Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich
begrüße Sie alle herzlich zur 3. Sitzung des Deutschen
Bundestages, mit der nach der Konstituierung, der Kanzlerwahl und der Vereidigung der Bundesregierung gewissermaßen die parlamentarische Arbeit im engeren
Wortsinn beginnt.
Ich weise gerne darauf hin, dass die heutige Sitzung
neben Phoenix auch vom Zweiten Deutschen Fernsehen
übertragen wird,
({0})
und stelle mit Genugtuung fest, dass sich unsere Vorstellungen von der Wichtigkeit von Veranstaltungen zunehmend annähern.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung eines Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 17/9 Weitere Beratungen mit Aussprache
({1})
ZP 2 Erste Beratung des Antrags der Fraktion DIE
LINKE
Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesanstalt für Arbeit fortführen
- Drucksache 17/21 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
ZP 3 Erste Beratung des Antrags der Fraktion DIE
LINKE
Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer abmildern - ALG 1 befristet
auf 24 Monate verlängern
- Drucksache 17/22 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
ZP 4 Erste Beratung des Antrags der Fraktion DIE
LINKE
Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der
Kinderregelsätze
- Drucksache 17/23 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Soziale Gerechtigkeit statt Klientelpolitik
- Drucksache 17/16 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Regierungserklärung der Bundeskanzlerin
mit anschließender Aussprache
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
heutige Aussprache nach der Regierungserklärung siebeneinviertel Stunden, morgen zehneinviertel Stunden
und am Donnerstag dreieinhalb Stunden vorgesehen. Ich sehe, Sie sind damit einverstanden, und hoffe, dass
die Bemühungen, diesen genannten Zeitrahmen auch so
präzise wie vorgetragen einzuhalten, vom ganzen Haus
geteilt werden.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
28. Oktober hat die neue Regierung von Union und FDP
ihre Arbeit aufgenommen. Sie hat ihre Arbeit aufgenommen im 60. Jahr des Bestehens der Bundesrepublik
Deutschland und 20 Jahre nach dem Mauerfall. Die neue
Regierung will die Weichen für das zweite Jahrzehnt des
21. Jahrhunderts stellen. Dazu sind wir zum Wohle unseres Landes und unseres Volkes fest entschlossen.
({0})
Ohne Zweifel: Deutschland ist ein starkes, ein weltweit angesehenes, ein lebenswertes Land. Doch genauso
steht außer Zweifel: Zu Beginn der Amtszeit der neuen
Regierung muss und wird eine schonungslose Analyse
der Lage unseres Landes stehen. Anschließend ziehen
wir die richtigen Konsequenzen.
({1})
Außerordentlich viel hängt von dieser Analyse ab.
Machen wir hierbei Fehler, dann sind sie kaum wieder
gutzumachen. Machen wir es hierbei richtig, dann werden wir Deutschland zu neuer Stärke führen.
({2})
Ich sage sehr deutlich: Wir dürfen die Augen nicht
vor der Realität verschließen.
({3})
Wir dürfen uns keinen Sand in die Augen streuen. Wir
müssen mutig und entschlossen die vor uns liegenden
Aufgaben beim Namen nennen.
({4})
Genau das, nicht mehr und nicht weniger, will ich
heute hier tun, und zwar ohne Umschweife; denn die
neue Regierung von Union und FDP, diese christlich-liberale Koalition der Mitte, hat den Anspruch, Deutschland zu stärken und dabei den Zusammenhalt unseres
Landes zu festigen.
({5})
Sie hat den Anspruch, dies mit einer Politik für Freiheit
in Verantwortung zu tun. Fünf Aufgaben müssen wir
dabei anpacken:
Erstens. Wir müssen die Folgen der internationalen
Finanz- und Wirtschaftskrise überwinden.
Zweitens. Wir müssen das Verhältnis der Bürgerinnen
und Bürger zu ihrem Staat verbessern.
Drittens. Wir müssen Antworten auf die Veränderungen des Altersaufbaus finden.
Viertens. Wir müssen einen zukunftsfesten Umgang
mit den weltweiten natürlichen Ressourcen finden und
dazu einen globalen Ordnungsrahmen aufbauen.
Fünftens. Wir müssen das Verhältnis von Freiheit und
Sicherheit in der Innen- und Außenpolitik angesichts
neuer Bedrohungen weiter festigen.
Das sind die fünf Aufgaben, die die Koalition der
Mitte angehen muss. Ganz ohne Zweifel steht dabei alles, was wir tun, zunächst und für unabsehbare Zeit im
Zeichen der ersten Herausforderung. Ich wiederhole sie
noch einmal: Wir müssen die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise überwinden.
Das ist die Lage:
({6})
Deutschland befindet sich infolge dieser Krise in der
schwersten Rezession seiner Geschichte. Der Wachstumseinbruch ist fünfmal stärker als der bisher größte
Rückgang Anfang der 70er-Jahre. Der Absturz bei Auftragseingängen, Produktionen und Absatz ist zwar gestoppt, und es gibt erste, leichte Aufwärtsbewegungen,
aber große Teile der Industrieproduktion liegen noch immer weit unter dem Niveau vor Beginn der Krise. Wichtige Banken sind nach wie vor vom staatlichen Rettungsschirm abhängig. Der Finanzmarkt ist noch keineswegs
wieder so leistungsfähig, wie er es für die Weltmarktstellung der deutschen Wirtschaft und insbesondere für einen neuen Aufschwung sein müsste. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen, und sie wird weiter steigen. Es ist nur
der Kurzarbeit zu verdanken, dass nicht noch mehr Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Deshalb werden wir
die Regelung zur Kurzarbeit verlängern.
({7})
Die volle Wucht der Auswirkungen der Krise wird
uns im nächsten Jahr erreichen, auch und gerade in den
öffentlichen Haushalten der Kommunen, der Länder und
des Bundes. Waren die gesamtstaatlichen Haushalte vor
Ausbruch der Krise schon ungefähr ausgeglichen, so
wird das Budgetdefizit in diesem Jahr 3,5 Prozent und
im kommenden Jahr circa 5 Prozent unserer Wirtschaftsleistung betragen. Das ist die EU-Herbstprognose. Die
Wahrheit lautet, in einem einzigen Satz zusammengefasst: Die Probleme werden erst noch größer, bevor es
wieder besser werden kann. Das ist die Lage. Ich kann
und ich will sie uns nicht ersparen.
Mehr noch: Wir alle müssen verstehen, dass es um
weit mehr geht als nur um die Bewältigung der Folgen
der Krise in unserer eigenen Volkswirtschaft. Nein, die
Karten werden weltweit neu gemischt. Das und nichts
anderes ist die Dimension der Krise. Weltweit werden
die Karten neu gemischt. Da gibt es eben keine angestammten Marktanteile und Positionen. Wer wird sich
den Zugriff auf Rohstoffe und Energiequellen sichern?
Wer lockt Investitionen aus anderen Teilen der Welt an?
Welches Land wird zum Anziehungspunkt für die klügsten und kreativsten Köpfe?
Meine Damen und Herren, wir spüren es: Deutschland steht vor einer Bewährungsprobe, wie es seit der
deutschen Einheit nicht mehr der Fall war. Die zentrale
Frage lautet: Wird Deutschland es schaffen, rechtzeitig
aus der Krise zu kommen, noch dazu stärker als wir waren, als wir in sie hineingeraten sind, oder werden andere
unseren Platz einnehmen, weil wir es versäumen, die
Quellen des Wohlstands von morgen zu finden und zu
nutzen? Die Antwort liegt in unserer Hand. Wir können
scheitern, oder wir können es schaffen. Beides ist möglich.
({8})
Ich will und wir wollen, dass wir es schaffen.
({9})
Ich will, dass wir Deutschland zu neuer Stärke führen.
Wer also die Dimension der politischen Herausforderung
unserer Generation tatsächlich an sich heran lässt, der
weiß spätestens dann: Es geht nicht um kurzfristige Krisenbewältigung oder langfristige Weichenstellungen.
Das sind nicht zwei getrennte Aufgaben. Nein: Kurzfristige Krisenbewältigung und langfristige Weichenstellungen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
({10})
Ich bin überzeugt: Wenn wir das verstehen, dann werden wir in der Lage, in der die Karten weltweit neu gemischt werden, die richtigen Karten für unser Land ziehen und legen. Die Voraussetzungen dafür könnten kaum
besser sein. Wir haben viele Unternehmer mit guten
Ideen für neue Produkte und Innovationen. Wir haben
viele gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir haben viele Talente in Zuwandererfamilien.
Wir haben an vielen Stellen nachhaltiges Denken und
Wirtschaften schon verankert. In unserem Land steckt
viel. Wir müssen diese Stärken Deutschlands nur zur
Geltung kommen lassen. Die christlich-liberale Koalition der Mitte hat das erkannt. Sie will das schaffen. Sie
wird danach handeln, egal wie schwer der Weg auch immer sein mag und egal wie viele Widerstände es dagegen
auch geben mag. Wir nehmen die Herausforderung an.
({11})
Die Krisenbewältigung ist in vielen Fällen sehr konkret. Nehmen wir das Beispiel Opel. Die alte Bundesregierung hatte sich aus guten Gründen für einen strategischen Investor entschieden, um Opel eine neue Zukunft
zu eröffnen. Hätten wir das nicht getan, gäbe es Opel
heute nicht mehr. Denn General Motors war über Monate hinweg nicht in der Lage, seiner Verantwortung als
Mutterkonzern von Opel auch nur annähernd gerecht zu
werden.
({12})
Die Arbeitnehmer hatten sich in großer Verantwortungsbereitschaft zu erheblichen Anstrengungen und Opfern
bereit erklärt. Sie haben im Gegenzug Verlässlichkeit erwartet, und sie wurden tief enttäuscht.
Ich bedauere die Entscheidung von General Motors
außerordentlich. Doch die Arbeitnehmer brauchen mehr
als unser Bedauern.
({13})
Sie brauchen eine konkrete Lösung, die Arbeitsplätze,
Know-how und Standorte sichert. Wir erwarten, dass
General Motors schnell ein verlässliches Konzept vorlegt, das Opel Europa und den deutschen Standorten die
Chance auf eine gute Zukunft bietet. Gelingen kann
diese Lösung nur, wenn General Motors den Hauptanteil
der Restrukturierung mit eigenen Mitteln trägt. Dazu gehört auch, dass General Motors den Überbrückungskredit zurückzahlt. Wir erwarten, dass sich das Unternehmen in Zukunft gleichermaßen für seine amerikanischen
wie für seine europäischen Standorte engagiert.
({14})
Eine faire Balance ist eine entscheidende Bedingung,
damit die jetzt kommenden Gespräche überhaupt eine
Aussicht auf Erfolg haben können. Ich sage hier ganz
deutlich: Das, was der Bundesregierung und den Landesregierungen der vier Opelstandorte hierzu möglich
ist, werden wir tun. Darauf können sich alle verlassen.
({15})
Meine Damen und Herren, solche Fälle - noch dazu
mit einem traditionsreichen Namen - stehen natürlich im
Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Doch die Bundesregierung muss alle Arbeitsplätze in Deutschland im Blick
haben. Deshalb noch einmal: Es geht darum, welche
Möglichkeiten wir haben, die weltweite Krise als Ganzes zu überwinden. Dazu raten die einen uns nun, vorneweg die durch die Krise schier ins Uferlose geratenen
Schulden vor allem durch Streichen und Kürzungen
auszugleichen. Es ist wahr: Das wäre theoretisch ein
Weg. Machen wir uns dazu aber kurz die Größenordnung klar: Um 86 Milliarden Euro auszugleichen - das
ist der von der alten Bundesregierung geschätzte Defizitbetrag für 2010 -, müssten wir die größte Kürzungs- und
Streichungsaktion in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland starten. Ich glaube, jede weitere Diskussion
über diesen Weg erübrigt sich. Ein solcher Weg ist in der
Krise offensichtlich keine Lösung.
Andere raten uns, die höheren Ausgaben und geringeren Einnahmen der Sozialversicherungen durch steigende Beiträge der Sozialversicherungen auszugleichen. Es ist wahr: Theoretisch ist auch dies ein Weg.
Doch was wäre die Folge? Die verfügbaren Einkommen
der Bürger würden sinken, die Arbeitsplätze würden für
die Betriebe teurer werden. Es ist also ganz offensichtlich, dass sich auch jede weitere Diskussion über diesen
Weg erübrigt. Auch er wäre keine Lösung.
Wir haben uns für einen anderen Weg entschieden,
nach reiflicher Überlegung und Abwägen allen Für und
Widers. Er lautet in einem Satz: Ich will, dass wir alles
versuchen, jetzt schnell und entschlossen die Voraussetzungen für neues und stärkeres Wachstum zu schaffen.
({16})
Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung. Ich sage es ganz offen: Auch dieser Weg ist keine
Garantie, dass wir es schaffen,
({17})
die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise
schnell und gestärkt zu überwinden. Aber die Chance
dazu bietet dieser Weg. Deshalb müssen wir diese
Chance ergreifen und genau diesen Weg einschlagen.
({18})
Ohne Wachstum keine Investitionen, ohne Wachstum
keine Arbeitsplätze, ohne Wachstum keine Gelder für
die Bildung, ohne Wachstum keine Hilfe für die Schwachen. Und umgekehrt: Mit Wachstum Investitionen, Arbeitsplätze, Gelder für die Bildung, Hilfe für die Schwachen und - am wichtigsten - Vertrauen bei den
Menschen. Das ist meine Überzeugung,
({19})
eine Überzeugung, die auf meiner Grundauffassung von
Politik gründet. Zu ihr gehören elementar entscheidende
Faktoren: Vertrauen, Zuversicht, Motivation. Sie lassen
sich nicht in Prozenten fassen. Ihre Wirkung ist aber immer weit größer, als die Statistiker sie jemals ermessen
können.
({20})
Genau vor diesem Hintergrund beginnt die neue Bundesregierung ihre Arbeit mit einem Wachstumsbeschleunigungsgesetz.
({21})
Der Entwurf wurde gestern im Kabinett beschlossen. Ich
weiß, dass die Beratungszeit knapp ist. Aber ich bitte um
Ihre Unterstützung für unseren Zeitplan; denn Entschlossenheit ist jetzt gefragt.
({22})
Die krisenbedingten Auswirkungen der Unternehmenund Erbschaftsteuerreform müssen beseitigt werden; das
wissen alle in diesem Hause. Die Familien wollen wir zusätzlich zu den schon beschlossenen Entlastungen noch
einmal stärken. Insgesamt, zusammen mit den schon beschlossenen Maßnahmen und dem, was wir jetzt auf den
Weg bringen, entlasten wir die Bürgerinnen und Bürger
zum 1. Januar 2010 um 22 Milliarden Euro.
({23})
Anfang Dezember wird die Bundesregierung außerdem mit allen Akteuren aus Wirtschaft, Banken und Arbeitnehmerschaft die weiteren Schritte vertrauensvoll
besprechen. Wir wollen den Unternehmen weiter ausreichende Finanzierungswege eröffnen. Insbesondere der
Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, darf
nicht in eine Kreditklemme geraten.
({24})
Deshalb werden wir noch einmal die Ausgestaltung
des Deutschlandfonds überprüfen, ihn gegebenenfalls
auch anpassen,
({25})
und wir wollen in Abstimmung mit den Ländern dafür
sorgen, dass jeder Betrieb, egal ob groß oder klein, bei
krisenbedingten Finanzierungssorgen einen Ansprechpartner erhält, damit so unbürokratisch wie möglich
nach Lösungen gesucht werden kann.
Von den Banken, meine Damen und Herren, erwarte
ich vor allem, dass sie die von der Bundesregierung geschaffenen Möglichkeiten nutzen, um ausreichend Kredite zu vergeben.
({26})
Es scheint mir Zeit zu sein, in diesem Zusammenhang
an etwas zu erinnern, und zwar daran, dass der Finanzsektor im Kern eine dienende Funktion für das Funktionieren der wirtschaftlichen Kreisläufe hat.
({27})
- Sie werden das ja wohl nicht infrage stellen!
So ist der Bankensektor entstanden, das war sein eigentliches Selbstverständnis. Dieses Selbstverständnis
muss wieder belebt werden; ansonsten werden wir große
Schwierigkeiten mit unserer Wirtschaft haben.
Genau diesem Ziel dienen auch alle internationalen
Bemühungen - vorneweg in der Gruppe der G 20 -,
neue internationale Regeln für mehr Transparenz und
Kontrolle festzulegen; denn wir müssen alles tun, damit
sich eine solche Krise nie wiederholt. Wenn wir international übereinkommen, bin ich sehr dafür, dass wir zum
Beispiel über eine Börsenumsatzsteuer international
die Banken an der Begleichung der Schäden, die diese
Krise angerichtet hat, beteiligen.
({28})
Ich sagte es bereits: Die Bundesregierung setzt auf
Wachstum, um Deutschland zu neuer Stärke zu führen.
Deshalb werden wir im Jahre 2011 einen weiteren
Wachstumsimpuls setzen, und zwar in Form von Einkommensteuersenkungen. Diesen Impuls werden wir
auch dazu nutzen, um langfristig strukturelle Veränderungen im Steuersystem vorzunehmen.
Damit berühren wir die zweite Aufgabe, vor der die
neue Regierung ganz unabhängig von der Krise steht:
Wir wollen das Verhältnis der Bürger zu ihrem Staat
verbessern. Das ist dringender denn je; denn die Steuerzahler sind unzufrieden, weil die Leistungen des Staates
auf den Gebieten Bildung, Infrastruktur und Service aus
ihrer Sicht oft mangelhaft sind.
({29})
Damit können wir uns nicht abfinden.
Diejenigen, die Transferleistungen erhalten, fühlen
sich ausgegrenzt und sehen oft wenig Chancen, wieder
auf den Weg des Aufstiegs zurückzukehren; doch genau
das muss gelingen. Die Mitte der Gesellschaft kann nur
stärker werden, wenn mehr Menschen Arbeit bekommen, wenn gute Bildung Aufstiegschancen eröffnet,
wenn unnötige Bürokratie abgebaut wird, mit einem
Wort: wenn sich Leistung wieder lohnt in diesem Lande.
({30})
Das ist der Grund, warum wir unser Steuersystem
spürbar vereinfachen wollen.
({31})
Den Einkommensteuertarif wollen wir zu einem Stufentarif umbauen. Einfach, niedrig und gerecht, das muss
die Maßgabe sein, meine Damen und Herren. Dafür stehen wir ein.
({32})
Leistungsfeindliche Elemente wie der sogenannte Mittelstandsbauch müssen schrittweise abgebaut werden.
Kinder müssen im Steuerrecht mittelfristig wie Erwachsene behandelt werden.
({33})
Steuerpolitik - das ist unsere Überzeugung - ist nicht
einfach der Umgang mit Zahlen, sondern Steuerpolitik
ist Gesellschaftspolitik.
({34})
Einen neuen Schwerpunkt werden wir beim Abbau
von Bürokratie setzen. Neben der Konzentration auf
Erleichterungen für die Betriebe wollen wir auch für die
Bürger ein klares Ziel für den Abbau von Bürokratie vereinbaren. Dabei müssen wir mit einem Missverständnis
aufräumen: Es geht bei diesen Bemühungen nicht nur
um weniger Aufwand bei Statistiken und Berichtspflichten - das allein reicht nicht -, es geht vor allem um
schnellere Verfahren, flexiblere Behörden, also um
Dienstleistungen für Bürger und Betriebe. Deshalb werden wir den Auftrag des Normenkontrollrates deutlich
erweitern.
({35})
Wenn wir das Verhältnis des Bürgers zu seinem Staat
wirklich verbessern wollen, dann ist und bleibt es auch
bei dieser Aufgabe das Wichtigste, Beschäftigungsbremsen zu lösen und Anreize für Arbeit zu schaffen. Wer
für sich selber vorsorgt, dem muss der Staat dabei helfen.
Dazu werden wir die Hinzuverdienstmöglichkeiten
beim Übergang in reguläre Arbeit verbessern. Wir erhöhen das Schonvermögen, damit der, der für sich vorsorgt, später nicht um die Früchte seiner Voraussicht betrogen wird.
({36})
Wir wollen den Kinderzuschlag weiterentwickeln, weil
niemand wegen seiner Kinder in staatliche Abhängigkeit
geraten sollte. Ebenso werden wir befristete Beschäftigungsverhältnisse erleichtern.
({37})
Sittenwidrige Löhne werden wir verbieten,
({38})
einheitliche gesetzliche Mindestlöhne lehnen wir allerdings ab.
({39})
Wir sind der Überzeugung: Sie waren, sind und bleiben
nichts weiter als ein Hindernis für mehr Beschäftigung.
Deshalb sind sie mit uns nicht zu machen.
({40})
Das sind wichtige Einzelmaßnahmen, aber das reicht
noch nicht aus. Es wäre nur Stückwerk, wenn wir nicht
auch im Zusammenhang denken würden. Deshalb wollen wir die aktive Arbeitsmarktpolitik insgesamt wirksamer und einfacher gestalten.
Dazu werden wir die bis heute kaum überschaubare
Zahl der Instrumente und Programme reduzieren. Das ist
mehr als überfällig. Ich sage ganz deutlich: Die Arbeitsagenturen, die Argen, die Optionskommunen, die einzelnen Arbeitsvermittler vor Ort leisten vor Ort ohne Zweifel vielfach großartige Arbeit. Sie alle - davon sind wir
überzeugt - können aber noch mehr leisten. Dazu wollen
wir ihnen die Möglichkeit geben, sich bei ihrer Wiedereingliederungsarbeit zuerst nach den jeweiligen Bedürfnissen des Arbeitslosen und nicht nach den Bedürfnissen
der gesetzlichen Feinsteuerung richten zu können. Ich
glaube, das ist die richtige Reihenfolge: erst der betroffene Mensch und dann ein politisches Instrument.
({41})
Eine solche Politik dient den Menschen; denn sie
folgt einer Überzeugung: Jeder Bürger, der Arbeit hat
oder sie wieder bekommt, hat die Chance auf ein
selbstbestimmtes Leben. Das ist es, worum es der Politik zu gehen hat, wenn sie ihren Auftrag auch als einen
moralischen versteht.
({42})
Jedem Bürger die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben eröffnen: Das will die christlich-liberale Regierung.
({43})
Dazu brauchen wir nicht zuletzt ein verantwortliches
Miteinander von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die
Tarifautonomie hat sich gerade auch in der Krise, bei
der Anpassung an oft schwierigste Auftragslagen, bewährt. Wir werden sie achten und schützen. Sie gehört
zu den wichtigsten sozialen Errungenschaften in
Deutschland. Viele Länder blicken geradezu bewundernd auf unsere Kultur der Zusammenarbeit zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
Ich sage deshalb auch hier ganz klipp und klar: Wir
werden die Mitbestimmung und die Betriebsverfassung
nicht ändern. Wir werden auch die Schutzwirkung des
Kündigungsschutzes nicht mindern. Das schafft Vertrauen und hat auch etwas damit zu tun, das Verhältnis
der Bürger zu ihrem Staat zu verbessern.
({44})
In diesem Geist können wir auch die dritte große Aufgabe unserer Zeit in den Blick nehmen: Wir müssen eine
Antwort auf die Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft finden. Auch hier ist ein schonungsloser Blick auf die Lage Voraussetzung, um die richtigen
Schlussfolgerungen zu ziehen.
In diesem Jahr leben in Deutschland erstmals mehr
über 65-Jährige als unter 20-Jährige. Der Schwerpunkt
der Gesellschaft hinsichtlich des Lebensalters wird sich
immer weiter jenseits der 50 Jahre verschieben. Im Jahre
2020 werden 3,5 Millionen Menschen unter 25 Jahren
weniger als 2007 in unserem Land leben - in 13 Jahren
3,5 Millionen Menschen unter 25 Jahren weniger. Das
bedeutet in der Altersgruppe der unter 25-Jährigen einen
Rückgang von 15 Prozent. Im gleichen Zeitraum geht
die Gesamtbevölkerung nur um 2 Prozent zurück. Daran
ersehen Sie die Dimension der Herausforderung, vor der
wir stehen.
Ich sage ganz ausdrücklich: Erste Schritte sind gemacht, zum Beispiel mit der Einführung der Rente mit
67 Jahren.
({45})
Aber diese Veränderungen, von der Bildungs-, Forschungs-, Familien- und Integrationspolitik bis hin zur
Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme und einer
nachhaltigen Haushaltspolitik, müssen noch weiterentwickelt werden.
({46})
Teilweise ist das überfällig. Die Koalition der Mitte ist
deshalb entschlossen, diese Veränderungen in die Wege
zu leiten. Davor die Augen zu verschließen oder den
Kopf in den Sand zu stecken, das wäre die ungerechteste
aller Möglichkeiten im Umgang mit den Menschen in
unserem Lande. Genau deshalb werden wir das nicht
tun.
Es muss Schluss sein mit den reflexartigen Reaktionen, etwa wenn über die Entkopplung von Arbeitskosten und Kosten der sozialen Sicherheit gesprochen
wird.
({47})
Es muss Schluss sein mit den reflexartigen Reaktionen,
etwa wenn vom Aufbau einer Kapitaldeckung bei der
Pflege die Rede ist. Das alles hilft nicht weiter.
({48})
Wir müssen Prioritäten setzen; nur das hilft weiter. Bildung, Integration, solide Haushalte, generationengerechte soziale Sicherungssysteme - das
({49})
sind die Themen, die höchste Priorität bekommen müssen. Die neue Regierung gibt genau diesen Themen die
höchste Priorität.
({50})
Ich sage Ihnen: Das muss das ganze Land tun. Bald
werden uns Millionen junger Menschen fehlen. Dabei
sind genau sie die Fachkräfte der Zukunft. Trotz Konjunktureinbruchs klagt das Handwerk schon jetzt über
einen Mangel an Lehrlingen. Doch mancher Befund ist
ernüchternd. Mehr als jeder Zehnte der unter 34-Jährigen hat heute keinen Schulabschluss oder muss ohne abgeschlossene Berufsausbildung ins Berufsleben starten.
Bei denjenigen mit Migrationshintergrund ist es sogar
jeder Dritte.
({51})
- Viel geschafft haben Sie Grüne in Ihrer Zeit nicht; das
muss ich sagen.
({52})
- Ja, genau. Deshalb geben wir diesen Dingen Priorität,
Frau Künast.
Mit diesem Befund dürfen und werden wir uns nicht
abfinden. Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit, dass jeder
die Chance erhält, im Berufsleben Erfolg zu haben.
Schaffen werden wir dies aber nur, wenn die Politikbereiche zusammenwirken: für die Unterstützung von
Familien, die Bildung, die Integration, die Arbeitsmarktpolitik und die sozialen Sicherungssysteme. Dabei
kommt zweifelsohne den Familien die größte Aufgabe
zu. Familien müssen deshalb besonders unterstützt werden.
Das Schlüsselwort unserer Politik für Familien heißt
Wahlfreiheit. Zu lange war das ein leeres Wort, und zwar
in jeder Hinsicht.
({53})
Wahlfreiheit setzt Wahlmöglichkeit voraus. Deshalb führen wir weiter, was begonnen wurde, nämlich den Ausbau der Kinderbetreuung auch für die unter Dreijährigen, eine Verbesserung sowohl im Umfang als auch in
der Qualität. Zur Wahlfreiheit im umfassenden Sinne gehört auch, dass wir für Eltern, die ihre Kinder zu Hause
erziehen, ab 2013 ein Betreuungsgeld, gegebenenfalls
auch als Gutschein, einführen wollen.
({54})
Ich sage Ihnen: Es muss und es wird so ausgestaltet sein,
dass die Freiheit der Eltern gestärkt wird, ohne dass dabei die Bildungschancen für Kinder verloren gehen. Das
ist unser Anspruch; das werden wir auch tun.
({55})
Wir können gar nicht genug tun, um in Bildung für
alle zu investieren. Deutschland zur Bildungsrepublik zu
machen, darf kein leeres Wort bleiben. Deshalb wollen
wir faire Startchancen und Aufstiegsmöglichkeiten für
alle. Die Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung werden bis 2013 um insgesamt 12 Milliarden
Euro erhöht. Das ist der Anteil des Bundes, damit wir
insgesamt das Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Forschung und Entwicklung und 7 Prozent für Bildung bereitzustellen, bis 2015 erreichen können. Die
Länder müssen ihren Anteil mit gleicher Kraft leisten.
Wir werden die berufliche Bildung weiterentwickeln,
den Ausbildungspakt fortsetzen, wo notwendig, neue
Qualitätsstandards setzen, und im Hochschulpakt werden 275 000 neue Studienplätze geschaffen.
({56})
Mit den Ländern gemeinsam bauen wir ein nationales
Stipendienprogramm für 10 Prozent der Studierenden
auf.
({57})
Wir bekämpfen Bildungsarmut. Jedes Kind soll vor dem
Schulbeginn eine Sprachförderung erhalten, wenn das
notwendig ist. Ich sage mit Nachdruck: Auch die Integration der Zuwanderer und ihrer Kinder führt zuerst
und vorneweg über Sprache und Ausbildung.
({58})
Deshalb wird der Nationale Integrationsplan fortentwickelt: mit Integrationspartnerschaften, Integrationsverträgen, mit mehr Förderung,
({59})
aber auch mit mehr Verbindlichkeit. Auch das ist eine
moralische Aufgabe. Es ist unsere Aufgabe für die betroffenen Menschen wie für die Zukunft unseres Landes.
Meine Damen und Herren, wenn wir angemessene
Antworten auf den Altersaufbau unserer Gesellschaft
finden wollen, dann führt kein Weg daran vorbei, unsere
sozialen Sicherungssysteme generationengerecht auszugestalten. Langfristige Stabilität und Verlässlichkeit
wird es nicht geben, wenn der zugrunde liegende Generationenvertrag nicht von allen Seiten - von Jüngeren
und Älteren gleichermaßen - akzeptiert wird.
({60})
In kaum einem Bereich wird das deutlicher als bei der
Pflegeversicherung. Unser Ziel ist klar: mehr Qualität
in der Pflege, mehr Selbstbestimmung und vor allen
Dingen auch mehr Menschlichkeit. Wir werden unter anderem die Pflegebedürftigkeit neu definieren, und wir
werden ein heißes Eisen anpacken, ganz egal, welche
Widerstände das erzeugen wird: die Ergänzung der Umlagefinanzierung durch eine Kapitaldeckung.
({61})
Damit kein Missverständnis entsteht: Ich sage Ergänzung, nicht Ersatz. Wir stehen zum Grundsatz der solidarischen Sozialversicherung.
({62})
Aber diese Ergänzung zu schaffen, das ist zwingend,
wenn die Pflegeversicherung überhaupt noch etwas von
ihrer Akzeptanz und ihrem Wert behalten soll, und ich
will, dass sie diesen Wert behält.
({63})
Denn die Wahrheit liegt doch auf der Hand, und daran
kann sich keiner hier vorbeidrücken: Die Pflege wird
teurer werden, ob mit oder ohne Kapitaldeckung. Wir
werden den Zusammenhalt unserer Gesellschaft, den
Zusammenhalt von Jung und Alt, nur bewahren können,
wenn wir die gesamten steigenden Kosten nicht immer
wieder nur der jeweils jüngeren Generation und der arbeitenden Generation aufdrücken.
({64})
Das ist die Wahrheit, und dazu müssen wir stehen.
({65})
Deshalb wird die neue Regierung genau diesen Kreislauf durchbrechen. Wir werden am Ende nicht weniger
Solidarität, sondern mehr Solidarität haben.
({66})
Wir werden am Ende nicht weniger Zusammenhalt, sondern mehr Zusammenhalt haben. Das ist unser Ziel.
({67})
Das gilt auch für die Gesundheitspolitik. Wir haben
einen klaren Anspruch: Jeder Mensch soll die medizinische Versorgung bekommen, die er braucht,
({68})
und zwar unabhängig von seinem Alter und seiner materiellen Situation.
({69})
Dies zu schaffen, das muss der Anspruch verantwortungsvoller Politik sein. Auch das ist eine zutiefst moralische Aufgabe.
({70})
Das ist aber - das wissen wir alle nur zu gut - leichter
gesagt als getan.
Das führt uns zu einer Erkenntnis: Um Menschen am
medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen, aber
gleichzeitig Arbeitsplätze dennoch nicht zu gefährden,
brauchen wir eine stärkere Entkopplung von Arbeitskosten und Ausgaben für die Gesundheit, als das heute der
Fall ist.
({71})
Es ist so. Es führt daran kein Weg vorbei.
Ich will auch gar nicht verschweigen: Erste Schritte in
diese Richtung ist die alte Regierung mit dem Gesundheitsfonds und der Erhebung von Zusatzbeiträgen schon
gegangen. Ich füge hinzu: Ich halte das nach wie vor für
richtige und gute Schritte. Aber es müssen eben weitere
Schritte folgen, und sie werden folgen, um dieses System in ein langfristig tragfähiges solidarisches System zu
überführen, das genau den Ansprüchen gerecht wird, die
die Menschen mit Recht an uns haben. Genau darum
geht es: ein langfristig tragfähiges, solidarisches System.
Deshalb versteht es sich von selbst, dass die finanziellen
Lasten weiter so verteilt werden, dass Gesunde für
Kranke, Junge für Alte, Stärkere für Schwächere einstehen.
({72})
Nur so verdient ein solches System das Prädikat „solidarisch“. Darauf können sich alle Versicherten verlassen.
Das darf aber nicht dazu führen, dass wir über Wettbewerb, Transparenz und viele andere Dinge überhaupt
nicht mehr sprechen dürfen.
({73})
Meine Damen und Herren, Generationengerechtigkeit
und Nachhaltigkeit, das gilt in der Tat mehr denn je auch
in der Haushaltspolitik. Wie kein zweites Instrument
steht die Schuldenbremse genau für diese Politik.
({74})
Ich darf vielleicht daran erinnern, dass es doch eher wir
in diesem Haus waren, die sich für eine Schuldenbremse
- im Übrigen: für eine sehr detaillierte Schuldenbremse im Grundgesetz eingesetzt haben. Deshalb werden wir
dazu auch stehen.
({75})
Wir wissen, dass es diese Regierung ist, die genau in dieser Legislaturperiode beginnen muss, das alles zu erfüllen. Hier schließt sich gleichsam der Kreis unserer wirtschaftspolitischen Philosophie.
({76})
Denn auch hier gilt: Nur mit einem strikten Wachstumskurs können wir die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten. Nur mit einem strikten Wachstumskurs schaffen
wir in Zeiten wie diesen überhaupt die Voraussetzungen,
unsere Ziele insgesamt zu erreichen. Es geht nicht um
Wachstum um des Wachstums willen, sondern um nachhaltiges Wachstum, ein Wachstum, mit dem man an das
Morgen und die nächste Generation denkt sowie unsere
Lebensumwelt im Blick hat.
({77})
Viertens gilt: Wir wollen einen zukunftsfesten Umgang mit den weltweit vorhandenen natürlichen Ressourcen weiterentwickeln. Niemals dürfen wir zulassen,
dass die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise eine billige Ausrede für mangelnden Schutz unserer Umwelt
wird. Das wäre einer der größten Fehler, die wir machen
könnten. Ich sage das nicht ohne Grund; denn ich kenne
die Realität. Sie ist schon ohne die Krise ziemlich
schwierig. Noch immer sind wir zu weit von einem zukunftsfesten Umgang mit unseren globalen Ressourcen
entfernt. Bislang haben wir weder in der Energiepolitik
noch in der Umweltpolitik dauerhaft tragfähige, globale
Antworten gefunden. Globale Abkommen - sei es in der
G-20-Gruppe zur Regulierung der Finanzmärkte, sei es
in der Politik zum Schutz unserer Artenvielfalt oder in
der Klimapolitik - lassen viel zu lange auf sich warten.
Eine Aufgabe der neuen Regierung wird sein, hier zu
drängen und auf Erfolge zu pochen.
Dabei wissen wir alle in diesem Hause: Der Schutz
unseres Klimas ist eine Menschheitsaufgabe. Im vor
uns liegenden Jahrzehnt entscheidet sich, ob wir eine
Chance haben, die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels auf ein erträgliches Maß zu begrenzen - genau
das meinen wir mit dem Zweigradziel -, oder ob wir das
nicht schaffen. Es entscheidet sich, ob wir insgesamt
eine Art des Wirtschaftens finden, die nicht mit den
Grundlagen ihres eigenen Erfolgs Raubbau treibt, oder
ob wir es eben doch tun. Es entscheidet sich, welche Zukunft unser Planet und damit wir, die wir diesen Planeten
bewohnen, haben.
Ich sage es ohne Umschweife: Ein Misserfolg der
Weltklimakonferenz in Kopenhagen im Dezember
würde die internationale Klimapolitik um Jahre zurückwerfen. Das können wir uns nicht leisten.
({78})
Eine substanzielle politische Einigung ist unerlässlich,
um die Voraussetzungen für ein international verbindliches - ich unterstreiche: verbindliches - Protokoll für
die Zeit nach 2013 zu schaffen. Die Zeit drängt. Die
Europäische Union hat klare und eindeutige Verhandlungspositionen entwickelt.
({79})
Jetzt erwarten wir Beiträge von den USA und Ländern
wie China und Indien. Ich werde mich ganz persönlich
dafür einsetzen und, wenn es erfolgversprechend ist,
nach Kopenhagen fahren. Das werde ich auch tun, damit
hier jeder Zweifel beseitigt ist.
({80})
Auch hier in unserem Land müssen wir unsere Hausaufgaben machen. Wir brauchen dringend ein Gesamtkonzept für eine schlüssige Energiepolitik, mit dem wir
Umweltfreundlichkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit unserer Energieversorgung sicherstellen.
Die Bundesregierung wird genau ein solches Energiekonzept erarbeiten. Dazu setzen wir auf einen Energiemix, der die konventionellen Energieträger schrittweise
durch erneuerbare Energien ersetzt. Oder in einem Satz
gesagt: Wir wollen den Weg in das regenerative Energiezeitalter gemeinsam gehen.
({81})
Das schließt allerdings die Erkenntnis ein, dass die
Kernenergie für eine Übergangszeit
({82})
als Brückentechnologie ein unverzichtbarer Teil unseres
Energiemixes bleibt,
({83})
und zwar so lange, bis sie durch erneuerbare Energien
verlässlich ersetzt werden kann,
({84})
damit wir nicht Strom aus Kernenergie aus Frankreich
und Tschechien importieren müssen.
({85})
Wir sind deswegen bereit, die Laufzeiten deutscher
Kernkraftwerke - damit das noch einmal klar wird - unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern, und wir werden
den wesentlichen Teil der zusätzlichen Gewinne der
Kraftwerksbetreiber nutzen, um den Weg in das regenerative Energiezeitalter zu beschleunigen, zum Beispiel
durch verstärkte Forschung zur Energieeffizienz und zu
den Speichertechnologien.
({86})
Damit es weiter ein bisschen strittig bleibt: Das bedeutet
auch, dass wir die Beiträge von neuen, hocheffizienten
Kohlekraftwerken
({87})
und der CCS-Technologie zum Klimaschutz anerkennen.
({88})
Auch wenn manche es nicht hören wollen: Wir können
auf Kohle als Energieträger nicht sofort verzichten, und
deshalb werden wir auf Kohle als Energieträger auch
nicht verzichten; denn das wäre unsinnig.
({89})
Mit Blick auf neue und hocheffiziente Kohlekraftwerke
sage ich auch: Wir tun das, weil wir wollen, dass unser
Land offen für neue Technologien ist. Was soll denn in
China gebaut werden? Auch Sie wissen das. Es nützt
nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Genau das ist der
Schlüssel, um die großen Potenziale der Energieeffizienz
und der Energieeinsparung freizusetzen. Alle Fortschritte,
die unser Land bereits erzielt hat, sind das Ergebnis von
Forschergeist, die energetische Gebäudesanierung genauso wie intelligente Verkehrsnetze oder alternative Antriebstechnologien. Genauso wollen wir weitermachen.
Deutschland soll Leitmarkt in der Elektromobilität werden, Deutschland soll eine hochambitionierte Breitbandstrategie verfolgen, Deutschland soll in der Medizintechnik ganz vorne mit dabei sein, Deutschland soll seine
klassischen Stärken im Anlagenbau und in der Chemie
auch in Zukunft voll ausspielen. Das sind die Stärken
Deutschlands, auf die wir in unserer Koalition setzen.
({90})
In einem Wort: Deutschland setzt auch im 21. Jahrhundert auf den Erfindungsgeist der Menschen.
({91})
Die neue Bundesregierung setzt darauf; denn täten wir
das nicht, dann würden wir zu Getriebenen und abhängig
von jenen, die ihre Art von Lösung gefunden haben, die
aber nicht unsere Art von Lösung sein muss. Das ist eine
sehr grundsätzliche Weichenstellung, die die neue Regierung vorgenommen hat, damit wir Deutschland zu
neuer Stärke führen können.
Fünftens. Die Koalition der Mitte will das Verhältnis
von Freiheit und Sicherheit angesichts neuer Bedrohungen festigen. Sie stellen uns in der Heimat, auch außerhalb der Grenzen unseres Landes, vor große Herausforderungen. Wir können sie nur meistern, wenn wir
unsere Sicherheitsarchitektur weiterentwickeln. Die
neue Regierung ist dazu entschlossen und in der Lage.
Denn uns leitet ein Kompass: Freiheit und Sicherheit
sind für die neue Bundesregierung keine Gegensätze; sie
gehören untrennbar zusammen. Beides hat der Staat
bestmöglich zu gewährleisten, sei es beim Schutz persönlicher Daten in den neuen Kommunikationstechnologien, sei es beim Betrag Deutschlands zur internationalen Sicherheit.
Gestern haben wir gemeinsam den 20. Jahrestag des
Mauerfalls gefeiert. Der 9. November 1989 war der
glücklichste Tag in der jüngeren deutschen Geschichte.
Möglich gemacht haben ihn viele: Die Bürgerinnen und
Bürger der ehemaligen DDR auf den Straßen von Leipzig und anderswo, die Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, die Freiheitsbewegung um Vaclav Havel in Prag,
Michail Gorbatschow, der als Staats- und Parteichef in
der entscheidenden Stunde auf den Einsatz von Panzern
verzichtet hatte,
({92})
und Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher, die die
deutsche Einheit unwiderruflich vorangetrieben haben,
und viele, viele mehr.
Möglich wurde der 9. November 1989 aber auch noch
durch etwas anderes: durch ein Eintreten der transatlantischen, der westlichen Wertegemeinschaft - Europäische
Union, NATO - für die Einheit und Freiheit unseres
Landes. So wie es diese Wertegemeinschaften waren, die
vor 20 Jahren mit zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben, so sind es auch heute Bündnisse und
Wertegemeinschaften, die uns die Herausforderungen
unserer Zeit meistern lassen. Die Herausforderungen
und Aufgaben sind seit 1989 andere geworden. Die Zahl
unserer Partner ist viel größer geworden. Aus der Bedrohung des Kalten Krieges sind asymmetrische Bedrohungen geworden. Doch der Weg, den Herausforderungen
unserer Zeit zu begegnen, der ist derselbe geblieben. Es
ist und bleibt ein Weg der Partnerschaften und Bündnisse auf Grundlage unserer Werte, mit dem wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können. Niemand schafft es allein. Gemeinsam können wir alles
schaffen.
({93})
Das gilt für uns in Europa. Der Vertrag von Lissabon tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft. Er verbessert
die Möglichkeit, dass die Europäische Union eine wirkliche Union der Bürgerinnen und Bürger wird und weltweit ihre Interessen entschiedener verteidigen und vertreten kann. Das gilt darüber hinaus im transatlantischen
Verhältnis: Auch in Zukunft wird die NATO der bedeutendste Sicherheitsanker Deutschlands sein. Gleichzeitig
streben wir mit Russland einen breiten sicherheitspolitischen Dialog an, nicht nur, aber gerade auch im
NATO-Russland-Rat. Russland und Europa sind aufeinander angewiesen.
Wir teilen die Vision Präsident Obamas für eine
nuklearwaffenfreie Welt, und wir setzen uns dafür ein,
dass das neue strategische Konzept, mit dem die NATO
auf die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft ausgerichtet wird, auch das Thema Abrüstung auf
die Tagesordnung setzt.
({94})
Verantwortung in Bündnissen zu übernehmen, das gilt
auch bei den E3+3-Gesprächen zum iranischen Nuklearprogramm, bei unseren Bemühungen um den Nahostfriedensprozess wie auch bei unserem Engagement für
ein stabiles Afghanistan.
Ohne Zweifel: Der Kampfeinsatz in Afghanistan fordert uns in ganz besonderer Weise. Er muss in eine neue
Phase geführt werden. Mit unseren Bündnispartnern, mit
den Ländern der Region und mit der neuen afghanischen
Regierung werden wir deshalb auf der geplanten UNKonferenz Anfang kommenden Jahres besprechen, wie
und mit welchen konkreten Schritten wir diese Phase
neu gestalten können. Wir wollen eine Übergabestrategie in Verantwortung festlegen. Wir erwarten, dass die
afghanische Regierung konsequent auf gute Regierungsführung, auf den Aufbau der Sicherheitskräfte und auf
wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes hinarbeitet.
({95})
Ich kann über unseren Einsatz in Afghanistan nicht
sprechen, ohne an dieser Stelle unseren Dank an alle
Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer auszusprechen.
({96})
Sie haben zum Teil sehr gefährliche Aufgaben in Afghanistan zu meistern. Ich kann hier auch nicht über
Deutschlands Einsatz in Afghanistan sprechen, ohne besonders an jene zu denken, die ihr Leben lassen mussten
oder verwundet wurden. Wir werden ihren Einsatz niemals vergessen.
Meine Damen und Herren, der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan wie auch in anderen Regionen unserer Erde ist hart. Er verlangt der Bundeswehr viel ab.
Aber unsere Bundeswehr ist leistungsstark. Sie ist in der
Mitte der Gesellschaft verankert. Das hat sich mehr als
bewährt.
Die neue Bundesregierung hat entschieden, die Wehrpflicht auf sechs Monate zu verkürzen.
({97})
Sie hat nicht beschlossen, die Wehrpflicht abzuschaffen aus guten Gründen nicht. Jetzt geht es darum, die sechs
Monate Wehrpflicht so effizient wie möglich auszugestalten, damit diese Verkürzung kein Einstieg in den
Ausstieg aus der Wehrpflicht wird.
({98})
Damit das gelingt, wollen wir natürlich auch Maßnahmen ergreifen, die dann zu mehr Wehrgerechtigkeit als
heute führen. Dazu sind wir entschlossen.
Wir stehen auch weiter zu dem Konzept der vernetzten Sicherheit, also der Vernetzung von militärischen
und zivilen Maßnahmen. Deshalb sage ich auch ganz
deutlich: Für die neue Bundesregierung ist Entwicklungszusammenarbeit keine Nebensache, sondern eine
Hauptsache.
({99})
Deshalb bekräftige ich heute vor diesem Hohen Hause
ausdrücklich: Das Erreichen der Millenniumsziele für
Afrika ist und bleibt uns Verpflichtung. Wir halten am
Ziel fest, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Entwicklungspolitik bereitzustellen. Auch das ist
eine moralische Aufgabe.
({100})
Meine Damen und Herren, die von mir genannten
fünf Punkte kennzeichnen die Größe der Aufgabe, die
die neue Regierung zu meistern hat. Kaum eine Regierung vor uns hat seit 1990 vor derartigen Herausforderungen gestanden. Ich will ehrlich sein: Was vor uns
liegt, das ist kein leichter Weg. Es wird immer wieder
harter Entscheidungen bedürfen, und ich kann nicht versprechen, dass alles schnell leichter und besser wird.
Aber was ich sagen kann, ist dieses: Wir haben bei allen
Schwierigkeiten viel Anlass zur Zuversicht. Wir haben
in der 60-jährigen Geschichte unseres Landes schon
ganz andere Aufgaben gemeistert: den Wiederaufbau
nach dem Krieg, die Überwindung der Teilung, den Sieg
der Freiheit, den Aufbau der neuen Bundesländer.
Es ist wahr, jede große Herausforderung hat ihre spezifischen Umstände. Aber wahr ist auch: Gemeistert haben wir sie alle, weil wir uns auf die Werte besonnen haben, die am Anfang unseres Landes standen: Frieden in
Freiheit, Einheit und Zusammenhalt, solidarisches Miteinander, Vertrauen in die Kraft der Menschen - mit einem Wort: auf Freiheit in Verantwortung. Das ist das
Leitbild der christlich-liberalen Koalition. Damit werden
wir Deutschland zu neuer Stärke führen.
({101})
Die Parteien, meine Damen und Herren, die diese
neue Regierung bilden, Union und FDP, sind die Parteien, die die soziale Marktwirtschaft in Deutschland
eingeführt und verankert haben. Union und FDP sind die
Parteien, die nie an der Kraft unseres freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialsystems gezweifelt haben.
({102})
Wir, Union und FDP, haben jetzt den Auftrag erhalten, Deutschland stärker aus der Krise zu führen, als es
in sie hineingegangen ist, und so unserem Land und seinen Menschen eine gute Zukunft zu sichern. Darum geht
es, ganz schlicht: um eine gute Zukunft. Ich bitte alle
Bürgerinnen und Bürger, auf diesem Weg mitzumachen.
Jeder ist Teil des Ganzen. Jeder kann Deutschland besser
machen. Das schließt auch die Opposition unseres Landes ein.
({103})
- Das schließt auch die Opposition ein. Das Land
braucht uns alle, die wir in politischer Verantwortung
stehen.
Meine Regierung bietet dem ganzen Deutschen Bundestag eine faire und vertrauensvolle Zusammenarbeit
an. Wir bieten allen Gruppen unserer Gesellschaft
- Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Religionsgemeinschaften, Wissenschaft, Kultur - eine faire und vertrauensvolle Zusammenarbeit an, weil wir überzeugt
sind: Es lohnt sich, gemeinsam für Deutschland zu arbeiten. Es lohnt sich, weil hier unsere Heimat und unsere
Zukunft sind.
Herzlichen Dank.
({104})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Union und FDP - da sitzt es nun, das selbsternannte
Traumpaar der deutschen Politik. Auf alles war dieses
Traumpaar vorbereitet, nur nicht auf gemeinsames Regieren. Diese Kleinigkeit haben sie vergessen.
({0})
Aber die Öffentlichkeit hat ihr Urteil schon gesprochen.
„Blanker Dilettantismus“, „Klientel statt Klarheit“, „fi40
nanzpolitischer Blindflug“, das sind nicht meine Worte,
nicht nur die Worte der Opposition, sondern so urteilt
auch die Wirtschaftspresse, Ihre enttäuschte Anhängerschaft.
({1})
Katastrophaler hätte der Fehlstart nicht sein können.
Durchgefallen, und das knapp zwei Wochen nach dem
Start.
({2})
Wir hätten hier gern etwas zu der Koalitionsvereinbarung gehört. Was Sie mit dieser Vereinbarung abgeliefert haben, ist ein einziges Dokument der Vertagung,
der Verunsicherung, gestreckt auf 124 Seiten. Wenn es in
den vergangenen Wochen Taktik war, Verwirrung in der
deutschen Öffentlichkeit zu stiften, dann haben Sie damit allerdings sehr großen Erfolg gehabt. Acht Kommissionen und 15 Prüfaufträge finden sich in diesem Koalitionsvertrag. Alle schwierigen Entscheidungen haben
Sie vertagt. Kaum war die Tinte trocken, musste schon
zu Nachverhandlungen eingeladen werden.
({3})
Heute Klarheit zu schaffen, Frau Merkel, wäre Ihre Aufgabe gewesen. Deshalb hat sich der Deutsche Bundestag
heute hier versammelt, und das erwartet die deutsche Öffentlichkeit.
Aber ich sage Ihnen ebenso offen: Nach der Hauerei
der Koalitionäre am vergangenen Wochenende habe ich
geahnt, dass das nichts wird. Frau Bundeskanzlerin, das
eben war keine Regierungserklärung, sondern ein Regierungsrätsel, und Sie kennen die Lösung selbst nicht.
({4})
Rätselhaft ist, wann, wo und wie die versprochenen
Steuersenkungen umgesetzt werden sollen. Rätselhaft
ist, wie Sie diese Steuersenkungen finanzieren wollen,
was Sie den Menschen dann zumuten wollen, was Sie
ihnen aufbürden wollen:
({5})
Erhöhung von Abgaben, Kürzungen bei den Sozialleistungen oder bei der Bildung, Einführung der Pkw-Maut
oder am Ende alles zusammen? Seit Wochen verweigern
Sie darüber die Auskunft, und heute sind wir auch nicht
schlauer.
({6})
Ich sage Ihnen auch: Vernebeln als Strategie hat in
dieser Koalition und in dieser Koalitionsvereinbarung
Methode. Ihr erstes Gesetz - Sie haben es vorhin vorgestellt - ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Orwell
hätte seine helle Freude daran. Es handelt sich um kryptische Wortungetüme, die das Gegenteil von dem meinen, was sie sagen. Warum sage ich das?
({7})
- Hören Sie genau hin! - Dieses Wachstumsbeschleunigungsgesetz ist doch in Wirklichkeit ein Zukunftsverhinderungsgesetz.
({8})
Allein für diese Maßnahmen muss der Bund bis 2013
3,9 Millionen Euro mehr an Zinsen zahlen,
({9})
Geld, das dann für Forschung und Investitionen fehlt. So
entsteht eben kein Wachstum. So verhindert man Wachstum, so macht man Zukunft kaputt. Deshalb ist das der
falsche Weg.
({10})
Was Sie mit diesem Koalitionsvertrag vorlegen, ist
keine Konjunkturpolitik. Das ist Klientelpolitik. Ich
frage mich: Was reitet Sie da eigentlich mitten in dieser
tiefsten Krise, wo doch alle wissen - Sie haben es eben
selbst gesagt -, dass das dicke Ende auf dem Arbeitsmarkt noch kommt? Millionen von Menschen - nicht
nur bei Opel - bangen um ihre Zukunft. Aber was machen Sie? Sie verteilen Geschenke an Steuerberater, Erben, Ärzte und Hotelketten.
({11})
Ich sage Ihnen: Wenn das die Antwort auf die Krise ist,
dann ist diese Regierung fehl am Platze.
({12})
Das ist alles erst der Anfang. 24 Milliarden Euro
Steuerentlastungen sollen noch in Aussicht stehen. Steuergeschenke auf Pump sind doch ökonomische Geisterfahrerei.
({13})
Ich habe mich immer gefragt, Frau Bundeskanzlerin,
was Sie meinten, wenn Sie gesagt haben, mit der FDP
könnten Sie endlich all das machen, was mit der SPD
nicht möglich gewesen sei. Jetzt wissen wir, was gemeint war: zusätzliche Schulden in Rekordhöhe, und das
für Steuersenkungen, die schlicht und einfach nicht finanzierbar sind. Das ist die Botschaft, die Sie zwar nicht
aufgeschrieben haben, die aber alle so verstanden haben.
Das versichere ich Ihnen.
({14})
Damit das am Ende nicht so auffällt, wollten Sie diese
Schulden anfänglich in riesigen Schattenhaushalten
verschwinden lassen.
({15})
An dieser Stelle sind Sie scheinbar und nur unter öffentlichem Druck zurückgerudert. Wenn man aber in diesem
Koalitionsvertrag das Kleingedruckte liest, dann muss
man sagen: Das gigantische Täuschungsmanöver, das
dort angelegt war, ist doch erhalten geblieben; da steht
jetzt nur etwas anderes. Sondervermögen für generationengerechte Finanzen, so wird im Koalitionsvertrag fabuliert. Was ist das denn anderes als ein Schattenhaushalt im neuen Gewand? Das Ganze wird nur gemacht,
um Spielgeld für Steuersenkungen zu haben. Frau
Merkel und Herr Westerwelle, diese Operation „Täuschen, Tricksen, Vernebeln“ wird scheitern. Sie muss
scheitern. Wir werden dabei helfen; das versprechen wir
Ihnen.
({16})
Wir lassen uns nicht blenden von der einen oder anderen verharmlosenden Überschrift in diesem Koalitionsvertrag. Wer da nämlich genau hinschaut und wer ein
bisschen gelernt hat, zwischen den Zeilen zu lesen, der
erkennt doch in diesem Koalitionsvertrag: Da sind Weichen für eine andere Republik gestellt.
Frau Merkel, Sie haben letzte Woche in Washington
vor dem Kongress gesagt, dass es unsere Aufgabe sei,
Mauern niederzureißen, Mauern in unseren Köpfen,
Mauern aufgrund eines kurzsichtigen Eigeninteresses,
Mauern zwischen Gegenwart und Zukunft. Schön gesagt. Ich denke, da sind wir alle in diesem Haus einer
Meinung. Das Problem ist nur: Sie meinen das nicht
ernsthaft.
({17})
Hier zu Hause tun Sie genau das Gegenteil.
({18})
Dieser Koalitionsvertrag reißt keine Mauern ein. Er zieht
neue Mauern hoch. Das ist die bittere Wahrheit. Das
wird sich herausstellen.
({19})
Verniedlichen Sie das nicht! In diesem Koalitionsvertrag sind durch eine Rekordverschuldung Spaltungen
zwischen dieser Generation und den kommenden Generationen angelegt. Sie spalten zwischen den Kindern mit
reichlich Chancen und den Kindern mit wenigen Chancen. Sie legen im Gesundheitswesen die Axt an das Solidarprinzip an.
({20})
Sie gefährden den sozialen Zusammenhalt, und Sie treiben dieses Land mit der Rückkehr zur alten Atompolitik
- das prophezeie ich Ihnen - in den damaligen gesellschaftlichen Großkonflikt zurück. Deshalb sage ich: Sie
wollten Brücken bauen, doch in Wirklichkeit heben Sie
Gräben aus. Das wird das Ergebnis der Politik sein. Das
hat dieses Land, das haben die Menschen in diesem
Land nicht verdient.
({21})
Herr Westerwelle, ich erinnere mich noch gut daran,
wie Sie als Oppositionsredner in den vergangenen Jahren anlässlich von Haushaltsberatungen an diesem Pult
gestanden haben.
({22})
Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen, haben Sie immer gesagt. Die Frage ist nur: Warum
gilt das alles nicht mehr? Vor ein paar Monaten haben
Sie uns noch das Liberale Sparbuch auf den Tisch geknallt, und jetzt sind Sie der Schuldenmacher der Nation.
Ämter verändern Menschen; aber das ist Mutation in
Lichtgeschwindigkeit.
({23})
Darum geht es aber gar nicht. Viel schlimmer ist: Unsere Kinder und Enkel werden diese Zeche bezahlen,
weil der Trick „Steuersenkungen finanzieren sich selbst“
- sie alle wissen das - natürlich nicht funktioniert. Er hat
nie funktioniert, nicht bei Ronald Reagan und nicht bei
Theo Waigel. Das Schlimme ist: Sie wissen, dass er auch
bei Ihnen nicht funktionieren wird. Dennoch machen Sie
es. Das ist vorwerfbar, das ist Handeln wider besseres
Wissen und Täuschung, und dies werfen wir Ihnen vor.
({24})
Ich bin fest davon überzeugt: Schon im nächsten
Sommer wird sich zeigen, Frau Bundeskanzlerin, dass
diese Schuldenpolitik tiefe Löcher nicht nur in den
Haushalt des Bundes, sondern auch in die Haushalte der
Länder und Kommunen reißt. Sie werden dann dort sparen müssen, wo es um Lebenschancen von Kindern geht.
Wir werden weniger neue Ganztagsschulen und weniger
Jugendsozialarbeit haben. Viele Kinder wird das treffen,
aber manche besonders hart, nämlich diejenigen, die am
Rande dieser Gesellschaft stehen. Dafür liefert in der Tat
das erste Gesetzesvorhaben, zu dem Sie eben geredet haben, den ersten Beweis.
Ich verstehe, dass sich die Menschen freuen, wenn
mehr Geld für Familien versprochen wird. Aber der
Grundsatz muss doch heißen: Jedes Kind ist uns gleich
viel wert.
({25})
Aber was machen Sie? Was ist die Folge Ihres Gesetzesvorschlags? Die Folge ist - das sollten alle wissen -: Die
Verkäuferin bekommt 240 Euro im Jahr mehr, und die
Besserverdienenden bekommen fast das Doppelte,
443 Euro, mehr. Sie treiben die Schere zwischen armen
und reichen Familien weiter auseinander. Ich sage: Das
ist nicht gerecht. Das ist die falsche Politik.
({26})
Die ganze Wahrheit ist: Dieses Füllhorn können wir
nicht zweimal ausschütten. Wer den Kinderfreibetrag
und das Kindergeld erhöht, muss auch sagen, was das für
den Ausbau der Betreuung bedeutet. Da werden Sie
ganz schmallippig. Wo ist denn da ein einigermaßen
glaubwürdiges Gesamtkonzept? Die letzten zehn Jahre
waren wir doch auf einem ganz ordentlichen Weg: mehr
Betreuung, auch mehr Ganztagsbetreuung, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Aber das, was jetzt
kommt - das haben Sie eben angedeutet -, ist doch ein
Salto rückwärts.
({27})
Denn Sie sagen den Eltern nicht, dass Großzügigkeit
jetzt und heute ihren Preis hat und dass Sie das Geld
nicht zweimal ausgeben können. Das heißt, der Ausbau
der Betreuung wird zum Ende kommen. Sie verkennen,
dass auch Ihre Politik Prioritäten setzen muss. Ich sage:
Wenn ich über Prioritäten entscheide, dann muss der
Ausbau der Betreuung Priorität haben.
({28})
Es muss doch Einverständnis in diesem Hohen Hause
bestehen, dass moderne Familienpolitik nur da sein
kann, wo Familien, wo Eltern ihren Lebensunterhalt
wirklich selbst verdienen können. Das ist moderne Familienpolitik, und die verraten Sie ein zweites Mal.
Ich weiß, es wird viel über die Herdprämie geredet.
Das richtige Wort müsste eigentlich sein: Fernhalteprämie.
({29})
- Schauen wir doch einmal in einige Randbezirke der
deutschen Großstädte, auch Sie! Hier in Berlin gibt es
genügend Anschauungsmaterial.
({30})
- Auch in Köln, in Hamburg, in München und anderswo. - Anreize dafür zu geben, dass die Kinder zu Hause
bleiben, statt mit anderen zu lernen, das ist doch zynisch.
({31})
Sie, Frau von der Leyen, haben das Betreuungsgeld als
bildungspolitische Katastrophe bekämpft. Ich fordere
Sie auf: Wenden Sie diese Katastrophe ab! Unsere Unterstützung haben Sie dabei; das versprechen wir Ihnen.
({32})
Bessere Betreuung und bessere Bildung gehören zusammen. Wir wollen keine verlorene Generation der
Schulabbrecher. Wir müssen nach wie vor über sozialen
Aufstieg reden. Ich weiß, was das ist. Aber noch mehr
müssen wir über sozialen Einstieg reden. Wenn ich über
sozialen Einstieg rede, dann meine ich Zuwandererfamilien, aber weiß Gott nicht nur die. Was brauchen sie? Sie
brauchen konkrete Hilfe, Sprachtraining, Förderlehrer
und Sozialarbeiter. Sie brauchen mehr davon und weniger an sozialen Hürden auf den Bildungslaufbahnen.
Deshalb kann die Antwort nur sein: weg mit den Gebühren von der Kita bis zur Universität! Das und nur das ist
moderne Bildungspolitik, und das wollen Sie einfach
nicht glauben.
({33})
Ich habe vorhin gesagt, und das mit großem Ernst: In
diesem Koalitionsvertrag ist soziale Spaltung angelegt. Dies wird auch Ihnen in den nächsten Wochen und Monaten mit dem Beginn der politischen Auseinandersetzung hier in diesem Hause deutlich werden. - Das ist
nirgendwo deutlicher als in der Gesundheitspolitik. Das
ist nicht irgendetwas; da steht was auf dem Spiel! Ich
habe mich in der Vergangenheit darum gekümmert. Deshalb sage ich Ihnen: Vielleicht schauen wir manchmal
ein wenig zu nachlässig auf das, was wir miteinander erreicht haben. Andere jedenfalls - das weiß ich aus vielen
Kontakten mit dem Ausland -, auch die Amerikaner, gerade in der heutigen Situation, schauen mit Anerkennung
auf unser Gesundheitssystem: dass wir es geschafft haben, dass bei uns nach wie vor jeder Zugang zu medizinischen Leistungen hat, dass Menschen für Menschen in
diesem Gesundheitssystem einstehen und dass wir die
Kosten solidarisch tragen. Auch wenn wir es nicht jeden
Tag so hoch bewerten, andere tun es; das kann ich Ihnen
versichern. Das ist nicht irgendetwas, wenn Sie jetzt darangehen und das Prinzip der Solidarität an einer, wie
ich finde, ganz entscheidenden Stelle zum Kippen bringen, indem Sie das Vorhaben wahrmachen, die Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung wirklich einzufrieren. Was ist denn die Botschaft? Sie ist doch ganz
einfach zu verstehen. Die Botschaft ist: Sie verlagern die
Risiken für die weitere Zukunft einseitig auf die Versicherten.
({34})
Ob das höhere Ärztehonorare sind, die Sie gerade beschlossen haben, oder steigende Arzneimittelpreise: Sie
schonen die einen und belasten die anderen. Das ist es,
was ich „Ausstieg aus der Solidarität“ nenne.
({35})
Die Arbeitgeber
- das habe ich heute Morgen in einer bekannten deutschen Tageszeitung gelesen sind aus dem Schneider. Schleichend machen sie
sich vom Acker des Sozialstaates.
Das hat kein Sozialdemokrat gesagt, das hat ein Christdemokrat gesagt. Norbert Blüm schreibt das heute in der
Süddeutschen Zeitung.
({36})
Das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Das ist ein
Weg, der den sozialen Zusammenhalt gefährdet. Wir gehen auf diesem Weg nicht mit.
({37})
Richten Sie sich in dieser Frage auf ganz harten Widerstand ein!
({38})
Aber das ist nicht alles. Wenn man ein wenig weiter
und genauer liest, dann kommt man noch auf einen anderen Punkt. Sie planen Entsolidarisierung nicht nur
zwischen Arbeitgebern und Versicherten, Arbeitgebern
und Arbeitnehmern, sondern auch im Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen zueinander. Auch wenn das
im Augenblick noch keiner so richtig gemerkt hat,
({39})
- danke, Herr Fricke. - geht es im Grunde genommen
darum: Sie wollen über den Gesundheitsfonds an den
Finanzausgleich zwischen den armen und den reichen
Krankenkassen heran. Das mag gut für Bayern sein, aber
ist schlecht für den Osten.
({40})
Denn was wird die Folge sein für die strukturschwachen
Regionen, und zwar nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in einigen Gegenden in Westdeutschland? Die
Folge sind entweder irrsinnig hohe Beiträge oder aber
weniger Leistung und weniger Ärzte. Das ist erkennbar
nicht die Lösung, sondern das Problem. Dieses Problem
schaffen Sie in dieser Regierung selbst, weil Sie die Solidarität und das Einstehen füreinander im gesetzlichen
Gesundheitssystem in Deutschland nicht wirklich verstehen. So wird ruiniert, was uns in den sechs Jahrzehnten
der Nachkriegszeit stark gemacht hat, sowohl was den
sozialen Zusammenhalt als auch was die Demokratie in
Deutschland betrifft.
({41})
Im Kern spreche ich über den Bereich Gesundheit,
aber den Geist, den ich beschreibe und den ich kritisiere,
sehe ich an verschiedenen Stellen des Koalitionsvertrages. Dieses Land wird gespalten zwischen denen, die
alleine zurechtkommen, und denjenigen, die abgehängt
werden. Wir haben die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den letzten Tagen bei den Feierlichkeiten
zur deutschen Einheit immer wieder genannt, bewertet,
betont und unterstrichen. Wir haben feierlich beschworen, dass das ein Gebot der Verfassung ist. Gerade deshalb dürfen wir das nicht aufgeben, auch nicht schleichend.
Sie haben in dieser Koalitionsvereinbarung ein verharmlosendes Wort, ein Vernebelungswort gefunden.
Dieses Vernebelungswort lautet - ich habe es im Koalitionsvertrag mehrfach gefunden -: Regionalisierung. Sie
wollen regionale Hebesätze bei der Erbschaftsteuer, sie
wollen eine Regionalisierung bei der Krankenversicherung, und das alles am Ende mit derselben Konsequenz:
Wer mehr hat, darf mehr behalten. Das ist Ihre Politik,
Frau Bundeskanzlerin. Ich finde, wir finden, das ist die
falsche Politik, und wir werden sie bekämpfen.
({42})
Ich bin mir sicher: Wir werden da nicht alleine sein,
nicht in diesem Hohen Hause und auch nicht in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt. Warum sage ich das? In
den Kommunen fehlen infolge der Wirtschaftskrise
schon jetzt Steuereinnahmen in Höhe von 6 Milliarden
Euro. Viele Kommunen - Sie hören das auch von Bürgermeistern und Oberbürgermeistern aus Ihren Reihen stehen schon jetzt mit dem Rücken zur Wand. Durch die
Änderungen und durch die Prüfaufträge, die Sie vergeben haben, droht den Kommunen in Wahrheit, dass
ihnen auch noch das letzte Hemd genommen wird: ohnehin weniger Einkommensteuereinnahmen, Infragestellung der Gewerbesteuer durch die Kommission, die Sie
einberufen, und Wegfall des Mehrwertsteuerprivilegs für
die kommunalen Unternehmen. Meine Damen und Herren, wenn Sie mit diesen Plänen in all den Bereichen
wirklich durchkommen, dann sind die Kommunen am
Ende. Wenn Sie das mir nicht glauben - dafür hätte ich
ja noch Verständnis -, dann sollten Sie es doch der
Frankfurter Oberbürgermeisterin glauben, die Ihrer Partei angehört. Sie spricht von „Demontage der kommunalen Selbstverwaltung“. Die Menschen werden das bitter
zu spüren bekommen.
({43})
Frau Roth hat das gesagt, der Deutsche Städtetag hat das
gesagt, und auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund ist auf dieser Linie. Sie haben doch gar keine andere Wahl, wenn Sie diese Politik wirklich wahr werden
lassen. Was sollen sie denn anderes tun, als das, was ihnen genommen wird, in Gebühren- und Abgabensteigerungen für die Bürger zu übersetzen?
Das ist das Kleingedruckte in Ihrem Koalitionsvertrag. Das ist das, was viele bisher übersehen haben. Deshalb sage ich: Schwarz-Gelb wird am Ende eben nicht
mehr Netto vom Brutto bedeuten. Sie gehen den anderen
Weg, den der Abgaben- und Gebührensteigerungen. Ich
prophezeie Ihnen: Am Ende wird es weniger Netto vom
Brutto sein. Das wird Ihre Politik ergeben.
({44})
Das aus meiner Sicht Verheerendste zum Schluss: Sie
entzweien das Land weiter. Auf der einen Seite sind diejenigen, die von ihrer Arbeit leben können, und auf der
anderen Seite diejenigen, die mit Billiglöhnen abgespeist werden. Das Gegenteil ist richtig; wir wissen das
doch alle. Wenn es richtig ist - ich jedenfalls glaube daran -, dass derjenige, der den ganzen Tag arbeitet, auch
von seinem Lohn einigermaßen leben können muss, und
dies immer noch das Grundprinzip einer Arbeitsgesellschaft ist,
({45})
dann machen Sie dieses Prinzip kaputt, und zwar wieder
mit einem Trick an der entscheidenden Stelle; Sie haben
ihn eben vorgestellt. Sie sagen, dass Sie in Ihrer Koalition sittenwidrige Löhne ausschließen wollen. Ich sage:
Was für ein Heldenmut! Das gilt schon, und das wissen
alle Beteiligten hier.
({46})
Sittenwidrig sind nach herkömmlicher Rechtsprechung
Löhne - das wissen Sie alle -, die die Tariflöhne bzw.
die ortsüblichen Löhne um mehr als ein Drittel unterschreiten. Was heißt das auf gut Deutsch? Das heißt,
dass Sie für Hunderttausende in dieser Republik Billiglöhne von 4 Euro festschreiben, und das als diejenigen, die in diesem Wahlkampf „Arbeit muss sich wieder
lohnen“ plakatiert haben. Was ist das für ein Leistungsbegriff?
({47})
Ich kann fragen: „Was ist das für ein Leistungsbegriff?“, aber eigentlich müsste man fragen: Was ist das
für ein Menschenbild? Wenn Eltern ihren Kindern sagen
müssen: „Ich war zwar den ganzen Tag arbeiten, aber am
Monatsende muss ich trotzdem aufs Amt“, dann ist und
bleibt das entwürdigend. Das ist heute entwürdigend,
und das ist die Altersarmut von morgen. Deshalb ist das
der falsche Weg. Mindestlöhne sind die richtige Antwort, und diese Antwort verweigern Sie in der Koalitionsvereinbarung, in der Politik.
({48})
Schuldenpolitik im Blindflug, Schwächung der
Schwachen, Stärkung der ohnehin Starken, Entsolidarisierung beim Gesundheitssystem, Ausspielen der Regionen gegeneinander, Ausbluten der Kommunen, aber
eben gleichzeitig vollmundige Steuersenkungen auf
Pump - Frau Merkel, Herr Westewelle, ich glaube, Sie
sind nicht das Traumpaar der deutschen Politik. Wenn
das so wahr wird, dann werden Sie zum Traumtänzerpaar. Das spricht sich mittlerweile herum.
({49})
Frau Bundeskanzlerin, diese Regierung hat einen
Koalitionsvertrag, aber sie hat keinen Plan. Da ist kein
Projekt, da ist kein Anspruch, und da ist kein Ehrgeiz.
Das ist das eigentlich Schlimme, weil unser Land - auch
Sie sagen es - vor entscheidenden Jahren steht. Unser
Land braucht eine Leitidee, wie Wohlstand und Arbeit
in diesem neuen Jahrzehnt entstehen können, eine Idee,
welche Konsequenzen wir aus der Krise der Finanzmärkte, mittlerweile einer weltweiten Wirtschaftskrise,
ziehen, wie wir die daraus entstehenden Lasten fair verteilen, wie wir die Finanzmärkte dazu bringen und zwingen, ihren Beitrag zu leisten, und vor allen Dingen wie
wir verhindern, dass sich diese Krise wiederholt. Wir
brauchen eine Idee, wie wir die sozialen Gräben dieses
Landes überwinden, wie wir wirkliche Chancengleichheit schaffen und wie wir im Bereich der Integration
nachholen, was wir jahrzehntelang möglicherweise versäumt haben. Nur wer Antworten auf diese Fragen hat,
kann ernsthaft und kraftvoll regieren. Diese Regierung
- davon bin ich überzeugt - hat sie jedenfalls nicht.
({50})
Sie haben gesagt, Frau Bundeskanzlerin: In diesem
Land steckt viel. Ja, aber das Problem ist: In dieser Regierung steckt der Wurm. Deshalb haben Sie die schönsten Tage Ihrer Regierungszeit schon hinter sich.
Vielen Dank.
({51})
Ich erteile das Wort der Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Beginn der Arbeit des 17. Deutschen Bundestages fällt
zusammen mit dem Jahrestag des Falls der Mauer vor
20 Jahren. Deshalb ist es richtig, dass wir uns in diesen
Tagen erinnern, dass wir zurückschauen und uns noch
einmal vergegenwärtigen, was vor 20 Jahren geschah.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann stehen für
mich ganz persönlich nicht nur diese historische Situation und geschichtliche Tatsachen im Vordergrund, die
unser Land verändert haben. Vielmehr bewegt mich damals wie heute die emotionale Verfasstheit unseres Landes, die von einer Aufbruchstimmung geprägt war. Wir
können aus dieser Zeit etwas lernen: was Solidarität untereinander, was Hilfsbereitschaft, was spontane Freude
über das unerwartete Glück anderer angeht und welche
Kraft das Bewusstsein für die Bedeutung von Freiheit in
einem Volk freisetzen kann.
({0})
Der Fall der Mauer markiert den Sieg der Freiheit
über die Unfreiheit. Er ist im Endeffekt ein Geschenk
derjenigen, die den Mut hatten, etwas Neues zu schaffen,
auf die Straße zu gehen. Er ist ein Geschenk der Mutigen
an ein ganzes Volk, an den Staat und an die ganze Welt.
Die Überwindung der deutschen Teilung beendete
auch die Spaltung Europas. Die europäische Einigung
hat zur Stabilisierung des Friedens in Europa beigetragen. Der Vertrag von Lissabon eröffnet uns heute ChanBirgit Homburger
cen, diese Zusammenarbeit in Europa weiter zu vertiefen. Wir als Koalition wollen die Chancen nutzen und
dafür sorgen, dass diese vertiefte Einigung Europas auch
im Alltag umgesetzt wird.
({1})
In der Außenpolitik haben wir viele Kontinuitätslinien.
({2})
Aber es gibt auch einige neue Akzente, die gesetzt werden. Es ist heute schon deutlich geworden, dass die
Abrüstungspolitik für diese Regierung eine zentrale
Rolle spielt.
({3})
Wir als Koalition unterstützen die von US-Präsident
Barack Obama unterbreiteten Vorschläge für neue, weitgehende Abrüstungsinitiativen mit Nachdruck. Das
schließt auch das ehrgeizige Ziel einer nuklearwaffenfreien Welt mit ein. Selbst Zwischenschritte auf dem
Weg dorthin stellen einen bedeutenden Zugewinn für die
weltweite Sicherheit dar.
({4})
Daher werden wir uns in der NATO und auch gegenüber
den USA weiterhin dafür einsetzen, dass die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abgezogen werden. Das
war nicht immer so klar, wie es jetzt im Koalitionsvertrag steht. Es ist gut für Deutschland, dass wir uns darauf
verständigt haben.
({5})
Eine besondere Herausforderung in der Außenpolitik
stellt der Einsatz in Afghanistan dar. Wir haben als
Koalition deutlich gemacht, dass wir wissen, was dieser
Einsatz gerade für unsere Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Es geht um die Stabilisierung Afghanistans; sie
ist in unserem eigenen Interesse. Aber es geht nicht nur
um Stabilisierung, sondern wir wissen ganz genau, dass
die Soldatinnen und Soldaten jeden Tag vor großen Herausforderungen und auch in einem Kampfeinsatz stehen. Diese Regierung hat deutlich gemacht, dass wir
wissen, um was es dort geht. Ich sage an dieser Stelle:
Wir sind dankbar für das, was vor Ort geleistet wird: von
unseren Soldatinnen und Soldaten, aber auch von den
Polizisten, die an der Polizeiausbildung mitwirken, und
von den Entwicklungshelfern.
({6})
Uns geht es darum, zusammen mit den Partnern eine
Strategie zu finden, die den Wiederaufbau in den Mittelpunkt stellt und die vor allen Dingen dafür sorgt, dass
Afghanistan dauerhaft selbst für Sicherheit und Ordnung
sorgen kann. Deswegen werden wir die Ausbildung des
Militärs, aber auch die Ausbildung der Polizei weiter
verstärken. Das ist der Schlüssel dazu, dass die afghanische Regierung selbst für Sicherheit und Ordnung sorgen kann. Je früher das möglich ist, desto früher gibt es
eine Perspektive, den Afghanen allein die Verantwortung für dieses Land zu übertragen. Das ist unser Ziel.
({7})
Herr Steinmeier, ich möchte an dieser Stelle sagen,
dass es mich ein bisschen verwundert, dass Sie überhaupt nichts zur Außenpolitik gesagt haben. Wir hatten
in den vergangenen Jahrzehnten in diesem Hause die
gute Tradition, dass in der Außenpolitik viel gemeinsam
geht.
({8})
Die Tatsache, dass Sie, Herr Steinmeier, hierzu nichts
gesagt haben, wirft die Frage auf, ob Sie, ob die SPD
sich hier vom Acker stehlen will.
({9})
Der Einsatz der Bundeswehr an vielen Orten der
Welt
({10})
zeigt uns längst, dass die Bundeswehr eine Armee im
Einsatz geworden ist. Deswegen war es richtig, dass wir
im Koalitionsvertrag festgelegt haben, dass die Organisationsstruktur der Bundeswehr überprüft wird, und
richtig war auch, dass die FDP hinsichtlich der Wehrpflicht konsequent durchgesetzt hat, dass die Grundwehrdienstzeit zum 1. Januar 2011 von neun auf sechs
Monate verkürzt wird.
({11})
Das ist eine Reduzierung um ein Drittel. Das bringt eine
Entlastung der Wehrpflichtigen. Es zeigt deutlich, dass
auch an dieser Stelle Bewegung möglich ist.
({12})
Wir blicken in diesem Jahr nicht nur auf 20 Jahre
Mauerfall, sondern auch auf 60 Jahre Bundesrepublik
Deutschland zurück. Den Wohlstand, der in diesem Land
in dieser Zeit erarbeitet wurde, verdanken wir der sozialen Marktwirtschaft. Sie hat sich in vielen Krisen als
lern- und zukunftsfähiges Modell erwiesen. Dabei ist
völlig klar, dass wir das, was geschaffen wurde, nicht
durch möglichst viel Gleichheit, sondern durch mög46
lichst viel Freiheit erreicht haben, im Glauben an und im
Vertrauen auf die Kraft, den Fleiß, die Leistungsbereitschaft und die Kreativität der Menschen in diesem Land.
Genau diese Leistungsbereitschaft, genau diese Kreativität wollen wir durch mehr Freiheit wieder freisetzen und
für die Zukunft nutzen.
({13})
Viele Menschen in diesem Land fürchten angesichts
der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise um ihre
Existenz. Viele Arbeitnehmer fürchten um ihre Arbeitsplätze; aber, was oft vergessen wird, auch viele Unternehmerinnen und Unternehmer fürchten um ihre Existenz.
({14})
Viele große Unternehmen stecken in erheblichen
Schwierigkeiten. Menschen, die aufgrund der Wirtschaftskrise ihren Arbeitsplatz verloren haben oder in
Hartz IV geraten sind, verlieren ihr Erspartes und oft genug auch ihre Zuversicht.
Dagegen stellen wir uns. Das schafft man aber nicht
mit Verzagtheit, das schafft man nur mit klaren Reformen und mit mehr Freiheit im Rahmen der sozialen
Marktwirtschaft.
({15})
Angesichts der Finanzmarktkrise sind auch politische
Korrekturen und Reformen notwendig. Zentral ist aber,
dass die Regeln, die es gibt und die die Politik setzt,
auch eingehalten werden. Deshalb werden wir die Aufsicht über die Banken in Deutschland bei der Deutschen Bundesbank zusammenführen,
({16})
damit die Bankenaufsicht anders als in der Vergangenheit schlagkräftig wird.
({17})
Das zeigt die Handschrift der Liberalen. Wir haben gestern das Wachstumsbeschleunigungsgesetz auf den
Weg gebracht, weil wir einen Neustart in Deutschland
brauchen. Zum 1. Januar 2010 werden wir damit beginnen, vor allem Familien und die Mittelschicht in diesem
Land zu entlasten. Wir wollen und wir werden das
Wachstum beschleunigen; denn nur Wachstum wird dafür sorgen, dass wir den Weg aus der Krise finden, Arbeitsplätze erhalten und neue schaffen.
({18})
Deshalb wollen wir die Unternehmen zuverlässig entlasten und den Bürgerinnen und Bürgern dauerhaft mehr
Netto vom Brutto lassen. Deshalb werden wir noch in
dieser Legislaturperiode zu einem einfacheren und gerechteren Steuersystem kommen.
({19})
Wir werden den Stufentarif einführen. Unser Ziel ist, die
Steuern auf kleine und mittlere Einkommen zu senken,
die Mittelschicht zu stärken und dafür zu sorgen, dass
sich in diesem Land für Menschen, die bereit sind, die
Ärmel hochzukrempeln, Leistung endlich wieder lohnt.
({20})
Wir werden im Rahmen dieser Strukturreformen für
Vereinfachung sorgen, weil wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger wieder verstehen können, was der
Staat von ihnen will. Wir wollen, dass der Staat mit dem
Bürger fair umgeht. Das werden wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz umsetzen.
Wir werden die Unternehmensteuerreform korrigieren und Wachstumshemmnisse beseitigen. Ich sage an
dieser Stelle ganz deutlich: In den vergangenen Monaten
standen in der öffentlichen Aufmerksamkeit, wenn es
um Arbeitsplätze ging, immer einzelne große Unternehmen. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich darauf konzentriert. Wir wollen, dass in unserer Politik der Fokus
auf die vielen kleinen und mittleren Betriebe gelegt
wird, die den größten Teil der Arbeits- und Ausbildungsplätze in Deutschland schaffen und erhalten.
({21})
Deutschlandweit stehen jährlich 80 000 Betriebe zur
Übergabe an. Die meisten von ihnen sind mittelständische Familienunternehmen. Diese Unternehmen haben
große Probleme, die Nachfolge zu regeln. Das hat auch
etwas damit zu tun, dass die potenziellen Nachfolger
wissen, wie schwierig es ist, am Markt zu bestehen, und
dass man regelmäßig mit seiner und mit der Existenz seiner Familie für ein solches Familienunternehmen einsteht. Deswegen wollen wir, dass diejenigen, die dieses
Risiko tragen und die damit Chancen auf Arbeit und
auch auf Ausbildung schaffen, endlich wieder fair behandelt werden. Deshalb werden wir auch die nötigen
Korrekturen an den Regelungen zur Erbschaftsteuer vornehmen.
({22})
Ich sage an dieser Stelle noch eines: Wir werden eine
weitere Korrektur im Bereich der Erbschaftsteuer
durchführen, indem wir die Steuerbelastung für Geschwister und Geschwisterkinder bei der Erbschaft- und
Schenkungsteuer durch einen neuen Steuertarif verringern. Wir korrigieren hier einen großen Fehler der alten
Regierung, weil Geschwister damals fast wie Fremde
behandelt worden sind. Das passt nicht in unser Familienbild, und deshalb werden wir das ändern.
({23})
Wir kümmern uns auch um die, die unverschuldet in
Not geraten sind. Wir werden eine weitere soziale
Schieflage in unserem Land beseitigen, indem wir das
Schonvermögen bei Hartz-IV-Empfängern von 250 Euro
auf 750 Euro pro Lebensjahr erhöhen. Darüber hinaus
werden wir die selbstgenutzte Immobilie vor dem Zugriff des Staates schützen, weil diejenigen, die das getan
haben, was wir ihnen immer gesagt haben, nämlich zu
sparen und für das Alter vorzusorgen, nicht alleingelassen werden dürfen, wenn sie unverschuldet in Not geraten. Deshalb werden wir diese Schieflage beseitigen und
die falsche Politik der SPD korrigieren.
({24})
Wir haben auch hinsichtlich der Haushaltslage klare
Regeln in unserem Koalitionsvertrag.
({25})
Wir machen deutlich, dass Steuerentlastung und Haushaltskonsolidierung Hand in Hand gehen müssen. In
den Ländern, in denen CDU und FDP gemeinsam regieren, sehen Sie, dass wir dort in der Vergangenheit schon
Kurs gehalten haben.
Jetzt komme ich zu dem, was Sie zum Thema Verschuldung gesagt haben, Herr Steinmeier. Entschuldigung, aber wer hat denn in diesem Land die Schulden
gemacht?
({26})
Der Bund hat in den letzten Jahren eine Neuverschuldung zu verantworten. In wirtschaftlich guten Zeiten
hätten Sie hier eine Nettonullverschuldung erreichen
können. Herr Steinmeier, der größte Schuldenmacher der
Nation heißt Steinbrück. Das müssen Sie schon mit sich
ausmachen und nicht auf uns schieben.
({27})
Diese neue Koalition aus Union und FDP will einen
neuen Aufbruch für Deutschland. Dazu gehört auch der
Bürokratieabbau. Der Bürokratieabbau ist ein Wachstumsprogramm zum Nulltarif. Deshalb wollen wir mit
dem Bürokratieabbau Wachstumsbremsen und Investitionsbremsen lösen.
Erstmals bekennt sich eine Koalition dazu, die bundesrechtlichen Informationspflichten um netto 25 Prozent zu reduzieren, und zwar bis 2011 im Vergleich zu
2006. Für die Zeit über 2011 hinaus werden wir ein weiteres anspruchsvolles Reduktionsziel formulieren.
Wir haben immer wieder deutlich gemacht, dass Bürokratiekosten nicht nur hinsichtlich der Informationspflichten entstehen. Wir werden dafür sorgen, dass zukünftig
Bürokratiekosten nicht mehr nur an den Informationspflichten festgemacht werden, sondern dass man weit
über diesen Begriff hinausgeht und versucht, in Deutschland Bürokratie insgesamt zurückzufahren und für die
Bürgerinnen und Bürger und für die Unternehmen mehr
Freiräume zu schaffen.
({28})
Das bedeutet, dass wir strukturelle Änderungen vornehmen werden, beispielsweise dadurch, dass wir Genehmigungsverfahren verkürzen und beschleunigen
sowie Anzeigeverfahren Vorrang vor den Genehmigungsverfahren einräumen werden. Aber wir werden
auch ganz konkrete Maßnahmen beschließen, die im Koalitionsvertrag bereits aufgeführt sind.
Wir werden vor allen Dingen eines machen: Wir werden den Normenkontrollrat stärken und seine Kompetenzen ausbauen. Wenn wir einen Aufbruch für Deutschland wollen, dann müssen wir die Chance, die
bestehenden Wachstumsbremsen zu lösen, nutzen. Das
tun wir, indem wir dem Bürokratieabbau endlich den nötigen Rang einräumen.
({29})
Wir werden dafür einstehen, dass die Menschen nicht
länger bevormundet werden, sondern dass sie die Freiheit haben, zu wählen und selbst zu entscheiden. Das gilt
für alle Bereiche. Ich sage ganz deutlich: Die Bürgerinnen und Bürger haben eine Entscheidung getroffen und
sich gegen die ideologischen Scheuklappen linker Parteien und für eine Politik mit Augenmaß und Vernunft
ausgesprochen.
({30})
Diesem Wunsch werden wir auch in der Energiepolitik nachkommen. Wir werden im nächsten Jahr ein
neues Energiekonzept für Deutschland vorlegen. Dabei
werden wir den Ausbau der erneuerbaren Energien und
die Erhöhung der Energieeffizienz in den Mittelpunkt
stellen.
({31})
Wir werden auch darauf achten, dass Energiepolitik
künftig ideologiefrei, technologieoffen und marktorientiert gestaltet wird.
({32})
Ich glaube, dafür haben wir hier die besten Voraussetzungen.
({33})
Wir sagen ganz klar: Wir können in diesem Energiemix nicht auf fossile Energieträger verzichten. Deshalb
wollen wir, dass der Investitionsstau im Bereich des
Kraftwerksbaus endlich aufgelöst wird. Wir wollen lieber mit modernen Kohlekraftwerken für geringere Emissionen sorgen, als die alten weiterlaufen zu lassen.
({34})
In der Frage der Kernenergie werden wir uns ganz
klar an der Sicherheit der Kernkraftwerke orientieren.
({35})
Wir haben immer gesagt: Wenn ein Kernkraftwerk den
hohen deutschen Sicherheitsbedingungen entspricht,
dann muss man es betreiben dürfen. Wenn es ihnen nicht
entspricht, muss es sofort abgeschaltet werden. Das wird
die Leitlinie sein. Wir sind bereit, hier eine ideologiefreie Politik zu machen.
({36})
Wir haben allerdings im Koalitionsvertrag genauso
deutlich gemacht, dass wir am Vorrang der erneuerbaren
Energien bei der Netzeinspeisung festhalten und dass
wir über das, was es bisher gibt, hinausgehen. Wir wollen, dass hier im Rahmen der Energieforschung endlich
mehr investiert wird. Das ist das klare Ziel unserer Koalition. Wir wissen, dass wir erneuerbare Energien, die
nicht dauerhaft zur Verfügung stehen, wie Wind und
Sonne, grundlastfähig machen müssen. Wenn wir sie
grundlastfähig machen wollen, dann brauchen wir Speichertechnologien. Deswegen werden wir hier Impulse
setzen. Wir werden hier entsprechend investieren. Wir
werden hier mit einem Forschungsprogramm neue zukunftsträchtige Technologien auf den Weg bringen. Das
ist unser Ziel. Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren
Energien erreichen.
({37})
Daran schließt sich unser Verständnis von Klimaschutz an. Wir sehen im Klimaschutz einen Wettbewerbsmotor für neue Technologien. Es ist unser Ziel, die
Erderwärmung auf maximal 2 Grad zu begrenzen und
Deutschlands Vorreiterrolle beim Klimaschutz beizubehalten. Wir werden deshalb Erlöse aus dem Emissionshandel für nationale und internationale Klimaschutzprojekte einsetzen. Wir werden in Kopenhagen für ein
weltweites anspruchsvolles Klimaschutzabkommen
streiten. Das ist Politik für die Zukunft dieses Landes.
({38})
Besonders deutlich wird der Aufbruch, den diese Koalition erreichen möchte, auch in der Gesundheitspolitik. Nach der Politik der vergangenen Jahre, die immer
mehr auf Staatsmedizin und Zentralisierung gesetzt hat,
wollen die Bürgerinnen und Bürger ein neues Gesundheitssystem.
({39})
Auch dafür ist diese Koalition gewählt worden.
({40})
Wir wollen, dass das neue Gesundheitssystem zukunftsfest, bezahlbar und an den Bedürfnissen der Patienten ausgerichtet ist. Das haben wir im Koalitionsvertrag so beschlossen, und das werden wir auch umsetzen.
Es wird auch in Zukunft so sein, dass unabhängig von
Einkommen, Alter, sozialer Herkunft und gesundheitlichem Risiko die medizinische Versorgung qualitativ
hochwertig und wohnortnah sichergestellt wird, damit
alle am medizinischen Fortschritt teilhaben können.
Wenn Sie das erreichen wollen, dann brauchen Sie einen klaren Kompass, und dann ist auch die Freiberuflichkeit der Ärzte notwendig. Es ist gut, dass sich diese
Koalition dazu bekennt.
({41})
Deshalb ist es unerlässlich, Lösungen dafür zu finden,
wie die Kosten des medizinischen Fortschritts und der
demografischen Situation solidarisch aufgefangen werden können. Wir wollen ein Gesundheitssystem, das demografiefest und damit noch ein Stück solidarischer als
bisher ist. Es geht hierbei auch um die Solidarität zwischen den Generationen. Das ist eine große Herausforderung. Aber wir nehmen diese Herausforderung an.
({42})
Dasselbe gilt auch für die Pflege. Das Umlageverfahren garantiert die Pflegeversicherung nicht auf Dauer.
Deshalb wollen wir sie durch einige Elemente der Kapitaldeckung ergänzen. Um es klarer auszudrücken:
durch Ansparmaßnahmen. Wir wollen das System der
Pflegeversicherung dadurch zukunftsfest machen, dass
es auf hohe Qualität setzt, dass es weniger Bürokratie in
dem System gibt und wir durch weniger Bürokratie in
der Pflege wieder mehr Zeit für Zuwendung gegenüber
den Menschen haben.
({43})
Wie sozial eine Gesellschaft ist, zeigt sich auch daran,
wie wir mit älteren und pflegebedürftigen Menschen
umgehen.
({44})
Genau deshalb werden wir das System so reformieren,
dass es diesen Ansprüchen gerecht wird.
({45})
Die Förderung von Familien ist uns ein Herzensanliegen. Deshalb werden wir im Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Freibeträge für jedes Kind erhöhen, und
wir werden vor allen Dingen auch das Kindergeld erhöhen. Das ist ein erster Schritt. Ich bin davon überzeugt,
dass im Laufe dieser Legislaturperiode ein weiterer
Schritt folgen wird. Damit wollen wir die wirtschaftliche
und soziale Leistungsfähigkeit von Familien mit Kindern stärken.
Das sind Maßnahmen, die diese Gesellschaft braucht.
Es sind Maßnahmen, die Solidarität zeigen und vor allen
Dingen den Familien mehr Chancen geben.
({46})
Wir wollen Bildung als Bürgerrecht. Auch das ist
für uns ein zentraler Punkt in dieser Legislaturperiode.
Wir wissen, dass sich im Zeitalter der globalen Wissensgesellschaft die Bildung längst zur eigentlichen sozialen
Frage für den Menschen entwickelt hat. Deshalb legen
wir einen Schwerpunkt auf die Bildungspolitik. Wir haben entschieden, dass wir mit der Förderung am Beginn
des Bildungsweges ansetzen wollen. Denn wir wissen,
dass das Beherrschen der deutschen Sprache die Grundlage für den späteren Bildungserfolg ist. Deshalb haben
wir uns darauf verständigt, bundesweit vergleichbare
Sprachstandstests für alle Kinder im Alter von vier Jahren zu unterstützen und bei Bedarf eine verpflichtende,
gezielte Sprachförderung anzuschließen.
Diese Maßnahmen führen dazu, dass Kinder in jungen Jahren Chancen bekommen, die sie vielleicht von zu
Hause nicht mitbekommen. Wir unterstützen das, weil
Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, und den
wollen wir in diesem Land allen Menschen ermöglichen.
({47})
Ohne Sicherheit ist Freiheit wenig wert. Umgekehrt
darf Sicherheit nicht zulasten von Freiheit entstehen. Ich
glaube, gerade die Diskussion der letzten Tage zeigt,
dass eine Gesellschaft nicht freier ist, je intensiver ihre
Bürger überwacht, kontrolliert oder beobachtet werden.
Freiheit und Sicherheit müssen sorgsam ausbalanciert
werden. Das gelingt nur durch eine Innenpolitik, die auf
Verhältnismäßigkeit setzt. Diese Balance haben wir im
Koalitionsvertrag festgeschrieben. Wir haben vereinbart,
dass nun viele Maßnahmen, die teilweise in der rot-grünen
Regierungszeit beschlossen wurden, korrigiert werden,
auch wenn es mühsam ist. Wir werden die Internetzensurmaßnahmen aussetzen. Wir wissen, dass das Internet ein
freiheitliches, effizientes Informations- und Kommunikationsforum ist und maßgeblich zur Entwicklung einer
globalen Gemeinschaft beiträgt. Deswegen sehen wir hier
nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen. Das muss
endlich auch in eine moderne Politik umgesetzt werden.
({48})
Wir werden im Bereich der Bürgerrechte deutliche
Zeichen setzen. Wir werden die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit
der Vorratsdatenspeicherung abwarten und bis dahin die
Vorratsdatenspeicherung aussetzen. Wir haben bei der
Onlinedurchsuchung Einschränkungen beschlossen und
auch den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung verbessert. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern ist kein Thema mehr. Ich sage ganz klar: Wir werden auch beim Datenschutz Fortschritte machen und
dem Bundesdatenschutzgesetz ein eigenes Kapitel zum
Arbeitnehmerdatenschutz hinzufügen.
Als Fazit bleibt festzuhalten: Diese Koalition hat Respekt vor den Rechten der Bürgerinnen und Bürger und
erkennt die Grenzen staatlichen Handelns und des öffentlichen Sicherheitsinteresses. Wir wollen eine neue
Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Das werden
wir gemeinsam umsetzen.
({49})
Wachstum, Bildung und Zusammenhalt sind die
Handlungsmaximen dieser Koalition des Aufbruchs für
Deutschland. Die Koalition wird in den nächsten vier
Jahren einen neuen Start gestalten. In den letzten Tagen
war viel von Mut und Freiheit die Rede. Mehr Mut und
mehr Freiheit sind das, was Deutschland jetzt braucht.
Wir stehen für mehr Freiheit zur Verantwortung. Wir haben den Mut und die Entschlossenheit, das gemeinsam
umzusetzen. Wir werden das schaffen.
Vielen Dank.
({50})
Für die Fraktion Die Linke hat nun Kollege Oskar
Lafontaine das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aufgabe einer Regierungserklärung zu Beginn einer
Legislaturperiode ist, die wichtigsten Probleme zu benennen und Lösungsvorschläge zu unterbreiten, wie
diese Probleme bewältigt werden können.
({0})
Nach unserer Auffassung ist dies nicht gelungen.Vielmehr hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung wesentliche Aufgaben nicht erkannt, geschweige
denn Lösungsvorschläge gemacht, wie diese Aufgaben
zu bewältigen sind.
({1})
Ich beginne mit der ersten Aufgabe, die sie benannt
hat. Sie sagte, die erste Aufgabe sei, die Folgen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu überwinden. Wer könnte dem widersprechen? Aber ganz entscheidend ist, dass sie die wesentliche Aufgabe außer
Acht gelassen hat. Das entwertet völlig ihre Regierungserklärung. Wir müssen nicht zuerst die Folgen ins Auge
fassen, sondern die Ursachen der internationalen Finanzkrise erkennen und endlich die Weltfinanzmärkte regulieren.
({2})
Es entwertet diese Regierungserklärung völlig, dass
dazu keinerlei Vorschläge gemacht worden sind. Frau
Bundeskanzlerin, Sie haben die wichtigste Aufgabe unserer Zeit überhaupt nicht erkannt, geschweige denn Lösungsvorschläge dazu gemacht.
({3})
Es ist schön, wenn wir jetzt ab und zu hören, dass eine
Börsenumsatzsteuer auf einmal populär ist. Wir erinnern
uns noch gut daran, dass oft von billigem Populismus die
Rede war, als wir eine solche Steuer gefordert haben. Es
ist ganz schön, dass auch Sie sich nach vielen anderen
Staatsmännern zu einer Transaktionsteuer bekennen. Als
wir das hier vorgetragen haben, hieß es, das sei unpraktikabel und billiger Populismus. Es ist wunderbar für
mich, zu erleben, wer alles sich jetzt zum Keynesianismus bekennt und ihn täglich herunterbetet, nachdem er
jahrzehntelang verurteilt worden ist. Jawohl, es ist wahr:
Der Keynesianismus rettet zurzeit die Weltwirtschaft mit
expansiver Finanzpolitik und expansiver Geldpolitik. Es
ist schön, dass Sie das erkannt haben.
({4})
Aber nun haben Sie keinerlei Vorschläge gemacht,
wie die Weltfinanzkrise zu bewältigen ist, wie die Ursachen zu bekämpfen sind. Ich will einige Vorschläge von
unserer Seite machen.
Erstens. Wir brauchen eine neue internationale Leitwährung, die den Dollar ablöst und die geeignet ist, die
Währungsspekulationen und das Schwanken der Währungen in der Zukunft mehr oder weniger auszuschließen, zumindest zu mindern.
({5})
Zweitens. Wir brauchen eine Regulierung des internationalen Kapitalverkehrs. Es kann nicht sein, dass weiterhin auf Knopfdruck Milliarden um den Erdball kursieren und die Weltwirtschaft auf eine Art und Weise
zerstören, wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben.
({6})
Drittens. Wir brauchen ein Austrocknen der Steueroasen. Es ist einfach nicht zu fassen, dass an dieser
Stelle überhaupt nichts unternommen wird. Vielmehr
sieht man tatenlos zu, dass auch mit Milliarden Steuergeldern unterstützte Banken weiterhin Steuerhinterziehung in Steueroasen betreiben. Unglaublich. Diese Regierung ist unfähig, diese Kernaufgaben unserer Zeit
überhaupt anzugehen.
({7})
Viertens. Wir brauchen ein Verbot von Hedgefonds.
Fünftens. Wir brauchen ein Verbot der Schrottpapiere. Solange das nicht der Fall ist, so lange wird die
Spekulation weitergehen, so lange wird es Verwerfungen
in der Volkswirtschaft geben.
({8})
Sechstens. Es muss die billige Ausrede aufhören, man
könne das nur international bewältigen. Zu dieser billigen Ausrede haben sich alle Staatsmänner in den letzten
Jahren verstanden. Wir haben hier vor einiger Zeit, im
Oktober 2008, eine Antwort der Bundesregierung auf
die Frage nach den Deregulierungsmaßnahmen der
letzten Jahre erhalten. Es waren 50 Deregulierungsmaßnahmen. Sie sind alle aufgelistet. Wenn Sie mindestens
30 bis 40 davon zurücknähmen, dann würden Sie hier in
Deutschland dafür Sorge tragen, dass die Finanzspekulation endlich wieder durch Investitionen in die Realwirtschaft abgelöst wird. Das ist die dringende Aufgabe unserer Zeit.
({9})
Siebentens. Es ist auch endlich geboten, dass Sie
nicht Diskussionsverweigerung betreiben und den Kopf
immer wieder in den Sand stecken. Hier wird der EUVertrag ständig gelobt, gelobt, gelobt, aber ein entscheidender Artikel des EU-Vertrags wird verschwiegen, wird
nicht zur Kenntnis genommen und wird in seiner Tragweite überhaupt nicht begriffen. Ich lese es Ihnen, Frau
Bundeskanzlerin, vor. In Art. 56 heißt es:
Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind
alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen
den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.
Mit anderen Worten: Der EU-Vertrag untersagt eine
vernünftige Regulierung der Weltfinanzmärkte. Er ist
damit absolut unzeitgemäß.
({10})
Entscheidend ist aber, dass es den Regierungen dieser
Welt nicht gelingt, die Regulierung der Finanzmärkte
nach vorne zu bringen. Es ist schon so - ich zitiere ihn
noch einmal -, dass Tietmeyer ein Seher war. Er sagte
einmal: Sie alle unterliegen jetzt der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte. - Daran hat sich nichts geändert. Die internationalen Finanzmärkte und die Finanzindustrie bestimmen die Politik, und nicht Sie.
({11})
Sie sind im Grunde genommen, wenn man so will, nur
dazu da, irgendwelche Allgemeinplätze abzusondern.
Die Presse weltweit schreibt: Die Banken machen weiter
wie bisher. - Das ist ein großer Skandal. Die nächste
Blase wird vorbereitet.
({12})
Die zweite Aufgabe, die Sie angesprochen haben, hat
mich jetzt doch fasziniert. Sie sagten: Wir müssen das
Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat
verbessern. Donnerwetter, ich hätte mir nicht vorstellen
können, dass Sie zu dieser Einsicht kommen. Wir haben
eine ganz andere Sichtweise. Wir glauben, wir müssen
das Verhältnis der Bundeskanzlerin und der sie tragenden Parteien zu den Bürgerinnen und Bürgern dieses
Staates verbessern. Das ist eine ganz andere Herangehensweise.
({13})
Sie müssen, achtens, endlich einmal die Lebensbedingungen der Menschen in diesem Lande zur Kenntnis
nehmen und dann Vorschläge unterbreiten, wie diese Lebensbedingungen verbessert werden können. Das ist
Ihre Aufgabe, anstatt zu sagen, wir müssten das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger zum Staat verbessern.
Nein, Sie müssen endlich Ihr Verhältnis zu den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes verbessern und zur
Kenntnis nehmen, was eigentlich ist.
({14})
Dann hätten Sie beispielsweise gesehen, dass die Hauptbetroffenen der verfehlten Politik der letzten Jahre die
Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter waren. Kein Wort zu
diesem Skandal. Wir als Partei Die Linke bleiben dabei,
dass die Leiharbeit verboten oder zumindest weitgehend
reduziert werden muss.
({15})
Wenn man sich schon nicht zu dieser Lösung versteht,
dann sollte man sich an Frankreich ein Beispiel nehmen,
wo es einen Risikoaufschlag für Leiharbeiter gibt. Die
erhalten sogar mehr als ihre Kollegen. Oder man sollte
zumindest die englische Lösung nehmen, dass nach
sechs Wochen die Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter
gleichbezahlt werden müssen. Sie sehen nicht, was im
Volke los ist. Sie reden allgemein über die Köpfe der
Menschen hinweg.
({16})
Wir müssen die befristeten Arbeitsverhältnisse reduzieren. Hier sieht man, dass das, was diese Koalition
vorhat, wie die Faust aufs Auge passt: Sie haben überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, was passiert. Wer
jetzt noch sagt, wir müssen die befristeten Arbeitsverhältnisse ausweiten, der hat nicht mehr alle Tassen im
Schrank.
({17})
Die deregulierten Arbeitsmärkte sind die Hauptursache
für die Zerstörung der Familien in unserem Lande. Ich
sage noch einmal an die selbsternannte Familienpartei
CDU: Sie sind verantwortlich für die Zerstörung der Familien in unserem Land; denn junge Leute, die nicht
wissen, ob sie in ein paar Monaten noch Geld auf dem
Konto haben, können weder eine Familie gründen noch
Kinder in die Welt setzen. So einfach ist der Zusammenhang. Sie wollen die befristeten Arbeitsverhältnisse auch
noch ausweiten und reden dann von der Pflege der Familien.
({18})
Wir brauchen endlich den gesetzlichen Mindestlohn.
Obwohl in diesem Lande formal viele Jahre lang eine
Mehrheit dafür war - das sage ich auch an SPD und
Grüne hier im Parlament gerichtet -, ist es wirklich bedauerlich, dass wir es nicht zustande gebracht haben, den
gesetzlichen Mindestlohn zu beschließen. Es ist eine
Schande für eine der reichsten Volkswirtschaften der
Welt, dass immer mehr Menschen acht Stunden am Tag
arbeiten, ohne sich oder ihre Familie ernähren zu können.
({19})
Neuntens. Wir müssen endlich die Hartz-IV-Sätze für
Kinder erhöhen. Das wäre die wichtigste Aufgabe. Es
kann in unserem Land doch nicht die Aufgabe sein, das
Kindergeld für Besserverdienende zu erhöhen. Wo sind
wir eigentlich? Wenn man ein soziales Gesicht haben
möchte, dann muss man dort anfangen, wo die Not am
größten ist.
({20})
Zehntens. Wir müssen der immer weiteren Ausbreitung des Niedriglohnsektors entgegenwirken. Es ist
doch eine Schande - wir konnten es heute lesen -: Ende
der 1990er-Jahre hatten die Niedriglöhner 64 Prozent
des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens; heute
sind es nur noch 53 Prozent. Die Niedriglöhner haben
also fast nur noch die Hälfte des durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommens, und Sie, Frau Bundeskanzlerin,
stellen sich noch nicht einmal dieser Frage. Ich möchte
nur sagen: Die Ursache ist das Lohndumping, ausgelöst
durch eine Formel für die Zumutbarkeit von Arbeit.
Diese Formel besagt: Du musst jede Arbeit annehmen,
sei sie noch so schlecht bezahlt und sei sie noch so weit
unter deiner Qualifikation. Diese Zumutbarkeitsregel
muss weg. Zu Deutsch: Hartz IV muss weg. Wir als Partei Die Linke hier im Deutschen Bundestag bleiben dabei.
({21})
Wir glauben, dass es jetzt - das ist eine Aufgabe, die
ich ansprechen möchte, weil Sie sie nicht angesprochen
haben - Aufgabe ist, die Wirtschaft endlich zu demokratisieren. Was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in letzter Zeit erlebt haben, war nicht Freiheit, sondern
existenzielle Bedrohung und ein Ausmaß an Fremdbestimmung, wie es das in dieser Form in Deutschland
noch nicht gegeben hat.
Wir schlagen daher vor, elftens, endlich die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen zurückzunehmen;
denn wir haben den unhaltbaren Zustand, dass kleine
Betriebe in zehn Jahren fünfmal den Anteilseigner wechseln. Von nachhaltiger Wirtschaft kann in diesem Lande
überhaupt nicht mehr die Rede sein.
({22})
Zwölftens. Wir schlagen vor, die Erbschaftsteuer
nicht für Millionengeschenke an reiche Erbende zu missbrauchen, sondern sie zu verwenden, um Belegschaftsanteile aufzubauen. Man sollte den Betrieben, die Erbschaftsteuer zahlen müssen, diese Steuer dann erlassen,
wenn sie die entsprechenden Mittel in Belegschaftsanteile umwandeln. Das wäre eine Reform, das wäre ein
Neuansatz, der endlich einmal dazu führen würde, dass
Belegschaften an ihren Betrieben beteiligt werden können.
({23})
Dreizehntens. Wir bleiben dabei, dass staatliche Zuschüsse nicht mehr dazu dienen können, den Vermögensaufbau einzelner Privater zu finanzieren. Wir sind
der Auffassung: Staatliche Zuschüsse müssen entweder
in Staatsanteile oder in Belegschaftsanteile umgewandelt
werden, gerade jetzt.
({24})
Außerdem sind wir der Auffassung, dass wir jetzt darangehen müssen, die Enteignung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu stoppen. Ich sage hier ganz bewusst: Das ist eine Kernaufgabe der nächsten Jahre. Wir
müssen die Bilanzierungsvorschriften so ändern, dass
der Zuwachs des Betriebsvermögens ab einer bestimmten Betriebsgröße - etwa ab 100 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern - zur Hälfte den Belegschaften und ihren
Belegschaftsgesellschaften gutgeschrieben wird. Es darf
nicht so weitergehen - ich sage das, weil ich hier gerade
die FDP im Blick habe -, dass immer nur Einzelne vom
ständigen Zuwachs des Betriebsvermögens profitieren.
Die FDP der 1970er-Jahre sah darin eine erhebliche
Freiheitsgefährdung. Sie hat recht: Der Zuwachs des Betriebsvermögens und die schlechte Verteilung führen
dazu, dass Einzelne in der Gesellschaft immer mehr abgehängt werden, dass der Niedriglohnsektor immer weiter ausgebaut wird. Genau das gefährdet die Freiheit,
und insofern war diese Sichtweise richtig.
({25})
Als dritte Aufgabe haben Sie genannt: Wir müssen
Antworten auf die Veränderungen im Altersaufbau finden. Ja, natürlich, das ist richtig. Wir sagen aber, dass die
Aufgabe eine ganz andere ist: Wir müssen, vierzehntens,
die sozialen Sicherungssysteme wiederherstellen und
helfen, Altersarmut zu vermeiden. Was Sie hier zustande
gebracht haben, nämlich die Zerstörung der gesetzlichen
Rente, war einer der größten Fehler der deutschen Politik in den letzten Jahren.
({26})
Fünfzehntens. Wenn man in Zeiten wie dieser darangeht, die Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung
auszubauen, dann hat man nichts von der internationalen
Finanzkrise verstanden. Wirklich nichts. Es ist doch so,
dass die weltweite Umstellung auf Kapitaldeckung dazu
geführt hat, dass die Pensionsfonds in großem Umfang
spekuliert haben. Das Ende vom Lied ist nun, dass viele
ältere Menschen in vielen Ländern ihre Altersvorsorge
verloren haben. Wollen wir das auf die Pflegeversicherung ausweiten? Man fasst es nicht, wenn man sieht, in
welchem Umfang diese Regierung die Zeichen der Zeit
nicht erkannt hat.
({27})
Ich sage hier in aller Klarheit: Die Erfahrungen der
letzten 20 Jahre zeigen deutlich, dass die gesetzlichen
Sicherungssysteme die verlässlichsten sind. Worum geht
es, wenn man die Existenzsorgen der Menschen, die geringe Einkommen haben, aufgreifen und Lösungsvorschläge anbieten will? Da geht es um den Ausbau und
die Stärkung der gesetzlichen Sicherungssysteme und
niemals um den Aufbau kapitalgedeckter Systeme.
({28})
Im Übrigen ist es ökonomisch völliger Unsinn, wenn
man in Zeiten, in denen die Binnennachfrage schwach
ist und die Reallöhne sinken, die Arbeitnehmer auch
noch zwingt, zu sparen. Das ist so kontraproduktiv, dass
man wirklich die Frage aufwerfen muss, ob überhaupt
die Inhalte, die man im ersten Semester eines Volkswirtschaftsstudiums lernt, den Personen auf der Regierungsbank präsent sind.
Als vierte Zukunftsaufgabe haben Sie genannt: Wir
wollen einen zukunftsfesten Umgang mit den weltweit
vorhandenen natürlichen Ressourcen entwickeln. Dazu
sagen wir als Partei Die Linke: Wenn man das wirklich
will, dann darf man, sechzehntens, die Restlaufzeiten
von Atomkraftwerken nicht verlängern. Das ist doch das
Gegenteil von dem, was dann erforderlich wäre.
({29})
Wer die Vision einer atomwaffenfreien Welt hat, meine
Damen und Herren, aber gleichzeitig die Restlaufzeiten
von Atomkraftwerken verlängern will, der versteht entweder die Technologie nicht oder weiß nicht, was er
will. Wer eine atomwaffenfreie Welt will, muss, siebzehntens, auch dafür sorgen, dass die Stromversorgung
in Zukunft ohne Atomkraftwerke sichergestellt wird.
Denn genau diese sind Voraussetzung dafür, um den
Stoff herzustellen, den man zum Bau der Bombe
braucht.
({30})
Natürlich müssen wir erneuerbare Energien stärken.
Aber noch wichtiger ist - das ist der achtzehnte Programmpunkt, den ich hier vortragen möchte - eine
Rekommunalisierung der Energieversorgung. Es war
ein großer Fehler, Monopole zuzulassen, die nun in
schamloser Weise abzocken. Wir brauchen eine Rekommunalisierung der Energieversorgung und eine staatliche
Kontrolle der Energiepreise, um diese Abzocke endlich
zu beenden.
({31})
Als letzte Aufgabe haben Sie genannt: Sie wollen das
Verhältnis von Freiheit und Sicherheit weiter festigen.
Dazu gibt es eine ganz entscheidende Voraussetzung, die
ich hier benennen will. Die entscheidende Voraussetzung
ist, dass die deutsche Außenpolitik im Sinne Kants - ich
nenne ihn einmal bewusst - wieder zum Völkerrecht zurückkehrt, weil das Völkerrecht die Grundlage von Freiheit und Sicherheit für alle Völker dieser Erde ist.
({32})
In Ihrer Regierungserklärung gab es eine ganz verräterische Formulierung: Ziemlich am Anfang steht, die
Frage der Zukunft sei, wer sich den Zugriff - ich betone
das Wort „Zugriff“ - auf Rohstoffe und Energiequellen
sichere. Es geht nicht um den „Zugriff“ auf Rohstoffe
und Energiequellen, es geht um die friedliche Nutzung.
Angesichts der Kriege der letzten Jahre sagen wir: Wir
halten es für völlig falsch, wenn sich die Bundesrepublik
Deutschland in imperiale Kriege zur Sicherung von Rohstoffquellen einspannen lässt. Das war der Fehler der
Außenpolitik der letzten Jahre.
({33})
Sie reden davon, sie seien eine christlich-liberale Koalition der Mitte oder was auch immer. Wenn man das
Wort „Christentum“ in den Mund nimmt, dann sollte
man begriffen haben, Frau Bundeskanzlerin - das ist
nicht zum Lachen -, dass man alle Anstrengungen unternehmen muss, um endlich die Waffenexporte zurückzuOskar Lafontaine
führen. Diese sind doch die Grundlage für vieles Elend
in der Welt. Warum verstehen Sie das nicht?
({34})
Meine letzte Bemerkung bezieht sich auf Afghanistan. Wir sind jetzt viele Jahre dort im Krieg; das haben
wir immer so gesehen. Ich habe immer wieder gesagt,
dass ich durchaus unterstellt habe, dass es die eine oder
den anderen gab, die der Auffassung waren, dass man
mit diesen Militäreinsätzen Gutes bewirken könne. Aber
nach so vielen Jahren muss man doch bereit sein, wie es
zum Beispiel in den Vereinigten Staaten im Falle des
Irak oder jetzt in Bezug auf Afghanistan in mehreren
Staaten der Welt bereits geschehen ist, zu erkennen, dass
dieser Weg falsch war. Wir können diesen Krieg nicht
gewinnen. Man kann die Stammesgesellschaft Afghanistans nicht zwingen, eine westliche Demokratie aufzubauen. Sie kämpfen dort gegen eine Kultur, und diesen
Kampf können Sie nicht gewinnen. Begreifen Sie das
doch endlich!
({35})
Deshalb sagen wir: Es ist wirklich ein schwerer Fauxpas, dass der neue Bundesverteidigungsminister - ich
sehe ihn im Moment nicht auf der Regierungsbank - gesagt hat, das Unglück von Kunduz, wie ich es nenne, sei
„angemessen“ gewesen. Ich sage hier für meine Fraktion: Eine Militäraktion, bei der unschuldige Zivilisten
ums Leben kommen, ist niemals angemessen. Wir sollten eine solche Sprache aus diesem Parlament verbannen.
({36})
Wir sagen Ihnen: Ziehen Sie die Truppen aus Afghanistan zurück! Es wäre an der Zeit; Sie sollten nicht warten, bis die Diskussion in Amerika so weit ist, dass man
den Afghanistankrieg beenden will.
Sie haben in Ihrer Regierungserklärung die wichtigen
Aufgaben unserer Zeit verfehlt. Diese Regierung ist eine
falsche Regierung zur falschen Zeit.
({37})
Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat
nun Kollege Jürgen Trittin das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Bundeskanzlerin! Manchem Anfang wohnt ja ein Zauber
inne.
({0})
Aber für Sie als Bundeskanzlerin ist das hier eben kein
Anfang, sondern der zweite Aufguss, und so war auch
Ihre Regierungserklärung.
({1})
Schwarz-Gelb fängt nicht neu an, sondern versucht,
wenn ich Frau Homburgers Ausführungen richtig verstanden habe, eigentlich eher, bei dem wieder anzuknüpfen, wofür 1998 Helmut Kohl abgewählt worden ist.
({2})
Aber dafür, dass Sie hier nur als Revival-Band angetreten sind, war dieser Anfang doch reichlich holprig.
({3})
Sie haben dem Wort „Fehlstart“, wie ich finde, eine völlig neue Interpretation gegeben. Wann hatten wir jemals
eine Regierung, die schon vor Abgabe der Regierungserklärung durch die Kanzlerin eine Kabinettsklausur ansetzen musste, um sich darüber zu verständigen, was sie in
ihrem Koalitionsvertrag vor gerade einmal zehn Tagen
aufgeschrieben hatte?
({4})
Nun ist es nicht verwunderlich, dass Sie damit Probleme haben. Denn dieser Koalitionsvertrag behauptet
zwar, Mut zur Zukunft zu unterstreichen; aber wenn man
ihn durchblättert und liest, stellt man fest: In allen Bereichen finden sich Hinweise auf neue Kommissionen, und
er enthält über 84 Prüfaufträge. „Mut zum Prüfauftrag“,
das hätten Sie über Ihren Koalitionsvertrag schreiben
sollen.
({5})
Da muss man sich nicht wundern, wenn ein Streit in
den eigenen Reihen ausbricht. Aber diesen Streit haben
Sie, Frau Merkel, mit Ihrer Regierungserklärung zu
überspielen versucht. Das dreisteste Stück darin fand ich
Ihre Passage zu Opel, in der Sie uns diesen Vorgang als
Erfolg zu verkaufen versucht haben. Ihnen muss es doch
in den Ohren geklungen haben, als Sie vom Capitol Hill
herunterkamen und aus der Presse erfahren haben, wie
gewichtig diese Kanzlerin von den Amerikanern eingeschätzt wird, nämlich: Man muss auf Ihre Meinung
nichts geben. Daher konnte sich ein staatseigener Betrieb wie GM mit Blick auf den Verkauf von Opel anders
entscheiden, ohne Sie vorher zu fragen. Sie sind ein politisches Leichtgewicht. Das wurde durch die Entscheidung von GM bewiesen.
({6})
- Herr Kauder, das mit dem Kasper nehme ich gerne entgegen. Ich habe schon verstanden.
Sie müssen eines berücksichtigen: Wir werden Ihnen
nicht durchgehen lassen, im Wahlkampf und auch hier
das eine oder andere versprochen zu haben, dann aber
das Gegenteil zu machen. Wenn man sich anschaut, was
Sie im Wahlkampf mit Blick auf drei Bereiche versprochen haben, dann muss man feststellen, dass diese Koali54
tion schlicht und ergreifend mit dreifachem Wortbruch
beginnt.
Erstens. Sie haben den Menschen in diesem Lande erklärt, es gebe künftig mehr Netto vom Brutto.
({7})
Das stimmt für einen bestimmten Personenkreis, nämlich für den, der über sehr hohe Einkommen verfügt.
Was ist aber mit denjenigen, die zum Beispiel als Normalverdiener künftig eine Kopfpauschale für die Pflegeversicherung zahlen müssen? Was ist mit denjenigen, die
als Normalverdiener künftig eine Kopfpauschale für die
Krankenversicherung zahlen müssen? Was ist mit all
denjenigen Bürgerinnen und Bürgern, die, weil Sie an
der Mehrwertsteuer ohne Ende herumschrauben, künftig
höhere Müllgebühren und höhere Abwassergebühren
zahlen müssen? All diese werden weniger Netto vom
Brutto haben. Das ist die Wahrheit, und das ist der Wortbruch, den Sie begangen haben.
({8})
Sie haben sich hier in wechselnden Formulierungen
mal zur Mitte, mal zur bürgerlichen Mitte und mal zur
christlichen Mitte bekannt. Ich sage Ihnen: Diese Politik
trifft das bürgerliche Lager der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer. Sie trifft das durchaus bürgerliche Lager
der Geringverdiener. Sie trifft das bürgerliche Lager der
Mehrheit der Bevölkerung. Sie sind in diesem Sinne
nicht bürgerlich. Sie haben schlicht und ergreifend nur
die Interessen der - um ein sehr altertümliches Wort zu
gebrauchen - Bourgeoisie, aber nicht der Bürger in diesem Lande im Kopf.
({9})
Zweitens. Ich habe noch in den Ohren, wie Sie, Frau
Merkel, erklärt haben, es gebe mit Ihnen keine Steuersenkungen auf Pump. Das war Ihre Wahlaussage.
Heute erklären Sie hier: Dieses Wahlversprechen vergessen wir; wir setzen voll auf Pump. - Sie legen einen
Haushalt vor, in dem Sie bis 2013 mindestens 24 Milliarden Euro einsparen wollen, und das bei einer Neuverschuldung im gleichen Zeitraum von 455 Milliarden
Euro. Das ist völlig verantwortungslos. Die Rechnung
haben die Kommunen und die Kreise in unserem Lande
zu zahlen. Allein aufgrund Ihres heutigen Maßnahmepakets fehlen den Kreisen und den Kommunen 3,6 Milliarden Euro.
({10})
Es ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch völlig wirkungslos. Denn Steuersenkungen in dieser Form
haben noch nie zu Wachstum geführt - außer auf den
Konten der Besserverdienenden. Gesamtwirtschaftliches, realwirtschaftliches Wachstum ist damit noch nie
angestoßen worden.
({11})
Drittens. Der Höhepunkt ist das Gesetz, das Sie hier
vorgestellt haben, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Da legen Sie uns zur Wachstumsbeschleunigung
die Maßnahme vor, dass künftig die Erbschaftsteuer für
Geschwister gesenkt werden soll. Nun kann man darüber
so oder so denken. Aber, liebe Frau Homburger, können
Sie mir einmal erklären, was das mit Wachstum zu tun
haben soll? Schneller sterben für mehr Wachstum, oder
was soll das sein, was Sie uns an dieser Stelle hier vorlegen? Das kann doch nur jemand aus Ihrem Gewerbe an
dieser Stelle denken.
({12})
Sie erledigen mit diesem Gesetz auch gleich ein weiteres Versprechen, das die Kanzlerin an dieser Stelle in
der Regierungserklärung heute wiederholt hat. Sie plädieren - ich zitiere - für ein einfacheres, für ein gerechteres Steuersystem.
({13})
- Und ein niedrigeres Steuersystem. - Das haben Sie
proklamiert.
Was legen Sie uns vor? Sie legen uns einen Gesetzentwurf vor, mit dem der Ausnahmetatbestand, was den
ermäßigten Mehrwertsteuersatz betrifft, auf das Hotelund Gaststättengewerbe ausgeweitet werden soll. Dies
gilt dort aber nicht für jeden Bereich, sondern nur für
Übernachtungen. Davon ausgenommen sind das Hotelfrühstück und der Besuch der Sauna im Hotel. Das ist
kein einfacheres Steuerrecht, das ist ein komplizierteres
Steuerrecht. Das ist nicht einfach, niedrig und gerecht,
sondern kompliziert, bürokratisch und ungerecht. Das ist
Ihre Politik.
({14})
Herr Westerwelle hat im Wahlkampf versucht, den
Eindruck zu erwecken, dass die FDP nicht mehr die Partei der Besserverdienenden sei. Man habe jetzt auch ein
soziales Herz entdeckt; und so zog die Wärme in die liberalen Stuben ein.
({15})
Schauen wir uns einmal an, was Sie uns vorlegen.
Sie schlagen die Erhöhung des Schonvermögens von
Hartz-IV-Beziehern vor.
({16})
Das heißt, Sie korrigieren den Unsinn, den Ministerpräsidenten aus CDU- und FDP-geführten Ländern im Bundesrat durchgesetzt haben.
({17})
Dass Sie das tun, ist richtig. Ich lobe Sie dafür.
Jetzt machen Sie sich aber einmal klar, wie weit diese
neue soziale Wärme reicht. Sie betrifft 11 000 von
5,5 Millionen Anträgen auf Bezug von Arbeitslosengeld II.
({18})
Sie betrifft 0,2 Prozent der Bedürftigen in diesem Lande.
99,8 Prozent der Armen gehen bei Ihrer Politik schlicht
und ergreifend leer aus, ihr Regelsatz wird nicht erhöht.
So viel zur sozialen Wärme Ihrer Koalition.
({19})
Ein zweites Symbol Ihrerseits ist: mehr Geld für Kinder. Man kann das einfach durchrechnen: Der Steuerfreibetrag für Kinder führt in Haushalten, die den Spitzensteuersatz zu zahlen haben, zu einer Entlastung von
443 Euro pro Kind und Jahr. Für Normalverdiener, die
Kindergeld bekommen, sind es 240 Euro mehr. Für
1,8 Millionen Kinder im Wedding, in Köln-Mülheim, in
den ostdeutschen Ländern usw. bedeutet diese Maßnahme: Sie bekommen gar nichts. Dazu sage ich Ihnen:
Reiche Kinder mit 443 Euro und Mittelstandskinder mit
240 Euro zu belohnen und die ärmsten Kinder leer ausgehen zu lassen, das ist weder eine Politik der Mitte
noch eine Politik, die sich christlich nennen kann. Das
ist soziale Kälte, das ist gemein und kaltherzig. Das ist
Ihre Koalition.
({20})
Damit man diese Klientelpolitik für Besserverdienende durchsetzen kann, für all das hat die FDP alle anderen Inhalte geopfert: Die Abschaffung der Wehrpflicht
findet nicht statt. Die Abschaffung der Onlinedurchsuchung findet nicht statt. Die Abschaffung des Entwicklungshilfeministeriums - dies ist eine falsche Forderung - findet nicht statt. Dirk Niebel ist jetzt sein eigener
Abwicklungsminister.
({21})
Der Vizekanzler hat auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages gesagt, die Entscheidung für Dirk Niebel sei gut. Jetzt werde zumindest
keine Nebenaußenpolitik gemacht. Auch das ist schon
widerlegt worden. Herr Niebel hat in der Bild-Zeitung
das Ende der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit
China verkündet. Man kann in der Sache über diese
Frage streiten. Aber dass man einem der wichtigsten
Partner im G-20-Prozess, einem Land, auf das man angewiesen sein wird, wenn man in Kopenhagen einen
Verhandlungserfolg erreichen will, den Abbruch der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit nicht mal kurz per
Bild-Zeitung verkündet, sollte auch einem außenpolitischen Anfänger klar sein.
({22})
Die vierte Herausforderung ist ein sparsamer und
nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen.
Dafür müssen Sie keine Laufzeiten verlängern. Aber dafür dürfen Sie auch kein neues Fenster für die Nutzung
von Kohle öffnen. Wenn Sie die bestehende Überlast aus
Atomstrom und Kohlestrom, die schon heute dazu führt,
dass wir Windparks abschalten müssen, in unseren
Stromnetzen erhöhen, dann sorgen Sie nicht für mehr erneuerbare Energien, sondern dann bremsen und blockieren Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien. Deswegen ist das, was Sie in diesem Lande energiepolitisch
vorhaben, ein Anschlag auf den Klimaschutz und auf einen verantwortlichen Umgang mit Ressourcen.
({23})
Nein, meine Damen und Herren, Sie sind den Herausforderungen nicht gerecht geworden. Kluge Wirtschaftspolitik heißt in diesen Zeiten, dafür zu sorgen, dass in
Klima, Bildung und Gerechtigkeit investiert wird. Diese
Herausforderung haben Sie nicht gemeistert. Stattdessen
entlasten Sie die Industrie überall dort, wo sie eigentlich
zu Effizienz und Ressourceneinsparung gebracht werden
soll. Genau dieser Stimulus fällt in Ihrer Koalitionsvereinbarung völlig unter den Tisch. Deswegen sage ich Ihnen: Sie sind da nicht glaubwürdig.
Sie sind auch nicht glaubwürdig beim Subventionsabbau. Nicht eine einzige umweltschädliche Subvention
schaffen Sie ab; das Volumen beträgt in diesem Lande
42 Milliarden Euro. Stattdessen diskutieren Sie über die
Einführung neuer Subventionen. Schöne staatsferne
Liberale sind Sie, liebe Kollegin Homburger!
({24})
Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht leere
Wachstumsversprechen, wir brauchen Investitionen in
Klima, Bildung und Gerechtigkeit. Aber wir werden dies
nicht mit einer Regierung schaffen, die für sich selber
nur ein Rezept hat, nämlich auf die veralteten wirtschaftspolitischen Rezepte der 90er-Jahre zu setzen. In
Ihrer Koalitionsvereinbarung ist kein roter Faden zu erkennen, sieht man von den roten Zahlen neuer Schulden
ab. Das müssen wir hier unter dem Strich feststellen.
Sie haben es geschafft - dafür haben Sie mein Kompliment, liebe Frau Merkel -, im Schlafwagen an die
Macht zu kommen.
({25})
- Jetzt darf man nicht einmal mehr Komplimente machen; das verstehe ich gar nicht. - Nun sind Sie im Zug
angekommen. Sie haben den Zug gekapert und geben
sich zu erkennen: Ihre Lok fährt mit Kohle- und Atom56
strom, die hinteren Waggons werden abgekoppelt, in der
zweiten Klasse fällt die Heizung aus, im Bistrowaggon
steigen die Preise, aber dafür werden in der ersten Klasse
Gratiscocktails serviert. Das ist Schwarz-Gelb auf einen
Satz gebracht.
({26})
Das Wort hat nun Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man die Regierungserklärung und die
Reaktionen der Opposition darauf heute gehört hat, dann
wird eines ganz deutlich: Die Wählerinnen und Wähler
haben bei der letzten Bundestagswahl in der schwierigsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland den Parteien CDU, CSU und
FDP den Auftrag erteilt, dieses Land durch die Krise zu
führen.
({0})
Angesichts der Reaktionen der Opposition fühlen sich
die Wählerinnen und Wähler im Nachhinein in ihrer Entscheidung bestätigt.
({1})
Die Regierungskoalition hat in drei Schwerpunkten
- das kann jeder auch aus der Opposition ganz einfach
begreifen - festgelegt, worauf es ankommt: Arbeit durch
Wachstum, Chancen durch Bildung und Zukunft durch
Zusammenhalt.
({2})
Das ist der Dreiklang in dieser neuen Koalition.
Bei dem Thema Arbeit durch Wachstum ist es entscheidend, dass die Menschen in ihrer Würde ernst genommen werden. Die Würde des Menschen hängt davon
ab, dass er sein Leben frei gestalten kann. Die Grundlage
dafür ist aber ein Arbeitsplatz und nicht der Erhalt von
Hartz IV.
({3})
Deswegen ist völlig klar, dass die erste Maßnahme,
die diese Koalition auf den Weg bringt, eine Maßnahme
ist, die für Arbeitsplätze sorgt. Wir haben uns sehr intensiv Gedanken darüber gemacht, wie wir auch in schwieriger Zeit gefährdete Arbeitsplätze erhalten können. Wir
haben das fortgesetzt, was wir begonnen haben. Weil wir
nicht wollten, dass aus Kurzarbeit automatisch Arbeitslosigkeit wird, wird die bestehende Regelung fortgeführt
und verlängert.
({4})
Aber der entscheidende Punkt ist, dass die Bundesagentur diese Aufgabe auch finanzieren kann. Deshalb
hat diese Koalition einen Schutzschirm für Arbeitsplätze
geschaffen, indem sie die Bundesagentur mit einem Zuschuss unterstützt.
({5})
Nur so ist es überhaupt möglich, in der jetzigen Übergangsphase zu mehr Wachstum Arbeitsplätze zu erhalten.
Wenn wir sagen: „Wir wollen Arbeit durch Wachstum“, dann muss natürlich alles getan werden, was das
Wachstum befördert. Deswegen wird in unserem
Wachstumsbeschleunigungsgesetz in der Kürze der
Zeit all das, was eine Wachstumsbremse darstellt, geändert. Deswegen gibt es Korrekturen bei der Unternehmensteuerreform, und deswegen kündigen wir an, dass
wir auch diejenigen unterstützen, die den Wachstumsprozess mittragen müssen. Das ist nämlich nicht nur, wie
Sie von der Opposition immer behaupten, die Wirtschaft. Vielmehr betrifft das auch jeden Arbeitnehmer
und jede Arbeitnehmerin, die merken müssen, dass sich
der Einsatz lohnt. Deswegen wollen wir den sogenannten Mittelstandsbauch abschaffen, damit klar wird, dass
sich Leistung lohnt, dass es sich lohnt, sich in unserem
Land einzusetzen. Das ist die zentrale Botschaft.
({6})
Mehrfach ist heute der Begriff „verantwortete Freiheit“ gefallen. Wir wollen, dass die Menschen ihr Leben
frei gestalten können und dafür eine Existenzgrundlage
haben. Im 60. Jubiläumsjahr können wir in Deutschland
zurückschauen. Wir wissen ganz genau: Wir haben im
Rahmen der sozialen Marktwirtschaft gefordert, dass
sich Leistung lohnen muss. Dafür geben wir Anreize.
Diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind, bekommen diese Unterstützung auch. Das ist das Entscheidende. Freiheit und Verantwortung bedeuten, auch denjenigen zu helfen, die aus eigener Kraft nicht bzw. nicht
alleine vorankommen.
({7})
Denjenigen zu helfen, die auf Hilfe angewiesen sind,
heißt auch, den Menschen ernst zu nehmen. Es geht
nicht darum, ausschließlich dafür sorgen zu wollen, ihn
in dem bestehenden Zustand zu belassen: Statusabsicherung durch soziale Leistungen. Unsere Auffassung in
dieser Koalition heißt: Aufstiegschancen schaffen, um
nach vorne kommen zu können. Das Zementieren des
Sozialhilfestatus ist nicht unsere Politik, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({8})
Wir sagen: Arbeit durch Wachstum. Wenn ich dann so
einige Reaktionen aus der Opposition höre, dass Wachstum überhaupt kein Thema mehr sei
({9})
- ich höre aber, das sei kein Thema mehr -, dann kann
ich nur sagen: Wenn wir nach dieser Wirtschaftskrise
wieder auf das Niveau kommen wollen, das wir vorher
hatten - das ist der Anspruch, den wir haben müssen,
und den hat diese Koalition -, dann brauchen wir in jedem Jahr Wirtschaftswachstum. Nur so kommen wir
voran. Nur so erhalten wir Arbeitsplätze, und nur so
schaffen wir neue Arbeitsplätze. Deswegen ist „Arbeit
durch Wachstum“ ein zentrales Thema dieser neuen Koalition.
({10})
Wachstum heißt bei uns natürlich in erster Linie
Unterstützung des Mittelstandes. Die allermeisten Arbeitsplätze und die allermeisten Ausbildungsplätze finden wir nicht in den großen DAX-Betrieben, sondern in
unseren mittelständischen Betrieben, im Handel und im
Handwerk. Deswegen kommt es ganz entscheidend darauf an, diesen Bereich unserer heimischen Wirtschaft
besonders zu stützen. Wie kann dies am schnellsten, am
kostengünstigsten und am besten geschehen und zugleich motivierend wirken? Indem wir auch dort sagen:
weniger Staat, weniger Bürokratie, weniger Bevormundung und neue Chancen. Der Einzelne muss wissen: Ich
kann etwas anpacken und muss mich nicht jedes Mal
nach einem Aufsichtsamt umschauen, das mir etwas genehmigt oder nicht.
Deswegen ist das Thema Entbürokratisierung ein entscheidendes. Es ist bedauerlich, dass wir in der vergangenen Koalition auf diesem Gebiet nicht entscheidend
vorangekommen sind. Das lag daran, dass man geglaubt
hat: Mehr Staat bringt mehr Wachstum. Wir wissen aber,
dass nicht mehr Staat mehr Wachstum bringt, sondern
mehr Freiheit für den Einzelnen notwendig ist, damit er
sich entfalten kann. Deswegen ist die Entbürokratisierung ein zentrales Thema auf dem Weg „Arbeit durch
Wachstum“.
({11})
Unsere Wirtschaft, sowohl der Mittelstand als auch
die Großindustrie, ist auf eine gute Energieversorgung
angewiesen; das ist ganz entscheidend für die Entwicklung. Energieversorgung ist das zentrale Thema. Wir alle
wissen, dass wir trotz Wirtschaftskrise noch immer in einem globalen Wettbewerb stehen. Und im globalen
Wettbewerb wird derjenige die Nase vorn haben, der das
Energieversorgungsproblem löst. Deswegen ist das
Thema, über das wir hier reden, kein beliebiges. Energieversorgung sicherstellen heißt auch, ein Höchstmaß
an Eigenversorgung und nicht ein Höchstmaß an Abhängigkeit zu erreichen.
({12})
Deswegen werden wir nicht zaghaft, sondern kräftig
in dieses Thema einsteigen. Wir werden das nächste
Jahrzehnt zum Jahrzehnt der erneuerbaren Energien machen. Das wird unser Thema sein.
({13})
- Dazu kann ich nur sagen: Das ist die richtige Erkenntnis. Aber was ist das für eine zaghafte Politik, die von
Ihnen verkündet worden ist, Herr Trittin? Sie sagen: Wir
haben zwar die Erkenntnis, aber wir trauen uns nur dann,
sie umzusetzen, wenn wir alle anderen Energiequellen
abschaffen. Das hat nichts mit Mut und Zuversicht zu
tun. Das, was Sie formulieren, ist mutlos. Wir sagen: Gerade weil wir mit Kohle und Kernenergie Überbrückungstechnologien zur Verfügung haben, können
wir den Weg gehen; deswegen werden wir das Ziel erreichen. Wir werden erneuerbare Energien in dem Maße
zur Verfügung stellen, wie wir den Anteil anderer Energien zurückführen. Das ist mutige und zukunftsorientierte Energiepolitik.
({14})
Wenn wir darüber reden, was die Belastung des einzelnen Bürgers ausmacht, dann wollen Sie - das weiß
ich sehr wohl - über viele Punkte reden, aber nicht über
das Thema Energie. Ein Vierpersonenhaushalt zahlt
heute für Strom im Schnitt 1 000 Euro pro Jahr. Dazu
kann ich nur sagen: Das sind 40 bis 50 Prozent mehr als
noch vor einigen Jahren. Das ist eine unglaubliche Belastung. Wir wollen nicht, dass die Strompreise so weitersteigen, dass Strom zu einem Luxusgut wird und der
Einzelne sich nicht mehr kostengünstig mit Energie versorgen kann.
({15})
Das hat auch etwas mit mehr netto und Geld in der Tasche zu tun.
({16})
Wenn wir sagen: „Arbeit durch Wachstum“, dann heißt
dies auch, dass wir verhindern müssen, dass Wachstum
durch Belastungen gehemmt wird.
Dies, Herr Trittin, ist auch in ganz klarem Umfang für
die Sozialversicherungsbeiträge festzustellen. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 2,8 Prozent gesenkt.
({17})
Dies bedeutet 12 Milliarden Euro Entlastung jährlich für
die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler sowie für die
Arbeitgeber in unserem Land. Jetzt muss alles darangesetzt werden, dass dieser Weg nicht wieder umgekehrt
wird.
({18})
Deswegen wollen wir die Sozialversicherungsbeiträge
stabil halten.
Dass dies in Zeiten einer demografischen Veränderung, wie sie unser Land, überhaupt die Welt, noch nicht
erlebt hat, eine besondere Herausforderung ist, ist doch
klar. Deswegen hat es doch gar keinen Sinn, sich hier
hinzustellen und zu sagen: Es muss alles so bleiben, wie
es ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn
sich eine Gesellschaft radikal verändert, kann die Ant58
wort nicht heißen: Es muss alles so bleiben wie es ist.
Vielmehr muss man fragen: Was muss ich tun, um die
richtige Lösung anzubieten? Die Lösung heißt schlicht
und ergreifend: die Solidarität zwischen Jung und Alt erhalten. Das heißt, dass die Beiträge für die Jungen nicht
immer weiter steigen dürfen und die Älteren immer weniger davon haben. Deswegen müssen wir uns überlegen, wie wir die Sozialversicherungen im Zeitalter
demografischer Veränderungen zukunftsfest machen.
Genau das hat diese Regierungskoalition vor.
({19})
Es nützt überhaupt nichts, darum herumzureden.
Stichwort „Pflegeversicherung“: Wir wollen dort keine
Absicherungen haben. Die Pflegeversicherung soll als
Umlagesystem erhalten bleiben. Aber ich sage Ihnen:
Die Pflegeversicherung hat über Jahre hinweg nur deshalb ihre Arbeit so gut machen können, weil sie bei ihrem Start eine Kapitalrücklage von mehreren Milliarden
Euro hatte. So sind wir durch schwierige Zeiten gekommen. Jetzt geht es darum, diese Milliardenrücklage, die
wir einmal hatten, neu anzulegen und dafür zu sorgen,
dass auch für die jüngere Generation, wenn sie Pflege in
Anspruch nehmen muss, die Sicherheit besteht, entsprechende Leistungen zu erhalten.
({20})
Chancen durch Bildung: Wir sind uns weitgehend
einig, dass Bildung der Schlüssel für das Weiterkommen
in unserer Gesellschaft ist, für den Einzelnen, aber auch
für unsere Gesellschaft insgesamt. Jetzt kann ich mich
nur wundern: Wahrscheinlich haben Sie den Koalitionsvertrag gar nicht richtig gelesen.
({21})
Wenn ich mir anschaue, was im Hause von Frau
Schavan für das Bildungswesen an Mitteln eingesetzt
wird, dann kann ich nur sagen: Allein daran wird deutlich, wo wir einen Schwerpunkt setzen. Chancen durch
Bildung für die jungen Menschen in unserem Land, das
ist ein zentrales Thema unserer Koalition.
({22})
Chancen durch Bildung ist zugleich ein Thema, das
die Integration betrifft. Junge Menschen, die keine gescheite Ausbildung haben, haben Schwierigkeiten in dieser Gesellschaft. Wenn ich weiß, dass sehr viele junge
Menschen aus Familien mit Migrationshintergrund keinen Bildungsabschluss schaffen und daher Schwierigkeiten in unserem Land haben, dann muss doch die Aufgabe ganz klar sein: Wir müssen in der Bildungspolitik
einen Schwerpunkt darauf legen, dass diejenigen, die es
von ihrer Herkunft her schwerer haben, in unserem Land
bessere Chancen bekommen. Herkunft darf nicht über
Bildungschancen entscheiden; das steht in unserer Koalitionsvereinbarung, und dafür wollen wir Geld einsetzen, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({23})
Das heißt allerdings auch, dass wir klarmachen müssen, was in den letzten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten versäumt wurde, nicht um Menschen mit Migrationshintergrund zu bedrängen oder sie an deutsche
Gewohnheiten anzupassen - nein, das ist überhaupt
nicht der Grund -, sondern damit die jungen Menschen,
die hier leben, eine Chance in unserem Land haben. Wir
brauchen jeden, und wir wollen, dass jeder seine Chance
hat. Aber wir müssen den Eltern dieser Kinder auch klarmachen, was versäumt wurde. Dafür werden wir Modelle entwickeln. Wir werden nicht mehr zulassen, dass
jungen Menschen aufgrund irgendwelcher kultureller Eigenheiten Chancen in unserem Land verweigert werden.
Das darf nicht mehr passieren.
({24})
Der Einstieg - dies ist von der Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung deutlich gemacht worden - ist
das Erlernen der deutschen Sprache. Die deutsche
Sprache ist die Grundvoraussetzung dafür, dass junge
Menschen das Angebot in der Schule nutzen können;
({25})
deswegen werden wir dafür sorgen, dass die Sprache
schon im vorschulischen Bereich gelernt wird. Ihr Hinweis, Herr Kollege, ist insofern gar nicht schlecht, als
dies oftmals nicht nur für Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch für Kinder aus manch sozial schwacher Familie gilt. Auch hier ist es notwendig, das Verständnis der deutschen Sprache so zu fördern, dass sie
davon profitieren.
({26})
Dabei haben wir überhaupt keine Scheuklappen vor den
Augen. Das unterscheidet uns von dem Teil dieses Hauses, der links vom Rednerpult sitzt: Wir schauen uns in
der Gesellschaft um, sehen die Probleme und handeln
frei von Ideologie. Das ist der Unterschied.
({27})
Sie leben nach dem Motto: Die Menschen müssen zu
meiner Ideologie passen. - Unser Motto ist das nicht.
Wir sagen: Wir richten unsere Politik nach den Problemen und Sorgen der Menschen aus.
({28})
Das wird diese Koalition auszeichnen.
({29})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Zukunft
durch Zusammenhalt heißt, dass wir diejenigen, die in
unserem Land etwas machen, die zum Zusammenhalt
beitragen, auch in besonderer Weise anerkennen müssen.
In diesen Tagen um den 9. November herum denke ich
natürlich auch an das, was wir in den letzten 20 Jahren
und kurz davor in Deutschland erlebt haben. Wir haben
gestern die Freiheitsfeier am Brandenburger Tor erlebt.
Dort wurde zu Recht der Wert der Freiheit immer wieder
betont. Es war ein langer Weg hin zur Freiheit aller
Deutschen in Deutschland, ein langer Weg, auf dem
nicht alle politischen Kräfte diejenigen, die in der DDR
nach Freiheit gestrebt haben, entsprechend unterstützt
haben, um auch das einmal klar zu sagen.
({30})
Aber für mich ist der entscheidende Punkt: Die Freiheit ist dadurch entstanden, dass einige in diesem Land
mutig bürgerschaftliche Verantwortung übernommen haben. Den Menschen in der DDR, in Leipzig und in anderen Städten, die mutig aufgestanden sind, was wir bestaunt und mit Freude begleitet haben, gilt in der jetzigen
Phase großer Dank. In einer solchen Phase kommt es
darauf an, Solidarität mit denen zu üben, die diese Freiheit durch ihren Kampf mit ermöglicht haben. Viele politische Rahmenbedingungen waren dazu notwendig.
Aber wenn die Menschen in Leipzig und anderswo nicht
so mutig gewesen wären, auf die Straße zu gehen, wäre
es nicht so weit gekommen, auf jeden Fall nicht so
schnell. Deswegen müssen unser Dank und unsere Solidarität diesen Menschen gelten.
In einer solchen Phase, Herr Steinmeier, ein Beispiel
der Entsolidarisierung in der Bürgergesellschaft zu geben, wie es in Brandenburg getan worden ist, indem
dort die Stasi am Tisch der neuen Regierung sitzt, das ist
schon unglaublich.
({31})
Zukunft durch Zusammenhalt, das gehört gerade in
einer sich verändernden Gesellschaft als wichtige Marke
zu dieser neuen Regierungskoalition. Zukunft durch Zusammenhalt ist wichtig in einer Zeit, wo die Generationen auseinanderzufallen drohen. Deswegen werden wir
den Weg, den Ursula von der Leyen mit unserer Generationenpolitik in Form der Generationenhäuser begonnen
hat, weiter fortführen.
Wir werden dafür sorgen, dass die Älteren ihren Platz
in der Gesellschaft haben, dass die Älteren aber zugleich
erkennen, dass sie auf die Leistungen der Jüngeren angewiesen sind. Zukunft durch Zusammenhalt heißt, die Generationen zusammenzubinden und sie nicht zu spalten.
Zukunft durch Zusammenhalt heißt auch, dass wir in
unserer Gesellschaft an vielen Stellen bereit sein müssen, Verantwortung zu übernehmen, so auch für die Verteidigung unserer Freiheit. Für uns ist klar: Zukunft
durch Zusammenhalt heißt, in der Mitte der Gesellschaft
zusammenzurücken. Deswegen werden wir alles bekämpfen, was am rechten Rand entsteht und den Zusammenhalt in der Mitte gefährdet.
({32})
Wer sein eigenes Süppchen kochen will, der trägt nicht
zum Zusammenhalt, der so dringend notwendig ist, bei.
Zusammenhalt in einer sich verändernden Gesellschaft heißt auch, dafür Sorge zu tragen, dass sich unser
Land in den Ballungsgebieten und in den ländlichen
Räumen gleich oder zumindest gleichwertig entwickelt.
Dies hat unser Land stark gemacht und bleibt auch in
Zukunft wichtig. Die Entwicklung der ländlichen Räume
ist angesichts der demografischen Veränderungen eine
große Herausforderung. Es ist richtig, dafür zu sorgen,
dass die Infrastruktur im ländlichen Raum so ausgebaut
wird, dass der Arbeitgeber in einem kleinen Dorf genauso gut an die Datenautobahnen angeschlossen wird
wie die Menschen in den Ballungsgebieten.
({33})
Es gibt weitere Beispiele: Wir wollen, dass sich die ländlichen Räume weiterentwickeln und unter demografischen Entwicklungen nicht zu leiden haben. Wir wollen,
dass die Gesundheitsversorgung in den ländlichen Räumen gleich gut ist. Wir wollen, dass die Bildungsinfrastruktur in den ländlichen Räumen gleich gut ist. Wenn
es uns nicht gelingt, in den ländlichen Räumen die Chancen für Industrie und Mittelstand zu verbessern, wird es
uns auch nicht gelingen, unsere anderen Punkte umzusetzen. Deswegen, Frau Bundeskanzlerin, legen wir so
großen Wert darauf, dass die Zusage, dass die kleinen
Gemeinden ans schnelle Internet angebunden werden,
eingehalten wird.
({34})
Schon heute klagen Kommunen zu Recht über die wirtschaftliche Entwicklung. Ich kann Ihnen sagen: Wenn es
uns nicht gelingt, dafür zu sorgen, dass all das, was ich
gerade angesprochen habe, schnell umgesetzt wird, werden die Kommunen in Zukunft allen Grund haben, über
die wirtschaftliche Entwicklung zu klagen. Nur wenn
Wirtschaft und Industrie in unseren ländlichen Räumen
bleiben, besteht die Chance, dass sich die Finanzen unserer Kommunen in Zukunft gut entwickeln.
({35})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Arbeit
durch Wachstum, Chancen durch Bildung, Zukunft
durch Zusammenhalt: Das sind die Hauptthemen dieser
christlich-liberalen Koalition der Mitte.
({36})
Wir wissen im Übrigen auch, dass sich diese Koalition
auf die Werte besinnen muss, die uns alle stark gemacht
haben und die in den letzten 60 Jahren nichts an Kraft
und Bedeutung eingebüßt haben. Das sind die Werte der
sozialen Marktwirtschaft, wenn es darum geht, wirtschaftliche und soziale Interessen auszutarieren, und es
sind die Werte der Solidarität, der Menschlichkeit und
der Würde des Einzelnen, die uns so weit gebracht haben.
({37})
All diejenigen in unserem Land, die diese Entwicklung mit unterstützen, leisten einen wichtigen Beitrag,
um unser Land voranzubringen. Dazu gehören auch die
Werte der christlich-jüdischen Tradition, die unser
Land so stark gemacht haben, auch wenn sie nicht mehr
jeder hundertprozentig für sich in Anspruch nehmen
will; aber auch diese Leute wissen, dass das stimmt. Auf
diese besinnen wir uns in dieser Koalition ebenfalls wieder.
({38})
Wenn ich den Blick nach Europa richte, dann kann ich
nur ganz klar und deutlich sagen: Das Abhängen von
Kreuzen macht noch kein Land stärker.
({39})
Wir stehen am Anfang dieser neuen Regierungskoalition, die wir uns als Wahlziel gewünscht haben. Deswegen bin ich mir, auch wenn es die eine oder andere Diskussion gibt - wo gibt es sie nicht? -, sicher, dass uns
dieser gemeinsame Wunsch, unserem Land zu helfen,
aus der Krise herauszukommen, neue Perspektiven zu
entwickeln und jungen Menschen Chancen zu geben, der
getragen davon ist, Deutschland in eine gute Zukunft zu
führen, die Kraft geben wird, nicht nur am Anfang stark
zu sein, sondern über vier Jahre hinweg stark zu bleiben.
Herzlichen Dank.
({40})
Das Wort hat nun Joachim Poß für die SPD-Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kauder,
Sie benötigen schon zu Beginn Demagogie, um von dieser schwachen Regierungserklärung abzulenken.
({0})
Das ist doch wohl eher ein Zeichen von Schwäche als
ein Zeichen von Stärke.
({1})
Im Übrigen: Herr Kauder, Sie haben bei Ihrer Parteigeschichte keinerlei Recht, die SPD für die Koalitionsentscheidung in Brandenburg anzugreifen, keinerlei
Recht! Das wissen Sie genau.
({2})
Ich erinnere mich daran, dass Sie ähnliche Reden voller Emphase auch zur Verteidigung der Großen Koalition
gehalten haben.
({3})
Insofern hat sich da bei Ihnen stilistisch nichts verändert.
Es gibt allerdings inhaltliche Unterschiede. Während
Sie sich in der Großen Koalition noch auf Fakten gestützt haben, ist das jetzt ziemlich frei von Fakten. Die
Regierungserklärung hat jedenfalls keine brauchbaren
Fakten geliefert. Frau Merkel, die sicherlich ebenfalls
eine Mittagspause braucht - das verstehe ich -,
({4})
hat sich entgegen ihren Bekundungen den finanziellen
und ökonomischen Realitäten dieses Landes nicht gestellt.
({5})
Sie ist regelrecht in eine schwarz-gelbe Scheinwelt geflüchtet, so wie auch Kollege Kauder das an manchen
Stellen - voller Unwohlsein, wie ich den Eindruck
hatte - getan hat.
Das Motto von Frau Merkel heute Morgen war: Plattitüden ersetzen Steueraufkommen.
({6})
Frau Merkel sprach von „Generationengerechtigkeit“
und „Nachhaltigkeit“, die mehr denn je in der Haushaltspolitik gelten sollten. Diese Worte müssten ihr angesichts ihrer Pläne eigentlich im Mund verdorren. Genau
das Gegenteil ist nämlich richtig, wie wir wissen. Das
heißt, sie täuscht die Öffentlichkeit. Das gilt auch für andere Fälle.
Herr Kauder hat den „Schutzschirm für Arbeitsplätze“ hochgehalten, hinter dem dann diese unseriösen
Steuersenkungspläne realisiert werden sollen. Da wird
dann aber keine Rücksicht genommen. Das sagen dann
ja auch viele, auch CDU-geführte Länder und Kommunen. Diese Regierung nimmt in Kauf, dass durch diese
Steuersenkungen die Investitionsfähigkeit und die
Finanzierungsfähigkeit von Ländern und Kommunen
zerstört werden. Das, was wir gemeinsam in der Großen
Koalition auf den Weg gebracht haben und was ein
Kernstück zur Krisenbekämpfung ist, das kommunale
Investitionsprogramm, wird von Ihnen in der Realität
konterkariert. Was ist denn das für eine ökonomische
Logik?
({7})
Schon zu Beginn hat diese Koalition ihren Anspruch,
alles besser zu machen, sehr relativiert. Der Anspruch
von Frau Merkel und von Herrn Westerwelle ist, sie wollen Deutschland besser regieren als die bisherige Bundesregierung. Sie wollen Deutschland besser durch die
Finanz- und Wirtschaftskrise führen als Schwarz-Rot.
Die neue Regierung behauptet, das könne sie. Ob sie das
wirklich kann, ist mehr als fraglich. Die Regierungserklärung jedenfalls ist dafür keine Grundlage, sondern sie
ist eine Ansammlung banaler Erkenntnisse ohne eine
Strategie zur Umsetzung und Finanzierung.
({8})
Ich erinnere noch einmal daran: Die Fußstapfen, in
die die neue Regierung tritt, sind nicht klein. Die bisherige Bundesregierung, an entscheidenden Stellen mit Sozialdemokraten besetzt und insgesamt maßgeblich durch
sozialdemokratische Politik geprägt, wurde und wird in
der ganzen Welt für ihren Umgang mit der schwersten
Krise seit Jahrzehnten gelobt. Konzepte, die maßgeblich
von Frank-Walter Steinmeier und führenden GewerkJoachim Poß
schaftern entwickelt wurden, zum Beispiel die Abwrackprämie, oder das auf Betreiben von Olaf Scholz massiv
genutzte Instrument der Kurzarbeit haben internationalen Modellcharakter. Das kann man in der Zeitung nachlesen.
({9})
Peer Steinbrück war national wie international einer
der Hauptakteure im Kampf um die Stabilität und Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte. Auch und gerade ihm
ist es zu verdanken, dass es im Finanzsystem nicht zu einem Kollaps gekommen ist. Ob die neue Regierung, die
neuen Minister diese Qualität ebenfalls erreichen und
eine so erfolgreiche Arbeit ebenfalls leisten werden, das
werden wir sehen.
Wenn die neue Regierung immer wieder Behauptungen aufstellt und Ankündigungen macht, bedeutet das
noch lange nicht, dass diese auch umgesetzt werden.
Das, was wir bisher gesehen und gehört haben, etwa in
der Koalitionsvereinbarung oder in der heutigen Regierungserklärung - das ist schon von mehreren Rednern
dargestellt worden -, lässt für unser Land Schlimmes erwarten.
Die erste einschlägige Initiative, das sogenannte
Wachstumsbeschleunigungsgesetz, ist nicht zielführend, sondern eine Mogelpackung und sonst nichts. Die
Konjunkturstützungsmaßnahmen der Großen Koalition
in Höhe von 80 Milliarden Euro werden ihre Wirkung im
nächsten Jahr voll entfalten. Das führt sehr wahrscheinlich - so genau weiß man das allerdings nie - zu mehr
Wachstum. Davon soll das Wachstumsbeschleunigungsgesetz allerdings ablenken; denn diese neue Regierung
will dann im Lichte der NRW-Wahl sagen können: Seht
mal, das sind die Ergebnisse unseres Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. - Diese Taktik steckt dahinter.
Das ist zwar durchschaubar, aber aus Ihrer Sicht vielleicht
gar nicht so ungeschickt.
Denn, Kollege Kauder, es waren ja unsere Konjunkturpakete, mit denen die 14 Milliarden Euro Steuerentlastungen, die jetzt wesentliche Teile des Wachstumsbeschleunigungspaketes ausmachen, bereits beschlossen
wurden. Das ist keine Erfindung dieser neuen Koalition.
Ein weiterer Punkt: Sie haben einige Zückerli für die
Klientel hinzugefügt, die Ihnen nahesteht, wie zum Beispiel die Unternehmerschaft. Die Änderungen bei der
Unternehmensbesteuerung, die wir in der Großen Koalition zur Bewältigung der Krise zeitlich befristet beschlossen haben, gelten jetzt unbefristet. Das heißt, das,
was wir ursprünglich bei der Unternehmensteuerreform
gemeinsam geschaffen haben, um die Steuerbasis in
Deutschland zu sichern, wird von Ihnen endgültig abgeräumt.
Dieser Weg setzt sich fort. Das ist fatal für das Steueraufkommen in Deutschland und damit für die Finanzierung des Gemeinwesens.
({10})
Deswegen ist die Klientelbedienung jetzt schon zum
Markenzeichen dieser Koalition geworden. Die Lobbyisten reiben sich die Hände.
Dass die Anhebung des Kinderfreibetrages die unterstellte Wachstumswirkung entfaltet, weil der private
Konsum stark angeregt wird, oder dass der reduzierte
Mehrwertsteuersatz für Beherbergungsleistungen einen
Übernachtungsboom auslöst, glaube ich eher nicht. Dabei hilft der Blick nach Frankreich, wo man mit solchen
Dingen schon länger Erfahrungen hat und wo es eine
große Enttäuschung über all diese Maßnahmen gibt.
Das heißt ganz im Gegenteil - das habe ich schon erwähnt -, dass durch die zusätzlichen Steuerausfälle die
Krisenfolgen für Länder und Kommunen wie auch für
den Bund eigentlich nicht mehr tragbar sein werden.
Spätestens im Kontext der NRW-Wahl oder danach werden wir es mit weiteren Dingen zur Finanzierung zu tun
bekommen. Es bleibt abzuwarten, was diese Koalition
noch auf der Pfanne hat.
Jedenfalls sollte sich eine Bundeskanzlerin, die einmal die Kanzlerin der Ehrlichkeit sein wollte, für einen
solchen großen Etikettenschwindel zu schade sein. Diese
Strategie ist weder mutig noch ehrlich. Sie ist abenteuerlich und verstärkt den Marsch in den Schuldenstaat.
Ich könnte jetzt auf einiges näher eingehen. Herr
Kampeter ist gerade nicht anwesend, aber die Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir in den letzten Jahren
zusammengearbeitet haben, wissen eigentlich, dass hier
Unverantwortliches für die Steuerzahler in Deutschland
beschlossen wird. Das wissen Sie doch alle. Das heißt,
Sie machen die Augen zu: „Augen zu und durch“ und
„Prinzip Hoffnung“ - das sind die Parolen.
({11})
Jeder, der sich ein wenig in der Ökonomie auskennt,
weiß, dass mit diesen Maßnahmen, die jetzt beschlossen
werden und die umgesetzt werden sollen, eine Wachstumsbeschleunigung, wie man sie benötigte, um die gewünschten Finanzierungseffekte zu erreichen, nie und
nimmer erreicht werden kann. Es gibt kaum einen Ökonomen auf dieser Welt, der das mit Zahlen und Fakten
unterlegen würde. Auch da rennen Sie offenkundig in
eine Sackgasse. Ich frage mich, ob es von Ihnen - ich
kenne viele von Ihnen und weiß, dass Sie kompetent
sind - wirklich verantwortet werden kann, jetzt in einer
Krise nach dem Motto „Augen zu und durch“ zu handeln. Mehr ist das nämlich nicht.
({12})
Die Konsequenzen werden erst ab dem nächsten Jahr
sichtbar. Das gilt für die Einschnitte in die soziale Infrastruktur und in die Investitionsfähigkeit der anderen
Ebenen. Das ist eine waghalsige Strategie von Steuersenkungen auf Pump.
Um jeglicher Legendenbildung vorzubeugen: Es ist
nicht nur die FDP, die sich dieser Strategie massiver
Steuersenkungen mittlerweile regelrecht ausgeliefert hat,
das gilt genauso für die CSU und weite Teile der CDU.
Sie sind zum Schaden unseres Gemeinwesens zu
Gefangenen Ihrer unhaltbaren, unfinanzierbaren und unseriösen Steuersenkungsversprechen aus dem Wahlkampf geworden.
({13})
Jetzt müssen Sie das auslöffeln, was Sie sich mit diesen
Versprechungen eingeheimst haben. Sie haben manchen
Wahlerfolg damit erzielt; das ist nicht zu leugnen. Aber
ich glaube, dass die Bürgerinnen und Bürger das jetzt
ausbaden müssen.
Im Mai werden wir kein neues Bild über die weitere
finanzielle Entwicklung bekommen. Die Mai-Steuerschätzung wird nur vorgeschoben, um erst dann über
Einzelheiten der Steuersenkungen zu befinden. Im Mai
wird es aber keine neuen Erkenntnisse geben. Man will
lediglich vermeiden, dass vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai über Einzelheiten und kontrovers diskutiert wird.
Frau Merkel hat sich heute Morgen zum Stufentarif
bekannt. Darüber wird noch eine sehr interessante Diskussion geführt werden. Herr Schäuble hat schon angekündigt, dass er kein Freund davon sei. Herr Seehofer
hält das ebenfalls für nicht vertretbar. Ich freue mich auf
die Debatte, die wir mit Ihnen darüber führen werden.
Der Bundesfinanzminister kann heute aus guten Gründen nicht hier sein. Ich will nicht sagen - er hat die Aufgabe freiwillig übernommen -, dass er mir leidtut. Er ist
auf jeden Fall ein sehr erfahrener Mann und weiß, dass
eine ganz schwierige Aufgabe auf ihn zukommt.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Hans-Peter Friedrich für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Kollegen! Lieber Herr Poß, an Ihrer Rede wie an den anderen
Reden, die ich heute von Abgeordneten von der linken
Seite gehört habe, wird deutlich: Die Sitzordnung im
Hohen Hause stimmt wieder:
({0})
auf der linken Seite die Volksbeglücker, die Volksbevormunder und die Umverteiler und auf der anderen Seite
die bürgerliche Koalition der Freiheit und der Verantwortung. Das ist in der heutigen Debatte deutlich geworden.
({1})
Die Koalition aus CDU, FDP und CSU hat heute ihr
Arbeitsprogramm offiziell vorgelegt. Es ist das Programm einer bürgerlichen Regierung.
({2})
Herr Lafontaine hat die Frage gestellt, wie das Verhältnis
von Frau Merkel, der Bundeskanzlerin, zu den Bürgern
sei. Das Verhältnis ist geklärt. Die Mehrheit der Bürger
in diesem Land wollte Frau Merkel als Bundeskanzlerin
haben, und sie haben Frau Merkel als Bundeskanzlerin.
So funktioniert Demokratie.
({3})
Große Aufgaben warten auf diese Koalition; das ist
wahr. Denn wir sind in der weltweit schwersten Krise
seit Jahrzehnten. Aber, Herr Poß, Sie haben recht: Wir
beginnen nicht bei null. Die Große Koalition hat in den
letzten zwölf Monaten ihre Aufgaben, was die Bewältigung der Krise angeht, erledigt und wichtige Zeichen gesetzt: das Gesetz zur Stabilisierung der Finanzmärkte,
die beiden Konjunkturpakete und die Kurzarbeiterregelungen als Brücke in einen Konjunkturaufschwung.
Das alles sind wichtige Weichenstellungen. Deswegen,
meine Damen und Herren von der SPD, sollten Sie nicht
so viel Kraft darauf verwenden, sich von Ihrer Vergangenheit zu distanzieren,
({4})
sondern Sie sollten lieber Kraft für Ihre Zukunft verwenden, damit Sie nicht den Populisten auf der ganz linken
Seite auf den Leim gehen müssen.
({5})
Wahr ist, dass wir Licht am Ende des Tunnels sehen.
Es gibt ein Zeichen der Hoffnung im verarbeitenden Gewerbe. Heute ist im Handelsblatt auf Seite 1 zu lesen:
Die deutsche Wirtschaft holt rasant auf. - Das ist wahr.
Der Konsum ist stabil. Die Frühindikatoren weisen nach
oben, genauso wie die Auftragseingänge. Der Arbeitsmarkt zeichnet sich durch eine erstaunliche Robustheit
aus. Aber die Finanzkrise ist noch nicht ausgestanden.
Es gibt eine Menge Warnzeichen und Warnungen von
Wirtschaftsexperten, die uns voraussagen, dass eine
Welle von Insolvenzen noch bevorsteht. Wir sehen
heute Banken, die immer noch am Tropf der Notenbank
hängen. Wir sehen heute viele Unternehmen, die auf
Konjunkturstützungsmaßnahmen angewiesen sind. Bei
den Wachstumsprognosen für das nächste Jahr sind wir
von 1 bis 2 Prozent ausgegangen. Nun wird spekuliert,
ob es möglicherweise sogar 2,5 Prozent sind. Aber selbst
wenn das eintritt, wird das nicht ausreichen, um an die
Konsolidierungserfolge, die in den letzten Jahren möglich waren - hin zu einem ausgeglichenen Haushalt -,
anzuknüpfen. Wir müssen bei der Produktion aufholen.
Bis wir das Produktionsniveau, wie es vor der Krise war,
erreicht haben, wird es noch einige Jahre dauern. Deswegen gibt es nur eine einzige Möglichkeit, nämlich
Impulse zu setzen für Wachstum und damit für Arbeitsplätze und für die Stabilisierung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Deswegen ist das Wachstumsbeschleunigungsgesetz ohne Alternative.
Was sind die Kernaussagen dieses Gesetzes? Erstens.
Wir korrigieren die Unternehmensteuerreform an den
Punkten, wo sich herausgestellt hat, dass es jetzt in der
Krise, in der es Umstrukturierungen von Unternehmen
gibt und Sanierungen von Unternehmen geben muss,
Schwierigkeiten gibt und nachgebessert werden muss.
Die Fesseln, die diese Umstrukturierung in der Wirtschaft behindern, werden beseitigt.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({6})
Der zweite Punkt ist die psychologische Wirkung bei
den Erben. Unternehmensnachfolger, die ein mittelständisches Unternehmen übernommen haben, wissen, dass
sie Erbschaftsteuer nur zu einem geringen Teil zu zahlen brauchen, wenn sie eine bestimmte Lohnsumme erreichen. Sie stellen aber schon heute fest, dass diese
Lohnsumme aufgrund der Krise nicht erreichbar ist.
Deswegen müssen wir das Damoklesschwert, dass ein
Unternehmen kaputtbesteuert wird und damit die Arbeitsplätze kaputtgemacht werden, wegnehmen. Von daher ist dieses Signal auch im Wachstumsbeschleunigungsgesetz im Hinblick auf die Erbschaftsteuer
unabweisbar wichtig und notwendig.
({7})
Wir setzen ein starkes Zeichen für die Familien in diesem Lande. Das ist ein Bekenntnis von CDU, FDP und
CSU zu den Familien als der Keimzelle dieser Gesellschaft. Ich will dazu gerne noch etwas sagen.
Freiheit zur Verantwortung - das ist das Motto für unseren Koalitionsvertrag. Es ist - das gebe ich zu - der
Gegenentwurf zum sozialistischen Versorgungsstaat.
Das ist wahr.
({8})
Wir glauben an die Kraft des Einzelnen, an die Kraft der
Freiheit. Der Leitgedanke über diesem Koalitionsvertrag, der Leitgedanke für die gesamte Wahlperiode muss
lauten: Die Kräfte Deutschlands freisetzen. - Wir haben
so viel Kraft in dieser Volkswirtschaft, wir haben so viel
Kraft in diesen Menschen, wir haben so viel Kraft, die
wir freisetzen können und freisetzen müssen. Es sollte
nicht immer gefragt werden, welche Rechtsansprüche
ich gegen die Gesellschaft habe und welches Recht ich
habe, vom Staat das eine oder andere zu kassieren, sondern die Frage ist: Wo kann ich mich in diesem Staat einbringen? - Das sind die Kräfte, die wir freisetzen wollen.
Dazu gehört ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft. Kollegin Homburger hat es angesprochen.
Heute ist in der Süddeutschen Zeitung die Überschrift
zu lesen: „Deutsche zweifeln am Kapitalismus“. Im weiteren Verlauf des Textes heißt es, sie meinten damit die
soziale Marktwirtschaft. All denen will ich sagen: Die
soziale Marktwirtschaft war es, die den Aufbau Deutschlands nach 1945 möglich gemacht hat. Diese soziale
Marktwirtschaft, die mit dem Namen Ludwig Erhard
verbunden ist, war die Grundlage für das Wirtschaftswunder, und diese soziale Marktwirtschaft war die
Grundlage dafür, dass 1989 die Hinterlassenschaften der
Sozialisten und der Anhänger der Ideologie von Herrn
Lafontaine und seinen Genossen beseitigt werden konnten.
({9})
Wir müssen das Vertrauen in die Marktwirtschaft stärken. Darum geht es; denn das Vertrauen in die Marktwirtschaft ist die Grundlage, auf der Wirtschaft und
Märkte funktionieren. Nicht die Marktwirtschaft ist daran schuld, dass die Wirtschaftskrise gekommen ist;
nein, im Gegenteil: Die Tatsache, dass die Regeln der
Marktwirtschaft verletzt worden sind, ist die Ursache dafür, dass es zu dieser Wirtschaftskrise kommen konnte.
Bei der Beantwortung der Frage „Wie verhindern wir,
dass so etwas in der Zukunft wieder passiert?“ ist die
Transparenz von Märkten von zentraler Bedeutung.
Märkte können nur funktionieren, wenn sie transparent,
also durchschaubar, sind. Wir können Finanzprodukte
nur kontrollieren, wenn sie durchschaubar gemacht werden. Märkte funktionieren nur, wenn man die auf ihnen
angebotenen Produkte sowie deren Risiko und Wert einschätzen kann. Die Frage der Transparenz auf den Märkten ist deswegen ganz entscheidend.
Was mich in diesem Zusammenhang bedrückt, ist
- auch das will ich sagen -, dass die Eliten in diesem
Lande, insbesondere in der Finanzwirtschaft, das nötige Maß an Demut und an Selbstkritik vermissen lassen.
({10})
Ich will dazu Kurt Biedenkopf zitieren:
Wir stehen vor der Aufgabe, ein neues Vertrauen
der Märkte, der Regierungen und der Bevölkerung
in die alten und neuen Eliten zu begründen.
Er sagt weiter:
Umso bedauerlicher ist es, dass unsere Eliten bisher
offenbar keine Notwendigkeit oder keine Möglichkeit sehen, sich an einer öffentlich und politisch
wirksamen kritischen Bewertung der Geschehnisse
und ihrer Mitverantwortung für die Folgen zu beteiligen.
Ich fordere die Eliten, insbesondere die in der Finanzwirtschaft, auf, sich einmal kritisch selbst zu betrachten
und zu fragen: Womit haben wir zu dieser Krise beigetragen, und was muss geschehen, damit sich eine solche Krise nicht wiederholen kann?
({11})
Dazu gehört auch, dass wir, Deutschland, Mitverantwortung in der Welt übernehmen. Es reicht nicht, Wirtschaftsnation zu sein und Wettbewerbsfähigkeit anzustreben; man muss auch Mitverantwortung übernehmen.
Manchmal besteht diese Mitverantwortung auch im
militärischen Eingreifen.
Wenn wir heute unsere Söhne, unsere Töchter in Uniform in fremde Länder schicken, dann müssen wir alles
tun, um dafür zu sorgen, dass sie gesund und unversehrt
wieder nach Hause kommen. Wenn sie bedroht werden,
dann müssen sie auch das Recht haben, sich zu wehren.
({12})
Ich danke ganz herzlich dem Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg dafür, dass er das ganz
Dr. Hans-Peter Friedrich ({13})
klar gemacht hat, dass er an die jungen Leute, die in
Afghanistan und anderswo in der Welt für die deutsche
Freiheit eintreten, seine Botschaft ausgesandt hat: Wenn
ihr unsere Freiheit verteidigt, dann könnt ihr sicher sein,
dass wir auch euch nicht im Stich lassen. Diese Botschaft ist notwendig, auch im Hinblick auf die Eltern
dieser Soldaten.
({14})
Die Stabilität der Gesellschaft ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir die Kräfte dieses Landes
freisetzen können. Die Keimzelle der Gesellschaft ist
- ich habe es angesprochen - die Familie. Sie ist der
Platz, wo Eltern, wo Großeltern ihren Kindern und
Enkelkindern Traditionen, Erfahrungen, Sichtweisen,
Errungenschaften kultureller Art weitergeben. Deswegen muss die Familie einen besonderen Stellenwert in
der Gesellschaft haben. Wir wollen diesen Stellenwert
anerkennen.
Daher verstehe ich Ihre Kritik an dem, was wir für die
Familien tun - auch durch dieses Gesetz, das Wachstumsbeschleunigungsgesetz -, überhaupt nicht. Hören Sie
endlich auf, den Menschen zu erzählen, dass Besserverdienende in diesem Land Kindergeld bekommen! Natürlich gibt es Leute, die gut verdienen. Sie bekommen aber
nicht einen einzigen Euro aus dem Bundeshaushalt. Das
Einzige, was sie bekommen, ist ein Steuerfreibetrag für
das von Ihnen selbst erarbeitete Einkommen, also für das,
was sie mit ihrem Fleiß und ihrer Hände Arbeit geschaffen haben.
({15})
- Herr Trittin, da können Sie hämisch lachen. Aber ist es
denn nicht gerecht, dass der Gutverdienende, der
150 000 Euro verdient und drei Kinder hat, weniger
Steuern zahlt als der Gutverdienende, der 150 000 Euro
verdient und keine Kinder hat?
({16})
Ich finde, das ist gerecht.
({17})
- Hören Sie einmal zu! Ich will Ihnen das erklären. Vielleicht wissen Sie das noch nicht.
({18})
Dann gibt es Menschen, die von diesem Steuerfreibetrag nichts haben; da haben Sie völlig recht. Warum
haben sie davon nichts? Weil wir in diesem Land dafür
gesorgt haben, dass Leute, die wenig Geld verdienen,
keine oder nur wenig Steuern zahlen müssen.
({19})
Deswegen, weil wir dafür gesorgt haben, profitieren
diese Menschen nicht von den Freibeträgen. Deswegen
bekommen sie das Kindergeld gleich bar ausbezahlt.
Es werden nun 20 Euro mehr, bei drei Kindern
60 Euro mehr und bei vier Kindern 80 Euro mehr.
({20})
Das mag, ich will es zugeben, noch steigerbar sein, und
- das haben wir heute hier schon gehört; die ersten Signale kamen schon aus der Koalition - das wird auch
noch gesteigert werden. Es ist aber zumindest ein Anfang und eine Anerkennung für das, was die Eltern für
ihre Kinder leisten.
Jetzt sage ich Ihnen etwas zu der Diskussion der letzten Wochen. Da wird darüber diskutiert, ob es denn richtig ist, dass man den Eltern Bargeld in die Hand gibt. Ja,
auch ich weiß, es gibt eine kleine Minderheit von Eltern,
die das Geld, das sie bekommen, nicht für ihre Kinder,
sondern in anderer Weise - da gebe ich Herrn Buschkowsky und wie sie alle heißen recht - für Alkohol und
sonstige Zwecke verwenden. Aber, meine Damen und
Herren, das ist eine kleine Minderheit, und diese bürgerliche Koalition wird ihre Politik nicht an kleinen Minderheiten ausrichten, sondern an der großen Mehrheit
der anständigen Menschen in diesem Land! Darum geht
es.
({21})
Herr Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Nein, es gibt jetzt keinesfalls Zwischenfragen. Herr
Poß, wir reden anschließend weiter.
Meine Damen und Herren, die Kräfte freisetzen, das
bedeutet auch - Volker Kauder hat es angesprochen -,
das Potenzial des gesamten Landes zu nutzen, nicht nur
das der Ballungsgebiete, nicht nur das der Metropolen,
sondern auch das der ballungsraumfernen Gebiete. Das
ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen verhindern, dass
diese Gebiete gegeneinander ausgespielt werden, dass
man zulässt, dass die Metropolen die ländlichen Räume
als Steinbruch, als Vorratskammern verwenden, wo sie
sich das eine oder andere holen, dass man so tut, als ob
man froh sein müsste, dass die ländlichen Räume ein
bisschen was von der Metropole abbekommen. Nein, die
ländlichen Räume haben einen eigenen Wert. Sie erbringen einen Beitrag für die Gesellschaft und für dieses
Land an Kreativität, aber insbesondere an gesellschaftlicher Stabilität, die in ländlichen Räumen durch ein reges
Vereinsleben, durch Sozialkontrolle und gegenseitiges
Helfen, was ja gerade in kleineren Ortschaften und Dörfern funktioniert, ihre Ausprägung findet.
Deswegen können die ländlichen Räume in Deutschland von der Lüneburger Heide bis in den Schwarzwald
und von der Eifel bis in den Bayerischen Wald sicher
sein,
Dr. Hans-Peter Friedrich ({0})
({1})
dass wir als CSU und Union für die ländlichen Räume
eintreten werden und diese Aufgabe ganz an die Spitze
unseres Aufgabenkataloges stellen. Volker Kauder hat ja
das Thema Gesundheitsversorgung angesprochen. Das
wird ein wichtiges Thema werden. Wenn wir die Lebensqualität dort erhalten wollen, müssen wir nämlich
dafür sorgen, dass der Standort „ländlicher Raum“ mit
elementaren Versorgungsmöglichkeiten ausgestattet ist.
Schließlich ist auch die Landwirtschaft in diesen
ländlichen Räumen ein stabilisierender Faktor. Es geht
dabei nicht nur darum, wie das Gesicht unseres Landes
ausschaut, also um den äußeren Eindruck für Touristen
und andere Besucher des Landes, sondern es geht um die
Bewirtschaftung des Landes: Es geht darum, dass wir
auf den Flächen vor den Toren unserer Städte gesunde
Nahrungsmittel produzieren. Es geht darum, dass wir
vor den Toren unserer Städte mit regenerativer Energie
- Sie behaupten ja immer, sie sei unverzichtbar; ich teile
diese Auffassung - die Energie produzieren, die uns eine
gewisse Unabhängigkeit beschert und damit für unsere
Zukunft notwendig ist. Deswegen freut es mich, sehr
verehrte Frau Bundeslandwirtschaftsministerin, sehr,
dass es uns gelungen ist, auch ein Sonderprogramm für
die Landwirtschaft aufzulegen und damit einen ganz besonderen Akzent für die Landwirtschaft in diesem Koalitionsvertrag zu setzen.
({2})
Nicht zuletzt, meine sehr verehrten Damen und Herren, geht es darum, einen ganz wichtigen Faktor für den
Investitions- und Lebensstandort Deutschland zu erhalten und zu stärken, nämlich die Infrastruktur. Die Erschließung des Landes, die Zurverfügungstellung von
Mobilitätsleistungen, der Transport von Gütern - das alles sind wichtige Voraussetzungen, um als Wirtschaftsnation in einer globalisierten Welt leben und überleben
zu können. Deswegen wird der neue Bundesverkehrsminister, wird Peter Ramsauer, von der Christlich-Sozialen Union hier im Hohen Hause flankiert und begleitet,
diese Aufgaben mit voller Kraft wahrnehmen:
({3})
Güter von der Straße auf die Schiene, Erschließung des
Landes, öffentlicher Personennahverkehr für die Ballungsräume - das ist die Zukunft der Verkehrspolitik.
Peter Ramsauer und seine Kollegen werden das gestalten.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die bürgerliche Koalition hat sich vorgenommen, Politik für alle
Menschen, für alle Schichten des Volkes zu machen,
nicht mit Ideologie - Volker Kauder hat es schon angesprochen -, sondern in der Verantwortung für die Menschen in diesem Lande. So wie wir von jedem Einzelnen
in Deutschland fordern, in der Gesellschaft mitzuwirken
und Verantwortung zu übernehmen, müssen auch wir als
Politiker Verantwortung für die gute Zukunft dieses Landes übernehmen.
Wir haben als bürgerliche Regierung das Vertrauen
der Wähler. Wir werden den Auftrag, der mit diesem
Vertrauen verbunden ist, erfüllen. Um Frau Merkel zu zitieren: „Entschlossenheit ist jetzt gefragt.“ Wir wollen
Deutschland zu neuer Stärke führen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Agnes Krumwiede für die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir alle glauben, dass wir in einer Welt leben,
in der wir über mehr Wissen verfügen als je zuvor in der
gesamten Menschheitsgeschichte. Andererseits leiden
wir unter Problemen, die wir selbst geschaffen haben.
Ich nenne hier nur einige: die Finanz- und Wirtschaftskrise, die Klimaveränderung, Hunger und Krieg. Gerade
in Krisenzeiten brauchen die Menschen Werte und eine
positive Lebenseinstellung, eine andere Form von
Reichtum, als das Bruttoinlandsprodukt messen kann.
Mechanistisches Schubladendenken hat sich nicht bewährt. Damit meine ich auch die ewige Floskel von der
„Brückentechnologie Atomkraft“,
({0})
bei der es nur um Ideologie geht. Sie wissen ganz genau,
dass mit der Atomkraft die erneuerbaren Energien verhindert werden.
Wir brauchen ein neues Denken, neue Denkansätze,
die von Fantasie und Individualität geprägt sind. Dabei
kann uns die Kultur helfen.
({1})
Über Kultur identifiziert sich der Mensch mit sich und
seiner Umwelt. Er entwickelt Kritikfähigkeit, Empathie,
Selbstbewusstsein und Respekt. Davon bin ich als Musikerin überzeugt. Albert Einstein sagt: „Phantasie ist
wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“
Was jedoch erwartet uns in den nächsten vier Jahren in
der Kulturpolitik? Laut Koalitionsvertrag will SchwarzGelb in eine Prestigekultur investieren.
({2})
Kulturpolitik aber muss mehr sein als die Unterstützung
repräsentativer Leuchtturmprojekte.
({3})
Wir Grünen wollen, dass Kultur für alle Menschen da
ist, nicht nur für einen erlesenen Kreis einer wohlhabenden Klientel im elitären Elfenbeinturm.
Wir verstehen Kulturpolitik als Bildungsauftrag. Kulturelle Bildung kann ein Schlüssel zu gesellschaftlicher
Teilhabe sein. Kinder und Jugendliche aus allen sozialen
Schichten brauchen die gleichen Zugangsmöglichkeiten
zu kulturellen Inhalten. Deshalb ist es so wichtig, dass
sich Kultur- und Bildungseinrichtungen untereinander
besser vernetzen. Theaterprojekte zum Beispiel, aber
auch der Hip-Hop als Projekt ({4})
- sollten feste Institutionen an unseren Schulen werden.
({5})
Subkultur, freie künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten
wollen wir Grünen in gleichem Maße fördern wie den
hochsubventionierten Opernbetrieb. Grüne Kulturpolitik will die Vielfalt. Die schwarz-gelbe Forderung nach
der deutschen Sprache im Grundgesetz verstehe ich als
Deutschtümelei. Wir wollen geistige Vielfalt, nicht Einfalt.
({6})
Kultur soll integrieren, nicht ausgrenzen.
Die Wertschöpfung der Kreativwirtschaft übersteigt
mittlerweile die der Automobilindustrie, der Chemieindustrie und der Landwirtschaft. Doch hinter den schillernden Kulissen der Kreativwirtschaft sieht es düster
aus. Als Pianistin weiß ich, wovon ich spreche. Es hakt
an allen Ecken und Enden in der Kulturbranche.
Viele Menschen sind überrascht, wenn sie hören, dass
die meisten Musiker, Schauspieler und Tänzer regelmäßig auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind.
Hochqualifizierte Talente werden ausgebeutet und arbeiten für einen Hungerlohn. Das Sparen von staatlicher
Seite an der sozialen Absicherung der Kulturschaffenden
bedroht die Freiheit der Kunst.
({7})
Daran hat leider auch die Reform der Anwartschaftsregelung im SGB III kurz vor dem schwarz-roten Torschluss nichts Grundlegendes geändert. Ich bin hier, um
an die großen, leeren Versprechungen der letzten Legislaturperiode zu erinnern.
Was den schwarz-gelben Koalitionsvertrag betrifft,
stört mich darin besonders die komplette Missachtung
der sozialen Absicherung von Künstlerinnen und
Künstlern.
({8})
Hier sehe ich einigen Nachbesserungsbedarf. Denn: Eine
Gesellschaft, die ihre Kulturschaffenden nicht wertschätzt, riskiert, auf eine Weise zu verarmen, die mit
Geld nicht wieder gutzumachen ist.
({9})
Wir brauchen deshalb endlich eine soziale Versorgung, die Rücksicht nimmt auf die heutigen Produktionsbedingungen der Medien- und Kulturbranche mit
ihren sehr unterschiedlichen und flexiblen Arbeitsmodellen.
Ich glaube, zwischen uns hier im Plenum gibt es nicht
nur politische Unstimmigkeiten. Der Bericht der Enquete-Kommission ist dafür ein ausbaufähiger Beleg.
Ich denke, in der Kulturpolitik haben wir größtenteils sogar die gleichen Ziele. Es fehlt nur an der Umsetzung.
Dabei lädt gerade die Kulturpolitik zu einer fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit ein. Diese Chance müssen wir nutzen.
Ich hoffe sehr, dass es uns gelingt, neue und mutige
Wege in der Kulturpolitik zu beschreiten. Wir haben es
in der Hand, eine fantasievollere Gesellschaft zu fördern
und mitzugestalten. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.
Vielen Dank.
({10})
Kollegin Krumwiede, dies war Ihre erste Rede, und
das in der ersten Plenardebatte der neuen Legislaturperiode. Respekt, herzlichen Glückwunsch und alles
Gute für die weitere Zusammenarbeit!
({0})
Das Wort hat nun Staatsminister Bernd Neumann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Krumwiede, ich freue mich ebenfalls auf
eine gute Zusammenarbeit und hoffe, dass Sie in den
Kulturausschuss kommen. Eine Belebung dieses Ausschusses ist immer gut.
„Kunst und Kultur sind der Zukunftsmotor einer Gesellschaft.“ So steht es im Koalitionsvertrag. Dies ist ein
sehr richtiger und wichtiger Satz. Deshalb werden wir
der Bedeutung der Kultur durchaus gerecht, wenn wir
sie hier noch im Rahmen der Generaldebatte vor allen
anderen Ressortbereichen behandeln.
Man kann feststellen - da muss ich der jungen Kollegin doch etwas widersprechen -: Mit unserer Koalitionsvereinbarung wird der erfolgreiche Kurs der Kulturpolitik der letzten Legislaturperiode fortgesetzt. Dass er
erfolgreich war, wird ja von niemandem bestritten. Die
Tatsache, dass von allen Verbänden nach der Fortsetzung
dieser Politik mit dem gleichen Amtsinhaber gerufen
wurde, ist ein Zeichen dafür, dass wir ganz gut waren.
Das möchte ich an dieser Stelle erwähnen.
({0})
Das heißt, wir wollen die Rahmenbedingungen der Kultur verbessern und darüber hinaus neue, zusätzliche Akzente setzen.
Wir befinden uns mitten in einer globalen Wirtschafts- und Finanzkrise bisher nicht gekannten Ausmaßes. Haushaltskonsolidierung ist in den kommenden
Jahren angesagt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich der Rolle der Kultur für unsere Gesellschaft bewusst zu werden. Gerade in Zeiten der Globalisierung,
gekennzeichnet durch zunehmende Verunsicherung und
Orientierungslosigkeit des Einzelnen, bedarf unsere Gesellschaft eines tragfähigen, gemeinsamen geistigen
Fundaments, und dieses Fundament ist die Kultur.
({1})
Die Kultur stiftet das Bewusstsein für die eigene Geschichte. Sie schafft Zusammenhalt. Sie stiftet Werte
und Traditionen, die unser Land und unsere Gesellschaft
für ein menschliches Miteinander brauchen. Durch die
Kultur entsteht gerade für unsere Kinder und Jugendlichen jene Orientierung und Kreativität, die uns lebenslang begleitet.
Aus diesem Grunde wäre es fahrlässig, gerade in Krisenzeiten dieses Fundament, das unsere Gesellschaft zusammenhält, durch finanzielle Kürzungen anzukratzen
oder sogar zu beschädigen.
({2})
Hierzu ist eine Aussage in unserem Koalitionsvertrag
von herausragender Bedeutung. Sie lautet:
Die Ausgaben des Bundes für die Kultur konnten in
den vergangenen vier Jahren deutlich erhöht werden. Dazu stehen wir gerade auch in der Finanzund Wirtschaftskrise. Kulturförderung ist keine
Subvention, sondern eine unverzichtbare Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft.
({3})
Meine Damen und Herren, nun erreichen uns aus einigen Kommunen in Deutschland seit ein paar Wochen
alarmierende Nachrichten über massive Streichungsabsichten im Bereich der Kultur in einer Größenordnung
von 10 Prozent und zum Teil mehr. Ich weiß, dass Länder und Kommunen den Löwenanteil der öffentlichen
Ausgaben für Kultur in diesem Land tragen. Das ist so
von der Verfassung gewollt, und das bedeutet ein großes
Stück Verantwortung.
Natürlich dürfen wir das Ziel eines konsolidierten
Haushaltes nicht aus den Augen verlieren; aber dafür ist
der Kulturbereich allein schon unter fiskalischen Aspekten nicht geeignet. Die Anteile der Kultur an den Etats in
den Ländern und Kommunen betragen im Mittelwert
1,9 Prozent. Mit Sparmaßnahmen in diesem Bereich saniert man keine Haushalte.
({4})
Die geringen Einsparungen, die überhaupt möglich wären, stehen in keinem Verhältnis zu dem kulturellen Flurschaden, den man anrichten würde. Deshalb appelliere
ich an alle: Schonen wir die Kultur auch und gerade in
Krisenzeiten.
({5})
Bei den Rahmenbedingungen steht für mich die Verbesserung der sozialen Lage der Künstler an vorderer
Stelle. Wenn man bedenkt, dass die jährlichen Durchschnittseinkommen zwischen 10 000 und 12 000 Euro
liegen, dann kann uns das nicht gleichgültig sein. Deshalb ist die weitere Stabilisierung der Künstlersozialversicherung, die einen Versicherungsschutz gegen Verarmung im Alter sowie Zugang zur gesetzlichen Krankenund Rentenversicherung bietet, unverzichtbar. Ebenso
muss die Reform - Frau Kollegin Krumwiede, wir haben
sie eingeleitet - bei den Kriterien für den Erhalt von Arbeitslosenunterstützung künstlerfreundlich umgesetzt
werden. Schon dieser Schritt bringt etwas. Im Laufe der
Legislaturperiode muss sie erneut im Hinblick auf die
Wirksamkeit auf den Prüfstand gestellt werden; da bin
ich Ihrer Meinung.
({6})
Ich kann aus Zeitgründen nur einige wenige Punkte
aus der Koalitionsvereinbarung ansprechen. Ganz oben
steht für mich die kulturelle Bildung. Es sind unsere
Kinder und Jugendlichen, die die Gesellschaft von morgen gestalten werden. Geben wir ihnen das geeignete
Rüstzeug dafür!
Ob der Ausbau des europäischen kulturellen Dialogs
durch die Stiftung Genshagen, der Abbau von Hindernissen beim Zugang zu kulturellen Angeboten oder die
Stärkung der Medienkompetenz: Hier zählen wir weiterhin auf die an sich hervorragende Kooperation mit den
Ländern, den Verbänden und auch der Wirtschaft bei unseren Erfolgsprojekten, die wir fortführen und verstärken werden.
({7})
Meine Damen und Herren, gestern haben wir den Fall
der Mauer vor 20 Jahren gefeiert. Bei allen positiven Gefühlen dürfen wir aber nicht übersehen, dass es noch immer - oder leider immer mehr - Tendenzen gibt, das Unrecht in der DDR zu beschönigen und zu verharmlosen.
Darum wollen wir die geschichtliche Aufarbeitung der
SED-Diktatur verstärken; ein Vergessen und Verdrängen kommt für uns nicht infrage.
({8})
Meine Damen und Herren, wir werden uns für ein
Urheberrecht stark machen - das ist für die Künstler im
digitalen Zeitalter eine der größten Herausforderungen
überhaupt -, das Kreative in unserem Land vor der Beeinträchtigung geistigen Eigentums schützt, sei es durch
Mediengiganten wie Google, sei es durch Internetpiraten.
Das schriftliche Kulturerbe ist ein bedeutendes
Zeugnis einer Kulturnation. Darum haben wir uns darauf
geeinigt, gemeinsam mit den Ländern ein nationales Bestandserhaltungskonzept für gefährdetes schriftliches
Kulturgut zu erarbeiten und eine Koordinierungsstelle
von Bund und Ländern einzurichten.
({9})
Meine Damen und Herren, Kontinuität und Verlässlichkeit, verbunden mit neuen Ideen und Initiativen, werden die Kultur- und Medienpolitik des Bundes auch in
der kommenden Wahlperiode auszeichnen. Ich wünsche
mir jene Allparteienkoalition für die Kultur, mit der wir
in der Vergangenheit gemeinsam eine Menge erreicht
haben.
({10})
Ich würde mich freuen, wenn wir diese große Einigkeit
- in diesem Falle entgegen den sonstigen Gepflogenheiten - über die Fraktionsgrenzen hinweg zum Wohle der
Kultur fortführen könnten. Gerade in Zeiten der Krise
braucht die Kultur unser aller Solidarität.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So
kann man sich irren: Als die Kanzlerin gleich zu Beginn
ihrer Rede heute Morgen sagte, wir müssten die Folgen
der Finanz- und Wirtschaftskrise überwinden, dachte
ich, jetzt komme eine Passage zur Situation der Kultur
und Kulturschaffenden in unserem Land. Sie kennt doch
die Hilferufe der Oberbürgermeister, der Theater, der
Museen, der Bibliotheken und der Kunsthäuser überall
in unserem Land, und sie kennt auch die Analysen der
Zeitungen: Vom großen „Kahlschlag“ schrieb die Zeit
vor zwei Wochen, vom „Spar-Tsunami“ der Spiegel.
Aber kein Wort davon; dafür das Schlagwort „Leistung
muss sich wieder lohnen“. Dies sagen Sie einmal Kunstund Kulturschaffenden in unserem Land,
({0})
etwa Schauspielern und Musikern. Die Kollegin, die neu
im Bundestag ist, hat die Situation dankenswerterweise
schon beschrieben: hochqualifizierte Leute, die Tag und
Nacht an ihren Projekten arbeiten und, wenn es hochkommt, vielleicht 11 000 Euro im Jahr verdienen, davon
keine Sozialversicherung zahlen können und nichts fürs
Alter sparen können. Leistung soll sich wieder lohnen?
Ja, bitte, gerade im Bereich der Kultur!
({1})
Aber kein Wort, kein Satz, keine Vorstellungen, wie hier
ein jetzt zusammenbrechendes System erhalten und gerettet werden kann.
Geldmangel ist ein mit Verzögerung wirkendes
Gift. Wenn es sich bemerkbar macht, ist es für die
betroffenen Personen und Institutionen oft zu spät,
die Reserven sind aufgebraucht, die Bestände nicht
mehr zu retten.
Das schrieb Andreas Kilb vor einigen Tagen in der FAZ.
Das Gift Geldmangel wird in der Kultur epidemische
Formen annehmen, wenn jetzt nicht sofort entgegengewirkt wird.
({2})
Es ist ja bekannt, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung von privatwirtschaftlichen Unternehmen nach
Krisen in der Regel stabilisiert. Dies aber gilt nicht für
verlorene Kunst und aufgegebene kulturelle Infrastruktur. Deshalb fordern wir ein sofortiges Investitionsprogramm für die kulturelle Infrastruktur in diesem
Land, einen „Zukunftsfonds Kultur“.
({3})
Es geht nicht nur darum, Herr Staatsminister, dass wir
die Kultur schonen, wir müssen aus dieser Situation heraus jetzt offensiv etwas für die Kultur tun, wir müssen
in deren Zukunft investieren.
Beim Expertengespräch des Ausschusses für Kultur
und Medien im März dieses Jahres hat Klaus Hebborn
vom Deutschen Städtetag bereits einen bedenkenswerten
Vorschlag zur Finanzierung eines solchen Fonds gemacht. Er stellte fest:
Wenn die öffentlichen Hände an der Abfinanzierung der in den Bankensektor fließenden Mittel nur
nachrangig beteiligt würden, wäre für die Kultur
viel gewonnen.
Sie wissen: In der Kultur schafft wenig viel, Investitionen haben Schubkraft, siehe Filmförderung. Deshalb:
Setzen Sie um, was Sie uns stets mit schönen Worten
verkünden: Kulturförderung ist eine Investition in die
Zukunft. Die nachfolgenden Generationen sind darauf
angewiesen.
Bei einem zweiten Thema habe ich mich sehr geirrt.
Ich war fest davon überzeugt, dass in der Koalitionsvereinbarung im Kapitel Kultur das Postulat „Der Staat
schützt und fördert die Kultur.“ und die Ankündigung,
diesen Satz so schnell wie möglich als Gesetz zur Abstimmung zu stellen, enthalten sein würden, damit endDr. Lukrezia Jochimsen
lich das Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankert
wäre.
({4})
Ich habe noch den flammenden Appell von Guido
Westerwelle in den Ohren, den er am 19. Juni dieses Jahres hier an uns alle gerichtet hat.
In Wahrheit geht es darum, dass Deutschland eine
Kulturnation ist. … Eine Kulturnation sollte sich in
ihrer eigenen Verfassung dazu bekennen, dass sie es
ist.
Wie wahr! Auch der nächste Satz ist richtig:
… da die Kultur in Deutschland in Konkurrenz
steht zu anderen wichtigen Rechtsgütern, müssen
wir dafür sorgen, dass die Kultur nicht den Kürzeren zieht, nur weil sie keinen Verfassungsrang hat.
Dem ist nicht zu widersprechen. Dem ist auch nichts
hinzuzufügen. Es bleibt die Frage: Wo ist das Staatsziel
Kultur geblieben? Es scheint auf der Strecke geblieben
zu sein zwischen der FDP-Opposition im Juni und der
FDP-Mitregierung im November. Schade, Herr Vizekanzler.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich verfolge die Debatte seit heute 11 Uhr. Mir
ist aufgefallen, dass kein Einziger und keine Einzige der
Oppositionsredner oder -rednerinnen bisher ein Wort für
das Thema 20 Jahre Mauerfall übrig hatte.
({0})
Es ist immerhin ein Thema, das gestern das öffentlich-rechtliche Fernsehen den gesamten Abend beschäftigt hat. Sie haben sich, wenn Sie das gesehen haben,
noch einmal vergegenwärtigen können, was für ein Ereignis das war und wie es die Menschen bewegt hat. Sie
haben die Freudentränen der Menschen gesehen, die
zum ersten Mal Westberlin betreten haben. Gerade deshalb frage ich mich, weshalb Sie das so wenig interessiert und weshalb Sie uns vorwerfen, es gäbe zwischen
der Bevölkerung und uns einen Keil. Offenbar sind Sie
es, die ein wenig neben der psychischen Beschaffenheit
der Mehrheit in Deutschland leben.
({1})
Über den Aufbau Ost kann man nur auf der Basis von
Wahrheit und Klarheit reden. Wo es Besonderheiten gibt,
mögen sie materieller oder psychologischer Natur sein,
muss man sie klar benennen. An einem solchen Tag wie
heute, halte ich es für sehr wichtig, gerade die letzteren
zu erwähnen.
Worum geht es? Unsere Generation der Ostdeutschen
hat die Hälfte des Lebens zugebracht in einem Zustand
entzogener Freiheitsrechte: des entzogenen Rechts auf
freie Meinungsäußerung, des entzogenen Rechts auf ein
diskriminierungsfreies Bekenntnis zu einem Glauben,
des entzogenen Rechts auf Freizügigkeit und des entzogenen Rechts auf demokratische Mitwirkung in der Politik. Das ist das Erlebnis eines halben Lebens unserer Generation, und zwar ohne die Aussicht auf ein Ende dieses
Zustands.
Nun mögen die Menschen verschieden beschaffen
sein, aber gerade angesichts der Tatsache, dass wir bisher eine nahezu reine Verteilungsdiskussion geführt
haben, möchte ich sagen - ich kann nur für mich sprechen -: Kein einziges der sogenannten sozialen Rechte,
und auch nicht alle Sozialrechte zusammen, die sich die
DDR zugute hielt, hat für mich jemals die Abwesenheit
dieser Freiheitsrechte aufgewogen.
({2})
Deshalb sehne ich mich nach dieser Zeit auch nicht
zurück. Aber ich wehre mich trotzdem gegen eine Einebnung, gegen eine Philosophie, die da sagt: Hört auf mit
dem ständigen Reden von Ost und West; wir sind doch
jetzt ein einiges Deutschland, da braucht man das nicht
mehr zu erwähnen. Es ist sehr wohl nötig - auch das sage
ich aus Sicht meiner Generation -, diese Geschichte immer wieder zu erwähnen. Warum? Weil wir etwas Besonderes, etwas Eigenes in das wiedervereinigte Deutschland mitbringen. Wir bringen keine Vermögensvorteile
mit. Wir bringen auch keine Ausbildungsvorteile mit.
Ganz im Gegenteil: In vielen Bereichen sagt man uns:
„Habt ihr das erste und zweite juristische Staatsexamen?
Wenn nicht, könnt ihr wieder gehen.“ Das ist bedauerlich. Aber wir bringen etwas Anderes mit: Unsere Generation bringt die Erfahrung mit, in dem eigenen Leben
die Kraft aufgebracht zu haben, ein übermächtiges, totalitäres Regime mit Würde zu überleben, eine Kraft, die
aufzubringen anderswo nicht nötig war.
({3})
Ich betrachte es als unsere zentrale Aufgabe als Ostdeutsche in diesem Bundestag, dafür zu sorgen, dass diese
enorme Lebensleistung in Deutschland respektiert, anerkannt und gewürdigt wird.
({4})
Die Freudentränen von gestern haben, wie Freudentränen im Allgemeinen, eine bittere Geschichte. Ich
glaube, dass es genau dieses Bewusstsein der entzogenen Rechte ist, das diese bittere Geschichte und die
Emotionen des gestrigen Tages ausmacht. Allerdings
fehlte mir in der Gesamtdarstellung gestern einiges. Die
Fernsehbilder suggerierten eine schöne Harmonie. Nur,
die Freudentränen am 9. November waren kein gesamtdeutsches Allgemeingut. Im Gesicht von Oskar
Lafontaine, der leider wieder aus dem Saal gegangen ist,
wird man schwerlich welche ausgemacht haben. Er hat
mir in einer der letzten Debatten der vergangenen Legislaturperiode zugerufen, ich sagte die Unwahrheit, als ich
etwas über ihn zitiert habe. Deshalb sage ich es noch einmal und diesmal mit Angabe der genauen Textstelle, um
klarzumachen, wie dieser Mann damals gedacht hat. In
der Sächsischen Zeitung vom 13. Dezember 1989 wurde
Herr Lafontaine folgendermaßen zitiert:
Der stellvertretende SPD-Vorsitzende und saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine …
sprach auch von „guten Argumenten“, Rentnern aus
der DDR bei einer Übersiedlung in die Bundesrepublik aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit keine
Rente mehr zu zahlen. Es sei geltendes Recht in der
Bundesrepublik, daß jemand, der keine Beiträge
eingezahlt habe, auch keine Rente bekomme.
({5})
Das ist ein Originalzitat aus der Sächsischen Zeitung.
Wenn er das dementieren will, soll er das tun. Vielleicht
wurde er falsch zitiert. So haben wir ihn aber damals
wahrgenommen. Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, Sie erinnern sich: Sie haben
diesen Mann als Nächstes zum Kanzlerkandidaten gemacht und einige Jahre später zum Parteivorsitzenden
gewählt. Ich halte das für eine grobe Unsensibilität gegenüber der gesamten deutschen Geschichte, insbesondere gegenüber der Geschichte der deutschen Wiedervereinigung.
({6})
Ich bin sehr dankbar dafür, dass es in den letzten Jahren eine so enorme Solidarität des Westens mit dem
Osten gab. 1,3 Billionen Euro sind von West nach Ost
geflossen. Nun gibt es Stimmen, die sagen, wer Dankbarkeit einfordere, der erniedrige die Menschen. Dazu
möchte ich Folgendes sagen: Mir gegenüber hat nie jemand Dankbarkeit eingefordert. Ich erlaube mir aber,
eine tiefe Dankbarkeit zu fühlen und schäme mich dieser
Dankbarkeit auch nicht.
({7})
Ich halte sie nicht für ein altmodisches Gefühl, sondern
für eine Selbstverständlichkeit für jeden halbwegs intelligenten Menschen mit Herz, der nur einen kurzen Blick
nach Polen, nach Tschechien, nach Russland und in all
die anderen Länder wirft, die vor 20 Jahren in der gleichen Situation waren wie wir.
({8})
Vor diesem Hintergrund versteht sich natürlich das,
was im Koalitionsvertrag steht. Selbstverständlich
möchten wir den Annäherungsprozess zwischen West
und Ost fortsetzen. Das bedeutet zum Beispiel, dass der
Solidarpakt II so bleibt, wie er ist. Auch die vorhin geäußerten Zweifel daran, dass der Risikostrukturausgleich
bleibt, wie er ist, möchte ich zerstreuen. Wir ostdeutschen Abgeordneten werden dafür sorgen, dass die Vorteile, die uns die Gesundheitsreform gebracht hat, in der
jetzigen Legislaturperiode voll erhalten bleiben. Dafür
streiten wir.
({9})
Dass das im allgemeinen Interessenausgleich nicht immer ganz einfach wird, ist klar; aber wir werden es tun.
Des Weiteren sage ich: Wir müssen auch im Bereich
der Infrastruktur weiter voranschreiten. Dort bestehen
ganz wesentliche Probleme. Ich bitte darum, dass uns die
Kollegen von der Opposition, wenn sie tatsächlich etwas
für Ostdeutschland empfinden, helfen und nicht die
ganze Zeit die Prozesshanseln in Ostdeutschland ermutigen, damit unsere Projekte nicht stattfinden.
({10})
Ich will Ihnen sagen: Wir könnten mit einer alpenquerungsfreien See-zu-See-Verbindung, von der Ostsee zur
Adria, auf der Schiene dienen. Wenn das gelingt, haben
wir die Möglichkeit, Verkehre von globaler Dimension
nach Ostdeutschland zu lenken und von ihrer Erschließungswirkung zu profitieren, vorausgesetzt es wird uns
nicht kleinkarierter Widerstand entgegengebracht.
({11})
Darum bitte ich Sie sehr.
Bezüglich der Frage nach einem Aufbau West, die
vor Kurzem geäußert worden ist, kann ich nur sagen:
({12})
Ich bin voll davon überzeugt, dass Peter Ramsauer mit
keinem Wort auch nur ein Projekt infrage gestellt hat,
das uns in Ostdeutschland zugesichert ist, das bereits bezahlt ist und worauf wir gesetzt haben. Da bin ich ganz
sicher.
({13})
Ich muss natürlich auch sagen: Es gibt in Westdeutschland eine Anzahl Projekte, die seit 40 Jahren
nicht realisiert worden sind, wofür wir keine Verantwortung tragen, zum Beispiel die Hochrheinautobahn. Das
ist nicht unser Problem. Da haben Sie sich in ein eigenes
Gewirr von Fallstricken verwickelt; da müssen Sie sehen, wie Sie da raus kommen.
Ich bin trotzdem der Meinung, dass die Projekte, die
im Westen in den letzten Jahren liegen geblieben sind,
selbstverständlich aufgearbeitet werden müssen. Auch
da werden wir an einem Strang ziehen, weil wir dankbar
sind für die Solidarität in Deutschland und weil wir sie
so, wie sie ist, aufrechterhalten wollen.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({14})
Im Rahmen der Generalaussprache liegen nun keine
weiteren Wortmeldungen mehr vor.
Damit kommen wir zu den Bereichen Europa,
Außen- und Sicherheitspolitik, Entwicklungspolitik
und Menschenrechte.
Als erstem Redner erteile ich das Wort für die
Bundesregierung Herrn Bundesminister Dr. Guido
Westerwelle.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zunächst einmal an das anknüpfen, was Herr
Kollege Vaatz hier eben gesagt hat. Das ist eine außerordentlich kluge und vor allen Dingen bemerkenswerte
Einschätzung gewesen. Denn die vielen Gäste, die wir
gestern empfangen konnten, haben alle ausgedrückt, wie
beeindruckt unsere befreundeten Partner in der Welt von
dieser friedlichen Revolution gewesen sind. Jeder hier
weiß, dass das auch viel Staatskunst verlangt hat. Jeder
kennt die Rolle von Helmut Kohl, von Hans-Dietrich
Genscher und - es wächst zusammen, was zusammen
gehört - von Willy Brandt; er sei ausdrücklich genannt.
Aber niemand darf dabei vergessen: Die wahren Helden
waren diejenigen, die nicht wussten, ob auf sie geschossen wird, als sie auf die Straße gingen. Das waren die
wahren Helden dieser Zeit.
({0})
Meine Damen und Herren, das hat natürlich auch viel
mit außenpolitischer Tradition und Kontinuität zu tun
gehabt. In Wahrheit ist die Außenpolitik seit Gründung
der Bundesrepublik Deutschland wirklich großes Inventar unserer Republik. Diese Kontinuität hat die Außenpolitik aller Regierungen vor uns - aller Regierungen - ausgezeichnet, und diese Kontinuität wird selbstverständlich
auch jetzt fortgesetzt werden. Deutsche Außenpolitik ist
Friedenspolitik, sie ist interessengeleitet, aber sie ist ausdrücklich auch werteorientiert. Das ist der Kompass. Der
galt früher, und der gilt auch in Zukunft.
({1})
Das hat die Angst vieler Völker der Welt vor uns
Deutschen genommen, das hat uns in die friedliche Völkergemeinschaft zurückgeführt. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich gleich am Anfang sagen:
Wir stehen mit dieser Bundesregierung für eine Einbindung unserer Politik in die europäische Politik und in die
Politik der Völkergemeinschaft. Wir wollen keine Alleingänge, sondern wir wollen gemeinsames Handeln;
auch dies ist wichtig.
Ich möchte nachdrücklich sagen: Es soll jedem klar
sein, dass Kontinuität nicht mit Ideenlosigkeit verwechselt werden darf. Jeder setzt seine eigenen Akzente. Ich
möchte ausdrücklich hinzufügen: Das hat auch Bundesaußenminister Steinmeier getan. Da es das erste Mal ist,
dass ich in diesem Hohen Hause in meinem neuen Amt
sprechen darf, möchte ich mich bei ihm, gewissermaßen
in Abwesenheit - ich hätte es ihm gerne persönlich gesagt -, für seine Amtsführung in den letzten Jahren sehr
herzlich bedanken.
({2})
Es ist immer so: Jeder denkt natürlich an die eigene
Handschrift, an die eigenen Akzente, und es gibt Dinge,
die aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregierung
vielleicht noch besser gemacht werden können. Ich
möchte zunächst vor allen Dingen auf die Europapolitik Bezug nehmen.
Ich habe sehr früh, lange vor der deutschen Einheit,
von Hans-Dietrich Genscher ein Selbstverständnis gelernt, das mich sehr geprägt hat. Damals sagte er mir als
jungem Studenten: Die Europäische Union heißt Europäische Union und nicht Westeuropäische Union. - Das
ist kein selbstverständlicher, einfach so dahingesprochener Satz, sondern es ist in Wahrheit ein Auftrag an unsere
Generation, zu vollenden, was andere vor uns begonnen
haben - abermals seien zum Beispiel Willy Brandt und
Walter Scheel genannt -, dass die tiefe Freundschaft, die
wir mit unseren westlichen Nachbarn erreichen konnten
- wir sprechen längst nicht mehr nur von Partnerschaft,
sondern selbstverständlich von einer Freundschaft der
Völker -, auch mit unseren östlichen Nachbarländern
möglich wird, dass sie wächst und dass sie gedeiht.
Deswegen habe ich meine erste Antrittsreise nach Polen unternommen. Ausdrücklich habe ich als erstes Land,
in das ich im Rahmen meiner Antrittsbesuche gereist bin,
Polen und dort Warschau besucht. Das soll auch von mir
ganz persönlich ein klares Bekenntnis sein: Wir wollen,
dass die Freundschaft, die zum Beispiel im deutsch-französischen Verhältnis gewachsen ist, auch für das deutschpolnische Verhältnis selbstverständlich wird. Wir wollen
unseren Beitrag dazu leisten, dass die Ressentiments, die
es selbstverständlich gibt - wie könnte es in Anbetracht
unserer Geschichte auch anders sein? -, als Vergangenheit zurückbleiben.
({3})
Wie jeder von Ihnen habe ich in meiner politischen
Laufbahn viele Gespräche geführt und das eine oder andere fürs Leben mitgenommen. So ist es mir wichtig, dass
ich in den 90er-Jahren - schon etwas näher an der Politik
stehend: im Vorstand meiner Partei, später als Generalsekretär und dann als junger Abgeordneter - noch erlebt
habe, wie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher in
der Europapolitik immer größten Wert darauf gelegt haben, dass Europa nicht nur ein Konzert der großen Staaten
in Europa ist. In Europa gibt es keine kleinen Länder.
Auch die geografisch kleinen Länder sind in Europa ganz
groß, auf Augenhöhe. Respekt vor allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, das soll unsere, das wird
auch meine Handschrift sein.
({4})
Deswegen ist es mir ein Anliegen gewesen - und ich
werde das in dieser Woche fortsetzen -, gleich am Anfang selbstverständlich nicht nur Frankreich, unseren
wunderbaren Freund und Nachbarn, zu besuchen, sondern auch die kleineren Nachbarländer, die Beneluxländer, wie sie oft genannt werden, aufzusuchen.
({5})
- Ich habe es doch gerade erklärt; vielleicht ertragen Sie
es einfach mal. Ich glaube, dass Sie es verstehen können.
Ich bitte wirklich darum. - Ich halte es deshalb für so
wichtig, diese Länder zu besuchen, weil ich es nicht gut
finde, wenn Länder wie beispielsweise Luxemburg, wenn
Länder wie die Niederlande oder wenn Länder wie Belgien das Gefühl bekommen, gewissermaßen eingedrängt
oder nicht genügend beachtet zu werden. Ich war persönlich überrascht, dass der letzte bilaterale Besuch eines
deutschen Außenministers in Belgien - nicht in Brüssel/
Europa, sondern in Belgien - neun Jahre zurücklag.
({6})
Ich glaube, es ist wichtig, dass, gerade weil Deutschland
ein so großes Land ist, wir als Deutsche Wert darauf legen: In Europa wollen wir uns mit Respekt begegnen.
Deswegen haben wir unsere Sprache, selbst wenn es
Kontroversen gibt, so zu wählen, dass sich niemand in
unseren Nachbarländern, auch nicht in Luxemburg, beleidigt und gekränkt fühlen muss.
({7})
Schließlich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,
ist es wichtig und selbstverständlich Tradition, dass alle
bisherigen deutschen Regierungen das transatlantische
Verhältnis als eine ganz besondere Partnerschaft angesehen haben. Wir wollen Partnerschaft mit vielen Ländern in der Welt, wir wollen uns bemühen, mit vielen
Ländern in der Welt - mit ärmeren wie reicheren, mit
geografisch größeren wie kleineren - gute Beziehungen
zu pflegen. Aber außerhalb von Europa sind die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur unser stärkster,
sondern auch unser treuester Verbündeter. Wir stünden
nicht hier mit freier Rede an diesem Platz, wenn die Vereinigten Staaten von Amerika nicht dafür geradegestanden hätten, in ihrer gesamten gemeinsamen Geschichte
mit uns.
({8})
Sie werden nicht erwarten, dass man in den ersten Tagen über alles Bilanz zieht und über alles schon eine
abschließende Meinung hat. Ich habe jetzt viele Außenminister getroffen, hatte die Ehre, mit vielen
Regierungschefs zu sprechen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, damit es Sie beruhigt: Alle hatten einmal ihren ersten Tag. Dementsprechend will ich nicht den Eindruck erwecken, als sei
schon alles aufgeschrieben und abschließend benannt.
Ich möchte Ihnen anbieten, dass wir in den großen Fragen, die vor uns liegen - ob es um das Konzept der
selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan geht; ob es um
den Iran geht; ob es darum geht, die Rede, die Bundeskanzlerin Merkel in Washington gehalten hat, in der Völkergemeinschaft politisch mehr und mehr mit Leben zu
erfüllen -, gemeinsam die Politik besprechen. Es geht
jetzt darum, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen.
Ich möchte Sie herzlich um Ihre Zusammenarbeit bitten. Gleichzeitig biete ich Ihnen als den Abgeordneten
hier in diesem Hohen Hause, und zwar allen Fraktionen,
nachdrücklich eine faire und gute Zusammenarbeit an,
weil ich glaube, dass Außenpolitik vor allen Dingen eine
gemeinsame Politik unseres Landes ist.
Ich danke deshalb auch sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun der Kollege Gernot Erler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kontinuität und Grundkonsens, Herr Bundesminister des Äußeren, sind in der Tat bewahrenswerte Prinzipien in der Außen- und Sicherheitspolitik - auch bei
einem Regierungswechsel.
Zwischen 1998 und 2005 hat die rot-grüne Regierung
wichtige Weichenstellungen getroffen. Erst aus den Balkankriegen heraus entstand eine wirkliche europäische
Außen- und Sicherheitspolitik mit entsprechenden zivilen und militärischen Fähigkeiten, an deren Schaffung
wir uns aktiv beteiligt haben. Als Antwort auf die Tragödie dieser Konflikte bekamen die Westbalkanstaaten
1999 auf deutsche Initiative hin zunächst den Stabilitätspakt. Im Juni 2003 erhielten sie auf dem Europäischen
Rat von Thessaloniki dann eine verbindliche EU-Beitrittsperspektive. Das hat sich bis heute als europäische
Friedenspolitik bewährt.
Bis heute gültig ist auch die wertebezogene europäische Sicherheitsstrategie vom Dezember 2003, in die
auch wichtige Prinzipien, die wir erarbeitet haben, eingegangen sind, und Rot-Grün hat in Deutschland viele
Initiativen für eine präventive Friedenspolitik auf den
Weg gebracht: zum Beispiel mit dem ZIF, dem Zentrum
für Internationale Friedenseinsätze, mit dem Aufbau des
zivilen Friedensdienstes, mit dem Aktionsplan für zivile
Krisenprävention, mit der Aufwertung der Menschenrechtspolitik, mit der Unterstützung der Vereinten Nationen und mit der Erweiterung der Entwicklungszusammenarbeit, die wir als globale Prävention verstehen. All
das hat den Wechsel von 2005 in die Große Koalition
schadlos überstanden und ist in den vergangenen vier
Jahren weiterentwickelt worden.
Herr Bundesaußenminister, daran anzuknüpfen, wäre
in der Tat eine sinnvolle und überzeugende Kontinuitätsentscheidung. In dem Koalitionsvertrag von CDU/CSU
und FDP - nicht in Ihrer Rede - wird aber leider gezeigt:
Sie sind im Begriff, einen Bruch mit dem bisherigen
Grundkonsens zu vollziehen. Das will ich hier an fünf
konkreten Punkten aufzeigen:
Erstens: Parlamentsbeteiligungsgesetz. Ihre Koalition kündigt Änderungen des Parlamentsbeteiligungsgesetzes und die Schaffung eines Vertrauensgremiums an.
Das stützt sich auf die widerlegbare Behauptung, dass
bei der jetzigen Regelung eine zeitnahe und ausreiDr. h. c. Gernot Erler
chende Information des Parlaments in bestimmen Fällen
nicht gesichert ist. Tatsächlich hat es dafür hier bisher
nicht ein einziges Beispiel in Form eines Problems gegeben.
({0})
Wir warnen vor einer Aufweichung oder gar Demontage der Parlamentsrechte bei bewaffneten Auslandseinsätzen. Deutschland ist mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz bisher gut gefahren. Das ist ein Teil unserer
politischen Kultur geworden.
({1})
Deswegen werden wir an diesem Punkt nicht nur aufmerksam sein, sondern auch kämpfen.
Zweitens. EU-Erweiterungspolitik. Ich habe eben
auf die friedenspolitische Bedeutung dieser Politik hingewiesen. Im Koalitionsvertrag von 2005 hatte die
CDU/CSU noch zugestimmt, Kroatien zu erwähnen und
diese Perspektive ausdrücklich zu bestätigen. Ein solches Bekenntnis fehlt in auffallender Weise im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, in dem lediglich
von einer „Erweiterungspolitik mit Augenmaß“ gesprochen wird, ohne jeden Hinweis auf ein bestimmtes Land
und ohne jede Bestätigung dieser wichtigen europäischen Perspektive. Das ist nicht nur eine Veränderung,
die in den Balkanländern mit Sorge wahrgenommen
worden ist, sondern das ist auch gefährlich. Sie tragen
die volle Verantwortung für die Folgen für die Sicherheit
auf dem Balkan, die sich daraus ergeben.
({2})
Drittens: Rüstungsexporte. Herr Bundesaußenminister, Sie haben in den letzten Tagen und Wochen sehr
lautstark Initiativen zur Abrüstung angekündigt. In dem
konkretesten Fall, dem Abzug von amerikanischen
Atomwaffen, mussten Sie teilweise schon wieder zurückrudern. Aber wir werden nicht zulassen, dass im
Schutz dieses Geräuschpegels die im Vergleich mit den
anderen europäischen Staaten in Deutschland besonders
strengen Rüstungsexportrichtlinien lautlos verwässert
werden.
({3})
Wir werden keine Ruhe geben, bis Sie erklären, was Sie
mit Ihren Forderungen nach - ich zitiere - „Harmonisierung der Rüstungsexportrichtlinien innerhalb der EU“
und nach „fairen Wettbewerbsbedingungen in Europa“
meinen.
Viertens: unser Verhältnis zu Russland. Man merkt es
nur, wenn man genau liest - Sie haben eben Russland
überhaupt nicht erwähnt, Herr Bundesaußenminister;
auch in den letzten Tagen und Wochen haben Sie es
nicht genannt -: Im Koalitionsvertrag steht wenig Neues
über Russland, das immerhin als wichtiger Partner eingestuft wird. Aber es gibt eine sehr auffällige Auslassung. Der Begriff „strategische Partnerschaft“ kommt
nicht mehr vor.
Ich frage Sie: Was soll das bedeuten? Die EU zum
Beispiel hat diesen Begriff der strategischen Partnerschaft für ihr Verhältnis mit Russland ständig benutzt.
Sie machen dies in einer Zeit, in der Präsident Obama
den Reset-Knopf hinsichtlich der Beziehungen zur Russischen Föderation gedrückt hat, in der er den Stolperstein Raketenabwehr ausgeräumt hat und in der er,
durchaus mit unserem Beifall, mit dem russischen Präsidenten bis Dezember zu einem neuen Schritt in der atomaren Abrüstung kommen will. Daher frage ich Sie:
Was soll in dieser Zeit diese erklärungsbedürftige Abstufung von deutscher Seite? Ich kann es mir nicht erklären.
Fünftens: der deutsche Einsatz in der Entwicklungspolitik. Wir haben vorhin von der Bundeskanzlerin gehört, das Thema sei nicht Nebensache, sondern Hauptsache. Das spiegelt sich nun leider weder in der Besetzung
des Ministeriums noch im Koalitionsvertrag wider.
({4})
Zwar lesen wir in dem Vertrag ein Bekenntnis allgemeinster Art zu dem europäischen 0,7-Prozent-Ziel. Das
wird aber sofort mit der Einschränkung verbunden, man
wolle sich diesem Ziel - ich zitiere - „verantwortlich im
Rahmen des Bundeshaushaltes annähern“. Zudem nennen sie kein Zeitziel. Völlig unklar bleibt auch: Was
wird eigentlich mit dem gemeinsamen europäischen
0,51-Prozent-Ziel in Deutschland im Jahr 2010? Was
wird mit dem 0,7-Prozent-Ziel im Jahr 2015? Nach elf
Jahren Kampf für die Erhöhung der ODA-Quote in der
deutschen Politik klingt das nach einem kläglichen Abgesang. Auch das werden wir nicht hinnehmen.
({5})
Ich stelle summierend fest: Es ist falsch, die Entscheidungsrechte des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen einzuschränken. Es ist falsch, von der
verbindlichen europäischen Perspektive für die Westbalkanstaaten abzurücken. Es ist falsch, die politischen
Richtlinien für deutsche Rüstungsexporte, die strenger
als in unseren Nachbarstaaten sind, aufzuweichen. Es ist
falsch, die bisherige Politik der strategischen Partnerschaft mit Russland infrage zu stellen. Es ist falsch, aus
den europäischen Zielen zur Erhöhung der Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit in die Unverbindlichkeit zu flüchten.
Bei all diesen Punkten verlassen Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, den Grundkonsens
in der Außen- und Sicherheitspolitik - nicht wir. Bei all
diesen Punkten werden Sie in der Sache bei uns auf engagierten Widerstand stoßen. Aber es gilt natürlich auch:
Wo immer Sie an den guten Kontinuitäten der letzten elf
Jahre anzuknüpfen bereit sind, werden wir konstruktiv
zusammenarbeiten können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Andreas
Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Am Beginn einer neuen Legislaturperiode ist es
wichtig, noch einmal auf die Grundlagen unserer Außenpolitik zu verweisen. Deutsche Außenpolitik war und ist
immer dann erfolgreich, wenn sie auf engen und berechenbaren Beziehungen zu unseren Partnern in der Europäischen Union und auf einem vertrauensvollen Verhältnis zu den Vereinigten Staaten von Amerika beruht.
Gestern haben wir den 20. Jahrestag der Öffnung der
Mauer gefeiert. Dass es dazu gekommen ist, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Regierung Kohl/Genscher
gegen erheblichen Widerstand vor allem von den Grünen und der SPD zum NATO-Doppelbeschluss gestanden hat.
({0})
Dafür, wie sehr eine berechenbare und vertrauensbildende Politik in EU und NATO deutschen Interessen
dient, ist dies wohl das herausragendste, aber auch das
schönste Beispiel. Deshalb war es auch richtig, dass Sie,
Frau Bundeskanzlerin, in Ihrer großen Rede vor dem
amerikanischen Kongress noch einmal ein klares Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft und zur
NATO als Eckpfeiler der deutschen Sicherheitspolitik
abgelegt haben.
Ich denke, jeder von uns ist erleichtert, dass der Lissabonner Vertrag jetzt in Kraft treten kann. Es ist ein
guter Vertrag. Europa wird in seiner Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit und in seiner Sichtbarkeit deutlich gestärkt. Die Rechte des Europäischen Parlamentes
und der nationalen Parlamente werden deutlich verbessert. Jetzt sind die Voraussetzungen geschaffen, um die
europäischen Aufgaben und globalen Herausforderungen besser bewältigen zu können.
Deutschland wird durch den Lissabonner Vertrag ein
größeres Gewicht in der Europäischen Union erhalten.
Das heißt aber - das hat der Außenminister vorhin unterstrichen -, dass wir noch mehr als bisher die berechtigten Interessen unserer Nachbarn und Partner berücksichtigen müssen. Deshalb begrüßen wir, dass der
Außenminister gleich zu Beginn seiner Amtszeit auf
Polen und die Benelux-Staaten zugegangen ist. Das war
ein wichtiges und richtiges Zeichen.
({1})
Deutschland ist immer gut gefahren, und es war immer ein Markenzeichen jeder schwarz-gelben Koalition,
wenn es den kleinen und mittleren EU-Ländern mit
Respekt begegnet und sie frühzeitig einbindet. Wenn immer so gehandelt worden wäre, hätte uns das beispielsweise viele Probleme bei dem europäischen Projekt der
Ostseepipeline erspart.
Deutschland und Frankreich müssen auch weiterhin
in der EU die entscheidende Motorrolle wahrnehmen.
Das gilt für die ganze Breite der außen- und europapolitischen Themen. Dabei werden wir in den nächsten
Jahren einen besonderen Schwerpunkt auf die Bereiche
Bildung, Klimaschutz, Weltraum sowie Sicherheit und
Verteidigung legen. Doch es geht nicht nur darum, dass
Deutschland und Frankreich die europäische Integration
in der Substanz - also die Wettbewerbsfähigkeit, die
Energiesicherheit oder die außen- und sicherheitspolitische Rolle Europas in der Welt - voranbringen. In all
diesen Bereichen muss Europa mit einer Stimme sprechen. Auch deshalb ist es unverzichtbar, dass wir wieder
deutlich den europäischen Solidargedanken stärken.
Auf ihm hat die europäische Integration aufgebaut, und
durch ihn ist die EU zu einem echten Erfolgsprojekt geworden.
({2})
Doch die Vorgänge während der Wirtschafts- und
Finanzkrise oder das jüngste Gipfeltreffen, wo das
Thema Klimaschutz offenbart hat, wie weit alte und
neue Mitgliedstaaten auch in ihrem Lebensgefühl noch
auseinanderliegen, zeigen, wie wichtig es ist, dass wir
den Solidargedanken wieder stärker ins Bewusstsein
bringen und vor allem in der EU und als EU noch stärker
danach handeln. Gerade Deutsche und Franzosen haben
hier eine besondere Verpflichtung. Dies kann nicht allein
auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs und der
Ministerien geleistet werden. Deswegen halte ich es für
notwendig, dass wir einen deutlich breiteren, vor allem
aber kontinuierlichen gesellschaftlichen deutsch-französischen Dialog auf hoher Ebene schaffen, das heißt zwischen Parlamentariern, Vertretern der Wirtschaft, Kultur,
Medien und Wissenschaft und insbesondere auch jungen
Menschen aus beiden Ländern.
In der Frage künftiger Erweiterungen der EU stehen
wir als Parlamentarier vor neuen Aufgaben. Durch die
Begleitgesetzgebung haben wir das Recht und die Pflicht
zu einer Stellungnahme, ehe der deutsche Außenminister
im Kreis seiner EU-Kollegen über die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen entscheidet. Die schlechten Erfahrungen, die wir heute noch mit dem verfrühten Beitritt Bulgariens und Rumäniens machen müssen, sind
eine deutliche Ermahnung dafür, dass wir uns mit Blick
auf künftige Beitritte schon vor Verhandlungsbeginn ein
genaues Bild über den Stand der Vorbereitung des Kandidaten machen und, darauf aufbauend, die Erwartungen
an den Verhandlungsprozess formulieren. Wenn wir
nicht wieder in die Situation kommen wollen, am Ende
nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken zu können,
dann müssen wir insbesondere vor, aber auch während
des Verhandlungsprozesses unsere Position dezidiert
zum Ausdruck bringen. Deshalb bin ich dem Außenminister dankbar, dass er nicht dem Drängen der schwedischen EU-Ratspräsidentschaft nachgibt, bereits am
7. Dezember über die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit Island und möglicherweise auch mit Mazedonien zu entscheiden, sondern dass wir Gelegenheit
haben, eine sorgfältig formulierte Stellungnahme zu erarbeiten.
In diesem Zusammenhang ein Wort zur Türkei. Es ist
klar: Die Verhandlungen mit der Türkei sind mit dem
Ziel des Beitritts aufgenommen worden und sind ein erDr. Andreas Schockenhoff
gebnisoffener Prozess. Aber will die Türkei eigentlich
noch in die EU? Die Verhandlungen kommen nicht
voran. Sie geraten möglicherweise schon bald an einen
toten Punkt. Wenn der türkische Ministerpräsident den
iranischen Präsidenten Ahmadinedschad öffentlich einen
Freund nennt, obwohl dieser den Holocaust leugnet,
oder über den wegen Völkermordes gesuchten sudanesischen Präsidenten al-Baschir sagt, ein Muslim könne
keinen Völkermord begehen, dann stellt sich schon die
Frage nach dem Verständnis europäischer Werte. Auch
dass die Türkei seit drei Jahren die Anwendung des Ankara-Protokolls verweigert, wie die Kommission kürzlich in ihrem dritten Fortschrittsbericht festgestellt hat,
spricht nicht für den Willen, die EU-Regeln und -Werte
zu akzeptieren. Die EU-Außenminister haben am
11. Dezember 2006 acht Kapitel eingefroren und eine
neue Entscheidung für den kommenden Dezember vorgesehen, sollte die Türkei das Ankara-Protokoll dann
noch immer nicht erfüllen. Da dies erkennbar nicht der
Fall ist, muss ich für meine Fraktion in aller Deutlichkeit
sagen: Die CDU/CSU erwartet, dass die Außenminister
am 7. Dezember eine Entscheidung treffen, die die klare
politische Botschaft enthält, dass es die EU ernst meint,
wenn sie sagt: Eingegangene Verpflichtungen sind einzuhalten.
({3})
In Afghanistan stehen wir vor der größten außenpolitischen Aufgabe der nächsten vier Jahre. Uns allen ist in
diesem Jahr die Schwierigkeit dieser Aufgabe deutlicher
denn je bewusst geworden. 2009 wird - das lässt sich
leider jetzt schon sagen - das militärisch schwierigste
und verlustreichste Jahr des ISAF-Einsatzes. In diesem
Jahr ist uns vor Augen geführt worden, wie schwierig es
ist, die Säulen einer demokratischen Ordnung zu errichten, wenn das Fundament dafür noch immer instabil ist.
Die Größe der Herausforderung ist sichtbarer denn je.
Und doch liegt die Stabilisierung Afghanistans weiterhin
in unserem besonderen nationalen Interesse, wie wir es
im Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir sind in
Afghanistan, weil von dort grausame Terroranschläge
gegen den Westen geplant und durchgeführt wurden und
weil wir dringend und unbedingt verhindern müssen,
dass dies wieder passiert. Wir sind in Afghanistan, weil
dort ein Volk, das sich nach Jahrzehnten des Krieges und
der Diktatur Frieden und Freiheit wünscht, seine Hoffnungen auf uns setzt. Und wir sind in Afghanistan, weil
wir Teil der transatlantischen Gemeinschaft sind und
weil wir den Einsatz, um den die Vereinten Nationen und
die afghanische Regierung die NATO gebeten haben, in
aller Konsequenz mittragen. Dies alles war richtig, als
wir in Afghanistan rasche erste Erfolge sahen und auf
ein baldiges Ende des Einsatzes hoffen durften. Dies alles bleibt auch heute noch richtig, wo wir für unsere Erfolge viel härter arbeiten müssen und an ein rasches
Ende des Einsatzes nicht mehr zu denken ist.
Unser Ziel in Afghanistan war und bleibt, dafür zu
sorgen, dass die afghanische Regierung die Verantwortung für die Sicherheit ihrer Menschen und die Stabilität
ihres Landes übernehmen kann. Deshalb gibt es keine
Exit-Strategie für unseren Einsatz, sondern die Strategie
einer Übergabe in Verantwortung, wie es die Bundeskanzlerin hier im Deutschen Bundestag vor zwei Monaten erklärt hat. Bei der für 2010 geplanten Afghanistankonferenz müssen die internationalen Partner mit der
afghanischen Regierung festlegen, wie diese Übergabe
in Verantwortung konkret ausgestaltet werden kann und
welche Zeit- und Zielvorgaben jetzt festgelegt werden
können und festgelegt werden müssen. Es wird dabei
- dessen bin ich mir sicher - an klaren Worten gegenüber der afghanischen Regierung nicht mangeln.
Präsident Karzai hat nach seiner Wiederwahl, deren
Umstände man zumindest als ungewöhnlich bezeichnen
muss, gesagt, seine Regierung sei durch Korruption und
Vetternwirtschaft ernsthaft diskreditiert. Er muss nun alles unternehmen, um dieses Problems Herr zu werden,
das den Aufbau seines Landes belastet und bedroht. Um
es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Wir erwarten von der
afghanischen Regierung deutlich mehr Anstrengungen,
um nach nun fast acht Jahren internationaler Präsenz
selbst noch stärker als bisher zur Stabilisierung beizutragen. Es sind, wie es Präsident Obama gesagt hat, Taten,
nicht Worte erforderlich. Auf diese Taten werden wir
drängen. Die internationale Afghanistankonferenz muss
deshalb einen Aktionsplan für die nächsten Jahre vereinbaren, der Zuständigkeit und Verantwortung eindeutig
benennt und die nächsten Etappen und Zwischenziele
absteckt. Diese Afghanistankonferenz darf keine weitere
Geberkonferenz werden. Sie muss eine Strategiekonferenz sein.
Ich halte es deshalb für richtig, dass wir das ISAFMandat bei der für Dezember anstehenden Verlängerung zunächst weitgehend unverändert belassen. Wenn
dann die Ergebnisse der Konferenz vorliegen, werden
wir auch ein klareres Bild davon haben, welche Änderungen des Mandats gegebenenfalls erforderlich sind.
Bis jetzt haben alle Mandatsverlängerungen für die deutsche Beteiligung an ISAF eine breite Unterstützung in
diesem Haus gefunden, getragen von der gemeinsamen
Überzeugung fast aller Parteien, dass dieser Einsatz richtig und notwendig ist. Es wäre zu wünschen, dass uns
diese gemeinsame Überzeugung erhalten bleibt, auch
und gerade dann, wenn die Schwierigkeiten größer geworden sind. Das wäre auch ein wichtiges Signal nach
außen, an unsere Partner, mit denen wir diesen Einsatz
gemeinsam bestreiten, aber auch an unsere Gegner, die
diesen Einsatz zum Scheitern bringen wollen und jedes
Zeichen von Schwäche als Ermutigung auffassen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich die Vision des amerikanischen Präsidenten
Obama, Schritt für Schritt eine Welt frei von Atomwaffen zu schaffen. Das entspricht ganz unserer Tradition.
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher waren 1982
mit dem Ziel angetreten: Frieden schaffen mit immer
weniger Waffen. - In ihrer Regierungszeit wurde Europa
weitgehend von Mittel- und Kurzstreckenwaffen befreit.
Auch daran gilt es 20 Jahre nach dem Mauerfall zu erinnern.
({4})
Jetzt wollen wir diesen Prozess fortsetzen und dabei
auch die in Deutschland verbliebenen Atomwaffen abrüsten, in enger Absprache mit unseren Verbündeten und
im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen. Diese Koalition - das kann ich insbesondere für die CDU/CSUFraktion sagen - wird in dieser Legislaturperiode nachdrücklich auf Fortschritte bei der Nichtverbreitung von
Massenvernichtungswaffen, bei der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung drängen; denn wir müssen verhindern, dass neue Nuklearmächte und eine neue Aufrüstungsdynamik entstehen. Ein nuklear bewaffneter Iran
würde im Nahen und Mittleren Osten einen atomaren
Rüstungswettlauf mit katastrophalen Folgen auslösen.
Das muss verhindert werden, wenn nötig auch durch
härtere gemeinsame Sanktionsmaßnahmen.
Mit unserem Angebot, die in Deutschland lagernden
Atomwaffen abgestimmt und im Rahmen von Abrüstungsvereinbarungen abzuschaffen, wollen wir ein Zeichen setzen. Wir wollen nicht nur auf weitere Abrüstungsschritte drängen, sondern dazu auch einen
konkreten Betrag leisten, im Zusammenhang mit dem
neuen strategischen Konzept der NATO und im Rahmen
von Abrüstungsvereinbarungen.
In den letzten Tagen wurde ich wiederholt von russischen Gesprächspartnern gefragt, ob und was sich an der
deutschen Russland-Politik durch die neue Koalition
ändere. Herr Erler, ich kann Sie beruhigen. Die Antwort
lautet: Es bleibt bei unserer Russland-Politik, nämlich
bei der Russland-Politik von Bundeskanzlerin Merkel.
({5})
Sie, die Bundeskanzlerin, hat in den letzten vier Jahren
die Richtung und die Substanz der deutschen RusslandPolitik bestimmt. Auf diesem Wege werden wir weitergehen; denn das ist eine gute, berechenbare und erfolgreiche Russland-Politik.
Ich bin dem Außenminister dankbar, dass er noch am
Wahlabend die Frage der Bürgerrechte so deutlich hervorgehoben hat. Zwar haben Sie, Herr Westerwelle, das
vor allem innenpolitisch gemeint; aber niemand kann einen Zweifel daran haben, dass Sie sich mit gleichem
Nachdruck für die Respektierung der Bürger- und Menschenrechte in anderen Staaten einsetzen. Ich erinnere
daran, wie Sie und Frau Leutheusser-Schnarrenberger
mit Entschiedenheit ein rechtsstaatliches Verfahren im
Fall Chodorkowski eingefordert haben. Das ist richtig
so, und das muss auch weiterhin der Fall sein.
({6})
Die Stimme des Außenministers muss auch zu hören
sein, wenn es schwierig wird oder wenn es darum geht,
dem Partner in angemessenem Ton Kritisches zu sagen.
Das war in den letzten vier Jahren leider nicht immer der
Fall.
Für die Russland-Politik der CDU/CSU-FDP-Koalition gilt, dass wir eine enge, aufgeschlossene und in Umgang und Ansprache ehrliche Partnerschaft wollen.
Zugleich werden wir Russland dabei unterstützen,
den Kurs der Modernisierung des Landes konsequent fortzusetzen und dabei die Defizite bei Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
abzubauen.
So steht es in unserer Koalitionsvereinbarung. Mit anderen Worten: Wir haben ein besonderes Interesse an einem politisch und wirtschaftlich modernen, rechtsstaatlich-demokratisch verfassten und handelnden Russland,
und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten.
Wie weit der Weg dorthin ist und wie groß die Defizite sind, zeigt die Analyse einer berufenen russischen
Stimme: Primitive Rohstoffwirtschaft; chronische Korruption; die veraltete Gewohnheit, bei der Lösung der
Probleme auf den Staat oder auf das Ausland zu hoffen,
nur nicht auf sich selbst; schwache Zivilgesellschaft mit
unterentwickelter Demokratie und paternalistischer Gesellschaftsform. - Niemand anderes als der russische
Präsident Medwedew hat diese Beschreibung in der
gazeta.ru veröffentlicht. Russland hat heute einen Präsidenten, der die Probleme des Landes so offen anspricht,
wie es kein Kritiker aus dem Westen wagen würde. Das
ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, das Land in
eine bessere Zukunft zu führen.
Der Präsident lässt keinen Zweifel daran, dass der
Schlüssel für eine bessere Zukunft Russlands in seiner
inneren Entwicklung, in individueller Verantwortung
und in einer starken Zivilgesellschaft liegt. Ob dies gelingt, wird davon abhängen, wie stark die Gegenkräfte
sind, die vom alten System profitieren. Außerdem wird
es davon abhängen, ob sich die modern denkenden Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft ausreichend ermutigt und unterstützt fühlen, die Modernisierung im Lande
voranzutreiben, statt ins Ausland oder in die innere Emigration zu gehen.
Dies alles zeigt, dass wir uns keine Illusionen über die
Chancen und das Tempo des Modernisierungsprozesses
in Russland machen dürfen. Aber wir wollen das nicht
als Zuschauer von außen beobachten. Im Gegenteil:
Russland bei seiner Modernisierung aktiv zu unterstützen, wo immer es notwendig und möglich ist und wo
Russland dazu bereit ist, dazu gibt es für uns keine verantwortbare Alternative; denn es gibt ein viel zu breites
Feld gegenseitiger Abhängigkeiten. Es schadet unserem
Interesse, wenn der in Russland angestrebte Modernisierungsprozess nicht vorankommt oder gar scheitert.
Ohne eine erfolgreiche Modernisierung werden wir
das beachtliche Potenzial der Handels- und Investitionsbeziehungen nicht ausschöpfen können, auch weil wachsende Korruption und Bürokratismus dem entgegenstehen. Dazu gehört auch unser Beitrag zur Stärkung der
russischen Zivilgesellschaft. Die rund 230 000 russischen Nichtregierungsorganisationen, die sich trotz erschwerter Rahmenbedingungen erstaunlich vital behaupten, sind für mich Ausdruck der Bereitschaft, wieder von
unten Mitverantwortung zu übernehmen. An diesen Entwicklungen können und wollen wir anknüpfen. Das ist
ein konkreter Beitrag zur Modernisierung, der die Ziele
von Präsident Medwedew unterstützt und der zudem den
Menschen in Russland zugutekommt.
Meine Damen und Herren, wie unmittelbar internationale und globale Fragen das Alltagsleben der Menschen
in Deutschland prägen, wissen wir nicht erst seit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise. Die CDU/CSUFraktion wird sich Deutschlands Verantwortung für die
Welt im Interesse unseres Landes engagiert stellen.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Jan van Aken für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
gelernter Naturwissenschaftler. Da hat man ein gewisses
Faible für Zahlen. Als ich mir jetzt, Herr Westerwelle
und Frau Merkel, Ihren Koalitionsvertrag angeschaut
habe, sprang mich ein Ereignis sofort förmlich an. Das
Mantra Ihrer Außenpolitik sind ja die deutschen Interessen bzw., wie wir heute Morgen von der Kanzlerin gehört haben, der Zugriff auf die weltweit vorhandenen
Rohstoffe. Jetzt kommt es: Wenn es um die Durchsetzung dieser Interessen geht, erwähnen Sie elfmal die
Bundeswehr und die deutschen Soldaten, aber das Völkerrecht kommt ganze zweimal in diesem Koalitionsvertrag vor. Ich sage Ihnen: Das ist kein statistischer Ausreißer mehr. Das ist Programm.
({0})
Herr Westerwelle, wenn Sie sich hier heute hinstellen
und sagen, die deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik,
dann kann ich dazu nur sagen: Das ist schlichtweg
falsch. Die Militarisierung Ihrer Außenpolitik
({1})
zieht sich wie ein roter Faden durch die 132 Seiten Ihres
Koalitionsvertrages.
({2})
Ich nenne vier Beispiele. Sie kündigen darin heute tatsächlich schon noch mehr Auslandseinsätze an.
({3})
Sie wollen den Aufbau einer europäischen Armee. Sie
wollen noch mehr Geld für die europäische Sicherheitspolitik, und Sie setzen auf noch mehr Rüstungsexporte.
Jetzt könnte man es fast schon erfrischend nennen, dass
Sie das überhaupt nicht mehr humanitär verbrämen oder
irgendwie propagandistisch übertünchen, sondern schlicht
und einfach klarstellen: Es geht um die Durchsetzung
deutscher Interessen, zur Not mit der Waffe in der Hand;
Punkt.
({4})
Ich finde das aber überhaupt nicht erfrischend. Ich finde
das sehr beunruhigend.
Vor allem beunruhigt mich aber, dass sich hier überhaupt kein Protest regt. Ich stelle mir einmal vor, dass
die schwarz-gelbe Koalition 1994 ein solches nacktes
und blankes Bekenntnis zur Normalität des Krieges vorgelegt hätte. Was glauben Sie denn, wäre dann hier in
Deutschland los gewesen? Da hätten doch Hunderttausende in Bonn demonstriert. Ich sage Ihnen, Herr Trittin:
Wir hätten uns zusammen vor dem Konrad-AdenauerHaus angekettet.
({5})
- Dann wäre das der Moment gewesen, dass wir beide
uns auch einmal zusammen irgendwo angekettet hätten.
Ich sage es jetzt ganz direkt an die Adresse der SPD
und der Grünen: Ich finde, Sie machen einen Riesenfehler, wenn Sie hier und heute die Militarisierung der deutschen Außenpolitik einfach so durchwinken. Ich finde,
es wird Zeit - eigentlich ist heute genau der richtige
Zeitpunkt dafür -, dass Sie sich endlich einmal aus dieser Schröder-Fischer-Falle befreien.
({6})
Ich kann ja verstehen - ich kann es wirklich verstehen,
auch wenn ich es grundfalsch finde -, dass Sie immer
noch diesen Reflex haben, bei Auslandseinsätzen erst
einmal zuzustimmen. Aber irgendwann muss doch damit
einmal Schluss sein.
({7})
Herr Westerwelle, es gibt eine Sache, die uns beide
vereint: Wir sind beide Jahrgang 1961. Ich finde eigentlich, das ist ein guter Jahrgang. Ich erwähne das aber vor
allen Dingen deshalb, weil es bedeutet, dass wir beide in
einem Deutschland aufgewachsen sind, in dem Frieden
noch etwas galt.
Als wir beide zehn Jahre alt waren - da kannten wir
uns noch nicht -, da hat ein deutscher Bundeskanzler namens Willy Brandt gesagt, dass von deutschem Boden
nie wieder Krieg ausgehen darf.
({8})
Zu unserem 20. Geburtstag haben in Bonn damals
Millionen von Menschen gegen die atomare Aufrüstung
demonstriert. Ich weiß nicht, ob wir uns damals gesehen
haben; ich war jedenfalls dabei.
({9})
Auch zu unserem 30. Geburtstag hat sich ein CDUKanzler noch geweigert, deutsche Soldaten in einen
Irakkrieg zu schicken, obwohl es damals ein UN-Mandat
gab; es gab die UN-Sicherheitsresolution 687. Trotzdem
war es 50 Jahre lang in Deutschland undenkbar, dass wir
die Bundeswehr in einen Krieg im Ausland schicken. Ich
glaube, einer der wichtigsten Gründe dafür war, dass die
Generation unserer Eltern selber noch Krieg erlebt hat.
Sie hat das Leid und das Elend des Krieges am eigenen
Leibe erfahren.
Wenn in diesen Tagen wieder über die Tanklaster in
Afghanistan debattiert wird, dann dürfen wir doch eines
nie vergessen: Diese Tanklaster sind nur die Spitze des
Eisberges. Der Krieg in Afghanistan bedeutet wie jeder
Krieg tagtägliches Sterben, tagtägliche Zerstörung und
tagtägliches Hungern.
({10})
Davon höre ich hier im Bundestag kein einziges Wort.
Hier gibt es „Krieg“ oder „Einsatz“, der immer irgendwie unausweichlich scheint, immer nur als abstrakten
Begriff. Aber eines dürfen wir doch nie vergessen: Krieg
ist nie unausweichlich. Es gibt immer eine Alternative.
Es braucht nur den politischen Willen dazu. Ich selber
habe bei den Biowaffeninspektoren der Vereinten Nationen gearbeitet, weil diese eine Alternative zum Irakkrieg
gewesen sind. Genauso gibt es heute eine Alternative
zum Krieg in Afghanistan.
({11})
Noch ein Wort zu Europa. Der Lissabon-Vertrag
wird bald in Kraft treten. Das ist keine gute Nachricht
für Menschen, die Europa lieben. Wir haben in den letzten Jahren immer für ein besseres, sozialeres und friedlicheres Europa gekämpft. Aber mit unserer Klage vor
dem Verfassungsgericht haben wir wenigstens durchgesetzt, dass dieses Europa ein wenig demokratischer geworden ist.
({12})
Der Bundestag hat mehr Rechte bekommen, und Sie
können sich schon heute darauf einstellen, dass wir diese
Rechte auch nutzen werden.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Deutschland
gar keine Waffen mehr exportieren sollte.
({13})
Dazu muss ich eines sagen: Der Koalitionsvertrag ist
132 Seiten lang. Ein einziges Mal werden in ihm die
hochwertigen Arbeitsplätze erwähnt. Raten Sie einmal,
was für diese Koalition hochwertige Arbeitsplätze sind!
Da würden mir Solarfabriken, Schulen, Krankenhäuser
oder Opel einfallen. Warum nicht Opel? Aber für Frau
Merkel und Herrn Westerwelle sind hochwertige Arbeitsplätze nach diesem Koalitionsvertrag ausschließlich
in der Rüstungsindustrie zu finden.
({14})
Ich finde das eklig.
({15})
Jedes Mal, wenn heute irgendwo auf der Welt - in Myanmar, in Kolumbien oder im Sudan - Menschen aufeinander schießen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr
hoch, dass eine deutsche Firma daran mitverdient. Ich
finde das eine Schande. Ich verspreche Ihnen hier und
heute, dass die Linke keine Ruhe geben wird, bis
Deutschland endlich aufhört, Waffen in alle Welt zu exportieren.
Ich danke Ihnen.
({16})
Herr Kollege van Aken, das war Ihre erste Rede in
diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu herzlich, verbunden mit guten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Nun hat der Kollege Dr. Frithjof Schmidt für die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bundesaußenminister, Sie haben in Ihrer Rede und
auch im Koalitionsvertrag die Kontinuität der deutschen
Außenpolitik betont. In der Tat: Die Einbindung in die
Europäische Union, das enge transatlantische Bündnis
mit den USA und die aus unserer Geschichte erwachsene
Verantwortung gegenüber Israel sind die Eckpfeiler
deutscher Außenpolitik. Diese Kontinuität ist richtig.
({0})
Aber auch wenn Sie das abstreiten: Sie nutzen diese
Kontinuität auch als Ausrede für Ideenlosigkeit und Abwarten. Da enttäuschen Sie auf der ganzen Linie.
({1})
Ihr Koalitionsvertrag strotzt vor diplomatischen Leerformeln und durchsichtigen Kompromissen; ich komme
noch genauer dazu. Damit werden Sie den Herausforderungen in keiner Weise gerecht. Wir befinden uns heute
in einer historisch zugespitzten Krisenlage: Klimakrise,
Finanzmarktkrise, anwachsende Hungerkrise und globale Wirtschaftskrise stehen in einer starken Wechselwirkung. Die ganze Welt diskutiert heute über Lösungsstrategien unter dem Stichwort „Green New Deal“, um
das Wort von Ban Ki-moon aufzunehmen. Ich könnte ja
noch verstehen, wenn Sie in dem Zusammenhang mit
dem Wort „grün“ Ihre Schwierigkeiten hätten. Aber dass
Sie sich inhaltlich an dieser Stelle ganz abmelden und
keine Antworten geben, wird international niemand verstehen.
({2})
Es gibt die Erwartung an Deutschland, dass es eine zentrale Rolle in dieser Debatte spielt. Wir waren Schrittmacher in der Klimapolitik. Wir waren Antreiber bei der
Debatte über die Reformen der globalen Institutionen.
Was kommt jetzt von Ihnen? - Ein paar Allgemeinplätze
zur Reform der Vereinten Nationen und sage und
schreibe ein einziger Satz zur Rolle der G 20 in der Koalitionsvereinbarung. Das reicht doch nicht.
({3})
Die großen Veränderungen in der internationalen
Landschaft werden bei Ihnen fast ausgeblendet. Natürlich ist und bleibt es richtig, die Europäische Union ins
Zentrum deutscher Außenpolitik zu rücken. Natürlich ist
und bleibt es richtig, die Chancen zur Erneuerung der
transatlantischen Partnerschaft, die die Obama-Administration jetzt bietet, zu nutzen. Aber was ist mit den anderen Teilen der Welt? Was ist mit China, Indien, Brasilien
oder Südafrika? Ohne diese Länder - das wissen Sie
auch - können die globalen Herausforderungen nicht bewältigt werden.
Sie sagen dazu fast nichts. Im Gegenteil - es ist heute
schon angesprochen worden -: Als erste Maßnahme
brüskieren Sie aus populistischen, innenpolitischen Motiven die chinesische Regierung, indem Sie über die
Presse die Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit verkünden.
({4})
Dass es dabei um die Förderung der Zusammenarbeit im
Umwelt- und Energiebereich geht, fällt bei Ihnen unter
den Tisch, Herr Niebel. Ich persönlich hätte mir nie träumen lassen, dass einmal die Grünen den Liberalen erklären müssen, dass auch Außenwirtschaftsförderung ein
sinnvolles Konzept sein kann an der Schnittstelle von
Entwicklungspolitik und Außenpolitik.
({5})
So weit sind wir gekommen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, dann erschreckt Ihr fast schon dröhnendes Schweigen zur politischen Perspektive in Afghanistan. Wir sind in einer dramatischen Situation. Ein umfassender Kurswechsel ist
nötig, damit die internationale Gemeinschaft dort noch
erfolgreich sein kann. Die Zeit drängt. Kanada und die
Niederlande haben den Abzug beschlossen. In den USA
findet gerade eine intensive Debatte statt, ebenso in
Großbritannien. Wie gehen Stabilisierungs- und Abzugsperspektive in den nächsten vier Jahren zusammen? Darauf erwarten die Menschen eine Antwort.
({6})
Doch von Ihnen ist dazu inhaltlich bisher nichts zu hören. Die von Ihnen versprochene Verbesserung der zivilen Koordination ist gut und wichtig. Ansonsten haben
Sie sich fürs Abwarten entschieden: warten auf die USA,
warten auf eine Afghanistankonferenz, warten darauf,
dass einem irgendjemand die Entscheidung abnimmt.
({7})
Das ist ein konzeptionelles Vakuum. Das ist unverantwortlich gegenüber den Afghaninnen und Afghanen sowie gegenüber den deutschen Polizisten, Soldaten und
zivilen Helfern dort.
({8})
Herr Westerwelle und Herr zu Guttenberg, bringen
Sie endlich eigene inhaltliche Vorschläge! Dazu hätten
Sie hier im Plenum die Gelegenheit. Wann, wenn nicht
jetzt? Eine semantische Debatte über den Kriegsbegriff
reicht da nicht.
({9})
Wir brauchen ein Konzept für Aufbau und Stabilisierung
in Afghanistan in Verbindung mit einer Abzugsperspektive in den nächsten vier Jahren. Stellen Sie sich endlich
dieser Herausforderung! Für ein richtiges Umsteuern
- das kann ich Ihnen hier anbieten - können Sie dabei
auch auf unsere Unterstützung zählen.
({10})
Ich möchte noch zwei Punkte anmerken, die mir als
ehemaligem Europaabgeordneten besonders am Herzen
liegen. Ich bin enttäuscht, wie wenig diese Regierung zu
den politischen Perspektiven für Europa zu sagen hat.
Wo bleiben die Initiativen, die Europäische Union auf
dem internationalen Parkett zu einer starken Stimme für
Klimaschutz, für Menschenrechte und für soziale Verantwortung zu machen? Wo bleiben die Initiativen, gerade auch den krisengeschüttelten Nachfolgestaaten des
ehemaligen Jugoslawiens eine Zukunft zu bieten? Da
fehlt fast alles. Stattdessen seitenlange, kleinteilige
Kommentare zu Einzelheiten des Binnenmarktes und absatzweise fadenscheinige Kompromisse zwischen CSU
und FDP. Das kann man jeweils Punkt für Punkt nachlesen, zum Beispiel auch bei der Frage des Türkei-Beitritts. Man sollte sich einmal überlegen, ob die Entwicklungen in der Türkei nicht auch etwas damit zu tun
haben, dass dort die Empfindung vorherrscht, es werde
der Türkei im Hinblick auf den EU-Beitritt unter anderem von dieser neuen Regierung eine Absage erteilt.
({11})
Im Zusammenhang mit den Finanzierungsfragen bedienen Sie im Koalitionsvertrag unterschwellig das Klischee, die Europäische Union sei ein geldverschlingender, bürgerferner Moloch. Damit werden Sie in Europa
niemanden für die Europäische Union begeistern. Damit
tragen Sie nichts zu der Debatte darüber bei, was heute
die Identität und vielleicht auch die Vision der Europäischen Union ausmacht und ausmachen sollte.
Dass Sie sich - lassen Sie mich das hinzufügen - im
Koalitionsvertrag nicht mehr dazu bekennen, die Verpflichtungen des europäischen Stufenplans zur Steigerung der Mittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent
des Bruttosozialproduktes einzuhalten, lässt Schlimmes
befürchten. Der Erfolg der Millenniumsziele zur Bekämpfung von Armut und Krankheit in der Welt steht
auf der Kippe. Die Anstrengungen müssten stärker werden und nicht schwächer. Ich sage Ihnen: Wenn Deutschland unter Ihrer Führung wegen eines Haushaltsvorbe80
halts aus dem europäischen Geleitzug ausschert, dann
wäre das eine Schande für unser Land.
({12})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich
wünsche Ihnen, aber vor allem unserem Land, dass Ihre
tatsächliche Politik besser wird als der Text Ihres Koalitionsvertrages.
Dankeschön.
({13})
Herr Kollege Dr. Schmidt, auch für Sie war dies die
erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere auch Ihnen
sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit
Freude und Erfolg.
({0})
Nun erteile ich das Wort für die Bundesregierung
Herrn Bundesminister Dirk Niebel.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wer den Koalitionsvertrag genau gelesen und
wer der Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin
genau zugehört hat, wird feststellen, dass diese neue Regierung der Mitte die Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich aufwertet.
({0})
Er wird feststellen, dass Entwicklungszusammenarbeit
nach unserem Verständnis weit mehr ist als reine Armutsbekämpfung.
({1})
Sie ist vielmehr ein Bestandteil der deutschen Dialogpolitik in einer globalisierten Welt. Entwicklungszusammenarbeit ist Bestandteil des Konzepts der vernetzten
Sicherheit. Unsere Entwicklungszusammenarbeit wird
weiterhin werteorientiert sein.
All denjenigen, die schon vor dem ersten Wort meiner
Rede Zurufe gemacht haben, sage ich ganz ausdrücklich:
Unsere Entwicklungszusammenarbeit ist ausdrücklich
interessenorientiert - im wohlverstanden besten Sinne
der Bundesrepublik Deutschland. Denn es ist in unserem
Interesse, weltweit dafür zu sorgen, dass die Folgen des
Klimawandels bekämpft werden können.
({2})
Es ist in unserem Interesse, in unserem eigenen Vorgarten, in Afrika, dafür zu sorgen, dass Menschen keine
Fluchtgründe geliefert bekommen.
({3})
Es ist in unserem ureigensten Interesse, Entwicklungszusammenarbeit unter der Prämisse der Freiheit für möglichst viele Menschen zu organisieren.
({4})
Entwicklungszusammenarbeit soll den Menschen Freiheit bringen; aber sie braucht Freiheit auch als Voraussetzung, um tatsächlich funktionieren zu können.
({5})
Diese Bundesregierung wird sich ausdrücklich darum
kümmern, dass gutes Regierungshandeln in unseren
Partnerländern eine Voraussetzung der Zusammenarbeit
sein wird. Menschenrechte und Demokratie werden
wesentliche Werte sein; auf diese werden wir zu achten
haben. Aber auch die wirtschaftliche Freiheit der Partnerländer gehört dazu.
({6})
Das Ministerium, das ich führen darf, heißt „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“. Beides gehört zusammen, damit die Hilfeleistung
für andere Staaten vorzugsweise durch eigenständige
wirtschaftliche Leistungskraft abgelöst werden kann.
({7})
Wir wissen aber auch, dass jemand, der Sorgen haben
muss, wovon er seine Familie am nächsten Tag ernähren
kann, nur ein geringes Maß an Freiheit in seinem Leben
ausschöpfen kann. Aus diesem Grund muss es uns angst
und bange werden, wenn wir feststellen, dass wegen der
enormen Verteuerung von Lebensmitteln mittlerweile
schon wieder über 1 Milliarde Menschen an Hunger leiden. Weil dies so ist, müssen wir die Effizienz und die
Schlagkraft unserer Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Dafür haben wir die Grundlagen in unserem Koalitionsvertrag gelegt.
({8})
Wir werden ausdrücklich dafür sorgen, dass ländliche
Regionen sich entwickeln können und dass die Chance
auf eine sich selbst tragende Landwirtschaft größer wird
als heute. Das ist die Grundlage für Ernährungssicherung in der Welt.
Außerdem werden wir ausdrücklich dafür sorgen,
dass die zwei Seiten der gleichen Medaille, Armut und
Bildungsarmut, besser bekämpft werden als in der Vergangenheit.
({9})
Bildung ist die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes
Leben. Deswegen wollen wir insbesondere die Schulbildung von Kindern, aber auch die berufliche Bildung von
jungen Menschen intensivieren, damit sie die Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt durch eigener Hände
Arbeit zu finanzieren. Insofern ist diese Bundesregierung nicht nur in Deutschland, sondern weltweit eine
Regierung der sozialen Verantwortung. Wir wollen den
Menschen die Möglichkeit geben, selbst über ihr Leben
bestimmen zu können. Das ist die Grundlage unserer
Entwicklungszusammenarbeit.
({10})
Wir müssen faire Handelsstrukturen stärken und
hier insbesondere auf die WTO setzen und neben einer
Stärkung des privaten Sektors in den Partnerländern
auch die Mikrokreditfinanzierung intensivieren, damit
selbstständige Tätigkeiten entstehen können und jemand, der seinen Lebensunterhalt selbstständig finanzieren kann, womöglich auch noch anderen Menschen eine
Erwerbsmöglichkeit bieten kann. Dies ist eine wichtige
Aufgabe für diese Legislaturperiode, der wir nachkommen müssen.
({11})
Wir werden uns um die globalen Fragen im Bereich
des Klimaschutzes kümmern. Die Entwicklungszusammenarbeit und der Klimaschutz sind gar nicht mehr
voneinander zu trennen. Eigentlich ist das BMZ das
Klimaministerium in Deutschland; denn dort sind schon
heute über 1 Milliarde Euro für Mittel des Klimaschutzes in der Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt.
Hier sind übrigens auch die Hebelwirkungen, was die
ODA-Quote anbetrifft, mit die besten.
({12})
Wir müssen allerdings ein höheres Maß an Zielgenauigkeit erreichen. Aus diesem Grunde werden wir die
Durchführungsorganisationen reformieren. Wir werden uns bemühen, im internationalen Ausgleich zu einer
besseren Arbeitsteilung zu kommen. Dieser Koalitionsvertrag und der Zuschnitt dieser Bundesregierung bieten
die Grundlage für das Ende irgendwelcher Nebenpolitiken, weil wir durch Außenpolitik, Außenwirtschaftsförderung und Entwicklungszusammenarbeit kohärente
Entwicklungspolitik gestalten können. Einer kann den
anderen Hand in Hand weiterleiten, wenn die Entwicklung eines Landes vorangegangen ist, damit man die
Chance hat, in Zukunft als Partner mit uns zusammenarbeiten zu können.
({13})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Raabe?
Gerne.
Herr Kollege Raabe, bitte.
Herr Minister, Sie haben gesagt, dass Sie für faire
Handelsbedingungen stehen. Wie verträgt sich das mit
der Aussage im Koalitionsvertrag, dass Sie eine radikale
Marktöffnung fordern und jeden Protektionismus ablehnen? Dies bedeutet auch, dass Sie es den Entwicklungsländern verwehren wollen, für ihre Ernährungssicherheit
ihre Landwirtschaft zu schützen, was zur Folge hat, dass
diese Länder dann durch Dumpingexporte überflutet
werden können.
Zweitens haben Sie gesagt, Sie wollten die wirtschaftliche Entwicklung und die Landwirtschaft stärken. Erst vor
wenigen Monaten haben Sie aber davon gesprochen, dass
Sie 100 Millionen Euro, die im Rahmen eines 50-Milliarden-Konjunkturpakets für die Ärmsten der Armen ausgegeben werden sollen, lieber für deutsche Grundschullehrer ausgeben würden; mit dieser Summe könnten
2 000 Lehrer angestellt werden. Wissen Sie, wie viele
Grundschullehrer man für dieses Geld in Afrika einstellen kann, und distanzieren und entschuldigen Sie sich für
diese Aussage, die Sie damals auf dem Rücken der
Ärmsten der Armen getroffen haben, um damit Stammtische zu bedienen?
({0})
Herr Kollege Raabe, wir haben das Konjunkturpaket
der alten Bundesregierung in diesen Punkten nicht mitgetragen. Wir sind dennoch der Ansicht, dass es wichtig
und notwendig ist, Bildung zu fördern. Aber man sollte
den einen nicht gegen den anderen ausspielen.
({0})
Was den ersten Punkt angeht, den Sie angesprochen
haben, lieber Herr Kollege Raabe, muss ich eines ganz
deutlich feststellen: Sie sind auf dem völlig falschen
Trip. Genau andersherum wird ein Schuh daraus.
({1})
Es ist doch wohl nicht normal, dass Entwicklungsländer
durch Handelshemmnisse und Marktzutrittsverbote in
vielen Bereichen der Welt mehr Geld verlieren, als ihnen
durch Entwicklungszusammenarbeit der sogenannten Industriestaaten zugeführt wird. Das muss geändert werden, damit man mit fairen Handelsbedingungen Partner
in einer weltweiten Wirtschaft werden kann.
({2})
Diese Partnerschaft werden wir auch einfordern; denn
wir wollen ausdrücklich Eigenverantwortung. - Ich habe
Ihre Frage hinreichend beantwortet; aber Sie dürfen gern
stehen bleiben, weil dann meine Uhr auch stehen bleibt. Diese Eigenverantwortung werden wir bei unseren Partnerländern auch insofern einfordern, als die nationalen
Eliten unserer Partnerstaaten dieser Verantwortung gerecht werden müssen. Wir wollen verlässliche Partner
sein, aber wir erwarten auch, dass unsere Partnerinnen
und Partner bestimmte Spielregeln, die unsere Werte hervorbringen, einhalten.
Ich bin ausdrücklich dankbar, Frau Bundeskanzlerin,
dass Sie vorhin so deutlich noch einmal unsere Verlässlichkeit bei der Erreichung des 0,7-Prozent-Ziels erwähnt haben. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen als Haushaltsgesetzgeber, diesen Maßstab in Ihre
Beratungen einzubeziehen. Ich würde mich sehr freuen,
wenn Sie das übernähmen, was im Koalitionsvertrag
festgelegt ist und was in der Zukunft auch tatsächlich
von uns erreicht werden soll.
Erlauben Sie mir, einen letzten Punkt anzusprechen.
Veränderungen - das haben wir nicht nur gestern oder
vor 20 Jahren gelernt - kommen in aller Regel aus der
Mitte der Gesellschaft. Deswegen gilt auch in der Entwicklungszusammenarbeit eines ganz ausdrücklich:
Nicht alles muss der Staat machen; wir sollten uns auf
die Gesellschaft verlassen, auf die Zivilgesellschaft hier
bei uns, aber auch in unseren Partnerländern. Es ist hervorragend - das muss hier noch einmal ausdrücklich
festgestellt werden -, dass die Koalitionsvereinbarung
der neuen Regierung der Mitte ausdrücklich die Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen, die politischen
Stiftungen und auch die Privatwirtschaft auffordert, sich
an der Bekämpfung von Armut und der Zusammenarbeit
mit anderen Ländern dieser Welt zu beteiligen, damit
diese eine Chance haben, in Zukunft als unsere Partner
auf Augenhöhe mit uns agieren zu können.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Angelica
Schwall-Düren für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Es wäre sicher reizvoll, auf Herrn Niebel einzugehen, aber das überlasse ich anderen Kollegen. Ich
möchte mich gerne der Europapolitik zuwenden.
Mit der erfreulichen Tatsache, dass wir bald den Lissabonner Vertrag ratifizieren können, werden endlich
die Bedingungen geschaffen, dass wir in einem größeren
Europa weiter handlungsfähig bleiben und die demokratische Transparenz stärken. Insofern, lieber Herr
Minister Westerwelle, haben Sie völlig recht, dass die
Europapolitik wie in der Vergangenheit einer Weiterentwicklung bedarf, aber einer Weiterentwicklung in Kontinuität. Ich hoffe sehr und wünsche Ihnen auch, dass Sie
die gute Arbeit von Frank-Walter Steinmeier fortsetzen
können.
Allerdings ist da durchaus Skepsis angebracht. Frau
Bundeskanzlerin Merkel hat erst gestern anlässlich der
Feier zum 9. November gesagt, dass die Nationalstaaten
Macht abgeben müssten. Sie hat die Frage gestellt - ich
darf zitieren -:
Sind Nationalstaaten bereit und fähig dazu, Kompetenzen an multilaterale Organisationen abzugeben,
koste es, was es wolle; …?
Wenn ich dann aber feststelle, dass im Koalitionsvertrag
in den ersten Abschnitten keineswegs von gemeinsamen
Werten und europäischer Solidarität die Rede ist, sondern überwiegend die Interessen unseres Landes betont
werden, dann frage ich mich: Bleiben Sie tatsächlich in
der Kontinuität von Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher, für die immer deutschlandpolitische
Räson in der Europapolitik war, dass die Interessen
Deutschlands identisch mit den Interessen des gemeinsamen Europas sind, dass also eine sogenannte Win-winSituation geschaffen werden muss.
Zu dem aus meiner Sicht engen Geist des Textes des
Koalitionsvertrages passt das konservativ-marktliberale
Bild von der Europapolitik. Während es die SPD 2005
geschafft hat, die soziale Dimension in diesem Text zu
verankern, finden wir dort eine schwarz-gelbe Lücke.
Ich frage: Wo wird erwähnt, dass wir in Europa ebenfalls
Mitbestimmungs- und Arbeitnehmerrechte brauchen,
beispielsweise wenn es um die europäische Privatgesellschaft geht? Wo wird erwähnt, dass wir eine soziale Folgenabschätzung bei der europäischen Gesetzgebung
brauchen? Wo lesen wir etwas über soziale Mindeststandards, die wir für die völlige Öffnung der europäischen
Arbeitsmärkte brauchen? - Fehlanzeige! Dagegen wird
ein Scheinargument für nationalstaatliche Alleinzuständigkeit bei der Sozialpolitik angeführt: Man verweist auf
die hohen deutschen Sozialstandards, die man nicht gefährden dürfe. Dabei wird vergessen, dass die Europäische Union uns in der Vergangenheit nicht nur einmal
Impulse gegeben hat, die soziale Dimension zu verstärken. Denken wir nur an den Diskriminierungsschutz
oder den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Ich habe
den Eindruck, Schwarz-Gelb schaut hier nicht über den
Tellerrand und interessiert sich nicht für die sozialen
Nachteile, die für die Menschen gerade als Folge von
Deregulierung entstehen können.
Wenn wir uns anschauen, was zur Lissabon-Strategie
geschrieben wurde, stellen wir fest, wie weit diese Regierung von dem Stand des Jahres 2000 entfernt ist, als
mehrheitlich sozialdemokratische Regierungen die Lissabon-Strategie aus der Taufe gehoben haben. Heute
lesen wir nur noch, dass Europa zum weltweit wettbewerbsfähigsten Raum werden soll. Den sozialen Zusammenhalt lassen Sie weg.
({0})
Daher müssen wir befürchten, dass die Menschen dem
Raubtierkapitalismus überlassen werden sollen.
({1})
So kann man Bürger nicht gewinnen. So kann Europa
nicht gewinnen. Wir, die SPD, werden Sie nicht aus der
Verantwortung entlassen; denn die Bürger sagen nur
dann Ja zu Europa, wenn es ein soziales Europa ist.
({2})
Der konservative Geist Ihres Textes ist auch daran zu
erkennen, dass möglichst viel Bürokratie abgebaut werden soll, möglichst wenig Bankenaufsicht stattfinden
soll, also: privat vor Staat, unverfälschter Wettbewerb.
Wenn wir uns den Bereich der Finanzmarktregulierung anschauen, stellen wir auch dort fest: Konkrete
Aussage? - Fehlanzeige. Nichts zur Höhe einer Eigenkapitalquote für die Banken, nichts zum Kampf gegen
Steueroasen, nichts zu Transparenzregeln. Außerdem
lehnen Sie jegliche EU-Steuer ab, also auch eine Finanztransaktionssteuer, die nicht nur ein Mittel wäre, die
Krise zu managen, sondern auch, um vorzusorgen, damit
wir solche Krisen in Zukunft nicht mehr erleben müssen.
Was die finanzielle Vorausschau anbelangt, so scheinen Ihre Aussagen zur Neustrukturierung des Haushalts Lippenbekenntnisse zu sein. Es gibt keine inhaltliche Diskussion und keine Zielsetzung. Einzig und allein
wird festgehalten: 1 Prozent des BIP, nicht mehr - und
das, obwohl Sie gleichzeitig sagen, dass aus dem EUHaushalt ein höherer Anteil für die GASP finanziert
werden soll. Dies ist aus meiner Sicht ein perspektivloser, ein technokratischer Umgang mit den Haushaltsmitteln. Wir, die SPD, wollen die EU nicht verwalten, sondern gestalten. Daher werden wir uns gerade aufgrund
der neuen Begleitgesetze aktiv einbringen.
Ich will aber auch ein Lob aussprechen, ein Lob für
die Passagen, die sich mit der Zusammenarbeit mit unseren Nachbarstaaten beschäftigen, mit Frankreich und
unseren kleinen Partnern. Ich hoffe, dass wir hier tatsächlich zu Abstimmungen kommen. Herr Westerwelle,
sehr erfreulich sind in der Tat die Passage zu Polen und
die Tatsache, dass Ihr erster Antrittsbesuch Sie nach
Polen führte. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
müssen uns wirklich fragen, ob Sie von Ihrem großen
Koalitionspartner diesbezüglich ausreichend unterstützt
werden.
Leider mussten wir wieder feststellen, dass Frau
Steinbach hinsichtlich der Zusammenarbeit mit unseren
Nachbarn Öl ins Feuer gießt.
({3})
Da fragen wir uns: Wo steht die Bundeskanzlerin? Versteckt sie sich hinter Herrn Westerwelle? Nimmt sie es in
Kauf, dass neues Misstrauen gesät wird?
({4})
Wenn ich Ihnen ein Zitat vorlesen darf:
Für das politische Klima in Polen gibt es eine nicht
zu unterschätzende deutsche Verantwortung. Etliche deutsche Politiker gefielen sich darin, in unserem Nachbarland wider besseres Wissen Ängste zu
schüren, anstatt sie abzubauen.
Richtig, Frau Steinbach, aber genau das trifft auf Sie
zu. Frau Bundeskanzlerin, wir erwarten, dass Sie Ihre
Position klar nennen. Wir verlangen, dass Sie alles tun,
damit die gemeinsamen Herausforderungen wirklich bewältigt werden können. Wir sollten beispielsweise im
Zusammenhang mit der östlichen Dimension mit Polen
zusammenarbeiten.
({5})
Ich muss leider zum Schluss kommen.
({6})
Ich möchte abschließend sagen: Der Koalitionsvertrag
zu Europa ist kein großer Wurf. Er ist lieblos heruntergeschrieben. Es fehlt ihm die Inspiration, es fehlen ihm
neue Ideen. Er hat keine Perspektiven aufgezeigt. Die
Bürger und Bürgerinnen verlangen mehr von Europa.
Auch ich kann nur wünschen, dass Sie über den Text des
Koalitionsvertrages hinausgehen. Dafür biete ich meine
Zusammenarbeit an.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die Bundesregierung hat nun das Wort Herr Bundesminister Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist erfreulich und gut, dass der 20. Jahrestag
des Mauerfalls Gelegenheit gibt, den Blick auch auf die
außen- und sicherheitspolitische Dimension dieses großen Ereignisses zu richten. Herr Kollege Westerwelle,
Sie haben den Bezug bereits hergestellt, der gestern Anlass gegeben hat, vielen zu Recht zu danken: vielen Partnern und jenen unserer Landsleute, die größten Mut und
Zivilcourage an den Tag gelegt haben, jenen, die damals
im unfreien Teil Deutschlands die Ketten der Diktatur
gesprengt haben. Herr Vaatz, ich darf auch von meiner
Seite in diesem Zusammenhang noch einmal sagen: Das
war heute eine bemerkenswerte Rede von Ihnen.
({0})
Es ist aber auch ein Grund, noch einmal an dieser
Stelle Dank zu sagen an die Partner und Freunde der
atlantischen Allianz, und zwar nicht nur für deren diplomatische Klugheit. Die Partner haben durch ihr Vertrauen - ich unterstreiche das Wort Vertrauen zweimal das Geschenk der Einheit in Freiheit erst möglich gemacht.
({1})
Gerade das gemahnt uns an einen Grundpfeiler, an ein
Grundverständnis des Bündnisses als solches, nämlich
dass Solidarität und Vertrauen niemals nur in eine Richtung weisen dürfen. Manche, die heute die NATO bereits
in ihrer Begründung lautstark infrage stellen - die soll es
ja geben -,
({2})
und auch manche, die sie beerdigen wollen, können sich
in diesem Zusammenhang bestenfalls auf Vergessen berufen. Allzu oft sind es genügsam zelebrierte Undankbarkeit und Ignoranz
({3})
gegenüber erfahrenem Vertrauen.
({4})
In dieser Hinsicht ist Vertrauen niemals Nostalgie, sondern weiterhin das Fundament jeder Bündnisstruktur, jeder erneuerten Bündnisstruktur, aber auch jeder zu erneuernden Bündnisstruktur.
Die Bundeswehr hat vor 1989 im Kalten Krieg den
Verteidigungsbeitrag der Bundesrepublik Deutschland
möglich gemacht. Sie hat unsere Bereitschaft dokumentiert, die Freiheit, wenn es darauf ankommt, zu verteidigen, wobei Freiheit nicht alleine an nationalen Grenzen
zu bemessen ist und weiterhin auch nicht allein daran bemessen werden kann.
Die Bundeswehr hat ihren Anteil am Gelingen der
Wiedervereinigung. Schon bald nach dem 3. Oktober
1990 hat sie bewiesen, dass auch sie ihren Teil zur inneren Einheit unseres Vaterlandes beitragen konnte. Die
Bundeswehr hat seitdem in vielen internationalen Einsätzen gezeigt, dass sie bereit ist, sich der durch die Wiedervereinigung gewachsenen internationalen Verantwortung unseres Landes zu stellen; das ist kein Widerspruch,
sondern durchaus eine innere Bedingung. Die Bundeswehr leistet den Beitrag, den unsere Verbündeten und
Partner zu Recht von uns erwarten. Manche, die ihr dies
heute absprechen, haben offenbar vergessen, welchen
auch militärischen Beitrag wir von unseren Partnern genau zu dem Zeitpunkt, als es darauf ankam, erwarten
konnten.
({5})
Dieses Grundverständnis ist eine wesentliche Voraussetzung, um unserem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ein gestaltendes und solidarisches Mitglied in der
internationalen Staatengemeinschaft zu sein und damit dem Frieden in der Welt zu dienen; ja, dem Frieden,
nicht dem Schüren und der Aufrechterhaltung von Konflikten und auch nicht der Billigung solcher Konflikte
dadurch, dass man sich genügsam zurücklehnt, in ferne
Regionen dieser Welt blickt und einfach sagt: Was geht
uns all das dort eigentlich an? - In der Regel geht es uns
mittlerweile viel an.
Meine Damen und Herren, nur ein Staat, der über die
Fähigkeit verfügt, sich zu wehren, ist in der Lage, seine
Bürger zu schützen und seinen Bündnisverpflichtungen
nachzukommen. In diesem Zusammenhang sage ich
aber auch: Ein Schutzverständnis, das nur die eigenen
Landesgrenzen kennt, würde jene verhöhnen, auf deren
Schutz wir in Zeiten, als es nicht leicht war, bauen durften.
({6})
Unsere Partner wissen - das dürfen sie auch weiterhin
wissen -: Wir stehen zu unseren Verpflichtungen.
({7})
- Das Grundgesetz schafft hierfür Voraussetzungen. ({8})
Diese Verpflichtungen - auch die Basis des Grundgesetzes, die ihnen zugrunde liegt - haben Ergebnisse gezeitigt, über die man nicht schweigen muss. Auf dem Balkan haben auch wir unseren Beitrag dazu geleistet, dass
der grauenvolle und blutige Bürgerkrieg der 90er-Jahre
beendet werden konnte. In Bosnien-Herzegowina herrschen zumindest Frieden und eine gewisse Stabilität,
auch wenn wir mit dem Erreichten noch nicht in jeder
Hinsicht zufrieden sein können. Einige nicht erfolgte
Entwicklungen geben gelegentlich auch Anlass zu Sorgenfalten, gerade wenn man in diese Region blickt.
Im Kosovo haben wir es gemeinsam mit unseren Verbündeten geschafft, dass letztendlich auf friedlichem
Wege ein unabhängiger Staat geschaffen werden konnte.
Er bleibt noch auf Hilfe angewiesen - das ist richtig und hat noch einen harten Weg vor sich. Aber aufgrund
unserer Erfolge im Rahmen der NATO haben wir unsere
militärische Präsenz dort deutlich verringern können.
Auch die Verringerung militärischer Präsenz ist letztendlich eine Zielsetzung, wenn man sie an solche Erfolge
knüpfen kann.
Meine Damen und Herren, auch UNIFIL ist eine Erfolgsgeschichte.
Es schadet nicht, am Tag nach dem anderen
9. November daran zu erinnern, dass wir im Hinblick auf
den Schutz und die Sicherheit Israels auf ganz besondere
Weise in der Pflicht stehen.
({9})
In Afghanistan sind wir noch nicht am Ziel. Eigentlich wäre und ist dieses Ziel klar formuliert: Wir wollen,
dass die Afghanen eines nicht allzu fernen Tages - ja, eines nicht allzu fernen Tages - in der Lage sind, selbst für
ihre Sicherheit zu sorgen.
({10})
- Auf diesem Wege, Herr Trittin - ({11})
- Entschuldigung! Also Herr Ströbele; Herr Trittin ist
schon nach Hause gegangen. Aber die Stimmen gleichen
sich an.
({12})
- Die Stimme ist nicht gleich der Schal, Frau Roth!
Auf diesem Wege - das ist unbestreitbar - gab und
gibt es Enttäuschungen. Gemeinsam mit unseren Verbündeten wollen wir - die Frau Bundeskanzlerin hat darauf hingewiesen - auf einer baldmöglichst stattfindenden Konferenz unsere Strategie zusammen mit den Vertretern Afghanistans, aber auch - das ist zwingend - in
Abstimmung mit Vertretern der Nachbarstaaten auf eine
neue Grundlage stellen. Es geht darum, die Zuständigkeiten schrittweise von der internationalen Gemeinschaft
auf die afghanische Regierung zu übertragen, sobald
diese dazu in der Lage ist. Gerade deshalb drängen wir
darauf, dass die Regierung von Präsident Karzai schon
bald und mit mehr Nachdruck die Voraussetzungen dafür
schafft, dass dies erfolgen kann.
({13})
In diesem Gesamtkontext wollen wir in ausgewählten
Distrikten im Norden des Landes die Verantwortung für
die Sicherheit baldmöglichst der afghanischen Regierung übergeben.
Die Frage der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte - ich denke dabei an die Ausbildung der Polizei wie der Armee - bleibt eine Schlüsselfrage. Deshalb dürfen wir jetzt bei der Ausbildung nicht
nachlassen. Wir befinden uns bereits in einem Übergabeprozess.
({14})
- Der ist schon im Gange. - Mit unserer Strategie der
Übergabe in Verantwortung nehmen wir die afghanische
Regierung in die Pflicht, und wir werden nicht aufhören,
die afghanische Regierung an diese ihre Pflicht zu erinnern.
Am 19. November 2009 wird Präsident Karzai erneut
in sein Amt eingeführt werden.
({15})
- Ja. Aber lassen Sie mich einmal ausreden! - Das ist
eine gute Gelegenheit für ihn, zu verdeutlichen, wie er
seiner Verpflichtung zu guter Regierungsführung und
zum Schutz der Menschenrechte nachkommen sowie
wie er Drogenkriminalität und Korruption erfolgreich
bekämpfen will.
({16})
Man muss nicht alles auf die internationale Gemeinschaft übertragen. Wir rufen den afghanischen Partnern
freundschaftlich, aber mit aller Klarheit zu: Worte genügen nicht zur Verdeutlichung; den Worten müssen Taten
folgen. Wir können unser Ziel in Afghanistan gerade mit
Blick auf Übergabe in Verantwortung, so glaube ich,
durchaus erreichen. Dies erfordert jedoch, dass wir alle
Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, auf dieses
Ziel ausrichten und sie erfolgreich zum Einsatz bringen.
Auch hier haben wir noch Nachbesserungsbedarf. Dabei
denke ich nicht nur an den Einsatz der Streitkräfte.
Es bleibt richtig, die ressortübergreifenden Anstrengungen zu bündeln, und es ist nach meiner Überzeugung
richtig, ein internationales Afghanistankonzept mit konkreten Zeit- und Zielvorgaben umzusetzen. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Kabinettsausschuss der für
Afghanistan verantwortlichen Bundesminister und die
entsprechend ausgestaltete Position des Sonderbotschafters für Afghanistan sind wichtige Schritte.
Unsere Soldaten und die Soldaten unserer Partner
- vergessen wir nicht: 43 Nationen stellen Truppen für
die ISAF -, genauso aber die afghanischen Sicherheitskräfte nehmen ein hohes Risiko auf sich, und sie zahlen
einen hohen Preis. Sie stehen häufig in zum Teil intensiven Gefechten. Gefahr, Verwundung und auch Tod sind
allgegenwärtig. Meine Damen und Herren, das dürfen
wir nicht mit bürokratischen Formeln weichzeichnen.
Ich plädiere dafür, zu sagen, was ist, schlicht und einfach. Die Menschen in unserem Lande können mehr
Wahrheit vertragen, als wir uns bisweilen trauen, ihnen
zuzutrauen.
({17})
Mehr noch sind es unsere Soldatinnen und Soldaten, die
zu Recht verlangen, dass ihr Einsatz realistisch beschrieben wird, ohne jede Beschönigung, aber auch ohne jede
Übertreibung. Ich kann gut verstehen, dass unsere Soldaten - aber es sind ja nicht nur unsere Soldaten - angesichts der kriegsähnlichen Situation etwa in Kunduz von
Krieg sprechen. Ein klassischer Krieg ist es nicht. Das
Völkerrecht ist hier glasklar: Kriege können nur zwischen Staaten geführt werden.
({18})
- In Teilen von Afghanistan herrscht für mich aber ohne
Zweifel ein Zustand, um vielleicht auch einmal diesen
Zwischenruf aufzugreifen, der in der Sprache des Völkerrechts durchaus als ein nicht internationaler bewaffneter Konflikt beschrieben werden könnte.
Im Einsatz werden unsere Soldaten immer wieder unter extremem Zeitdruck und enorm belastenden Umständen vor schwierigste Entscheidungen gestellt. Das war
auch am 4. September dieses Jahres in Kunduz der Fall,
als in kurzer Zeit eine Entscheidung von enormer Tragweite getroffen werden musste. Wie leicht doch heute
manches Urteil von den Lippen geht, das ohne jeglichen
Zeitdruck bequem aus der wohligen Entfernung gebildet
werden kann.
({19})
Ich habe vor Kurzem eine Einschätzung dieses Vorfalls
abgegeben, und ich bleibe bei dieser Einschätzung.
({20})
Die Koalitionspartner haben sich für die nächsten
Jahre viel vorgenommen, gerade auch hinsichtlich der
Strukturen der Bundeswehr. Wir haben uns ein ehrgeiziges, ja, ein ambitioniertes Programm gegeben, damit
die Bundeswehr die herausfordernden Aufgaben annehmen und ihnen gerecht werden kann.
Wir wollen, dass das Denken vom Einsatz her die Organisations- und auch die Führungsstrukturen der Bundeswehr künftig noch stärker durchdringt, ein Denken,
das dann realitätsgebunden ist. Die Bundeswehr befindet
sich in Einsätzen, und es werden nicht ihre letzten sein.
({21})
Ob sie nun gewünscht oder gelegentlich zu Recht auch
unerwünscht sind: Auch das gilt es offen anzusprechen.
Auch deshalb und gerade, weil dieses Denken vom
Einsatz her sich in den Organisationsstrukturen widerzuspiegeln hat, werde ich eine Kommission einsetzen, die
bis Ende 2010 Vorschläge zu Eckpunkten einer neuen
Organisationsstruktur der Bundeswehr inklusive der
Straffung der Führungs- und Verwaltungsstrukturen zu
erarbeiten hat. Es geht dabei nicht um eine Neuauflage
der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft
der Bundeswehr“ aus dem Jahre 2000.
Wir wollen dort Anpassungen vornehmen, wo die
Bundeswehr noch schlanker, noch effizienter, noch einsatzorientierter werden kann, und wir wollen - auch das
ist ehrgeizig; ich weiß das - auch Abläufe von bürokratischen Fesseln befreien. Dazu wird die dann sicherlich
geplagte Kommission Vorschläge ausarbeiten, und auf
dieser Grundlage werde ich entscheiden.
Meine Damen und Herren, die Stärke der Bundeswehr bemisst sich nicht lediglich an der Zahl der Schiffe,
der Panzer oder der Flugzeuge.
({22})
Es sind die Soldatinnen und Soldaten und die zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die die Bundeswehr so
leistungsfähig machen und die, ebenso ihre Familien,
unseren Dank verdient haben.
({23})
Nicht zuletzt wollen wir, dass der Dienst in der Bundeswehr im Wettbewerb um die besten Köpfe - auch
hier findet er ja statt - noch attraktiver wird. Es ist mein
Ziel, dass die Gesellschaft diesen Dienst auf angemessene Weise würdigt. Das Verhältnis zwischen Bundeswehr und Gesellschaft ist und kann keines der
Ausgrenzung sein, es muss eines des Miteinanders sein.
In diesem Zusammenhang will ich meinem Vorgänger
Franz Josef Jung gerade für seine großen Leistungen in
diesem Bereich auch einmal an dieser Stelle herzlich
danken. Herzlichen Dank!
({24})
In diesem Sinne verstehe ich die mittlerweile doch intensiv debattierte Kürzung des Wehrdienstes auf sechs
Monate, die in dem auch in diesem Sinne ehrgeizigen
Koalitionsvertrag vorgesehen ist, trotzdem auch als
Chance.
({25})
- Ich glaube, meine Betonung war klar.
({26})
Wir werden den Grundwehrdienst so zu gestalten haben,
dass die Soldaten spüren, dass sie gebraucht werden und
nicht im Praktikum stehen und noch dazu einen attraktiven und sinnvollen Dienst für sich und ihre Mitbürger
leisten. Das ist eine enorme Aufgabe, die wir in einem
entsprechenden Zeitrahmen in Angriff nehmen müssen.
Ich glaube aber, dass sie darstellbar ist.
Es gehört zu unserer gemeinsamen Verantwortung für
die Bundeswehr, ihren Angehörigen einen attraktiven
Arbeitsplatz zu bieten. So sichern wir nachhaltig die personelle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Dabei spielt
die Frage der Versetzungshäufigkeit ebenso wie ein
neues Laufbahnrecht eine wesentliche Rolle. Darüber hinaus sollen die Angehörigen der Angehörigen der Bundeswehr, die Familien, davon profitieren, dass wir die
Vereinbarkeit von Familie und Dienst noch stärker in
den Blick nehmen und zeitgemäße Kinderbetreuungsmöglichkeiten schaffen.
({27})
Die Soldaten der Bundeswehr haben geschworen, der
Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das
Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu
verteidigen. Mit diesem Eid muten wir ihnen viel, sehr
viel zu. Wir muten ihnen zu, sich der Gefahr zu stellen.
Wir muten ihnen im äußersten Fall sogar zu, ihr Leben
für uns zu opfern. Dieser Eid verpflichtet aber auch uns,
die Bundesregierung und den Bundestag. Er verpflichtet
uns, das zu tun, was in unserer Macht steht, um das Risiko, das unsere Soldaten tragen, so gering wie nur irgend möglich zu halten. Auch in Zeiten knapper Kassen
übernehmen wir, wenn wir die Bundeswehr in ihre bisweilen gefährlichen Einsätze entsenden, die Verpflichtung, ihr das zur Verfügung zu stellen, was sie für die
Ausfüllung ihres Auftrages und für einen größtmöglichen Schutz der Soldaten benötigt.
({28})
Das ist unsere Pflicht und unsere Schuldigkeit.
Für ein Bekenntnis zu unserer Bundeswehr, auch und
gerade zu einer solchen im Einsatz, muss man sich in
diesem Lande nun wirklich nicht schämen.
Herzlichen Dank.
({29})
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu, dass der Blick auf die Regierungsbank,
so wie sie heute aussieht, gewöhnungsbedürftig ist. Ich
möchte bezweifeln, dass ich mich gerne daran gewöhne.
Ich gebe auch zu, dass der Blick auf die drei Minister,
die jetzt zusammen Außenpolitik betreiben wollen, aber
auch die Töne, die sie von sich gegeben haben, mehr als
gewöhnungsbedürftig sind. Wir werden uns daran nicht
gewöhnen.
({0})
Dieses Trio infernale wird die Politik in Deutschland
nicht auf diese Art und Weise umgestalten können.
({1})
Ich fand das Angebot von Herrn Westerwelle attraktiv; er ist jetzt nicht mehr da. Meine Fraktion wird sein
Angebot einer Zusammenarbeit so annehmen: Wir werden harten Widerspruch leisten, wo er notwendig ist.
Das ist in fast allen Bereichen der Außenpolitik der Fall.
Hier muss harter politischer Widerspruch erhoben werden.
({2})
Ich fand es sehr verständlich, dass viele Kolleginnen
und Kollegen, darunter die Kanzlerin und der Außenminister, ihre Reden in einen geschichtlichen Kontext
eingeordnet und einen Wertebezug hergestellt haben. Ich
teile jedoch die Inhalte nicht. Es sind verschiedene
Werte genannt worden: die Westbindung der Republik,
die soziale Marktwirtschaft - es wäre schön, wenn wir
sie hätten -, die Wiederbewaffnung und vieles andere
mehr. Diese Werte sollten aus meiner Sicht nicht bestimmend sein; ich habe einen anderen Wertekatalog. Mir ist
aufgefallen - das finde ich schlimm und bedauerlich -,
dass in der gesamten Auseinandersetzung mit der Geschichte nach 1945 und mit den Werten kein einziger
Regierungsvertreter den Grundwert erwähnt hat, den wir
zu verteidigen haben: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus!
({3})
Es ist augenfällig, dass diese Aussage nicht gekommen
ist, dass nicht so argumentiert worden ist.
Es ist völlig richtig. Wir hatten ein gemeinsames
Grundverständnis: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen. Dieses Grundverständnis ist gebrochen worden, und zwar bedauerlicherweise - darüber
kommt man nicht hinweg - von einer SPD-grünen Bundesregierung. Der Krieg gegen Jugoslawien war der Beginn des Paradigmenwechsels der deutschen Außenpolitik.
({4})
Er ist fortgesetzt worden mit dem, was man mit der indirekten Unterstützung des Irakkriegs fabriziert hat. Es ist
auch gut, einmal daran zu erinnern, dass diese Bundeskanzlerin deutsche Soldaten in den Irakkrieg schicken
wollte. Bitte vergessen Sie das nicht, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({5})
Das Grundverständnis ist auch im Afghanistankrieg
gebrochen worden. Der Kollege zu Guttenberg hat zu
Recht gesagt, man solle nicht um die Dinge herumreden.
Dann lassen Sie es uns hier aussprechen: Deutschland
führt Krieg am Hindukusch. Deutschland wird nicht am
Hindukusch verteidigt. Das ist untergeschoben worden,
um Art. 26 des Grundgesetzes auszuweichen. Deutschland führt Krieg am Hindukusch, und dieser Krieg wird
immer mehr zu einem Angriffskrieg. Darum werden Sie
nicht herumkommen.
Das stellt Sie jetzt vor rechtliche Probleme. Was passiert mit dem Oberst? Wir sind kein Gericht. Wir haben
uns hier nicht über Urteile zu äußern. Was passiert mit
dem Oberst? Wenn er nach deutschem Recht behandelt
wird, dann wird er sich der Frage stellen müssen, ob es
Totschlag war, als 142 Menschen umgekommen sind.
({6})
Wenn er nach internationalem Recht bzw. nach Kriegsvölkerrecht behandelt wird, ist es eine andere Kategorie.
Wir ziehen daraus nur eine Schlussfolgerung: Der Krieg
muss beendet werden.
({7})
Das Ende des Krieges beginnt auch damit, dass die deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen werden.
Auch mit den ganzen Verrenkungen kommen Sie um
die Frage nicht herum. Ich habe es mir extra aufgeschrieben: Herr zu Guttenberg sprach von einem „nicht-internationalen bewaffneten Konflikt“, sein Vorgänger von
einem „robusten Stabilisierungseinsatz“. Es ist aber ein
Krieg. Das Nein zu diesem Krieg ist notwendig. Ansonsten wird dieser Krieg Ihrer Außenpolitik wie ein Klotz
am Bein hängen.
Im Übrigen sollten Sie Ihren Koalitionsvertrag noch
einmal darauf überprüfen, was verfassungskonform ist.
({8})
- Sie bzw. Ihre Mitarbeiter, Herr Kauder, haben in den
Koalitionsvertrag hineingeschrieben, dass die Bundeswehr ein Instrument der deutschen Außenpolitik ist.
({9})
Das hätte Herr zu Guttenberg gerne, weil er auch ganz
gerne Außenpolitik macht. Das glaube ich Ihnen ja. Aber
das entspricht nicht dem deutschen Grundgesetz. Das ist
grundgesetzwidrig.
({10})
Wir werden hier über die internationale Afghanistankonferenz zu diskutieren haben. Auch hierzu sage
ich Ihnen: Wer das auf eine Initiative Merkel / Sarkozy
beschränken will, tut einer solchen Konferenz Unrecht.
Wir brauchen eine internationale Afghanistankonferenz
unter dem Dach und der Verantwortung der UNO.
Nichts anderes brauchen wir.
({11})
Ich weiß, dass Sie die Frage, ob Sie mehr Truppen
entsenden, erst nach der Konferenz beantworten wollen.
Sie benutzen die Konferenz auch ein bisschen, um die
entsprechende Stimmung dafür zu schaffen. Deswegen
sagen Sie, dass Sie jetzt bei der Mandatsverlängerung
erst einmal im Rahmen des Mandates bleiben. Ich sage
Ihnen: Wir müssen als Bundestag überprüfen, ob wir
nicht ein anderes Signal setzen sollten. Ich glaube, eine
kopflose Verlängerung der bestehenden Mandate gefährdet Afghanistan und auch die deutschen Soldatinnen und
Soldaten.
({12})
Ich möchte abschließend etwas zu der sehr schönen
Formulierung einer wertegebundenen und interessengeleiteten Außenpolitik im Koalitionsvertrag sagen. Ich
habe als Linker Erfahrung damit, wenn man Politik ideologisiert. Dabei kommt meistens Unsinn heraus. Was Sie
als wertegebunden und interessengeleitet vorstellen, ist
eine Ideologisierung der deutschen Außenpolitik.
Dann fangen Sie an, die Werte zu beschreiben. Das
müssen Sie auch zu Ende denken. Sie schreiben in diesem Abschnitt, dass der Kern des Begriffs „wertegebunden“ die Idee der westlichen Werte ist. Erklären Sie mir
doch einmal, was für Sie die westlichen Werte sind! Wie
wollen Sie in den Vereinten Nationen, die gerade auf
Wertevielfalt und kultureller Vielfalt beruhen, die westlichen Werte durchsetzen? Das sollten Sie einmal der
Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen als
politisches Konzept anbieten. Dann können Sie sich Ihren Platz im Weltsicherheitsrat gleich abschminken; der
ist sowieso weg.
({13})
Ich habe vor, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages zu bitten, eine wissenschaftliche Ausarbeitung
vorzunehmen, was man unter westlichen Werten versteht. Ich möchte wissen, was Sie durchsetzen wollen.
Im Koalitionsvertrag äußern Sie sich nicht genauer dazu.
Der einzige Wert, auf den Sie durchgehend hinweisen,
ist die freiheitliche Ordnung der Weltwirtschaft, das
heißt die Ordnung der Märkte sowie der Zugang zu
Märkten und Profiten. Das ist für mich als Werteorientierung für dieses Parlament und unser Land zu wenig.
Schönen Dank.
({14})
Nun hat das Wort der Kollege Omid Nouripour für die
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister Guttenberg. Nach dieser Rede war versucht, zu sagen: Herr Außenminister
Guttenberg. Sie haben nun ein neues Amt in dieser Regierung. Ich möchte Ihnen im Namen meiner Fraktion zu
diesem Amt gratulieren. Wir wollen Sie gerne unterstützen und mit Ihnen zusammenarbeiten. Allerdings werden wir Sie nicht an Ihren Worten und Reden, sondern
an Ihren Taten messen.
({0})
Wir wissen, dass der Schwerpunkt Ihrer Amtsführung
die Auseinandersetzung in Afghanistan sein wird. In
diesem Zusammenhang kann ich nur begrüßen, dass Sie
die vielen Verrenkungen Ihres Vorgängers um die sogenannte K-Frage ein Stück weit klargestellt und Platz für
relevante Fragen geschaffen haben. Die relevanten Fragen ergeben sich natürlich auch aus Ihrer Terminologie.
Was bedeutet die Feststellung, dass kriegsähnliche Zustände in Afghanistan herrschen, für die Rechtsgrundlage des Einsatzes? Was bedeutet das für die Soldatinnen
und Soldaten sowie ihre Familien? Was bedeutet das für
die Ausrüstung? Was bedeutet das - das ist die zentrale
Frage - für den lebensnotwendigen zivilen Aufbau in
Afghanistan? Darüber müssen wir im Parlament diskutieren, auch im Vorfeld von internationalen Konferenzen. Ich hoffe, dass die anstehende Konferenz mehr
bringt als so manch andere, die wir in der Vergangenheit
zum Thema Afghanistan erlebt haben. Das Parlament ist
jedenfalls der Ort der Auseinandersetzung. Ich verspreche Ihnen daher: Jegliche Versuche der Koalition, die
Rechte des Parlamentes bei der Beteiligung an Auslandseinsätzen zu beschneiden, werden auf härtesten Widerstand meiner Fraktion stoßen.
({1})
Wir brauchen hier im Parlament eine Diskussion, weil
eine Abzugsperspektive notwendig ist; das haben Sie selber gesagt. Eine solche Perspektive können wir nur mit
einer offenen Diskussion schaffen. Eine solche Diskussion muss mit dem Vorfall am 4. September 2009 in Kunduz beginnen. Sie kann aber nur stattfinden, wenn wir
eine Grundlage dafür haben. Das kann nur ein von Ihnen
vorgelegter Bericht sein, da die NATO die entsprechenden Papiere nicht herausgibt. Wir befinden uns in der absurden Situation - das muss man sich einmal vorstellen -:
Gestandene Parlamentarier, die den Bericht gelesen haben, dürfen sich im Verteidigungsausschuss darüber nicht
miteinander unterhalten, während der deutsche NATOGeneral Egon Ramms in der Öffentlichkeit die heiklen
Punkte einen nach dem anderen erörtert. Das geht so
nicht. Diese Situation wird diesem Hause nicht gerecht,
({2})
Wenn er mit den Punkten, die er angesprochen hat,
recht hat - ich habe keinen Anlass, dies zu bezweifeln -,
dann geht das, was Sie, Herr Minister, gesagt haben,
nicht mehr. Sie haben - auch das begrüße ich als wichtige Abkehr von der Politik Ihres Vorgängers - Regelverstöße eingeräumt und zugegeben, dass es zivile Opfer
gegeben hat. Aber die Aussage, die Regelverstöße seien
nicht so wichtig, weil das Ergebnis am Ende sowieso das
gleiche gewesen wäre, bagatellisiert zentrale Regeln der
Operationsführung, die zur Vermeidung ziviler Opfer
aufgestellt worden sind. Deshalb kann ich nur sagen: So
geht es leider nicht, Herr Minister.
({3})
Sie haben es zwar leicht, sich von Ihrem Vorgänger
abzusetzen, was die Initiativkraft betrifft. Sie haben es
aber schwer, wenn es darum geht, den Koalitionsvertrag
umzusetzen; denn er ist rückwärtsgewandt, ideenlos und
vor allem widersprüchlich.
Beispiel Wehrpflichtverkürzung auf sechs Monate.
({4})
Die Liberalen sind eingeknickt. Es hat sich die alte Ideologie durchgesetzt, und deshalb dürfen wir die Wehrpflicht als kostspielige Hommage an den Kalten Krieg
weiterbehalten. Sechs Monate:
({5})
Drei Monate Grundausbildung, zwei Monate Fachausbildung - das macht fünf Monate -, ein Monat Fachdienst und ein Monat Urlaub - das sind keine sechs Monate. Ich verstehe gar nicht, wie Sie gerechnet haben. Ich
bin sehr gespannt, wie Sie da herauskommen wollen.
Hier haben wir eine dreifache Verschwendung, wenn wir
die Wehrpflicht von sechs Monaten nicht abschaffen. Sie
ist militärisch komplett sinnlos: Wir verschwenden militärisches Personal bei der Ausbildung, wir verschwenden Steuermittel der Bürgerinnen und Bürger, und wir
verschwenden vor allem Lebenszeit von jungen Menschen. Das muss einfach nicht sein. Die Wehrpflicht gehört abgeschafft.
({6})
Ich komme jetzt zum Schluss. Ich habe noch einige
andere Beispiele. So kommt im Zusammenhang mit der
Abrüstung das Wort „Kleinwaffen“ überhaupt nicht im
Koalitionsvertrag vor.
({7})
Kleinwaffen sind aber etwas, über das ein renommiertes
Institut in Bonn sagt, das seien die Massenvernichtungswaffen des 21. Jahrhunderts. Beim Thema Nukleartechnologie sagen Sie „Keine neuen Atommächte!“, aber Sie
geben weiterhin Hermesbürgschaften für den Export von
Nukleartechnologie. Anscheinend hat man am Beispiel
des Iran nicht gesehen, dass es von militärischer und ziviler Nutzung zu ein Katzensprung ist.
Herr Minister, es gibt einiges für Sie zu tun. Wir werden sehr genau hinschauen, ob dieser Koalitionsvertrag
etwas ist, mit dem Sie sich befassen, oder ob Sie tatsächlich eine ganz neue Politik werden entwickeln müssen.
Ich glaube, so wird es kommen. Wir sind sehr gespannt.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Elke Hoff
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Ich darf die Gelegenheit nutzen, Herrn Minister zu
Guttenberg für seine in hohem Maße angemessene und
zutreffende Rede zu danken, die er heute hier unmittelbar nach der Feierlichkeit, die wir gestern in Berlin verfolgen und miterleben konnten, gehalten hat, weil ich der
festen Überzeugung bin, dass gerade die Bundeswehr
nicht nur Ausdruck der Souveränität der Bundesrepublik
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geworden ist,
sondern eben auch ein Symbol für die erfolgreiche, gelungene Wiedervereinigung der beiden getrennten
Deutschlands. Ich denke, dass gerade hier die Bundeswehr eine besondere Leistung erbracht hat, für die ein
umfassender und gebührender Dank notwendig ist.
({0})
Es haben heute schon eine Reihe von Vorrednern den
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr ganz ausdrücklich für ihre Auslandseinsätze gedankt, für ihren
Einsatz von Leib und Leben, für die Angst und die Sorge
der Familien. Ich möchte dieses natürlich auch für die
FDP-Fraktion wiederholen und um einen Aspekt erweitern, gerade aufgrund der aktuellen Ereignisse, die zurzeit in Afghanistan die Herzen und Köpfe auch unserer
Verbündeten bewegen. Wir haben in der vergangenen
Woche erleben müssen, dass bei einer Ausbildung von
afghanischen Polizisten britische Soldaten ermordet
worden sind. Ich glaube, dass wir uns von dieser Stelle
als Verbündete an die britischen Kolleginnen und Kollegen und an die britischen Familien wenden und dafür
danken sollten, dass sie unter diesen schwierigen Umständen Leib und Leben einsetzen, damit Afghanistan
stabiler und in die Lage versetzt wird, für die eigene Sicherheit zu sorgen. Ich denke, das ist auch ein Ausdruck
von Bündnissolidarität an dieser Stelle.
({1})
Ich glaube, dass der Koalitionsvertrag, den wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen von der
Union beschlossen haben, im sicherheitspolitischen Bereich gerade auch mit Fokus auf die Bundeswehr ein guter ist. Es wird sehr deutlich, dass uns allen daran gelegen ist, dass die Bundeswehr in Zukunft eine moderne
und eine leistungsfähige Armee wird, die in der Lage ist,
die durch das Parlament gestellten Aufgaben zu erfüllen.
Ich kann weder Herrn Erler noch den Kollegen
Nouripour verstehen, dass sie in irgendeiner Form daran
zweifeln, dass das Parlamentsbeteiligungsgesetz ausgehöhlt werden soll. Das Gegenteil ist der Fall.
({2})
Für alle Fälle, die auftreten können - insbesondere
wenn Gefahr im Verzug ist; ich kann mich sehr gut an die
Diskussionen über den Einsatz der NATO-ResponseForce oder der EU-Battle-Group erinnern; es hieß, das
Parlament könne nicht schnell genug reagieren -, soll ein
Gremium geschaffen werden, das in solchen Situationen
unverzüglich dafür sorgt, dass der Deutsche Bundestag
informiert wird. Ich denke, dass man hier von einer Einschränkung oder Aushöhlung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes nicht reden kann.
({3})
Man kann bei näherem Studium des Koalitionsvertrages feststellen, dass es im Bereich der Afghanistanpolitik durchaus eine Wende gibt; denn zum ersten Mal steht
ausdrücklich in einem Koalitionsvertrag - ich darf an
dieser Stelle zitieren -:
Wir bekennen uns zum Ansatz einer Vernetzten
Sicherheitspolitik. Dies erfordert moderne und leistungsfähige Streitkräfte und geeignete zivile Instrumente zur internationalen Konfliktvorsorge und -bewältigung sowie eine noch engere Integration und
Koordinierung. In künftige Mandate für Einsätze im
Ausland werden wir konkrete Benennungen der zu
leistenden Aufgaben sowie deren Zuteilung auf die
verantwortlichen Ressorts aufnehmen.
Ich halte dies für einen hervorragenden Ansatz. Dadurch
haben wir hier im Parlament die Gelegenheit, über diese
konkreten Benennungen zu diskutieren und letztendlich
auch darüber zu entscheiden.
({4})
Seitdem die Bundeswehr an internationalen Einsätzen teilnimmt, also seit etwa 15 Jahren, haben rund
300 000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst dort getan. Zurzeit tun pro Jahr rund 60 000 bis 70 000 Soldatinnen und Soldaten ihren Dienst in den aktuellen Auslandseinsätzen. Herr Minister, ich kann Ihnen nur
zustimmen: Wir können stolz auf diese Bundeswehr
sein. Sie ist nämlich ein Aushängeschild der Bundesrepublik Deutschland, auch in ihrer außenpolitischen Darstellung, wenn es darum geht, an friedensschaffenden,
friedensstiftenden Maßnahmen und an Aufbaumaßnahmen teilzunehmen.
Wir haben heute sehr viel zu den Ereignissen in Kunduz gehört. Ich möchte mir an dieser Stelle nicht anmaßen, über die Situation, in der sich Oberst Klein - den
ich bei meinem letzten Besuch dort im Juni dieses Jahres
kennengelernt habe - befindet, ein Urteil zu erlauben.
Ich finde, dass es uns nicht ansteht, an dieser Stelle über
diese Dinge zu urteilen. Wofür wir aber zu sorgen haben
- das haben auch vergangene Debatten gezeigt -, ist,
dass unsere Soldatinnen und Soldaten Rechtssicherheit
haben und dass für den Fall, dass es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommt, die Gerichte qualifiziert in der Lage sind, sich mit diesen Sachverhalten auseinanderzusetzen.
({5})
Das haben wir auch im Koalitionsvertrag so niedergeschrieben.
Ich bin sehr froh darüber, dass es gelungen ist - ich
verweise auf die Leistungen für die Bundeswehr, die wir
in den vergangenen Jahren im Parlament auf den Weg
gebracht haben; ich denke beispielsweise an das EinsatzWeiterverwendungsgesetz -, klarzumachen, dass wir
auch andere Schritte gehen wollen: Wir wollen das
Thema „Vereinbarkeit von Dienst und Familie“ in den
Mittelpunkt stellen, und wir wollen die Kinderbetreuung
ausbauen.
Wir wollen aber auch einen anderen Punkt anpacken.
Ich freue mich noch heute, dass es hier im Parlament gelungen ist, einen gemeinsamen Antrag auf den Weg zu
bringen. Darin wird die Frage behandelt: Wie gehen wir
mit den mittel- und langfristigen Folgen von militärischen Einsätzen im Ausland für unsere Soldatinnen und
Soldaten um? Dabei geht es um das Thema der posttraumatischen Belastungsstörung. Wer in den letzten
Wochen die Presse verfolgt hat und sehen konnte, dass
sich insbesondere unsere amerikanischen Verbündeten
mit diesem Thema erheblich beschäftigen müssen - damit verbunden sind erhebliche Probleme innerhalb der
Truppe -, der kommt sicherlich wie ich zu der Meinung:
Wir haben richtig daran getan, uns mit diesem Thema
möglichst frühzeitig zu befassen. Herr Minister, ich
hoffe, dass es sehr schnell gelingen wird, das, was wir
hier niedergeschrieben haben, in die Realität umzusetzen.
Ich glaube, dass wir innerhalb des Bündnisses dadurch einen wichtigen Beitrag leisten können, dass wir
die gewonnenen Erkenntnisse zur Verfügung stellen.
Unsere Soldatinnen und Soldaten und deren Familien
müssen wissen, dass sie nicht alleingelassen werden,
wenn wir politisch darüber beschlossen haben, die Bundeswehr auch als Mittel der Außenpolitik einzusetzen.
Auch das Thema Ausrüstung spielt im Koalitionsvertrag eine Rolle.
Es ist eben dankenswerterweise von Herrn Minister
zu Guttenberg gesagt worden, dass nur eine gut ausgerüstete und ausgebildete Armee in der Lage ist, den Auftrag, den wir ihr politisch erteilen, zu erfüllen. Dazu gehört auch, die nötigen finanziellen Mittel bereitzustellen,
damit unsere Soldatinnen und Soldaten wissen, dass wir
als Parlamentarier wirklich hinter ihnen stehen und es
unser Ziel ist, sie möglichst wohlbehalten und unversehrt wieder nach Hause zu bringen. Insofern hat eine
vernünftige Ausrüstung der Bundeswehr nach wie vor
oberste Priorität.
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag auch etwas
zu großen Beschaffungsvorhaben gesagt. Hier ist die
Industrie gefordert, ihre Aufgaben zu erfüllen. Ich denke
an das Thema A400M, an das Thema Eurofighter und an
einen weiteren Bereich, der nicht explizit im Koalitionsvertrag erwähnt wird, nämlich den Zulauf der Hubschrauber. Hier muss unsere Industrie zeigen, dass sie
wirklich in der Lage ist, die nötigen und angemessenen
Technologien zum richtigen Zeitpunkt zu liefern.
Meine Damen, meine Herren, ich denke, wir als FDPFraktion haben gemeinsam mit den Kollegen der Union
gezeigt, dass wir bereit sind, im sicherheitspolitischen
Bereich Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung
zu tragen und diese inhaltlich zu füllen. Wir stehen natürlich für Diskussionen hier im Parlament gerne zur
Verfügung, aber unsere gemeinsame Aufgabe muss es
sein, die inhaltlichen Konflikte, die möglicherweise zwischen uns bestehen, nicht auf dem Rücken der Soldatinnen und Soldaten und deren Familien auszutragen. Wenn
ein Mandat diesen Bundestag verlässt, muss es klar sein,
und es muss für die Soldatinnen und Soldaten eindeutig
erkennbar sein, in welche Richtung die Reise gehen soll.
Es darf nicht sein, dass am Ende der Reise Unsicherheiten innerhalb der Truppe dazu führen, dass wir Politikerinnen und Politiker unsere Glaubwürdigkeit verlieren.
({6})
Ich weiß, dass Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ein schwieriges Thema ist. Es ist sicherlich auch kein
Thema, mit dem man in der Öffentlichkeit sehr viele
Pluspunkte sammeln kann; denn es gilt hier - das hat
Minister zu Guttenberg zu Recht gesagt -, Wahrheiten
zu formulieren. Aber ein Staat, der nicht in der Lage ist,
für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und in einem
kollektiven Verteidigungsbündnis Verantwortung zu
übernehmen, verfolgt eine falsche Politik. Deswegen
lassen Sie uns versuchen, hier gemeinsam den richtigen
Weg zu gehen.
Ich möchte jetzt, obwohl mich die Präsidentin schon
ermahnt, dass ich die Redezeit überschritten habe, noch
einen Satz zum Thema Wehrpflicht sagen: Ja, bei dem,
was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, handelt
es sich um einen Kompromiss. Ich glaube aber, dass
durch die Reduzierung des Wehrdienstes auf sechs Monate auch Druck auf die Bundeswehr als Arbeitgeber
und Wettbewerber auf dem Arbeitsmarkt ausgeübt wird,
darüber nachzudenken, ob sie in der Lage ist, mit diesen
Strukturen ihre Ziele zu erreichen. Falls nicht, müssen
wir am Ende der Reise eine Neubewertung vornehmen
und dazu übergehen, uns bei den Formen der Beschaffung von Nachwuchs für die Bundeswehr neu zu orientieren. Ich denke, das ist ein offener Prozess.
({7})
Kollegin Hoff, das war ein sehr langer Satz. Sie wissen, die Parlamentarischen Geschäftsführer haben sich
darauf geeinigt, Redezeiten zu übertragen, aber gegebenenfalls auch Minuszeiten anzurechnen. Ich sage das nur
im Interesse ihrer Kolleginnen und Kollegen, die nach
Ihnen reden werden.
Jawohl, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich auf die gemeinsame Zusammenarbeit in der neuen Legislaturperiode. Ich freue
mich auch auf die Zusammenarbeit mit dem neuen Verteidigungsminister.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Rainer Arnold für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister zu Guttenberg, zunächst auch von
unserer Seite die herzlichsten Glückwünsche zu einem
Amt, von dem wir wissen, dass es ein ganz besonders
verantwortungsvolles ist, weil Sie die Verantwortung für
Soldatinnen und Soldaten tragen, die für unser Gemeinwesen im Zweifelsfall mit ihrem eigenen Leben eintreten. Weil dem so ist, verdient die Bundeswehr jenseits
unserer unterschiedlichen Aufgaben in Regierung und
Opposition einen gewissen Grundkonsens vonseiten der
Politik. Wir wollen Ihnen ausdrücklich anbieten, diesen
mitzutragen, wenn es um das soziale Gefüge der Streitkräfte, um die Attraktivität des Dienstes, um modernes
Gerät, das die Soldaten schützt, und um die Prozesse der
Transformation geht. Bei all diesen Feldern wollen wir
Sie parlamentarisch sehr eng begleiten. Wir werden aber
im Zuge dieser Begleitung auch von unseren Rechten als
Opposition sehr engagiert und kreativ Gebrauch machen.
In einem Punkt sind wir allerdings völlig anderer
Meinung: Ihren Beschluss zur Wehrpflicht können Sie
in Ihrem Koalitionsvertrag in die große Kategorie einordnen, die mit der Überschrift „Murks“ versehen werden könnte; denn er wird der Aufgabe in keiner Weise
gerecht.
({0})
Dieser Beschluss entzieht der Truppe materielle und finanzielle Ressourcen und gibt ihr nichts zurück. Er dient
lediglich dazu, aus der Wehrpflicht ein Instrument zur
Nachwuchsgewinnung zu machen. Das ist aber nicht im
Sinne unserer Verfassung.
Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch. Überlegen Sie
sich wirklich einmal, ob wir nicht gemeinsam Freiwilligendienste in unserer Gesellschaft so attraktiv machen,
dass genügend junge Frauen und Männer sagen: Jawohl,
bei der Bundeswehr leiste ich meinen Dienst an der Gesellschaft.
Aber die größte Herausforderung bleiben natürlich
die internationalen Einsätze der Bundeswehr. Hier
wurde schon einiges zu Afghanistan gesagt, auch mit
Blick auf die aktuelle Debatte zur Bombardierung der
Tanklastzüge und der Menschen in der Nähe dieser
Tanklastzüge. Ich glaube, wir müssen da eine rechtliche
und eine politische Bewertung vornehmen. Zunächst zur
rechtlichen Bewertung: Ich finde es positiv, dass dieser
Vorfall in Karlsruhe bewertet wird und dass dabei möglicherweise das Völkerstrafgesetzbuch als Maßstab genommen wird. Ich füge aber hinzu: Dies hat die Justiz
angesichts der Dimension der dortigen Situation entschieden; es ist nicht vom Minister initiiert worden. Ich
wünsche allen Soldaten und uns, dass daraus mehr
Rechtssicherheit entsteht. Dies wäre ein positiver Weg.
Wir haben großes Verständnis - und hoffen, dass auch
die Juristen das haben - für die schwierige Situation der
Soldatinnen und Soldaten in Kunduz aufgrund des
Drucks und der alltäglichen Bedrohung.
({1})
Wir haben aber kein Verständnis dafür, wie Sie, Herr Minister, den ISAF-Bericht interpretieren. Dieser Bericht
ist eindeutig in seiner Sprache. Er ist wahrhaftig umfassend.
({2})
- Natürlich habe ich ihn gelesen, Herr Kollege, beim
besten Willen! Ich habe ihn von Anfang bis Ende gelesen.
({3})
Sie kultivieren hier Ihr Image, Klartext zu reden, und ich
finde es gut, wenn jemand das tut. Aber exakt an dieser
Stelle, wo es sehr ernst wird in diesen Tagen, verfahren
Sie im Grunde genommen wie Ihr Vorgänger Herr Jung.
Auch er hat am Anfang verniedlicht, scheibchenweise
informiert
({4})
und zivile Opfer bestritten. Ebenso reden Sie jetzt nicht
Klartext, sondern sagen, es habe Verfahrensfehler gegeben. Herr Minister, in aller Deutlichkeit: Es gab gravierende Verstöße gegen die ISAF-Einsatzregeln.
({5})
Das müssen Sie sagen, wenn Sie die Öffentlichkeit korrekt informieren wollen. Ich verstehe überhaupt nicht,
wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass es mit einer
gewissen Zwangsläufigkeit auch ohne diese Verstöße
zum Abwurf der Bomben gekommen wäre. Das ist
schlichtweg falsch. Wären die Regeln eingehalten worden, hätte in Kunduz selbst diese Entscheidung nicht
mehr getroffen werden können. Sie hätte nur im ISAFHeadquarter entschieden werden können. Es gab keine
unmittelbare Bedrohung, und es gab auch keine Truppen
am Boden, die in unmittelbarem Kontakt waren.
Die Debatte ist schwierig und auch unfair gegenüber
der Öffentlichkeit, weil wir den Bericht im Gegensatz
zur Öffentlichkeit kennen. Aber auch die Öffentlichkeit
würde gerne wissen, was dort wirklich los war. Sie erfährt es aber nicht. Das ist kein guter Zustand. Wir wünschen uns, dass das geändert wird.
({6})
Es bedarf aber auch einer politischen Bewertung des
Einsatzes, und diese ist für uns gravierend. Sie sagten:
Dies war angemessen. - In aller Deutlichkeit: Wir halten
den Abwurf von Bomben auf Menschenansammlungen
in Afghanistan weder für verhältnismäßig noch für angemessen.
({7})
Das Risiko für Zivilpersonen ist generell latent vorhanden. Das mussten die amerikanischen Freunde bei solchen Einsätzen in den letzten Jahren schmerzhaft lernen.
Zum Glück haben sie es gelernt und begriffen. Nun sagen wir, das sei ein normaler Vorgang. Wir wissen aber
auch, dass die Taliban zivile Opfer provozieren. Gerade
deshalb muss man an dieser Stelle besonders aufpassen.
Herr Minister, wir können keine Strategie mittragen,
die zivile Opfer billigend in Kauf nimmt. Die Zivilbevölkerung in Afghanistan verdient den gleichen Schutz
und sie hat den gleichen Wert wie die Menschen in
Deutschland und überall auf der Welt.
({8})
Für die Soldaten der Bundeswehr ist es ein sehr hohes
Gut, dass ihre Mandate eine breite parlamentarische Unterstützung erfahren. Die Sozialdemokraten werden sich
auch in der Opposition in diesen Fragen nicht einfach
aus der Verantwortung stehlen.
Sie hatten allerdings in dieser Frage keinen guten
Start. Manchmal habe ich den Eindruck, dass manches
Wort, das Sie in die Debatte werfen, ein wenig zu beifallheischend ist. Dies wird aus unserer Sicht der Komplexität der Situation in Afghanistan und der Größe der
Herausforderung nicht gerecht. Sie haben bis zur Debatte über die Afghanistanmandate noch die Chance, die
Opposition einzubeziehen. Sie haben noch die Chance,
zu vermeiden, dass aus Falsch plötzlich Richtig wird,
was nicht sein darf.
Wir bitten Sie also, diese Chance zu nutzen. Unser
Angebot besteht nach wie vor, weil wir wollen, dass Beschlüsse zu Afghanistan gefasst werden, mit denen die
Debatte nicht vertagt wird. Manchmal habe ich die
Sorge, dass alle nur auf die Afghanistankonferenz warten. Dies wäre zu spät. Wir brauchen diese differenzierte
Debatte schon in den nächsten Wochen. Unser Rat ist:
Nehmen Sie dabei die Opposition mit. Die Bundeswehr
und ihre Soldaten hätten dies wirklich verdient.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich dem Minister für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung - Frau
Staatssekretärin, bitte richten Sie ihm dies aus - zu seiner
Jungfernrede gratulieren. Ich kann jedes Wort, das er gesagt hat, unterschreiben.
({0})
Er bewegt sich vollkommen auf der Basis des Koalitionsvertrages. Deswegen kann ich seine Ausführungen
doppelt unterstreichen.
Der Mauerfall in Deutschland vor 20 Jahren, den wir
in diesen Tagen zu Recht feiern, hat damals eine neue
Ära in der deutschen Entwicklungspolitik eingeleitet. Es
ging nun nicht mehr darum, welches Land zu welchem
Bündnis gehört, ob zum Osten oder zum Westen. In den
Fokus rückten vielmehr andere Dinge, nämlich gute Regierungsführung, Beachtung der Menschenrechte sowie
das Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Es
ging um Schwerpunktsetzung - dazu gehörte damals
auch die Umwelt -, und es ging um höhere Effizienz.
Diese Neuorientierung unter der damaligen christlichliberalen Koalition hat Maßstäbe gesetzt, die bis heute
gelten und an denen sich auch der neue christlich-liberale Koalitionsvertrag orientiert. Allerdings sind die Herausforderungen in der Entwicklungspolitik inzwischen
erheblich größer geworden. Auch die Bedeutung der
Entwicklungspolitik ist enorm gestiegen.
Die Entwicklungspolitik hat tatsächlich das damalige
Nischendasein beendet und ist zu einem wichtigen Bestandteil der Zukunftsvorsorge geworden, und zwar
auch der Zukunftsvorsorge in Deutschland und in Europa. Ganz anders als damals sind jetzt, 20 Jahre später,
das Wohl und Wehe auch für uns in Deutschland abhängig von den Entwicklungen in den Entwicklungs- und
Schwellenländern, und zwar in wirtschaftspolitischer,
sozialpolitischer, umweltpolitischer und sicherheitspolitischer Hinsicht. Es kommen auf die Entwicklungspolitik gewaltige Herausforderungen zu: die Sicherung der
gemeinsamen Ernährungsbasis und der Schutz unseres
Klimas, die Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, die
Entschärfung sozialer Brandsätze und die Bekämpfung
des Terrorismus durch eine ausgewogene, nachhaltige
Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern, die dem Radikalismus den Boden entzieht.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass sich die
Unionsfraktion all die letzten Jahre sehr intensiv um geeignete Antworten auf diese Herausforderungen bemüht
hat. Ich glaube, dass die Entwicklungspolitik der letzten
Jahre durchaus große Erfolge erzielt hat. Das steht im
Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Erler, uns vorhalten
möchten. Wir sind inzwischen der zweitgrößte Geber.
Wir haben einen Quantensprung im Klimaschutz erzielt. Wir haben eine vernünftige Lösung auf dem Weg
zur Beendigung des Gießkannenprinzips und bei der
Schwerpunktsetzung gefunden. Wir haben zum ersten
Mal Mittel aus Emissionserlösen für den Klimaschutz in
Entwicklungsländern eingesetzt. Wir haben auch einen
ersten wichtigen Schritt zur Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in globale Absprachen gemacht.
Ich habe immer gesagt: Es war ein Gemeinschaftswerk. Die Zusammenarbeit und das Klima unter den
Entwicklungspolitikern, auch im AwZ, waren gut. Dafür
möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Damals, 2005,
kam es aber - das möchte ich ganz deutlich sagen - zu
einer Änderung der Kanzlerschaft in diesem Lande.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gegen größte
Schwierigkeiten eisern das eingehalten, was ihr Vorgänger mal schnell versprochen hatte. Ich darf daran erinnern, dass der Entwicklungshaushalt, Herr Erler, unter
Angela Merkel um 50 Prozent zugelegt hat, nachdem er
zuvor, ab 1998, unter Rot-Grün um 3 Prozent abgenommen hatte.
Wir haben uns damals zwischen den Koalitionären
über manches nicht einigen können. Deswegen freue ich
mich, dass wir uns in der neuen Koalition rasch und
konzentriert über ein neues Kursbuch haben einigen
können - mit konkreten Schritten bei der Vorfeldreform,
mit klaren Festlegungen zu den Schlüsselsektoren, mit
einem klaren Bekenntnis zu den finanziellen Zusagen
und einer klaren Aussage zur Reform der europäischen
und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
Ein wichtiger Punkt in diesem Vertrag ist der Satz,
dass wir im Rahmen guter Regierungsführung und fairen
Handels sowie im Rahmen von Bildung und der schon
erwähnten Mikrofinanzierung nachhaltige Strukturen
schaffen wollen, damit sich Menschen eigenverantwortlich entfalten können. Hilfe zur Selbsthilfe ist der rote
Faden, der diesen Koalitionsvertrag prägt. Das bedeutet
natürlich, dass es nicht nur um staatliche Entwicklungszusammenarbeit geht, sondern, wie wir es in den Vertrag
geschrieben haben, auch darum, dass wir auf die Nichtregierungsorganisationen und den Einfluss und das
Engagement der Kirchen setzen und dass wir insbesondere die politischen Stiftungen, und zwar die aller Parteien, für ganz wichtige Akteure im entwicklungspolitischen Geschäft halten.
({1})
Ich bin froh, dass im Koalitionsvertrag enthalten ist,
dass wir nicht nur den Ländern mit guter Regierungsführung und gutem entwicklungspolitischen Management
helfen, sondern dass wir auch diejenigen Menschen
nicht im Stich lassen wollen, die in fragilen und autoritären Staaten oder auch in Staaten leben, von denen für uns
Gefahr ausgeht. Wir wollen weiterhin Mittel und Wege
finden, schlechte Regierungsführung zu transformieren.
Auch das ist ein wichtiger Gesichtspunkt des Koalitionsvertrags.
Wichtig ist auch, dass wir eine bessere Arbeitsteilung
und Kontrolle erreichen. Wir wollen und müssen eine
stärkere Kontrolle der europäischen Entwicklungspolitik
- Kollege Königshaus, das war immer ein Anliegen der
FDP - durchsetzen; denn wir haben oft den Verdacht,
dass viele Gelder deswegen so schnell und zum Teil
auch schlampig abfließen, weil man ansonsten sagen
müsste, man habe das Geld nicht untergebracht.
Das ist der Hintergrund dafür, dass wir darauf Wert
gelegt haben, wieder zu einer vernünftigen Aufteilung
zwischen nationalem und internationalem Geld zu kommen, nämlich im Verhältnis von einem Drittel zu zwei
Dritteln. Es geht dabei darum, die Mittel dort einzusetzen, wo sie effizient eingesetzt werden können.
({2})
Meine Damen und Herren, über die Passage zu den
Schwellenländern bin ich froh und dankbar; denn wir
haben uns hier sehr viel Mühe gegeben. Ich glaube, dass
die Staatengemeinschaft ohne die Schwellenländer keinen Fuß in die Tür bekommt, wenn es um einen Ausweg
aus der Weltwirtschaftskrise geht, und schon gar nicht,
wenn es um Sicherheitspolitik, Umweltpolitik und um
Armutsbekämpfung geht. Deswegen ist es richtig, dass
die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern für uns
eine sehr große Bedeutung hat.
({3})
Dabei geht es immer weniger um die klassische Entwicklungshilfe, sondern vor allem um Einflussnahme
auf die Entwicklung durch Entwicklungspolitik.
Herr Niebel, ich gebe Ihnen auch recht, wenn Sie sagen, es sei viel zu kurz gesprungen, das BMZ auf Armutsbekämpfung zu reduzieren, und wenn Sie neulich
unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Hinblick auf den Mittelstand und die
Zusammenarbeit mit den Schwellenländern auf die „Geländerfunktion“ des Entwicklungsministeriums hingewiesen haben. Das BMZ verfügt über den zweigrößten
Investitionshaushalt der Bundesrepublik und ist dafür
verantwortlich, dass 250 000 Arbeitsplätze gesichert
werden. Dies geschieht vor allem in der Zusammenarbeit mit den Schwellenländern.
Herr Minister, ich versichere Ihnen, dass Sie unsere
Unterstützung auch bei einem ganz schwierigen Geschäft haben, nämlich der Verzahnung des Außenhandels. Wie man in Afghanistan sieht, ist die Verzahnung
des Außenhandels ein Gebot des Überlebens, und zwar
nicht nur für unsere Soldaten, sondern auch für alle, die
in der Entwicklungshilfe tätig sind. Ihnen danke ich an
dieser Stelle ebenfalls für ihr Engagement; auch unter ihnen gibt es viele Opfer, an die wir denken sollten. Die
Verzahnung zwischen den Politikbereichen ist und bleibt
eine sehr schwierige Daueraufgabe. Wir werden Sie dabei unterstützen, dass das Entwicklungsministerium alles, was mit ODA zu tun hat, als Kompetenz bekommt.
Sollten Sie Schwierigkeiten haben, sich zum Beispiel
gegenüber dem Außenministerium durchzusetzen, wären wir gern bereit, Ihnen dabei behilflich zu sein.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Herausforderungen an die Entwicklungspolitik sind gewaltig.
Aber wir haben in den letzten Tagen gesehen, was die
Deutschen bei der Wiedervereinigung nach dem Fall der
Mauer leisten konnten. Lassen Sie uns nicht bange sein
vor großen Herausforderungen. Wir können sie meistern. Dies gilt auch für diese globalen Herausforderungen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Von einem neu gebackenen Entwicklungsminister hätte ich, ehrlich gesagt, erwartet, dass er
sich in seiner ersten Rede vor allem mit der zum Himmel
schreienden menschlichen Tragödie von mehr als
1 Milliarde hungernden Menschen beschäftigt und Vorstellungen darlegt,
({0})
wie wir zur Lösung dieses Problems beitragen können
und wo die Ursachen dieser großen menschlichen Katastrophe liegen, unter anderem in dem herrschenden
Weltwirtschaftssystem. Dazu war sehr wenig zu hören.
Er hat sich vor allem auf Interessen und Werte konzentriert, wovon heute schon den ganzen Tag über gesprochen wurde. Wir haben da einen gewissen Vorgeschmack auf das bekommen, was die Werte der FDP
sind.
({1})
Ich komme in diesem Zusammenhang auf den Fall
Honduras zu sprechen.
({2})
Im Juni dieses Jahres gab es den Putsch gegen eine progressive linke Regierung, die sich um eine Sozialpolitik
in Honduras bemüht hat. Weltweit wurde dieser Putsch
einhellig verurteilt.
({3})
Was machte die FDP? Der Vertreter der FDP-nahen
Friedrich-Naumann-Stiftung sprach davon, dass es in
Honduras gar keinen Putsch gegeben habe, obwohl der
demokratisch gewählte Präsident aus dem Land entführt
wurde. Hier in den Räumen des Bundestages gab es ein
Treffen von einhelligen Unterstützern des Putsches in
Honduras, zu dem von der Friedrich-Naumann-Stiftung
eingeladen wurde.
({4})
Ich muss sagen, dass sich auch der neue Staatsminister
Werner Hoyer positiv zu diesem Putsch geäußert hat. Ich
erwarte eigentlich eine klare Stellungnahme zum Wert
von Demokratie und zum Werteverständnis der FDP.
({5})
Wenn so deutsche Außenpolitik aussieht, dann werden
wir bald international isoliert sein; davon sprechen Sie ja
auch sehr oft.
Insgesamt kann ich Ihnen nur raten - Sie sprechen ja
auch von einer neuen Lateinamerikastrategie -, dass Sie
nicht versuchen, neue Ansätze in Lateinamerika, linke,
progressive Regierungen, die dürfen soziale Bewegungen an die Macht kamen, um Menschen an der Politikgestaltung zu beteiligen, die verfassungsgebende Prozesse
ins Leben rufen, die eine neue Ökologie und Sozialpolitik entwickeln und Landreformen durchführen, als zukünftige Gegner auszurufen, weil dort Menschen direkt
an neuen Ansätzen für die Lösung von Problemen beteiligt werden. Sie brauchen unsere Unterstützung und
nicht den Angriff durch eine aggressive Freihandelspolitik unter anderem der Europäischen Union.
({6})
In diesem Zusammenhang finde ich es auch interessant, dass Herr Kollege Raabe von der Linken, so kann
man sagen, gelernt hat.
({7})
Wir haben in den letzten vier Jahren häufig darüber gesprochen, dass es auch einen Schutz für die Entwicklungsländer zur Entwicklung ihrer eigenen Wirtschaft
braucht und wir daher mit einer Marktöffnungspolitik
nicht weiterkommen. Er hat es vorhin explizit erwähnt;
das freut mich. Es gibt hier einen Lernprozess. Ich bin
gespannt, was wir da noch alles zu hören bekommen.
({8})
Ich möchte auf die Interessen eingehen, die oft benannt wurden und auch im Koalitionsvertrag stehen.
Dort wird im Zusammenhang mit Entwicklungspolitik
auf eine „engere Kooperation mit der deutschen Privatwirtschaft“ verwiesen. Ich frage mich: In welche Richtung wird dies gehen? Wir haben das schon erlebt. Der
Bundesverband der Deutschen Industrie hat eine neue
Rohstoffstrategie entwickelt. Er spricht von einer
„Rohstoffdiplomatie“, die gemeinsam mit der Außen-,
Handels- und Entwicklungspolitik entwickelt werden
muss, um den Zugang zu Rohstoffen zu verbessern; wir
haben es heute von der Bundeskanzlerin gehört. Das
geht in unseren Augen in die völlig falsche Richtung.
Wir lehnen diese Form der „Rohstoffdiplomatie“ völlig
ab.
({9})
Eine weitere Formulierung, die heute häufig bemüht
wurde, ist die Kontinuität der deutschen Außenpolitik.
Wenn ich mir die Realität der deutschen Außenpolitik
anschaue, kann man hinsichtlich der Kontinuität nicht
davon sprechen, dass sie ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung ist.
Ich fand es auch interessant, dass in der Regierungserklärung von Angela Merkel kein einziges Mal das
Wort „Friedenspolitik“ vorkam. Im Koalitionsvertrag ist
auch nicht von ziviler Konfliktbearbeitung, ziviler Konfliktlösung oder dem zivilen Friedensdienst die Rede.
Diese Einrichtungen kommen überhaupt nicht vor, obwohl das eigentlich das Potenzial wäre, eine zivile Außenpolitik gemeinsam mit den Menschen von unten zu
entwickeln. Das wäre für mich ein neuer Ansatz. Davon
ist in Ihrem Vertrag nichts zu lesen.
({10})
Im Gegenteil: Sehr oft bemüht die Kanzlerin - auch
Herr Niebel hat es heute explizit angesprochen - den Begriff der vernetzten Sicherheit, der auch im Weißbuch
der Bundeswehr auftaucht und in dem es unter anderem
- ich zitiere um eine … engere Integration politischer, militärischer, entwicklungspolitischer, wirtschaftlicher, humanitärer, polizeilicher … Konfliktverhütung
geht.
Hier werden die Grenzen zwischen Zivilem und Militärischem völlig verwischt. Es gibt im Grunde genommen nur noch einen einzigen Blick, und das ist der sicherheitspolitische Blick für globale Probleme. Das
heißt, Migration und Klimawandel werden mittlerweile
unter sicherheitspolitischen Aspekten bewertet, obwohl
es eigentlich globale Probleme sind, die ökonomischer
und sozialer Natur sind. Das ist ganz klar ein Beitrag zur
Militarisierung der Außen- und Entwicklungspolitik.
Das werden wir wie bisher ablehnen.
({11})
Wir brauchen diese Militarisierung nicht. Sie ist katastrophal. In Afghanistan erleben wir es in der zivilmilitärischen Zusammenarbeit. Man kann sagen: Sie ist
der Totengräber der Entwicklungszusammenarbeit. Viele
Entwicklungsorganisationen beklagen sich, dass der zivil-militärische Ansatz sie zur Zielscheibe von Angriffen
in Afghanistan gemacht hat und dass dieser Ansatz Entwicklung unmöglich gemacht hat.
({12})
Das heißt, mehr Soldaten bedeuten eben nicht automatisch mehr Sicherheit. In vielen Regionen bedeuten mehr
Soldaten mehr Unsicherheit für die Entwicklungsorganisationen.
({13})
In unseren Augen ist es deshalb wichtig, nach acht
Jahren Krieg mit einer katastrophalen entwicklungspolitischen Bilanz - Afghanistan ist nach wie vor das viertärmste Land der Erde - von diesem Ansatz wegzukommen. Der Abzug der Bundeswehr ist die Voraussetzung
für eine soziale und friedliche Entwicklung in diesem
Land.
In meinen Augen gibt es keine bessere Zeugin dafür
als Malalai Joya, eine mutige Parlamentarierin, die wir
mehrmals eingeladen haben. Sie hat ein neues Buch
geschrieben: Ich erhebe meine Stimme. Darin können Sie
lesen, wie die Lebensrealität der Menschen, insbesondere der Frauen, vor Ort aussieht. Ich möchte dieses
Buch gerne dem neuen Außenminister, Herrn
Westerwelle, der leider gerade nicht zuhört, überreichen.
Es ist nämlich ein sehr interessantes Buch. Malalai Joya
schreibt darin über die Lebensrealität der Menschen. So
erfährt man mehr, als wenn man mit der Bundeswehr für
drei Tage in dieses Land fliegt. Daraus könnten wir einen sehr guten Politikansatz entwickeln.
Ich bedanke mich.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Ute Koczy.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wohin geht die Entwicklungspolitik?
Diese Frage steht vor allem deswegen im Raum, weil
wir einen interessanten Minister haben.
({0})
Herr Niebel, als Abwicklungsminister in aller Munde,
steht im Rampenlicht der Öffentlichkeit und hat ein Ministerium vor sich, das er noch gar nicht kennt und das er
nicht einschätzen kann.
({1})
- Das geht anderen auch so, Herr Ruck. Man sieht ja,
was daraus wird, wenn man nichts damit anfangen kann.
Wir wissen, dass es sich angesichts globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Hungersnöte, Finanzmarktkrisen und Machtverschiebungen heutzutage kein
Politikfeld mehr leisten kann, auf Laisser-faire zu machen. Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Das
gilt auch für die Entwicklungspolitik.
({2})
Es müssen Reformen auf den Tisch. Die Wirksamkeit muss verbessert werden, und neue Allianzen müssen
geschmiedet werden. Für uns Grüne ist die Entwicklungszusammenarbeit Teil einer internationalen Strukturpolitik. Eine reformierte und innovative Entwicklungszusammenarbeit ist ein wichtiges Instrument, um
die Globalisierung gerechter zu gestalten. Dieses Instrument dürfen wir nicht aus der Hand geben.
({3})
Dass die FDP das nicht so sieht, das war klar, aber
dass die CDU/CSU es versäumt hat, in der Personalpolitik und bei der Gestaltung der Inhalte des Vertrages Präsenz und Gewicht zu zeigen, das ist fatal. Denn wenn
Entwicklungspolitik eine Hauptsache ist, wie es Kanzlerin Merkel heute gesagt hat, dann müssen dieser Aussage auch Taten folgen. Doch da sehe ich schwarz und
gelb.
({4})
Die schwarz-gelbe Koalition hatte die Chance, Entwicklungspolitik zu einem partnerschaftlichen Instrument für
globale Gerechtigkeit zu machen. Aber mit diesem Vertrag wurde diese Chance vertan. Es gibt keine echte
Strukturreform. Die Institutionenreform ist ein Klacks
gegenüber dem, was man haben wollen muss, wenn man
eine Entwicklungspolitik aus einem Guss möchte.
({5})
Provinziell ist die Ansage: „Wir setzen auf Bilaterales“, und die Tatsache, dass man die multilaterale Zusammenarbeit kappt. Der Vertrag kennt nur ein Ziel, und
zwar, künftig die Interessen der deutschen Wirtschaft
stärker zu berücksichtigen.
({6})
Damit wird auch die Entwicklungspolitik instrumentalisiert und den Interessen der Außenwirtschaftsförderung
untergeordnet.
({7})
So dringend und wichtig die Stärkung der Wirtschaft gerade in den Entwicklungsländern auch ist, mit dieser
Ausrichtung missachtet man den Kern der Entwicklungszusammenarbeit. Es geht um die Parteinahme für
die Ärmsten und um den Erhalt der Lebensgrundlagen.
Wenn man das in der Form macht, wie Sie das vorhaben,
Herr Minister, dann ist auch das eine Art der Abwicklung.
({8})
Es kommt noch schlimmer: Schwarz-Gelb ebnet der
Wirtschaft ohne Einschränkungen den Weg. Eine Einhaltung von ökologischen und sozialen Standards? Ethische Anforderungen an Investitionen? Absolute Fehlanzeige im Koalitionsvertrag, als seien die Probleme
Kinderarbeit, Ausbeuterlöhne, Gesundheitsschäden sowie Verseuchung von Wasser und Böden keine Fragen
und schon gar kein Wertemaßstab für Wirtschaft, Handel
und Banken.
„Der Zugang zu Rohstoffen und deren verlässliche
Verfügbarkeit … für die deutsche Industrie“ - so der Koalitionsvertrag - bedeuten im Klartext für die Entwicklungsländer in Afrika, dass die Eliten weiterhin profitieren und die Armen leer ausgehen.
({9})
Das bringe ich nicht überein mit den hehren Worten, die
hinten im Vertrag stehen, wobei aber nicht berücksichtigt wird, dass sie der Außenwirtschaft untergeordnet
werden. Hier knallen die Widersprüche ungeklärt aufeinander.
({10})
Mein letzter Punkt: die Brisanz des Klimawandels.
Man hätte erwartet, dass angesichts dieser Herausforderung ein dicker Absatz oder eine ganze Seite im Koalitionsvertrag dazu steht. Nichts davon! Klimapolitik ist
trotz der Brisanz gerade für die Entwicklungsländer eine
Nebensache geblieben. Dass die bisherigen Zusagen eingehalten werden sollen, ist doch als Aussage absolut
unzureichend. Wir brauchen eine qualitative und quantitative Aufwertung aller Klima- und Ressourcenprogramme. Aber Schwarz-Gelb lässt diese Herausforderung links liegen.
Danke.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Axel
Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung
gesagt, dass der Lissabon-Vertrag besonders wichtig
für Europa ist.
(Beifall des Abg. Dr. Rainer Stinner ({0})
Dem stimmt die SPD-Fraktion uneingeschränkt zu.
({1})
Das ist der einzige Satz, dem wir zustimmen können;
denn sie hat in ihrer gesamten Regierungserklärung
sonst nichts zu Europa gesagt. Ich glaube, deshalb wird
es wichtig sein, darüber zu reden, welche Verantwortung
wir in Europa haben und was hier heute nicht zur Sprache gekommen ist.
Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin: „Europa, ruhiggestellt“, beklagt die Welt am Sonntag, als Hauptschuldige sieht sie „Angela Merkel mit ihrer geheimen
Kabinettspolitik und ihrem Postengekungel“. Sie wissen,
die Welt am Sonntag gehört zum Springer-Verlag - Frau
Springer war hier kürzlich noch Wahlfrau für die CDU ({2})
und ist Ihnen sehr nahestehend. Das ist das Urteil über
Ihre Europapolitik.
Wir müssen uns jetzt einmal genau anschauen, was
diese Personalpolitik in der Praxis bedeutet. Als Erstes
wird ein Ministerpräsident in Europa mit dem Posten eines Kommissars versorgt, indem er hier entsorgt wird.
Das ist die erste Personalentscheidung und stellt sicherlich kein gutes Bild für die deutsche Vertretung in Europa dar.
({3})
Als Zweites werden für die Christdemokraten in Europa
die wichtigsten Funktionen reklamiert.
Dann muss man natürlich auch darüber sprechen, wer
die Christdemokraten in Europa sind - das sind ja
nicht nur Sie -, auf die man sich stützen kann. Die wichtigste Stütze ist Herr Berlusconi, ein Politiker Ihrer Parteifamilie, über den ich sage: Keiner in diesem Haus
wird dessen politische, geschäftliche und sonstige Moral
teilen wollen. Wenn Sie anderer Meinung sind, widersprechen Sie. Das ist Ihre wichtigste Stütze, die Sie in
Europa haben. Sie haben noch ein paar andere Stützen in
der EVP, die diese Politik ausmachen, und zwar die Vertreter in Dänemark, in den Niederlanden und auch in
Österreich, die rechtspopulistische Parteien salonfähig
gemacht haben oder sich wie in Kopenhagen noch heute
von ausländerfeindlichen Parteien tragen lassen, um
überhaupt an der Regierung bleiben zu können. Auch
das sind Christdemokraten in Europa.
Das kann man auf die Konservativen ausdehnen.
({4})
- Ja, sehr gut. - Schauen wir doch einmal auf die Christlich Demokratische Internationale. Da gibt es zum Beispiel einen Herrn Klaus, dem es Gott sei Dank nicht gelungen ist, dieses Europa von Lissabon, das Sie gerade
gelobt haben, zu zerstören. Auch er gehört zu Ihrer Parteifamilie. Dies reicht über andere bis zu Herrn Bush;
den Irakkrieg will ich nicht verschweigen. Auch das ist
ein Teil Ihrer europäischen Realität, zu der Sie nichts sagen. Deshalb müssen wir als Opposition das hier benennen.
({5})
Axel Schäfer ({6})
Vom Außenminister angesprochen und von der Kanzlerin beschwiegen wurde die zukünftige Entwicklung
Europas. Wir sind der Auffassung: Die Perspektive für
den westlichen Balkan ist die zentrale Aufgabe. Das haben wir versprochen und in Europa in vielen Punkten so
festgelegt. Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben die Haltung, dass diese Vereinbarungen
strikt eingehalten und konsequent angewandt werden
müssen. Die Haltung, die ich heute Morgen gehört habe
bzw. die aus Ihrem lauten Schweigen zu schließen ist,
heißt: Wir wollen bestimmte Entwicklungen konsequent
anhalten und bestimmten Entwicklungen strikt entgegentreten. - Das ist in Bezug auf den Westbalkan Ihre
Position.
Wir stehen dagegen. Wir stehen nicht nur dagegen,
weil es nicht lediglich um die Frage geht, welche Perspektiven die Länder haben - auch das ist wichtig -, sondern wir stehen auch dagegen, weil demokratische Politiker in dieser Region für die europäische Perspektive ihres Landes ihren Kopf auf das Schafott gelegt haben, um
für die Demokratie zu kämpfen, und ermordet worden
sind - ich erinnere nur an Ministerpräsident Djindjic und weil wir gegenüber mutigen Präsidenten wie Tadić
auch die moralische Pflicht haben, die Zusagen einzuhalten und ihnen die europäische Perspektive zu eröffnen.
({7})
Es ist zu Recht auf den 9. November hingewiesen
worden. Sehr richtig: ein bedeutender Tag in der deutschen Geschichte. Das gilt sowohl für den 9. November
1989 als auch für den 9. November 1918. Am 9. November 1918 hat der sozialdemokratische Volksbeauftragte
und spätere Ministerpräsident Philipp Scheidemann auf
dem Balkon des Reichstages die parlamentarische Republik ausgerufen; die Monarchie war zu Ende. Philipp
Scheidemann hat im Reichstag vor fast genau
100 Jahren gesagt, warum dieses gemeinsame Europa,
die Verständigung mit Frankreich und Großbritannien,
so wichtig ist und warum von Deutschland nie wieder
Krieg ausgehen soll. Dieses gemeinsame Europa ist der
Sozialdemokratischen Partei seit über 100 Jahren eine
Verpflichtung. Dieser Verpflichtung werden wir als
Fraktion auch in der Opposition nachkommen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Michael Stübgen für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schäfer, Sie haben etwas despektierlich über den deutschen Kandidaten für das Kommissarsamt gesprochen.
({0})
Ich möchte Ihnen eine Garantie geben: Dieser deutsche
Kommissar wird mit Sicherheit erfolgreicher und einflussreicher sein als sein deutscher Vorgänger.
({1})
Ich möchte auf einige grundsätzliche Dinge eingehen,
die die aktuelle und die künftige deutsche Europapolitik
betreffen. In dieser Legislaturperiode wird mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. Dezember
2009 in Europa eine neue Ära beginnen. Allerdings ist
der Prozess bis zum Inkrafttreten dieses Reformvertrages eine unerwartet lange Ära in der Europäischen
Union gewesen. Er begann vor mehr als neun Jahren mit
der Einsetzung des Verfassungskonvents, der den Verfassungsvertrag erarbeitete, der dann bei Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden zunächst
scheiterte.
Erst die letzte Bundesregierung unter Führung von
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diesen Prozess, der
seit Jahren brachlag, während der deutschen Ratspräsidentschaft aktiviert. Wir kamen bis zum Lissabon-Vertrag, der am irischen Referendum zunächst scheiterte.
Auch wir als Bundestag hatten noch im Juni dieses Jahres die für uns überraschende Aufgabe, die Begleitgesetzgebung über den Sommer neu zu fassen. Allerdings
finde ich es beeindruckend, dass wir das geschafft haben. Denn dadurch sind die Begleitgesetzgebung und die
parlamentarische Kontrolle der künftigen Europapolitik
in der Tat deutlich verbessert worden. Beim Europäischen Rat am 29./30. Oktober dieses Jahres konnten die
letzten Hürden überwunden werden, sodass dieser Vertrag endlich in Kraft treten kann.
Manche mögen sagen, dass dieser Reformprozess zu
lange gedauert hat. Ich aber sage: Entscheidend ist am
Ende der Erfolg, dass dieser Vertrag in Kraft treten kann.
Mit dem Lissabon-Vertrag bekommt die Europäische
Union das institutionelle und vertragliche Rüstzeug, die
großen Probleme der Gegenwart und der Zukunft entschlossen und erfolgreich anzugehen.
Deutschland war an diesem Reformprozess immer
führend beteiligt. Der Deutsche Bundestag hat diesen
Reformprozess immer offensiv unterstützt. Es liegt jetzt
an uns, und es ist jetzt unsere Aufgabe, unsere neuen
parlamentarischen Möglichkeiten auch auszunutzen. Mit
unserem künftig direkten Einfluss auf die europäische
Rechtsetzung wächst auch unsere Verantwortung für die
Ergebnisse der europäischen Politik.
Das heißt, wenn in Zukunft wieder einmal eine europäische Rechtsetzung am Bundestag vorbeigeht und
kritisch bewertet wird, wenn sie erfolgt ist, können wir
nicht mehr sagen, wir hätten das nicht mitbekommen,
weil wir keine Chance gehabt hätten, das rechtzeitig in
Erfahrung zu bringen, nein, dann wird das bedeuten,
dass der Bundestag geschlafen hat. Das darf auf keinen
Fall passieren. Insofern kommt auf uns durch den Lissabon-Vertrag und die Begleitgesetze eine Menge Mehrarbeit zu.
Lassen Sie mich noch auf ein anderes aktuelles
Thema kurz eingehen. Wer in den letzten Tagen die
Nachrichten aufmerksam verfolgt hat, muss folgenden
Eindruck gewonnen haben - leider passiert das alle paar
Jahre wieder -: Die Europäische Kommission, obwohl
nur noch amtierend, versucht offensichtlich, bevor die
neue Europäische Kommission eingesetzt wird, für Entscheidungen, die erst in ein bis zwei Jahren anstehen und
die erst nach intensiven Diskussionen getroffen werden
dürften, Vorwegfestlegungen zu organisieren. Ich meine
damit den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen
Union ab 2014.
Obwohl die Europäische Kommission bisher keine
Analyse der Konsultationen zu ihren Reformvorschlägen
vorgelegt hat, ist sie jetzt schon der Überzeugung, die
EU brauche dringend eine direkte Einnahme durch Erhebung einer eigenen Steuer, einschließlich der Möglichkeit, Schulden aufzunehmen. Ulkigerweise begründet
die Europäische Kommission das damit, dass man nur so
die anhaltende Debatte über eine übermäßige Nettobelastung einzelner Mitgliedstaaten überwinden könne.
Dies ist jedoch ein falscher Ansatz. Denn in Wirklichkeit ist es so, dass gerade durch die vorhandenen Direkteinnahmen der Europäischen Kommission - den Anteil
an der Mehrwertsteuer, die Zolleinnahmen, die Zuckerabgabe und dergleichen; diese Einnahmen machen ungefähr 30 Prozent aus - das Problem, dass einzelne
Mitgliedsländer übermäßig belastet werden, größer geworden ist. Deshalb gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für Dänemark und Schweden bei der Abführung der Mehrwertsteuer eine Ausnahmeregelung; sonst
würden wir im Verhältnis zu unserem Bruttonationalprodukt übermäßig belastet.
Jetzt auf die Idee zu kommen, eine Steuer zu erheben,
ist mit Sicherheit der falsche Weg; denn dadurch würde
das Problem nicht nur verschärft, sondern, weil man die
Belastung dann nicht mehr auseinanderhalten könnte,
auch noch verschleiert.
({2})
Ich will für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion an dieser Stelle klar sagen: Wir wollen - erstens - ein europäisches Finanzsystem, das so transparent und effizient
wie möglich gestaltet ist; aber es muss auch gerecht sein.
({3})
Wir wollen - zweitens -, dass der 2005 eingeschlagene
Weg der Sparsamkeit beibehalten wird. Wir sollten uns
darauf einigen, dass die Obergrenze für die Ausgaben
bei maximal 1 Prozent des Bruttonationalprodukts liegen soll. Die Einführung einer europäischen Steuer mit
eigenem Hebesatz sowie einer Möglichkeit für die EU,
Schulden zu machen, lehnen wir kategorisch ab.
({4})
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Deutschland wird auch in Zukunft, wie es unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit entspricht, größter und wichtigster Nettozahler in der Europäischen Union bleiben.
Die Menschen werden die Europäische Union aber nur
dauerhaft akzeptieren, wenn sie spüren, dass die Europäische Union nicht nur solidarisch ist - das ist sie -,
sondern auch gerecht. Nach dieser Maßgabe muss der
neue europäische Finanzrahmen erarbeitet werden, und
dabei liegt noch viel Arbeit vor uns.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
gestern den 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer
und der innerdeutschen Grenze gefeiert. Für mich begann damals eine gewaltige Reise, zunächst mit meinem
Trabi nach München, der auf dem Weg dahin auch noch
kaputtging. Nächstes Jahr werden wir den 20. Jahrestag
der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes feiern. Für
mich ist unmissverständlich klar - und ich bin sicher,
dass das von der überwiegenden Mehrheit in diesem
Haus genauso gesehen wird -: Das Geschenk der deutschen Wiedervereinigung ist für Deutschland ebenso ein
Glücksfall wie das Bestehen und die Entwicklung der
Europäischen Union.
Der Deutsche Bundestag hat es in den letzten Jahrzehnten immer wieder geschafft, bei grundsätzlichen
europäischen Fragen über die Grenzen von Koalitionsund Oppositionsfraktionen hinweg Einigung zu erzielen.
So sind wir stark in Europa, und so müssen wir stark
bleiben in Europa. Diese Art der Zusammenarbeit wünsche ich mir auch für diese Legislaturperiode.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Kerstin Müller für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Herren Minister, wenn man Ihnen heute hier zugehört hat und sich den außen- und sicherheitspolitischen Teil der Koalitionsvereinbarung ansieht - auch ich
will hierzu am Anfang natürlich Stellung nehmen -,
dann muss man ganz klar sagen: Sie beschwören einerseits die Kontinuität, andererseits werden aber sogenannte westliche Werte und nationale Interessen zur zentralen Leitlinie erklärt.
Dadurch werden gemeinsame Interessen und die kollektive Friedenssicherung - ich glaube, vor allem im
Rahmen der Vereinten Nationen - in der Außen- und Sicherheitspolitik an Bedeutung verlieren. Es wird diesbezüglich ja eine erste Nagelprobe für die Koalition bei der
Verlängerung des UNIFIL-Einsatzes geben. Man darf
Kerstin Müller ({0})
gespannt sein, wie die Koalition dann damit umgehen
wird.
Wenn nationale Interessen vor allem als wirtschaftliche Interessen definiert werden, weil die Sicherung des
deutschen Exports - so steht es im Koalitionsvertrag Hauptaufgabe der Außenpolitik wird, dann muss man
aus unserer Sicht ganz klar sagen: Auch in der Außenund Sicherheitspolitik macht die Koalition eine Rolle
rückwärts, ist sie alles andere als innovativ und wird vor
allem den neuen internationalen Herausforderungen wie
Klimawandel, Armut und Staatszerfall in keinster Weise
gerecht.
({1})
Wir meinen ganz klar: Nur durch eine Stärkung multilateraler Institutionen, vor allem der UNO und der Europäischen Union, können wir diese neuen Herausforderungen bewältigen.
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Rede vor dem USKongress zwar zu Recht die zentrale Bedeutung des
transatlantischen Verhältnisses zwischen der EU und den
USA hervorgehoben. Aber - das muss man an dieser
Stelle klar sagen - die Bewältigung der großen internationalen Herausforderungen kann in der Praxis eben
nur dann gelingen, wenn auch die EU als internationaler
Akteur endlich eigene Strategien entwickelt, die man
dann mit den USA diskutieren kann. Wir erwarten, dass
sich die Bundesregierung dafür stark macht. Genau das
ist jedoch nicht der Fall - weder beim Klimaschutz noch
in Afghanistan noch in der Nahostpolitik.
Ich bleibe einmal beim Beispiel Klimaschutz. Vor
dem US-Kongress hat die Kanzlerin zu Recht, sage ich
wieder, die Vereinbarung verbindlicher Klimaschutzziele in Kopenhagen eingefordert; aber einige Tage zuvor auf dem Europäischen Rat in Brüssel
({2})
hatten Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, Ihre Hausaufgaben nicht gemacht; denn
gerade eine verbindliche Finanzzusage an die Entwicklungs- und Schwellenländer zur Bewältigung des Klimawandels wurde nicht beschlossen. Das ist das Gegenteil
von konsequenter internationaler Klimapolitik.
({3})
Zum Beispiel Afghanistan: Auch nach der heutigen
Rede der Bundeskanzlerin und Ihrer Rede, Herr Verteidigungsminister, muss man klar sagen: Meiner Meinung
nach wird in den USA inzwischen offener über den notwendigen Kurswechsel in Afghanistan diskutiert als hier
in Deutschland. Die Zeit drängt; denn die Sicherheitslage verschärft sich und durch die Umstände der letzten
Wahlen droht das zarte Pflänzchen der Demokratie zu
vertrocknen. Deshalb finde ich - ich will das an dieser
Stelle noch einmal sagen -, es geht nicht, dass sich die
Frau Bundeskanzlerin heute Morgen hier hingestellt und
gesagt hat: Wir warten jetzt erst einmal ab; schauen wir
mal. Anfang 2010 gibt es ja die nächste Afghanistankonferenz. Wir winken das Mandat im Dezember erst einmal ohne Veränderung durch.
({4})
Ich meine, Sie müssen jetzt die Reformbereitschaft
der US-Regierung nutzen und deutlich machen, was unser Beitrag zum Strategiewechsel ist.
Zum Beispiel Polizeiaufbau: Warum gibt es keine Initiative auf europäischer Ebene,
({5})
2 000 Polizisten dorthin zu schicken, wobei Deutschland
einen Beitrag von 500 anbietet? Das ist es, was wir erwarten. Abwarten und Teetrinken ist aus unserer Sicht
unverantwortlich.
({6})
Im Nahen Osten fehlt es meiner Meinung nach ebenfalls an einer klaren gemeinsamen Strategie. US-Präsident Obama hatte in Kairo ja neue Grundlagen für eine
Friedensinitiative gelegt; aber Außenministerin Clinton
hat durch ihre plötzliche Abkehr von einem Siedlungsstopp gegenüber Netanjahu ein verheerendes Signal gesendet. Das hat Präsident Abbas geschwächt. Ich meine,
auch hier muss die EU selbst Verantwortung für eine
politische Regelung des Nahostkonflikts übernehmen.
Ein Wort zu der Debatte um die Besetzung des Rates
der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Voraussetzung dafür, dass Europa international mit gewichtiger Stimme mitreden kann, ist nicht nur ein neuer
Ratspräsident und ein neuer EU-Außenminister, sondern
auch die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Sie selbst haben das deutsch-polnische Verhältnis - ich finde das richtig - als Kernanliegen bezeichnet.
Sie haben in Polen zugesagt, keine Entscheidung zu treffen, die dem Anliegen der Versöhnung entgegensteht.
Wir erwarten jetzt natürlich, dass es Ihnen im Hinblick
auf die wichtige Frage der Besetzung des Stiftungsrates
gelingt, eine Berufung von Frau Steinbach zu verhindern.
({7})
Ich möchte mich mit einigen Sätzen an Sie persönlich, Frau Steinbach, wenden. Sie wissen, dass Sie in
Polen als Hindernis für die Versöhnung angesehen werden. Ich sage klar, dass ich manche Töne und manche
Fotomontagen aus Polen für völlig überzogen und inakzeptabel halte.
({8})
Wenn Ihnen aber das Verhältnis zu Polen und die Aussöhnung wirklich wichtig sind, dann sollten Sie die politische Klugheit und Größe besitzen, selber von einem
Sitz im Stiftungsrat Abstand zu nehmen. Das wäre politische Verantwortung.
({9})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Rolf
Mützenich das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Außenpolitik ist keine Bühne für parteipolitische Spielchen. Wir Sozialdemokraten akzeptieren die Regeln,
Normen und Institutionen der deutschen Außenpolitik.
Wir haben diese Grundsätze mitgestaltet und erweitert.
Die Bürgerinnen und Bürger, unsere Partner und Nachbarn können sich in den nächsten vier Jahren auf eine
konstruktive Rolle der SPD auch in der Opposition verlassen. Herr Außenminister Westerwelle, im Gegenzug
bitten wir Sie herzlich, die Opposition dort einzubeziehen und zu informieren, wo es angemessen und erforderlich ist. Ich glaube, das gehört zum parlamentarischen
Verfahren dazu. Ich wünsche Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine gute Arbeit für unser
Land. Darin werden wir Sie bestärken. Dort aber, wo wir
Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten feststellen oder Zweifel haben, werden wir diese in den nächsten vier Jahren benennen und Alternativen vorschlagen.
Ich habe eine Anregung: Wir sollten überlegen, ob
wir am Anfang eines jeden Jahres eine zentrale Grundsatzdebatte führen könnten, die sich mit den außen- und
sicherheitspolitischen Herausforderungen Deutschlands
in den nachfolgenden Monaten befasst. Ich glaube nämlich, der Bundestag ist der zentrale Ort, um über diese
Fragen zu diskutieren und um von der Bundesregierung
Auskunft über die weiteren Schritte zu bekommen. Eine
solche parlamentarische Diskussion wäre angemessen
und könnte dem manchmal auftretenden öffentlichen
Desinteresse an der Außenpolitik entgegenwirken.
({0})
Ich will nur drei Punkte benennen, die mir im Koalitionsvertrag aufgefallen sind. Die Frage des Völkerrechts hat als zentrales Thema in der internationalen
Politik nicht die Würdigung erhalten, die ich mir gewünscht hätte.
({1})
In den letzten Jahren konnten wir in der internationalen
öffentlichen Debatte die Tendenz feststellen - gestern
hat Russland in diesem Zusammenhang etwas veröffentlicht, was ich nicht gutheiße -, dass das Völkerrecht
nicht mehr in den Mittelpunkt gerückt wird. Manchmal
wird der internationale Terrorismus als Grund dafür genannt, dass das Völkerrecht nicht eingehalten werden
kann. Ich halte das nicht nur für waghalsig, sondern auch
für einen Rückschritt in der internationalen Politik.
Wenn wir die Fortschritte im Völkerrecht, die nach 1945
erreicht wurden, endgültig über Bord werfen würden,
dann hätte der internationale Terrorismus gewonnen.
({2})
Herr Minister, Abrüstung und Rüstungskontrolle
gehören zu den Grundpfeilern deutscher Außenpolitik.
Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass sie Instrumente der Vertrauensbildung und der gemeinsamen Sicherheit sind. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts
sind diese Instrumente nicht überflüssig geworden. Ich
glaube, die Rüstungsexportkontrolle - das ist eben gesagt worden - gehört genauso dazu. Deswegen brauchen
wir, glaube ich, eine politische Kultur der Abrüstung,
und wir unterstützen Sie in diesen Fragen.
Sie haben angedeutet - das ist auch im Koalitionsvertrag niedergelegt -, dass Sie die konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle vorantreiben wollen. Ich
glaube, das ist gerade mit Blick auf Georgien eine besondere Herausforderung. Deswegen biete ich vonseiten
der SPD-Fraktion an: Wir unterstützen Sie sofort bei der
Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages. Bringen
Sie ihn in den Deutschen Bundestag ein. Dann werden
wir als Opposition Sie an dieser Stelle unterstützen.
({3})
Herr Außenminister, Sie haben im Wahlkampf und
während Ihres USA-Besuchs erfreulicherweise die Bedeutung der nuklearen Abrüstung hervorgehoben. Ich
habe gesagt, wir unterstützen das. Ich bedaure ein bisschen, dass Sie in Washington leiser aufgetreten sind als
auf den deutschen Marktplätzen während des Wahlkampfs. Aber ich glaube, dass es an dieser Stelle einen
breiten Konsens im Deutschen Bundestag gibt, die Abrüstung und Rüstungskontrolle voranzutreiben.
Ich würde Sie nur gerne daran erinnern, dass es notwendig wäre, gerade mit unseren Partnern in Europa in
den nächsten Wochen und Monaten über etwas zu diskutieren, was Präsident Obama im Dezember vorlegen
wird, nämlich eine neue Nuklearstrategie der USA. Ich
glaube, sie wird in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich bewertet. Deswegen wäre es gut, wenn der
deutsche Außenminister im Vorhinein versuchte, einen
möglichen Dissens in Europa über die US-amerikanische Nuklearstrategie zu verhindern.
Wenn ich am Anfang gesagt habe - ich komme zum
Schluss ({4})
- diese Überheblichkeit geht mir gegen den Strich, aber
das ist ein anderer Punkt ({5})
- nein -, dass die deutsche Sozialdemokratie Sie auch in
der Opposition in den kommenden vier Jahren bei den
wichtigen Fragen der Außenpolitik unterstützt, so will
ich nur daran erinnern, dass das auch bei uns nicht immer unumstritten war. Vor 50 Jahren hat Herbert Wehner
im Deutschen Bundestag eine wichtige außenpolitische
Rede gehalten und gesagt, dass die Sozialdemokratie die
Institutionen und die Verträge Deutschlands für die Außenpolitik anerkennt. Das hat Handlungsspielraum eröffnet.
Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die heute
noch in der Außenpolitik abseitsstehen, sich möglicherweise diese Erfahrungen zunutze machen und in den
nächsten vier Jahren dazulernen.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Erika
Steinbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einige Sätze zu unserem sehr geschätzten Nachbarland Polen: Glücklicherweise ist Warschau nicht ganz Polen. Überall dort, wo die deutschen
Vertriebenen tagtäglich hinfahren - nicht mit der Faust
in der Tasche, sondern mit offenem Herzen -, gibt es ein
wunderbares deutsch-polnisches Miteinander.
({0})
Dort, wo deutsche Politiker hinfahren, gibt es Aversionen gegen diesen Teil der deutschen Bevölkerung. Das
muss man deutlich sagen.
({1})
Die Verantwortung dafür liegt in weiten Teilen bei Einzelpersonen dieses Hauses.
({2})
Gestern jährte sich der Fall der Mauer zum 20. Male.
Es ist schon wahr, was der Kollege Arnold Vaatz sagte,
nämlich dass aus den Reihen der Opposition dazu wenig
zu hören war. Ich weiß noch, wie erschrocken mancher
Sozialdemokrat vor 20 Jahren gewesen ist, weil die
Mauer gefallen war. Der Wunsch war bei vielen ein völlig
anderer.
({3})
Zu den drei Ministerbereichen kann man heute deutlich sagen: Alle drei haben mit Menschenrechten zu tun.
Deshalb war auch der gestrige Tag für mich sehr bemerkenswert. Einige der farbenfrohen Dominosteine nämlich, die aus diesem Anlass symbolisch zum Einsturz gebracht wurden - symbolisch für das Eindrücken der
Mauer durch die Menschen in der DDR -, waren von
Schülern und Künstlern aus Südkorea und Zypern geschaffen worden. Beides sind Länder, in denen es heute
noch Mauer und Stacheldraht gibt. Es ist auch ein Symbol, dass sich diese Menschen die Einheit wünschen.
Der 9. November 1989 ist der Triumph der Freiheit
über die Knechtschaft in der DDR, eine Knechtschaft,
die die Menschen in diesem Teil Deutschlands seit 1933
in zwei unterschiedlichen Diktaturen in nahtloser Folge
erdulden mussten, von denen sie menschenfeindlich und
eisern beherrscht sowie ihrer Menschen- und Freiheitsrechte beraubt worden sind. Der 9. November 1989 ist
aber auch ein Kontrapunkt zum 9. November 1938, wo
den Menschen in Deutschland und darüber hinaus drastisch vor Augen geführt wurde, dass die Würde des
Menschen nicht unantastbar ist. Der eine 9. November
gibt Anlass zur Freude, der andere zu tiefer Trauer.
So war es für uns alle eine große Freude, dass gestern
Vertreter so vieler Länder anwesend waren und mit uns
diesen Freiheitstag gefeiert haben.
({4})
Ich fand die Bild-Zeitungszeile „Tränen der Freude“ so
anrührend, weil viele Tausend Menschen tapfer im strömenden Regen ausgeharrt haben. Es ist ein Tag wiedergewonnener Menschenrechte, der weit über Deutschland
hinausreicht. Dass die erste Generaldebatte am Tag nach
diesem wunderbaren Jubiläum stattfindet, ist eine, wie
ich meine, gute Fügung.
Ich freue mich, dass der Koalitionsvertrag sich ausdrücklich zu den Menschenrechten bekennt und vieles
postuliert. Unter anderem steht darin:
Die Glaubwürdigkeit Deutschlands steht in direktem Zusammenhang mit dem konsequenten Eintreten für die Menschenrechte in der Außen- und Entwicklungspolitik. Ihre Einhaltung ist das Fundament
für demokratische, wirtschaftliche und kulturelle
Entwicklung jedes Landes.
Die Bundeskanzlerin hat schon in den letzten vier
Jahren gezeigt, dass die Menschenrechte bei ihr einen
höheren Stellenwert haben als in den Jahren zuvor. Ich
freue mich, dass das ausdrücklich im Koalitionsvertrag
wieder niedergeschrieben ist.
({5})
Weiter heißt es im Koalitionsvertrag:
… Gedanken- und Meinungsfreiheit und die Freiheit von Diskriminierung sind unveräußerliche
Prinzipien unserer Menschenrechtspolitik.
Menschenrechtspolitik ist darin aber nicht nur für
Deutschlands Politik nach außen formuliert, sondern auch
für unser deutsches Innenleben. Besonders begrüße ich
die Aussagen zu den Freiheitsrechten, die unter anderem
lauten:
Wir werden die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützen und die Bürgerrechte stärken.
Weiter heißt es:
Wir wollen eine Gesellschaft mit Freiraum für
Selbstbestimmung, für Kreativität und für ein neues
Miteinander.
Auf dieses neue Miteinander freue ich mich nicht nur als
Bundestagsabgeordnete der Regierungskoalition, sonErika Steinbach
dern auch als Präsidentin eines Opferverbandes in einem
Ehrenamt. Die Glaubwürdigkeit deutscher Menschenrechtspolitik nach außen steht und fällt mit dem Handeln
in Deutschland selbst. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass
sich ein gutes Miteinander und Vertrauen zu anderen
Ländern durch menschenrechtswidrige Opfergaben zulasten eigener Bürger und Organisationen erkaufen ließe.
Das lässt sich damit nicht erkaufen.
({6})
Respekt lässt sich so nicht gewinnen.
({7})
- Dann hören Sie einfach zu, Frau Roth.
({8})
- Es geht weiter. Ich bin nicht fertig. Schließlich ist
meine Redezeit noch nicht zu Ende.
({9})
Es ist die Aufgabe deutscher Politik - auch deutscher
Menschenrechts- und Außenpolitik -, die Traumata Millionen deutscher Vertreibungsopfer, mit denen viele von
uns tagtäglich konfrontiert werden, in unseren Nachbarländern zu erklären und verantwortungsvolles Handeln
gegenüber den Opfern in aller Welt anzumahnen, aber
auch selbst hier im Land zu praktizieren. Hertha Müller
hat am vorigen Sonntag in der Frankfurter Paulskirche
aus ihrem Buch Atemschaukel gelesen und geschildert,
wie die Menschen in den Lagern geknechtet wurden.
Kollegin Steinbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Nein, das möchte ich nicht. Danke schön. - Der
Goethe-Preisträger Raymond Aron hat in der Frankfurter
Paulskirche auch uns Deutschen ins Stammbuch geschrieben, und zwar vor einem Auditorium, das ihm gut
zuhörte:
Der Charakter und die Selbstachtung einer Nation
zeigen sich darin, wie sie mit ihren Opfern der
Kriege und mit ihren Toten umgeht.
Raymond Aron hat recht. In dieser Frage gab es jahrelang Defizite in der deutschen Politik. Bis heute hat noch
kein deutscher Außenminister - deshalb, Herr Außenminister, ist es eine Aufgabe auch für Sie - an den Massengräbern deutscher Zivil- und Lageropfer einen Kranz
niedergelegt, nicht bei den 2 116 Toten des Massengrabes von Marienburg, nicht bei den Opfern der polnischen Lager Lamsdorf oder Potulitz, nicht bei den Massengräbern in der Tschechischen Republik oder in ExJugoslawien in Gakowa oder in Rudolfsknad. Deshalb
begrüße ich den Satz der Präambel des Koalitionsvertrages, der da lautet:
Es heißt, aus den Fehlern zu lernen und ihre Wiederholung zu verhindern.
Menschenrechte, meine lieben Freunde, sind unteilbar. Unseren Nachbarländern zu vermitteln, dass sie
auch für deutsche Opfer gelten, ist unverzichtbarer Teil
einer ungeteilten Menschenrechtspolitik nach innen und
nach außen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Sascha Raabe.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aller guten Dinge sind drei. Das ist jetzt meine dritte Legislaturperiode; ich bin seit 2002 dabei und war immer
im entwicklungspolitischen Ausschuss. Seitdem habe ich
schon an vielen Debatten zu diesem Thema teilgenommen. Heute ist aber schon eine etwas skurrile Situation;
denn normalerweise hätte ich jetzt gar nicht zu einem
Entwicklungsminister sprechen können, sondern es hätten hier nur Herr Westerwelle und der Verteidigungsminister gesessen. Hinten hätten noch nicht einmal Mitarbeiter des Entwicklungsministeriums Platz genommen,
sondern vielleicht ein Abteilungsleiter des Auswärtigen
Amts, der ein bisschen Zuständigkeit für Entwicklungsarbeit gehabt hätte. Es kann doch nicht sein, dass ausgerechnet die Partei, die in den Koalitionsverhandlungen
das Ministerium abschaffen wollte, nun den Entwicklungsminister stellt. Das ist ein schlechter Witz, und das
werden wir in der Öffentlichkeit deutlich machen.
({0})
Was die personelle Besetzung betrifft, Herr Niebel,
bei allem Respekt: Es gibt auch andere Minister, die in
ein Amt kommen - Sie selbst sagten es -, Anfänger sind
und sich dann bewähren. Aber ich hatte vorhin in der
Zwischenfrage schon gesagt, dass jemand, der die letzten Monate damit verbracht hat, Stammtische zu bedienen
({1})
und zum Beispiel Lehrer, die wir in Deutschland brauchen, gegen Lehrer, die in Afrika genauso dringend gebraucht werden, auszuspielen, und der immer wieder
sagt, dass Steuergelder verschwendet werden, wenn man
Geld nach Afrika gibt, sich aber heute als Minister als
Anwalt der Ärmsten der Armen darstellt, unglaubwürdig
ist. Das zeigt, wie wenig Ihnen in Wirklichkeit diese Arbeit wert ist. Aber den Dienstwagen und den Posten
wollten Sie natürlich haben. Deshalb sind Sie Minister
geworden.
({2})
Ich sehe gerade den Kollegen Außenminister lächeln.
Ich erinnere mich, dass ich in den wenigen Jahren, die
ich diesem Hohen Hause angehöre, an Generaldebatten
über den Haushalt teilgenommen habe, in die Herr
Westerwelle als Fraktionsvorsitzender der FDP eingestiegen ist und in denen er als allererstes zum Haushalt,
wohlgemerkt, gesagt hat, der Haushalt sei ganz schlimm,
weil Millionen an China und Indien verschwendet würden.
({3})
Immer wieder kam das Argument, es würden Steuergelder an Länder verschwendet, die es aber in Wirklichkeit
bitter nötig hatten. Man hat so getan, als würden wir der
Regierung Mittel geben, die diese unsinnig verwendet.
Es wurde aber gar nicht hingeschaut, dass es darum ging,
Klimaschutz, Umweltschutz und Energieeffizienz zu
verbessern. Wenn wir jetzt, kurz vor dem Gipfel in Kopenhagen, nicht verstehen, dass wir auch darauf achten
müssen, dass wir in Ländern, die über 2 Milliarden Einwohner haben, Anreize für Energieeffizienz und dafür
schaffen, dass dort mit Rohstoffen sparsam gehaushaltet
wird, dann können wir den Schutz des Weltklimas ganz
abschreiben.
Deswegen sage ich: Schluss mit dem Populismus!
Lassen Sie uns sowohl die Klimaprobleme als auch die
Probleme der Entwicklungszusammenarbeit endlich einmal ernst nehmen. Dann können wir vielleicht irgendwann zusammenkommen, Herr Entwicklungsminister.
({4})
Der Koalitionsvertrag - ich will ihn an einer Stelle
fair bewerten - hat einen entwicklungspolitischen Abschnitt, der zum Teil sehr stark die Handschrift unseres
ehemaligen Koalitionspartners, der Union, trägt. Dieser
Abschnitt enthält durchaus Sätze, die wir, die SPD, und
unsere Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul mitgetragen haben; allerdings steht im Abschnitt zur Außenwirtschaftspolitik zum Teil das genaue Gegenteil davon. Da
ist es einfach unglaubwürdig, zu sagen, man wolle Entwicklungsländern wirtschaftlich Hilfe zur Selbsthilfe
leisten; schließlich sorgt man gleichzeitig dafür, dass alle
Schutzzölle eingerissen werden, wodurch die Märkte mit
Agrarprodukten aus Europa und aus den USA überschwemmt werden, ohne dass sich die Kleinbauern, die
jetzt schon größte Schwierigkeiten haben, ihre Produkte
zu verkaufen, dagegen schützen können.
Auf diesen Tagesordnungspunkt folgt die Landwirtschaftsdebatte; Frau Ministerin Aigner ist schon da. Frau
Aigner, Sie haben in Europa nicht verhindert, dass zum
Beispiel für Milchpulver aus Europa Exportsubventionen gezahlt werden. Ihre Politik ist nicht kohärent. Mit
Ihrer Handelspolitik reißen Sie das wieder ein, was wir
in vielen Jahren mühsam aufgebaut haben.
({5})
Ich möchte ferner ansprechen, dass wir, das deutsche
Parlament, den Menschen auf der Welt versprochen haben, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit bis
2010 auf 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu
steigern; bis 2015 sollen sie auf 0,7 Prozent gesteigert
werden.
({6})
Das ist in Europa gemeinsam vereinbart worden, und die
Kanzlerin hat zu diesem Ziel immer wieder gestanden.
Wir werden beim Haushalt 2010 genau hinschauen, ob
das seinen Niederschlag findet. Ich frage mich, wie Sie,
die FDP, das erreichen wollen, wenn Sie ankündigen,
von den CO2-Emissionserlösen solle nichts dafür verwendet werden.
Dieses Versprechen haben Sie nicht nur 80 Millionen
Deutschen gegeben - viel mehr Deutsche, als Sie denken, sind in kirchlichen Einrichtungen organisiert; sie arbeiten ehrenamtlich in Eine-Welt-Läden; sie engagieren
sich in kleinen Hilfsorganisationen oder an Schulen für
arme Menschen -, sondern auch 3 Milliarden Menschen,
die von weniger als 2 Dollar pro Tag leben, und
1 Milliarde Menschen, die jeden Tag vom Hungertod bedroht ist. Wenn Sie das Versprechen nicht einhalten, in
den Haushalt für das nächste Jahr 0,51 Prozent Mittel für
Entwicklungszusammenarbeit einzustellen, dann ist das
angesichts der Anzahl der Menschen, denen Sie es gegeben haben, die größte Wahllüge, die es in der Geschichte
dieser Republik je gegeben hat.
({7})
Wir werden genau hinschauen. In diesem Sinne werden
wir Ihnen eine feurig-kritische Opposition sein. Ich
glaube, das haben Sie auch nötig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Schluss dieser sehr intensiven Debatte steht noch
einmal das Thema Menschenrechte auf der Tagesordnung. Ich möchte einfach darauf hinweisen, dass der
Deutsche Bundestag vor elf Jahren einen sehr richtungweisenden Beschluss über das gefasst hat, was Menschenrechtsarbeit ist, nämlich eine Arbeit, die kohärent
durch alle Politikfelder geht, die in allen Politikfeldern
zu betrachten ist. Ich meine, an dieser Tatsache sollten
wir den Koalitionsvertrag messen.
({0})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Neben den vielen
Dingen, die in diesem Koalitionsvertrag stehen und deren Einhaltung wir überprüfen werden, ist für mich die
größte Enttäuschung, dass darin zu menschenrechtlichen
Themen, die auch in Deutschland relevant sind - angesichts der kurzen Redezeit beziehe ich mich ausdrücklich darauf -, so gut wie gar nichts steht. Das, was darin
steht, ist völlig unzureichend.
({1})
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen.
Frau Steinbach hat - wie ich finde, zu Recht - diese
Diskussion eröffnet, indem sie gesagt hat: Menschenrechte sind unteilbar; sie sind universell, und sie gelten
entsprechend Art. 1 des Grundgesetzes - „Die Würde
des Menschen ist unantastbar“ - für alle Menschen, die
in Deutschland leben. Darauf möchte ich jetzt noch einmal hinweisen. Im Koalitionsvertrag steht eine ganze
Menge über Strategien im Ausland. Ich verweise nur
einmal auf das, was dort zu Afrika steht - das ist nur ein
kleiner Abschnitt; ich dachte eigentlich, der Kollege
Fischer hätte ein größeres Standing in seiner Fraktion;
mehr hat er aber nicht zustande gebracht -: Man muss
Afrika dabei unterstützen, sich selbsttragend mit Flüchtlingsströmen auseinanderzusetzen und die damit verbundenen Probleme zu lösen. Das ist richtig. Dagegen ist
überhaupt nichts einzuwenden. Aber, meine Damen und
Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt nun einmal auch Menschen in Afrika, denen wir Unterstützung
geben müssen, weil sie in ihren Ländern - das haben wir
ein Stück weit mitzuverantworten - nicht mehr leben
können. Daran, wie wir mit diesen Menschen umgehen,
bemisst sich auch der Wert von Außenpolitik, von Sicherheitspolitik und von Menschenrechtspolitik. Da
muss man sich dann auch Fragen stellen.
Wir haben - das finde ich gut - mit dem EU-Vertrag
auch eine Grundrechtecharta verabschiedet. Das heißt,
in allen Ländern der EU bis auf die Tschechische Republik, Polen und Großbritannien gelten Grundrechte unmittelbar. Das ist ein Riesenfortschritt. Dass das erreicht
worden ist, ist unter anderem ein Verdienst der vorherigen Bundesregierung. Dafür auch noch einmal einen
ganz herzlichen Dank! Wenn man das aber ernst nimmt,
dann muss man sich schon einmal die Frage stellen: Wie
gehen eigentlich dieses Europa und insbesondere das
größte Land in diesem Europa damit um, dass Menschen
aus Afrika, denen vor Ort nicht geholfen werden kann,
Sicherheit für ihr Leben, für ihre Ernährung und für ihre
Gesundheit irgendwo anders suchen? Diesen Menschen
zu helfen ist, wie ich denke, auch eine Aufgabe deutscher Menschenrechtspolitik. Ob es uns gelingt, ein vernünftiges und faires Asylverfahren für alle einzuführen,
ist auch ein Punkt, an dem wir uns messen lassen müssen.
({2})
Dabei geht es dann auch um die Frage, wie wir mit
den Leuten umgehen, die hier sind. Ich habe sehr wohl
gelesen - ich weiß, das fällt nicht in Ihr Ressort, aber es
ist doch sehr spannend -, dass man sich bemüht, eine
zeitnahe Lösung des sogenannten Bleiberechtsproblems bei denjenigen, die unter die sogenannte Altfallregelung fallen, herbeizuführen. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Union, das hätten Sie schon seit langem haben können.
({3})
Wir lassen Menschen in Unsicherheit, in Angst und
Sorge um ihre Existenz, und Sie sagen jetzt: Wir kümmern uns um eine zeitnahe Lösung. Sie können ganz sicher sein: Sie werden von unserer Fraktion in absehbarer
Zeit eine klare Lösung vorgelegt bekommen. Dabei kann
man sich nicht darauf beschränken, die Stichtagsregelung um ein Jahr zu verschieben. Ich weiß doch ganz genau: In einem Jahr ist die Krise nicht beendet, in einem
Jahr sind die Probleme für diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt so, wie sie jetzt sind, vielleicht sogar noch
schlimmer. Deshalb brauchen wir eine Altfallregelung,
bei der im Gesetz Menschenrechtsaspekte berücksichtigt
werden und die damit diesen Namen auch verdient. Daran werden wir Sie messen, aber wir werden selber auch
entsprechende Vorschläge einbringen. Wir sind sehr gespannt, was dabei herauskommt. Gerade an dieser Stelle
muss sich unter dem Aspekt der Menschenwürde die
deutsche Menschenrechtspolitik messen lassen.
Wir haben viele internationale Vereinbarungen unterschrieben. Wir sind dabei, noch weitere Vereinbarungen
zu unterschreiben. All das, was Sie, Herr Außenminister,
bezüglich nuklearer Abrüstung und zum Fortschaffen
von Atomwaffen von deutschem Boden gesagt haben, ist
zwar richtig, aber - ich bin dem Kollegen Nouripour
sehr dankbar, dass er das hier einmal klargemacht hat die wirklichen Risiken für Menschen in anderen Kontinenten stellen kleine und leichte Waffen dar. Ich fordere Sie auf, die Prüfung eines vernünftigen Abkommens zur Verhinderung des Exports von kleinen und
leichten Waffen, die in den Vereinten Nationen gerade
läuft, ernst zu nehmen. Durch diese Waffen sterben Hunderttausende von Menschen. Solche Abkommen muss
Deutschland mit auf den Weg bringen. Hierfür sollten
Sie sich in Kontinuität zur alten Bundesregierung einsetzen. Das wäre meine herzliche Bitte an Sie.
Ein letzter Punkt liegt mir noch auf dem Herzen: Ich
war sehr froh darüber, dass im Koalitionsvertrag die Bemerkung steht, dass man den Vorbehalt gegenüber der
Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen aufheben will. Ich bin zunächst einmal sehr froh darüber,
dass Sie endlich akzeptieren, dass es einen solchen Vorbehalt gibt. Ich kann mich noch an Debatten erinnern,
bei denen hier gesagt wurde, einen solchen Vorbehalt
gebe es überhaupt nicht. Jetzt wurde festgestellt, dass es
ihn gibt. Ich kann Ihnen nur sagen, auch daran werden
wir Sie messen. Sie werden noch in diesem Jahr einen
Antrag von uns auf den Tisch bekommen, in dem wir
fordern, die Vorbehalte zurückzunehmen. Dann können
Sie beweisen, dass Sie es an dieser Stelle ernst meinen.
Das wäre ein guter Fortschritt in der deutschen Menschenrechtspolitik, insbesondere zugunsten von Kindern.
Danke schön.
({4})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich
liegen nicht vor.
Wir kommen nun zum Themenbereich Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Das Wort hat die Bundesministerin für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Warum das Präsidium die Aussprache über
den Themenbereich Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an den Schluss dieses Plenartages gesetzt
hat, weiß ich nicht. Ich kann nur mutmaßen: vielleicht ja
deshalb, weil das Beste immer zum Schluss kommt.
({0})
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
sind zentrale Handlungsfelder der Zukunft. Energieversorgung und Klimaschutz sowie eine nachhaltige
Lebensqualität für die Menschen in unserem Land ziehen sich wie ein roter Faden durch die Koalitionsvereinbarungen. Sie sind auch ganz entscheidend für mein
Haus und die Arbeit meines Hauses. Die Koalition hat
dafür die Weichen richtig gestellt.
In diesen Tagen erinnern wir uns an den Mauerfall
vor 20 Jahren. In zwei Dekaden kann politisch viel geschehen, denn die Lebenswelten der Menschen ändern
sich, und das erfordert Anpassungsbedarf. Ich möchte
das am Beispiel des Verbraucherschutzes darstellen.
Vor 20 Jahren hatte jeder denselben Telefonanbieter, und
kaum einer nutzte intensiv das Internet. Inzwischen ist
das Waren- und Dienstleistungsangebot immer breiter
geworden. Meines Erachtens ist es ein Ausdruck von
Freiheit, eine solche Auswahl zu haben. Es ist auch ein
Ergebnis der sozialen Marktwirtschaft. Dafür steht die
Bundesregierung. Das breite Angebot bringt aber mit
sich, dass man sich in der Vielfalt der Warenwelt zurechtfinden muss, dass man Lockangebote durchschauen
und Warnsignale frühzeitig erkennen muss. Für uns steht
ein freier, selbstständiger und kompetenter Verbraucher
im Mittelpunkt. Wir informieren, begleiten und unterstützen. Wir schützen vor Gefahren und stärken seine
Rechte. Aber wir wollen nicht bevormunden.
({1})
Das gilt für den rechtlichen, den wirtschaftlichen und
auch den gesundheitlichen Verbraucherschutz. Wir haben hier in der letzten Legislaturperiode viel erreicht. Ich
nenne beispielhaft nur die Kennzeichnung von Allergenen in Lebensmitteln, den Kampf gegen unlautere Telefonwerbung und die Stärkung der Fahrgastrechte.
Aber wir haben auch noch vieles vor uns. Wir werden
das Verbraucherinformationsgesetz weiterentwickeln.
Die Regelungen sollen sich stärker an den Belangen der
Verbraucher orientieren, und sie müssen insgesamt
transparenter werden. Ob Kosten oder Bearbeitungszeit,
einiges muss auf den Prüfstand gestellt - das werden wir
tun - und gegebenenfalls überholt werden.
Wahrheit und Klarheit, das ist auch unser Motto bei
der Lebensmittelkennzeichnung. Es muss drin sein,
was draufsteht oder abgebildet ist. Wenn Kirschen abgebildet sind, dürfen nicht nur Aromen enthalten sein. Das
wollen wir erreichen. Entscheidungsfreiheit durch Information ist dabei unsere Leitlinie.
({2})
Werbeverbote und Strafsteuern für vermeintlich ungesunde Lebensmittel wollen wir allerdings nicht.
Sichere Lebensmittel haben für uns höchste Priorität.
Wir wollen, dass schwarze Schafe öffentlich gemacht
werden. Das dient dem Schutz der Redlichen und hilft
dem Ruf der gesamten Branche.
Wahrheit und Klarheit sind auch die Währung für das
Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher im Bereich der Finanzdienstleistungen. Im Sommer haben
wir bereits einen Vorschlag für ein einheitliches Produktinformationsblatt vorgestellt, das Verbraucher schnell
und effektiv über Anlageformen informiert. Ich begrüße
es sehr, dass nun auch die EU den Weg einer einheitlichen Produktinformation gehen will. Auch wir werden
nicht stehen bleiben. Wir werden zeitnah ein umfassendes Paket mit konkreten Umsetzungsvorschlägen vorlegen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, Planungssicherheit und Perspektiven sind die Grundpfeiler für die
Agrarwirtschaft in unserem Land. Bei uns hat der
Agrarstandort Deutschland eine Zukunft und meines
Erachtens eine gute Zukunft.
({3})
In früheren Zeiten hatte die Landwirtschaft die alleinige
Aufgabe, die Menschen mit Nahrung zu versorgen.
Starke und starre Marktordnungen und Stützungssysteme waren noch vor 20 Jahren Ausweis einer erfolgreichen Agrarpolitik.
Die gesellschaftlichen Ansprüche an die Landwirtschaft haben sich aber weiterentwickelt. Eine zukunftsfähige Landwirtschaft steht für Lebensqualität in Deutschland. Sie sorgt für sichere und hochwertige Lebensmittel,
liefert einen wesentlichen Beitrag zur Versorgung mit erneuerbaren Energien und stärkt die ländlichen Räume.
Das alles ist allerdings nicht zum Nulltarif zu haben.
Eine flächendeckende Landbewirtschaftung durch
bäuerliche und unternehmerische Betriebsformen ist
weiterhin unser Ziel. Das bedeutet aber Verantwortung
gegenüber benachteiligten Regionen. Das bedingt auch
zielgerichtete Unterstützungen. Unser auf zwei Jahre angelegtes Sonderprogramm bietet flankierende Maßnahmen, um der schwierigen Situation im Milchbereich
Rechnung zu tragen und auch um wertvolle Naturräume zu erhalten, die ansonsten unwiderruflich verloren gehen würden. Das hat viel mit Nachhaltigkeit zu
tun. Nachhaltigkeit ist die Ökonomie des 21. Jahrhunderts. Das ist bei der Agrarwirtschaft längst angekommen.
Wir müssen aber auch in der Öffentlichkeit das Bewusstsein dafür schärfen, welche entscheidenden Leistungen die Land- und Forstwirtschaft für die Allgemeinheit bereits erbringen. Gleichzeitig gehen wir weg von
marktstützenden Maßnahmen und hin zu mehr Marktorientierung. Die gesellschaftlichen Leistungen müssen
deshalb auch weiterhin entsprechend honoriert werden.
Auf beiden Seiten die Leitplanken für die Agrarwirtschaft zu entfernen, könnte bedeuten, dass sie arg ins
Schlingern kommt. Das ist nicht im Interesse unserer
Gesellschaft.
({4})
Auf europäischer Ebene werde ich mich deshalb intensiv dafür einsetzen, dass bis 2013 verlässliche Rahmenbedingungen bestehen und dass wir nach 2013 weiterhin eine starke erste und eine gut ausgestattete zweite
Säule haben werden. Dafür werde ich mich mit aller
Kraft einsetzen. Darauf können Sie sich verlassen.
({5})
Eine starke Landwirtschaft ist ein zentraler Kern für
die ländlichen Räume. Ländliche Räume sind für über
die Hälfte der Bevölkerung in unserem Land letztendlich
die Grundlage für eine liebenswerte Heimat. Deshalb
werde ich mich mit meinem gesamten Haus auch weiterhin als Anwältin für die ländlichen Räume einsetzen.
Um die ländlichen Räume attraktiv zu machen, müssen die Menschen dort ihren Lebensunterhalt verdienen
können. Ich will, dass möglichst viel Kaufkraft im ländlichen Raum bleibt. Um das zu erreichen, müssen wir die
Weichen dafür stellen, dass die regionalen Wertschöpfungsketten gestärkt werden. Eine gute Infrastruktur
ist heute für alle Lebensbereiche von entscheidender Bedeutung. Das gilt besonders für den ländlichen Raum.
Nicht vorhandene Verkehrs- oder Internetanbindungen
bedeuten weniger Arbeitsplätze, weniger Wertschöpfung
und weniger Entwicklungschancen. Ich will keine überdimensionierten Großprojekte. Ich will lediglich, dass
Menschen, Waren und Dienstleistungen einfach von
A nach B gelangen. Dazu brauchen wir eine entsprechende Infrastruktur.
({6})
Die nachhaltige Entwicklung in den ländlichen Räumen hat nicht zuletzt sehr viel mit Lebensqualität für die
Menschen und insbesondere für die Familien, die dort
leben, zu tun. Lebensqualität ist aber auch eng verbunden mit dem persönlichen Lebensstil. Die älteren Mitbürger unter uns, zum Beispiel auch meine Eltern, wissen, dass die Beschaffung von Nahrungsmitteln nach
dem Zweiten Weltkrieg im Mittelpunkt stand; denn damals war eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung
noch nicht gewährleistet. Dafür zu sorgen, war die
größte Aufgabe der Ernährungspolitik. Sie wurde erfolgreich bewältigt.
Heute herrscht in Europa kein Mangel an Nahrungsmitteln mehr. Im Gegenteil: Viele Menschen leiden leider unter Über- und Fehlernährung und an Krankheiten, die durch einen bewussteren Lebensstil vermieden
werden könnten. Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck schränken die Lebensqualität vieler Menschen ein.
Die Folgen sind Erkrankungen, die Kosten in Milliardenhöhe verursachen. Deshalb wollen wir in Zukunft
den Präventionsgedanken durch gesunde Ernährung
deutlich stärken. Der Wert einer gesunden Ernährung
verbunden mit mehr Bewegung, ist mir ein persönliches
Anliegen. Die Menschen brauchen Informationen, um
selbstbestimmt ihre Entscheidungen treffen zu können.
Wir werden nicht jedem einen Menschen an die Hand
geben können, der dafür sorgt. Die Entscheidung muss
letztendlich im eigenen Kopf stattfinden. Unser Ziel ist
es, weiterhin alles zu tun, damit sich das Ernährungsund Bewegungsverhalten der Menschen dauerhaft verbessert. Das hilft dem Einzelnen, und das hilft letztendlich der Gesellschaft.
Die Politikfelder meines Hauses betreffen in besonderem Maße den Alltag und die Grundbedürfnisse aller
Menschen - heute und auch in Zukunft. Sie erfordern
daher Einsatz, Verantwortung und Augenmaß. Wir wollen Freiheit, Lebensqualität und auch Sicherheit. Dafür
steht meine Politik, dafür steht die Politik der neuen
Bundesregierung und der sie tragenden Koalition.
Vielen herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Waltraud
Wolff das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir können, wir wollen, wir haben die Kraft das haben wir heute den ganzen Tag gehört.
({0})
Aber viel Konkretes aus dem Koalitionsvertrag ist nicht
angesprochen worden.
({1})
Die CSU
- so heißt es in dem Positionspapier „Landwirtschaft in
Bayern“ vom 18. Mai dieses Jahres nimmt die Sorgen und Nöte von Landwirten und
Waldbauern ernst …
({2})
Die Frage ist doch aber: Wird die Agrarpolitik der CSU
und der Landwirtschaftsministerin von den Landwirten
und Waldbauern überhaupt noch ernst genommen? Ich
habe da meine Zweifel.
({3})
Waltraud Wolff ({4})
Ich habe im Übrigen auch meine Zweifel, ob sie von
den Verbraucherinnen und Verbrauchern ernst genommen wird. Denn für die Verbraucherpolitik gilt, dass
der Koalitionsvertrag ein Dokument des Scheiterns ist.
Eines ist Fakt: Sie haben einen grandiosen Fehlstart
hingelegt.
({5})
Ihre Vereinbarungen - das haben wir heute gehört, Frau
Ministerin Aigner - bleiben im Ungefähren. Wenn es
denn endlich einmal etwas Konkretes gibt, dann, so
muss man sagen, sind das Maßnahmen, die sich gegen
die Verbraucherinnen und Verbraucher richten.
({6})
Die Finanzkrise ist noch nicht vorüber. Frau Aigner,
Sie selbst haben eben das Kurzinformationsblatt für
Finanzprodukte angesprochen, das von Ihnen als Erfolg gefeiert wurde. Es ist doch noch nicht einmal klar,
ob es dafür überhaupt eine gesetzliche Regelung gibt.
Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag. Und das soll schon
ein Erfolg sein? Die Verbraucherinnen und Verbraucher
erwarten etwas ganz anderes. Sie erwarten einen FinanzTÜV. Die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten
Verbraucherverbände, die klar und eindeutig mit einer
Marktwächterfunktion ausgestattet sind.
Ihre Verbraucherpolitik ist mutlos und ohne Gestaltungswillen. Ampelkennzeichnung: Fehlanzeige. Ausweitung des Verbraucherinformationsgesetzes - Sie haben es angesprochen -: Dazu ist nichts zu finden.
Verbraucherberatung: vage. Frau Ministerin, das merken
auch die Verbraucherinnen und Verbraucher in der Bundesrepublik Deutschland.
({7})
Bei der Agrarpolitik geht es genauso weiter. Die
Bauern sehen ganz genau, dass Ilse Aigner und Horst
Seehofer keine Gestaltungsmacht haben.
({8})
- Hören Sie zu, Herr Bleser. - Sie erleben, dass vollmundige Versprechungen der CSU einfach nichts wert sind.
({9})
Seit den Landtagswahlen in Bayern haben beide den
Menschen gentechnikfreie Regionen und den Milchbauern ein neues Mengensteuerungssystem versprochen.
({10})
Was steht davon im Koalitionsvertrag? Nichts. Frau
Aigner, Sie haben sich nicht durchgesetzt. Sie lassen
sich die Inhalte Ihrer Politik von CDU und FDP diktieren.
({11})
- Zuhören!
Leider haben Sie - das ist das wirklich Schlimme auch keinen Gestaltungsanspruch. Dem Koalitionsvertrag fehlt jegliche Perspektive für die Landwirtschaft.
Das Einzige, was Sie den Landwirten anbieten können,
ist das von Ihnen eben kurzfristig für zwei Jahre vorgestellte Förderfeuerwerk - so will ich es einmal nennen -,
das Sie auf Pump finanzieren. Wohlgemerkt, für zwei
Jahre! Was kommt danach, was sagen Sie anschließend?
({12})
Agrarpolitik - meine Damen und Herren, das wissen wir
alle hier im Raum - wird vorrangig in der EU gemacht.
Sie, Frau Aigner, haben in Ihrem Koalitionsvertrag mitbeschlossen, dass die Mittel im EU-Haushalt zu Verkehr,
Sicherheit, Bildung und Forschung umgeschichtet werden. Was heißt das auf gut Deutsch? Wir haben weniger
EU-Mittel für die Landwirtschaft. Sie haben dem nichts
entgegengesetzt. Ihr Koalitionsvertrag gibt jedenfalls
keine Antworten darauf. Ich weiß nicht, wie Sie damit
umgehen. Sie werden uns das im Ausschuss demnächst
sicherlich beantworten.
({13})
Frau Aigner, bei Ihrer Amtseinführung haben Sie gesagt, Sie würden Ihre Politik konsequent weiterführen.
Nur zu meinem Verständnis frage ich: Heißt das etwa,
Sie werden die Weichenstellungen der europäischen
Agrarpolitik weiterhin ignorieren? Heißt das auch, Sie
wollen sich weiterhin von der EU-Kommission eine Abfuhr nach der anderen holen, weil Sie als Bundeslandwirtschaftsministerin bayerische Kirchturmpolitik betreiben?
Beispiel Milch: Sie haben eine Politik verfolgt, die in
Europa nicht mehrheitsfähig, nicht durchsetzbar ist. Sie
wissen das. Sie haben eine Politik verfolgt, die Scheinlösungen statt Perspektiven bietet.
({14})
Das Einzige, was Sie damit erreicht haben, ist, dass
wertvolle Zeit verloren gegangen ist. Sie haben nichts,
aber auch gar nichts getan, um hier den Quotenausstieg
zu begleiten. Sie haben die Bauern einfach im Regen stehen gelassen. Dazu sage ich nur eines: Wer von der
bayerischen Landtagswahl bis zur Bundestagswahl nur
auf Sicht fährt, der verliert einfach den Weitblick. Es tut
mir leid, das sagen zu müssen.
({15})
Meine Damen und Herren, gestern hatten wir den Jahrestag „20 Jahre friedliche Revolution in der DDR“. Mir
als Sachsen-Anhalterin ist das sehr wichtig gewesen.
Waltraud Wolff ({16})
Glauben Sie mir: Ich wäre 20 Jahre nach dem Fall der
Mauer im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass ich
in Ihrem Koalitionsvertrag einen Satz finde, der lautet:
Beim Flächenerwerb werden wir die Rechte der
Alteigentümer stärken.
Was soll denn das bedeuten?
({17})
Was wollen Sie mit einer solchen Klientelpolitik eigentlich erreichen? - Frau Präsidentin, ich komme gleich
zum Schluss.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich immer wieder
dafür eingesetzt, dass die Flächen mit langen Pachtverträgen für die landwirtschaftlichen Betriebe zur Verfügung gestellt werden
({18})
- Sie wissen, dass es da keine Rücklagen gibt - und dass
sie beim Verkauf gleichgestellt werden. Sie stellen alles
auf den Kopf und setzen damit die Existenz von landwirtschaftlichen Betrieben im Osten der Republik und
Arbeitsplätze im ländlichen Raum aufs Spiel.
Frau Aigner, ich muss Ihnen sagen: Ihr Koalitionsvertrag ist mehr als dürftig. Kommen Sie endlich von Ihrem
Kirchturm herunter und werden Sie endlich Bundeslandwirtschaftsministerin.
Vielen herzlichen Dank.
({19})
Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Wolff, es tut mir leid, aber ich finde, es ist
ein prima Tag: Ich darf zum ersten Mal in Regierungsverantwortung für meine Fraktion reden, und wir haben
einen super Koalitionsvertrag. Ich glaube, Sie haben ihn
nicht gelesen; anders kann es nicht sein.
({0})
- Sie müssen einfach mal hineingucken. Was Sie eben
zum Flächenerwerbsänderungsgesetz gesagt haben, ist
schlicht falsch. Ich finde, Frau Wolff, Sie sollten einfach
einmal anerkennen, dass wir das prima hingekriegt haben.
({1})
Wir sind in einer schwierigen Situation in weiten Teilen der Landwirtschaft. Wir haben gekämpft. Sie können
jetzt wirklich nicht so tun, als sei es ein CSU-Koalitionsvertrag. Es ist ein zwischen CDU/CSU und FDP abgeschlossener Koalitionsvertrag.
({2})
Wir hatten einen klaren Auftrag. 15 Prozent der Landwirte haben uns gewählt, und wir haben gesagt: Jetzt
kämpfen wir ordentlich für sie. Dann haben wir dem
Rohentwurf dieses Koalitionsvertrages nach meiner Einschätzung liberalen Geist eingehaucht und liberales Blut
in ihn übertragen.
({3})
Jetzt haben wir genau das erreicht, was die Kanzlerin
heute Morgen sagte. Wir haben eine kluge Weichenstellung für das zweite Jahrzehnt in den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgenommen. Wir wollen entschlossen Wachstum schaffen,
damit Arbeitsplätze entstehen, und wir wollen gleichzeitig Eigentum sichern.
({4})
Das sind zwei zentrale Elemente für die Menschen im
ländlichen Raum, für Bäuerinnen und Bauern. Ich
glaube, da sind wir uns einig.
({5})
- Herr Kelber, müssen Sie sich an die neue Rolle erst
noch gewöhnen?
({6})
- Das war doch konkret.
({7})
Frau Aigner, ich wünsche mir, dass Sie auch zukünftig Ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen. Wir werden nicht bestimmte Themen aussparen, sondern wir arbeiten sie ab. Wir versuchen, gute, fachliche Lösungen
auf den Weg zu bringen. Das ist uns insgesamt gelungen.
Wie gesagt: Ihnen muss ein anderer Koalitionsvertrag
vorliegen. In dem Koalitionsvertrag ist ganz klar festgeschrieben, dass wir eine Fülle von nationalen und europäischen Maßnahmen mit globalen Notwendigkeiten in
Einklang bringen.
Es wurden Aspekte der europäischen Ebene angesprochen, zum Beispiel - Frau Aigner hat es erwähnt die Sicherheit, dass die Beträge - Stichwort EU-Direktzahlung - bis 2013 feststehen. Das bringt Planungssicherheit. Ab 2013 wollen wir uns darum bemühen, sowohl eine starke erste als auch eine starke zweite Säule
der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik zu gewährleisten.
({8})
Wir haben klar gesagt, dass wir den Weg von WTO
und Doha mitgehen. Auch wir wollen im Grunde ge110
nommen raus aus der Subventionierung der Landwirtschaft, weg von der Exporterstattung. Dafür stellen wir
die Weichen, zum Beispiel mit einem konkreten Sofortprogramm. Dieses Sofortprogramm hilft genau hier, und
es löst auch zum Teil das ab, was als Forderung früher
im Raum stand. Das wissen Sie ganz genau. Sie haben
vorhin so getan - Sie Schlingel hätte ich fast gesagt -,
als ob Sie für ein Mengensteuerungssystem wären. Das
habe ich noch sehr gut in Erinnerung.
Nein, dieses Sofortprogramm, dieses GrünlandMilchprogramm, hilft den Milchbauern in einer Situation der Veränderung, die wir im Moment haben, die
positive Entwicklung anzuschieben. Das Geld ist vernünftig eingesetzt. Dieses Geld ist nebenbei auch gut bei
der landwirtschaftlichen Unfallversicherung eingesetzt,
liebe Frau Wolff und Kollegen. Das wissen Sie ganz genau. Deswegen könnten Sie an dieser Stelle sagen: Es ist
eigentlich prima, dass es dieses Sofortprogramm gibt. Es
ist gut, dass damit eine klare Antwort auf die Herausforderungen, vor denen die Milchwirtschaft steht, gegeben
wird.
Man kann auch darüber nachdenken, dass dieses Sofortprogramm die bisherigen Forderungen nach einer
Abschaffung der Saldierung - die wir beide auch nicht
wollten - und die flexible Mengensteuerung aus dem
Markt wischt. Ich finde, dass wir ein sehr gutes Ergebnis
erzielt haben. Dieses Ergebnis trägt unserem Leitbild
einer marktorientierten, flächendeckenden Landwirtschaft absolut Rechnung.
({9})
Herr Kelber, werfen Sie einen Blick in den Koalitionsvertrag. Dort werden die Notwendigkeiten der
Welternährung klar angesprochen, es werden die Notwendigkeiten im Hinblick auf die Rücksicht gegenüber
unserem Klima angesprochen. Ihr ist ein großes Kapitel
gewidmet. In diesem Koalitionsvertrag wird den Entwicklungsländern und der Stärkung der Entwicklungsländer nach der Idee der Selbsthilfe Rechnung getragen,
und wir haben uns intensiv mit Ressourcenschonung beschäftigt.
({10})
- Nein, das stimmt überhaupt nicht. Wenn ich zum Beispiel an den Bereich Agrardiesel denke, dann stelle ich
fest, dass die Eins-zu-eins-Umsetzung die Antwort auf
die Forderung nach mehr Bürokratieabbau ist. Das ist
eine Antwort darauf, dass wir den Wettbewerb der deutschen Landwirte auf dem europäischen Markt verbessern wollen.
({11})
Das sind genau die Punkte, die wir nötig haben: nationale Maßnahmen mit europäischen Maßnahmen und
globalen Maßnahmen in Einklang zu bringen.
Das ist ein klar wachstumsorientierter Koalitionsvertrag. Wir sind ja nicht dämlich. Wir haben festgestellt,
dass die Länder, in denen die Ernährungs- und die Landwirtschaft stark sind, besser durch die Krise durchkommen als andere Länder. Deshalb haben wir diesen Aspekt besonders berücksichtigt.
Wir haben im Bereich Bildung Akzente gesetzt. Wir
setzen auf den mündigen Bürger. Wir setzen auf Ernährungsbildung. Wir haben auch beim Thema Zusammenhalt einen Akzent gesetzt. Das ist wichtig und soll man
nicht kleinreden. In unserem Koalitionsvertrag steht,
dass wir im ländlichen Raum die unternehmerische
Landwirtschaft und die bäuerliche Landwirtschaft - ergänzt mit den anderen Herausforderungen im ländlichen
Raum - miteinander in Einklang bringen.
({12})
Wir haben das Thema Tierschutz konkret angesprochen; Sie haben es ja gelesen. Es steht drin: Impfen statt
töten. Es steht auch drin, dass wir weniger Tierversuche
wollen. Wir haben auch das Thema Tiergesundheit konkret angesprochen.
In vielen Fällen haben wir wirklich sehr konkrete Angaben gemacht. Wir haben jetzt vier Jahre lang Gelegenheit, diese konkreten Angaben mit Ihrer Unterstützung
in die Tat umzusetzen.
({13})
Wenn das passiert, freut sich die deutsche Land- und Ernährungswirtschaft. In diesem Sinne: Auf gute Zusammenarbeit! Wir sind für gute Vorschläge jederzeit offen.
({14})
Die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine erste Rede im Deutschen Bundestag habe ich vor
fast genau vier Jahren, am 1. Dezember 2005 in Erwiderung auf die Rede von Horst Seehofer gehalten. Ich habe
meine Rede mit folgendem Satz begonnen:
Unsere ostdeutschen ländlichen Räume drohen zu
verarmen, zu vergreisen und zu verdummen.
({0})
Das Sitzungsprotokoll dokumentiert Widerspruch aus
der CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Dabei war das der Satz eines Regionalplaners und nicht
der Linken. Leider ist dieser Satz heute, vier Jahre später, wahrer denn je. Er kann mittlerweile sogar auf viele
westdeutsche Regionen ausgeweitet werden. Junge,
engagierte Menschen, vor allem junge Frauen, wandern
ab. Eine wesentliche Ursache sind die fehlenden Einkommensperspektiven. 13 000 bis 14 000 Euro verfügbares Jahreseinkommen sind in peripheren Landkreisen
Ostdeutschlands eher die Regel als die Ausnahme. Es
gibt nur wenige Arbeitsplätze und die, die es gibt, werden überwiegend schlecht bezahlt oder sind nur zeitweise verfügbar. Das ist das Ergebnis der Agrarpolitik
der vergangenen Jahre: Armut ohne und trotz Arbeit!
Deshalb brauchen wir Mindestlöhne.
({2})
In der ländlichen Wirtschaft sind sie längst mehrheitsfähig. Die Betriebe müssen und wollen existenzsichernde
Löhne zahlen. Aber sie sagen auch, dass sie das erst
dann können, wenn alle das müssen. Dazu gehört auch,
dass Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter anständig
bezahlt werden, und zwar egal, aus welchem Land sie
kommen.
({3})
Es müssen aber auch viele strukturelle Probleme gelöst werden. Die nicht flächendeckende Breitbandversorgung ist wirklich eine Tragödie. Wir brauchen mehr
dezentral erzeugte und genutzte erneuerbare Energien,
für mehr Klimaschutz und als ökologisch sinnvolle Einkommensquellen. Wir brauchen eine stabile Agrarwirtschaft als tragende Säule in den ländlichen Räumen. Sie
muss sich an regionalen Wirtschaftskreisläufen und
Standortbedingungen orientieren und nicht am hochspekulativen Weltagrarmarkt, der sie eigentlich nur zwingt,
ökologische und soziale Standards zu schleifen und ihr
am Ende das Eigentum nimmt.
({4})
Wir brauchen mehr Arbeitsplätze in der Verarbeitung
und Vermarktung regionaler Produkte. Wir brauchen regionale Absatzförderung statt Exportförderung, und wir
brauchen faire Erzeugerpreise, damit auch die Milchbauern Geld verdienen und nicht nur die Futter- und Düngemittelindustrie, die Großmolkereien und die Lebensmitteldiscounter.
({5})
Die Milchbäuerinnen und Milchbauern haben in den
vergangenen zwei Jahren 30 Prozent ihres Einkommens
verloren. Die Umsatzeinbußen durch sinkende Erzeugerpreise betragen 3 Milliarden Euro. Das Grünland-Milchprogramm, das auf dem Tisch liegt und mit 500 Millionen Euro ausgestattet werden soll, ist vielleicht gut
gemeint, aber der Stein ist so heiß, dass der Tropfen
schon verdampft ist, bevor er aufkommt. Die Milchproduzenten müssen mit den Molkereien am Markt auf Augenhöhe verhandeln können. Sie brauchen eine an die
Nachfrage in Europa angepasste Steuerung der Milchmenge,
({6})
und sie brauchen eine Abkehr vom Weltmarkt, dessen
Dumpingpreise sie nur durch Selbstausbeutung erreichen können.
Das gilt übrigens nicht nur für die Milch. Auch andere
Agrarrohstoffe werden weltweit gehandelt und geraten
damit unter erheblichen Spekulationsdruck. Nur wenige
profitieren davon. Schwarz-Gelb versucht, das ein bisschen zu kompensieren: Senkung der Agrardieselsteuer,
Vorziehen der EU-Förderzahlungen und Erhöhung des
Zuschusses zur Landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Das mag alles richtig sein, aber die Regierung doktert damit nur an den Symptomen herum, anstatt die Ursachen zu bekämpfen.
({7})
Die Agrarforschung muss gestärkt werden, vor allen
Dingen in den Bereichen, die den Betrieben konkret helfen: Klimawandel, Ressourcenschonung, Agrarökonomie - das ist wichtig - sowie Lehre und Ausbildung.
({8})
All das steht nicht wirklich im Koalitionsvertrag,
({9})
dafür aber ein Bekenntnis zur Agrogentechnik. Spuren
nicht zugelassener gentechnisch veränderter Pflanzen
sollen toleriert und die Amflora-Kartoffel möglichst
schnell zugelassen werden. Bei den Regelungen zu den
Sicherheitsabständen um Agrogentechnik-Anbauflächen herum soll Kleinstaaterei eingeführt werden. Das
werden wir nicht hinnehmen.
({10})
Die Linke wird weiterhin mit vielen anderen für die
gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei kämpfen.
Abschließend noch zu einem besonderen Sündenfall,
der die Ost-Inkompetenz der FDP bezeugt: Wer die Besserstellung der Alteigentümer beim Flächenerwerbsänderungsgesetz will, legt nicht nur die Axt an einen
zentralen politischen Konsens des Einigungsvertrages
an, damit werden auch die ohnehin schon scharfen Konflikte um die Privatisierungspraxis der BVVG geschürt,
die die Existenz ostdeutscher Betriebe bedroht.
({11})
Das wäre ein Schlag ins Gesicht für die über
70 000 Bodenreform-Erben, die 1992 nach dem Zweiten
Vermögensrechtsänderungsgesetz entschädigungslos enteignet wurden. Ich kündige hier schon einmal ganz klar
den Widerstand der Linken in diesem Punkt an.
({12})
Die nächste Rednerin ist Ulrike Höfken für
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Frau Ministerin, Ihr Wort in Gottes Ohr, aber
im Koalitionsvertrag steht über viele Ihrer genannten
schönen Beiträge überhaupt nichts. Er wird auch der dramatischen Situation, die wir auf dem Land haben, nicht
gerecht.
({0})
Da hat Herr Goldmann wohl recht: Im Koalitionsvertrag
fließt liberales Blut; das ist eine etwas unheilvolle Doppeldeutigkeit.
({1})
Man sieht: Aus allen Poren dieser Koalitionspolitik
kriecht das Industrieinteresse gegen den Mittelstand,
gegen die Bauern, gegen die Verbraucher, gegen die
Umwelt
({2})
und im Übrigen auch gegen wirtschaftspolitischen Sachverstand.
Die Koalition baut Abwehrzäune gegen Verbraucherinteressen und stützt die Lobbyinteressen der Lebensmittel- und Agrarindustrie. Das ist der schwarz-gelbe Faden.
({3})
Das fängt bei der Ampelkennzeichnung an und hört bei
der Milchpolitik leider immer noch nicht auf.
({4})
Die einfache und verbraucherfreundliche Ampelkennzeichnung wird zugunsten des Industriemodells abgelehnt - das steht da wortwörtlich ({5})
und in Brüssel boykottiert, und zwar gegen die Forderung von Verbraucherverbänden, Ärztevertretern und
übrigens auch gegen die Forderung und Empfehlung des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der eigenen Regierungsberater.
({6})
- Wir können das noch einmal aus dem Koalitionsvertrag vorlesen, falls er der FDP irgendwie unklar geblieben ist.
({7})
Die angebliche Verbesserung der Ernährung an
Kindergärten und Schulen und der Großeinsatz von
Schulmilch - Frau Aigner, Sie haben dies versprochen verpuffen als Prüfaufträge. 2 Milliarden Euro für die
Herdprämie landen nicht dort, wo sie zur Bekämpfung
von Fehlernährung und Armut dringend notwendig wären,
({8})
nämlich im Kochtopf in Form von gesundem Schul- und
Kita-Essen für alle Kinder und Jugendlichen. Völlig unglaubwürdig wird das angebliche Engagement für Kinder auch, wenn auf den Leistungen der Kita- und Schulverpflegung der hohe Mehrwertsteuersatz bleibt. Kinder
von Hartz-IV-Empfängern gehen bei der Kindergelderhöhung leer aus, aber die Klientel der Hotellerie bekommt Steuergeschenke.
({9})
Das ist wahrscheinlich die Versinnbildlichung des christlichen Menschenbildes und der christlichen Politik.
Eine Telefonhotline soll eingerichtet werden. Das ist
übrigens auch ein alter Hut, passt aber, weil das Verbraucherinformationsgesetz sozusagen eine Gesetz gewordene Warteschleife ist. Da wünsche ich viel Vergnügen. Übrigens sind die FDP-Wahlversprechen auch an
diesem Punkt, dem Verbraucherinformationsgesetz, obsolet.
({10})
Nun zur Qualitätsoffensive Verbraucherfinanzen.
Die Finanzaufsicht hat doch gar keine Kernkompetenzen
im Bereich Verbraucherschutz erhalten. Es fehlen konkrete Aussagen, wie eine verschärfte Haftung für Falschberatung umgesetzt werden soll. Vergeblich sucht man
auch nach einer Abkehr vom provisionsabhängigen Beratungssystem. Die Kanzlerin hat heute Morgen gesagt:
Es soll keine Finanzkrise mehr geben. Aber das spiegelt
sich im Konkreten nun wirklich nicht wider.
({11})
Es gibt auch keine Einrichtung einer unabhängigen
Instanz als Marktwächter im Sinne der Verbraucher, wie
es die Grünen immer gefordert haben. Die Koalition will
den mündigen Verbraucher, die entsprechenden Instrumente werden ihm aber letztlich vorenthalten.
In der Landwirtschaftspolitik droht Schwarz-Gelb mit
der Änderung des Landwirtschaftsgesetzes. Wahrscheinlich wird die industrielle Agrarproduktion zum neuen
Leitbild; am Beispiel Milch kann man das ablesen. Die
neue Regierung setzt auf die alten EU-Konzepte zum
Auslaufen der Mengenregulierung, Überschusserzeugung und Weltmarktfixierung und verschwendet zum
Beispiel durch die mit den Exportsubventionen einhergehende Zerstörung der bäuerlichen Landwirtschaft Millionen an Steuergeldern.
({12})
Jetzt zu einem O-Ton der Industrie. Karl-Heinz Engel,
der Chef des Milchindustrie-Verbandes, äußerte sich wie
folgt: Die Milchquote werde trotz Protesten 2015 auslaufen, das sei eine langfristige politische Entscheidung,
schließlich wolle die EU auch Autos verkaufen und Maschinen, und dafür müssten die Handelsbeschränkungen
in der Landwirtschaft fallen.
Der wirtschaftliche Sachverstand allerdings schlägt
sich viel stärker im Sonderbericht des Europäischen
Rechnungshofes zum Milchmarkt nieder. Darin wird der
Ansicht, dass die EU in der Butter- und Milchpulverproduktion international wettbewerbsfähig werden könne,
eine ganz klare Absage erteilt. Außerdem heißt es, die
EU solle im Rahmen ihrer Milchpolitik vorrangig auf die
Bedarfsdeckung des europäischen Binnenmarktes setzen. Daran wird ganz klar: Das Signal des Europäischen
Rechnungshofes geht in Richtung einer flexiblen Mengenregulierung. Aber genau dies machen Sie nicht.
({13})
Das ist etwas, das wir weiterhin ablehnen werden.
Im Übrigen hat die CSU auch ihr Wahlversprechen,
die nationalen Möglichkeiten zur Mengenregulierung im
Koalitionsvertrag festzuschreiben, gebrochen. Da hilft
auch ein Grünland-Milchprogramm nicht, das mit einer
Laufzeitbegrenzung von nur zwei Jahren zur Wirkungslosigkeit verdammt ist.
({14})
Die Handschrift der Industrie trägt der Koalitionsvertrag insbesondere im Bereich der Gentechnik; das ist
von meinen Kolleginnen und Kollegen schon gesagt
worden. Die Koalition zielt auf die Senkung des Schutzniveaus und die Praxiseinführung gentechnisch veränderter Produkte ab. Die Nulltoleranz soll ausgehöhlt
werden.
({15})
Ungenehmigte gentechnische Verunreinigungen sollen
in Lebens- und Futtermitteln angewendet werden können, in Umgehung des nationalen und des EU-Rechts.
Das Allerschärfste ist, dass sich die Regierung hierbei
zum verlängerten Arm der Futtermittelindustrie und des
Bauernverbandes macht, der Panikmache betreibt und
von einem Futtermittelnotstand spricht. Die Regierung
allerdings hat auf meine Anfragen geantwortet, dass es
überhaupt keine Produkte aus Brasilien und Argentinien
- dort bekommen wir die Futtermittel her - gab, die
diese Verunreinigung aufgewiesen haben.
({16})
Das Absurdeste ist, dass die Koalition unlauteren
Wettbewerb betreibt. Selbst im Koalitionsvertrag wird
im Hinblick auf die BASF-Kartoffel Amflora Product
Placement betrieben. Es gibt zwei Produkte, die konventionell und technologisch ausgereifter sind, im Wettbewerb aber deutlich benachteiligt werden. Hinzu kommt,
dass diese Sorte noch nicht einmal eine EU-Zulassung
hat, aber im Anbau unterstützt werden soll. Auch das
verstößt gegen geltendes Recht.
({17})
Das ist keine Politik, die man dulden kann.
Was die Gentechnikforschung angeht, wird - wen
wundert es? - der Bioökonomierat, ein Rat, der mit Millionen öffentlicher Gelder für sich selbst Lobbyarbeit betreibt, im Koalitionsvertrag auch noch zur Institution geadelt, zum Maßstab der Wissenschaft und politischer
Entscheidungen erklärt. Daran sieht man - Nachtigall,
ick hör’ dir trapsen -, wohin das Ganze läuft. Das ist
eine Politik, die mit Sicherheit auf den entschiedenen
Widerstand der Grünen und der Menschen in dieser Gesellschaft stoßen wird. Damit werden Sie so nicht durchkommen.
({18})
Ich freue mich auf eine konstruktive, aber auch von
Widerstand geprägte Zusammenarbeit.
Danke.
({19})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Abgeordnete
Peter Bleser.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe
meinen Bleistift mehrfach nachgespitzt, um mir bemerkenswerte Äußerungen der Opposition zu notieren; aber
es war nicht notwendig. Das ist aber auch kein Wunder;
denn wenn einer kein Ziel hat, kann er auch nicht den
richtigen Weg finden, und ein Ziel ist bei den Äußerungen der Opposition bisher nicht erkennbar gewesen.
({0})
Wir haben vier klare Ziele: Erstens: Wir wollen die
Ernährung unserer Bürger mit gesunden, hochwertigen
und vielfältigen Lebensmitteln sicherstellen. Zweitens:
Wir wollen einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz und zu einer nachhaltigen Rohstoffpolitik leisten.
Drittens: Wir wollen dabei die hohen Anforderungen des
Tier- und Umweltschutzes nicht nur erfüllen, sondern
möglichst noch steigern.
({1})
Viertens. Wir wollen die Verbraucher in einem globalisierten und zunehmend digitalisierten Markt nicht nur
schützen, sondern ihre Marktmacht stärken. Das gelingt
natürlich nur, wenn wir in der Lage sind, unserer Landund Ernährungswirtschaft, der Agrarbranche, eine Zukunftsperspektive zu geben.
Diese Ziele zu formulieren, das hätte die Opposition
sicherlich auch geschafft; aber dann auch die notwendigen Entscheidungen zu treffen, das ist schwierig. Wir haben zunächst einmal die grundsätzliche Richtung vorzugeben. Dabei stellt sich die Frage: Wollen wir unsere
Ziele mit einer dirigistischen Politik - durch Bevormundung und Abschottung - erreichen, oder wollen wir uns
klar in Richtung Wettbewerb auf europäischen und globalen Märkten orientieren?
({2})
Das Letztere ist für uns der richtige Weg.
Wir machen allerdings eine multifunktionale und flächendeckende Landwirtschaft in Europa zur Bedingung
für das Erreichen dieser Ziele. Ich kann das auch kürzer
fassen: Auch in der Landwirtschaft gilt das Prinzip der
sozialen Marktwirtschaft, und das wollen wir verfolgen.
({3})
Wer von diesem Gedankengebäude ausgeht, der irrt auch
nicht bei der Beurteilung und beim Entwurf von Vorschlägen für die Lösung aktueller wie zukünftiger Probleme, die sicherlich noch auf uns zukommen. Da,
meine Damen und Herren, unterscheidet sich die heutige
Koalition erheblich von der vorigen Koalition. Zur Legitimation dieser Aussage brauche ich nur auf die Veränderungen hier im Saal zu verweisen: Hier hat der Wähler
uns im Wesentlichen zugestimmt.
({4})
Neben dieser Richtungsorientierung brauchen wir natürlich eine Analyse der gegenwärtigen Lage. Wir
müssen feststellen, dass wir uns in einer schweren Finanz- und Wirtschaftskrise befinden, die auch die Agrarwirtschaft hart getroffen hat. Die Einbrüche bei den Erzeugerpreisen betragen bis zu 70 Prozent. Das trifft nicht
nur die Milch - die Milch aber besonders -, sondern
auch andere Produkte wie Getreide sowie Obst und Gemüse.
({5})
Das hat natürlich direkte Konsequenzen für die Entwicklung der Einkommen der Familien, die von Landwirtschaft leben. Ihr Einkommen ist eingebrochen. Im
Konjunkturbarometer Agrar des Deutschen Bauernverbandes ist das offensichtlich geworden: Die Investitionsbereitschaft hat sich von einem Wert, der noch 2007
bei 38 Punkten lag, auf jetzt -0,2 Punkte reduziert.
({6})
Mittelfristig und auf zwei bis drei Jahre gesehen sind die
gleichen Befragten allerdings zu dem Ergebnis gekommen, dass man bei 2 bis 3 Punkten wieder an eine Zukunft glauben kann.
({7})
Die Werte, die wir heute haben, sind dramatisch. 2004
ist das Konjunkturbarometer jedoch auf -15 Punkte gefallen. Die Perspektive der deutschen Landwirtschaft ist
heute also trotz Finanz- und Wirtschaftskrise wesentlich
besser als zur Zeit Ihrer Regierung, verehrte Frau
Künast. Das ist der entscheidende Unterschied.
Wir haben uns für die Zukunftsorientierung in der von
mir geschilderten Weise entschieden, weil sich die Eckdaten nicht verändert haben: Die Bevölkerung der Erde
wächst jährlich um 80 Millionen Menschen; das entspricht der Zahl der Einwohner Deutschlands. Die Verzehrgewohnheiten der Menschen in den Schwellenländern - in denen Milliarden Menschen leben - verändern
sich hin zu mehr Fleischprodukten. Daneben gibt es die
Notwendigkeit, die Rohstoffgrundlage der chemischen
Industrie zu verändern und für eine pflanzliche Basis zu
sorgen, weil das Mineralölzeitalter 2050 zu Ende sein
wird. Wir werden die Erreichung unserer Klimaziele und
die Energieversorgung ohne die nachwachsenden Rohstoffe niemals sicherstellen können. Das bedeutet, dass
wir gewaltige Herausforderungen vor uns haben, weil
wir langfristig mehr agrarische Rohstoffe von hoher und
höchster Qualität brauchen.
Jetzt kommt der entscheidende Satz, den auch die Ministerin richtigerweise hier gesagt hat: Das wird nur gelingen, wenn wir nachhaltig produzieren. Kein Landwirt
- niemand - kann ein Interesse daran haben, die Fruchtbarkeit seiner Böden zu schädigen oder die Nachhaltigkeit der Produktion zu gefährden. Damit würde er
seine Existenz zerstören.
({8})
Deswegen ist das für uns ein Credo, das natürlich nicht
zur Disposition gestellt werden kann.
({9})
- Herr Kelber, das ist ja nicht wahr. Sie haben nicht den
Blick auf die Praxis, den ich aufgrund langjähriger Tätigkeit haben kann.
({10})
Diese Ziele werden natürlich nur erreicht werden
können, indem wir auf modernste Technologien bei der
Tierhaltung, bei der Pflanzenzucht und auch bei der Lebensmittelproduktion setzen. Hier haben wir in Deutschland einiges vorzuweisen. Wir sind in vielen Bereichen
führend, und wir haben klimatisch gute Voraussetzungen. Damit müsste es gelingen, diese Branche auch in
Zukunft nicht nur zu erhalten, sondern auch weiterzuentwickeln.
Ich bin deswegen der Meinung, dass die deutsche
Agrarwirtschaft nach wie vor eine wichtige Säule der
deutschen Volkswirtschaft ist. Deswegen bin ich der festen Überzeugung, dass wir eine Hightechbranche sind,
die, wenn wir es richtig anstellen, auch in Zukunft für
mehr als 4 Millionen Menschen Arbeit schaffen kann.
Das muss unser Ziel sein.
({11})
Meine Damen und Herren, all diese Gedanken sind in
unserem Wahlprogramm zu finden. Sie sind in die Koalitionsverhandlungen eingebracht worden.
({12})
- Sie sind auch so wieder herausgekommen. Das ist ganz
entscheidend.
({13})
Ich freue mich, dass wir hier in wesentlichen Punkten
sehr schnell einen Konsens finden konnten.
({14})
Meine Damen und Herren, neben dieser Orientierung
auf die Wettbewerbsfähigkeit haben wir natürlich auch
gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen: beim Tierschutz, beim Erhalt der flächendeckenden Landwirtschaft, beim Erhalt von gepflegten Kulturlandschaften
und hinsichtlich eines umfassenden Naturschutzes. Das
geht nur, wenn wir bereit sind, diese Sonderleistungen
auch mit staatlichen Mitteln zu stützen und überhaupt erst
möglich zu machen.
Deswegen brauchen wir - ich freue mich, dass die Ministerin diesbezüglich in einer sehr kompetenten und entschiedenen Art auf der Brüsseler Ebene unterwegs ist auch nach 2013 eine starke, finanziell gut ausgestaltete
erste Säule. Sonst werden wir diese Zusatzleistungen, die
unsere Gesellschaft will, nicht anbieten können; denn im
Wettbewerb sind diese nicht zu erreichen.
({15})
Was heißt das jetzt konkret? Ich will das an einem
Beispiel festmachen, weil das schon wichtig ist und die
öffentliche Wahrnehmung in den letzten Monaten entsprechend war.
In der Milchpolitik heißt das, dass wir der Versuchung
nicht unterlegen sind, auf eine veraltete, erfolglose staatliche Mengenpolitik zurückzuverfallen. Wir haben uns
dazu durchgerungen, hier auf die langfristige Perspektive
zu setzen, und wir haben das getan, was jeder Handwerksmeister und jeder Familienvater oder jede Familienmutter
in einer solchen Krise auch tut: Wenn man eine Perspektive hat, dann muss man zur Überwindung einer Kalamität, die hoffentlich sehr kurz sein wird, auch einmal an die
Reserven gehen.
Deswegen ist es ein wahnsinniger Erfolg - das ist gemeinsam mit der FDP gelungen -, dieses Stützungsprogramm für die deutsche Landwirtschaft in einer Größenordnung von, wenn man alles zusammenaddiert, fast
1 Milliarde Euro auf den Weg zu bringen. Das ist ein
Hilfsangebot an die deutschen Landwirte, das es in der
Geschichte dieses Landes so noch nicht gegeben hat.
Deswegen bin ich sehr stolz darauf.
({16})
Das wird in den nächsten Monaten über die Hilfen für
Milcherzeuger, die landwirtschaftliche Unfallversicherung, die Verlängerung des Liquiditätsprogramms und
auch die Agrardieselverbilligung umgesetzt werden.
Ich muss leider zum Schluss kommen.
({17})
- Ich hätte Ihnen gerne noch einige Passagen meines
Wissens vermittelt, aber die Konzentration auf das Notwendige zwingt mich jetzt, nur auf einige Dinge einzugehen.
({18})
Ich möchte herzlich an die verfeindeten Gruppen innerhalb der deutschen Milchwirtschaft appellieren: Nehmen Sie dieses Hilfsangebot auch zum Anlass, wieder
aufeinander zuzugehen. Wir alle haben das gleiche Ziel:
eine Verbesserung der Einkommenssituation. Ich meine,
es ist notwendig, dass sich der Berufsstand wieder vereinigt; denn ihm gehören nicht mehr viele an. Die Milchbauern sollten versuchen, mit einer Stimme zu sprechen.
Damit schaffen sie Verständnis in Gesellschaft und Politik.
({19})
Herr Kollege Bleser, das war jetzt schon sehr ausführlich.
Frau Präsidentin, in Anbetracht Ihres Wunsches
komme ich zum Schluss. Deswegen sage ich nur:
({0})
Unser Drehbuch ist gut, unser Personal ist gut, unsere
Politik wird, wenn sie umgesetzt werden kann - da bin
ich sehr zuversichtlich -, ebenfalls gut.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß spricht für die
SPD-Fraktion.
({0})
Ja, ich bemühe mich. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verbraucherinnen und Verbraucher müssen sich jetzt warm anziehen,
({0})
nicht nur wegen des kalten Winterwetters, sondern wegen der verbraucherpolitischen Kaltfront, die sich im
schwarz-gelben Koalitionsvertrag ankündigt.
({1})
Im Koalitionsvertrag heißt es:
Unser Leitbild ist der gut informierte und zu selbstbestimmtem Handeln befähigte und mündige Verbraucher.
Die Voraussetzung für selbstbestimmtes Handeln ist und
bleibt aber mehr Markttransparenz, und zwar bei Produkten und Dienstleistungen.
({2})
- Eben nicht. - Spätestens in der Krise sollten wir gelernt haben, dass man sich nicht darauf verlassen kann,
dass die Wirtschaft selbst freiwillig für Markttransparenz sorgt; wir kennen das. Dafür muss die Politik sorgen; sie muss die Unternehmen in die Pflicht nehmen.
({3})
Der Markt ohne Grenzen und Regeln frisst am Ende
seine eigenen Kinder.
Mit diesem Satz hat es Frank-Walter Steinmeier auf den
Punkt gebracht. Angesichts des sehr ungleichen Machtverhältnisses zwischen Wirtschaft und Verbrauchern
brauchen wir Regeln und Grenzen. Genau das wollen
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Markttransparenz und mehr Marktmacht für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
({4})
Werte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
von Ihnen wird die Wirtschaft aber nicht in die Verantwortung genommen; Verbraucherinnen und Verbraucher
sind auf sich selbst gestellt.
({5})
Ein paar Beispiele aus dem Koalitionsvertrag machen
das deutlich.
Im Kampf gegen ernährungsbedingte Krankheiten
kann eine geeignete Nährwertkennzeichnung eine
wichtige Hilfe bei der Zusammenstellung einer ausgewogenen Ernährung sein. Wider besseres Wissen setzt
die schwarz-gelbe Koalition auf das von der Lebensmittelindustrie entwickelte GDA-Modell. Dieses Modell ist
intransparent und verschleiert den wahren Gehalt an unausgewogenen Inhaltsstoffen.
({6})
70 Prozent der Verbraucher wollen die Nährwertampel. Angesichts der starken Zunahme von ernährungsbedingten Krankheiten wird die Ampel auch von den Krankenkassen unterstützt. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung, DIW, unterstützt die Ampel als
schnell erfassbare und alltagstaugliche Entscheidungshilfe.
({7})
Anstatt sich aber im Interesse der Gesundheit auf die
Seite der Verbraucher zu stellen, macht sich SchwarzGelb zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft und verweigert klare und vergleichbare Informationen.
({8})
Weitere Beispiele. Laut Koalitionsvertrag sollen die
Ergebnisse der Lebensmittelkontrolle erst bei wiederholtem Verstoß veröffentlicht werden.
({9})
Schwarze Schafe in der Industrie und in der Gastronomie bekämpft man aber nicht durch die Einräumung von
Freischüssen, sondern durch direkte und wirkungsvolle
Maßnahmen. Die Ergebnisse der staatlichen Kontrollstellen sollten grundsätzlich für Verbraucher zugänglich
sein.
({10})
Verpflichtende Maßnahmen zur Steigerung der Transparenz - wie die von der SPD geforderte Veröffentlichung der Ergebnisse von Kontrollen im Gastronomiebereich zum Beispiel in Form von Smiley-Symbolen sind bei Ihnen überhaupt nicht vorgesehen. So viel zum
Thema Wahrheit und Klarheit.
Beim Verbraucherinformationsgesetz ist von der
im FDP-Wahlprogramm enthaltenen Forderung nach einer Ausdehnung auf alle Produkte und Dienstleistungen
nichts übriggeblieben. Von der wichtigsten Maßnahme,
einer Auskunftspflicht der Unternehmen gegenüber den
Verbrauchern, sind wir mit dieser Koalition meilenweit
entfernt.
Intransparenz und Ignoranz gegenüber Interessen und
klaren Willensbekundungen der Verbraucher - das ist
das Programm der Koalition, zum Beispiel bei der Gentechnik; das haben wir heute schon mehrfach gehört.
80 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen gentechnisch veränderte Pflanzen auf dem Feld und
im Essen ab.
({11})
Das interessiert die Koalition nicht. Sie will ungenauere
Nachweismethoden vorschreiben und damit im nationalen Alleingang die EU-weit geltende Nulltoleranz für
nicht zugelassene gentechnisch veränderte Konstrukte
unterlaufen.
({12})
Nach der Formulierung im Koalitionsvertrag wäre dies
nicht nur bei Futtermitteln möglich, sondern auch beim
Saatgut und bei Lebensmitteln. Damit würde einer
schleichenden Verunreinigung von Lebensmitteln Tür
und Tor geöffnet.
Ich höre gar nichts mehr.
({13})
Das ist ein Kniefall vor der Gentechniklobby und ein
Schlag ins Gesicht der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Eine völlig unsinnige Regelung ist die Zuständigkeit
der Länder für die Abstandsregelungen. Im Auskreuzungsverhalten unterscheiden gentechnisch veränderte
Pflanzen nämlich nicht nach Bundesländern. Hier zeigt
sich eindeutig die Doppelmoral der CSU:
({14})
Statt sich für bundesweite Mindestabstände einzusetzen,
die zuverlässigen Schutz gegen Auskreuzungen bieten,
wird hier wieder nach dem Motto verfahren: Gentechnik
ja, nur nicht in Bayern.
({15})
Von der Unterstützung der gentechnikfreien Regionen
und ihrer rechtlichen Absicherung, für die sich die CSU
im Wahlkampf noch lauthals einsetzen wollte, ist übrigens keine Rede mehr.
Mager sind auch die Vorhaben beim Anlegerschutz.
Weder die Einrichtung eines Marktwächters für Finanzdienstleistungen bei den Verbraucherzentralen noch eine
verbesserte Rechtsdurchsetzung durch Abmahnungen,
AGB-Kontrolle oder Unterlassungsklagen - zum Beispiel im Bereich Datenschutz - sind geplant. Mutlos und
ideenlos bleibt Schwarz-Gelb weit hinter dem zurück,
was aktuell notwendig wäre, um Verbraucherrechte
wirklich zu stärken.
Eine Krise kann immer auch eine Chance sein, wenn
man daraus lernt. Der Koalitionsvertrag zeigt jedoch,
dass hier keine Lehren gezogen wurden. Aber keine
Sorge: Wir werden Sie zum Lernen tragen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan hat das
Wort für die FDP-Fraktion für den Fall, dass Herr
Goldmann sie lässt.
({0})
- Aber jetzt redet Ihre Kollegin.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin, vielen Dank für die
nette Unterstützung. - Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, heute hier bei Ihnen sprechen zu können.
Wenn ich mir die Voten aus der Opposition anhöre, habe
ich den Eindruck, dass der Koalitionsvertrag ziemlich
gelungen ist. Denn sonst hätten Sie nicht derartige
Schwierigkeiten, uns irgendwie am Zeug zu flicken.
({0})
Wenn uns dann noch die Rednerin der Linken erzählt,
dass ein 500-Millionen-Euro-Grünlandprogramm ein
Tropfen auf den heißen Stein sei, dann habe ich den Eindruck, sie hat irgendwo einen Golddukatenesel im Garten stehen. Denn 500 Millionen Euro sind eine Menge
Geld für unsere Grünlandgebiete. Ich glaube, es ist eine
gute Botschaft an den ländlichen Raum, dass wir unseren Milchbauern in dieser Weise unter die Arme greifen.
({1})
- Zwischenrufe zeigen: Ich bin auf den Punkt gekommen.
Unmögliches erledigen wir sofort. Wunder brauchen
etwas länger. Liebe Kollegin Höfken, selbstverständlich
kann in einem Koalitionsvertrag nicht der Gesetzentwurf
bereits drinstehen. Das war bei Ihnen nicht der Fall, und
wir haben das auch nicht gemacht. Wir werden ihn gemeinsam nach den Maximen erarbeiten, die wir in diesem Koalitionsvertrag aufgeschrieben haben.
Mein Kollege Goldmann hat zu Recht gesagt: Da sind
drei Parteien zusammengekommen, und wir können am
Ende feststellen, dass wir doch eine ganze Menge liberales Profil hineinbekommen haben. Das ist gut für die
Landwirtschaft in Deutschland. Das ist gut für die Menschen in Deutschland. Das ist gut für die ländlichen
Räume in Deutschland.
({2})
Der Koalitionsvertrag ist mit Lob bedacht worden. Es
gab auch Tadel.
({3})
Das war bei eurem Vertrag auch nicht anders. Aber das
ist doch ein Indiz dafür, dass dieser Koalitionsvertrag genau in der Mitte der Gesellschaft steht. Es gab Lob; es
gab Tadel. Wir stehen in der Mitte der Gesellschaft. Da
gehören wir hin, und für die Menschen in der Mitte der
Gesellschaft wollen wir Politik machen.
({4})
Die Frau Bundeskanzlerin hat heute Morgen von Herausforderungen gesprochen; das ist richtig.
({5})
Wir haben eine Menge Herausforderungen zu bewältigen. Die Vorsitzende der FDP-Fraktion, Birgit
Homburger, hat gesagt: Wir brauchen eine Aufbruchstimmung. - Das stimmt. In der jetzigen Krise, in der Finanz- und Wirtschaftskrise, brauchen wir eine Aufbruchstimmung. Die Opposition hat keinerlei Ansätze, aus
denen hervorgeht, wie sie eine Aufbruchstimmung hervorrufen und was sie besser machen will.
({6})
Ich habe schlicht und ergreifend nichts bemerkt.
({7})
Wir wissen genau: Wir werden aus dieser Krise nur herauskommen, wenn es mehr Wachstum gibt. Das bedeutet, dass wir uns einer innovativen Politik zuwenden
müssen. Hier hat Rot-Grün nicht gerade gute Karten.
Wir brauchen mehr Innovationen im Bereich des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Wir, die FDP, haben eine
möglichst rasche Novellierung angestrebt, während die
CDU/CSU nicht ganz so weit war.
({8})
Mit dem Termin 1. Januar 2012 haben wir einen Kompromiss gefunden, der weder unseren noch euren Vorstellungen, liebe Kollegen von der CDU/CSU, ganz entspricht. Aber, Kollege Schirmbeck, ich freue mich, dass
du hier bist und bemerkt hast, dass wir zusammen regieren.
({9})
Wir werden etwas Gutes auf den Weg bringen.
Stimmt’s? Machen wir das? - Genau so machen wir das.
({10})
Wir wollen das Erneuerbare-Energien-Gesetz novellieren, auch weil es eine Menge Fehlsteuerungen beinhaltet. So stellt es unter anderem geradezu eine Einladung an diejenigen dar, die Maismonokulturen betreiben
wollen. Im vergangenen Jahr wurde Mais auf 2 Millionen Hektar in Deutschland angebaut. Davon wurde allein auf 400 000 Hektar Mais für Biogasanlagen angebaut. Wir wissen, dass es gerade Milchbauern enorme
Schwierigkeiten bereitet, genügend Flächen zu bekommen. Deswegen müssen wir dieses Gesetz dringend ändern.
({11})
Wir brauchen im Bereich der Pflanzenzüchtung eine
Hinwendung zur Gentechnik. Es ist überfällig, dass wir
uns in einem Zeitalter, in dem gentechnisch veränderte
Pflanzen auf 125 Millionen Hektar weltweit angebaut
werden, dieser Technologie vorurteilsfrei nähern. Ich
finde es ziemlich schlimm, dass Wissenschaftler der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften feststellen, dass Schwarz-Rot eine inkonsistente
Gentechnikpolitik betrieben hat. Dies wollen wir ändern.
Wir wollen eine konsistente Politik und eine Hinwendung hin zu mehr Wissenschaftlichkeit; denn nur durch
eine solche Hinwendung können wir rationale Entscheidungen zugunsten der Bürgerinnen und Bürger in diesem Land treffen.
({12})
Wir wissen, dass man im Bereich der Welternährung
nicht ohne eine solche Züchtungsmethode auskommt.
Dies ist uns sogar vom UN-Kommissar für die Bekämpfung der Wüstenbildung im Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz gesagt worden.
Er setzt darauf, dass eine zweite grüne Revolution in
Gang gesetzt wird. Das wollen wir. Dabei wollen wir die
Menschen mitnehmen.
({13})
Wir sollten uns demokratietheoretisch fragen: Ist es
wirklich richtig, dass in Deutschland eine Bevölkerungsumfrage über jedes Produkt durchgeführt wird, das neu
eingeführt werden soll? Die Mehrheitsmeinung kann
doch kein Kriterium bei der Zulassung sein. Nicht weil
80 Prozent etwas wollen, werden wir es zulassen. Vielmehr wird ein Produkt zugelassen, wenn es den Regeln
entspricht, die wir im Deutschen Bundestag aufgestellt
haben.
({14})
Erinnert euch bitte daran: Porsche hat in Deutschland einen Marktanteil von 0,4 Prozent. Wollen wir deswegen
diese Automarke verbieten, bloß weil 90 Prozent diese
Automarke nicht fahren? Das kann es doch nicht sein.
Das ist das falsche Kriterium.
Wir haben zudem viel Gutes zum Bundeswaldgesetz
festgeschrieben. Wir wollen das Gesetz novellieren, genauso wie Linke und Grüne zuvor. Wir wollen Agroforstsysteme ermöglichen und Möglichkeiten für Aquakulturen schaffen. Wir wollen den Fischartenschutz
durch ein Kormoranmanagement voranbringen. Wir
wollen Politik für ganz Deutschland, für Norddeutschland - von dort komme ich -, für Süddeutschland und
für Ostdeutschland, betreiben. Wir wollen Politik für die
Menschen in Deutschland machen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Caren Lay hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es hätte wahrlich genügend Anlässe gegeben,
die Verbraucherpolitik aufzuwerten: sinkendes Verbrauchervertrauen in der Finanz- und Wirtschaftskrise, Abzocke und aggressive Geschäftspraktiken im Internet,
der Handel mit Adressen, Globalisierung und neue, intransparente Märkte sowie steigende Energiepreise, um
nur einiges zu nennen.
Hinter diesen Anforderungen bleibt die im Koalitionsvertrag skizzierte schwarz-gelbe Verbraucherpolitik
um Lichtjahre zurück.
({0})
Es beginnt mit einem unzureichenden, falschen Ressortzuschnitt. Ministerin Aigner ist es nicht gelungen, sich
neue Kompetenzen an Land zu ziehen. Noch immer gibt
es verbraucherpolitische Kompetenzen, die in anderen
Ressorts angesiedelt sind, statt dass sie in einem, wirkungsmächtigen Verbraucherministerium gebündelt werden. Das wird der Querschnittsaufgabe Verbraucherpolitik nicht gerecht.
({1})
Auch vom Koalitionsvertrag - das ist schon mehrfach
erwähnt worden - haben Verbraucherinnen und Verbraucher wenig zu erwarten. Vage Andeutungen und halbherzige Vorhaben - darüber geht er im Wesentlichen nicht
hinaus.
Mit dem Mantra vom mündigen Verbraucher wälzt
die Bundesregierung ihre verbraucherpolitische Verantwortung auf Bürgerinnen und Bürger ab.
({2})
Selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
hält dieses Leitbild inzwischen für veraltet. Verunsicherung und Überforderung der Verbraucherinnen und Verbraucher sind an der Tagesordnung. Deshalb brauchen
wir in der Tat an einigen Stellen ein Mehr an staatlicher
Regulierung,
({3})
und auch der Wissenschaftliche Beirat des BMF teilt inzwischen diese Position.
({4})
Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Das wollen wir nicht,
weil wir Verbraucherinnen und Verbraucher bevormunden wollen, sondern weil wir den Glauben an die Selbstregulierung der Märkte schlichtweg für naiv halten.
({5})
Sie, Herr Kollege von der FDP, haben - das freut
mich - Offenheit gegenüber guten Vorschlägen signalisiert. Wir als Linke haben welche zu bieten. Für uns hat
die Stärkung der Verbraucherrechte oberste Priorität.
Das VIG ist eine lahme Ente - das ist mehrfach erwähnt
worden - und hat den Praxistest nicht bestanden. Es
muss endlich auf alle Produkte und Dienstleistungen
ausgeweitet werden. Auskunftsansprüche müssen sich
auch auf Unternehmen beziehen, und Auskünfte müssen
für die Verbraucher vor allen Dingen kostenlos sein.
({6})
Wir brauchen auch eine stabile Finanzierung der Verbraucherzentralen und einen Ausbau ihrer Beratungstätigkeit. Der vzbv hat ausgerechnet: Mit der bisherigen
Beratungsstruktur würde es 30 Jahre dauern, bis jeder
Haushalt wenigstens einmal beraten werden könnte.
Hier verspricht der Koalitionsvertrag, Konzepte zu entwickeln. Das verspricht man schon seit vielen Jahren.
Wir wollen diese Konzepte endlich sehen; denn sonst
kommt die Hilfe für die Betroffenen zu spät. Eine Lehre
aus der Krise - das dürfte Konsens sein - ist ein besserer
Anlegerschutz. Leider sind auch hier die Pläne lückenhaft. Was fehlt, ist die Beweislastumkehr beim Schadensersatz und vor allen Dingen auch der Schutz der
Kreditnehmer. Er fehlt fast gänzlich im Koalitionsvertrag.
({7})
Es ist endlich an der Zeit, Verbraucherpolitik auch aus
der Perspektive der unteren Einkommensschichten zu
betreiben. Andere Dinge fehlen gänzlich: Das Marktwächtersystem und die Ampelkennzeichnung werden
nicht kommen, obwohl wir diese wie auch die SmileyKennzeichnung im Gastronomiebereich brauchen würden. Wir brauchen eine bundesweit koordinierte Lebensmittelkontrolle, und es wäre auch schön gewesen, wenn
der digitale Verbraucherschutz überhaupt erst einmal als
Themenfeld benannt worden wäre.
({8})
Es ist dringend an der Zeit, das Ungleichgewicht am
Markt zu beseitigen und Verbraucherinnen und Verbraucher mit den Unternehmen auf gleiche Augenhöhe zu
bringen. Dafür wäre es notwendig gewesen, sich auch an
der einen oder anderen Stelle couragiert mit Unternehmen anzulegen. Diesen Mut hat die Koalition leider
nicht aufgebracht.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Frau Lay, das war Ihre erste Rede im Hohen Haus.
Wir beglückwünschen Sie dazu und wünschen Ihnen alles Gute.
({0})
Jetzt hat das Wort Johannes Röring für die CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Union ist schon immer vertrauensvoller Partner für die
Menschen in ländlichen Räumen, für die Bäuerinnen
und Bauern, für die Beschäftigten der Land- und Agrarwirtschaft gewesen, und das soll auch so bleiben.
({0})
Wir wissen, dass diese Branche, wie alle anderen
auch, zurzeit vor großen Herausforderungen und Anpassungen steht. Um hier positive Akzente zu setzen, haben
wir im Koalitionsvertrag unsere Ziele formuliert, die wir
in den kommenden vier Jahren erreichen wollen. Die
Union steht dabei ohne Wenn und Aber zu einer flächendeckenden, vielfältigen Landwirtschaft mit unternehmerischer Verantwortung.
Die Agrarwirtschaft ist in ländlichen Gebieten ein
wichtiger Faktor für Wachstum und Erfolg in mittelständischen Unternehmen. Durch sie werden sichere Arbeitsplätze im ländlichen Raum geschaffen, die Bürgerinnen und Bürgern und vielen Familien eine hohe
Lebensqualität ermöglichen. Zur Stärkung der infrastrukturellen Rahmenbedingungen ist es unbedingt notwendig, in diesem Bereich weitere Verbesserungen zu
erzielen. Wir wollen lebendige und lebenswerte ländliche Räume, die gerade jungen Menschen und Familien
Perspektiven bieten, aber auch die Versorgung der älteren Generationen sicherstellen. Besonders setzen wir uns
dabei für den Ausbau der Breitbandversorgung ein, um
eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten.
({1})
Moderne Kommunikationstechnologien wie das breitbandige Internet werden zunehmend zum Schlüssel für
Innovation, Wachstum und Sicherung von Arbeitsplätzen, auch in der Landwirtschaft.
({2})
Bei den Zukunftsfeldern Ernährung, Energie, Gesundheit, Umwelt- und Klimaschutz wird die Agrarwirtschaft eine bedeutende Rolle einnehmen. Aus diesem
Grund stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit bei der
Nutzung natürlicher Ressourcen auch dort. Hier wollen
wir ausgewogene Regelungen mit dem Blick auf die
Umwelt, den Pflanzenbau, die Pflanzenzüchtung oder
die Tierhaltung, die nachhaltig wirken.
Wichtig dabei ist eine Beurteilung auf fachlicher
Grundlage, die auch die Wettbewerbssituation der Landwirtschaft im Blick hat. Deshalb sind fachlich nicht notwendige Standards zu vermeiden, gegebenenfalls zu verändern. Darüber hinaus müssen wir auch bei Importen
von Nahrungsmitteln und Rohstoffen die Debatte um
nachhaltige Standards führen. Das bedeutet aber auch,
dass nicht notwendige bürokratische Hemmnisse beseitigt werden müssen. Dazu gehört unter anderem, dass
zum besseren Schutz von Mensch, Tier und Umwelt das
Verfahren der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln unter Beibehaltung der geltenden hohen Standards vereinfacht und beschleunigt werden soll.
Ein Thema, das mich auch persönlich sehr bewegt, ist
die Tatsache, dass täglich in Deutschland 110 Hektar
landwirtschaftlicher Nutzfläche sowohl durch Überbauung der Flächen zu Siedlungs- und Verkehrszwecken als
auch durch Ausgleichsmaßnahmen für den Naturschutz
dauerhaft unbrauchbar gemacht werden. Diese Entwicklung muss dringend gestoppt werden, und der Flächenverbrauch muss drastisch reduziert werden.
({3})
Es stellt sich für mich in diesem Zusammenhang die
Frage, ob wir nicht dazu kommen müssen, dass wir unser Ackerland, unser Grünland, sozusagen unsere Lebensmittelproduktionsfläche, genauso schützen wie unseren Wald. Jeder Eingriff, der landwirtschaftliche
Nutzfläche der Produktion entzieht, muss abgewogen
werden und kommt nur als letzte Maßnahme infrage.
({4})
Als zielführende Maßnahmen dazu müssen wir zukünftig verbesserte flexible Eingriffs- und Ausgleichsregelungen haben. Der Weg dahin muss auf einen qualitativen Ausgleich ausgerichtet sein. Hier müssen intelligente
Ansätze gewählt werden. Es müssen Aspekte wie eine
bessere Innenentwicklung der Städte, eine stärkere Unterstützung der Entsiedlung von Flächen zugunsten von Natur und Umwelt sowie standortabhängige Ausgleichsmaßnahmen finanzieller Art durch gesetzliche Vorgaben
ermöglicht werden.
Beim Ausbau von erneuerbaren Energien hat
Deutschland in den vergangenen Jahren ein enormes Potenzial entwickelt. Durch die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im vergangenen Jahr wurde dieser Trend weiter positiv beeinflusst.
Den Weg der hierdurch erfolgten Weichenstellungen
hin zu mehr dezentralen, kleinen, standortangepassten
Anlagen, die sich durch eine optimale Wärmenutzung
und verstärkte Reststoffnutzung auszeichnen, wollen wir
weitergehen. Wir möchten auch weiterhin nachwachsende Rohstoffe aus Land- und Forstwirtschaft sinnvoll
fördern. Wir wollen uns deswegen besonders für die Verhinderung einer Konkurrenz zwischen dem Anbau von
Nahrungsmitteln und dem von nachwachsenden Rohstoffen, beispielsweise durch einseitige Überförderung,
einsetzen. Deshalb unterstützen wir Konzepte, deren
Ziel es ist, die Reststoffnutzung zu verbessern, das Prinzip der Kreislaufwirtschaft zu optimieren und Wärme
sinnvoll zu nutzen.
Wir sehen in der Nutzung nachwachsender Rohstoffe
zur Energieproduktion eine weitere Option für die Landwirtschaft. Sie kann sich hiermit Einnahmemöglichkeiten
erschließen und ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Dabei sind uns Effizienzsteigerung, Nachhaltigkeit, größtmögliche Klimaeffekte und regionale Wertschöpfung
sehr wichtig.
Bei aller Euphorie ist mir aber, meine Damen und
Herren, mehr denn je wichtig: Nahrung zuerst! Daher
spreche ich mich auch eindeutig gegen die Förderung
der Installation von Fotovoltaikanlagen auf besten
Ackerböden aus,
({5})
da hier landwirtschaftlich nutzbare Produktionsfläche
verloren geht. Hier besteht dringender Korrekturbedarf.
({6})
Meine Damen und Herren, wir wollen eine flächendeckende, lebendige Land- und Forstwirtschaft und eine
starke Agrarwirtschaft in unserem Land. Unser Ziel ist,
dass die heimische Agrarwirtschaft auf regionalen Märkten, dem EU-Binnenmarkt sowie auch auf Märkten außerhalb der Europäischen Gemeinschaft bestehen kann.
Die Landwirte in Deutschland sollen sich darauf verlassen können, dass wir auch in Zeiten des globalen Handels und der Liberalisierung die politischen Rahmenbedingungen so setzen, dass sich die Agrarwirtschaft vor
Ort nachhaltig entwickeln kann. Wir setzen uns dafür
ein, dass gesamtgesellschaftliche Leistungen der Landwirtschaft entsprechend honoriert werden. Bei der Umsetzung von EU-Richtlinien müssen wir Wettbewerbsverzerrungen vermeiden. Zugleich müssen wir diese eins
zu eins umsetzen.
Wir werden in den kommenden vier Jahren eine
Agrarpolitik für Deutschland gestalten, die sich durch
ein hohes Maß an Verlässlichkeit auszeichnet. Wir brauchen Rahmenbedingungen, die Vertrauen schaffen; denn
nur dies setzt Kräfte frei, schafft Mut für Investitionen
und macht die Landwirtschaft für junge Menschen attraktiv und damit auch auf lange Sicht zukunfts- und
wettbewerbsfähig.
Vielen Dank.
({7})
Der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier hat das Wort für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Verehrte Frau Ministerin, ich muss sagen, ich
bin ein bisschen enttäuscht ob des Inhaltes Ihrer Regierungserklärung.
({0})
Ich hätte mir einige präzisere Ausführungen erwartet.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
Koalition, heute wäre hier vielleicht ein bisschen weniger Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit am Platze
gewesen. Man kann den Sieg ja feiern, aber dann bitte
mit der gebotenen Ernsthaftigkeit.
({1})
Lassen Sie mich einige Fragen zu dem Bereich, der
nach meiner Einschätzung in der Regierungserklärung
der Ministerin etwas zu kurz gekommen ist, dem Tierschutz, ansprechen. Dieser Bereich bewegt mich als
Fachpolitiker natürlich in besonderer Weise. Sie schreiben:
Wir wollen den Tierschutz in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung im Einklang mit der Wirtschaftlichkeit voranbringen.
Eine andere Äußerung, die ernst zu nehmen ist, ist die
Frage der Eins-zu-eins-Umsetzung. Bedeutet das jetzt,
dass alle Standards, die wir in Deutschland über den EUStandard hinaus erkämpft haben, zurückgeführt werden?
Oder heißt das sogar, dass die stringente Politik, die wir
seit 1998 betrieben haben und dank der Deutschland eine
führende Rolle in der Tierschutzpolitik in Europa einnimmt, infrage gestellt wird?
Sie machen keine konkreten Aussagen zum Verbandsklagerecht; das muss man nicht unbedingt. Das ist
bei Ihnen wahrscheinlich ein Tabuthema. Das ist auch
nicht ganz einfach.
Es gibt auch keine konkrete Aussage zur Ferkelkastration. Das sind Themen, die im Augenblick die Tierschutzdiskussion bestimmen. In den Niederlanden gibt
es zwischen den Wirtschaftsbeteiligten bereits die Vereinbarung, ab 2015 vollständig auf die Kastration zu verzichten. Zu solchen Ansätzen hätte man sich durchaus
äußern können. Aber ich kann keine konkreten Äußerungen erkennen.
Wie halten Sie es mit den Tiertransporten? Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz haben einen Entschließungsantrag vorgelegt. Ich hätte mir gewünscht,
dass dort eine Acht-Stunden-Regelung aufgenommen
worden wäre. Eine solche Regelung gibt es aber nicht.
Ebenso gibt es keine Aussage zum Tierschutz-TÜV, für
den ich gekämpft habe. Ich bin immer noch stolz darauf,
dass wir das gesetzlich geregelt haben.
({2})
Die Frage ist: Wo bleibt die Verordnung? Frau Ministerin, werden Sie eine Verordnung vorlegen, oder werden
Sie das nicht tun? Wie sieht die weitere Vorgehensweise
aus? Das würde auch einige Menschen in diesem Lande,
die sich für den Tierschutz engagieren, brennend interessieren. Ich warte da auf eine Aussage.
Unter deutscher Ratspräsidentschaft gab es eine große
Konferenz in Brüssel, bei der es um das Tierschutzlabel
bei Lebensmitteln ging. Auch dazu gibt es von Ihnen
keine Aussage. Wie stehen Sie dazu? Treten Sie dafür
ein? Unterstützen Sie das? Oder ist Ihnen das nur eine
Randnotiz wert? Ich hätte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und von der Union, in diesem Bereich
ein bisschen mehr Mut und klare Aussagen von Ihnen erwartet.
Klare Aussagen fehlen mir auch zu Kernbereichen
der Agrarpolitik und ihrer Weiterentwicklung. Wir alle
wissen, dass die gegenwärtige Agrarpolitik sich, auch in
Bezug auf die Prämien und Transferzahlungen, dauerhaft und immer wieder neu zu legitimieren hat. Ihre Aussage dazu lässt eher eine rückwärtsgewandte Politik befürchten, nach dem Motto: möglichst viel für die erste
Säule, möglichst wenig für die zweite Säule. Ich warne
davor. Wahrscheinlich wird in absehbarer Zeit der Lissabon-Vertrag rechtskräftig werden. Dann werden sich die
Voraussetzungen für die europäische und die nationale
Agrarpolitik grundlegend wandeln.
({3})
Es gibt keinen Hinweis von Ihnen, wie man sich in dieser Hinsicht verhalten wird.
Auch zu der Frage, die im Zusammenhang damit
schon im Vorfeld diskutiert wird - Finanzierung der EUAgrarpolitik und Größenordnung des nationalen Beitrags -, gibt es keine Aussage. Das würde aber viele
Landwirte, Wirtschaftsbeteiligte und andere Betroffene
in diesem Land interessieren. Da hätte ich ein bisschen
mehr erwartet.
Auf der anderen Seite muss man natürlich beachten,
dass es bei den einschneidenden Veränderungen, die uns
bevorstehen, keine radikalen Brüche geben darf. Das
heißt, man muss diesen Prozess gestalten. Sie verschieben das Ganze auf den Zeitraum nach 2013. Denken Sie
nicht weiter als bis 2013? Oder ist das Absicht, um die
Landwirte und Wirtschaftsbeteiligten im Unklaren zu
lassen?
({4})
Das sind ganz entscheidende Fragen, zu denen ich entsprechende Aussagen erwartet habe.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
zu dem Manna machen, das vom Himmel gefallen ist,
vor allen Dingen für die Milchbauern. Die Milchbauern
haben eine harte Zeit hinter sich. Im Augenblick scheint
es wieder bergauf zu gehen. Die Preise steigen; ich
hoffe, dass es Anfang nächsten Jahres auskömmlich sein
wird. In Bezug auf das 500-Millionen-Euro-Programm
frage ich mich ganz ernsthaft nach der Zielrichtung.
500 Millionen Euro sind ungefähr 118 Euro pro Kuh
oder 2 Cent pro Liter für den angedachten Zeitraum.
Was bezwecken Sie damit? Wie soll das Geld zu den betroffenen Betrieben gelangen? Wollen Sie da eine Strukturpolitik betreiben, oder wollen Sie nur mit der Gießkanne durch die Lande fahren und das Geld auskippen?
({5})
Wollen Sie in gleicher Weise jeden Hektar Grünland bedenken?
({6})
Wollen Sie die Gunststandorte in gleicher Weise bedenken wie die Grenzertragsstandorte?
({7})
Was ist die Zielrichtung? Darauf müssen Sie antworten.
({8})
Ich hoffe, dass Sie das können, und ich hoffe, dass es
nicht so ist, wie es den Anschein hat, dass nämlich die
500 Millionen Euro dazu dienen, dass die Bayern endlich die Klappe halten, statt den Quotenausstieg 2015 zu
hinterfragen oder nach einer Mengensteuerung nach
2015 zu verlangen. Diese Politik, die während der Verhandlungen, aber auch in den letzten Monaten zu erkennen war, hat dazu geführt, dass vielen Betrieben wirtschaftlicher Schaden zugefügt worden ist. An der
Tatsache, dass die Quotenpreise bei der letzten Auktion
um 4 Cent gestiegen sind, kann man erkennen, wie viel
dort in Bewegung geraten ist. Ich glaube, in dieser Beziehung wäre ein bisschen mehr Ehrlichkeit angebracht
gewesen.
({9})
Ich kann nur hoffen, dass Sie diese Ehrlichkeit in Zukunft aufbringen. Ich freue mich natürlich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen. Aber ich werde Sie immer
wieder kritisch fragen, wo denn Ihre Konzepte für die
Zukunft sind. Darauf können Sie sich verlassen.
Vielen Dank.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 1 auf:
3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einsetzung von Ausschüssen
- Drucksache 17/17 ZP 1 Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE
Einsetzung eines Ausschusses für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 17/9 Eine Aussprache ist hierzu nicht vorgesehen. Daher
kommen wir gleich zur Abstimmung.
Wer stimmt für den interfraktionellen Antrag auf
Drucksache 17/17? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag einstimmig angenommen. Die Ausschüsse sind entsprechend eingesetzt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wer stimmt für den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/9? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch die
Fraktion Die Linke und bei Gegenstimmen der übrigen
Fraktionen abgelehnt.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 11. November
2009, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.