosenversicherung. Seine Pflichtversicherungszeiten liegen zu lange zurück!
Beispiel vier: Hochschulabsolventin Umwelttechnologie, möchte sich als Beraterin selbstständig machen,
Gründerin, wie wir das alle möchten. Sie hat derzeit
keine Möglichkeit, Beitragszahlerin in der Arbeitslosenversicherung zu werden; denn sie hat noch nie in einem
„Pflichtversicherungsverhältnis nach SGB III“ gestanden, wie es § 28 a SGB III verlangt. Wie auch?
Diese gegriffenen vier Beispiele zeigen, dass es um
mehr gehen muss als um die Entfristung des § 28 a
SGB III. Wir wissen, die Bundesregierung „prüft“. Das
könnte eine gute Nachricht sein, wüssten wir nicht, wie
viele Prüfaufträge bei Gelb-Schwarz auf dem Tisch liegen. Allein bei der Frau Ministerin für Arbeit und Soziales stapeln sie sich in gefährlicher Höhe. Deshalb
begrüßen die Sozialdemokraten Antrag und Gesetzesentwurf als Merkposten für die Regierung, den Prüfauftrag unten aus dem Stapel zu ziehen und zu handeln.
Also nicht über das Gründerland Deutschland philosophieren, sondern konkret Verbesserungen erarbeiten.
Dann würde zügig aus der „Nichtregierungsorganisation Merkel“ ein handlungsfähiges Kabinett. Ich höre
allerdings den berechtigten Einwand: Würde denn die
FDP mitmachen? Wir wissen es nicht. Zumindest lässt
sich feststellen, dass der „Kollisionsvertrag“ hier keine
Kommission ins Leben gerufen hat. Es könnte also klappen.
Zurück zur freiwilligen Weiterversicherung Selbstständiger in der Arbeitslosenversicherung. Nicht nur
dank der minutiösen Vorarbeit der Grünen zu ihrem Antrag - sie haben sich die Details dafür über die Antwort
der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage geholt wissen wir, dass seit 2006 die Zahl der Anträge - und
Bewilligungen - stetig gestiegen ist: Waren es 2006 erst
88 000 Anträge, so sind es 2009 schon über 94 000. Dieser Aufwuchs spiegelt sich auch in den Einnahmen der
Arbeitslosenversicherung wider: Waren es 2006 circa 18
Millionen Euro, so flossen 2009 bereits mehr als
33 Millionen Euro.
Ich lade Sie von den Grünen und Linken ebenso wie
Sie als Mitglieder der Mehrheit zu mehr Mut ein, mehr
Mut, so wie wir es von jenen „Gründern“ erwarten. Unser Mut kann sich entfalten an einem umfassenden Angebot solidarischer Risikoabdeckung. Über Arbeitslosigkeit hinaus müssen unsere Angebote an diesen immer
größer werdenden Personenkreis besser werden. Gebrochene Erwerbsbiografien, Wechsel zwischen selbstständiger und abhängiger Beschäftigung, Phasen von Qualifizierung und Weiterbildung, Vereinbarkeit von Familie
und Beruf, Absicherung von Übergängen: Von uns fordert das, Brücken über Lücken zu bauen. Wir arbeiten
deshalb an einem umfassenden Konzept, das Gründerinnen und Soloselbstständige in Alterssicherung, Krankenversicherung und Arbeitsversicherung einbezieht.
„Nur wer verlässliche Perspektiven in seinem Leben
hat, kann seine Talente und seine Leistungsfähigkeit voll
entfalten.“ So haben wir Sozialdemokraten in unserem
Hamburger Programm die von uns gewollte Sicherheit
im Wandel beschrieben, daran richten wir unsere Politik
aus.
Wir debattieren heute zwei so gut wie inhaltsgleiche
Vorlagen, einen Antrag der Fraktion der Grünen und einen Gesetzentwurf der Linken. Sie beziehen sich jeweils
auf den § 28 a SGB III, also auf die Möglichkeit der freiwilligen Arbeitslosenversicherung für Selbstständige.
Das ist gerade für uns Liberale ein wichtiges Thema,
weil wir stärker als alle anderen im freien, unternehmerischen Handeln einen Stützpfeiler unseres Wohlstands
sehen und einen wichtigen Ausdruck der freien Persönlichkeitsentfaltung. Ich bin froh, dass es FDP und CDU/
CSU seit dem Regierungsantritt gelungen ist, bereits einige wichtige gesetzliche Erleichterungen für Selbstständige und mittelständische Unternehmen vorzunehmen. Allerdings sind wir hier noch nicht am Ziel.
Steuerliche Rahmenbedingungen und bürokratische Behinderungen erschweren nach wie vor den Eintritt in die
Selbstständigkeit. Das Ziel, Deutschlands Gründerkultur mit neuen Impulsen zu versehen, verlieren wir nicht
aus den Augen. Gerade in der Jahrhundertkrise, in der
wir uns befinden, müssen wir uns Gedanken machen, die
auch den Wandel am Arbeitsmarkt reflektieren. Dabei
steht völlig außer Frage, dass der Schritt in die Selbstständigkeit ein individuelles Risiko beinhaltet, das wir
als Gesetzgeber achten sollten.
Die bestehende Regelung zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung läuft nun Ende des Jahres aus, sodass
zweifellos ein gewisser Handlungsdruck gegeben ist. Allerdings befinden wir uns im März, und da stellt sich
schon die Frage, ob der Alarmismus, der mitunter aus
ihren Anträgen spricht, wirklich angezeigt ist. Schauen
wir uns die Gesetzeslage doch einmal etwas genauer an.
Momentan muss der Antrag auf Aufnahme in die Arbeitslosenversicherung binnen Monatsfrist nach Beginn
der Selbstständigkeit erfolgen. Mit Interesse nehme ich
zur Kenntnis, dass weder die Linke noch die Grünen an
Zu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
dieser bestehenden Fristenregelung etwas ändern wollen. Ja, da frage ich Sie doch: Warum müssen wir dann
jetzt, also im ersten Quartal des Jahres 2010, etwas an
einer Regelung ändern, die ohnehin immer nur im Folgemonat Wirkung entfaltet. Es besteht doch überhaupt
kein Grund zur Hast. Niemand, der jetzt oder auch noch
im nächsten halben Jahr in die Selbstständigkeit geht,
muss dies in Rechtsunsicherheit tun.
Ebenfalls ist es wichtig, nicht leichtfertig den Zeitraum zu beschränken, in dem wir als Gesetzgeber Erfahrungen mit der jetzigen Regelung machen können. Erst
seit Februar 2006 besteht überhaupt die Möglichkeit der
freiwilligen Arbeitslosenversicherung. Handelten wir
schon jetzt, würden wir - ich betone es noch einmal - die
aktuelle Situation der Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht verbessern oder verschlechtern. Wir würden
uns aber die Möglichkeit nehmen, im Verlauf des Jahres
weitere Erfahrungen mit der Regelung zu sammeln, und
wir würden uns die Möglichkeit nehmen, die bisherigen
Erfahrungen mit der nötigen Sorgfalt aufzuarbeiten.
Zum Beispiel sollte man abwarten, ob die zwischen 2008
und 2009 nach oben geschnellte Zahl der Antragsteller
im Jahresverlauf wieder abnehmen wird oder nicht und
die Ursachen der Schwankungen analysieren. Ein zentrales Element der aktuellen Regelung ist in meinen Augen jedoch die Freiwilligkeit. Es kann nämlich gerade
nicht darum gehen, ein neues Zwangsinstitut zu begründen. Genau dies scheinen aber Sie, verehrte Mitglieder
der Linksfraktion, im Sinn zu haben. Beinahe unschuldig
schildern Sie in der Problemanalyse Ihres Gesetzentwurfs, dass „die vorhandene Regelung ein erster Schritt
hin zu einer Einbeziehung der Selbstständigen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung“ sei. Nein, genau
das ist es nicht. Um es ehrlich zu sagen: Bei Ihnen habe
ich so meine Zweifel, ob es Ihnen mehr um die spezifische Situation der Selbstständigen geht oder ausschließlich um die Arbeitslosenversicherung an sich.
Der Antrag der Grünen wiederum geht über die Initiative der Linken hinaus. Während die Linke allein eine
Entfristung vorsieht, also das Gesetz in seiner bestehende Form unverändert lässt, schlagen Sie eine inhaltliche Änderung vor. Zugang zur freiwilligen Arbeitslosenversicherung sollen auch diejenigen Selbstständigen
erhalten, die sich unmittelbar nach Ende ihrer Ausbildung oder ihres Studiums unternehmerisch betätigen,
wie auch alle die, die aus der Grundsicherung heraus
ihr Unternehmen gründen. Gerade Ihnen müsste es also
einsichtig sein, dass eine genaue Evaluation des Gesetzes und seiner Folgen unablässig ist, wollte man den
Kreis der Anspruchsberechtigten so weit ausdehnen, wie
sie es vorhaben.
Um es abzukürzen: Die FDP-Fraktion hält wenig von
Ihrem Gesetzentwurf bzw. Ihrem Antrag. Das heißt
nicht, dass wir nicht grundsätzliche Sympathie für das
Instrument der freiwilligen Arbeitslosenversicherung
hegen würden. Gerade weil dies aber so ist, verbieten
sich Schnellschüsse. Es ist noch ausreichend Zeit vorhanden, um die Entfristung oder auch eine Modifikation
vorzunehmen. Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass
die jetzige Regelung stark an den alten Ich-AGs orientiert war und dass wir auch hier prüfen müssen, ob sie
sich auch unter gewandelten Bedingungen einfach so
fortführen lässt.
Abschließend möchte ich aber noch einmal ausdrücklich festhalten, dass wir die freiwillige Arbeitslosenversicherung positiv bewerten. Für uns geht es darum, den
Menschen den Schritt in die eigene Existenzsicherung so
leicht wie möglich zu machen. Die freiwillige Arbeitslosenversicherung kann hierzu einen wichtigen Beitrag
leisten. Deshalb prüft die Koalition äußerst wohlwollend ihre Fortführung und wird rechtzeitig handeln.
Um es Zehntausenden Selbstständigen zu ermöglichen, sich weiterhin freiwillig in der Arbeitslosenversicherung zu versichern, bringt die Linke heute den vorliegenden Gesetzentwurf ein; denn die geltende Regelung
läuft zum Jahresende aus. Worum geht es? Wer heute
den Schritt in die Selbstständigkeit macht, kann sich unter bestimmten Bedingungen freiwillig in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung weiter versichern. Diese
Regelung gilt für diejenigen, die zuvor einen bestimmten
Zeitraum in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt
oder eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosengeld I bezogen haben. Um es gleich zu sagen: Die Linke
könnte sich eine weitergehende Lösung vorstellen, etwa
dass auch langjährige Selbstständige Zugang zur Arbeitslosenversicherung bekommen, Menschen, die sich
nach dem Studium selbstständig machen, oder Menschen, die zuvor Leistungen nach dem SGB II bezogen
haben. Dennoch: Die vorhandene Regelung ist ein erster Schritt hin zu einer Einbeziehung der Selbstständigen in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Allein
im letzten Jahr sind Anträge von fast 90 000 Selbstständigen zur freiwilligen Weiterversicherung bewilligt worden.
Es ist umso schlimmer, dass die Bundesregierung kein
klares Signal für die Verlängerung dieser Regelung gibt.
Wenn die Politik nicht handelt, läuft nach vorliegender
Rechtslage die derzeitige Regelung zum 31. Dezember
dieses Jahres aus. Im letzten Monat hat die Arbeitsministerin Frau von der Leyen eine Verlängerung in Aussicht gestellt. Nun heißt es von der Bundesregierung lediglich, sie prüfe eine Verlängerung, keine Aussage
darüber, wann sie ihre Entscheidung treffen will, geschweige denn nach welchen Kriterien. Offensichtlich
gibt es Teile dieser Regierung, die es nicht gerne sehen,
dass die Arbeitslosenversicherung ausgebaut wird.
Menschen machen sich aus sehr unterschiedlichen
Motiven selbstständig. Wenn die Politik sie dazu ermuntert, kann sie die Frage nach ihrer sozialen Absicherung
nicht unbeantwortet lassen. Eine Arbeitslosenversicherung für Selbstständige ist hier zentral. Denn Selbstständigkeit ist auch geprägt von unterbrochener Erwerbstätigkeit. Wenn es nicht möglich ist, sich gegen
Arbeitslosigkeit zu versichern, droht der sofortige Absturz in Hartz IV. Nicht allen Selbstständigen ist es möglich, für den Fall der Arbeitslosigkeit finanzielle Rücklagen zu bilden. Nicht wenige Soloselbstständige, also
Selbstständige ohne Beschäftigte, arbeiten zu prekären
Bedingungen, unsicher und mit Einkünften an der ArZu Protokoll gegebene Reden
mutsgrenze. Seit Jahren wächst die Zahl der Selbstständigen, die auf das Arbeitslosengeld II angewiesen sind.
Die Linke bringt den vorliegenden Gesetzentwurf ein,
weil es gilt, schnell zu handeln. Die Betroffenen brauchen Planungssicherheit. Menschen rufen bei mir im
Büro an, weil sie wissen wollen, wie es weitergeht. Ich
weiß, dass Gleiches für die Bundesagentur für Arbeit
gilt. Die zögerliche Haltung der Bundesregierung ist
nicht vertretbar. Die Linke plädiert darüber hinaus, in
einem nächsten Schritt zu prüfen, wie der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet werden kann. Nun ist
die Bundesregierung gefragt.
Ein Unternehmen zu gründen, sich selbstständig zu
machen, das erfordert Mut, Kreativität und Tatkraft.
Trotz der Krise haben 2009 wieder mehr Menschen in
Deutschland den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt. Das ist auch gut so; denn so können neue Geschäftsfelder und zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.
Aber der Gründungsboom in Deutschland erfolgte vor
allem durch die wachsende Zahl der Soloselbstständigen. Von den über 4 Millionen Selbstständigen beschäftigen mehr als zwei Millionen keine Angestellten. Im
letzten Jahr wurden 293 000 solcher Kleinunternehmen
gegründet. Diese neuen Selbstständigen sind meist keine
Ärzte oder Juristen, sondern es sind Medien- und Kulturschaffende, Hausmeister oder Raumpflegerinnen.
Auch im Bausektor nimmt der Trend zur Soloselbstständigkeit rasant zu, seitdem es in etlichen Handwerksberufen auch für Gesellen möglich wurde, als Einzelunternehmer zu arbeiten. Viele dieser neuen Selbstständigen
sind nach den Kriterien des Statistischen Bundesamtes
armutsgefährdet. Während 2008 circa 6 Prozent aller
Erwerbstätigen von Armut bedroht waren, lag die Armutsgefährdung der Soloselbstständigen mit 10,4 Prozent deutlich darüber. Diese Zahlen müssen uns ein Ansporn dafür sein, die soziale Absicherung all derjenigen,
die den Weg in die Selbstständigkeit wählen, zu verbessern und sie bei ihrem Wagnis so gut wie möglich zu
schützen.
Sie schreiben sich immer ganz groß auf die Fahnen,
dass Sie die Gründerinnen und Gründer in Deutschland
unterstützen wollen. „Deutschland muss wieder zum
Gründerland werden“, so lautet Ihr Slogan. Wenn man
Ihre Politik für die neuen Unternehmerinnen und Unternehmer aber nicht an Ihren Worten, sondern an Ihren
Taten misst, dann ist das Ergebnis mehr als dürftig. Sie
wissen doch genau, dass die Option für die Selbstständigen, sich in der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung
freiwillig weiterzuversichern, am 31. Dezember dieses
Jahres endet. Und Sie wissen doch auch, dass es diese
Option bisher nur für einen bestimmten Kreis von Gründerinnen und Gründern gibt. Für diejenigen, die nach
ihrem Hochschulabschluss oder aus dem Grundsicherungsbezug heraus gründen, gibt es diese Möglichkeit
nicht. Zwar erklärt das Arbeitsministerium auf Presseanfragen seit neuestem, dass etwas getan werden soll,
um den Selbstständigen auch über 2010 hinaus einen
Versicherungsschutz in der Arbeitslosenversicherung zu
ermöglichen. Aber wo bleiben die Initiativen, dies rechtzeitig gesetzlich neu zu regeln?
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
Anfrage zur freiwilligen Weiterversicherung für Selbstständige in der Arbeitslosenversicherung macht doch
klar: Die Arbeitslosenversicherung für Selbstständige
ist ein voller Erfolg. Hunderttausende Selbstständige
zahlen inzwischen in die Arbeitslosenversicherung ein.
Das Beitragsvolumen der Selbstständigen lag 2009 bei
nahezu 33 Millionen Euro. Lediglich 4 968 Menschen
haben im November 2009 Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung für Selbstständige in Anspruch genommen. Angesichts dieser Zahlen kommt sogar die Bundesregierung selbst nicht umhin, die bisherige Wirkung der
freiwilligen Arbeitslosenversicherung positiv zu bewerten. Positiv bewerten reicht nicht. Sie müssen dazu auch
Beschlüsse fassen.
Wir Grüne jedenfalls fordern Sie auf, diese Arbeitslosenversicherungsoption für Selbstständige zu entfristen
und auch für diejenigen zu öffnen, die nach einem Hochschulabschluss oder aus der Grundsicherung heraus ein
Unternehmen gründen. Das ist ein wirksamer Beitrag,
um die neuen Selbstständigen besser vor Armut zu
schützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1141 und 17/1166 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei
- Drucksache 17/1101 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen und
Kolleginnen Dr. Wolfgang Götzer, Uta Zapf, Serkan
Tören, Sevim Dağdelen und Claudia Roth.
Bereits in der letzten Wahlperiode hat die Linkspartei
einen Antrag zu diesem Thema vorgelegt. Auch wenn der
heute zur Debatte stehende Antrag demgegenüber
leichte Änderungen aufweist, hat auch dieser einen gravierenden Mangel: Er greift bewusst nur ein einzelnes
Problem der Türkei auf und blendet weiterhin gezielt andere aus. Auch der jetzige Antrag ist deshalb zu einseitig
und zu kurzsichtig - so wie es schon der Antrag der
Linkspartei in der letzten Wahlperiode war.
Es ist zwar zutreffend, dass in der Türkei die Rechte
der Gewerkschaften unzureichend und die gewerkschaftliche Betätigung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nach wie vor eingeschränkt sind. So gibt es
für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer praktisch keine Vereinigungsfreiheit. Streikrecht und Tarifverhandlungsrecht sind für zahlreiche Arbeitnehmergruppen stark beschnitten, insbesondere für Angestellte
im öffentlichen Dienst. Zudem wird die Mitgliedschaft in
einer türkischen Gewerkschaft gegenüber vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als Kündigungsgrund
seitens des Arbeitgebers benutzt.
Die Situation der türkischen Gewerkschaften ist aber
kein isoliertes Problem. Vielmehr müssen wir konstatieren, dass in der Türkei noch immer große Demokratiedefizite auf vielen Gebieten auch nach fast 5-jährigen
Beitrittsverhandlungen bestehen. Deshalb möchte ich an
dieser Stelle noch einmal betonen, dass die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU
nach wie vor nicht gegeben sind und wir diese deshalb
unverändert ablehnen.
Die politischen Bedingungen, die nach dem Beschluss des Europäischen Rates vom Dezember 1993 eigentlich vor der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
erfüllt sein müssten, liegen im Falle der Türkei noch immer nicht vor. So ist in der Türkei nicht nur das Gewerkschaftsrecht unterentwickelt, sondern es gibt gravierende Defizite in der Gewährung von Grundrechten,
insbesondere im Bereich der Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit sowie bei der Unabhängigkeit der Justiz.
Ich möchte noch einmal betonen: Die Antragsteller
greifen ein einzelnes Problem auf, ohne die Lage der
Türkei insgesamt zu beleuchten. Eine isolierte Behandlung eines Aspektes greift aber zu kurz. Dass in der Türkei nach wie vor in vielen Bereichen gravierende Demokratiedefizite bestehen, möchten die Linken aber nicht
klar beim Namen nennen. Ich habe allerdings auch nicht
erwartet, dass ausgerechnet die Partei, in der nach wie
vor ehemalige SED-Mitglieder tonangebend sind, für
die umfassende Durchsetzung demokratischer Rechte
eintreten würde.
Dabei könnte der Zeitpunkt dafür kaum besser sein.
Denn derzeit ringen die Türken um eine Verfassungsreform. Die Verfassung von 1980 wurde zwar seit ihrem
Inkrafttreten 1982 mehrfach überarbeitet, ist aber noch
immer in ihrem Rechts- und Freiheitsverständnis von
europäischen Normen weit entfernt. Zwar finden sich in
dem aus 177 Artikeln bestehenden Werk alle üblichen
Grundrechte, wie etwa die Meinungs- und Pressefreiheit, die Religionsfreiheit oder der Schutz des Privatlebens. Doch viele dieser Grundrechte werden im Text eingeschränkt oder in widersprüchliche Zusammenhänge
gestellt.
Faktisch ist es auch heute noch in der Türkei so, dass
- falls türkische Journalisten beispielsweise über den
Völkermord an den Armeniern oder kritisch über den
Ministerpräsidenten berichten - sie mit harten Konsequenzen rechnen müssen.
Laut Art. 2 der türkischen Verfassung ist die Türkei
zwar ein demokratischer Rechtsstaat. De facto sind aber
beispielsweise einige Gruppen von Staatsbürgern nicht
einmal wahlberechtigt.
Darüber hinaus liegt die Sperrklausel bei Wahlen bei
10 Prozent. Auch Direktmandate können nur wahrgenommen werden, wenn eine Partei insgesamt 10 Prozent
der Stimmen erhält. Darunter leidet insbesondere die
kurdische Minderheit. Grundsätzlich herrscht in der
Türkei Wahlpflicht, die jedoch gegen eine Strafgebühr
von circa 13 Euro umgangen werden kann.
All diese Regelungen widersprechen grundlegend unserem Demokratieverständnis.
Ein weiterer Punkt: Rein rechtstheoretisch gesehen
herrscht in der Türkei Gleichberechtigung. Doch auch
die Geschlechtergleichheit findet sich in der türkischen
Verfassung in einem ungewöhnlichen Zusammenhang:
„Die Familie ist die Grundlage der türkischen Gesellschaft und beruht auf der Gleichheit von Mann und
Frau“.
Die Gleichheit von Mann und Frau wird also primär
als Teil des türkischen Familienverständnisses und nicht
als eigenständige Rechtnorm betrachtet. Solche Formulierungen sind nicht mit unserem europäischen Rechtsverständnis in Einklang zu bringen. Vor allem aber
rechtstatsächlich kann man kaum von einer Gleichstellung von Mann und Frau sprechen. In vielen Regionen
gibt es eine eklatante Benachteiligung, ja teilweise Unterdrückung von Frauen.
Einen weiteren wichtigen Punkt möchte ich nennen:
In der Türkei ist bis heute das Recht auf freie Religionsausübung nicht gewährleistet. Nach wie vor haben
Christen und andere religiöse Minderheiten mit äußerst
schwierigen Bedingungen zu kämpfen. Nicht nur, dass
man sie allein aufgrund ihrer Religion oft als Feinde der
Türkei und des Türkentums betrachtet, die AKP verweigert den Kirchen weiterhin die Anerkennung eines öffentlich-rechtlichen Status. Christliche Kirchen bangen
in der Türkei um ihre Existenz. Ministerpräsident
Erdoğan fordert mehr Rechte für Muslime in Deutschland - Christen in der Türkei aber können ihre Religion
nicht frei und ohne Furcht vor Repressalien ausüben.
Schon nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 hatte die
AKP unter Erdoğan eine neue Verfassung versprochen.
In diesem Zusammenhang erklärte der Ministerpräsident wiederholt, dass die Bewerbung um die Mitgliedschaft in der EU nur mit einer modernen Verfassung zum
Erfolg führen könne. Es wurden daraufhin zwar rasch
auf dem Papier Reformen des Zivil- und Strafgesetzbuches durchgeführt, eine neue Verfassung gab es jedoch
nicht. Eine von der Regierung bei Staatsrechtlern in Auftrag gegebene liberale Neufassung verschwand 2007 in
den Schreibtischen der Regierung. Stattdessen versandete die Verfassungsreform 2008 in einem Streit über
das islamische Kopftuch.
Zurzeit ringt man in Ankara erneut um eine liberalere
Verfassung. Die beiden Oppositionsparteien haben jedoch schon angedeutet, dass sie auf keinen Fall der
neuen Verfassung zustimmen werden - und die AKP verZu Protokoll gegebene Reden
fügt mit ihren 337 Sitzen im Parlament nicht über die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Deshalb soll die Verfassungsänderung nun mit einer Dreifünftelmehrheit
verabschiedet und anschließend per Volksabstimmung
gebilligt werden.
Ich möchte nicht verhehlen, dass ich Zweifel habe, ob
die Regierung wirklich einen grundsätzlichen Wandel
anstrebt oder ob es sich vielmehr nur um „Kosmetik“
handelt, um bei der EU den Eindruck zu erwecken, die
Türkei habe den ernsthaften Willen, eine Demokratie zu
werden so wie wir sie haben und verstehen. Fest steht:
Die Regierung Erdogan hat keines ihrer vielen Reformversprechen eingehalten.
Bei aller Kritik an der innenpolitischen Situation der
Türkei möchte ich an dieser Stelle aber nicht versäumen
zu erwähnen, dass die Türkei für die gesamte Europäische Union ein wichtiger Partner ist. Die Türkei ist nicht
nur ein wichtiger Handelspartner und Investitionsstandort, sondern sie ist auch unverzichtbar als Bindeglied
zwischen den europäischen Märkten und den Energie
exportierenden Ländern im Mittleren und Nahen Osten.
Darüber hinaus ist die Türkei ein wichtiges NATO-Mitglied und unverzichtbarer Mittler zwischen der westlichen und der islamischen Welt.
Mit dem heutigen Antrag hat Die Linke wieder einmal
bewiesen, dass sie keinerlei Interesse an einer seriösen
Europa- und Außenpolitik hat. Schon in der letzten Legislaturperiode haben wir den Antrag abgelehnt, weil er
zu einseitig war und nicht auf die Lage in der Türkei insgesamt, so wie ich sie eben angesprochen habe, einging.
Der neue Antrag weist die selben Mängel auf. Haben die
Antragsteller nichts dazugelernt? Verschließen sie einfach die Augen vor der Gesamtlage in der Türkei?
Ganz verborgen geblieben sind aber auch der Linken
die Probleme in der Türkei nicht, denn in dieser Woche
hat die Kollegin Sevim Dağdelen von der Fraktion Die
Linke einen Reisebericht vorgelegt, in dem sie zu dem
Ergebnis kommt, dass sich die Menschenrechtslage in
der Türkei 2009 im Vergleich zum Jahr 2008 verschlechtert habe. Dennoch sieht sich Die Linke nicht in der
Lage, dies auch in ihrem Antrag klar und deutlich anzusprechen.
Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Der Antrag der Linken spricht einen sensiblen Punkt
der türkischen Gesetzgebung bei den Gewerkschaftsrechten an. Dass es um die Gewerkschaftsrechte und die
Erfüllung der ILO-Standards, also die Einhaltung der
Kernnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, in
der Türkei nicht zum Besten steht, ist zwar bekannt, gerät aber immer mehr außerhalb der Aufmerksamkeit der
EU. Hatte noch im Oktober 2006 der damalige EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn kräftige Worte gewählt,
herrscht heute eher kleinmütiges Schweigen. Rehn damals: „Die Türkei muss sicherstellen, dass die vollen
Gewerkschaftsrechte respektiert werden und im Einklang stehen mit EU-Standards und der ILO-Konvention, insbesondere in Bezug auf das Recht, sich zu organisieren, zu streiken und kollektive Verhandlungen zu
führen. Deshalb muss die Türkei bestehende Einschränkungen beseitigen und eine völlig revidierte Gesetzgebung in diesem Bereich für den öffentlichen und privaten
Sektor vorlegen.“ Rehn forderte die Türkei in diesem
Zusammenhang auf, die entsprechende Gesetzgebung
unverzüglich einzuleiten. Das ist bis heute nicht geschehen. Die Türkei erfüllt in diesem Bereich die Kopenhagener Kriterien nicht.
Die türkischen Gewerkschaften haben nur einen sehr
geringen Handlungsspielraum. Die Rechte der Interessenvertreter der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen
sind äußerst begrenzt. In der Verfassung von 1982 und in
den Gewerkschaftsgesetzen von 1983 wurde eine Vielzahl von Hürden für die gewerkschaftliche Organisation
gesetzt, die weder mit den Standards der EU noch mit
der Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation
kompatibel sind. Das Recht, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu gründen, ist geregelt. Aber Gewerkschaften können nur auf Branchenebene gegründet
werden. Von den 93 existierenden Gewerkschaften sind
nur 53 tariffähig. Sie sind stark kontrolliert. Streiks können nur im Zuge von Tarifverhandlungen angewendet
werden; Warn- und Unterstützungsstreiks sind unzulässig.
Für das Recht zum Abschluss eines Tarifvertrages
müssen 50 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eines Betriebes in derselben Gewerkschaft sein.
Mindestens 10 Prozent der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen eines Wirtschaftssektors müssen der betreffenden Gewerkschaft angehören. Mitglieder müssen
ihre Mitgliedschaft notariell beglaubigen lassen, was
Kosten verursacht - ebenso bei Austritt aus der Gewerkschaft. Mitbestimmung in den Betrieben gibt es nicht;
Betriebsräte stellen eher die Ausnahme dar.
Die ILO-Kernarbeitsnormen - Vereinigungsfreiheit,
Beseitigung von Zwangsarbeit, Abschaffung von Kinderarbeit - werden nur rudimentär erfüllt. Insbesondere
die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit
ist ein großes Hindernis. Es gibt keine nennenswerten
Fortschritte bei den Arbeitnehmerrechten. Die Fortschrittsberichte der EU zur Türkei haben dies immer
wieder beklagt, aber mit abnehmender Lautstärke. Die
Eröffnung des Verhandlungskapitels 19 zu Sozialpolitik
und Beschäftigung stagniert, weil die türkische Regierung die Befassung des Parlaments mit den schwierigen
Fragen von Streikrecht in Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst sowie Zugangshürden für neue Gewerkschaften scheut. Die Verabschiedung ILO-konformer
Gesetze ist allerdings Voraussetzung für die Eröffnung
des Kapitels.
Nun wird der Türkei zwar eine funktionierende
Marktwirtschaft bescheinigt, aber das Gleichgewicht,
das in einer sozialen Marktwirtschaft erforderlich ist,
wo Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf gleicher Augenhöhe verhandeln können, fehlt. Dies ist umso bedenklicher, als die Privatisierung fortschreitet. Fehlende
Rechte der Arbeitnehmer führen zu sozialen Spannungen, zu Auseinandersetzung und zu Gewalt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag der Linken zielt auf den konkreten Fall
der ehemals staatlichen Monopolfirma Tekel ab. Mit erpresserischen Dumpingforderungen sollten die Arbeitnehmer unter Fristsetzung das Angebot der neuen privaten Besitzer annehmen oder ihren Arbeitsplatz verlieren.
Ein Gericht hat jetzt die Frist für ungültig erklärt. Aber
es geht eben nicht nur um diesen Fall, sondern um ein
gravierendes soziales Problem. Eine weitgehend rechtlose Arbeitnehmervertretung steht einem Prozess gegenüber, der von sinkenden Löhnen und einem wachsenden
informellen Sektor gekennzeichnet ist. Über die Hälfte
der Arbeitnehmer arbeitet nicht in einem registrierten
Arbeitsverhältnis.
Auch die Gewerkschaften haben einen Anteil an der
desolaten Situation. Untereinander zerstritten und misstrauisch, ziehen sie nicht an einem Strang. Ihre Kontakte
zur internationalen Arbeitsorganisation, ILO, bleiben
zwiespältig und oberflächlich. DISK, eine eher linke Gewerkschaft, zum Beispiel unterstützt offiziell den EUBeitritt, ist aber 2006 aus dem tripartistischen Dialog
der ILO ausgestiegen und hat sich aus Gremien wie dem
Europäischen Wirtschafts- und Sozialrat zurückgezogen. Die Kooperationsbereitschaft der verschiedenen
Gewerkschaften untereinander und mit der Regierung
ist durch ideologische Unterschiede und Konkurrenzdenken extrem erschwert. Auch die Kommunikation mit
anderen, neuen EU-Ländern zu diesen Fragen kommt
nicht in Gang.
Infolge eines zunehmend durch andere politische
Fragen gekennzeichneten Diskurses wird die EU nicht
als Anwalt von Arbeitnehmerrechten wahrgenommen.
Die EU wird als „Europa des Kapitals“ angesehen, was
nationalistischen Ressentiments Auftrieb gibt. Auch die
Wirtschafts- und Finanzkrise und ihre Folgen tragen
dazu bei. Die EU sollte sich auf ihren Anspruch als „Europa der Bürger“ besinnen und ihre Verantwortung für
die Arbeitnehmerschaft ernst nehmen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der
Fraktion die Linke „Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei“ ab. In diesem Antrag
wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Türkei einzusetzen und die Einhaltung der ILO-Konventionen für den
EU-Beitrittsprozess einzufordern. Konkret wird die Bundesregierung dazu angehalten, sich gegen eine angebliche Kriminalisierung der Tekel-Arbeiter einzusetzen, die
seit geraumer Zeit gegen Massenentlassungen, Privatisierungen und für existenzsichernde Mindestlöhne protestieren. So sollen rund 12 000 Beschäftigte des staatlichen türkischen Tabak-Monopols Tekel gegen ihre
betriebsbedingte Entlassung als Folge der Privatisierung protestieren. So sollen, nachdem die Tekel-Produktionsstätten an British American Tobacco verkauft wurden, landesweit 40 Lagerhäuser geschlossen werden.
Hierbei seien gemäß dem Antrag geltende Gesetze und
ILO-Bestimmungen über Betriebsübernahme missachtet
worden. Ferner wird in dem Antrag betont, dass am
15. Dezember aus vielen Teilen des Landes Tausende Tekel-Arbeiter mit Bussen nach Ankara angereist seien.
Die Tekel-Mitarbeiter würden ihre Rechte als Beamte
verlieren, weil der ehemals staatliche Tabakkonzern British American Tobacco verkauft werde. Die Beschäftigten hätten dann keinen Kündigungsschutz mehr und
müssten mit der Hälfte des bisherigen Lohnes auskommen. Die Beschäftigten müssten nun innerhalb einer
Frist beantragen, in ein Angestelltenverhältnis übernommen zu werden. Täten sie das nicht, drohe die Entlassung. Der Großteil der Tekel-Arbeiter lehne den Angestelltenstatus weiterhin ab, so der Antrag der Linken.
Aus folgenden Gründen wird von der FDP der Antrag
der Linken abgelehnt: Der Deutsche Bundestag ist nicht
der verlängerte Arm dafür, das Gewerkschaftsrecht in
der Türkei zu reformieren. Schon allein der sprachliche
Duktus, in dem eine Verstaatlichung gegen eine Privatisierung von Unternehmen vorzuziehen ist, kann für die
FDP-Bundestagsfraktion nicht gelten. Der Antrag ist
von einem Gedankengut getragen, der sich fundamental
vom dem der FDP unterscheidet. Dem Deutschen Bundestag steht es nicht zu, Wertungen über die Gewerkschaftsfunktion und die demokratischen Reifeprozesse
im Gewerkschaftsrecht der Türkei vorzunehmen. Es
kann auch nicht sein, dass der Deutsche Bundestag die
türkische Regierung auffordert, wie sie ihre sozial- und
arbeitsrechtlichen Normen anzuwenden hat, so wie es in
dem Antrag gefordert wird. Auch auf EU-Ebene steht es
dem Deutschen Bundestag nicht an, der Europäischen
Kommission reinzureden, wie sie Ihren EU-Fortschrittsbericht bezüglich der Türkei zu gestalten und welche
Punkte die EU-Kommission in den Mittelpunkt zu stellen
hat.
Aus Sicht der FDP ist es sicherlich nicht das alleinige
Gewerkschaftsrecht, was in den Mittelpunkt der EUFortschrittsberichte über die Türkei zu stehen hat. Der
Antrag der Linken ist aus Sicht der FDP völlig überflüssig und wird daher abgelehnt.
Nachdem die SPD zu fast allen Forderungen, die sie
in der letzten Wahlperiode abgelehnt hat, jetzt plötzlich
eigene Anträge einbringt, habe ich schon fast damit gerechnet, dass sie auch zur Stärkung der Gewerkschaftsrechte in der Türkei einen Antrag vorlegen wird. Verwunderlich waren die Gründe, die zur Ablehnung
unseres ähnlichen Antrages in der 16. Wahlperiode führten. So hätten wir die Zersplitterung der Gewerkschaften nicht hinreichend berücksichtigt. Aber wobei eigentlich und weshalb hätten wir das tun sollen? Auch in
unserem neuen Antrag kritisieren wir, dass die türkischen Gewerkschaften, egal ob nun staatsnah, islamisch
oder revolutionär, aufgrund restriktiver gesetzlicher Regelungen nur über einen sehr eingeschränkten bzw.
kaum vorhandenen legalen Handlungsspielraum verfügen. Hinzu kommen institutionelle und rechtliche Hürden wie kostenverursachende Beglaubigungs- und
Registrierungspflichten von Gewerkschaftsmitgliedern
oder strenge Voraussetzungen für die Zulassung der Tariffähigkeit. Die Kritik, dass weder die Standards in der
EU noch die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, in Bezug auf die uneingeZu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
schränkte Achtung der Gewerkschaftsrechte erfüllt sind,
gilt formal für alle diese Gewerkschaften und deren Mitglieder. Die Einschränkungen und Verbote beim Organisations- und Streikrecht und beim Recht auf Tarifverhandlungen gelten rechtlich erst einmal für alle
Gewerkschaften.
Nach Angaben des Internationalen Gewerkschaftsbundes, ITUC, ist rund einer halben Million Beschäftigten in der Türkei aufgrund gesetzlicher Beschränkungen
der Eintritt in Gewerkschaften untersagt. ITUC stellt in
seinem Jahresbericht 2009 über die Türkei fest: „Das
Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Tarifverhandlungsrecht müssen an die EU-Standards und ILO-Übereinkommen angepasst werden. Die Bemühungen der Gewerkschaften, sich zu organisieren, werden noch immer
vereitelt bzw. sind von massiven Entlassungen der Mitglieder und dubiosen Gerichtsverhandlungen und Verhaftungen der Gewerkschaftsführer begleitet. Streikende
und friedliche Demonstranten sahen sich exzessiver Polizeigewalt ausgesetzt.“ Eine ähnliche Bilanz zog auch
die Europäische Kommission im Fortschrittsbericht
über den Beitritt der Türkei vom November 2008. Darin
wird die Lage hinsichtlich der umfassenden Garantie
der Gewerkschaftsrechte als „problematisch“ bezeichnet. Und das betrifft nicht nur nichtstaatliche Gewerkschaften.
Bestes Beispiel sind die Tekel-Beschäftigten. Ihre Gewerkschaft Tekgida-Is ist nämlich Mitglied im Dachverband Türk-Is, die die SPD für offensichtlich weniger unterstützenswert hält. Wir solidarisieren uns mit den
Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
und ihrem Kampf um gewerkschaftliche Rechte unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer genehmen Gewerkschaft. Deshalb hat die Linke auch den Arbeitskampf der Tekel-Beschäftigten unterstützt. Im Rahmen
einer Auslandsdienstreise besuchte ich die streikenden
Tekel-Arbeiter in der türkischen Hauptstadt. Auch während des Generalstreiks am 4. Februar 2010 stand ich
an der Seite der Tekel-Beschäftigten. Der Fall Tekel ist
exemplarisch für die Notwendigkeit der Stärkung gewerkschaftlicher Rechte in der Türkei. Die türkische Regierung versucht nämlich, nachdem im Jahr 2006 das
staatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol Tekel
an den Lucky-Strike-Produzenten British American Tobacco verkauft wurde, die Arbeiterinnen und Arbeiter im
Rahmen eines sogenannten Sozialplans zum Verzicht auf
tarifliche Rechte wie Anspruch auf Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu zwingen, und bietet auf
zehn Monate befristete Arbeitsverträge an, die eine
Lohnkürzung um mehr als die Hälfte vorsehen. Und um
organisierten Widerstand möglichst von vornherein auszuschließen, sieht das türkische Recht vor, Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern das Recht auf Entlassung von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Gewerkschaftsmitgliedschaft bei Zahlung von Entschädigungen einzuräumen. Das verstößt klar und eindeutig
gegen das Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation, Nr. 98, Art. 1, Abs. 2, Satz b.
Und das geht auch die Bundesrepublik an. Denn die
deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und ihre
Entwicklung bilden eine tragende Säule der bilateralen
Beziehungen. In den letzten Jahren nahm das bilaterale
Handelsvolumen in beide Richtungen deutlich zu. 2008
blieb es trotz der internationalen Finanzkrise mit 24,8 Milliarden Euro nur geringfügig unter dem Rekordwert von
2007 mit 24,9 Milliarden Euro. Deutschland stellt die
größte Zahl der ausländischen Firmen, die in der Türkei
Direktinvestitionen getätigt haben. Die Zahl deutscher
Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist in den vergangenen Jahren auf knapp 3 955 gestiegen. Die Betätigungsfelder deutscher Unternehmen reichen von der
industriellen Erzeugung und dem Vertrieb sämtlicher
Produkte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art. Darüber hinaus wird die Türkei auch für Deutschland immer wichtiger als Energiekorridor. Das betrifft zum Beispiel die RWE-Beteiligung am Konsortium für den Bau
der Nabucco-Pipeline. Damit hat die Bundesrepublik
nicht nur große Verantwortung, sondern auch eine entsprechende Pflicht hinsichtlich der Einforderung von
Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie die Rahmenbedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit gemäß den in den EU-Staaten gültigen Standards und denen der ILO.
So gehört zu den zahlreichen deutschen Unternehmen
das Motorenwerk Mahle, das in seinem Betrieb im westtürkischen Izmir rund 500 Mitarbeiter beschäftigt. Diese
Beschäftigten führen seit Wochen einen erbitterten Arbeitskampf gegen die Firmenleitung, die Druck auf sie
ausübt und mit Betriebsschließung droht, wenn sie nicht
aus der dort organisierten Gewerkschaft aus- und in
eine andere, als unternehmerfreundlich bekannte Gewerkschaft, eintreten. Kein Einzelfall! Nach Informationen von türkischen Gewerkschaften und auch der IG
Metall versuchen deutsche Firmen, in der Türkei mit allen Mitteln beschäftigtenfeindliche Möglichkeiten, die
ihnen das türkische Arbeitsrecht bietet, um gewerkschaftliche Aktivitäten in Betrieben zu verhindern, weitestmöglich auszunutzen
Die Linke fordert von der Bundesregierung nicht nur,
auf die türkische Regierung hinsichtlich der Einhaltung
bzw. Einführung international verpflichtender gewerkschaftlicher Standards einzuwirken. Es gilt auch, den
Einfluss auf deutsche Unternehmen auszuüben, die im
Ausland investieren und/oder produzieren. Angesichts
der zahlreichen Beispiele, die wir aus Deutschland kennen, in denen aufgrund ihres gewerkschaftlichen Engagements „unbequeme“ Beschäftigte kurzerhand vor die
Tür gesetzt werden, hat man jedenfalls keinen Grund zu
der Annahme, dass die deutschen Unternehmen dies
freiwillig machen würden. Dies scheint aber bei einem
Trio infernale aus einem FDP-Außenminister, einem
FDP-Wirtschaftsminister und einem FDP-Minister für
Entwicklungszusammenarbeit wie die Quadratur des
Kreises. Kein Wunder! Denn Außenminister Westerwelle
reist offenbar besonders nicht nur lieber mit solchen, die
der FDP viel Geld gespendet haben, sondern vertritt
auch lieber deren Interessen. Gewerkschafterinnen und
Gewerkschafter gehören da wohl weniger zum Reisetross.
Und so hat der Außenminister auf seiner Antrittsreise in
die Türkei Anfang Januar 2010 auch nicht die Gelegenheit gefunden, sich entsprechend für die seit Mitte DeZu Protokoll gegebene Reden
Sevim Daðdelen
zember 2009 protestierenden Tekel-Beschäftigten insoweit einzusetzen, dass er die Einhaltung international
verankerter gewerkschaftlicher Rechte als Grundlage
für wirtschaftliche Kooperationen zur Voraussetzung
machte.
Die Linke fordert, im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf EU-Ebene die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation als
Voraussetzung für einen EU-Beitritt einzufordern. Uns
geht es auch darum, sich auf EU-Ebene dafür einzusetzen, dass die Probleme der Gewerkschaften in der Türkei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher thematisiert und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestellt
werden. Insbesondere die mangelnde Versammlungsbzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im Vordergrund
stehen. Im bilateralen Rahmen muss darauf hingewirkt
werden, dass die türkische Regierung gemeinsam mit
den Gewerkschaften eine Lösung findet, die gewährleistet, dass die Versammlungsfreiheit respektiert wird. Und
das sollte bereits zum 1. Mai durchgesetzt werden, damit
auf dem Taksim-Platz in Istanbul friedliche Demonstrationen stattfinden. Die Polizeigewalt gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und andere Demonstrantinnen und Demonstranten im Rahmen von Streiks
muss die Bundesregierung deutlich kritisieren und klarmachen, dass diese ganz erheblich Einfluss auf wirtschaftliche Kooperationsprojekte haben kann. Die beste
Gelegenheit, um auf die große Bedeutung gewerkschaftlicher Rechte aufmerksam zu machen, ist die Reise der
Bundeskanzlerin in die Türkei. Auf dem Programm stehen politische und Wirtschaftsgespräche. Ich jedenfalls
werde namens der Linken sowohl gegenüber den türkischen Regierungsvertretern als auch gegenüber den in
Begleitung mitreisenden deutschen Unternehmerinnen
und Unternehmern diese Themen ansprechen. Ich hoffe
Sie auch!
In Zeiten des Kalten Krieges standen die Gewerkschaften im NATO-Land Türkei unter einem fortwährenden Generalverdacht. Dies führte zu lähmenden Restriktionen und Einschränkungen von selbstverständlichen
und fundamentalen Rechten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Die Entrechtung und Kriminalisierung
von Arbeitnehmervertretungen fanden ihre traurigen
Höhepunkte in der brutalen Unterdrückung und dem
blutigen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Aktivistinnen und Aktivisten der Gewerkschaften. Mittlerweile
hat sich die Lage zum Besseren verändert. Seit fast fünf
Jahren führt die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der
EU. Es ist richtig, wenn die EU die türkische Regierung
auffordert, den Gewerkschaften mehr Rechte einzuräumen und Reformen fortzusetzen, die das Gewerkschaftsrecht in der Türkei an die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation und die Standards der EU
angleichen. Es ist nicht nur im Interesse der EU, sondern vor allem im Interesse der Türkei und der türkischen Demokratie, dass die Türkei ein modernes
Gewerkschaftsrecht bekommt. Denn Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit sind ohne Beteiligungsrechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, ohne Teilhabe und
Partizipationsmöglichkeiten nicht vorstellbar. Die türkische Politik, aber auch die Wirtschaft, die multinationalen und europäischen Konzerne und die EU müssen in
ihren Wirkungsbereichen, ihren Einrichtungen und Betrieben die Einhaltung moderner Arbeits- und Sozialstandards garantieren.
Nach dem hoffnungsvollen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU hat die Reformdynamik in der
Türkei stark nachgelassen. Aus unserer Sicht gab und
gibt es keine Entschuldigung für den anhaltenden Reformstau, der in den letzten drei Jahren so viel politischen Schaden angerichtet hat. Hinzu kommt aber auch
eine EU-Politik, die ihrer Verantwortung gegenüber der
Türkei nicht gerecht wird. In drei Tagen besucht die
Bundeskanzlerin die Türkei. Für ihre Gespräche in
Istanbul und Ankara könnte sie einige Anregungen aus
dieser Debatte im Parlament gut gebrauchen. Denn die
Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei laufen
weiterhin sehr schleppend und unbefriedigend. Seit fast
fünf Jahren sind Verhandlungen insgesamt in zwölf
Kapiteln eröffnet. Wir beobachten ein großes Desinteresse der Bundesregierung an den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - und folglich auch an der
Demokratisierung des Landes. Das weiterhin nebulöse
Konzept der Kanzlerin von einer „privilegierten Partnerschaft“ der Türkei paralysiert das Denken und Handeln der Bundesregierung.
Das Haupthindernis bei den Verhandlungen ist offiziell die Nicht-Umsetzung des sogenannten Ankara-Protokolls durch die Türkei gegenüber Zypern. Die alten
Konflikte aus der Zeit des Kalten Krieges zwischen der
Türkei und Zypern wirken in die Gegenwart hinein und
lähmen wichtige Entwicklungen in Europa. Bei aller berechtigten Kritik an der türkischen Haltung im Zypernkonflikt ist es nicht hinnehmbar, wie Zypern als Mitglied
im EU-Klub alle Register zieht, um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - eine Frage von enormer strategischer Bedeutung - zu blockieren. Die EU hat eine abwartende Haltung eingenommen, anstelle selbst aktiv zu
werden und eine gestaltende Rolle zu spielen. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen der Türkei und
Zypern wird ohne eine aktive und glaubwürdig vermittelnde Rolle der EU nicht gelingen.
Deutschland hat maßgeblichen Anteil an der passiven Rolle der EU. Die Bundesregierung sollte ihre
Bremserrolle in den Beitrittsverhandlungen der EU mit
der Türkei dringend korrigieren. In bilateralen Gesprächen und Beziehungen kann sie auch wesentlich dazu
beitragen, eine Modernisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei voranzutreiben. Denn die Rechte
der Gewerkschaften in der Türkei entsprechen weder
den EU- noch den ILO-Standards. Dies betrifft insbesondere die Rechte, Gewerkschaften zu gründen, zu
streiken oder Tarifverträge abzuschließen. Gerade diese
Rechte sind ein Schwerpunkt der Beitrittsverhandlungen
mit der Türkei. Die Bundesregierung kann sich im Sinne
der europäischen Politik und der in der EU geltenden
Rechtsnormen für die Anpassung und Weiterentwicklung
des türkischen Gewerkschaftsrechts einsetzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
Angesichts der Bedeutung von deutsch-türkischen
Wirtschaftsbeziehungen und der Rolle der deutschen
Wirtschaft in der Türkei dürfen wir auch die Wirtschaft
aus ihrer Verantwortung nicht entlassen. Denn Gewerkschaftsrechte und die Verankerung von demokratischen
Mit- und Selbstbestimmungsrechten sind wichtige Voraussetzungen für eine nachhaltige und produktive Wirtschaftspolitik. Im vorliegenden Antrag sind viele richtige Forderungen formuliert. Dennoch werden viele
weitere Reformen außerhalb des Gewerkschaftsrechtes
außer Acht gelassen, die auf dem Weg der Türkei in die
EU wichtig sind. Dazu gehören Erneuerungen und Anpassungen im Sozialbereich, im Bereich der Minderheitenrechte oder bei den Rechten der Frauen. Ein modernes und fortschrittliches Gewerkschaftsrecht kann seine
Wirkung nur im Zusammenspiel mit weiteren Rechten im
sozialen und gesellschaftspolitischen Bereich entfalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1101 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch damit sind
Sie, wie ich sehe, einverstanden. Dann ist auch diese
Überweisung so beschlossen.
Wir sind bereits am Schluss unserer Tagesordnung
angelangt.
({0})
Ich danke Ihnen, dass Sie so lange an diesen Beratungen
teilgenommen haben.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. März 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.