Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Die Kollegin Ulla Lötzer feiert heute ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich, verbunden
mit allen guten Wünschen für die nächsten Jahre.
({0})
Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung verein-
bart, während der Haushaltsberatungen in der nächsten
Sitzungswoche wie üblich keine Befragung der Bundes-
regierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen
Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme und zur Einführung eines Sonderprogramms mit Maßnahmen für
Milchviehhalter sowie zur Änderung anderer
Gesetze ({1})
- Drucksachen 17/507, 17/814 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2})
- Drucksache 17/928 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({3})
Otto Fricke
Alexander Bonde
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg,
Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Versicherte in der Krise schützen - Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen
- Drucksachen 17/495, 17/928 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({5})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion.
({6})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein Gesetz mit dem etwas sperrigen Namen Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Mir als Germanisten geht
das etwas schwer über die Zunge.
Im Kern geht es darum, die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die unverschuldet von den Folgen der
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bedroht sind,
nicht im Stich zu lassen. Nachdem wir in der Vergangenheit bereits Schutzschirme über Banken und Unternehmen gespannt haben, erwarten die Menschen in unserem
Lande zu Recht von uns, dass wir sie mit den Folgen der
Krise nicht alleine lassen. Es wäre fatal, wenn die Menschen den Eindruck hätten, Banken und Unternehmen,
die als Akteure der Krise wahrgenommen werden, würde
mit Steuermitteln geholfen, aber sie selbst seien nicht
systemrelevant genug. Das Gegenteil ist der Fall. WohlRedetext
stand und Wirtschaftswachstum sind nur mit aktiven und
leistungswilligen Bürgern möglich. Deshalb spannen wir
einen Schutzschirm über diese Bürger. Die leistungswilligen Bürger sind es, die dieses Land voranbringen.
({0})
Die weltweite Wirtschaftskrise reißt spürbare Lücken in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme.
Deshalb hat die christlich-liberale Koalition vereinbart,
dass wir alles dafür tun wollen, die Lohnnebenkosten
stabil zu halten. Das erreichen wir, indem wir die krisenbedingten Einnahmeausfälle in der Sozialversicherung
einmalig mit Steuermitteln abfedern. Im Bereich der Bundesagentur für Arbeit hat die Wirtschaftskrise zu Einnahmeausfällen und steigenden Ausgaben geführt. Für Ende
des Jahres rechnet die Bundesagentur deshalb mit einem
Defizit. Dieses Defizit werden wir durch einen einmaligen Bundeszuschuss ausgleichen. Im Regierungsentwurf
waren dafür 16 Milliarden Euro vorgesehen. Erfreulicherweise hat sich die Konjunktur seitdem, wenn auch
verhalten, verbessert. Im Rahmen unserer gestrigen Beratungen im Haushaltsausschuss haben wir deshalb beschlossen, diesen Zuschuss um 3,2 Milliarden Euro auf
12,8 Milliarden Euro zu verringern. Damit hat die Bundesagentur immer noch - das will ich betonen - genügend
liquide Mittel, um ihren Aufgaben gerecht zu werden.
Eines muss ich in diesem Zusammenhang betonen:
Wir haben den für Eingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose vorgesehenen Aufwuchs der Mittel in Höhe von
900 Millionen Euro mit einer Haushaltssperre belegt. Das
soll nichts anderes heißen, als dass wir sicherstellen wollen, dass dieses Geld zweckentsprechend, vernünftig,
zielgerichtet, ökonomisch und sicher eingesetzt wird.
Diese Sperre werden wir, sobald die Ministerin ihr Konzept für die Verwendung des Geldes vorlegt - das kann
bereits in der nächsten Haushaltswoche sein -, wieder
aufheben. Dann steht dieses Geld für all diejenigen zur
Verfügung, die wieder in Arbeit gebracht werden sollen.
({1})
Bei der gesetzlichen Krankenversicherung wird es
in diesem Jahr wegen krisenbedingter Auswirkungen auf
Beschäftigung und Löhne ebenfalls Beitragsausfälle geben. Diese gleichen wir durch einen zusätzlichen Zuschuss in Höhe von 3,9 Milliarden Euro aus. Davon erhalten die landwirtschaftlichen Krankenkassen einen
Teilbetrag in Höhe von rund 23 Millionen Euro. Die Zuschüsse des Bundes zum Gesundheitsfonds belaufen sich
in diesem Jahr auf insgesamt 15,7 Milliarden Euro.
Auch das entlastet die Beitragszahler; denn ohne diese
Maßnahmen müssten wir die Sozialbeiträge zwingend
flächendeckend anheben.
Das Hartz-IV-Schonvermögen wird verdreifacht, indem wir die Freibeträge von 250 Euro auf 750 Euro pro
Lebensjahr anheben. Auch hier löst die Koalition ihre
Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein.
({2})
Nun hat die Krise auch vor der Landwirtschaft nicht
haltgemacht. Viele landwirtschaftliche Betriebe, insbesondere die Milcherzeuger, mussten einen unerwartet
hohen Verfall ihrer Erzeugerpreise hinnehmen. Durch
die damit verbundenen finanziellen Einbußen sahen sich
viele in ihrer Existenz bedroht. Deshalb stützen wir die
Einkommen der Milcherzeuger mit einem Grünlandmilchprogramm. Damit sorgen wir auch für den Erhalt
von Grünlandflächen.
({3})
Wir werden hierfür in den Jahren 2010 und 2011 Mittel in
Höhe von 300 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Darüber hinaus werden von der Europäischen Union über
ein sogenanntes EU-Milchprogramm weitere 300 Millionen Euro bereitgestellt. Davon entfallen auf Deutschland 61 Millionen Euro. Auch dies ist ein gutes Signal für
die Landwirtschaft.
({4})
Gleichzeitig erhöhen wir den Zuschuss des Bundes an
die landwirtschaftliche Unfallversicherung um 100 Millionen Euro, um auch dort Beitragserhöhungen zu vermeiden. Außerdem werden in diesem Jahr zusätzliche
25 Millionen Euro für ein Liquiditätsprogramm für
Landwirte zur Verfügung gestellt.
Alles in allem ist das ein rundes Paket. Dass dies die
öffentlichen Haushalte belastet, ist unbestritten. Aber in
dieser Zeit der Krise, angesichts der momentanen Wirtschaftslage führt kein Weg an der Aufnahme neuer
Schulden vorbei. Mit dieser Maßnahme wollen wir die
Belastungen der Arbeitnehmer reduzieren und damit das
zarte Pflänzchen der wirtschaftlichen Erholung weiter
unterstützen.
Wir müssen natürlich auch die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel beachten. Diese verlangt vom Bund
im nächsten Jahr eine deutliche Konsolidierungsanstrengung. Das strukturelle Defizit des Jahres 2010 beträgt
nach Ende der Schlussberatung um 3.15 Uhr heute Nacht
({5})
66,5 Milliarden Euro. Dies ist der Referenzwert für den
Konsolidierungspfad der nächsten Jahre. Insofern wird
man auch im sozialpolitischen Bereich in Zukunft verstärkt darauf zu achten haben, an welcher Stelle Effizienzgewinne realisiert werden können. Ein erster
Schritt in diese Richtung war die Einführung des Gesundheitsfonds. Wir haben Wettbewerbsanreize geschaffen, um die Effizienz im Gesundheitswesen zu erhöhen;
denn mehr Quantität erzeugt nicht zwangsläufig mehr
Qualität.
({6})
Eines muss man an dieser Stelle einmal betonen - vielleicht auch in Richtung der Linken, die an dieser Stelle
immer einen falschen Eindruck erwecken wollen -:
({7})
Bereits jetzt machen die Sozialausgaben 54 Prozent der
Ausgaben im Bundeshaushalt aus. In absoluten Zahlen
ausgedrückt sind es 178 Milliarden Euro allein für diesen Bereich.
({8})
Das ist nicht nur eine haushaltsrelevante Größenordnung, sondern spiegelt auch den hohen Stellenwert wider, den die sozialen Sicherungssysteme in unserer Gesellschaft haben.
({9})
Dies beweist auch die aktuelle Debatte über die
Hartz-IV-Regelsätze. Das Verfassungsgericht hat nicht
die Höhe der Zahlungen kritisiert, sondern nur die Methode der Ermittlung der Regelsätze. Deshalb sind wir
gespannt auf die Berechnungen, die die Bundesarbeitsministerin vorlegen wird.
Das Verfassungsgericht hat uns auch verpflichtet, mit
sofortiger Wirkung eine Härtefallregelung für die
Übernahme dauernder atypischer Kosten von Hartz-IVEmpfängern zu schaffen. Wir Koalitionshaushälter hatten vorgesehen, eine entsprechende Zusatzregelung in
diesem Gesetz aufzunehmen, um den Menschen, die darüber mehr Hilfe in Anspruch nehmen könnten, sofort zu
helfen. Damit wäre sehr schnell Rechtssicherheit für die
Behörden und die Bürger geschaffen worden. Allein im
Jahr 2010 hätten wir dafür 100 Millionen Euro zusätzlich für die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II
vorgesehen. Sie merken, ich spreche im Konjunktiv;
denn leider ist es noch nicht so weit. Warum? Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die sich immer als Sozialadvokaten gerieren, haben verlangt, dazu eine Anhörung
durchzuführen.
({10})
Wenn man aber eine Anhörung durchführt, dann vergeht
mehr Zeit und dann können wir die Fristen, die für dieses
Gesetz vorgesehen sind, nicht mehr einhalten. Deshalb
mussten wir diesen Teil vom jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wieder abtrennen. Das heißt, die Sozialdemokraten haben eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern
in diesem Land in Sippenhaft genommen, um ihre taktischen Spielchen betreiben zu können. Ich finde das nicht
besonders schön.
({11})
Herr Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?
Jawohl, gerne.
Verehrter Herr Barthle, Sie sagen, die Abtrennung der
Härtefallklausel bzw. das Ansinnen der Opposition sei
ein taktisches Spielchen. Stimmen Sie mir zu, dass Sie
hier ansonsten bei jeder Gelegenheit betonen, Gründlichkeit gehe vor Schnelligkeit? Stimmen Sie mir zu,
dass Sie, wenn im Haushaltsausschuss vereinbart worden wäre, diese Regelung anzudocken, den eigentlich
zuständigen und kompetenten Ausschuss für Arbeit und
Soziales umgangen hätten und dann auch nicht die Kritik
erörtert worden wäre, die in den vergangenen Tagen von
allen großen Wohlfahrtsverbänden geäußert worden ist?
Schließen Sie daraus nicht auch, dass es weitaus sinnvoller ist, eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales unter Einschluss der Kritikerinnen und
Kritiker der Gesellschaft durchzuführen?
({0})
Verehrter Herr Kollege, ich stimme Ihnen in einem
zu: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. An dieser
Stelle muss man aber betonen, dass der Terminus Härtefall im Sozialgesetz bereits hinreichend definiert ist.
Deshalb wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, diese
Regelung in dieses Gesetz aufzunehmen.
({0})
Nun haben Sie uns allen deutlich vor Augen geführt,
worum es Ihnen geht: um Kompetenzgerangel.
({1})
Glauben Sie tatsächlich, die Menschen draußen interessiert es, welcher Ausschuss dafür kompetent sein soll?
Sie wollen, dass schnell eine Regelung erfolgt und dass
Rechtssicherheit besteht. Das hätten wir erreicht, wenn
Sie nicht auf Ihrer Kompetenz beharrt hätten. Sie müssen das nun draußen vertreten. - Danke sehr.
({2})
Das war eigentlich ein wunderschöner Schlusspunkt
für meine Rede. Meine Redezeit ist ohnehin abgelaufen.
Ich bedanke mich.
({3})
Dass auf die Einsicht in das erreichte Ende der gewährten Redezeit eine so prompte und zutreffende
Schlussfolgerung erfolgt, nehmen wir mit besonderer
Freude und mit Respekt zur Kenntnis.
({0})
Geburtstag hat heute übrigens auch der Kollege
Franz Josef Jung. Er hat zwar keinen runden Geburtstag, aber gleichwohl einen, der alle guten Wünsche für
das nächste und die folgenden Jahre verdient. Herzlichen
Glückwunsch!
({1})
- Hat noch jemand Geburtstag? Meine Güte, wir machen
möglicherweise gleich noch eine Aktuelle Stunde für
diejenigen, die auch Geburtstag haben und uns von den
Parlamentarischen Geschäftsführern vielleicht noch aufgezeigt werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Hagedorn
für die SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz
- vielmehr werden Sie es verabschieden -, das einen
ganzen Bauchladen von Maßnahmen beinhaltet, die Sie,
Herr Kollege Barthle, schon im Detail dargestellt haben.
Darum kann ich mich an dieser Stelle etwas kürzer halten.
Eingangs will ich darauf hinweisen, dass dieser Gesetzentwurf vier Maßnahmen beinhaltet; der Kollege
Barthle hat sie gerade beschrieben. Die Sozialdemokraten stimmen ausdrücklich zu, dass die Bundesagentur für
Arbeit in der Krise mit einem steuerfinanzierten Zuschuss gestützt wird.
({0})
Die Sozialdemokraten stimmen ausdrücklich zu, dass es
eine Verdreifachung des Schonvermögens geben wird.
Wir bedauern aber, dass diese Erkenntnis erst jetzt bei
Ihnen angekommen ist. Wenn es nach uns gegangen
wäre, hätte das viel früher geschehen können.
({1})
Die Sozialdemokraten stimmen auch zu, dass der Gesundheitsfonds mit weiteren 3,9 Milliarden Euro gestützt wird. Auch das ist in der Krise eine richtige Maßnahme.
Allerdings gibt es einen Teil dieses Gesetzentwurfes,
der nicht, wie uns sein Name glauben machen will, in
erster Linie der Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme dient, sondern eher Ausdruck der Klientelpolitik ist, die wir von dieser Koalition schon kennen. Dabei
geht es um die Kuhprämie. Da auch ich aus dem ländlichen Raum komme, kann ich Ihnen sagen: Es ist sehr
wohl bei uns angekommen, dass die Milchbauern in einer schwierigen Situation sind. Der Kollege Wilhelm
Priesmeier hat schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes für die Kollegen des Agrarausschusses deutlich gemacht, warum wir diesen Teil des Gesetzentwurfes nicht mittragen. Es ist nämlich ein untaugliches
Mittel. Damit erreicht man nicht das, was notwendig ist,
um den Milchbauern und der Landwirtschaft tatsächlich
zu helfen. Natürlich müssen wir deswegen dem Gesetzentwurf insgesamt unsere Zustimmung verweigern. Das vorneweg.
Da man nun glauben könnte, dass es eine ganze
Menge Übereinstimmung zwischen uns gibt, muss ich
jetzt etwas Wasser in den Wein schütten. Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Barthle. Wir haben heute Nacht bis
Viertel nach drei im Haushaltsausschuss getagt. Es kann
sein, dass Ihre Erinnerung hinsichtlich der Härtefallregelung angesichts der kurzen Nacht, die wir hatten, etwas getrübt ist. Es ist so, dass die Haushälter der Opposition deshalb eine Anhörung beantragt haben - bei uns
gibt es übrigens kein Kompetenzgerangel -, weil wir
eine an der Sache orientierte Lösung gesucht haben.
({2})
Wir stellen fest, dass die Koalition diese Anhörung
auch im Gegensatz zu allen großen Wohlfahrtsverbänden in unserem Land nicht gewollt hat. Sie wollten Ihre
Entscheidung letzten Endes durch die kalte Küche
durchsetzen. Der Kriterienkatalog, den Sie vorgelegt haben, ist das eine; die 100 Millionen Euro, die Sie bereitzustellen versprechen, ist das andere. Aber wir sagen Ihnen: Wir wollen uns zunächst die notwendige Zeit
nehmen und gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden
und anderen kompetenten Akteuren in der Gesellschaft
prüfen, ob dies eine angemessene Antwort auf das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts ist.
({3})
Wenn Sie jetzt versuchen, den Menschen weiszumachen,
dass ihnen, weil es zu einer Verzögerung kommt - und
das nur, weil Sie Ihre Entscheidung nicht adäquat eingetütet haben, indem Sie versucht haben, dieses Vorhaben
an das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz anzuhängen -, auch nur der Hauch eines Nachteils entstehen
wird, dann muss ganz klar gesagt werden: Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass der Anspruch auf Anwendung der Härtefallregelung ab sofort,
also schon im Jahr 2010, besteht,
({4})
ob Sie einen Gesetzentwurf einbringen oder nicht.
({5})
Rechtssicherheit - hier gebe ich Ihnen recht - wünschen sich sicherlich vor allem diejenigen, die für die
Umsetzung vor Ort zuständig sind. Aber es ist besser,
wenn es eine vernünftige und ausgewogene Rechtssicherheit gibt als eine durch die kalte Küche. - So viel
dazu.
({6})
Herr Kollege Barthle, im Zusammenhang mit dem
Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit sind Sie auf
die 900-Millionen-Euro-Sperre eingegangen,
({7})
die die Abgeordneten der Koalition gestern im Haushaltsausschuss vereinbart haben. An dieser Stelle möchte ich
Ihnen sagen: Ich freue mich, dass Sie meiner Erkenntnis
gefolgt sind. Schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich Ihnen prophezeit, dass die Bundesagentur für Arbeit am Ende nicht 16 Milliarden Euro
bekommen muss - diese Zahl stand damals noch im
Haushalt, der nur eine Woche vorher eingebracht worden
ist -, sondern dass es - jetzt kennen wir die Zahl - nur
12,8 Milliarden Euro sind.
Die an dieser Stelle eingesparten 3,2 Milliarden Euro
plus die 400 Millionen Euro, die beim Arbeitslosengeld II
weniger ausgegeben werden, sind die vermeintlichen
Einsparungen im Haushalt, die Sie in die Lage versetzen,
die Nettokreditaufnahme jetzt so massiv zu senken.
({8})
Das heißt, es handelt sich nicht wirklich um Einsparungen, sondern um die Anpassung eines Schätzwertes aufgrund einer verbesserten konjunkturellen Lage. Die Verbesserung der konjunkturellen Lage ist vor allen Dingen
das Ergebnis einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir
noch in unserer gemeinsamen Regierungszeit, im letzten
und vorletzten Jahr, betrieben haben und die die Grundlage dafür war, dass die Arbeitslosenzahlen in Deutschland heute viel niedriger sind als in vielen anderen Ländern um uns herum.
({9})
Weil es in der Krise das Wichtigste ist, den Menschen, die in aller Regel ohne ihre Schuld arbeitslos werden, tatsächlich Angebote zu machen, damit sie wieder
einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz bekommen, ist es unerlässlich, die Arbeitsmarktpolitik in
vollem Umfang zu erhalten. Die 900 Millionen Euro haben Sie zwar nicht gestrichen - das ist richtig -; aber Sie
haben sie gesperrt. Dies wirkt de facto wie eine Kürzung,
({10})
es sei denn, Kollege Barthle, Sie tun wirklich das, was
Sie hier angekündigt haben. Daran werden wir Sie messen. Wenn es Ihnen gelingt, in den nächsten zwei, drei
Wochen die Sperre aufzuheben, dann haben Sie recht;
dann ist es nicht gekürzt. Aber wenn Sie damit erst in
den April, Mai oder Juni kommen, dann ist es de facto
eine Kürzung, und das versuchen Sie vor den NRWWahlen lediglich zu vertuschen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Claudia
Winterstein für die FDP-Fraktion.
({0})
Damit die von ihr angeregten Glückwünsche zum heutigen Geburtstag ihres Fraktionskollegen Dr. Edmund
Geisen nicht von ihrer ohnehin knappen Redezeit abgehen, nutze ich die Gelegenheit, auch Ihnen recht herzlich
zum Geburtstag zu gratulieren.
({1})
Bitte schön, Frau Winterstein.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir entscheiden hier heute abschließend über
den Entwurf eines Gesetzes zur Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme. Wir regeln hier also den
Zuschuss zur Krankenversicherung, den Zuschuss zur
Arbeitslosenversicherung und die Verdreifachung der
Schonvermögen sowie die Einführung eines Sonderprogramms für Milchviehhalter.
Zum Schonvermögen möchte ich vorweg eines sagen:
Frau Hagedorn, Sie hatten lange genug Zeit, die Verdreifachung des Schonvermögens einzuführen. Ich frage
mich, warum Sie das nicht schon früher getan haben.
({0})
Ich finde dafür keine Begründung.
Gerne hätten wir zum Beispiel auch über die Härtefallregelung im SGB II abschließend entschieden - Sie
haben sie schon erwähnt -, zu der uns das Bundesverfassungsgericht einen Auftrag gegeben hat. Leider ist dies
von der SPD verhindert worden. Es bleibt also dank der
SPD die Unsicherheit
({1})
- es ist durchaus eine Unsicherheit - sowohl für die Berechtigten als auch für auszahlenden Stellen. Ihre Begründung ist sehr fadenscheinig, wenn Sie meinen, dass
man dies abtrennen müsse, anstatt es sofort auf den Weg
zu bringen.
({2})
Hier wird jedenfalls von unserer Seite aus nichts
durch die kalte Küche eingeführt, sondern man muss
ganz klar sagen, dass es für die Härtefallregelung einen
sehr vernünftigen, ausgewogenen Vorschlag gibt,
({3})
der sich auch am Wortlaut des Urteils orientiert und
einen beispielhaften und dabei ausdrücklich auch nicht
abschließenden Katalog von möglichen Härtefällen beinhaltet. Wir könnten damit den Vorgaben des Verfassungsgerichts sehr schnell und solide Folge leisten. Ich
bedauere, dass dies von der SPD verzögert worden ist.
Aber wenn es von den Betroffenen Nachfragen gibt,
dann werden sicherlich Sie wie auch Herr Schneider
gerne zur Verfügung stehen und darüber Auskunft geben.
Die übrigen Regelungen des Gesetzentwurfs setzen
wir nun in Kraft. Hier geht es um wichtige Maßnahmen
zum Schutz von Arbeitsplätzen. Wir vermeiden damit
Beitragsanhebungen in der Sozialversicherung; es ist
also eine in der jetzigen Konjunkturlage sehr richtige
Maßnahme.
Aus Haushältersicht ist der wichtigste Posten natürlich der Zuschuss zur Bundesagentur für Arbeit. Das
Gesetz nennt hier ausdrücklich keinen Betrag; Sie haben
das vorhin erwähnt. Es sollten erst 16 Milliarden Euro
sein. Wir sind froh, dass es nun nur 12,8 Milliarden Euro
sind, weil es weniger Arbeitslose und ein nicht so starkes
Absinken der Zahl der sozialversicherungspflichtigen
Arbeitsplätze gibt. - Zu dem ebenfalls in diesem Gesetz
geregelten Zuschuss zur Krankenversicherung wird
meine Kollegin Ulrike Flach noch etwas sagen.
Der zweite sozialpolitisch bedeutsame Teil des Gesetzes ist die Verdreifachung des Schonvermögens von
250 auf 750 Euro pro Lebensjahr und auf eine Maximalhöhe von 50 250 Euro. Das ist ein wirklich großer
Schritt dahin, dass jemand, der unverschuldet in eine solche Situation geraten ist, davor geschützt wird, dass im
Prinzip seine Vorsorge angegriffen wird. Durch die Erhöhung des Schonvermögens tragen wir dafür Sorge,
dass jemand, der unverschuldet in die Situation gekommen ist, von Arbeitslosengeld II leben zu müssen, sein
Altersvorsorgevermögen behalten darf und nicht dafür
bestraft wird, dass er vorgesorgt hat.
Sie sind vorhin kurz darauf eingegangen, dass wir
gestern Abend 900 Millionen Euro des Eingliederungsbudgets gesperrt haben. Als Haushälterin sollten Sie
wissen, dass es ein großer Unterschied ist, ob gekürzt
wird oder ob gesperrt wird. Wir wollen es einmal ganz
deutlich sagen: Wir haben im letzten Jahr für Eingliederungsmaßnahmen 10,1 Milliarden Euro ausgegeben.
Wir haben in diesem Jahr hier nichts gekürzt und satteln
sogar 900 Millionen Euro drauf.
({4})
Wir haben das Budget mit einer Sperre versehen, weil
wir, wie ich schon in meiner letzten Rede zu diesem
Thema gesagt habe, möchten, dass zunächst die Wirksamkeit der Arbeitsmarktinstrumente überprüft wird, damit die Weiterbildungsmaßnahmen, die wir anbieten, in
Zukunft wirklich effektiv sind und greifen. Es darf nicht
dazu kommen, dass Menschen von einer Weiterbildungsmaßnahme in die nächste geschickt werden, ohne
dass dies einen Nutzen hat. Das ist auch im Sinne derjenigen, die Arbeit suchen.
({5})
Ziel ist ja, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Wir
sagen ganz klar: In dem Moment, wo wir ein Konzept
vorgelegt bekommen - es sollte nicht so schwierig sein,
ein Konzept zu entwickeln -, werden wir die Sperre aufheben, und dann stehen diese 11 Milliarden Euro zur
Verfügung. Insofern gibt es hier keine Kürzung; jeder,
der das behauptet, spricht nicht die Wahrheit.
({6})
Wenn von Ihrer Seite nur Verhetzungspotenzial kommt,
hat das mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit
nichts zu tun. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, zu erfahren, wie die Dinge sind: Wir stellen diese 11 Milliarden Euro zur Verfügung, sobald ein
vernünftiges Konzept vorliegt. Das werden Sie in den
nächsten Wochen und Monaten erleben.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Gesine Lötzsch ist die nächste Rednerin
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Linke wollen stabile Sozialversicherungssysteme. Wir finden, dass die Menschen, die jahrzehntelang in diese Systeme eingezahlt haben, ein Recht darauf
haben, sich darauf verlassen zu können, dass diese Systeme funktionieren.
({0})
Womit wir überhaupt nicht einverstanden sind, meine
Damen und Herren von der rechten Seite dieses Hauses,
ist, dass die Risiken für die Aufrechterhaltung dieser
Systeme immer mehr auf die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer abgewälzt werden, während die Unternehmen entlastet werden. Das ist doch eine Ursache der
Krise. Diese Ursache haben Sie, Herr Kollege Barthle, in
Ihrem Vortrag überhaupt nicht angesprochen. Damit bin
ich nicht einverstanden.
({1})
Was mich an Ihrer Rede besonders gestört hat, Herr
Kollege Barthle von der CDU/CSU, ist, dass Sie gesagt
haben: die Krise - als wäre die Krise vom Himmel gefallen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist Ergebnis
politischen Handelns und politischer Entscheidungen.
Diese Regierung hat bisher nichts getan, um die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise wirksam zu bekämpfen. Sie hat nichts getan, um den Bankern und Zockern in den Arm zu fallen. Sie tun so, als wäre die Krise
vom Himmel gefallen. Nein, die Krise ist auch Ergebnis
Ihrer Politik. Dazu müssen Sie endlich stehen, dazu müssen Sie sich bekennen.
({2})
Die Wurzel des Übels liegt in der andauernden neoliberalen Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Wir wissen doch alle, dass es einen Zusammenhang gibt
zwischen den Löhnen und Gehältern, den Einkommen in
unserem Land und der Sicherheit der Sozialversicherungssysteme. Gestern haben wir vom Statistischen
Bundesamt die Nachricht erhalten, dass zum ersten Mal
seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die
durchschnittlichen Bruttoverdienste gesunken sind. Der
Durchschnittsverdiener hat also nicht etwa weniger
Netto vom Brutto, er hat weniger Brutto. Die skandalöse
Lohnsenkungspolitik in unserem Land muss endlich
ein Ende haben; denn sie zerstört die Sozialversicherungssysteme.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um
die Durchschnittslöhne. Besonders schlimm ist für viele
Menschen doch - insbesondere auch für viele Frauen -,
dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren enorm
angewachsen ist: seit 1995, in den letzten 15 Jahren also,
um 46 Prozent. Das heißt, über 6,5 Millionen Menschen
in Deutschland arbeiten für Löhne von 4 bis 7 Euro in
der Stunde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand von CDU, CSU oder FDP bereit wäre, für derartige Löhne zu arbeiten. Setzen Sie sich endlich dafür ein,
dass wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn
bekommen! Dann können wir auch die Sozialversicherungssysteme wieder stabilisieren.
({4})
Sinkende Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und ein ausufernder Niedriglohnsektor bedeuten auch sinkende
Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung und das Gesundheitssystem. Den Zusammenhang Gute Löhne - Stabile Sozialversicherungssysteme muss doch jeder begreifen. Mit allem anderen,
was hier geredet wird, geht man am Problem vorbei.
Vor allen Dingen fordern wir - das will ich noch einmal betonen -, dass auch die Arbeitgeber, die Unternehmen, einen angemessenen Beitrag leisten. Sie haben mit
Ihrer Politik - begonnen bei Kohl, fortgesetzt unter
Schröder, nochmals fortgesetzt unter Merkel - dazu beigetragen, dass die Lasten immer mehr auf die Menschen,
die arbeiten bzw. die Leistungen aus diesem System
brauchen, abgewälzt wurden. Das ist unsozial, das ist der
falsche Weg, und dem stellen wir uns entgegen.
({5})
Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland
keine Hungerlöhne, sondern wir brauchen Löhne, von denen Menschen in Würde leben können. Ich kann Ihnen
einmal kurz etwas vorrechnen: Schon ein Mindestlohn
von nur 7,50 Euro in der Stunde - Sie wissen ja, dass wir
als Linke hier andere Vorstellungen haben; wir wollen bis
zum Ende dieser Legislaturperiode 10 Euro Mindestlohn
in der Stunde erreichen, aber bleiben wir einmal bei
7,50 Euro - würde dazu beitragen, dass 4 Milliarden Euro
mehr in den Sozialversicherungssystemen wären. Doch
Sie verweigern sich dieser Erkenntnis und wollen lieber,
dass die Menschen in prekären Verhältnissen bleiben und
als Bittsteller antanzen müssen. Sie verweigern ihnen
das Recht, in Würde zu arbeiten. Damit ist die Linke nicht
einverstanden. Dem stellen wir uns entgegen.
({6})
Ich sage auch ganz klar: Unsere Forderung ist, dass
auch diejenigen zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden müssen, die die Verantwortung für
die Krise tragen, nämlich die Banken, die Versicherungen und die Zocker. Doch die Bundesregierung geht einen anderen Weg. Die Krisenlasten sollen durchweg die
Arbeitslosen, die Beschäftigten und die Rentner tragen.
Dem stellen wir uns entgegen. Damit sind wir nicht einverstanden.
({7})
Der vorliegende Gesetzentwurf hat viele Geburtsfehler, der Hauptfehler ist aber, dass die Ursachen der Krise
der Sicherungssysteme völlig außer Acht gelassen werden. Das ist eine kurzsichtige Politik, das ist eine verantwortungslose Politik, und das ist die Fortsetzung dessen,
was Sie uns hier in den letzten Wochen schon vorgeführt
haben, nämlich den Menschen vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen Sand in die Augen zu streuen. Die Menschen sind aber klüger, als Sie denken, und im Mai werden Sie Ihre Quittung erhalten.
Vielen Dank.
({8})
Markus Kurth ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren!
Wenn diese schwarz-gelbe Regierung einen Gesetzentwurf einbringt, der im Titel das Wort Stabilisierungsgesetz enthält, dann entbehrt das nicht einer gewissen Komik. Stabilisieren Sie sich doch erst einmal selber!
({0})
Schäuble kämpft gegen die FDP-Steuersenker, die
CSU kämpft gegen die FDP, die CSU-Landesgruppe in
Berlin kämpft gegen die CSU in Bayern, und Guido
Westerwelle kämpft allein gegen alle.
({1})
Kurzum: Die Anordnung, in der sich Schwarz-Gelb präsentiert, ist die einer Massenschlägerei.
({2})
Entsprechend der Zerstrittenheit des Regierungslagers
präsentieren Sie im Entwurf des Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes gerade einmal den kleinsten gemeinsamen Nenner und eine ganz kurzfristige Perspektive.
Wir haben es hier mit notdürftigster Flickschusterei zu
tun, um die Sozialversicherung kurzfristig knapp über
der Wasserlinie zu halten.
Sie geben keine Antwort auf die drängenden Fragen
zur Zukunft der gesetzlichen und solidarischen Krankenversicherung, Sie geben keine Antwort auf Fragen zur
zumindest mittelfristigen Lage in der Arbeitslosenversicherung, und Sie geben keine Antwort auf Fragen zu
mittel- oder langfristigen Perspektiven und zur Zukunft
der Milchwirtschaft. Sie stellen wieder einmal unter Beweis: Sie können es einfach nicht.
({3})
Wenn wir uns die Lage bei der Krankenversicherung anschauen, dann wird deutlich: Im Moment ist der
Zuschuss natürlich unabwendbar. Dabei kann ich Ihnen
aber nicht den Hinweis ersparen, dass die strukturelle
Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung erst durch den Gesundheitsfonds, also unter anderem durch Sie von der Union, hervorgerufen wurde.
({4})
Sie bleiben jede Antwort auf die Frage der Perspektiven
bei den Maßnahmen zur Dämpfung der Ausgaben im
Bereich des Arzneimittelsektors schuldig. Wenigstens
das hätte doch Teil eines Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes sein müssen, das seinen Namen verdient.
({5})
Ähnliches gilt für die Arbeitslosenversicherung. Im
Moment ist natürlich nichts anderes möglich als ein Ausgleich des Defizits durch einen Zuschuss. Sie können
aber bei dem Minibeitragssatz von 2,8 Prozent - selbst
wenn Sie ihn auf 3,0 Prozent erhöhen - nicht davon ausgehen, dass sich die Finanzierungslage in der Arbeitslosenversicherung in den nächsten Jahren stabilisieren
wird. Sie machen überhaupt keine Aussagen über die
Perspektiven ab 2011.
Frau Winterstein, ich muss Ihnen schon sagen: Wir
wissen, wie es läuft, wenn Sie jetzt die Sperrung von
900 Millionen Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik verbrämen und sagen, dass Sie nicht kürzen, sondern nur
sperren. Wissen Sie nicht, wie das in der Vergangenheit
vielfach gelaufen ist? Da haben Sie so lange gesperrt, bis
die Träger die Mittel, die sie hätten einsetzen müssen,
am Ende nicht mehr einsetzen konnten. Das heißt, faktisch handelte es sich um eine Kürzung, die Sie als Sperrung verkleidet haben.
({6})
Genau das Gleiche machen Sie im Moment mit dem
Programm JobPerspektive. In meiner Stadt, in meinem
Wahlkreis, wo wir mit dem Programm JobPerspektive
über 1 000 Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose geschaffen haben, können Zusagen aktuell nicht eingehalten werden. Sie sagen: Wir verteilen die Mittel nur anders, wir kürzen aber nicht. Faktisch kürzen Sie aber
doch. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie sich an dieser Stelle
um die politische Debatte herumdrücken: Sie wollen das
verschleiern und es dann hintenherum durchführen.
({7})
Genau das haben Sie auch bei der Härtefallklausel
versucht. Jetzt unternehmen Sie den untauglichen Versuch, es uns in die Schuhe zu schieben und dann so zu
tun, als ob wir etwas Gutes für Langzeitarbeitslose hätten verhindern wollen.
({8})
Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass sämtliche Wohlfahrtsverbände, zum Beispiel gestern Caritas, deutlich
gefordert haben, dass es zu einer öffentlichen Anhörung
kommt und die Gelegenheit einer demokratischen, öffentlichen Auseinandersetzung geschaffen wird.
({9})
Wir sollten uns einfach so viel parlamentarische Kultur
gönnen und uns nicht in Diffamierungsversuchen ergehen.
({10})
Ich komme zum Schluss: Meine Damen und Herren,
wenn diese Art von Notoperationspolitik das Beste ist,
was Sie können, sollten Sie es vielleicht mit dem Regieren lassen. Sie haben es versucht, aber Sie haben wieder
unter Beweis gestellt: Sie können es einfach nicht.
({11})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin Ilse
Aigner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
liebe Kollegen! Dieser Gesetzentwurf steht für Verantwortung, Verlässlichkeit und Stabilisierung. Das Sozialstaatsprinzip ist ein Kernstück unseres Gemeinwesens.
Wir stehen zu unserer Verantwortung. In schwierigen
Zeiten greifen wir der Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Landwirtschaft unter die
Arme.
Verlässlichkeit heißt, dass erarbeitetes Vermögen für
die private Altersvorsorge zu schützen ist, gerade wenn
man für längere Zeit arbeitslos wird. Die Verdreifachung
des Schonvermögens ist ein klares Signal und Teil eines
Schutzschirms für Arbeitnehmer.
({0})
So wird der Vermögensschutz für geldwerte Ansprüche,
die der Altersvorsorge dienen, deutlich verbessert; denn
Eigenvorsorge muss sich lohnen.
Wir greifen mit diesem Gesetzentwurf aber nicht nur
unter die Arme, sondern zeigen damit auch, dass auf
diese Bundesregierung in schwierigen Zeiten Verlass ist,
natürlich auch auf die sie tragenden Fraktionen.
({1})
Das wird auch an dem Sonderprogramm für die Landwirtschaft deutlich, das Teil des Gesetzentwurfs ist.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, 750 Millionen Euro in zwei Jahren: So ein Programm hat es bisher
noch nicht gegeben.
({2})
Damit wollen wir die Betriebe in einer schwierigen Situation stabilisieren. Wir wollen die Leistungskraft erhalten und die Zukunft sichern.
Die Bundesregierung hat sich den Erhalt der flächendeckenden Landwirtschaft und Landbewirtschaftung
zum Ziel gesetzt. Es ist deshalb richtig und wichtig, mit
dem Sonderprogramm ein stabiles Fundament für die
Leistungsbranche Landwirtschaft zu sichern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sprechen
dabei nicht von irgendeiner Branche. Wir sprechen von
der Branche, die dafür sorgt, dass wir ausreichend qualitativ hochwertige Lebensmittel erzeugen, die einen immer größeren Beitrag zu den erneuerbaren Energien liefert und zum Beispiel mit den Grünlandstandorten auch
einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz liefert.
({3})
Genau deshalb haben wir das Grünlandprogramm
aufgelegt. Es trägt zum Klimaschutz bei. In der schwierigen Situation haben wir hier fokussiert. Das ist ein wichtiger Teil dieses Programms.
Wir wissen aber auch, dass wir durch Effizienzsteigerung einen weiteren Beitrag zur Senkung der Emissionen
leisten müssen. Auch das ist ein wesentlicher Beitrag
zum Klimaschutz.
Bei der Erarbeitung dieses Programms mussten wir
drei wesentliche Leitplanken einhalten. Das sind zum einen die EU-rechtlichen Vorgaben, etwa beim Beihilferecht; zum anderen mussten wir versuchen, die Mittel so
schnell wie möglich den betroffenen Bäuerinnen und
Bauern zukommen zu lassen. Zudem mussten wir den
bürokratischen Aufwand in Zusammenarbeit mit den
Ländern möglichst gering halten. Das war ein schwieriges Unterfangen, aber wir haben es geschafft.
({4})
Unser Sonderprogramm ist ein optimiertes Maßnahmenbündel für kurzfristige und gezielte Hilfen. Neben
der Grünlandprämie, die wir von unserer Seite auf die
Beine gestellt haben, haben wir noch zusätzliche Mittel
der EU ausgehandelt und akquiriert, um neben der Kuhprämie für Milcherzeuger den Gründlandregionen zusätzliches Geld zukommen zu lassen.
Das ist aber nur ein Teil. Wir haben noch wesentliche
andere Maßnahmen mit unserem Sonderprogramm auf
den Weg gebracht, zum Beispiel ein Programm zur Stabilisierung der Liquiditätshilfen. Diese Hilfen werden
sehr gut angenommen. Wir haben hier einen sehr starken
Mittelabfluss. Das stabilisiert die Betriebe in einer
schwierigen Situation. Sie können sich mit finanziellen
Mitteln versorgen, um die schwierige Situation zu überbrücken.
({5})
Nicht vergessen möchte ich in diesem Zusammenhang die Aufstockung der Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherung. Auch hier haben
wir einen Schwerpunkt gesetzt, mit dem die Betriebe
durch Soforthilfen liquide bleiben. Glauben Sie mir, das
war ein richtiger Schritt. Die Betriebe merken es gerade
jetzt bei den Beitragserhebungen, dass ihnen das Geld
direkt, schnell und effektiv zugutekommt.
({6})
Die Soforthilfen des Sonderprogramms sind das eine.
Wir müssen aber auch mittel- und langfristig für vernünftige Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft
sorgen. Wir müssen sie auf die Zeit nach 2013, nach der
jetzigen Finanzierungsperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik, einstellen. Das ist ein wichtiger Meilenstein.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass Deutschland wie kaum ein anderes Land in der
Europäischen Union den Reformprozess der Europäischen Union vorangetrieben hat. Wir beginnen 2010 mit
einer Umstellung auf eine einheitliche Flächenprämie.
Es wird bis 2013 keine gekoppelten Prämien, also auch
keine Produktionsanreize mehr geben, sondern es wird
für eine hervorragende Bewirtschaftung der Fläche unter
Einhaltung von Naturschutz-, Umweltschutz- und Tierschutzstandards gezahlt. Das ist das Ziel, und das werden wir bereits 2013 erreichen.
({7})
Um die nächstfolgenden Schritte vorzubereiten, werden wir auf der europäischen Ebene in Verhandlungen
eintreten. Es war daher wichtig, die jetzige Situation zu
stabilisieren, damit die Betriebe, die gut aufgestellt sind,
auch in Zukunft weiter wirtschaften können.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung, Verlässlichkeit und Stabilisierung habe ich anfangs
genannt. Das ist das Credo der christlich-liberalen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen. Auf uns
ist Verlass, wir halten das ein, was wir im Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Darauf können sich die Menschen verlassen.
Vielen herzlichen Dank.
({8})
Katja Mast ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Diese Milchviehprämie ist nichts anderes als die Steuergeschenke an die Hotelbesitzer und deshalb einfach nur
Klientelpolitik.
({0})
Ich begrüße Sie alle heute an Bord der Titanic.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Guido
Westerwelle stehen auf der Brücke. Nein, sie singen
nicht. Beide glauben zu wissen: Unser Schiff sinkt
nicht. - Doch sie vergessen, dass der Eisberg, der in der
Abendsonne auf sie zuschwimmt, nur zu 10 Prozent
sichtbar ist und 90 Prozent davon unter Wasser schwimmen. Die Mannschaft auf der Brücke streitet sich gerade,
({1})
in welchem Restaurant das nächste Versöhnungsgespräch stattfinden soll. Ministerpräsident Horst Seehofer
versucht, die Brücke zu erreichen, um einen neuen Kurs
durchzugeben, schafft es aber nicht; denn sein Landesgruppenchef macht nicht mit und funkt dazwischen.
({2})
Das alles könnte wie im Film ohne Konsequenzen
einfach so weiterlaufen. Aber wir sind weder im Film
noch im Kino. Wir sind in der Realität
({3})
und befinden uns in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise, die Deutschland jemals gesehen hat.
Deutschland braucht eine Regierung, die Probleme löst
und mehr als 10 Prozent des Eisbergs im Blick hat.
({4})
Diese 10 Prozent des Eisbergs - das ist das sogenannte Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Dieses Stückwerk stabilisiert nichts über den Tag hinaus. Es
gibt keine Antwort auf die Frage, wie wir unsere Sozialversicherungen zukunftsfest machen können, und das
obwohl Menschen zu Hungerlöhnen arbeiten müssen
und Kinder die Armut ihrer Eltern erben, ohne echte
Chance durch Bildung. Sozialversicherungen werden
stabilisiert, indem jeder seinen Beitrag zur Kranken-,
Renten- und Arbeitslosenversicherung aus eigener Kraft
leistet. Das setzt gute Arbeit voraus, von der man in
Würde leben kann. Das wissen beide auf der Brücke
ganz genau, aber der gesetzliche Mindestlohn ist bei dieser Regierung Fehlanzeige.
Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich den Eisberg über Wasser anschauen. Was steckt darin? Zuerst
einmal - in der Opposition sollen wir nicht nur kritisieren - endlich die Erhöhung des Schonvermögens. Wir
von der SPD waren schon immer Vorreiter bei der Erhöhung des Schonvermögens zugunsten der Altersvorsorge. Hier brauchen wir untereinander keinen falschen
Wettbewerb. Das ist eine echte Verbesserung in diesem
Gesetz. Der Gesetzentwurf, von Olaf Scholz geschrieben, lag für Frau Ministerin von der Leyen schon in der
Schublade.
({5})
Gut ist auch, dass Sie das Defizit der Bundesagentur
für Arbeit im Jahr 2010 durch einen Zuschuss ausgleichen. Gut so, sagen sich alle, die heute zuhören. Doch
auch hier sollten wir unter die Wasseroberfläche
schauen. Was passiert mit den Defiziten 2011, 2012 und
2013? Oder genauer: Was passiert nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai? Was passiert
mit den 90 Prozent des Eisbergs, die unter Wasser sind?
Die SPD hat aus gutem Grund schon immer Arbeit statt
Arbeitslosigkeit finanziert. Sie hat deshalb die Weichen
dafür gestellt, dass heute die Sozialversicherungsbeiträge unter 20 Prozent liegen. Das war mutige Politik;
denn die echte Umverteilung findet in Deutschland nicht
über Steuern statt, auch wenn die FDP und große Teile
der Union uns das immer weismachen wollen, sondern
sie findet über Sozialabgaben statt. Wer wenig verdient,
zahlt in Deutschland dank der Schröder-Regierung keine
Steuern. Doch Sozialabgaben bleiben.
Frau Ministerin von der Leyen - sie ist heute leider
nicht da -, ist es unlauter, heute zu fragen, wie Sie das
Defizit der Bundesagentur für Arbeit ab 2011 ausgleichen wollen? Nur für 10 Prozent des Eisbergs, also nur
für das Defizit für 2010, gibt es für die Arbeitslosenversicherung Geld vom Staat. Darüber redet diese Regierung einfach nicht. Sie hofft natürlich, dass es sonst auch
keiner tut. Sagen Sie doch hier und heute, was Sie nach
der Wahl in Nordrhein-Westfalen machen wollen.
Kommt dann die Erhöhung der Sozialabgaben, oder gibt
es für die Arbeitslosenversicherung weiter Knete von
Herrn Schäuble?
Ich erwarte von Frau von der Leyen, dass sie spätestens in der nächsten Sitzungswoche in der Haushaltsdebatte sagt, wie sie hier für eine echte Sozialpolitik eintreten will.
({6})
Ich sage Ihnen schon heute auf den Kopf zu: Frau von
der Leyen wird nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen
die Sozialabgaben erhöhen. Das bedeutet weniger Netto
vom Brutto für alle Normalverdiener, für alle normalen
Bürgerinnen und Bürger. Sie werden die kleinen Leute
schröpfen, um die Steuergeschenke an Reiche finanzieren zu können.
({7})
Die Menschen wollen kein Stückwerk und brauchen
gute Arbeit: heute und in Zukunft. Sie können das nicht.
Das spüren die Menschen. Hören Sie endlich auf, wie
der Kapitän der Titanic die Augen vor der Wahrheit zu
verschließen. Noch können wir umsteuern, um eine Katastrophe zu vermeiden.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ulrike Flach für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Mast, mit dem Stückwerk aus Ihrer Regierungszeit
befassen wir uns gerade. Das ist der Grund, warum wir
überhaupt Stabilisierungsgesetze in den Bundestag einbringen müssen.
({0})
Ich finde es schon ziemlich vermessen, so zu tun, als ob
diejenigen, die jetzt an der Macht sind, für das zuständig
sind, was Sie uns eingebrockt haben. Ein bisschen mehr
Seriosität in diesem Zusammenhang wäre schon angebracht.
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es gelingen, die konjunkturbedingten Mindereinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung über einen einmaligen Bundeszuschuss von 3,9 Milliarden Euro für 2010
abzufedern. Damit - das müssen die Menschen in diesem Lande wissen, damit sie nicht auf das hereinfallen,
was ihnen immer wieder in die Ohren geblasen wird zahlen wir bereits jetzt 15,7 Milliarden Euro für den Bereich der Sozialversicherungssysteme. Das sind Steuergelder, die auf den Weg gebracht werden, um ein Sozialversicherungssystem am Leben zu erhalten, dessen
Fundament zurzeit weder zukunftssicher noch stabil ist.
Der Gesundheitsfonds, dessen Wirksamkeit wir immer angezweifelt haben, zeigt erste Wirkungen. Schon
damals haben sehr viele davor gewarnt, dass es die mangelnde Umsetzung erschweren wird, die Zusatzbeiträge
zu begrenzen. Heute werden diese Zusatzbeiträge erhoben. Die Kassen kommen mit dem Geld aus dem Fonds
nicht mehr aus. Die Zusatzbeiträge, übrigens ohne einen
Sozialausgleich, schlagen jetzt zu Buche. Nun kommt
die jetzige Opposition und schlägt vor, solche Zusatzbeiträge abzuschaffen. Es ist geradezu abenteuerlich, wie
Sie vor den Folgen Ihrer eigenen Politik die Augen verschließen.
({2})
Was wäre eigentlich - überlegen Sie sich das einmal
zwei Sekunden lang -, wenn Minister Rösler beim Finanzminister nicht zusätzlich 3,9 Milliarden Euro losgeeist hätte?
({3})
Das ist sozusagen seine erste Amtshandlung in dieser
Legislaturperiode gewesen. Wenn er das nicht getan
hätte, wäre nämlich das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung noch erheblich höher. Das haben
schließlich Sie uns hinterlassen.
({4})
Wenn also jemand aktiv gegen hohe Belastungen der
Versicherten vorgegangen ist, dann ist es diese Koalition
mit diesem Minister gewesen, nicht Sie.
({5})
Wir müssen zu einer anderen, krisenfesteren Finanzierung kommen.
({6})
Das ergibt sich natürlich auch aus der demografischen
Entwicklung. Wir haben immer mehr alte Menschen und
immer weniger junge. Das ist definitiv anders, als es zu
Bismarckschen Zeiten war, in denen dieses System ersonnen wurde.
({7})
- Ja, Frau Hagedorn, dafür müssen wir nicht viele Stunden im Haushaltsausschuss sitzen; das liegt auf der
Hand. Aber es ist immer wieder schön, es Ihnen zu sagen.
Wir stehen noch immer am Ausgang der schwierigsten Wirtschaftskrise seit den 70er-Jahren. Noch immer
ist die Arbeitslosigkeit hoch, und entsprechend zahlen
weniger Menschen höhere Beiträge in die Krankenversicherung ein. Hier zeigt sich, welche systemischen
Schwächen die einkommensabhängige Finanzierung in
Zeiten der Wirtschaftskrise hat. Auch deshalb brauchen
wir übrigens eine Festschreibung der Arbeitgeberanteile,
um damit die Lohnnebenkosten zu senken und mehr Einstellungen zu ermöglichen.
({8})
Deswegen ist das ein Schirm für die Menschen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Es geht
doch darum, den Menschen mit solchen Eingriffen neben allen unbedingt notwendigen Reformen zu helfen.
({9})
Unabhängig davon haben wir dank der Erblast von
Herrn Steinbrück auch noch mit der Schuldenbremse
umzugehen - auch das ist für uns Haushälter kein leich2518
tes Geschäft -, um kommenden Generationen nicht nur
Schulden, sondern auch Handlungsspielräume zu hinterlassen.
Liebe Kollegen, die alte SPD-Losung Immer mehr
Staatsgelder in den Topf hat ausgedient. Wir werden einen neuen Weg gehen und haben aus diesem Grunde die
Kommission zur Reform des Gesundheitssystems auf
den Weg gebracht.
({10})
Wir haben damit einen Weg beschritten, der nicht nur für
eine stabile und zukunftsfeste Lösung sorgen wird, sondern der auch seriös durchgerechnet sein
({11})
und den Menschen in diesem Lande zeigen wird, dass
sie sich darauf verlassen können, dass sie es auch in Zukunft noch mit einem Gesundheitssystem zu tun haben
werden, bei dem sie wirklich das bekommen, was sie
gerne haben wollen, und bei dem der Steuerzahler weiß,
dass er sein Geld nicht in einen unendlich tiefen Schlund
hineinwirft, ohne dass etwas Vernünftiges dabei herauskommt.
({12})
Die Kollegin Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Gesetz der Bundesregierung ist unseres Erachtens
eine Mogelpackung. Um beim Lebensmittel des Tages
zu bleiben: Es steht Milch drauf, es ist aber nur ein
bisschen Milch und viel Wasser drin.
({0})
Allein schon im Sinne des Verbraucherschutzes ist es
erforderlich, dass in einem Gesetz auch drin ist, was
draufsteht. Auf Ihrem heutigen Gesetz steht Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz.
({1})
In Wahrheit stabilisieren Sie nur ein bisschen, aber die
Bürgerinnen werden getäuscht und verunsichert.
({2})
Kein Versicherter, der jetzt Zusatzbeiträge zahlen
muss, kann erkennen, dass die Finanzierung der Krankenversicherung dadurch stabil ist. Die Regierung gibt
vor, Großes zu tun, bleibt aber auf halbem Wege stecken.
({3})
Zusatzbeiträge sind kein Zeichen stabiler Sozialversicherung. Zusatzbeiträge sind schlicht unsozial.
({4})
Denn pauschale Zusatzbeiträge belasten vor allem die
kleinen Einkommen und verletzen die Parität, also die
gerechte Aufteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sicher, Sie, Herr Minister Rösler, und Ihre
FDP haben diese Zusatzbeiträge nicht eingeführt. Die
Zusatzbeiträge gehen zurück auf Überlegungen der
CDU/CSU-Fraktion der letzten Legislaturperiode. Aber
auch die SPD hat mitgemacht, und Ministerin Schmidt
hat die Stellschraube angebracht. Aber Sie, Herr Minister, tun jetzt auch nichts, um etwas daran zu ändern.
({5})
Sie nehmen diese Zusatzbeiträge billigend in Kauf,
weil sie Ihnen die Weichen hin zu einer Kopfpauschale
stellen. Sie sagen, das Ganze sei, angereichert mit einem
Sozialausgleich, doch auch wieder sozial - eine neue Art
von sozial. Die Kopfpauschale ist alles andere als sozial.
Weder ist der Sozialausgleich finanzierbar, noch ist es
sozial, den großen Teil der Bevölkerung zu Bittstellern
beim Staat zu machen.
({6})
Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie die Kopfpauschale scheibchenweise einführen. Die Kopfpauschale
ist keine Stabilisierung, sondern die endgültige Bankrotterklärung für die Sozialversicherung.
({7})
Wenn Sie, Herr Minister, kurzfristig wirklich etwas zur
Stabilisierung der Sozialversicherung tun wollen, müssen Sie dem Antrag der Linken zustimmen, diese Zusatzbeiträge endlich abzuschaffen. Die Linke zeigt Ihnen, wie es geht.
Keinem vernünftigen Menschen leuchtet es ein, dass
ein Arbeitsloser die Krankenkasse weniger kosten soll
als ein Beschäftigter. Wir alle wissen: Arbeitslosigkeit
macht krank. Trotzdem bekommen die Krankenkassen
für jede ALG-II-Bezieherin, für jeden ALG-II-Bezieher
nur rund die Hälfte des durchschnittlichen Beitrags:
126 Euro statt 260 Euro. Das bedeutet insgesamt einen
Verlust von 5 Milliarden Euro. Korrigieren Sie diesen
Missstand, und das Loch in der Krankenversicherung
von geschätzt 4 Milliarden Euro für 2010 ist weg.
({8})
Das macht die Krankenversicherung kurzfristig stabil.
Damit wäre dann endlich Schluss mit Verschiebebahnhöfen. Dann können Sie Ihre undurchdachte, unfinanzierbare, unsoziale Kopfpauschale ruhig vergessen. Die
Mehrheit der Bevölkerung will sie nicht. Sie will eine
solidarische Versicherung,
({9})
und das sollte Ihnen Handlungsauftrag sein.
({10})
Meine Fraktion macht dazu ein Angebot: die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Da ist
drin, was draufsteht. Wir werden Ihrer Mogelpackung
nicht zustimmen.
Danke schön.
({11})
Friedrich Ostendorff ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue
mich, dass wir heute erneut die 750 Millionen Euro
Kuhschwanz- und Grünlandprämie und das damit verbundene Sonderprogramm hier im Parlament debattieren
können. Es gibt Gelegenheit, die tiefe Widersprüchlichkeit der Agrarpolitik dieser Bundesregierung zu verdeutlichen. Ich will diese Widersprüchlichkeit an drei Beispielen aufzeigen:
Thema Milchmengensteuerung. Das Bundeskartellamt, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss,
die High-Level-Group Milk bei der EU-Kommission,
die meisten Milchbauern und Milchbäuerinnen, die Staaten Frankreich und Spanien, alle fordern sie das eine: die
Stärkung der Marktmacht der Milcherzeuger gegenüber
den Molkereien durch die Förderung von Erzeugergemeinschaften.
Was hingegen niemand gefordert hat, ist ein Subventionsprogramm von 750 Millionen Euro.
({0})
Warum machen Sie das trotzdem? Warum geben Sie in
diesem Jahr locker 300 Millionen Euro Kuhschwanzund Grünlandprämie aus, stimmen aber gegen unseren
Antrag zur Förderung von Erzeugergemeinschaften in
Höhe von gerade einmal 3 Millionen Euro oder 1 Prozent Ihrer Subventionsgießkanne? Warum verweigern
Sie sich so beharrlich der Debatte um die Milchmengensteuerung? Sie tun das natürlich nicht aus Versehen.
({1})
Sie tun es, weil die bäuerliche Landwirtschaft Ihrem
Weltbild von einer industrialisierten Exportlandschaft
widerspricht.
Nehmen wir das Thema Ökolandbau. Wir wollen
den ökologischen Landbau insbesondere im Bereich
Forschung fördern, schreiben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag. Das verkündet auch Frau Happach-Kasan auf
der Bio-Fach, der Weltmesse für biologischen Landbau.
Das klingt schön, ist aber schon ein gebrochenes Versprechen. Beide Agrarsprecher der Koalition verkündeten
am 9. Februar stolz die Verdoppelung der Mittel für ihre
Exportstrategie. Was sie uns damals aber verheimlichen
wollten, war, woher sie das Geld für diese Exportstrategie
nehmen wollen. Sie wollten dafür klammheimlich und
ohne Not die 16 Millionen Euro Forschungsmittel für
den ökologischen Landbau um 3,3 Millionen Euro kürzen. Sie hätten so langfristige Forschungsvorhaben in
diesem Bereich verhindert.
Es ist Ihnen dann wohl aufgegangen, dass der ideologische Rotstift da doch etwas mit Ihnen durchgegangen
ist. Daher kam gestern in der Bereinigungssitzung das
Einlenken auf den letzten Drücker. Massive Proteste von
Opposition und vielen Verbänden, aber auch aus Ihren
eigenen Reihen zwangen Sie, zum Status quo zurückzukehren. Es verwundert uns nicht, dass Sie den ökologischen Landbau geradezu reflexartig als Streichposten
betrachten, weil er anscheinend nicht in Ihr agrarindustrielles Weltbild passt.
({2})
Ein letztes Beispiel: Der Weltagrarbericht. Die Lippenbekenntnisse dieser Koalition zu den Zielen der
Nachhaltigkeit, der Armutsbekämpfung, der internationalen Gerechtigkeit und des Klimaschutzes würden
wahrscheinlich Bände, nein, Bibliotheken füllen.
Aber dann gibt es eine so bemerkenswerte internationale Anstrengung wie den Weltagrarbericht, von Weltbank und UN initiiert, an dem vier Jahre über 500 Wissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft gearbeitet
haben. Hier hieße es, einmal Farbe zu bekennen. Sogar
die USA, Kanada und Australien, nicht eben die Musterbeispiele internationaler Kooperation, haben den Bericht
mit Einschränkungen unterzeichnet. Die Bundesrepublik
hat auch unterschrieben, nur leider die Bundesrepublik
Nigeria. Die Bundesrepublik Deutschland verweigert
sich bis zum heutigen Tag, diesen Bericht zu unterschreiben. Warum? Das konnte uns auch Staatssekretär Müller
in der Fragestunde am Mittwoch nicht beantworten. Ich
glaube, ich kann Ihnen sagen, warum. Weil dieser Bericht
eines klar sagt: Die bäuerliche Landwirtschaft ist die Zukunftslandwirtschaft für die Welt. Das passt Ihnen nicht.
Sie wollen eben weder eine bäuerliche noch eine klimafreundliche noch eine ökologische noch eine tierfreundliche Landwirtschaft. Sie verfolgen in Wahrheit knallharte
Industrialisierungs- und Exportideologie. Darauf ist Ihre
Politik ausgerichtet.
({3})
Das Wort erhält nun der Landesminister Karl-Josef
Laumann, den wir in diesem Hause besonders gerne einmal mehr begrüßen. - Bitte schön.
({0})
Karl-Josef Laumann, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute kommen wir einmal ohne Aufforderung des
Bundesverfassungsgerichts zu einer wichtigen Änderung
des SGB II. Ich sage bewusst: SGB II, und rate, nicht
mehr so viel von Hartz IV zu reden. Es ist nämlich schon
Minister Karl-Josef Laumann ({2})
ein Ding, dass in Deutschland eines der wichtigsten Sozialgesetze nach einem Vorbestraften benannt ist.
({3})
Als wir vor fünf Jahren über das SGB II debattiert haben, stand das Thema Fordern und Fördern sehr stark
im Mittelpunkt. Es hat mittlerweile aber die Entwicklung gegeben, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer feststellen musste, dass ihre Arbeitsplätze nicht
sicher sind und sie, obwohl sie selber gut ausgebildet
sind, obwohl sie selber über viele Jahre bewiesen haben,
dass sie leistungsbereit sind, obwohl sie selber nichts
verkehrt gemacht haben, ein relativ hohes Arbeitsplatzrisiko haben. Dieses Risiko ist im Übrigen in unserer
Arbeitswelt sehr unterschiedlich verteilt. Die vielen
Menschen zum Beispiel, die beim Staat arbeiten, haben
dieses Risiko so gut wie gar nicht. Die größte Branche,
die es mittlerweile in Deutschland gibt, ist das Gesundheitswesen. In unseren Bundesländern stellt diese
Branche im Durchschnitt mittlerweile zwischen 11 und
13 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Auch diese Branche wächst und ist relativ unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung.
Dann gibt es in diesem Land Menschen - immer
noch, Gott sei Dank -, die noch in der Produktion arbeiten. Dieser Bereich macht ungefähr 20 Prozent unserer
sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze aus. Insbesondere diejenigen, die in der Produktion arbeiten und
auch von den Exportmärkten abhängig sind, sind oft von
problematischen Entwicklungen auf dieser Erde betroffen, die weder ihr Unternehmen noch sie selber beeinflussen können. Ich persönlich meine immer noch, dass
die Menschen, die in der Produktion arbeiten, in Wahrheit diejenigen sind, die uns in erster Linie den Wohlstand erarbeiten und dafür sorgen, dass wir überhaupt
noch etwas verteilen können.
({4})
Diese haben aber zugleich das größte Arbeitsplatzrisiko.
Da ich in meinem Leben auch einmal zu den Menschen gehört habe, die in der Produktion arbeiten, weiß
ich sehr genau, dass sie bei Hartz IV von Anfang an folgende Debatte geführt haben:
({5})
Ist es richtig, dass ich, wenn ich ohne eigenes Verschulden meine Arbeit verliere, nach zwölf Monaten zum
Beispiel aus der Arbeitslosenversicherung herausfalle,
obwohl ich mit meinen Steuern und Beiträgen, weil ich
gut verdient habe, erheblich zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beigetragen habe, und damit
dann so behandelt werde wie jemand, der nie etwas zur
sozialen Sicherung in diesem Land beigetragen hat? Das
ist schon ein Thema bei den Leuten.
({6})
- Ja, ja.
Deswegen war es richtig, dass wir das Arbeitslosengeld für langjährig Versicherte in der Großen Koalition
endlich verändert haben. Es hat lange genug gedauert,
bis Herr Müntefering die Notwendigkeit eingesehen hat;
denn der war in dieser Sache der Bremser.
({7})
Die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen
hat schon im Juni 2005 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie für die genannte Personengruppe eine
längere Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld und ein
höheres Schonvermögen vorsehen will. Das Problem lag
also all die Jahre nicht bei Schwarz-Gelb, sondern bei
der Blockadehaltung von Bundesminister Müntefering;
ich war bei vielen Verhandlungen dabei.
({8})
- Das wollen Sie nicht hören; aber das ist die Wahrheit.
Deswegen liegen Sie in den Umfragen jetzt auch nur
noch bei 23 Prozent. Das hat ja alles seine Gründe.
({9})
- Historie ist Historie. Das alles können Sie in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen.
({10})
- Freuen Sie sich nicht zu früh.
Es gibt einen weiteren Punkt, den Sie klar sehen müssen: Wir haben jetzt erreicht, dass die Menschen aufgrund einer Verdreifachung des Schonvermögens - bei
Ihnen war nur ein Schonvermögen vorgesehen, das dazu
führte, dass die Leute am Ende bestenfalls eine Monatsrente von 85 Euro bekamen - im besten Fall eine Zusatzrente von 300 Euro erhalten. Das ist nicht zu viel; aber
es ist angesichts dessen, was ich am Anfang ausgeführt
habe, auch nicht mehr als recht und billig.
({11})
Wir sorgen heute dafür, dass dieses Gesetz mehr Akzeptanz bekommt.
Sie haben dies in den letzten fünf Jahren, obwohl wir
es immer wieder gefordert haben, nicht umgesetzt. Es
gibt im Übrigen Bundesanträge dazu; das alles ist ja in
den Parlamenten dokumentiert.
({12})
- Nordrhein-Westfalen hat das im Bundesrat beantragt.
Das alles können Sie doch in den Protokollen nachlesen.
Sie waren diejenigen, die dies nicht umgesetzt haben.
Die neue Regierung ist ein halbes Jahr im Amt und
Minister Karl-Josef Laumann ({13})
macht dies. Dafür möchte ich mich im Namen von Nordrhein-Westfalen ganz herzlich bedanken.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Ferner für die
SPD-Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegen! Liebe
Kolleginnen! Herr Laumann, es ist schon ziemlich
dreist, muss ich sagen,
({0})
dass Sie hier sagen, Sie hätten die Erhöhung des Schonvermögens jetzt durchgesetzt. Ihre Partei, die Fraktion
der CDU/CSU und die Mitglieder Ihrer Partei in der
Bundesregierung haben im Sommer letzten Jahres verhindert, dass der Gesetzentwurf, den Olaf Scholz dem
Kabinett vorgelegt hat, noch umgesetzt worden ist.
({1})
In diesem Gesetzentwurf war keine Verdreifachung der
Freibeträge, sondern eine Freistellung des gesamten Altersvermögens im Zusammenhang mit irgendwelchen
Anrechnungen vorgesehen. Das ist die Wahrheit. Sie
werden bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl
mit solchen Halbwahrheiten keine Punkte machen; das
kann ich Ihnen sagen.
({2})
Ich möchte etwas zu dem Thema Zuschuss zur
Krankenversicherung sagen. Das Gesetz, um das es
heute geht, trägt den Namen Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Dazu kann man sagen: Stabil ist eines
in dieser Koalition, nämlich der Streit, der jeden Tag
zwischen München und Berlin und sonst wo ausgetragen
wird. Der Punkt ist: Es fehlen dieses Jahr knapp
8 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. 3,9 Milliarden Euro werden einmalig ausgeglichen. Das heißt, das reicht mal eben bis Jahresende. Das
hat mit Nachhaltigkeit usw. nichts, aber auch gar nichts
zu tun. Das überdeckt die Probleme. Das ist Politik von
der Hand in den Mund. Sie haben vor allen Dingen keinerlei Ansätze zur Problemlösung.
Jetzt mag es in einer solchen Situation schwierig sein,
über Beitragssatzanhebungen nachzudenken.
({3})
- Ich sage ja, es mag schwierig sein, darüber nachzudenken. - Wenn ich aber Beitragssatzanhebungen ausschließe, wenn ich nicht mehr als 3,9 Milliarden Euro
aus Steuern einmalig in das System geben will, dann
muss ich sofort damit beginnen, bei den Ausgaben etwas zu machen. Ich habe es gestern schon gesagt: Herr
Rösler, ein lieber, netter Onkel Doktor zu sein, reicht
nicht aus. Sie müssen endlich etwas vorlegen, damit die
Ausgaben im nächsten Jahr nicht noch weiter steigen.
({4})
Herr Rösler, laut Leipziger Volkszeitung wollen Sie:
Ein System, das sich ähnlich wie die soziale Marktwirtschaft selbst optimiert. Das ist unser Ansatz.
Wir wollen strukturelle Verbesserungen.
Bei der Finanzkrise hat man gesehen, welche Auswirkungen selbst regulierende Finanzmärkte haben. Wenn
Sie auf Selbstregulierung setzen, Herr Minister Rösler,
dann brauchen wir weder einen Bundesgesundheitsminister noch ein Bundesgesundheitsministerium. Dann
ist das alles überflüssig.
Sie sagen nicht, wie im nächsten Jahr 11 Milliarden
bis 12 Milliarden Euro, die dann im System fehlen, finanziert werden sollen, faseln aber gleichzeitig über eine
Kopfprämie, obwohl diese nicht finanziert ist und auch
kein Geld für einen Sozialausgleich vorhanden ist. Das
ist Vogel-Strauß-Politik. So kann man keine Gesundheitspolitik für über 80 Millionen Menschen in diesem
Land machen.
({5})
Ein Defizit in Höhe von 11 Milliarden bis 12 Milliarden
Euro im nächsten Jahr bedeutete, dass jedes Mitglied der
GKV knapp 20 Euro im Monat zusätzlich zahlen müsste.
Da Sie nach eigener Aussage die 1-Prozent-Regelung,
also die Deckelung, nicht ändern wollen, gehe ich davon
aus, dass diese Regelung der Maßstab für den von Ihnen
vorgesehen Sozialausgleich ist. Das wiederum bedeutete,
dass alle, die weniger als 2 000 Euro im Monat verdienen,
auf einen Sozialausgleich angewiesen wären. Ich habe
mich gestern noch einmal kundig gemacht: 33,4 Millionen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung
haben ein Einkommen von weniger als 2 000 Euro im
Monat. Das heißt, Sie wollen mehr als ein Drittel der Bevölkerung zu Bittstellern machen, die auf einen Sozialausgleich angewiesen sind, um die Beiträge zur Krankenversicherung zahlen zu können, die sie vorher aus eigener
Tasche zahlen konnten. Das ist doch keine Gesundheitspolitik.
({6})
- Frau Flach, da Sie fragen, woher ich das weiß: Vielleicht kann sich die Regierung endlich dazu bequemen,
unsere Fragen zu beantworten. Aber auch das passiert
nicht, weil offenkundig niemand in dieser Regierung bereit ist, vor dem 9. Mai die Karten auf den Tisch zu legen
und deutlich zu machen, wer durch eine Kopfprämie belastet oder entlastet wird und wie die Lücke von
11 Milliarden bis 12 Milliarden Euro zwischen Einnahmen und Ausgaben im nächsten Jahr geschlossen werden soll.
Herr Präsident, der Kollege Bahr möchte mich gerne
etwas fragen.
({7})
Da grübelt man doch, ob das eine spontane Eingebung oder eine langfristige Vereinbarung ist.
({0})
Wie auch immer, ich stelle jedenfalls Einvernehmen
zwischen möglichem Fragesteller und Redner fest und
erteile hiermit dem Kollegen Bahr das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. Es handelt sich nicht um
eine Verabredung, sondern um Gewohnheit aus den langen gesundheitspolitischen Diskussionen.
Frau Kollegin Ferner, ich möchte Ihnen eine Frage
stellen, weil Sie aufgrund bestimmter Annahmen eine
mögliche Gesundheitsprämie und das damit verbundene
Antragsverfahren kritisieren. Sie haben als SPD den Gesundheitsfonds mit beschlossen. Die logische Folge ist,
dass Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben müssen. In
diesem Zusammenhang haben Sie die 1-Prozent-Grenze
angesprochen. Können Sie mir darlegen, wie hier der soziale Ausgleich organisiert ist, den die SPD mit beschlossen hat? Nach meiner Erkenntnis müssen Millionen Versicherte extra einen Antrag stellen. Dann müssen
die Krankenkassen prüfen, ob der Zusatzbeitrag höher
als 1 Prozent des Bruttoeinkommens ist. Das heißt, das
Verfahren bei den Zusatzbeiträgen, das Sie beschlossen
haben, ist nichts anderes als ein Antragsverfahren. Ihr
Konzept macht also Millionen Versicherte genauso zu
Bittstellern bei den Krankenkassen, weil ein Sozialausgleich nicht automatisch gewährt wird, sondern extra ein
Antrag gestellt werden muss.
({0})
Nein, das kann man nicht mit Ja beantworten, lieber
Wolfgang Zöller; denn - das wissen Sie ganz genau - die
Geschichte ist nicht so gewesen.
Herr Kollege Bahr, hätten Sie in den langen gesundheitspolitischen Debatten zugehört, die wir in der letzten
Wahlperiode geführt haben, wüssten Sie, dass die Zusatzbeiträge einen Kompromiss darstellen, dass die Zusatzbeiträge für die Union eine Conditio sine qua non
waren. Dann würden Sie wissen, dass wir die Zusatzbeiträge prozentual und paritätisch finanziert haben wollten. Dann würden Sie wissen, dass zwei Gutachter - der
eine wurde von der Union bestellt, das war Professor
Rürup, der andere wurde von uns bestellt, das war Professor Fiedler ({0})
- man darf nicht fragen, wenn man keine Antworten hören will ({1})
übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, dass
ein Sozialausgleich bei den Zusatzbeiträgen fehlt. Sie
würden auch wissen, dass wir es waren, die bei unserem
damaligen Koalitionspartner bis zum Schluss darum geworben haben, dass bei den Zusatzbeiträgen ein Sozialausgleich eingeführt wird. Sie würden auch wissen, dass
wir dem Gesamtkonzept des Gesundheitsfonds nur deshalb zugestimmt haben, weil jetzt bei der Verteilung des
Beitragsaufkommens deutlich mehr Gerechtigkeit herrscht,
als es nach dem alten System möglich war, nämlich dass
die Beitragseinnahmen zu 100 Prozent nach dem jeweiligen Mechanismus über alle Versicherungen verteilt werden. Es hängt also nicht mehr davon ab, ob eine Kasse gut
oder schlecht verdienende Kassenmitglieder hat. Die
krankheitsbedingten Ausgaben, der sogenannte der MorbiRSA, der morbiditäts- ({2})
- Ja, das ist ein schwieriges Wort, das man vor allen Dingen den Menschen, die am Fernseher sitzen und nicht jeden Tag Gesundheitspolitik machen, erklären muss. - Der
morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, der die
Krankheitskosten abbildet und entsprechend ausgleicht,
ist deutlich zielgenauer als bisher.
Frau Kollegin, ich wollte Sie nur darauf aufmerksam
machen, dass das eine nach meiner Einschätzung außergewöhnlich umfängliche Antwort ist.
({0})
Nein, er möchte gerne hören, was ich noch zu sagen
habe, Herr Präsident.
Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe auch keinen
Zweifel daran, dass Ihr Interesse an einer noch ausführlicheren Antwort unerschöpflich ist. Ich wollte Sie nur
dezent darauf aufmerksam machen, dass Sie für den Rest
Ihrer eigentlich beabsichtigten Ausführungen noch 23 Sekunden zur Verfügung haben.
({0})
Alles klar. - Sie würden wissen, dass dieser Kompromiss deshalb gemacht worden ist. Damit ist die Frage
beantwortet, wahrscheinlich mehr, als Ihnen lieb ist. Ich
prophezeie Ihnen: Sie werden mit dem Kopfprämienmodell baden gehen, weil es weder in der Koalition noch in
der Bevölkerung mehrheitsfähig ist.
Schönen Dank, Herr Präsident.
({0})
Frau Dr. Happach-Kasan erhält nun das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist richtig: Wir haben eine schwierige Situation in
Deutschland. Deswegen ist es gut, dass die christlichliberale Koalition
({0})
um Lösungen ringt und die beste Lösung für die Menschen in diesem Land erarbeitet, statt sie von der Straße
aufzulesen, wie uns das die Opposition immer mal wieder vorschlägt.
({1})
Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise. Es ist richtig, dass die Landwirtschaft in dieser Situation Unterstützung erfährt, so wie auch andere Wirtschaftsbereiche
Unterstützung erfahren haben. Dem dient das Sonderprogramm Landwirtschaft. Gleichzeitig haben wir in der Koalition mit diesem Sonderprogramm den Ausstieg aus der
staatlichen Mengensteuerung bei der Milch vereinbart
und weitere nationale Sonderwege verhindert.
({2})
Herr Kollege Ostendorff, wer den Landwirten immer
noch erzählt, mit der staatlichen Mengensteuerung hätten sie etwas Gutes, der belügt sie. Das ist nicht in Ordnung.
({3})
Der erzählt ihnen von etwas, das nicht zukunftsträchtig
ist. Er nimmt sie nicht mit auf den Weg in die Zukunft.
Ich glaube, das ist schlecht. Ihr Programm erinnert letztlich an Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt.
Das zeigt, dass Sie noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind. Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht voranzugehen.
({4})
Gleichzeitig eröffnen wir damit auch den Weg in eine
neue Agrarpolitik, wie sie zum Beispiel der Agrarkommissar Dacian Ciolos aus Rumänien in seiner Rede im
Ausschuss dargestellt hat, nämlich den Abschied von der
Mengensteuerung und den alten Regulierungsmechanismen des Marktes, die versagt haben; denn die schwierige
Situation der Milchbauern liegt auch daran, dass sie erstens die Milchquote hatten und zweitens die Intervention. Damit wurde verhindert, dass marktfähige Strukturen aufgebaut wurden.
Gleichzeitig fördern wir mit diesem Sonderprogramm
das Grünland. Grünland hat eine wichtige ökologische
Funktion. Grünlandumbruch verursacht in großem Umfang CO2-Emissionen. Aber es reicht nicht, ein Verbot
auszusprechen, sondern es müssen Perspektiven für die
Nutzung von Grünland eröffnet werden. Genau das haben wir hiermit gemacht.
({5})
Die Unterstützung der Unfallversicherung hilft der
gesamten Landwirtschaft. Wer gestern beim Abend der
Landwirtschaftlichen Sozialversicherung war, hat gehört, wie das dort angekommen ist. Ich habe keinen Politiker der Opposition gehört, der sich dagegen verwehrt
hat. Dazu nur so viel.
Es bleibt Aufgabe der Politik, die Landwirtschaft in
die Lage zu versetzen, ihr Einkommen am Markt selbstständig zu erwirtschaften. Dazu gehört die Stärkung der
Innovationspotenziale. Das gerade macht der Weltagrarbericht nicht. Deswegen ist es gut, dass die Bundesregierung ihn nicht unterschrieben hat. Er hat keine Zukunftsperspektiven aufgezeigt.
({6})
Die Beendigung der Wettbewerbsverzerrung durch
eine hohe Agrardieselsteuer ist von uns auf den Weg gebracht worden. Das wurde von uns initiiert. Außerdem
brauchen wir die Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Vorgaben, damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe
erhalten bleibt. In diesem Sinne werden wir in Zukunft
die Landwirtschaftspolitik gestalten, mit den Menschen,
mit den Betrieben und im Interesse der Betriebe in
Deutschland.
Danke schön.
({7})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der
Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon interessant, zu sehen, wie Sie sich
quälen und winden, wenn Ihnen ein leibhaftiger Arbeitsminister aus Nordrhein-Westfalen Ihre sozialpolitischen
Versäumnisse vorhält.
({0})
Die Fakten lassen sich am Ende aber nicht wegdiskutieren, liebe Kollegen von der SPD. Da können Sie hier
noch so viel herumschreien. Die Anträge sind tatsächlich
aus Nordrhein-Westfalen gekommen.
Frau Kollegin Ferner, man fragt sich natürlich, wie
sich die ehemalige Gesundheitsministerin, Frau
Schmidt, fühlen muss, wenn sie Sie hier so reden hört.
({1})
Das, was Sie von der sozialdemokratischen Fraktion in
den letzten Tagen gemacht haben, ist im Grunde eine
Abrechnung mit den Regierungsjahren und der Frau
Ministerin Ulla Schmidt.
({2})
Sie wollen alles, was damals beschlossen worden ist, zurückdrehen, auch das, was wir gemeinsam beschlossen
haben;
({3})
das habe ich in diesem Hause schon gestern gesagt. Das
gilt etwa für die Zusatzbeiträge, die eine Entkopplung
der steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskosten bewirken. Das wurde auch und immer zu Recht von
Frau Ministerin Schmidt positiv begleitet und von uns
unterstützt.
({4})
Insofern müssen Sie intern, in Ihrer ehemaligen Regierungsfraktion, vielleicht einmal klären, wie Sie sich
zu den letzten elf Jahren Regierungszeit verhalten wollen, ob Sie sich schämen für das, was Sie beschlossen
haben,
({5})
oder ob Sie zurückfallen wollen in den Populismus der
80er- und 90er-Jahre; denn das ist es, was wir in den
letzten Tagen hier erleben.
({6})
Ich will kurz auf den vorliegenden Gesetzentwurf bezüglich der Dinge eingehen, die die gesetzliche Krankenversicherung betreffen. In diesem Jahr erwarten wir
bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit
von etwa 8 Milliarden Euro, das sich im Grunde aus
zwei Bestandteilen zusammensetzt:
Zum einen sind da die Ausgabensteigerungen zu
nennen, die wir insbesondere im ärztlichen Bereich, bei
den Krankenhäusern und den Arzneimitteln haben. Jeder, der fortgesetzt sagt, wir sollten im Gesundheitswesen endlich mehr sparen, der muss bitte auch konkret sagen, bei welchen Ärzten und welchen Krankenhäusern
wir sparen sollen,
({7})
zumal wir die Ausgabenentwicklungen in der Großen
Koalition gemeinsam beschlossen haben: etwa für eine
bessere Versorgung in Ostdeutschland und für die Pflegestellen in den Krankenhäusern. Ich glaube, diese Entscheidungen waren richtig.
({8})
Neben den Ausgabensteigerungen haben wir zum
Zweiten durch die Krise bedingt Einnahmeausfälle in
Höhe von gut 4 Milliarden Euro in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Es ist ein gutes Zeichen, dass die
christlich-liberale Koalition diese Ausfälle jetzt mit
3,9 Milliarden Euro abfängt. Das wirkt wie ein Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, da
dadurch in der Krise die Beiträge nicht steigen müssen
und die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insofern nicht geschwächt werden.
Einer Aufgabe bzw. Herausforderung müssen auch Sie
sich stellen - das wird klar, wenn man Ihre Debattenbeiträge gestern und heute hier verfolgt hat -: Wir erwarten
zum 1. Januar 2011 und für das folgende Jahr ein Defizit
von 11 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eines jedenfalls geht nicht, nämlich dass man
einfach sagt: Es soll alles so bleiben, wie es ist. Sie sagen
ja sogar, Sie wollten in die guten alten Zeiten der 80erund 90er-Jahre zurück. Sie wollen also alles zurückdrehen.
Sie machen nach Ihren elf Jahren Regierungspolitik
eine Abrechnung und sagen: Was passiert, wenn diese
11 Milliarden Euro Defizit da sind, das ist uns egal. Sie
wissen genau, was dann passieren wird: Wir werden eine
Steigerung bei den Zusatzbeiträgen, die Sie neuerdings
immer kritisieren, haben, ohne dass es einen sozialen
Ausgleich gibt.
({9})
Genau das ist die Herausforderung, die wir angehen wollen. Heute ist es bei den Zusatzbeiträgen so: Wenn sie
über 1 Prozent des Einkommens liegen, wird die Differenz zwischen dem, was von den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern eigentlich zu zahlen wäre, und diesem 1 Prozent nicht bei den Kassen ankommen. Es wird
einfach gekappt.
({10})
Dieses Geld fehlt dann natürlich in der gesetzlichen
Krankenversicherung.
Genau dieses System wollen wir weiterentwickeln,
indem wir einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln
einführen. Wenn Sie sagen, dass das für Sie keine Lösung ist, dann müssen Sie zumindest auch sagen, was
Ihrer Meinung nach die Lösung wäre. Ein paar konstruktive Ansätze an der einen oder anderen Stelle kann man
zumindest von der größten Oppositionsfraktion erwarten.
({11})
Kollege Lauterbach hat uns gestern wieder - das hat
er schon im Dezember getan - versprochen, dass wir ein
durchgerechnetes Konzept zur Bürgerversicherung vorgelegt bekommen.
({12})
Auf dieses durchgerechnete Konzept warten wir im
Grunde schon seit Jahren.
({13})
Sie wissen genau, warum Sie es nicht vorlegen. Bürgerversicherung klingt schön, bedeutet aber, dass Sie Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen und vieles andere mehr
mitverbeitragen würden. Dazu müssten Sie sich äußern.
({14})
- Ich kann gar nicht lügen, weil Sie gar kein konkretes
Konzept vorlegen.
({15})
Insofern kann man sich zu diesen Fragen nur spekulativ
äußern.
Sie müssten auch einmal sagen, wo die Beitragsbemessungsgrenze liegen soll. Sie wissen ganz genau, warum Sie dieses Konzept nicht vorlegen:
({16})
Dann würden die Menschen in diesem Land, insbesondere die Facharbeiter und die Angestellten mit mittleren
Einkommen, merken, dass sie wieder einmal Ihre Versprechungen bezahlen sollen.
({17})
Deswegen erhalten wir keine konkreten Zahlen von Ihnen. Auch gestern wollten Sie nicht sagen, wie Sie dieses schön klingende Konzept der Bürgerversicherung
tatsächlich ausfüllen wollen.
({18})
Wer nichts tun will, muss - das sagen Sie uns immer alles so lassen, wie es ist.
({19})
Man sollte aber sagen, wie man mit diesen Herausforderungen und Entwicklungen umgehen will. Wir geben mit
diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden
wollen, eine Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Defizit in diesem Jahr umgehen. Ich glaube, damit machen
wir einen ersten wichtigen Schritt zur Stabilisierung der
sozialen Sicherungssysteme. Ich würde mich freuen,
wenn Sie die nächsten Schritte konstruktiv - das wäre
einmal etwas Neues - begleiten.
({20})
Ich bleibe bei dem, was ich gestern gesagt habe: Wir
machen uns frohen Mutes ans Werk.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes auf den Drucksachen
17/507 und 17/814. Der Haushaltsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/928, den Gesetzentwurf der Bundesregierung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das
Erste war die Mehrheit. Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke
mit dem Titel Versicherte in der Krise schützen - Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung und
der Bundesagentur für Arbeit entschärfen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der genannten Drucksache, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/495 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese
Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses
angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Niedriglöhne bekämpfen - Gesetzlichen Mindestlohn einführen
- Drucksache 17/890 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke.
({1})
Guten Morgen, Herr Kolb. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Präsident! Wiederholt diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag über den Mindestlohn. Zuerst zu den Fakten: In der feinkeramischen
Industrie liegen die Tariflöhne zurzeit bei 8,95 Euro, in
der Kunststoffindustrie bei 8,18 Euro, im Einzelhandel
in NRW bei 7,73 Euro, in der Steine-und-Erden-Industrie in Thüringen - jetzt kommen wir weiter nach unten bei 6,83 Euro, im Bewachungsgewerbe in Berlin bei
5,50 Euro und im Friseurhandwerk in Sachsen bei
3,06 Euro.
({0})
Das ist die Realität. Daran wird deutlich, wie sich Leistung in diesem Lande lohnt. Ich kann Ihnen sagen - Sie
von der FDP wissen das wohl am besten -: Für dieses
Geld würden Sie morgens nicht einmal Ihr Augenlid heben.
({1})
Meine Damen und Herren, der Niedriglohnsektor in
unserem Land hat inzwischen Ausmaße angenommen,
die unerträglich sind. 1,2 Millionen Menschen, 4 Prozent
der Beschäftigten, arbeiten für Löhne unter 5 Euro, für
Löhne unter 6 Euro arbeiten 2,2 Millionen Menschen,
für Löhne unter 7 Euro arbeiten 3,7 Millionen Menschen, und für Löhne unter 8 Euro arbeiten 5,1 Millionen Menschen.
({2})
Man kann natürlich sagen: Das hat sich zufällig so
entwickelt. - Dem ist aber nicht so. Ich erinnere an das,
was unser Exkanzler Schröder gesagt hat.
({3})
Er hat im Februar 1999, kurz nach seinem Amtsantritt,
verkündet - ich zitiere wörtlich -:
Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen
Im Jahr 2005 hat er in Davos gesagt - Zitat -:
Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir
haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt.
Das stimmt.
({4})
Die Politik von Rot-Grün hat tatsächlich zu einer Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt; das hängt auch
mit den Hartz-Gesetzen zusammen.
({5})
Heute hat der Niedriglohnsektor im Vergleich zu 1995
ein deutlich größeres Ausmaß. Im Jahre 1995 waren
29,3 Prozent der unter 25-Jährigen im Niedriglohnbereich beschäftigt. Inzwischen sind 46,9 Prozent der unter
25-Jährigen, also fast die Hälfte, im Niedriglohnbereich
beschäftigt.
({6})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie so brüllen. Wir sind
doch nicht im Bierzelt!
({7})
Meine Damen und Herren, Leistung soll sich lohnen.
Ich frage mich nur: Für wen? Geht es Ihnen um die Leistung der Erben, die Sie durch Ihre Gesetze vor einer besonderen Steuer bewahren wollen, geht es Ihnen um die
Leistung der Hoteliers, die Sie bei der Mehrwertsteuer
um die Hälfte entlasten,
({8})
oder geht es Ihnen um die Leistung der Steuerhinterzieher, Herr Kolb? Schließlich bemüht sich die FDP ja ganz
besonders dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Daten nicht in den Besitz des Staates gelangen.
Herr Kolb, ich sage Ihnen - das ist das Traurige an
dieser ganzen Angelegenheit -: Ihr Chef, Herr
Westerwelle, kann nicht rechnen. In der Welt vom
11. Februar dieses Jahres hat er geschrieben - ich zitiere -:
Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat,
bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat,
als wenn er oder sie Hartz IV bezöge.
Mittlerweile liegen entsprechende Berechnungen vor.
Dankenswerterweise hat auch das Bundesarbeitsministerium gerechnet. Es kam zu dem Ergebnis, dass jemand,
der arbeitet, immer mehr Geld bekommt als jemand, der
nicht arbeitet. Herr Westerwelle hat also, was den
Grundtenor der Aussage angeht, nicht die Wahrheit gesagt.
({9})
Herr Kolb, wenn man ausrechnet, wie viel die Kellnerin
aus dem genannten Beispiel wirklich bekommt, dann
kommt man zu dem Ergebnis, dass sie, wenn sie arbeitet,
345 Euro mehr bekommt, als wenn sie nicht arbeitet.
Zwischen Wahrheit und Realität liegen bei Herrn
Westerwelle also insgesamt 454 Euro.
({10})
Herr Kolb, angesichts dieser Rechenkunststücke kann
die Bundesrepublik Deutschland von Glück sagen, dass
Herr Westerwelle Außenminister und nicht Finanzminister ist.
({11})
Wäre er in Geografie genauso schlecht wie in Mathematik und würde er bei seinen Auslandsreisen selbst fliegen, dann käme er in Uganda an, wenn er in New York
landen will.
({12})
Das ist das Problem, wenn Sie rechnen. Das Ziel, das Sie
mit dieser Debatte verbinden, ist natürlich ein anderes.
Ihr Ziel ist, diejenigen, die arbeiten, gegen diejenigen
auszuspielen, die nicht arbeiten. Sie sausen durch die
Gegend und verkünden Parolen, die die Menschen diskriminieren.
Meine Damen und Herren, was macht die Bundesregierung? Die Bundesregierung fabuliert in ihrer Koalitionsvereinbarung davon, dass sie sittenwidrige Löhne
abschaffen will. Anders formuliert: Sie will zunächst sittenwidrige Löhne einführen, um letztlich eine Untergrenze beim Lohn einziehen zu können. Es ist wichtig,
sich vor Augen zu halten, was es real bedeuten würde,
wenn sittenwidrige Löhne gezahlt würden.
({13})
- Ach, Herr Weiß, wenn Sie es wenigstens wüssten; aber
Sie wissen es nicht, Sie heißen nur so.
({14})
Herr Weiß, das Problem ist Folgendes: Wenn eine Friseurin oder ein Friseur jetzt 3 Euro verdient und die
Grenze für sittenwidrige Löhne bei 30 Prozent unterhalb
des bezahlten Branchenlohns läge, dann dürfte diese Friseurin oder dieser Friseur künftig 2 Euro verdienen. Das
ist Ihre Untergrenze.
({15})
Das, was Sie machen, ist eine staatliche Aufforderung
zum Lohndumping. Das geht nicht, Herr Weiß; das
sage ich in aller Klarheit.
({16})
Meine Damen und Herren, Ihre Vorschläge gehen eindeutig ins Leere. Im Übrigen bringen Sie immer das Argument, dass mit der Einführung des Mindestlohns Arbeitsplätze abgebaut würden. Wir haben folgende
Situation: Die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten liegt in den Niederlanden, wo es einen Mindestlohn
gibt, bei 4,8 Prozent, in Großbritannien, ebenfalls mit
Mindestlohn, bei 5,7 Prozent, in Schweden - ebenfalls
mit Mindestlohn; dort ist er tariflich - bei 7,3 Prozent
und selbst in den USA, wo es einen Mindestlohn gibt,
bei 8,3 Prozent. Bei uns in Deutschland beträgt die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten ohne Mindestlohn 19,9 Prozent. Ich weiß nicht, woher Sie die Weisheit haben, Herr Weiß, zu sagen, dass die Einführung des
Mindestlohns zu einem Mehr an Arbeitslosigkeit in diesem Bereich führte.
({17})
Das ist durch keine Studie belegt. Jede Studie sagt Ihnen
etwas anderes.
({18})
Deshalb halten wir es nach wie vor für dringend notwendig, dass eine Untergrenze des Lohnes eingeführt
wird. Wir sagen in dieser Legislaturperiode: 10 Euro.
Wir sehen, dass es in anderen Ländern, die nicht nur
über eine Forderung diskutieren, real existierende Mindestlöhne gibt, die nah an unsere Forderung herankommen. Vielleicht nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass in
Luxemburg der Mindestlohn zurzeit 9,73 Euro beträgt,
in Frankreich 8,86 Euro - er ist übrigens 2010 um 1,7 Prozent erhöht worden, in Luxemburg um 2,5 Prozent -, in
Irland 8,65 Euro, in den Niederlanden 8,64 Euro, in Belgien 8,41 Euro. Ich weiß nicht, warum Sie von der CSU,
von der CDU und von der FDP eigentlich glauben, dies
ganz anders machen zu können, als es in anderen Ländern in Europa der Fall ist, zumal wir gleichzeitig wissen, dass wir inzwischen Geschäftsmodelle wie bei der
Pin AG finanzieren, Herr Weiß,
({19})
die darauf hinauslaufen, dass der Steuerzahler die Löhne
für eine ganze Branche finanzieren soll, weil die Löhne
in der jeweiligen Branche durch das Nichtvorhandensein
von Mindestlöhnen immer weiter nach unten abrutschen.
Das Urteil in Sachen Pin AG hat sofort dazu geführt,
dass die Löhne abgesenkt wurden.
Letztendlich wird das Nichtvorhandensein eines Mindestlohns in der gesamten Wirtschaft, auch in den Branchen, in denen es momentan noch Tarifverträge gibt,
dazu führen, dass der Lohn real abgesenkt wird. Dies
kann nicht unser Ziel sein.
({20})
Sie sind als Regierung nicht auf so etwas vereidigt. Von
der Regierung sind heute ja nicht viele da; offensichtlich
interessiert dieses Thema nicht sehr viele in der Bundesregierung. Aber das verstehe ich auch: Deren Löhne sind
ja deutlich über dem Mindestlohn.
({21})
Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Wenn
wir uns dieses Problems nicht annehmen und nicht dazu
kommen, eine Grenze einzuziehen, dann wird das dazu
führen, dass sich die Menschen zunehmend fragen, in
welchem Interesse dieser Bundestag eigentlich Politik
macht: im Interesse derer, die von niedrigen Löhnen profitieren, oder im Interesse der Menschen, die einen Mindestlohn brauchen.
Ich danke fürs Zuhören.
({22})
Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es geht hier um ein ernstes Thema, das für Spiegelfechtereien nicht geeignet ist. Ich stelle grundsätzlich fest:
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf eine angemessene Entlohnung ihrer Arbeitsleistung. Lohndumping und Lohndrückerei gehören
nicht zu einer sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Zur sozialen Marktwirtschaft gehört gerechter Lohn für
gute Arbeit. Das muss das Prinzip unserer Politik und
auch unserer Wirtschaftsordnung sein.
Soziale Marktwirtschaft heißt auch: Tarifautonomie. Nicht eine staatliche Behörde, nicht der Deutsche
Bundestag, nein, Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer
Branche wissen am besten, welcher Lohn für welche Arbeitsleistung angemessen ist.
({1})
Nicht ein Bundesminister und nicht ein Parlament sind
die Experten der Lohnfindung, sondern die Tarifpartner.
Deshalb wollen wir die Tarifautonomie und die Tarifpartner stärken, damit es zu gerechten Löhnen in
Deutschland kommt.
({2})
Unsere Politik ist also: Vorrang nicht für den Staat, sondern Vorrang für Arbeitgeber und Gewerkschaften, Vorrang für die Sozialpartnerschaft.
In der Großen Koalition haben wir mit der Novellierung
des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes das geeignete gesetzliche Instrumentarium geschaffen. Es funktioniert auch. Bereits
die vorige Bundesregierung hat in einigen Bereichen per
Rechtsverordnung entsprechende Mindestlöhne festgelegt. Die neue Bundesregierung hat zum 1. Januar dieses
Jahres einen Mindestlohn für die Abfallwirtschaft festgelegt. Zum 1. April werden die neuen Mindestlöhne für die
Gebäudereiniger - es gibt mehrere Stufen; der höchste
Mindestlohn im Westen liegt bei 11,13 Euro - und für das
Dachdeckerhandwerk - bundesweit 10,60 Euro - in Kraft
treten.
Allein diese Beispiele für die Festlegung branchenbezogener Mindestlöhne zeigen: Hätten wir einen
staatlich verordneten Einheitsmindestlohn - für ganz
Deutschland, über alle Branchen hinweg -, gäbe es
wahrscheinlich Bereiche, in denen dieser Mindestlohn
zu einer Überforderung der Betriebe führen würde,
sprich: Arbeitsplätze vernichten würde. Umgekehrt würden in Bereichen, in denen per Tarifvertrag bereits höhere Mindestlöhne durchgesetzt sind, reihenweise Betriebe aus dem Tarifvertrag fliehen, weil sie ja mit dem
staatlichen Mindestlohn weniger bezahlen könnten.
({3})
In beiden Fällen wären die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Betrogenen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir durch die Einführung branchenbezogener
Mindestlöhne vorankommen.
Zurzeit wird über einen Mindestlohn für den Pflegebereich verhandelt. Ich halte diesen Mindestlohn für
dringend notwendig.
({4})
Die Aussichten sind gut, dass die Kommission, die aufgrund der gemeinsamen Gesetzgebung von CDU/CSU
und SPD eingesetzt wurde, Herr Kollege Schaaf, zum
Ende des Monats März zu einem Abschluss ihrer Arbeit
kommt.
Auch liegt ein erster Antrag vor, einen Mindestlohn
nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einzuführen, und zwar der Antrag der dbb tarifunion, einen solchen Mindestlohn für Callcenter festzulegen.
Außerdem gibt es nach wie vor die Möglichkeit, Mindestlöhne festzulegen, indem man Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt.
({5})
Es ist erfreulich, dass der Einzelhandel seine feste Absicht erklärt hat, diesen Weg zu einem guten Lohn für
alle zu beschreiten. Im Einzelhandel haben Arbeitgeber
wie Arbeitnehmer die Absicht, einen Mindestlohn einzuführen, indem man Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt.
Im Übrigen signalisieren mittlerweile - auch ausgelöst durch Skandale wie bei Schlecker - die Arbeitgeberverbände aus dem Bereich der Zeitarbeit ebenfalls Bereitschaft, auf diesem Weg eine unterste Lohngrenze für
Zeitarbeit in Deutschland festzulegen. Das ist erfreulich.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die
Union, sind aus guten Gründen dagegen, dass der Staat
im System der sozialen Marktwirtschaft Einheitsmindestlöhne festlegt. Wir sind allerdings sehr dafür, dass
auf dem Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz
oder über das Mindestarbeitsbedingungengesetz oder dadurch, dass Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt werden, in jeder Branche, in der es notwendig ist,
Mindestlöhne festgelegt werden, die dafür sorgen, dass
für gute Arbeit ein auskömmlicher Lohn gezahlt wird,
und damit Lohndumping und Lohndrückerei in Deutschland beenden.
({6})
Wir wollen diesen Weg gehen, weil wir davon überzeugt sind, dass die Entscheidung, ob - und wenn ja, in
Peter Weiß ({7})
welcher Höhe - es in einer Branche einen Mindestlohn
geben soll, in erster Linie den Tarifpartnern obliegen
muss; denn Arbeitgeber und Gewerkschaften verstehen
es besser, einen Mindestlohn festzusetzen, als jede staatliche Behörde, und weil wir davon überzeugt sind, dass
ein für alle Branchen vom Staat festgesetzter Mindestlohn keine Lösung darstellt, sondern dass wir branchenbezogene Mindestlöhne brauchen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vorrang
für Tarifautonomie und Vorrang für gute Lösungen, die
Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam erarbeiten
und die wir dann als Staat anschließend für allgemein
verbindlich für alle erklären: Das und nicht der Weg über
einen staatlichen Einheitsbrei, der letztendlich zur Zerstörung der Tarifautonomie und zur Zerstörung des Gestaltungsspielraums von Arbeitgebern und Gewerkschaften führen würde, ist der richtige Weg, um zu guten
Löhnen in Deutschland zu kommen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Mein Wahlkreis grenzt an
Luxemburg und Frankreich. Wenn ich nach Luxemburg
oder Frankreich fahre und dort die Leute frage: Kommt
ihr mit eurem Einkommen einigermaßen hin?, dann
verstehen sie die Frage nicht. Der Kollege Ernst hat eben
auf die Mindestlohnregelung in Luxemburg hingewiesen. Dort sind es 9,70 Euro oder etwas mehr, in Frankreich sind es rund 8,80 Euro. Bei uns müssten einige
Millionen Löhne teilweise deutlich angehoben werden,
wenn wir auch nur das Niveau in Frankreich erreichen
wollten.
Das, was der Kollege Weiß gesagt hat - Vorrang für
Tarifautonomie -, klingt zunächst einmal gut. Bei näherem Hinschauen wird es dann aber schwierig. Herr Kollege Weiß, wir haben in Deutschland eine insgesamt
deutlich rückläufige Tarifbindung. Im Jahr 2007 waren
nur noch 50 Prozent der westdeutschen und 33 Prozent
der ostdeutschen Betriebe einem Branchentarifvertrag
unterworfen. Bei den Beschäftigten sieht es nicht wesentlich besser aus. Das heißt, es gibt im wachsenden
Maße eine Lohnfindung jenseits der Flächentarife, und
da kommen Sie mit Allgemeinverbindlichkeitserklärungen in nicht vorhandenen Tarifverträgen eben nicht weiter. Damit kommen Sie in eine Sackgasse hinein.
({0})
Nun sage ich Ihnen einmal etwas zu der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, Herr Kollege Weiß. Ganze
1 Prozent der Tarifverträge werden nach dem Tarifvertragsgesetz für allgemein verbindlich erklärt, weil die
Arbeitgeberseite voll auf der Bremse steht und keinerlei
Spielraum lässt, um vernünftige Mindestregelungen in
einem Branchentarif durchsetzen zu können.
Wenn Sie davon reden, dass der Staat keine Einheitsmindestlöhne festsetzen soll, dann gehen Sie auch damit
am Thema vorbei. Es geht nicht um Einheitsmindestlöhne, sondern es geht um gesetzliche Mindestlöhne, die
dort gezahlt werden müssen, wo es keine Branchenmindestlöhne gibt oder wo die Branchenmindestlöhne so
niedrig sind, dass sie unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes liegen.
Dass extremer Handlungsbedarf besteht, zeigt die
Nachrichtenlage der letzten Tage. Heute Morgen können
Sie im Tagesspiegel, einer Berliner Tageszeitung, lesen,
dass inzwischen insgesamt über 900 000 Vollzeitkräfte
in Deutschland in der Armut leben. Nach den bisherigen
Statistiken befanden sich etwa 400 000 Vollzeitkräfte in
der Armut, die gleichzeitig Aufstocker nach Hartz IV
sind, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen. Seit wenigen Tagen wissen wir, dass es nach Untersuchungen der Universität Frankfurt eine Dunkelziffer
von nochmals rund einer halben Million gibt, sodass es
insgesamt knapp 1 Million Menschen gibt, die trotz
Vollzeitarbeit nicht von ihrem Einkommen leben kann.
Wenn Herr Westerwelle also auch nur einen Hauch
von Anstand hätte, dann würde er sich bei all diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entschuldigen, die
er in eine Schmarotzerecke hineinzudrängen versucht
hat. Wenn die FDP nur halbwegs bei Verstand wäre,
dann würde sie ihre Losung Arbeit muss sich lohnen
gerade bei denen umsetzen, die das am dringendsten benötigen; denn diese Arbeit scheint sich eben nicht zu
lohnen.
({1})
Ich will Ihnen noch etwas zum Arbeitslosengeld-IIBezug sagen. Die Zahl der erwerbstätigen Hilfeempfänger entwickelt sich in einem rasanten Tempo. Auf
zehn Arbeitslose im Arbeitslosengeld-II-Bezug kommen
inzwischen sechs Hartz-IV-Empfänger, die erwerbstätig
sind, davon aber nicht leben können. In den letzten vier
Jahren stieg die Anzahl der erwerbstätigen Hilfeempfänger, deren Einkommen nicht ausreicht, um fast 500 000.
Zwischen 2005 und 2009 hat die Zahl der erwerbstätigen
Armen über alle Beschäftigungsformen hinweg um rund
45 Prozent zugenommen. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2000
gab es in Deutschland 56 000 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die aufstockende Sozialhilfe beantragten,
weil ihr Einkommen gering war; diese Zahl hat sich inzwischen versiebenfacht.
Inzwischen sind wir in Europa Spitzenreiter in Sachen Niedriglöhne, aber auch in Sachen Niedrigstlöhne:
Auch die Zahl derjenigen, die weniger als 5 Euro brutto
verdienen, ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen.
Eine vergleichbare Lage gibt es nur noch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort reden die Experten
seit Jahren von Working Poor. Der deutsche Arbeitsmarkt droht nicht amerikanisiert zu werden, er ist amerikanisiert.
({2})
Deshalb brauchen wir dringender denn je eine praktikable, brauchbare Lohnuntergrenze, damit sich Arbeit in
Deutschland für diejenigen, die sich täglich abbuckeln,
wirklich wieder lohnt.
({3})
Die Koalition hat im Übrigen das genaue Gegenteil
davon vor: Sie will die Hinzuverdienstgrenzen weiter erhöhen. Das führt im Ergebnis zu nichts anderem als zu
einer weiteren Ausweitung von Lohnverträgen zulasten
Dritter. Es ist eine Einladung an viele Arbeitgeber,
Lohnverträge mit Dumpinglöhnen abzuschließen, die
dann von Dritten, vom Staat und vom Steuerzahler, auf
ein halbwegs erträgliches Minimum aufgestockt werden
sollen. Das ist nichts anderes als staatlich begünstigtes
Lohndumping. Sie wollen diese Politik fortsetzen und
ausweiten. Das ist genau der falsche Weg.
({4})
Stattdessen brauchen wir vernünftige Lohnuntergrenzen. Ich möchte das mit einem Zitat untermauern:
Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum
Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre
Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße
Existenzminimum - ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.
Das ist ein Zitat des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt aus dem Jahre 1933.
Wir sind in den letzten 77 Jahren eine unvergleichlich
reichere Gesellschaft geworden. Angesichts eines enorm
gestiegenen gesellschaftlichen Reichtums muss das, was
damals, Anfang der 30er-Jahre, galt, doch heute, im
Jahre 2010, erst recht gelten: Jeder muss für seiner
Hände und Köpfe Arbeit anständig entlohnt werden, um
ein anständiges, menschenwürdiges Leben führen zu
können.
({5})
Ich will die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU an einen ihrer politischen Ahnen erinnern: Ludwig
Erhard. Die Maxime der sozialen Marktwirtschaft - so
habe ich Erhard verstanden - war: Wohlstand für alle. Es
hieß nicht: Wohlstand für einige. Man kann Ihnen nur
sagen: Es wäre schön, wenn Sie diese Maxime nach wie
vor teilen würden; Sie scheinen sie nicht mehr zu teilen.
Die Maxime Wohlstand für alle war für Erhard gewissermaßen das eiserne Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft. Wohlstand für alle ist nur bei guten Löhnen
für alle möglich. Es dürfen nicht immer mehr Menschen
mit Dumpinglöhnen, mit denen ein menschenwürdiges
Leben nicht möglich ist, nach Hause geschickt werden.
Deshalb: Tun Sie Buße und kehren Sie um!
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mit zwei Anmerkungen zu meinen Vorrednern
beginnen. Herr Kollege Ernst, Sie haben Guido
Westerwelle kritisiert und dabei etwas Banales gesagt.
Im Kern haben Sie nämlich gesagt: Wer Sozialleistungen
bekommt, bekommt so viel wie jemand, der Sozialleistungen bekommt. Sie haben den Bezieher von Hartz IV
mit dem Erwerbstätigen verglichen, der zusätzlich Leistungen nach Bundeskindergeldgesetz und Wohngeldgesetz in Anspruch nimmt. Dann kommt das heraus, was
Sie gesagt haben.
Tatsache ist, dass die Hans-Böckler-Stiftung - es ist
sicherlich unverdächtig, sie als Zeugen zu benennen vorgestern darauf hingewiesen hat, dass 500 000 Menschen in unserem Lande ihren Anspruch auf Wohngeld
und Kinderzuschlag nicht geltend machen, obwohl sie
die Voraussetzungen dafür erfüllen würden, und zwar
aus Gründen, die sicherlich nachvollziehbar sind, die ich
aber in meiner kurzen Redezeit nicht erläutern kann.
Herr Ernst, das ist der 500 000-fache Beweis dafür, dass
Guido Westerwelle in dieser Debatte tatsächlich recht
hat.
({0})
Möchte die Kollegin Kipping eine Zwischenfrage
stellen? - Ja.
Ich registriere ein Interesse der Kollegin Kipping an
einer Frage und die Bereitschaft des Redners, diese zuzulassen.
Aber ja, immer!
Bitte schön.
Sie haben die 500 000 Menschen angesprochen, die
einen Rechtsanspruch haben, den sie aber nicht geltend
machen. In der Fachsprache sind das die verdeckt Armen. Erinnern Sie sich an die Debatten, die wir schon
auf der Grundlage eines Antrags der Linken zum Thema
verdeckte Armut geführt haben, im dem wir uns auch
mit den Ursachen für verdeckte Armut auseinandergesetzt haben?
Zu diesen Ursachen zählen entweder mangelnde
Kenntnis oder aber Scham und Angst vor Stigmatisierung. Viele haben Angst, das Kainsmal Hartz IV auf die
Stirn gedrückt zu bekommen. Insofern ist die hohe Zahl
der verdeckt Armen eher ein Beleg dafür, welchen beträchtlichen Schaden solche Äußerungen wie die von
Herrn Westerwelle bei den Menschen anrichten.
({0})
Frau Kollegin Kipping, ich kann mich an die Debatten nicht erinnern, aber ich habe gestern einen Blick in
die Studie der Böckler-Stiftung geworfen und festgestellt, dass es offensichtlich viele Menschen gibt, die diesen bürokratischen Weg scheuen. Denn derjenige, der
den Kinderzuschlag bekommen will, muss vorher nachweisen, dass er die Voraussetzungen für den Wohngeldbezug erfüllt. Er muss seine gesamten Verhältnisse
offenlegen. Für denjenigen, der aus irgendwelchen
Gründen knapp die Anspruchsgrenze verfehlt, macht das
keinen Sinn.
500 000 Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Insofern ist das, was Sie möglicherweise theoretisch
in den Raum stellen, in der Praxis leider widerlegt, Herr
Kollege Ernst und Frau Kipping.
({0})
Ein weiterer Punkt ist: Der Kollege Schreiner hat gesagt, Guido Westerwelle habe die Bezieher von Hartz IV
kritisiert. Das hat er aber ausdrücklich nicht getan.
({1})
Er hat nicht die Bezieher von Hartz IV kritisiert, sondern
die Gutmenschen in Deutschland, die nach dem Urteil
von Karlsruhe sofort reflexhaft die Erhöhung der Regelsätze gefordert und genau das getan haben, was Karlsruhe kritisiert hat, nämlich die Bedarfssätze ins Blaue hinein zu schätzen. Sie dürfen nicht sozusagen politisch
gesetzt werden, sondern sie müssen konkret begründet
werden. Deswegen ist Ihre Kritik völlig unbegründet,
Herr Kollege Schreiner.
({2})
Der Kollege Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen,
Frau Präsidentin.
Da Sie das gestatten, kann es jetzt geschehen.
Herr Dr. Kolb, Sie haben erwähnt, dass Menschen auf
staatliche Leistungen verzichten, obwohl ein Rechtsanspruch besteht. Ist das nicht erstens ein Beweis dafür,
dass die Menschen den Staat keinesfalls ausnützen,
wenn sie die staatlichen Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, die ihnen zustehen?
Zweitens sagen Sie immer, entscheidend sei, was
netto wirklich herauskommt. Ist es da nicht sinnvoll,
wenn diese Menschen, die aus irgendwelchen Gründen
auf die ihnen zustehenden Leistungen verzichten, durch
einen Mindestlohn gar nicht in die Situation kommen,
solche Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen?
Zunächst einmal stimme ich Ihnen zu. Wir haben öfter mal Übereinstimmungen, Herr Kollege Ernst; das
können wir durchaus festhalten. Ich glaube, dass die
meisten Menschen Sozialleistungen sehr zurückhaltend
in Anspruch nehmen. Ich denke, es ist auch erforderlich,
dass man nicht die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates austestet, sondern bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen immer auch mit sich selbst im Reinen ist
und die Solidarität der Gesellschaft nur dann in Anspruch nimmt, wenn man keine andere Möglichkeit
mehr sieht, sich selbst zu helfen. Das ist erfreulicherweise in unserem Sozialstaat der Fall, und das begrüße
ich ausdrücklich. Es ist notwendig für die gesunde innere Verfasstheit eines Sozialstaates.
Ihre Euphorie für Mindestlöhne teile ich ausdrücklich
nicht, Herr Kollege Ernst. Insbesondere kann ich Ihre
Überlegung nicht nachvollziehen, dass man mit höheren
Löhnen über den Weg einer höheren Nachfrage mehr
Arbeitsplätze schaffen könnte. Das funktioniert nicht.
Denn wenn ein Arbeitgeber 100 Euro mehr Lohn zahlt,
liegt seine Kostenbelastung unter Berücksichtigung des
Arbeitgeberanteils bei 120 Euro. Der Arbeitnehmer erhält
aber je nach Grenzbelastung aus Sozialversicherungsbeiträgen und Steuersätzen zwischen 50 und 70 Euro netto.
Das allein ist ein krasses Missverhältnis - 50 bis 70 Euro
netto zu 120 Euro Mehrkostenbelastung für die Unternehmen -, aber Sie müssen zusätzlich berücksichtigen,
dass die Arbeitnehmer möglicherweise einen Teil ihres
Einkommens sparen und Sie nicht sicherstellen können,
({0})
- dann nehmen Sie mein zweites Argument -, dass der
höhere Nettobetrag tatsächlich zu einer höheren Nachfrage nach Produkten führt, die in Deutschland hergestellt
werden. Im Klartext: Mehr Netto und die Nachfrage nach
einem japanischen Auto nutzen der Produktion und den
Arbeitsplätzen in Deutschland überhaupt nichts.
({1})
Das ist ein wesentliches Problem Ihrer Nachfragetheorie.
({2})
- Sie haben nach dem Mindestlohn gefragt, und ich habe
auf diese Frage geantwortet. - Wenn es den Effekt gäbe,
dass der Mindestlohn die Beschäftigungsquote erhöht,
dann müsste es auch einen optimalen Mindestlohn geben, einen Wert, bei dem sich volkswirtschaftlich gesehen das höchste Maß an Beschäftigung einstellt. Aber
genau das ist nicht der Fall. Mindestlöhne, die eine
Lohnsteigerung ohne Berücksichtigung der Produktivität
mit sich bringen, vernichten Arbeitsplätze. Das ist das
Problem. Das haben wir bei dem Feldversuch mit den
Postdienstleistungsunternehmen gesehen, als innerhalb
weniger Wochen nach Einführung des Mindestlohns
11 000 Arbeitsplätze weggefallen sind. Es gibt sehr ernst
zu nehmende Untersuchungen, wonach auch in anderen
Bereichen massenhaft Arbeitsplätze gefährdet sind und
wegfallen werden, wenn man Mindestlöhne nach Ihren
Vorstellungen einführt.
({3})
- Sie können gerne noch nachlegen, wenn Sie wollen.
({4})
Der Kollege hat noch Fragebedarf.
Nun hat sich der Kollege Ernst aber hingesetzt. Nachdem es inzwischen offensichtlich gelungen ist, die Redezeit zu verdreifachen, lasse ich weitere Fragen in diesem
Beitrag nicht mehr zu.
({0})
Das ist schade, Frau Präsidentin, aber ich akzeptiere
das selbstverständlich. - Herr Kollege Ernst, ich habe
mir Ihren Antrag sehr genau angesehen und festgestellt,
dass Sie viel über Beschäftigte in unterschiedlichen Verhältnissen reden, aber überhaupt nicht über die Arbeitslosen. Die kommen in Ihrem Antrag schlicht und ergreifend nicht vor.
({0})
Sie haben nur die Interessen der Beschäftigten im Sinn.
Das sehe ich als problematisch an; denn wenn ich RotGrün in den Jahren 2004/2005 richtig verstanden habe,
dann war die Idee doch gerade, dass man einen Marktzugang auch für diejenigen Menschen schafft, die einen
hohen Lohn nicht erwirtschaften können. Man hat doch
einen Niedriglohnsektor an unsere Volkswirtschaft angebaut, um genau das zu ermöglichen. Heute sind Sie
überrascht, was daraus geworden ist. Sie, Frau Kollegin
Pothmer, waren erfolgreich mit Ihrer Politik. Sie
schauen jetzt aber ganz überrascht und tun so, als ob Sie
das nicht gewollt hätten. Ich muss Sie wirklich fragen,
ob Sie damals so wenig strategischen Weitblick gehabt
haben, dass Sie nicht abschätzen konnten, dass das herauskommen wird, was heute Realität ist.
Ich will erwähnen, dass das Ifo-Institut eine Studie vorgelegt hat, wonach bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro
1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet
wären. Das RWI kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Es
beziffert die zusätzliche fiskalische Belastung durch den
Mindestlohn sogar auf 9 Milliarden Euro. Wir nehmen
also gesamtwirtschaftlich gesehen nicht mehr ein, sondern das kostet sogar 9 Milliarden Euro. Die Forderung
des DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro würde nach diesen Berechnungen 1,5 Millionen Arbeitsplätze kosten.
({1})
Davon wären alleine im Osten - Herr Birkwald, das
sollte Ihre Partei besonders interessieren - laut Berechnungen von Wirtschaftsforschungsinstituten bis zu
450 000 Jobs gefährdet. Deswegen sollten Sie, Herr Kollege Schreiner, Ihre Feldversuche und Untersuchungen
vor Ort nicht nur an der Luxemburger Grenze machen,
sondern auch an der Grenze zu Polen; denn da sehen die
Verhältnisse vollkommen anders aus. Da müssten in der
Tat viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten,
wenn Realität würde, was die Linken und die SPD fordern.
({2})
Leider ist meine Redezeit zu Ende. Weitere Zwischenfragen konnten leider nicht gestellt und beantwortet werden. Wir werden sicherlich demnächst in diesem
Hause unsere Debatten weiterführen.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
These, jeder Job sei besser als gar keiner, ist barer Unsinn. Auch Sklavenarbeit ist Arbeit, aber nicht menschenwürdig. Lohndumping darf es in der sozialen
Marktwirtschaft nicht geben. Deswegen muss man Mindestlöhne einführen. - Applaus, meine Damen und Herren von der CDU/CSU! Das hat nicht jemand von uns
gesagt. Das hat auch kein Linker und kein Sozialdemokrat gesagt. Das hat Ihr Parteifreund Geißler gesagt.
({0})
Wissen Sie, wer dazu applaudiert hat? Wissen Sie,
wer da die Laudatio gehalten hat? Ihre Bundeskanzlerin,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU.
({1})
Was hat die Bundeskanzlerin in der Laudatio gesagt, in
der Würdigung dieses letzten großen Sozialpolitikers in
der CDU/CSU? Herr Geißler habe in seiner Sozialpolitik
Maßstäbe gesetzt.
({2})
Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit gehöre zu den
Konstanten seines Wirkens.
({3})
Jetzt noch einmal zum Mitschreiben für Sie: Lohndumping darf es in der sozialen Marktwirtschaft nicht geben.
Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Ich bitte um Applaus für Herrn Geißler.
({4})
Aber so gehen Sie mit Ihren Altvorderen um.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Jungspunde, die heute
bei Ihnen Politik machen, haben einige Mantras. Ein
Mantra heißt: Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ein anderes Mantra heißt: Wir wollen nicht wirklich etwas gegen Lohndumping tun. Ein weiteres Mantra
heißt: Wir wollen Arbeitslosengeld II zu einem flächendeckenden Kombilohn machen. - Dann tun Sie noch so,
als hätte das etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun.
Mein Gott, wie vermisse ich Herrn Geißler in Ihren Reihen!
({5})
Die Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist hier schon
angesprochen worden. Ich will nicht wiederholen, was
darin gesagt worden ist. Aber eines sollten wir uns klarmachen: Das Problem der Geringverdienenden hat eine
ganz andere Dimension, als wir es bis jetzt gewusst und
geahnt haben. Es sind fast 1 Million Menschen, die Vollzeit arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können. Es
ist wirklich eine Schande - dafür schäme ich mich -,
dass es diese Leute nicht vermögen, die Leistungen, die
ihnen zustehen, zu beantragen.
Reden Sie hier nicht so ein dummes Zeug, Herr Kolb.
Das hat natürlich auch etwas mit Stigmatisierung zu tun.
Daran ist Herr Koch schuld. Daran ist Herr Westerwelle
schuld. Sie brauchen doch ganze Bataillone von Leuten,
die dieses dumme Gerede von Herrn Westerwelle hier
im Parlament und anderswo verteidigen.
({6})
Aber all das nützt gar nichts. Das ist Stigmatisierung. Da
steht Stigmatisierung drauf, und da ist auch Stigmatisierung drin.
({7})
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kolb?
Ich finde, Herr Kolb hat uns heute lange genug belästigt. Ich habe jetzt einfach keine Lust mehr.
({0})
Herr Kolb, setzen Sie sich hin und hören Sie einfach einmal zu.
({1})
Die Entwicklung im Niedriglohnsektor, Herr Weiß
- das richtet sich an Sie -, schreit wirklich nach einem
gesetzlichen Mindestlohn. Sie können das Problem nicht
weiter bagatellisieren.
({2})
Es ist ein Beweis dafür, dass der deutsche Arbeitsmarkt
aus den Fugen geraten ist. Es ist ein schlagender Beweis
dafür, dass die Tarifparteien eben nicht mehr in der Lage
sind, dieses Problem zu lösen. Wir reden deswegen über
gesetzliche Mindestlöhne, weil die Tarifautonomie in
ganzen Branchen nicht mehr funktioniert.
({3})
Das ist der Grund, warum hier die Politik gefragt ist.
Hier können Sie sich nicht länger aus der Verantwortung
stehlen.
Für die Betroffenen ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Aber für den Staat ist es eine außerordentlich wichtige ordnungspolitische Frage.
({4})
Die Verhältnisse sind inzwischen so, dass Arbeitgeber,
die Dumpinglöhne zahlen, noch staatlich subventioniert
werden, und zwar mit dem Geld, das diejenigen als Steuern zahlen, die für ihre Beschäftigten akzeptable Löhne
zahlen, sodass sie von denen wegkonkurriert werden, die
staatlich subventionierte Dumpinglöhne zahlen. Das ist
volkswirtschaftlicher Unfug. Wenn es tatsächlich so weitergeht, dass die Steuerzahler zum Ausfallbürgen für
Lohndumping werden, dann müssen wir als Politik handeln.
({5})
Dann reicht es eben nicht, Herr Weiß, noch ein bisschen an der Sittenwidrigkeit herumzudoktern. Sittenwidrige Löhne sind schon verboten; das ist doch nur weiße
Salbe. Der schlagende Beweis, dass wir mit branchenspezifischen Mindestlöhnen nicht weiterkommen, ist doch
längst erbracht. Ein bisschen Mindestlohn funktioniert
nicht. Das ist wie ein bisschen Schwangerschaft oder ein
bisschen Frieden; auch das funktioniert nicht.
({6})
Wir brauchen eine verbindliche Lohnuntergrenze.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir als
Grüne wissen allerdings sehr genau, dass die Wirkung
der Einführung von Mindestlöhnen sehr stark davon abhängt, wie der Prozess der Einführung gestaltet wird.
Deswegen ist ein Mindestlohn von 10 Euro tatsächlich
sehr problematisch.
({7})
Ich freue mich aber, dass ich in Ihrem Antrag lesen
konnte, dass Sie unseren Vorschlag der Einsetzung einer
Kommission zur Einführung von Mindestlöhnen, einer
Low Pay Commission,
({8})
übernommen haben; das ist doch immerhin eine Entwicklung.
Meine Damen und Herren von der CDU und von der
FDP, die Zeit ist reif für die Einführung eines Mindestlohnes. Sie stehen historisch auf der falschen Seite. Nur noch
notorische Scheuklappenträger - da geht mein Gruß an
die Freunde historischer Vergleiche, an die FDP - können
so tun, als würde die Einführung von Mindestlöhnen den
Untergang des Abendlandes bedeuten.
In einem Jahr kommt die Arbeitnehmerfreizügigkeit; das ist auch gut so. Sie werden aber hinweggefegt
werden, wenn Sie bis dahin nichts gegen Niedriglöhne
tun, wenn Sie bis dahin keine Mindestlöhne eingeführt
haben. Mir persönlich missfällt diese Vorstellung zwar
nicht. Aber im Sinne der Gerechtigkeit, im Sinne des sozialen Friedens in unserem Lande und im Sinne der Betroffenen kann ich nur hoffen, dass wir das Mindestlohnthema in Deutschland bis dahin gelöst haben.
Ich danke Ihnen.
({9})
Bevor ich dem Kollegen Kolb für eine Kurzintervention das Wort gebe ein Hinweis: Es gibt in unserer Geschäftsordnung nicht das Recht auf Kurzinterventionen
zu jeder Zeit und mehrfach in jeder Debatte. Wir sind in
der Ältestenratssitzung übereingekommen, dass das weiterhin im Ermessen der jeweiligen Präsidentinnen und
Präsidenten steht und dass sie dabei natürlich auch berücksichtigen, wer in einer Debatte schon ausführlich
gesprochen hat; außerdem berücksichtigen sie all die anderen Kriterien, die wir dazu vereinbart haben.
Wenn ich jetzt dem Kollegen Kolb das Wort gebe,
({0})
ist das also auf jeden Fall das letzte Mal innerhalb dieser
Debatte.
({1})
Die Kollegin Pothmer hat dann selbstverständlich das
Recht, zu erwidern, wenn sie das vorhat.
Bitte, Herr Kollege Kolb.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr für die Möglichkeit einer Kurzintervention, die ich auch wirklich
kurz halten möchte; ich will maßvoll damit umgehen.
({0})
Frau Kollegin Pothmer, die Möglichkeit, aufzustocken, ist von Rot-Grün geschaffen worden; das war eine
bewusste Entscheidung in Ihrer Regierungszeit. Ich
wollte Ihnen mit meiner Zwischenfrage, die Sie nicht zugelassen haben, eigentlich nur sagen, dass die wachsende Zahl von Arbeitnehmern, die ergänzend Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen, für uns kein Indiz für
Lohndumping ist.
Ich wollte das mit einer Zahl untermauern. In der Baubranche gilt ein gesetzlicher Mindestlohn. Trotzdem gab
es 2008 mehr als 40 000 Arbeitnehmer, die ihr Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken mussten, und
zwar bei einem geltenden Mindestlohn von 9,50 Euro;
Quelle: Bundesagentur für Arbeit.
Das ist aus meiner Sicht ein nachhaltiger Beweis dafür,
dass man mit einem Mindestlohn in einer großen Zahl
von Fällen den Bezug von Transferleistungen nicht ausschalten kann. Deswegen war Ihre damalige Entscheidung für die Aufstockung, für den ergänzenden Transferleistungsbezug richtig. Ich wollte Sie fragen, warum Sie
das heute eigentlich anders sehen.
({1})
Bitte schön.
Herr Kolb, die Frage ist doch: Wie sähe es in der Baubranche aus, wenn wir keinen Mindestlohn hätten? Es
gibt 1 Million Menschen, die ergänzende Leistungen
nach dem SGB II bekommen. Gerade Sie treten hier
immer als Befürworter der Konkurrenzfähigkeit auf. Sie
schaffen völlig ungleiche Konkurrenzbedingungen,
wenn ein Arbeitgeber, der Dumpinglöhne zahlt, subventioniert wird, während ein anderer, der ehrliche Löhne
zahlt, keine Subventionen erhält. Wir wollen eine Marktwirtschaft; wir wollen Konkurrenz. Aber wir wollen
dem einen Rahmen geben. Es geht darum, die Konkurrenz nicht über Schmutzlöhne, sondern über die Qualität
der Produkte auszutragen.
Danke.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Johann David Wadephul das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nachdem die Kollegin Pothmer von den Jungspunden gesprochen hatte, die in der Union die Verantwortung für Arbeits- und Sozialpolitik tragen, habe ich
festgestellt, dass der Kollege Karl Schiewerling und der
Kollege Weiß auf ihrem Stuhl wirklich etwas gewachsen
sind, dass die ganze Anspannung der Woche von ihnen
gefallen ist. Wenn eine so anmutige und grundsätzlich
intelligente Frau wie Frau Pothmer die beiden Herren
hier als Jungspunde bezeichnet, dann muss ich sagen:
Das ist ein guter Auftakt für eine ordentliche Sachdebatte.
({0})
Der Beitrag der Kollegin Pothmer war in einigen Punkten aber vielleicht doch etwas übertrieben. Ich glaube,
dass es notwendig und sinnvoll ist, dass wir den Pulverdampf wegblasen und auf diejenigen Punkte schauen, bei
denen im ganzen Haus eigentlich Einigkeit besteht. Herr
Kollege Weiß hat für die Unionsfraktion schon gesagt
- Sie können das unterschiedlich begründen; für uns ist
das christliche Menschenbild entscheidend -: Natürlich
muss jeder Mensch ein Mindesteinkommen haben, von
dem er selber leben kann und mit dem er, so er für andere
Verantwortung trägt, für diese sorgen kann; das ist völlig
unstreitig.
Unstreitig ist auch - das hat der Kollege Weiß ebenfalls gesagt -, dass Dumpinglöhne sanktioniert werden
müssen, dass sie auch von niemandem gutgeheißen werden und dass wir uns nicht dem unsäglichen Werbespruch Geiz ist geil eines großen Elektronikdiscounters anschließen. Wir finden sicherlich Sparsamkeit
richtig. Geiz jedoch ist die Perversion der Sparsamkeit.
Deswegen ist es vollkommen richtig und notwendig,
dass Arbeitsgerichte Dumpinglöhne für rechtswidrig und
für nichtig erklären und dass sie den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern, denen ordentliche Löhne vorenthalten worden sind, den üblichen Lohn zusprechen, dass die
Arbeitgeber also verurteilt werden, einen ordentlichen
Lohn zu zahlen.
({1})
Das ist gut und das ist richtig so, und das soll auch so
bleiben.
Der Niedriglohnsektor ist hier mehrfach erwähnt
worden. Kollege Ernst hat hier vollkommen zu Recht die
Aussage des früheren Bundeskanzlers Schröder auf dem
Weltwirtschaftsforum in Davos zitiert: Wir haben einen
der besten Niedriglohnsektoren in Europa aufgebaut. Diese Aussage wurde getätigt, Frau Kollegin Pothmer,
nachdem die entsprechenden Gesetze bei Zustimmung
der Grünen hier im Deutschen Bundestag eine parlamentarische Mehrheit gefunden hatten.
({2})
Sowohl Sozialdemokraten als auch Grüne sollten sich
zu dem bekennen, was sie in diesem Bereich selber gesetzlich veranlasst haben, und sie sollten nicht so tun, als
wenn sie unter Gedächtnisverlust leiden würden.
({3})
In diesem Bereich ist nicht alles falsch. Das Grundprinzip ist - das ist eben schon angesprochen worden -,
dass wir im Niedriglohnsektor neue Arbeitsmöglichkeiten schaffen wollten. Es geht um Jobs für Menschen, die
vorher Schwarzarbeit ausgeübt haben oder scheinselbstständig waren. Wir haben den Niedriglohnsektor immer
als ein Sprungbrett hin zu höherwertiger Arbeit und besseren Verdienstmöglichkeiten gesehen. Das, was der
Kollege Kolb vorher schon gesagt hat, ist genau richtig:
In dem Moment, wo Sie diese Möglichkeit zur Beschäftigung im Niedriglohnsektor wieder verbauen, in dem
Moment, wo Sie einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen festlegen, wird natürlich genau das geschehen, was vorher war:
({4})
Es wird mehr Scheinselbstständigkeit und mehr Schwarzarbeit geben. Damit geben Sie diesen Menschen Steine
statt Brot.
Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Kurth?
Ja.
Bitte.
Herr Wadephul, da Sie die Verantwortung der damaligen, von Rot-Grün getragenen Bundesregierung für das
Entstehen eines Niedriglohnsektors angeführt haben,
möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, nachdem es dieses Parlament
im Sommer 2003 passiert hatte und bevor es in den Vermittlungsausschuss kam, eine Regelung enthalten war,
die da lautete: Zumutbar ist eine Arbeit nur, wenn mindestens der Tariflohn oder aber der ortsübliche Lohn gezahlt wird? Können Sie sich erinnern, dass diese Lohnunterschranke, die in das Gesetz eingezogen worden
war, dann im Vermittlungsausschuss auf Betreiben von
Union und FDP gekippt worden ist?
({0})
Lieber Herr Kollege Kurth, der SGB-II-Gesetzgebung
lag doch das Prinzip zugrunde, dass wir in einem Bereich,
der sich bisher in Deutschland in Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit oder Nichtarbeit erschöpfte, Schätze heben
({0})
bzw. Arbeitsmöglichkeiten schaffen wollten. Wir wollten natürlich denjenigen, die diese Arbeit ausführen, zusätzliche staatliche Leistungen gewähren. Dieses Ziel
werden Sie geradezu konterkarieren, wenn Sie Arbeit so
teuer machen, dass sie nicht mehr in Deutschland stattfindet oder, weil die Anreize dafür wieder so groß geworden sind, in Form von Schwarzarbeit stattfinden
würde. Deswegen ist diese Korrektur damals sinnvoll
gewesen. Ich bekenne mich durchaus dazu und nehme
somit das, was Sie gesagt haben, zur Kenntnis.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es reicht
nicht aus, wie es hier ja geschehen ist, auf europäische
Nachbarstaaten zu verweisen, sondern man muss auch
berücksichtigen, wie viel Geld dort aufgrund der Mindestlöhne verdient wird bzw. welche Beträge als Mindestlöhne festgelegt sind. Wenn Sie, Herr Kollege Ernst,
anführen, dass viele europäische Staaten einen Mindestlohn haben, müssen Sie auch sagen, ob Sie einen Mindestlohn in Höhe von 1 Euro, wie er in Rumänien oder
Polen besteht, haben wollen.
({2})
Was hilft das einem Arbeitnehmer in Deutschland?
In Frankreich haben wir zwar einen höheren Mindestlohn - auch auf die dortigen Regelungen wurde ja schon
verwiesen -, aber in Frankreich gibt es deswegen die
höchste Jugendarbeitslosigkeit mit Folgen wie den Ausschreitungen in den Vorstädten. Das ist mittlerweile anerkannt. Diesen Jugendlichen helfen Sie in keiner Weise,
wenn die Arbeit zu teuer gemacht wird und damit junge
Menschen nach der Ausbildung nicht in Arbeit kommen,
sondern auf der Straße stehen und keine Zukunftshoffnungen mehr haben.
({3})
Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen im europäischen
Ausland sind deswegen nicht so, dass man sie für
Deutschland nutzbar machen könnte und sagen müsste,
es wäre zwingend, hier in Deutschland Mindestlöhne
einzuführen.
({4})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, nämlich
des Kollegen Birkwald?
({0})
Ja.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es erstens in 20 von 27 Ländern der Europäischen Union einen gesetzlichen Mindestlohn gibt?
Ja.
Sind Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass der Durchschnitt dieser Mindestlöhne bei 8,40 Euro
liegt?
Ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich verweise aber auf die beiden Auswirkungen, die ich schon
genannt habe: Entweder liegt der Mindestlohn so niedrig, dass er überhaupt keine Auswirkungen hat, oder er
liegt, wie beispielsweise in Frankreich, so hoch, dass er
Arbeitsplätze vernichtet. Deswegen bin ich der Auffassung, dass die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen falsch ist.
({0})
Im Übrigen sei an der Stelle noch einmal angemerkt,
Herr Kollege Birkwald: Wir sind durchaus dafür, dass in
einzelnen Branchen - der Kollege Weiß ist ausführlich
darauf eingegangen - Mindestlöhne festgelegt werden,
aber eben nur in einzelnen Branchen und nur dann, wenn
die Tarifvertragsparteien eine entsprechende Vorlage
erarbeitet haben. Das ist unsere Auffassung. Ich denke,
so ist das auch richtig. Die Alternative wäre ja, dass wir
in der Tat einen gesetzlichen Mindestlohn einführten und
dann hier im Hohen Hause Diskussionen darüber hätten,
welche Höhe angemessen ist. Meinen Sie, es würde zu
einer sachgerechteren Lösung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland führen, wenn wir
darüber stritten, ob nun 7,50 Euro oder 8,50 Euro, wie es
der DGB jetzt beschließen will, oder 10 Euro, wie es die
Linke für richtig hält, als Mindestlohn gelten sollen? Das
wäre dann ein Thema im Bundestagswahlkampf in
Deutschland. Damit ist niemandem geholfen, und deswegen bekennen wir uns an dieser Stelle eindeutig zur
Tarifautonomie.
({1})
- Herr Kollege, die Politik muss sich dort aus gutem
Grunde heraushalten. Dort gehört die Politik nicht hin.
In Art. 9 unseres Grundgesetzes ist festgelegt, dass dies
die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in ihrer verbandlichen Organisation autonom regeln sollen. Das ist nicht
Aufgabe der Politik.
({2})
Gestatten Sie eine letzte Zwischenfrage, in diesem
Fall vom Kollegen Ernst?
Nein, ich bitte um Verständnis. Ich möchte versuchen,
den Gedankengang abzuschließen.
Ich möchte mich zum Schluss dem Antrag der Linkspartei zuwenden. Was Sie hier vorschlagen - die Grünen
begrüßen das jetzt; ich kann nur anregen, sich das noch
einmal zu Gemüte zu führen -,
({0})
ist im Kern kein gesetzlicher Mindestlohn mehr, sondern
ein exekutiver Mindestlohn. Es mag sein, dass man sich
da an die Situation in der DDR erinnert hat. Wenn ein
nationaler Mindestlohnrat durch die Bundesarbeitsministerin einberufen werden soll,
({1})
dann hat das Parlament darauf übrigens überhaupt keine
Einwirkungsmöglichkeiten mehr. Dann gibt man das
völlig aus der Hand.
({2})
Dann beschließt die Regierung mithilfe eines von ihr
eingesetzten Gremiums diese Lohnbestimmung. Das ist
möglicherweise eine Rückkehr zu Denkmustern aus früheren Zeiten im unfreien Teil Deutschlands. Aber das
entspricht nicht unseren Vorstellungen davon, wie die
Marktwirtschaft in Deutschland sozial organisiert werden sollte.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Normalerweise geht man davon aus, dass mit zunehmendem
Lebensalter Erkenntnisgewinne einhergehen. Ein Erkenntnisgewinn beim Thema Mindestlohn war bei den
Rednerinnen und Rednern der Koalition, insbesondere
jenen der CDU, überhaupt nicht feststellbar. Ich glaube,
in diesem Sinne hat Frau Pothmer von Jungspunden
gesprochen. In diesem Sinne sind sie Jungspunde.
({0})
Sie haben überhaupt keinen Erkenntnisgewinn beim
Thema Mindestlöhne; das muss man einmal deutlich
festhalten.
({1})
Herr Ernst, zur historischen Wahrheit und dazu, Erkenntnisse zu gewinnen. Als wir damals darüber gesprochen haben, wie wir mit dem Niedriglohnsektor umgehen, haben wir in der Tat sehr lange und ausführlich mit
den Gewerkschaften darüber verhandelt. Wir waren uns
klar darüber: Wir brauchen branchenspezifische Mindestlöhne.
({2})
Hier hat übrigens auch bei uns ein Erkenntniszuwachs
stattgefunden: Mit branchenspezifischen Mindestlöhnen
kommt man nicht mehr aus.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode sechs
Branchen in die Mindestlohnregelung einbezogen.
({3})
Die Einbeziehung der zentralen und entscheidenden
Branche hat die Union aber aus ideologischen Gründen
verhindert, nämlich die der Zeit- und Leiharbeitsbranche.
({4})
Alle Voraussetzungen, die wir miteinander vereinbart
haben, das Hohelied der Tarifautonomie usw., das von
Peter Weiß gesungen wird, waren erfüllt. Arbeitgeber
und Arbeitnehmer hatten einen gemeinsamen Antrag gestellt. Dann sagte die Union, es gibt konkurrierende Tarifverträge, und bezog sich auf die ihr nahestehenden
christlichen Gewerkschaften, die ausschließlich gegründet worden sind, um Lohn- und Sozialdumping zu betreiben. Sich auf diese mit dem Hinweis auf die Tarifautonomie zu beziehen, ist unglaublich.
({5})
Übrigens gilt das genauso für einen Mindestlohn im
Postbereich; Herr Kolb, Sie haben ihn vorhin erwähnt.
Das Geschäftsmodell derjenigen, die PIN und sonst wie
heißen, war, Lohndrückerei und Sozialdumping von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf dem Markt
durchzusetzen.
({6})
Sie berufen sich darauf, dass sie ihr Geschäftsmodell in
diesem Lande nicht durchziehen konnten, weil wir den
Postmindestlohn eingeführt haben. Leider Gottes sind
wir bei der Zeit- und Leiharbeit gescheitert. Aber ich bin
der festen Überzeugung, dass man dies durch die Ein2538
führung eines allgemeingültigen gesetzlichen Mindestlohns korrigieren kann. Die Notwendigkeit hierfür ist
bereits ausdrücklich erklärt worden.
Die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt in
Ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle. Ottmar
Schreiner hat die Situation in Luxemburg und Frankreich angesprochen. Herr Kolb hat mit dem Beispiel Polen darauf geantwortet. Dazu sage ich Ihnen, Herr Kolb:
Aus dieser Richtung wird es in den nächsten Jahren Probleme für Hunderttausende von Arbeitsplätzen in
Deutschland geben. Sie können darauf nur mit der Einführung eines allgemeinen Mindestlohns antworten.
({7})
Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, wenn Sie
nicht riskieren wollen, dass Hunderttausende Arbeitsplätze in diesem Land mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Osten Europas besetzt werden, die
aus existenziellen Gründen nach Deutschland kommen.
Wenn Sie hier nicht handeln, sind Sie dafür verantwortlich, dass es Tausende oder sogar Hunderttausende Arbeitsplätze weniger in diesem Land geben wird. Sie haben aber bislang nicht eine einzige Antwort.
Peter Weiß, Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag nur
hineingeschrieben, was sowieso durch Rechtsprechung
entschieden wurde, und haben mit Hinweis auf die
Tarifautonomie jede Arbeit und jede Bedingung für zumutbar erklärt. Statt die Tarifautonomie zu stärken - das
wäre eigentlich nötig -, machen Sie sie kaputt. Sie unterlaufen sie, wenn Sie festlegen, dass jede Arbeit zumutbar
ist, auch wenn der Lohn unter dem tarif- oder ortsüblichen Mindestlohn liegt. Sie machen die Tarifautonomie
kaputt, weil Sie bereit sind, zu tolerieren, dass Löhne unter dem tarif- oder ortsüblichen Mindestlohn gezahlt
werden. Sie subventionieren das auch noch und entlassen Arbeitgeber aus der Verantwortung, vernünftige
Löhne zu zahlen. So werden Sie die Tarifautonomie
nicht stärken, sondern die Arbeitgeber aus den Tarifverbünden regelrecht hinausjagen; denn diese wollen diese
Möglichkeit nutzen. Herr Weiß, mit der Politik, die Sie
machen, sind Sie eine Gefahr für die Arbeitsplätze in
diesem Land.
({8})
Es ist hoch spannend, zu sehen, was Sie bei der
Zumutbarkeit vorhaben. Sie wollen die Hinzuverdienstgrenzen anheben. Die Vorredner haben es schon
gesagt: Das ist in der Tat nichts anderes als staatlich subventionierte Lohndrückerei. Ich habe den Eindruck, dass
Sie die Korrekturen, die aufgrund der stattgefundenen
Fehlentwicklungen notwendig sind, in keiner Weise vornehmen wollen. Sie sehen die Zukunft dieses Landes tatsächlich in einem flächendeckenden, subventionierten
Niedriglohnbereich.
({9})
Wie Sie damit Wohlstand und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auch im Alter - gewährleisten wollen, ist nicht erklärbar und begründbar.
Vor dem Hintergrund der Freizügigkeit sind Sie eine
Gefahr für die Arbeitsplätze in diesem Land. Vor dem
Hintergrund dessen, was Sie bei der Zumutbarkeit und
den Hinzuverdienstgrenzen real tun, sind Sie leider Gottes eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in diesem Land.
({10})
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wenig hilfreich, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Opposition, wenn man in dieser Diskussion einfach
Vergleiche mit dem europäischen Ausland zieht.
({0})
Entscheidend ist nicht der Durchschnittslohn bzw. der
Mindestlohn im europäischen Ausland, sondern die
Lohnspreizung. In manchen osteuropäischen Ländern
liegt der Mindestlohn bei 1 oder 2 Euro. Das ist ein wesentlicher Aspekt, den es in der Debatte zu berücksichtigen gilt. Das ist der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Der Mindestlohn stellt nur einen Anteil an den Lohnkosten dar. Man muss die Lohnkosten
in den verschiedenen Ländern miteinander vergleichen,
um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen.
({1})
Lieber Herr Schreiner, Sie sprechen von der Amerikanisierung unseres Arbeitsmarktes. Der Soziologe Ulrich
Beck spricht von einer Brasilianisierung. Es ist müßig,
darüber zu diskutieren; denn das alles führt uns nicht
weiter.
Ich versuche es etwas einfacher und spreche Sie, Toni
Schaaf, als Wirtschaftssubjekt an. Ich weiß nicht, ob
Sie regelmäßig zur Maniküre in ein Nagelstudio gehen.
Ich gebe freimütig zu, dass ich das nicht tue, obwohl es
im Umfeld des Bundestages welche gibt. Ich weiß auch
nicht, ob Sie jeden Tag Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - das hätten diese sicherlich verdient - Blumen
ins Büro mitbringen. Ich mache es jedenfalls nicht. Wir
beide gehören sicherlich nicht zu den Geringverdienern,
die sich das alles nicht leisten können. Aber wir, die
Wirtschaftssubjekte, haben ein gesundes Preis- und Wertempfinden, auf dessen Grundlage wir entscheiden, ob
wir für diese oder jene Leistung Geld ausgeben oder
nicht.
({2})
Das heißt, bei der Lohnfindung geht es nicht allein
um einen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern auch um die Interessen der potenziellen Kunden, die die Preise zahlen müssen.
({3})
Frau Präsidentin, mein Kollege, Herr Schaaf, hat eine
Frage.
Wenn Sie diese Frage zulassen wollen, dann hat Kollege Schaaf das Wort.
Ja.
Mit Ihrer Einlassung haben Sie den Unterschied
deutlich gemacht. In erster Linie ist Toni Schaaf kein
Wirtschaftssubjekt, sondern Mensch. Auch im Wirtschaftskreislauf geht es um die Würde des Menschen.
Glauben Sie ernsthaft, dass Sie es in Anbetracht der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht sein Urteil auf
die Würde des Menschen abhebend formuliert hat,
durchhalten werden, diese Frage beim Lohn bzw. bei der
Subventionierung von Lohn zu ignorieren? Es geht um
die Würde des Menschen und nicht um Wirtschaftsobjekte einer Gesellschaft.
({0})
Lieber Toni Schaaf, ich habe Sie als Wirtschaftssubjekt und nicht als Wirtschaftsobjekt - das haben Sie zuletzt falsch gesagt - angesprochen. Das sind Sie. Sie haben diese Funktion. Das lässt sich nicht wegdiskutieren.
Das, was Sie jetzt machen, ist Rabulistik. Davon distanziere ich mich. Ich glaube, auf diesem Niveau sollten wir
uns nicht unterhalten.
({0})
Natürlich ist die Welt nicht schwarz-weiß. Bei der
Lohnfindung gibt es einen Graubereich - ich komme auf
Ihre Frage zurück -, der die Gestaltung des Lohnes entscheidet. Die Frage ist: Sind Menschen im Arbeitsmarkt
drin oder draußen? Ich sage Ihnen ehrlich: Es geht nicht
darum, schwarz-weiß zu malen. Wir von der FDP stellen
fest: Im Zweifel sind wir dafür, dass die Menschen in
den Arbeitsmarkt integriert werden, weil - ich komme
zum Thema Menschenwürde - ein Arbeitsplatz eben
mehr ist als nur ein Mittel zur materiellen Daseinsvorsorge, sondern er erfüllt die weitere Funktion, die eigenen Begabungen zum Wohle der Gesellschaft einbringen
zu können.
({1})
Es ist uns wichtig, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu
integrieren. Wir trauen der Politik nicht zu, in diesem
Graubereich die richtige Entscheidung zu fällen. Das
machen die Tarifpartner im Austausch mit den vielen
Wirtschaftssubjekten, wodurch die Preis- und Lohnbildung ermöglicht wird.
({2})
Da ich noch 33 Sekunden zur Verfügung habe,
möchte ich das noch ausführen:
({3})
Es geht um die Frage, wie wir die Menschen in Arbeitsprozesse integrieren. Wir wollen keinen Mindestlohn,
sondern ein Mindesteinkommen.
({4})
Wir werden uns dezidiert gegen die Stigmatisierung von
Mindesteinkommen wehren, liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Grünen. Aufstocken darf kein
Skandal in dieser Gesellschaft sein.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauer! Frau Kollegin Pothmer, zunächst herzlichen Dank. Wenige Tage vor dem Weltfrauentag haben Sie mir ein Kompliment gemacht und mich
als Jungspund der CDU/CSU bezeichnet. Das habe ich
gerne auf mich bezogen. Auch der Kollege Karl
Schiewerling fühlt sich als Jungspund sehr wohl.
({0})
- Sie können mich gerne wieder einmal als Jungspund
bezeichnen. Ich habe damit kein Problem.
Lieber Kollege Ernst, Sie haben Ihren Vortrag mit einem Hinweis auf die Fakten begonnen. Das ist gut. Es
gibt einen intelligenten Spruch, der lautet: Politik, insbesondere gute Politik, beginnt mit der Betrachtung der
Realität. Von vielen Vorrednern wurde bereits die Situation in den Nachbarländern angeführt. Ich will das
nicht zu sehr vertiefen, aber nicht unerwähnt bleiben
sollte die Erkenntnis, dass auch andere beschäftigungspolitisch erfolgreiche Länder in unserer Nähe, die ein
funktionierendes Tarifsystem haben - mit dem Ausschuss besuchen wir sie gern, beispielsweise Dänemark,
Finnland, Norwegen, Schweden und Österreich -, keinen gesetzlichen Mindestlohn haben. Dort geht die Welt
auch nicht unter, und auch dort sitzt man nicht vor der
EU-Freizügigkeit wie das Kaninchen vor der Schlange.
Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben
die Mindestlohnquoten in den Nachbarländern angeführt - in Luxemburg beispielsweise liegt der Mindestlohn bei 9,73 Euro -, die Sie im Lauf der Legislaturperiode toppen wollen. Wie Ihrem Antrag zu entnehmen
ist, wollen Sie einen Mindestlohn von über 10 Euro bis
zum Ende 2013 einführen. Aber eines haben Sie vergessen. Was Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen, wissen wir nicht. Die Grünen wollen 7,50 Euro. Die Gewerkschaft will 8,50 Euro. Mir kommt das vor wie bei
einem Skatspiel: 18, 20, nur nicht passen. Das droht uns,
wenn sich der Staat in die gesetzliche Lohnfindung hineinkniet.
Von meinen Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen, dass wir oft genug hören, dass der Staat nicht der
bessere Unternehmer, geschweige denn der bessere Banker und sicherlich auch nicht der bessere Gewerkschafter
ist. Lieber Kollege Ernst, ich habe im Kürschner nachgeschaut, ob Sie immer noch als Gewerkschaftssekretär
firmieren. Sie tun das. Wir können da - darauf haben
meine Vorredner auch schon hingewiesen -, wo die Tarifvertragsparteien Löhne ausgehandelt haben, einen tariflichen Mindestlohn gesetzlich übernehmen. Das ist
okay. Aber ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht.
({1})
- Bitte, da kann man ruhig einmal klatschen, Herr
Ackermann.
({2})
- Auch meine Fraktion könnte einmal klatschen.
({3})
Herr Ernst, der Titel Ihres Antrages - das darf ich
vielleicht bestätigen - ist ja nicht schlecht: Niedriglöhne bekämpfen - Gesetzlichen Mindestlohn einführen. Niedriglöhne wollen auch wir bekämpfen.
({4})
Die Frage ist nur, wie wir das machen. Wir müssen aufpassen, dass wir mit den Niedriglöhnen nicht auch die
niedrigen Arbeitsplätze komplett bekämpfen, dass wir
nicht Arbeitsplätze vernichten. Darüber streiten wir im
Ausschuss, auf Fachebene. Was bringt ein gesetzlicher
Mindestlohn? Wir vertreten die Auffassung: Er macht
mehr kaputt, als er hilft. Sie sagen: Er ist das Allheilmittel. Er rettet die Welt.
Die Hans-Böckler-Stiftung, die wahrlich nicht als
Weihrauchschwenker der Regierung verschrien oder als
Lobhudeleimaschine für die Bundesregierung bekannt
ist, hat die bei Einführung eines Mindestlohns zu erwartenden Arbeitsplatzverluste errechnet - das wurde in
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar
2010 ausgeführt; das ist also relativ aktuell -: Bei 5 Euro
Mindestlohn werden 659 000 Arbeitsplätze vernichtet,
bei 6 Euro sind es 832 000, bei 7,50 Euro werden - das
gilt für die Grünen, Frau Pothmer; hören Sie mir einmal
zu ({5})
gut 1,1 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, und bei
10 Euro Mindestlohn - Kollege Ernst, jetzt sind wir bei
Ihnen - sind es mehr als 1,9 Millionen Arbeitsplätze.
({6})
- Von der Hans-Böckler-Stiftung. Ich gebe Ihnen die
Aufstellung gern, Herr Kollege Troost. Kommen Sie
nachher zu mir. Ich brauche es nicht. Dann können Sie
sich das einmal anlesen.
Zu Ihnen, Herr Kollege Ernst.
Kollege Lehrieder, ich wollte Sie gerade fragen, ob
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zulassen.
Ich wollte gerade im vorauseilenden Gehorsam Ja sagen.
Dann hat der Kollege Ernst das Wort.
({0})
Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. Ich
will wissen, welche Studie Sie meinen. Mir liegt eine
Aussage der Hans-Böckler-Stiftung vor. Ich will die
Quelle nennen: Böckler Impuls, 3/2000. Dort heißt es
- ich zitiere -:
Die Wissenschaftler vom Institut Arbeit und
Qualifikation
haben einen Überblick über den
aktuellen Forschungsstand zusammengestellt. Darin berichten sie von zahlreichen empirischen Studien aus den USA und Großbritannien, die Jobzuwächse infolge von Mindestlohn-Erhöhungen statt
der erwarteten Verluste beobachtet haben.
({0})
Welche Quelle zitieren Sie? Mir ist das nicht bekannt.
In allen Quellen, auch Studien, die ich kenne, wird das
Gegenteil von dem gesagt, was Sie gerade behauptet haben.
({1})
Herr Kollege Ernst, herzlichen Dank für den Einwand. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr Ihre Studie ist.
Sie haben 3/2000 gesagt.
({0})
- Alles klar. Dann ist das möglicherweise sogar korrekt.
Meine Damen und Herren, ich habe die Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2010 zitiert, die
sich auf die Hans-Böckler-Stiftung bezogen hat. Ich bin
gerne bereit, diese Zahlen zu verifizieren und Ihnen privatissime zu erklären, wo sie herkommen.
({1})
- Dafür bin ich sehr dankbar, Herr Troost. Das meine ich
wirklich ernst.
Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage fertig, Herr
Ernst. - Wir diskutieren über die richtigen Mittel und die
richtigen Wege, um ein Problem hier bei uns zu lösen.
Die Zuschauer an den Fernsehgeräten, aber auch die Zuschauer hier, im Plenarsaal, haben kein Verständnis,
wenn wir uns aus rein prinzipiellen Überlegungen auf
den Kopf hauen. Wir müssen schauen, wie wir eine Lösung finden. Wir streiten um die richtigen Instrumente
für die Erreichung eines gemeinsam angestrebten Zieles.
Da sind wir noch weit auseinander.
({2})
Bei dem Thema Mindestlöhne haben Sie auch Frankreich angesprochen. Lieber Kollege Ernst, ich muss Sie
einmal fragen: Wissen Sie, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich derzeit ist? ({3})
20 Prozent. Wissen Sie, wie hoch sie in Deutschland ist? 10 Prozent. Ein Mindestlohn führt also insbesondere bei
den Jugendlichen nicht zwangsläufig zu einer Vollbeschäftigung. Wissen Sie, wo die meisten Jugendaufstände sind? - In den Vororten von Paris. Zum Glück haben wir diese Situation noch nicht.
({4})
- Der Mindestlohn führt auch dazu, dass Jugendliche,
die vielleicht zudem Einstellungshindernisse haben, es
noch schwerer haben, einen Job zu bekommen. Diese
haben wir auch in Deutschland.
({5})
Auch in Deutschland haben wir Jugendliche mit Sprachproblemen. Wir haben Jugendliche, die Einstellungshindernisse haben. Bei einem Mindestlohn von 10 Euro
hätten sie sicher noch weniger Chancen, einen Ausbildungsplatz oder gar einen Job zu bekommen.
({6})
Ich habe ausgeführt, dass der Mindestlohn ein zweischneidiges Schwert ist. Ist er zu niedrig, ist sein Nutzen
als Armuts- und Ausbeutungsabwehr schlichtweg gering. Liegt er über dem bisherigen Lohn, gibt es für die
Betroffenen nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden
sie mehr verdienen - das behaupten Sie - oder viele verlieren leider ihren Arbeitsplatz; davon sind wir überzeugt.
({7})
Deshalb haben wir mit dem Kombilohn, mit der Möglichkeit des Aufstockens durchaus adäquate Mittel, die
soziale Absicherung von Geringverdienern zu erreichen.
Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen: Arbeit
ist mehr, als Geld zu verdienen, Arbeit ist auch Verwirklichung des Grundrechts auf Menschenwürde.
({8})
Natürlich ist Arbeit mit einem ausreichenden oder möglichst hohen Einkommen für jeden angenehmer; da
haben Sie völlig recht. Aber Sie müssen auch wissen:
Egal über welchen Mindestlohn wir diskutieren, ob
7,50 Euro, 8,50 Euro oder 10 Euro, eine Familie mit
zwei kleinen Kindern werden Sie von keinem der derzeit
in der Diskussion befindlichen Mindestlöhne ernähren
können.
({9})
Unsere Sozialleistungen entsprechen derzeit einem
Mindestlohnniveau von 11,80 Euro. Frau Kollegin
Krellmann hat gestern bei der Diskussion feuchte Augen
bekommen, als ich das gesagt habe. Die nächste Forderung lautet: Wenn ich mich und meine Familie von
einem Lohn ernähren können soll - das wird in der Bevölkerung durchaus so gesehen -, dann ist ein Mindestlohn von 7 Euro oder 10 Euro zu wenig; diesen Familien
müssen wir mehr geben.
({10})
Viele derjenigen, die jetzt ergänzende Sozialleistungen
beziehen, sind Familien.
({11})
Mit der Entfristung und Vereinfachung des Kinderzuschlages haben wir mit der SPD Gutes gemacht, lieber
Kollege Schaaf, lieber Kollege Juratovic.
Ich könnte noch einiges zu dem Thema sagen. Ich
schätze, dass dies noch nicht die letzte Diskussion über
diese Thematik war, lieber Kollege Ernst.
({12})
- Versprochen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wer Arbeit leistet, verdient Wertschätzung und Fairness. Zu Wertschätzung und Fairness
in der Arbeitswelt gehört auch eine anständige Entlohnung. Wir haben in unserem Land aber viele Leistungsträger, die nicht anständig und fair entlohnt werden. Es
kann nicht sein, dass viele Beschäftigte trotz Vollzeitarbeit und Überstunden ihre Familien nicht ernähren
können, ohne vom Steuerzahler Almosen zu erhalten.
({0})
Die kalkulierte Almosenverteilung ist weder christlich
noch hat sie etwas mit Freiheit zu tun. Denn zur Freiheit
gehört auch finanzielle Freiheit.
({1})
Leistung muss sich wieder lohnen, fordern Sie, meine
Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wer arbeitet,
müsse mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet.
({2})
Ja, da stimme ich Ihnen zu. Leistung lohnt sich aber erst
dann, wenn sie auch fair bezahlt wird.
({3})
Leistung lohnt sich, wenn man von der Arbeit, die man
leistet, menschenwürdig leben kann.
({4})
Daher wird sich Leistung für viele Leistungsträger in
Deutschland erst dann wieder lohnen, wenn wir einen
allgemeinen und flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben.
({5})
Ich finde es unverschämt, dass der Ersatzsozialminister Guido Westerwelle eine Diskussion führt, in der er
unterbezahlte Facharbeiter gegen Hartz-IV-Empfänger
ausspielt.
({6})
Dazu fällt mir nur unser guter, alter Platon ein: Der
höchste Grad von Ungerechtigkeit ist geheuchelte Gerechtigkeit.
({7})
Wenn Sie es mit Ihrer Forderung nach mehr Gerechtigkeit ernst meinen, müssen Sie sich in der Bundesregierung für den Mindestlohn als gesetzliche Lohnuntergrenze einsetzen und nicht dagegen.
({8})
Es ist eine Frage der Moral und wichtig für das Selbstwertgefühl, dass geleistete Arbeit auch anständig bezahlt
wird. Für ein gesundes Selbstwertgefühl eines Menschen ist es wichtig, dass er von seiner Vollzeitarbeit
seine Familie ernähren kann; das sagen auch die Familienministerin und die Arbeitsministerin in vielen Talkshows.
Sicherlich gehören zum politischen Geschäft von Zeit
zu Zeit auch Showeffekte. Doch irgendwann muss man
das, was man versprochen hat, auch umsetzen. Sonst
verliert die Politik noch mehr an Glaubwürdigkeit. Diese
Glaubwürdigkeit hängt übrigens auch direkt mit diesem
Haus zusammen, wenn man bedenkt, unter welchen
Lohnbedingungen Menschen hier im Deutschen Bundestag arbeiten: beim Fahrdienst, bei den Sicherheits- und
Reinigungskräften.
({9})
Werte Kolleginnen und Kollegen, es sprechen nicht
nur moralische Gründe für einen gesetzlichen Mindestlohn. Lassen Sie mich drei weitere Gründe aufzählen:
Erstens. Wenn wir Altersarmut vermeiden wollen, dann
müssen wir dafür sorgen, dass die Rentner von morgen
heute vernünftig einzahlen können;
({10})
auch das gehört zur politischen Glaubwürdigkeit. Im
Übrigen sind auch die heutigen Rentner bei der Erhöhung ihrer Renten auf die Lohnzuwächse der Beschäftigten angewiesen. Mit einem Mindestlohn schaffen wir
faire Renten, heute und in der Zukunft.
Zweitens. Wenn wir Mindestlöhne einführen, sorgen
wir für mehr Kaufkraft in Deutschland und kurbeln die
Binnennachfrage an, gerade jetzt in der Krise. Eine
stärkere Binnennachfrage schafft Arbeit. Deswegen wird
der Mindestlohn nicht zu einem Minus, sondern zu einem Plus an Jobs führen.
({11})
Großbritannien hat den Mindestlohn bereits 1999 eingeführt. Er hat dort weder zu Arbeitsplatzabbau noch zu
Arbeitsplatzverlagerungen geführt.
({12})
Drittens. Ein Mindestlohn würde bewirken, dass wir
in Deutschland nicht länger einen Wettbewerb um Unterbieten und Dumpinglöhne, sondern einen Wettbewerb um Innovation und Fortschritt hätten. Dieser
Meinung sind übrigens auch die meisten Unternehmen
in unserem Land. Sie sind der Auffassung, dass Lohnunterbietung nur Subunternehmen nutzt, die den schnellen
und rücksichtslosen Profit suchen, und zwar auf Kosten
der Qualität. Unser Motto muss deswegen lauten: Günstig statt billig. Das ist vor allem im nächsten Jahr wichtig, wenn die Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten
aufgrund der Vollendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
ohne Einschränkung in Deutschland arbeiten dürfen.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten
wollten einen gesetzlichen Mindestlohn bereits in den
vergangenen Jahren einführen. Mit unseren damaligen
Koalitionspartnern, CDU und CSU, ließen sich jedoch
nur Mindestlöhne für bestimmte Branchen einführen.
({13})
Doch gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass alle Beschäftigten in Deutschland einen Mindestlohn brauchen.
Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich
appelliere auch an Ihr christliches Menschenverständnis:
Setzen Sie sich dafür ein, dass alle Beschäftigten in
Deutschland das für den Lebensunterhalt ihrer Familien
Notwendige allein aus ihrer Vollzeitarbeit bestreiten
können, und verstecken Sie sich nicht hinter der Tarifautonomie, die Sie vorher durch Unterstützung der
vermeintlich christlichen Pseudogewerkschaften geschwächt haben.
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in der
Sache sind wir uns gar nicht so fern.
({14})
Uns unterscheidet aber vor allem der Politikstil. Manchmal scheint Robin-Hood-Politik gerecht zu sein, und sie
kommt bei vielen Menschen zunächst einmal gut an.
Eine solche Robin-Hood-Politik gefährdet aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn Sie einen Mindestlohn von 10 Euro fordern, dann bremsen Sie dieses
Projekt eher.
Ich gebe zu: 10 Euro sind nicht besonders viel. Aber
erstens ist es unseriös, wenn Sie einen Mindestlohnrat
einsetzen, seine Ergebnisse aber schon im Voraus beschließen wollen, und zweitens ist es unseriös, wenn wir
mit einem Mindestlohn starten, der höher als in jedem
anderen Staat der Welt ist
({15})
und der fast jeden vierten abhängig Beschäftigten in unserem Land betrifft; das wird schwierig. Wir Politiker
müssen für das, was wir ändern, auch eine gesellschaftliche Akzeptanz herstellen, und zwar in diesem Fall möglichst schnell. Dies erreichen wir mit Ihrer Robin-HoodStrategie nicht.
Kollege Juratovic, achten Sie bitte auf die Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Zum Erfolg kommen wir nur mit einem moderaten
und vernünftigen Einstieg in den Mindestlohn. Wir Sozialdemokraten werden in den kommenden Wochen einen eigenen Antrag einbringen, um dafür zu sorgen, dass
der Mindestlohn gesellschaftliche Akzeptanz erfährt und
eine breite politische Tragfähigkeit bekommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Meine Vorredner haben es schon erwähnt: Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt die Einführung eines flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns unabhängig von der Höhe ab. Für uns
hat die Tarifautonomie absoluten Vorrang.
({0})
Aus diesem Grund möchte ich hier einige generelle
Anmerkungen machen: Der uns vorliegende Antrag der
Fraktion Die Linke ist wie so viele Anträge dieser Fraktion - ({1})
- Eben, eben. Die Linke erklärt sich zum alleinigen Vertreter der Rechte und Anliegen aller Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer. Dabei blendet sie aber regelmäßig
aus, wie die wirtschaftliche Lage dieses Landes tatsächlich aussieht.
({2})
Sie möchte Wohltaten in Form von unzähligen Milliarden Euro verteilen, ohne zu klären, wer diese Milliardenausgaben finanzieren soll. Sie schreibt Antrag über Antrag, ohne zu erwähnen, wie die Finanzierung erfolgen
soll.
({3})
Wenn Sie Ihre Anträge einmal zur Hand nehmen und
deren volkswirtschaftlichen Effekt kumulieren, dann
dürften Sie und selbst der Kollege Ernst feststellen, dass
unser Solidarsystem aus den Angeln gehoben würde,
wenn die Summen, die Sie ständig fordern, hier tatsächlich beschlossen werden würden.
({4})
Aber vielleicht ist gerade dies Ihre Absicht.
Das Solidarsystem lebt von der Solidarität; das
steckt schon in diesem Begriff. Sie aber überstrapazieren
diesen Begriff seit Jahren und betrachten ihn als Einbahnstraße.
({5})
Sie wollen Milliarden Euro der privaten und öffentlichen
Hand verteilen, als sei es Spielgeld. Kommen Sie aber
selbst in der politischen Verantwortung an,
({6})
halten Sie als Tarifpartner in Berlin die Beschäftigten
des öffentlichen Dienstes kurz.
({7})
Das ist Doppelzüngigkeit, und Ihre Doppelzüngigkeit ist
manchmal kaum noch auszuhalten.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei, was eine solche Politik einbringt, sehen wir
derzeit in Griechenland. Dort hat der Staat jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt, ohne sich um eine
solide Gegenfinanzierung Sorgen zu machen.
({8})
Andere Generationen werden die Suppe auslöffeln müssen, im Zweifelsfalle auch wir.
({9})
Leisten Sie, liebe Linke, doch lieber einen Beitrag dazu,
dass Kinder wieder Handlungsspielräume haben, anstatt
sie immer enger zu stricken.
({10})
Generationengerechtigkeit scheint für Sie ein Fremdwort
zu sein.
Was nun den Mindestlohn angeht, sind wirklich alle
Argumente ausgetauscht. Ob es 7,50 Euro oder 10 Euro
sind, gleich bleibt in allen Fällen, dass gerade diejenigen
getroffen werden, die über keine oder nur geringe Qualifikationen verfügen. Ihnen droht die lebenslange Arbeitslosigkeit. Mindestlöhne sind hier kontraproduktiv.
({11})
Höhere Mindestlöhne vernichten gerade im Niedriglohnsektor Arbeitsplätze, führen zu Schwarzarbeit und zu
Jobverlagerung ins Ausland. Verschließen Sie doch bitte
nicht die Augen vor der Realität!
({12})
Entscheidend ist ein Mindesteinkommen, und das erreichen Sie eben nicht mit einem Mindestlohn.
({13})
Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
man mich dieser Tage fragt, was die Linken denn so tun,
so kann ich mit Bert Brecht nur antworten: Sie bereiten
mit großer Mühe ihre nächsten Irrtümer vor.
({0})
Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, ist ein solcher Irrtum, und er wird nicht dadurch besser, dass Sie
mit der SPD und den Grünen Bundesgenossen im Irrtum
gefunden haben.
Worum geht es eigentlich bei der grundlegenden Fragestellung der heutigen Diskussion? Es geht um die
Frage, ob Menschen in ihrer Möglichkeit der Lebensgestaltung ausschließlich den Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage unterworfen werden. Dazu hat der
Kollege Peter Weiß für die Union schon gesagt: Nein,
das wollen wir nicht. Wenn wir den Anspruch ernst nehmen, dass Wirtschaft die Kulturleistung zur Daseinsvorsorge des Menschen ist, dann ist der Mensch - Herr
Kollege Kober hat es erwähnt - natürlich nicht Mittel
und Objekt der Wirtschaft, sondern Wirtschaftssubjekt.
Die traditionelle Wirtschaftspolitik wusste ebenso wie
Ludwig Erhard sehr gut, dass die Wirtschaft keine autonome Sphäre, sondern auf den Menschen bezogen ist.
Das gilt auch für den Bereich der Lohnfindung, die in
Deutschland - anders als in anderen Staaten - traditionell Sache der Tarifparteien ist. Insofern ist die Diskussion, die wir heute führen, eher ein Anzeichen für die
Schwäche der Tarifpartner, vor allen Dingen der
Gewerkschaften, als ein Anzeichen für ihre Stärke. Die
Bindungswirkung der Gewerkschaften lässt nach. Deswegen stellt sich die Frage nach einer neuen Ordnung,
die Frage, wie bei abnehmender Bindungswirkung der
Gewerkschaften Tariffindung und Lohnfindung vernünftig stattfinden sollen.
Wir haben nicht vor, die Gewerkschaften durch die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns weiter zu
schwächen. Wir wollen branchenbezogene Mindestlöhne. Bei branchenbezogenen Mindestlöhnen bleiben
die Gewerkschaften bei der Lohnfindung im Boot.
({1})
Nicht zielführend ist der Antrag der Linken. Hier gibt es
einen Überbietungswettbewerb wie bei eBay: 7,50 Euro
Mindestlohn, 8,20 Euro Mindestlohn, 9,40 Euro Mindestlohn, 10 Euro Mindestlohn. Das ist nicht hilfreich.
Aber setzen wir uns mit den Begründungen auseinander, die Ihrem Antrag zugrunde liegen: Sie behaupten,
die Einführung eines Mindestlohns führt nicht zum
Abbau von Arbeitsplätzen. David Neumark und
William Wascher haben 2008 über 300 Studien - aus
mehreren Ländern - ausgewertet, in denen es um die
Frage Mindestlohn/Arbeitsplätze geht. Schwerpunkt ist
die Zeit seit den 90er-Jahren. Drei Ergebnisse ihrer Auswertung erscheinen mir bemerkenswert - das sage ich
auch vor dem Hintergrund, dass Anton Schaaf einen Erkenntnisgewinn angemahnt hat; ich hoffe, dass dieser
Erkenntnisgewinn damit erfolgt -: Die erste Erkenntnis
aus der Auswertung der Studien ist: Mindestlöhne führen zu einer Abnahme der Arbeitsmöglichkeiten für
niedrigqualifizierte Arbeitnehmer.
({2})
Der zweite Punkt: Mindestlöhne sind für Familien,
die in Armut leben, eher schädlich.
({3})
Der dritte Punkt: Mindestlöhne haben negative Effekte auf die Bildungschancen junger Arbeitnehmer.
Neumark und Wascher resümieren: Die überwiegende
Zahl der Studien zeigt, dass die Einführung von Mindestlöhnen negative Aspekte mit sich bringt.
({4})
Ich gebe zu, meine Damen und Herren: Das ist nicht im
Sinne Ihrer Ideologie gewichtet; aber man muss das Ergebnis dieser Studien einmal zur Kenntnis nehmen.
Sie bemühen internationale Vergleiche und haben
eben behauptet, der Mindestlohn liege in Europa im
Schnitt bei 8,40 Euro. Einen Mindestlohn von mehr als
8,40 Euro haben in Europa nur fünf Länder; in fünfzehn
Ländern liegt der Mindestlohn unter 8,40 Euro. Wie Sie
angesichts dessen auf 8,40 Euro kommen wollen, das
kann nur sozialistische Mathematik leisten.
({5})
- Ja, ja, wir müssen gewichten.
({6})
- Das ist sozialistische Mathematik. Vielen Dank, Herr
Ernst, dass Sie mich extra darauf aufmerksam gemacht
haben.
Sie führen einige internationale Vergleiche an. So
heißt es in Ihrem Antrag:
Auch Großbritannien ist ein Beispiel dafür, dass die
Einführung eines Mindestlohns nicht zu Arbeitsplatzverlusten führt.
Ich habe mir das einmal angeschaut: Der Mindestlohn
beträgt für über 22-Jährige 5,80 Pfund - das sind
6,42 Euro -, für 18- bis 21-Jährige sind es umgerechnet
5,28 Euro. Von einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn kann also nicht gesprochen werden. Nach den
Aussagen des Londoner Oberbürgermeisters kann man
von diesem Mindestlohn in London nicht leben. Der
Mindestlohn liegt in Großbritannien bei etwa 40 Prozent
des Durchschnittseinkommens. Wenn wir diese Höhe
zugrunde legen, kommen wir für das Jahr 2009 für
Deutschland auf einen gesetzlichen Mindestlohn von
6,43 Euro. Das ist ein ganz schöner Unterschied zu den
10 Euro, die Sie fordern.
({7})
- Warten Sie doch einmal ab mit Ihrer Schreierei, bis ich
mit meinem Argument zu Ende bin! Dann können wir
uns unterhalten.
Sie behaupten, die Einführung des Mindestlohns habe
nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt. Das sehen Neumark und Wascher in einer 2007 veröffentlichten Studie
ganz anders. Dort heißt es, der Hauptteil der Forschungen über Großbritannien habe nur kurzfristige Aspekte
untersucht, längerfristige Aspekte seien noch nicht bearbeitet. Neumark und Wascher glauben nicht, dass die
Daten aus Großbritannien eindeutig in die eine oder in
die andere Richtung zeigen,
({8})
und sie glauben auch nicht, dass Großbritannien ein starkes Argument dafür ist, zu behaupten, dass die Einführung eines Mindestlohns die Nachfrage nach Arbeit
nicht reduziert. - Das muss man zur Kenntnis nehmen:
Die Wissenschaft unterstützt Ihr Argument nicht.
In Frankreich liegt der gesetzliche Mindestlohn bei
8,82 Euro. Sie behaupten in der Begründung Ihres Antrags, dass die Arbeitslosigkeit durch diesen Mindestlohn nicht gestiegen sei. Was Sie dabei verschweigen:
Der Staat subventioniert den Mindestlohn, um negative
beschäftigungspolitische Konsequenzen aufzufangen.
({9})
Beispielsweise reduziert er Sozialversicherungsbeiträge
bis zum 1,6-Fachen des Arbeitslohns, und es gibt eine
zweijährige Befreiung, wenn man Arbeitslose einstellt.
Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?
Aber selbstverständlich.
({0})
Herr Kollege Zimmer, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Zu den internationalen Vergleichen. Dazu gibt es
eine Reihe von Studien, nicht nur die, die Sie eben genannt haben, sondern auch von anderen. Es ist sicherlich
richtig, dass es unterschiedliche Ergebnisse für unterschiedliche Länder gibt. Es gibt auch Länder, in denen es
negative Wirkungen durch den Mindestlohn gibt - zumindest in Teilbereichen. Die Jugendarbeitslosigkeit in
Frankreich ist ja schon angesprochen worden.
Wenn man sich aber die Ergebnisse aller bisherigen
internationalen Vergleiche für Großbritannien anschaut
- es gibt Studien dazu; das wird auch in der Studie von
Neumark und Wascher stehen -, dann stellt man fest,
dass es dort keine negativen Beschäftigungseffekte gegeben hat. Es gibt ein paar Studien, die sogar von positiven Effekten sprechen. Insofern ist die Behauptung, dass
zwar in allen bisherigen Studien noch keine negativen
Effekte dargestellt wurden, diese in Zukunft aber wahrscheinlich irgendwann auftreten müssten, reine Ideologie.
Kennen Sie diese Studien zu Großbritannien, und
können Sie bestätigen, dass es bisher keine negativen
Beschäftigungseffekte gibt?
Unsere Schlussfolgerung daraus ist: Man muss den
Mindestlohn richtig gestalten, nämlich zum Beispiel so,
wie in Großbritannien. Das ist ein Land, das durchaus
mit unserem vergleichbar ist.
Lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn, vielen Dank
für die Frage. - Ich weise lediglich darauf hin, dass Neumark und Wascher in ihrer Studie gesagt haben: Es ist
noch zu früh, um abschließend beurteilen zu können, ob
es negative oder positive Effekte gibt. Sie sagen auch,
dass durch die Erkenntnisse darauf hingewiesen wird,
dass das angeführte Argument, durch den Mindestlohn
würden keine Arbeitsplätze vernichtet werden, in sich
nicht stimmig ist.
({0})
Mir scheint schon durch diese Stichprobe belegt zu
sein, dass Sie sich das zu einfach machen. Ihre Annahmen, auf denen Sie Ihre Forderungen aufbauen, werden
durch die empirischen Befunde nicht gestützt.
Man könnte weitere kritische Fragen hinsichtlich Ihrer Position stellen, Herr Ernst. Warum muss der Mindestlohn in Deutschland beispielsweise so deutlich über
dem in Frankreich liegen, obwohl die Lebenshaltungskosten in Frankreich deutlich höher sind? Wie steht es
mit dem Verhältnis von Branchenmindestlöhnen zu gesetzlichen Mindestlöhnen? Sie wollen Erstere nur gelten
lassen, wenn sie höher sind als der gesetzliche Mindestlohn. Die Tarifautonomie ist aber doch grundgesetzlich
geschützt. Müsste sie nicht Vorrang vor dem Gesetz haben?
Es gibt viele Fragen, und bei Ihnen finden wir nur
Schlagworte, Halbwahrheiten und einfachste Rezepte.
Damit haben Ihre Vorgänger schon einmal einen Staatsbankrott hingelegt. Ihre Vorschläge kommen mir ein wenig so vor wie die Moralpredigt aus einem gestohlenen
Buch: unglaubwürdig.
Mit Ihren völlig überzogenen Forderungen in der
Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zeigen Sie
nur: keine Erkenntnisfortschritte. Für uns gibt es keinen
Grund, es Ihnen da gleichzutun.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/890 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben
sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften
- Drucksachen 17/506, 17/813 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/923, 17/939 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Daniel Volk
Dr. Thomas Gambke
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/929 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider ({2})
Otto Fricke
Alexander Bonde
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die nicht mehr mit uns an dieser
Aussprache teilhaben können, den Saal zu verlassen, und
die anderen bitte ich, Platz zu nehmen.
Vizepräsidentin Petra Pau
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Manfred Kolbe für die Unionsfraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der heute in zweiter und dritter Lesung auf unserer Tagesordnung stehende Gesetzentwurf zur Umsetzung
steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften enthält eine Vielzahl steuerrechtlicher
Vorschriften. Mit dem zügigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beweist die christlich-liberale Koalition
ihre steuerpolitische Handlungsfähigkeit.
({0})
Zum einen setzen wir zwingende EU-Vorgaben endlich
um;
({1})
zum anderen beschließen wir weitere konjunkturstärkende Maßnahmen.
Lassen Sie mich einen kurzen Überblick über den Gesetzentwurf geben.
Erstens. Die europarechtlichen Vorgaben, die umzusetzen waren, führten zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen. Ich komme später
ausführlicher darauf zurück.
Zweitens. In Umsetzung eines EuGH-Urteils sind die
Zulageberechtigung und der entsprechende Sonderausgabenabzug bei der sogenannten Riester-Förderung künftig
an die Mitgliedschaft in einem inländischen Alterssicherungssystem gebunden, nicht mehr an die unbeschränkte
Steuerpflicht.
Drittens. In Umsetzung eines weiteren EuGH-Urteils
wird die steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden und
Mitgliedsbeiträgen grundsätzlich auf entsprechende Einrichtungen in einem EU-Mitgliedstaat ausgedehnt.
Viertens. Die degressive Gebäude-AfA kann rückwirkend für alle noch offenen Fälle auch für Gebäude im
EU-Ausland in Anspruch genommen werden.
Fünftens. Die nach dem Umsatzsteuerrecht erforderlichen zusammenfassenden Meldungen sind zum Zweck
einer besseren Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs
künftig monatlich zum 25. abzugeben.
All diese Maßnahmen basieren auf EU-Vorgaben. Wir
setzen aber auch konjunkturpolitische Impulse:
Erstens. Wir konkretisieren die Besteuerung bei Funktionsverlagerungen. Diese entspricht jetzt internationalen
Standards und wird nicht mehr zulasten von Arbeitsplätzen in Deutschland gehen. Das wird gerade in den wichtigen Zukunftsbereichen Forschung und Entwicklung Arbeitsplätze schaffen. Mehr dazu erfahren Sie später von
meinem Kollegen Middelberg.
Zweitens. Leasing- und Factoring-Unternehmen werden als wichtige Mittelstandsfinanzierer gewerbesteuerrechtlich den Kreditinstituten gleichgestellt.
Drittens. Mitarbeiterkapitalbeteiligungen werden steuerlich besser gefördert.
Viertens. Zwecks Eindämmung der jüngst bekannt
gewordenen Umsatzsteuerbetrugsfälle beim Handel mit
CO2-Emissionszertifikaten führen wir auch hier das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren ein.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie
sind still und beeindruckt von der Vielzahl der steuerpolitischen Maßnahmen, die diese Koalition heute den
Weg bringt.
({2})
Ich komme jetzt zum wichtigsten Thema dieses Gesetzgebungsverfahrens, zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen. Nach § 4 Nr. 11 b
Umsatzsteuergesetz ({3}) waren die unmittelbar dem
Postwesen dienenden Umsätze der Deutsche Post AG
von der Umsatzsteuer befreit. Es gab also eine Exklusivbefreiung der Deutschen Post. Nach der heute zu verabschiedenden Neufassung wird einerseits die Umsatzsteuerbefreiung auf private Mitbewerber ausgedehnt, soweit
sie flächendeckend einen Universaldienst anbieten. Andererseits wird die Umsatzsteuerbefreiung sowohl für
die Deutsche Post AG als auch für ihre privaten Mitbewerber auf die Erbringung sogenannter Post-Universaldienstleistungen beschränkt. Hier geht es also um eine
Ausweitung und zugleich um eine Einschränkung.
Die neue Regelung entspricht exakt dem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs vom 23. April 2009,
({4})
wonach öffentliche und private Unternehmer in den EUMitgliedstaaten von der Umsatzsteuer zu befreien sind,
sofern sie Post-Universaldienstleistungen anbieten.
Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten,
das ist auch ein Stück Kontinuität: Dieser Teil des Gesetzentwurfs ist wortgleich der Gesetzesinitiative der
Großen Koalition, nämlich dem Entwurf eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vom
10. Dezember 2008,
({5})
das wir in der letzten Legislaturperiode leider nicht mehr
verabschiedet haben.
({6})
- Frau Kollegin Bätzing, ich komme gleich darauf; das
Urteil vom 23. April hat daran nichts geändert.
Kollege Kolbe, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Bätzing?
Ja, bitte.
Herr Kollege Kolbe, stimmen Sie mir zu, dass der Gesetzentwurf, den Sie jetzt einbringen, in der Tat zunächst
ein gemeinsamer Gesetzentwurf war, den wir in der
16. Legislaturperiode eingebracht haben, es aber nach
dem EuGH-Urteil aufseiten der SPD-Fraktion erhebliche
Bedenken und Zweifel gegeben hat, die wir schon damals, in der 16. Legislaturperiode, formuliert haben?
Stimmen Sie mir auch dahin gehend zu, dass diese
Bedenken und Zweifel in der Anhörung durch die Sachverständigen bestätigt wurden?
({0})
Wäre es nicht sinnvoll, diesen Äußerungen der Sachverständigen Gehör zu schenken, ihre Empfehlungen umzusetzen und gegebenenfalls seine Meinung zu korrigieren?
({1})
Frau Kollegin Bätzing, ich war in beiden Gesetzgebungsverfahren Berichterstatter und erinnere mich, dass
die Gefechtslage stets schwierig war. Es gibt schwerwiegende wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten.
({0})
Das war aber im ersten Gesetzgebungsverfahren nicht
anders als im zweiten.
({1})
Im zweiten Gesetzgebungsverfahren waren eigentlich
keine neuen Argumente zu hören.
({2})
Das EuGH-Urteil können Sie jedenfalls nicht heranziehen, um Ihre Meinung zu stützen. Es stützt eher unsere Meinung. Das werde ich noch näher ausführen.
({3})
Lassen Sie mich auf drei Punkte eingehen. Erstens.
Die Ausdehnung der Umsatzsteuerbefreiung für PostUniversaldienstleistungen auch auf private Mitbewerber
war überfällig; denn der daraus bisher resultierende
Wettbewerbsvorteil der Deutschen Post AG war - egal
wie man zur Neuregelung steht - in jedem Fall europarechtswidrig. Deshalb wird die Neuregelung im Grundsatz auch von keiner ernst zu nehmenden Stimme bestritten. Nicht einmal die Deutsche Post AG lehnt sie im
Grundsatz ab. Sie war überfällig, und wir treten für ein
zügiges Inkrafttreten zum 1. Juli 2010 ein.
({4})
Zweitens. Von der Umsatzsteuer befreit werden künftig nur noch Post-Universaldienstleistungen, mit denen
durch einen oder mehrere Unternehmer eine Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt wird. Den Nutzern muss ein Universaldienst zur Verfügung stehen, der
ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu tragbaren Preisen für alle Nutzer bietet. Solche Post-Universaldienstleistungen sind die
Beförderung von Briefsendungen bis 2 Kilogramm, die
Beförderung von Paketen bis 10 Kilogramm sowie Einschreib- und Wertsendungen.
Wir haben als Koalition entsprechend dem Regierungsentwurf auch weitergehende Forderungen privater
Mitbewerber nach einer vollständigen Streichung der
Umsatzsteuerbefreiung abgelehnt. Wir haben also eine
ausgewogene Regelung getroffen.
Drittens. Das war der zentrale Punkt: Nicht unter die
Umsatzsteuerbefreiung fallen Leistungen, die zwischen
Vertragsparteien individuell vereinbart sind - auch das
ist unstrittig - und die aufgrund von Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu abweichenden Qualitätsbedingungen oder günstigeren Preisen als den allgemeinen Tarifen erbracht werden.
Insbesondere Letzteres war Hauptthema bei der Sachverständigenanhörung und auch bei der Diskussion im
Ausschuss. Auch wir als Unionsfraktion wie auch die
Koalitionsfraktionen insgesamt haben die Anhörung äußerst sorgfältig ausgewertet und alle Sachverständigen
zur Kenntnis genommen.
Nach unserer Auffassung wird aber der Regierungsentwurf durch das EuGH-Urteil vom 23. April 2009 voll
getragen, Frau Bätzing. In Ziffer 43 führt der EuGH aus,
dass nicht etwa alle Dienstleistungen, die von den öffentlichen Posteinrichtungen ausgeführt werden, unabhängig von ihrer Natur befreit sind. In Ziffer 44 führt der
EuGH aus, dass die Steuerbefreiung eng auszulegen ist.
Insbesondere in Ziffer 46 führt der EuGH aus, dass
sich - jetzt zitiere ich - insbesondere aus der Natur des
verfolgten Zwecks der Förderung einer Tätigkeit von allgemeinem Interesse ergibt, dass die Befreiung nicht für
spezifische, von den Dienstleistungen von allgemeinem
Interesse trennbare Dienstleistungen gilt, zu denen
Dienstleistungen gehören, die besonderen Bedürfnissen
von Wirtschaftsteilnehmern entsprechen. - So wortwörtlich der Europäische Gerichtshof.
Das heißt im Grundsatz: Allgemeine Leistungen für
Privathaushalte sind steuerbefreit. Besondere Leistungen
für Wirtschaftsteilnehmer zu günstigeren Preisen sind
nicht steuerbefreit.
({5})
Gerade Sie von den Sozialdemokraten oder den Linken werfen uns doch immer eine Verminderung des
Steuersubstrats vor.
({6})
Sie werfen uns vor, wir würden die Kommunen schädigen. Hier treten Sie für Steuerbefreiungen ein, die meines Erachtens nicht zu rechtfertigen sind.
({7})
Warum sollen denn Massensendungen zu günstigeren
Preisen, die Unternehmen an Tausende oder Zehntausende Aktionäre schicken, steuerbefreit sein? Warum
sollen Hunderttausende von Rundschreiben von Banken
oder Versicherungen an ihre Geschäftskunden steuerbefreit sein? Das ist doch eine Schädigung des Steuersubstrats.
({8})
Bei Sonderkonditionen besteht Umsatzsteuerpflicht. Ob
diese Sonderkonditionen individuell ausgehandelt oder
aufgrund von AGB vereinbart werden, kann doch keinen
Unterschied machen.
({9})
Anderenfalls könnten die Postunternehmen Sonderkonditionen geradezu in den AGB verpacken und damit selber über die Umsatzsteuerpflicht bestimmen. Das kann
nicht sein.
({10})
Wir haben alles in allem einen gelungenen Kompromiss
gefunden. Ich werbe seitens meiner Fraktion um Zustimmung.
Danke.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der eher unspektakuläre Titel des heutigen
Gesetzentwurfs der Regierung verdeckt die tatsächliche
Tragweite des Artikelgesetzes. Bereits zum zweiten Mal
in dieser Legislaturperiode zeigt diese Regierungskollision - ich benutze Kollision ganz bewusst -, wie sie
mit der fundierten Meinung von Sachverständigen
({0})
aus Anhörungen und mit Änderungsvorschlägen aus
dem Bundesrat umgeht. Sie ignoriert sie.
({1})
Sicherlich ist unstreitig, dass nach der Liberalisierung
des deutschen Postmarktes gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Bereich des Post- und Steuerrechts besteht.
({2})
Das ist absolut unstreitig. Was den Bereich der AGB zu
Sonderkonditionen angeht, ignorieren Sie aber hartnäckig die Äußerungen der Sachverständigen.
({3})
Herr Kollege Dautzenberg hat im Finanzausschuss und
auch gerade eben gesagt, dass es nicht auf die Anzahl
der Sachverständigen ankomme, die eine Meinung verträten, sondern auf deren Qualität.
({4})
Kollegen von der Union, schließe ich daraus richtig, dass
die CDU/CSU die Qualität und die Kompetenz sowohl
der Monopolkommission als auch die von Herrn Professor Scholz bezweifelt?
({5})
Haben Sie ihm das schon einmal persönlich gesagt? Ich
glaube, der steht Ihnen ziemlich nahe.
Worum geht es in der Sache? Die EU hat ein Ziel. Sie
will erreichen, dass in den Mitgliedsländern ein Universaldienst im Postdienst gewährleistet ist, und dabei will
sie nicht lediglich die Privatpost der einzelnen Personen
fördern. Jeder, der einmal in Art. 12 der Postrichtlinie hineingeschaut hat, wird das sofort feststellen. Die EU
trifft mit dieser Regelung in der Postrichtlinie zielgenau
deutsche AGB zu Sonderkonditionen; denn unter vergleichbaren Bedingungen eingelieferte Sendungen werden gleich behandelt, und diese Bedingungen sind allen
zugänglich. Das ist gerade der wesentliche Unterschied
zu individuellen Vereinbarungen.
({6})
Die EU will auch ganz bewusst Massensendungen
fördern. Sie hat verstanden, dass Universalpostdienst für
den Einzelnen nicht nur heißt, seinen Brief überall und
zu jeder Zeit abschicken zu können, sondern auch, überall und zu jeder Zeit Post, auch informatorische Post,
zum Beispiel von der Gemeinde, vom Kegelverein, ob
Einladungen, Zeitungen oder Spendenquittungen, erhalten zu können. Das ist die rechtliche Argumentation.
Wenn Sie diese nicht überzeugt, dann sollte es vielleicht
die politische tun. Wir werden in die Wahlkreise gehen.
Wir werden den Kirchen, den Schützenvereinen und den
Automobilklubs sagen, dass ihr Porto teurer wird,
({7})
weil die Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskollision das so wollen, obwohl EU-Recht dem
entgegensteht.
({8})
Wir werden ihnen sagen, dass ihre Vereinsmitglieder die
Zeche werden zahlen müssen; denn 300 Millionen Euro
Mehrkosten zahlen karitative Einrichtungen nicht einfach aus der Portokasse, sondern sie müssen diese auf
ihre Mitglieder umlegen, wenn sie ihr Bestehen nicht gefährden wollen. Herr Kolbe, Sie haben im Finanzausschuss gesagt, es gehe Ihnen um Gerechtigkeit.
({9})
Sie haben gefragt, ob es gerecht sei, wenn ein Brief von
der Deutschen Bank an die Commerzbank umsatzsteuerfrei ist.
Es geht mir dabei nicht um den Brief der einen Bank
an die andere. Es geht mir aber sehr wohl um den Brief
der Bank an den Kunden. Wenn dessen Porto nicht umsatzsteuerfrei ist: Wer wird die Mehrkosten zahlen? Die
Deutsche Bank? Wohl kaum! Die Bank wird ihre Gebühren für das Übersenden von Kontoauszügen anheben. Was wird passieren - das war Ihr Beispiel -, wenn
die Deutsche Bank für ihre Briefe an die Commerzbank
Umsatzsteuer zahlen muss? Wird sie weniger Gewinn
machen? Nein, sie wird auch diese Mehrkosten auf den
Kunden umlegen. Das ist die Wahrheit.
({10})
Sie sagen, das würde nicht passieren, weil durch den
Wettbewerb die Preise so gesenkt würden, dass es am
Ende für alle billiger würde. Ich warne vor dieser Annahme. Wer nämlich als Marktteilnehmer in diesen
Wettbewerb ohne Umsatzsteuerbefreiung eintritt, der
leistet keinen Universaldienst mehr. Der bringt nicht jeden Brief zu jeder Zeit an jeden Ort und holt ihn auch
dort ab. Nein, der pickt sich die Rosinen heraus. Das war
es dann mit dem Universaldienst.
({11})
Wer das wie Sie unterstützt, der hängt die Menschen
in den ländlichen Gebieten ab, der sorgt dafür, dass es
dort noch teurer wird. Für die Post der Deutschen Bank
an alle Kunden in Berlin mag Ihre Idee funktionieren.
Wenn aber die Caritas in Rheinland-Pfalz an alle Mitglieder Briefe in den Westerwald verschickt, funktioniert
genau das nicht. Deshalb sind wir mit unserem Änderungsantrag näher am Volk und folgen auch logischerweise dem geltenden EU-Recht.
Logisch ist es jedenfalls nicht, wenn Leasing-Unternehmen und Firmen, die Teile ihres Betriebes ins Ausland verlagern, nun Steuervorteile erhalten sollen.
({12})
Die SPD hat die Regelungen, die Sie jetzt abschaffen
wollen, in der Großen Koalition durchgesetzt.
({13})
Dazu stehen wir; denn sie sind richtig. Sie sind ein Ausgleich für die Verbesserungen gewesen, die die Unternehmen durch die Unternehmensteuerreform erhalten
haben.
({14})
Doch nun sollen sie wieder einseitig zulasten der Allgemeinheit zurückgenommen werden, um einige wenige
steuerlich zu begünstigen.
({15})
Mir ist nicht klar, wie nur eine einzige Oberbürgermeisterin oder ein einziger Oberbürgermeister von
Union oder FDP diese Regierung noch verteidigen kann;
({16})
denn ihre eigenen Bundespolitiker vergrößern permanent die finanziellen Defizite in den Kommunen.
({17})
Durch die Maßnahmen dieses Gesetzes werden den
Kommunen schon wieder - das beruht auf Berechnungen der kommunalen Spitzenverbände; ich weiß, dass
Sie denen anscheinend nicht mehr glauben - 650 Millionen Euro weggenommen.
({18})
Wenn Sie die Kommunen kaputtmachen wollen, dann
sagen Sie das offen. Unsere Unterstützung haben Sie dabei nicht.
Sie ignorieren weiter andere Meinungen beim Thema
Mitarbeiterkapitalbeteiligung, egal was Gewerkschaften
oder die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sagen. Sie ignorieren auch den Bundesrat.
({19})
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, im Interesse der Betrugsbekämpfung im Bereich der Umsatzsteuer auch den Handel mit Schrott und Altmetallen sowie die Gebäudereinigung von Subunternehmen in das
Reverse-Charge-Verfahren aufzunehmen.
({20})
Er begründet dies damit, Herr Kollege Volk, dass es sich
um betrugsanfällige Bereiche mit hohem Ausfallrisiko
handele. Das heißt doch nichts anderes, als dass der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich laufend Geld
entgeht. Die Bundesregierung stimmt dieser Feststellung
sogar in ihrer Gegenäußerung zu. Sie werde dieses Problem in einem der nächsten Steuergesetze angehen.
({21})
Was hindert Sie daran, es jetzt zu tun, und zwar in
diesem Gesetz?
({22})
Dass die Bundesregierung Gesetze umgehend einbringen kann, hat sie doch bei dem Thema CO2-Emmission
bewiesen. Da hat sie schnell reagiert. Es liegt also nicht
am Können. Also fragt man sich: Liegt es am Wollen?
({23})
Ich stelle mir die Frage, wieso die Bundesregierung die
Erarbeitung eines Gesetzes verschieben will, sodass mit
jedem Tag, an dem es nicht ergangen ist, hohe Steuerausfälle verursacht werden. Warum nehmen Sie diese
Schäden in Kauf? Braucht Deutschland das Geld nicht,
oder wollen Sie es vielleicht gar nicht?
Ich komme zum Schluss. Warum ignorieren Sie bei
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schon wieder
durchgehend die fundierten Auffassungen der Sachverständigen? Seriöse und ernstgemeinte Gesetzgebung
sieht anders aus. Deshalb hören Sie mit dieser Klientelpolitik auf!
Danke.
({24})
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz
mit massiven Steuererleichterungen für Familien legt die
konservativ-liberale Regierung das zweite große Steuergesetz mit weiteren wichtigen Steuerreformen vor.
({0})
Der erste wichtige Punkt, den wir aus dem großen Paket der steuerlichen EU-Vorgaben umsetzen, ist die Neuregelung zur Funktionsverlagerung, deren Bedingungen
auf ein international übliches Maß zurückgefahren werden. Die negativen Auswirkungen auf den Forschungsund Entwicklungsstandort Deutschland werden so beseitigt. Wir schaffen keine Steuerbefreiung, aber wir nehmen eine Erleichterung in der Bewertung vor. Wir entbürokratisieren also und erleichtern so die Anwendung des
Steuerrechts.
({1})
Wir nehmen dabei eine entscheidende Gewichtung
vor. Wir wollen, dass der Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland gestärkt wird. Denn wir können nicht verhindern, dass in Deutschland gewonnene
Forschungserkenntnisse und -ergebnisse ins Ausland
verschoben werden. Aber wir können uns dafür stark
machen, dass sie nicht von vornherein im Ausland, sondern bei uns gewonnen werden. Unternehmen müssen
nun zur Vermeidung einer steuerlich unklaren Situation
nicht mehr bereits ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Ausland ansiedeln, sondern können sich
zunächst für den Standort Deutschland entscheiden.
({2})
Das schafft Arbeitsplätze vor Ort, erzeugt Wachstum in
Deutschland und stärkt sowohl die Steuerbasis als auch
den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland.
({3})
Ein weiterer Punkt ist die Gleichbehandlung von Leasingunternehmen. Leasingunternehmen sind zur Finanzierung von Investitionen der Unternehmen unentbehrlich.
Deshalb haben wir die durch die Unternehmensteuerreform der Großen Koalition eingeführte Substanzbesteuerung zurückgeführt und korrigieren die Hinzurechnung von Leasingraten bei der gewerbesteuerlichen
Bemessungsgrundlage. Leasingunternehmen leisten,
vergleichbar mit den klassischen Kreditinstituten,
({4})
einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Finanzsituation in Deutschland, insbesondere des Mittelstands.
Diese Leasingunternehmen wurden bisher gegenüber anderen Finanzunternehmen steuerlich benachteiligt. Das
ändern wir jetzt. Wir schaffen keine Steuerfreiheit, sondern eine dringend gebotene Gleichbehandlung.
({5})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Reverse-ChargeVerfahren im CO2-Handel. Die Bundesregierung reagiert
mit konkreten Änderungen im Steuersystem, um dem
Umsatzsteuerbetrug beim Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten einen Riegel vorzuschieben. Damit stoppen wir zum einen die befürchteten Einnahmeausfälle
bei den Finanzämtern, und zum anderen bannen wir die
Gefahr eines Reputations- und Vertrauensverlustes des
gesamten EU-Emissionshandels. Das ist eine Sofortmaßnahme. Langfristig sollten wir aber auch diesbezüglich die Umstellung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung prüfen; denn die Ist-Besteuerung würde dem
Umsatzsteuerbetrug von vornherein die Grundlage entziehen.
({6})
Einer der wichtigsten Punkte dieses Gesetzes ist aber
ohne Frage die Neuregelung der Umsatzbesteuerung von
Postdienstleistern. Die liberal-konservative Koalition hat
eine europarechtskonforme Regelung gefunden, die fairen und echten Wettbewerb ermöglicht. Zunächst eine
gute Nachricht für unsere Bürger: Die Grundversorgung
- also zum Beispiel auch die Osterpost - bleibt auch in
Zukunft von der Umsatzsteuer befreit. Mit diesem Gesetz beenden wir aber ein Umsatzsteuerprivileg für nur
ein Unternehmen, um so endlich fairen Wettbewerb
durch chancengleiche Bedingungen zu ermöglichen.
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Politik einzelner Firmen zu bewerten oder uns auf Kosten dieser zu profilieren. Es ist aber unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass alle die gleichen Chancen
haben. So darf es nicht sein, dass ein einzelnes Unternehmen gegenüber 750 anderen bevorzugt wird. Mehr
Wettbewerb führt zu größerer Vielfalt, attraktiven Angeboten und niedrigeren Preisen. Die Preise werden nur
dann steigen, wenn es keinen Wettbewerb gibt.
({7})
Im April 2006 hat die Europäische Kommission die
einseitige steuerliche Bevorzugung des ehemaligen Monopolisten Deutsche Post angeprangert und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.
Während die Große Koalition nicht in der Lage war, eine
europarechtskonforme Änderung herbeizuführen - das
lag wohl im Wesentlichen an der SPD -, gab es im letzten Jahr ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes
({8})
Diese Vorgaben des EuGH setzen wir jetzt um.
({9})
Die Bevorzugung eines einzelnen Unternehmens wird
aufgehoben. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit
Postdienstleistungen ist weiterhin umsatzsteuerfrei.
({10})
Umsatzsteuerfrei sind also alle Leistungen, die der private Haushalt typischerweise nachfragt. Alle anderen
Leistungen, solche, die über die Grundversorgung hinausgehen, werden umsatzsteuerpflichtig.
Richtigerweise werden diejenigen Leistungen für
Großkunden, die aufgrund Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu günstigeren Preisen erbracht werden, in die
Umsatzsteuerpflicht einbezogen. Es bedurfte also offenbar erst eines Regierungswechsels in Deutschland, damit
die EU-Vorgaben umgesetzt und Sanktionen aus Europa
abgewendet werden.
({11})
Lassen Sie mich die Auswirkungen für den Postdienstleistungssektor einmal verdeutlichen. Der Genossenschaftsverband, also die Volks- und Raiffeisenbanken,
plant den Eintritt in den Markt für Postdienstleistungen.
Über die 13 586 Filialen der Volks- und Raiffeisenbanken sollen Postdienstleistungen angeboten werden,
({12})
übrigens in Orten, wo es nicht einmal Sparkassenfilialen,
geschweige denn Postfilialen gibt.
({13})
Die GenoPost geht damit ganz bewusst in die Fläche.
Es wird also auch weiterhin ein flächendeckendes
Postangebot geben, wenn auch nicht durch die gelbe
Post, sondern durch Wettbewerb. Während die Opposition noch im staatsmonopolistischen Denken des vergangenen Jahrhunderts verharrt, erkennen wir die Chancen
eines fairen Wettbewerbs, der - wie auf dem Telekommunikationsmarkt - zu besseren Leistungen zu günstigeren Preisen führt.
({14})
Zum Schluss können wir feststellen: Wir schaffen konjunkturstärkende Maßnahmen mit einem mittelstandsfreundlichen und unbürokratischen Gesetz, mit dem wir
steuerliche Ungleichheiten beenden und dem Steuerbetrug
einen Riegel vorschieben. Wir schaffen mehr Wettbewerb und mehr Wachstum - für unser Land und für unsere Bürger.
({15})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nach so viel Ideologie vonseiten der FDP tut
es not, zum Kern des Gesetzes zurückzukommen.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist sozial ungerecht, belastet die angeschlagenen öffentlichen Kassen, insbesondere die Kommunen, und er verkompliziert das Steuerrecht. Die Linke wird ihn daher ablehnen. Wir haben
dies mit unserem Entschließungsantrag auch untermauert.
Erste und wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwurfs:
Steuergeschenke für die Unternehmen, Stichworte: Neuregelung der Besteuerung von Funktionsverlagerungen
und die Ausweitung der Gewerbesteuerprivilegierung von
Finanzdienstleistungsunternehmen. Die Große Koalition
hatte mit der Unternehmensteuerreform 2008 den Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt.
Unter anderem damit erhalten die Unternehmen jährlich
eine Entlastung von 16 Milliarden Euro - 16 Milliarden!
Es gab einige zaghafte Gegenfinanzierungsmaßnahmen,
durch die die Steuersenkung auf 5 Milliarden Euro
schöngerechnet wurde. Ob dieser Betrag allerdings jemals erreicht worden wäre, werden wir leider nie erfahren; denn die schwarz-gelbe Bundesregierung setzt eine
Gegenfinanzierungsmaßnahme nach der anderen außer
Kraft.
({1})
Im Ergebnis kommen die Unternehmen in den ungeschmälerten Genuss der gesamten Steuersatzsenkung
von 2008 in Höhe von 16 Milliarden Euro.
({2})
- Hören Sie doch auf! Das ist doch ein Mythos, was Sie
hier erzählen.
Wie beim sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz zeigt sich Ihre Klientel - das kann man schlicht
nachlesen - als höchst spendabel als Reaktion auf die
prompte Umsetzung ihrer Wünsche. Diesmal waren es die
Finanzdienstleister, die sich für die Ausweitung der Gewerbesteuerprivilegierung brav bedankt haben. Bundestagsdrucksache 17/769: Zwei Vermögensberatungsunternehmen haben Anfang Februar insgesamt 200 000 Euro
an die CDU gespendet - ein tolles Dankeschön!
({3})
Herr Dautzenberg, wenn Sie das jetzt erstaunt: Lesen Sie
einfach einmal in den aktuellen Drucksachen, welche
Spenden bestimmte Unternehmen ganz bestimmten
Fraktionen hier in diesem Hause zukommen lassen.
({4})
- Ganz einfach: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.
Danke schön für eine Steuersenkung. - Das ist die Realität, die Sie mit diesem Gesetz hier wieder ganz klar zeigen.
({5})
Dreist ist zudem auch noch Ihre Aussage, die Sie auch
im Ausschuss gemacht haben, zu den finanziellen Auswirkungen des Gesetzes: Die Steuergeschenke an die
Unternehmen würden die öffentlichen Kassen überhaupt
nicht belasten, nichts würde ihnen entgehen.
({6})
Was ist aber die Realität? Sie eröffnen neue Möglichkeiten zur sogenannten Steueroptimierung, sprich im Klartext: zur Steuervermeidung.
({7})
Die Unternehmen werden selbstverständlich diese Möglichkeiten, die da sind, nutzen. Wozu haben sie denn ihre
großen Steuerabteilungen?
Beispiel Funktionsverlagerungen. Auf knapp 1,8 Milliarden Euro wurde das entsprechende Aufkommen 2008
geschätzt. Da Sie nunmehr weitgehend zur alten Regelung zurückkehren,
({8})
steht dieser Betrag schlicht und ergreifend auf dem
Spiel: Jawohl, 1,8 Milliarden Euro.
({9})
Sogar nach den von Ihnen vorgelegten Zahlen, nach
Ihrem Finanztableau, sind die Kommunen die einzigen,
die durch dieses Gesetz verlieren werden. In der Unternehmensteuerreform 2008 ist doch nachzulesen:
669 Millionen Euro. Da sagen Sie einfach, die öffentliche Hand werde nicht belastet. Die Kommunen, die eh
am stärksten belastet sind, werden Sie wieder zur Kasse
bitten.
({10})
Die Mehrwertsteuerneuregelung für verschiedene
Postdienstleistungen lehnen wir ab. Das hat meine Kollegin Frau Bätzing ausführlich dargelegt. Sie verfolgen
damit letztendlich nur ein Ziel - das hat meine Kollegin
ja sehr deutlich gemacht, und Sie haben es hier auch dargelegt -: Es geht Ihnen im Endeffekt nicht um mehr
Wettbewerb, es geht Ihnen darum, die Deutsche Post als
Unternehmen zu zerschlagen und die Universaldienstleistungen in unserem Land einzuschränken.
({11})
- Das ist die Realität.
Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen stellt Ihr
Gesetzentwurf eben keine Vereinfachung des Steuerrechts dar. Im Gegenteil, er bringt einen erheblichen
Mehraufwand sowohl für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler als auch für die Finanzbehörden mit sich. Nehmen
Sie doch einfach das Beispiel - das ging bisher immer
unter - der Abzugsfähigkeit von Spenden an ausländische gemeinnützige Körperschaften.
({12})
Nun frage ich Sie wirklich einmal: Wie soll denn ein
deutscher Finanzbeamter je real die Gemeinnützigkeit
einer Liechtensteiner Stiftung kontrollieren?
({13})
Es wurde auch in der Anhörung bestätigt, dass das einfach unmöglich ist. Hier ergeben sich Schwierigkeiten,
und es eröffnen sich Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung.
({14})
Ihr Gesetz ist schlecht gemacht. Sie nutzen die Möglichkeiten nicht aus, und Sie belasten insbesondere
kleine und mittelständische Unternehmen durch eine zusätzliche Frist zur Abgabe bestimmter Steuervoranmeldungen.
({15})
Das ist ebenfalls ein Aufblähen der Bürokratie.
Erstaunlich finde ich, mit welcher Sturheit Sie Ihre
Klientel bedienen,
({16})
indem Sie die Einwände aller Sachverständigen weitgehend ignorieren,
({17})
und Ihr Gesetz durchziehen. Wir werden das ablehnen.
Wir lassen uns diese Klientelpolitik auf Biegen und Brechen nicht gefallen.
Ich danke Ihnen.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kolbe, es ist ja
manchmal ganz gut, nicht die Selbsteinschätzung, sondern die Fremdeinschätzung bei der Bewertung der eigenen Leistung hinzuzuziehen. Da fand ich es schon bezeichnend, dass Herr Professor Wiegard als Mitglied des
Sachverständigenrates bei den kürzlich stattgefundenen
Berliner Steuergesprächen geäußert hat, dass es vielleicht besser wäre, wenn Schwarz-Gelb die Finger vom
Steuerrecht lassen würde. Er empfinde es als Bedrohung,
so hat er gesagt, wenn die Koalition neue steuerrechtliche Änderungen plane. Warum das so ist - daran kann
ich das gut nachvollziehen -, das zeigt der vorliegende
Gesetzentwurf.
Nehmen wir die Mitarbeiterkapitalbeteiligung: Noch
von der Großen Koalition wurde die steuerliche Förderung für Zusatzleistungen in Form von Kapitalbeteiligungen des Arbeitgebers an seine Angestellten eingeführt. Schon damals haben wir gesagt: Diese Form der
Beteiligung ist nicht zielführend.
({0})
Denn erstens wird der Arbeitnehmer an seinem Unternehmen finanziell beteiligt
({1})
und müsste folgerichtig, Herr Dautzenberg, auch mehr
Mitsprache in diesem Unternehmen haben. Zweitens
wird das Gebot der Risikostreuung missachtet und eine
Konkurrenz zur betrieblichen Altersvorsorge aufgebaut.
({2})
Der Arbeitnehmer wird in eine doppelte Abhängigkeit
geführt: Er trägt das Arbeitsplatzrisiko, und er riskiert
seine Ersparnisse. Er haftet für Fehlentscheidungen des
Managements,
({3})
ohne Einfluss nehmen zu können.
({4})
Schwarz-Gelb verschärft diese Fehlentwicklung noch,
indem die Entgeltumwandlung des Monatslohnes steuerlich gefördert werden soll. Das ist ein Irrweg,
({5})
der obendrein für den Staat zu Mindereinnahmen führt
und Bürokratie aufbaut. Das muss weg.
Beispiel Post; dies ist ein zentraler Punkt des Gesetzentwurfes. Klar ist: Die EU-Vorgaben müssen umgesetzt
werden. Wir begrüßen Wettbewerbsorientierung dort,
wo es richtig ist:
({6})
bei allen frei verhandelten Dienstleistungen. Aber die
EU hat auch Vorgaben gemacht, die öffentliche Daseinsvorsorge durch den sogenannten Postuniversaldienst
durch die Mehrwertsteuerbefreiung zu fördern. Zum
Umfang der öffentlichen Daseinsvorsorge gehört aber
nach unserer Auffassung nicht nur das flächendeckende
Versenden, sondern auch der flächendeckende Empfang
von Briefen und Paketen, und dies betrifft nicht nur den
Einzelbrief, sondern auch die Massensendung. Eine Differenzierung an dieser Stelle widerspricht dem Gedanken des Postuniversaldienstes und ist nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet.
({7})
Die Infopost erreicht in Zukunft im Zweifel eben
nicht die Bevölkerung in der Fläche, sondern nur die in
den Ballungszentren.
({8})
Die Verteuerung der Massensendungen betrifft vor allem
karitative Organisationen, Wohlfahrtsverbände oder Sportvereine, die alle ein höheres Aufkommen an Briefsendungen haben.
({9})
Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Volk?
Bitte sehr.
Herr Kollege Gambke, Sie haben den Universaldienst
der Post, was das Briefeversenden angeht, angesprochen. Geben Sie mir recht, dass es vor 20 Jahren eine
ähnliche Diskussion gab, als es darum ging, dass im Bereich der Telekommunikation ein flächendeckendes Angebot sichergestellt werden sollte, und dass erst durch
den durch die damalige Regierung ermöglichten echten
Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt eine
weitaus bessere Versorgung aller Bürger zu weitaus
günstigeren Preisen erreicht wurde?
Herr Dr. Volk, ich verstehe den Vergleich, er ist aber
- das muss ich Ihnen gerade als Techniker leider sagen falsch.
({0})
Denn die Telekommunikation kann drahtlos erfolgen.
Sie können heute überall in der Bundesrepublik drahtlos
Kommunikation betreiben. Die Telekommunikation ist
etwas anderes als das Versenden eines Briefes. Es gehört
aber ebenfalls zur öffentlichen Daseinvorsorge, dass Sie
auch an einen Adressaten im Bayerischen Wald einen
Brief senden können. Das verhindern Sie mit diesem Gesetzentwurf.
({1})
Ich kann Ihnen, Herr Dr. Volk, nur sagen: Ihre Frage
macht deutlich, dass die FDP einzelne Klientelen im
Blick hat, aber nicht die Bedarfe aller Bürgerinnen und
Bürger in diesem Lande.
({2})
Kommen wir zu den Unternehmensteuern. Das Ergebnis der großen Unternehmensteuerreform 2008 war
die Senkung der Steuerlast von rund 40 auf 30 Prozent.
Das Ziel war, den Standort Deutschland zu stärken. So
weit, so gut. Gleichzeitig wurden aber neue Instrumente
wie die Zinsschranke oder die Bewertung der Funktionsverlagerung eingeführt, um gezielt Fehlentwicklungen,
zum Beispiel die Gewinnverlagerung ins Ausland, zu
stoppen.
Kollege Gambke, gestatten Sie eine zweite und damit
auch letzte Zwischenfrage, in diesem Fall des Kollegen
Barthel?
Gerne.
Sie sind in Ihrer Rede leider schon inhaltlich fortgefahren; aber ich hätte Sie gerne gefragt, ob Sie bereit wären, den Herrn Volk darüber aufzuklären, dass wir heute
im Bereich der Telekommunikation davon ausgehen
müssen, dass jeder Haushalt einen Breitbandanschluss
braucht, der Wettbewerb bis heute aber nicht dafür gesorgt hat, dass auch jeder einen hat, dass die Breitbandstrategie der Bundesregierung vor sich hindümpelt und
gerade die FDP mit ihrem verantwortlichen Wirtschaftsminister keinerlei Vorschläge macht, wie man die weißen Flecken im sogenannten Universaldienst Telekommunikation und Breitband endlich füllen kann?
({0})
Vielen Dank für Ihren Hinweis. Ich kann das nur unterstreichen. Ich habe heute Morgen noch einen Brief an
den CSU-Oberbürgermeister von Landshut diktiert, in
dem ich auf den Umstand aufmerksam mache, dass eine
flächendeckende Breitbandversorgung nicht gewährleistet ist und dass wir vonseiten des Staates eingreifen müssen, weil die private Organisation nicht zu einer flächendeckenden Breitbandversorgung geführt hat.
({0})
Zurück zu den Unternehmensteuern. Ich hatte bereits
gesagt, dass die Regelungen sowohl bei der Zinsschranke als auch bei der Funktionsverlagerung Fragen
aufwerfen. Aber beides einfach zu kassieren mit dem Ergebnis erheblicher Steuermindereinnahmen und zusätzlich auf die gewollte Lenkungsfunktion zu verzichten,
({1})
das ist eine Kapitulation vor den eigenen Zielen, Herr
Dautzenberg.
({2})
Die Koalition tut so, als ob es bei der Funktionsverlagerung nur um leichte bürokratische Veränderungen gehe.
De facto wird die Regelung aber abgeschafft. Ihre Wei2556
gerung, dies anzuerkennen, ist fast schon peinlich und
lässt an Ihrem Sachverstand zweifeln.
({3})
Wir können darüber streiten, ob die Mindereinnahmen tatsächlich 1,8 Milliarden Euro betragen. Worüber
wir aber nicht streiten können, ist: Der Staat und vor allem die Kommunen brauchen diese Einnahmen; sie waren fest eingeplant. Den Einnahmen stehen auch Ausgaben gegenüber. Daher kann man nicht einfach sagen:
Sorry, es tut mir leid, aber es funktioniert nicht, und deswegen kassieren wir das wieder ein.
({4})
Das ist bei einer Budgetposition von 1,8 Milliarden Euro
verantwortungslos.
({5})
Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie Ihre Verantwortung
wahr! Verzichten Sie auf weitere Steuersenkungen auf
Pump, und konzentrieren Sie sich auf Investitionen in
die Zukunft, in Bildung und in Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels! Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn
ich es in der Kürze zusammenfasse und einen Strich unter das Gesetz ziehe:
({0})
Wir tragen zur Vereinfachung des Steuerrechts bei. Wir
leisten einen Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes und auch zur Stärkung des Arbeitsplatzstandortes
Deutschland. Wir verbessern die Situation für die Verbraucher durch dieses Gesetz.
({1})
Eine kurze Bemerkung vorweg. Bei der Mitarbeiterkapitalbeteiligung sollte man sehr sorgfältig über die Gestaltung im Einzelnen nachdenken. Manches, was Sie
gesagt haben, ist zu bedenken, Herr Gambke. Aber das
Prinzip der Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist zu 100 Prozent richtig. Es ist gut, dass wir heute einen weiteren
Schritt auf diesem Weg machen. Auch die steuerliche
Begünstigung ist richtig. Wir zwingen niemanden in die
Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Aber wir geben den Menschen die Chance, diesen Weg bewusst zu wählen. Es ist
ein ganz wichtiger Schritt; denn wir alle sind uns, glaube
ich, darüber einig, dass Kapital als Produktionsfaktor
immer wichtiger wird. Deshalb wollen wir die Arbeitnehmer in Deutschland beteiligen.
({2})
Ich komme zu einem anderen Punkt, zur gewerbesteuerlichen Hinzurechnung bei den Leasingunternehmen. Fakt ist: Wir privilegieren keine Unternehmen,
auch keine Leasingunternehmen. Vielmehr sorgen wir
für eine Gleichbehandlung.
({3})
Ansonsten hätten sich die Leasingunternehmen organisatorisch und gesellschaftsrechtlich umgestellt. Das
heißt, sie hätten den Finanzierungsteil ihrer Unternehmung ausgegliedert. In gesellschaftsrechtlicher Hinsicht
wäre das ohne Weiteres möglich gewesen. Dann hätten
wir auch keine steuerlichen Erträge erzielen können. Angesichts dessen brauchen wir keine steuerlichen Ausfälle
zu befürchten. Wir sorgen für eine Gleichbehandlung
von Unternehmen, die Finanzierungsgeschäfte tätigen.
Die Leasingunternehmen werden nun - das gilt nur für
den Finanzierungsteil - genauso behandelt wie Banken
und Sparkassen.
({4})
- Frau Kressl, nein, eben nicht. Die Leasingunternehmen
werden, was die Fremdgeschäfte angeht, genauso besteuert wie jedes andere Unternehmen in Deutschland.
({5})
Der zweite Punkt ist die Funktionsverlagerung. Der
Kollege Volk hat es zutreffend dargestellt: Wir haben
nichts anderes gemacht, als das Steuerrecht in diesem
Bereich zu vereinfachen. Wir machen es handhabbarer,
und zwar nicht für die Unternehmen mit großer Steuerabteilung, Frau Kollegin Höll, sondern für die kleinen
und innovativen Unternehmen in Deutschland.
({6})
Sie sollen überblicken können, welche Steuern sie in Zukunft zu zahlen haben, wenn sie in die Situation kommen, eine Funktion ins Ausland verlagern zu müssen.
Deswegen ist das, was wir tun, absolut richtig.
({7})
Es bleibt im Übrigen - das sage ich ganz klar - beim
Prinzip der Bewertung des Transferpaketes. Es bleibt
auch beim Prinzip der Besteuerung der Funktionsverlagerung. Das hat Herr Kollege Volk ebenfalls klargestellt.
Das heißt: Wir besteuern wie bisher; wir ändern nur die
Methode zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage.
({8})
Wir geben den betreffenden Unternehmen die Chance,
dass wir uns, wenn sie in Zukunft die Informationen
über einzelne, auch immaterielle Wirtschaftsgüter offenlegen, nach den einzelnen Verrechnungspreisen richten
und nicht nach den Transferpaketen.
({9})
Deshalb ist für mich klar, dass es hier keine Beeinträchtigung gibt. Gerade durch die Planbarkeit und Berechenbarkeit einer Investition und einer möglichen späteren
Verlagerung - Herr Volk hat es dargestellt - stärken wir
den Investitionsstandort. Wir ermutigen die Unternehmer, in Deutschland zu investieren und nicht von vornherein an die Besteuerung zu denken und deshalb nach
China oder Indien zu gehen, weil sie wissen, wie sie später behandelt werden. Das stärkt auf Dauer auch unsere
Steuerbasis.
({10})
Lassen Sie mich abschließend etwas zum Thema Post
sagen. Was Sie zu diesem Themenkomplex vorgetragen
haben, fand ich wirklich abenteuerlich.
({11})
Das glatte Gegenteil ist der Fall. Wenn man die Anhörung
aufmerksam verfolgt hat - ich habe sie sehr aufmerksam
verfolgt -, dann haben Sie völlig treffend dargelegt, dass
die Zahl der Gutachter aufseiten der Post AG gewesen ist.
Das ist zutreffend. Das kann keiner objektiv bestreiten.
({12})
Das sagt aber nichts über die Qualität der Aussagen aus.
({13})
Wir brauchen uns nur an einer Aussage zu orientieren,
nämlich an der Aussage des Europäischen Gerichtshofs.
({14})
Im Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist an keiner
Stelle von AGBs oder von AGB-Dienstleistungen die
Rede. Diese Begriffe sind von Gutachtern und anderen
Beteiligten in diese Debatte eingeführt worden. Herr
Kollege Kolbe hat es sehr dezidiert dargestellt: Im Urteil
des EuGH ist lediglich von postalischen Leistungen die
Rede, die den grundlegenden Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.
({15})
Es geht um die Grundversorgung. Es ist Aufgabe des
Gesetzgebers, den unbestimmten Rechtsbegriff der
Grundversorgung nun mit Inhalt zu füllen.
({16})
Der EuGH gibt hier allenfalls einen Rahmen vor; er legt
es nicht im Detail fest. Ich bin mir absolut sicher: Mit
dem, was wir heute beschließen, bewegen wir uns in diesem Rahmen und definieren wir die Grundversorgung
absolut zutreffend.
({17})
Eines ist völlig abwegig: bei Caritas, Schützenvereinen, Diakonie und anderen Vereinen die Angst zu schüren, sie müssten demnächst für ihre postalischen Dienstleistungen mehr bezahlen als bisher.
({18})
Ich sage Ihnen voraus: Das glatte Gegenteil wird der Fall
sein. Heute ist ein Freudentag für alle diese Organisationen, weil sie in Zukunft nicht auf die Leistungen der
Post angewiesen sein werden, sondern auf andere Wettbewerber ausweichen können.
({19})
Es ist bemerkenswert, wenn man bedenkt - das habe
ich bereits in der ersten Lesung ausgeführt; vor allem für
unsere Zuschauer auf den Rängen ist das interessant -,
was man vor 12 oder 15 Jahren für ein Telefongespräch
bezahlt hat. Ein zweiminütiges Ferngespräch hat damals
74 Cent gekostet. Heute zahlen sie für das gleiche Gespräch 3 Cent.
({20})
Das entspricht einer Preisreduktion von 96 Prozent. Das
ist mit Sicherheit ein Beitrag für die Verbraucher.
({21})
Ich kann es auch noch konkreter machen: Nehmen Sie
den Paketmarkt, der mit Konkurrenz schon gut versorgt
ist. Da gibt es eine Menge Wettbewerber, die mit der
Deutschen Post, mit DHL, konkurrieren. Bei den 10-Kilogramm-Paketen können Sie, bei Onlinefrankierung,
schon jetzt eine Preisreduktion von 10,50 Euro auf 5,90 Euro
feststellen. Das ist eine Reduktion um 44 Prozent.
({22})
Was wir heute machen, ist ein Beitrag für die Verbraucher. Eine Politik für niedrige Preise ist ein Stück
weit auch soziale Politik.
({23})
Deswegen habe ich überhaupt keine Probleme damit, in
der nächsten Woche zu dem Direktor der Caritas bei mir
vor Ort zu gehen. Bei dem habe ich einen Termin, und
ich werde ihm als Erstes berichten, dass er seine Post
demnächst günstiger verschicken kann.
Vielen Dank.
({24})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Nicolette Kressl von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, warum die SPDFraktion diesen Gesetzentwurf ablehnen wird.
Erstens. Nach der EuGH-Entscheidung und vor allem
nach der neuen Bewertung dieser EuGH-Entscheidung
durch Sachverständige hatten Sie die Chance, die günstige Grundversorgung für bestimmte Massensendungen,
zum Beispiel von gemeinnützigen Körperschaften, sicherzustellen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde es
unglaublich dreist, die Sachverständigen in der Anhörung zum Beispiel dadurch zu desavouieren, dass Sie die
veränderte Position der Monopolkommission als inkompetent bezeichnen. Dann können wir uns diese Anhörungen in Zukunft auch sparen.
({0})
Auch den Verweis, dass die Caritas und die Kirchen
in Zukunft günstiger versenden können, akzeptieren wir
nicht. Das wird nämlich erst der Fall sein, wenn die Post
zu Hungerlöhnen ausgetragen wird. Sie machen das entweder zulasten der Vereine oder zulasten der Beschäftigten. Das kann aber doch nicht die Alternative sein.
({1})
Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Aber natürlich.
Bitte schön, Herr Dautzenberg.
Frau Kollegin Kressl, würden Sie mir in Ihrer Objektivität zustimmen, dass von keinem Redner, auch von
keinem Redner meiner Fraktion, die Sachkompetenz der
Sachverständigen infrage gestellt worden ist, sondern
wir uns immer auf die Anzahl derer, die etwas befürwortet haben, bezogen haben? Für unsere politische Entscheidung war entscheidend, wie die Aussagen zu werten waren. Wir sind zu einer Entscheidung gekommen.
Das kann man nicht so abqualifizieren, dass wir die
Kompetenz der Sachverständigen infrage gestellt haben.
({0})
Herr Kollege Dautzenberg, gut, dass Sie noch einmal
nachfragen.
({0})
Vielleicht wissen Sie nicht mehr, was Sie gesagt haben.
Ich darf Sie erinnern: Sie haben im Ausschuss höchstpersönlich gesagt, wir sollten uns nicht nach der Anzahl
der Sachverständigen richten, sondern auch nach deren
Kompetenz.
({1})
- Doch. - Die logische Schlussfolgerung heißt: Es waren
zwar viele, aber nicht die Kompetenten, die diese neue
Position eingenommen haben. Es tut mir leid, Herr
Dautzenberg, aber da kommen Sie nicht mehr heraus.
({2})
Zweitens. Sie verstecken in diesem Gesetz durch zwei
schamhafte Umdrucke massivste Steuermindereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen. Das sagen nicht
nur wir. Das haben Sie auch in den Anhörungen mitgeteilt bekommen. Erst vorletzte Woche hat Petra Roth,
Oberbürgermeisterin von Frankfurt und Präsidentin des
Deutschen Städtetages, in Bezug auf dieses Gesetz deutlich gemacht: Das bedeutet noch einmal 650 Millionen Euro Mindereinnahmen für die Kommunen.
({3})
Sie bittet dringend darum, im Interesse der Kommunen
auf diese Regelung zu verzichten. Ich sage das, damit
klar ist, dass wir uns das nicht ausgedacht haben.
({4})
Immer wieder wird das Argument der Einfachheit
vorgebracht. Ich darf daran erinnern, dass wir von der
SPD-Fraktion im Ausschuss gefragt haben, ob dieses
ausführliche BMF-Schreiben zum Thema Funktionsverlagerungen wegfallen würde; dann würde wenigstens dieses Argument stimmen.
Die Antwort war: Nein, wird es nicht. Das heißt, weder die Versorgung der Kommunen mit Steuermitteln
noch die Frage der Einfachheit sind geklärt. Sie hätten
wirklich darauf verzichten sollen.
Besonders schlimm finde ich - ich habe es vorhin
schon gesagt -, dass Sie das Aufribbeln der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform auch noch in zwei
schamhaften Umdrucken versteckt haben.
({5})
Ich finde, wenn man das tun will, sollte man öffentlich
dazu stehen und es auch so benennen, statt es in Umdrucken zu verstecken.
Vielen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Kollegin Kressl,
ich glaube, die Übung im Finanzausschuss im Gesetzgebungsverfahren entsprach nicht der Übung der vergangenen elf Jahre. Dass beabsichtigte Änderungsanträge zu
einem Gesetzentwurf den Sachverständigen zur Anhörung zugeleitet werden, damit sie die Möglichkeit haben,
zu diesen Anträgen Stellung zu nehmen, gehört dazu.
({0})
Dass ein Sachverständiger möglicherweise etwas anderes sagt, als man selbst empfindet, gehört auch dazu. Das
Privileg der Politik besteht aber darin, die Aussagen der
Sachverständigen zu werten.
({1})
- Entschuldigung, es gab unterschiedliche Sachverständige; das ist in Anhörungen absolut normal und war auch
in vergangenen Legislaturperioden so.
Die Sachverständigen tragen dazu bei, die Tiefe der
Materie zu durchdringen. In der Vergangenheit wurden
aus Ihrer Sicht entsprechende Wertungen vorgenommen
und letzte Änderungen im Gesetzgebungsverfahren so
vorgenommen, wie Sie es für richtig gehalten haben. Wir
haben uns mit den Sachverhalten beschäftigt und die
Entscheidung so getroffen, wie wir es für richtig halten.
Das ist gegen keinen Sachverständigen gerichtet, sondern ganz normaler Bestandteil des Verfahrens. Weil wir
nicht alle Details beherrschen können, haben wir uns
kundig gemacht. Nachdem wir alle angehört haben, haben wir in einem sauberen, offenen und transparenten
Verfahren genau die Entscheidung getroffen, die heute
im Bundestag zur Abstimmung steht.
Herzlichen Dank.
({2})
Frau Kressl zur Erwiderung.
Herr Kollege Thiele, es ist völlig richtig, dass die
Umdrucke bei der Anhörung beraten worden sind.
({0})
Das entspricht im Übrigen sehr wohl dem bisherigen
Verfahren. Sie wissen: Wenn Umdrucke nicht in Anhörungen waren, können sie nachher nicht ins Gesetzgebungsverfahren aufgenommen werden. Das habe ich
auch gar nicht gesagt.
({1})
Ich habe gesagt, dass Sie es in diesem Gesetz verstecken.
({2})
Wenn Sie Steuermindereinnahmen in Höhe von
1,7 Milliarden Euro verursachen,
({3})
finde ich nicht, dass Sie dies in einem Umdruck, ob Anhörung oder nicht, zum Gesetzentwurf zur Umsetzung
von EU-Vorgaben beim Thema Post verstecken sollten.
Dann sollten sie ein Gesetz machen, über das Sie sinngemäß schreiben: Wir geben den Unternehmen jetzt alles
wieder, wie sie es bei der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform schon immer wollten. Ich finde,
das wäre der richtige Weg für eine gute politische Auseinandersetzung.
({4})
Dass es unterschiedliche Bewertungen dessen, was
die Sachverständigen sagen, gibt, ist völlig klar. Aber ich
will noch einmal das Zitat aus dem Ausschuss nennen,
das lautete: Es kommt nicht auf die Quantität, sondern
auf die Qualität von Sachverständigen an. - Ich finde,
das überschreitet die Grenzen, wie man mit Sachverständigen umgehen sollte.
({5})
Ich lasse keine weitere Kurzintervention zu. Es ist unüblich, eine Serie von Kurzinterventionen abzuhalten.
Herr Dautzenberg, ich bitte um Verständnis.
({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sie haben sowieso die Mehrheit und werden sich im Ge-
setzblatt wiederfinden. Das sollte Sie befriedigen.
Ich schließe die Aussprache.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Ände-
rung steuerlicher Vorschriften, Drucksachen 17/506 und
17/813. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung in der Ausschussfassung anzunehmen, Drucksa-
chen 17/923 und17/939.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für
den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/926? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungs-
antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen bei Zustimmung der Fraktion der SPD und der
Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/927 ab. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustim-
mung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Frak-
tionen der SPD und der Grünen abgelehnt.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz ({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
BAföG ausbauen und Chancengleichheit stärken
- Drucksache 17/884 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
1) Anlage 2
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Priska Hinz ({3}), Ekin Deligöz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sozial gerechtes Zwei-Säulen-Modell statt elitärer Studienfinanzierung
- Drucksache 17/899 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-Fraktion
das Wort.
({5})
Ich bitte diejenigen Kollegen, die dieser Debatte nicht
beiwohnen wollen, den Saal zu verlassen, damit sich die
anderen auf den Redner konzentrieren können.
Bitte schön, Herr Kollege Schulz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bildung ist
Menschenrecht. Wenn die Gesellschaft das Recht auf
Bildung ernst nimmt, dann muss sichergestellt sein, dass
Bildung nicht von der Herkunft und nicht vom Geldbeutel abhängig ist. Eine Ausbildung darf nicht daran scheitern, dass man sie sich nicht leisten kann.
({0})
Leider sind wir von diesem Ziel weit entfernt. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie geben Auskunft darüber,
warum sich Studienberechtigte gegen ein Studium entscheiden. Es sind vor allem finanzielle Gründe. Drei
Viertel von ihnen sagen, dass ihnen die nötigen finanziellen Voraussetzungen für die Aufnahme eines Studiums fehlen. Sie fürchten Schulden und Studiengebühren; unter Frauen ist diese Befürchtung übrigens
besonders stark ausgeprägt. Das gilt nicht nur für sozial
Schwache, sondern bis weit in den Mittelstand hinein.
Eine weitere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass zu einem großen Teil finanzielle Probleme zum Abbruch eines aufgenommenen Studiums führen. Eine ganz ähnliche Entwicklung dürfte es auch bei denjenigen geben,
die sich schulisch weiterqualifizieren wollen.
Es liegt ganz klar auf der Hand: Wir müssen die soziale Situation der Schüler und der Studierenden dringend verbessern.
({1})
Swen Schulz ({2})
Das zentrale Instrument dafür ist das BAföG. Das
BAföG ist der Hebel, um Chancengleichheit zu fördern.
Hier müssen wir ansetzen.
Der aktuelle BAföG-Bericht zeigt, dass die Förderungsquoten der Studierenden und Schüler in den letzten
Jahren gesunken sind. Zwar ist seit der letzten BAföGErhöhung der Großen Koalition wieder eine leichte
Trendwende, ein leichter Anstieg zu beobachten, aber
nicht in dem Ausmaß, dass uns das zufriedenstellen
kann. Im Ergebnis kommt der Beirat für Ausbildungsförderung in seiner Stellungnahme zu dem Schluss, dass
die Förderbeträge für BAföG-Empfänger erhöht werden
müssen, dass vor allem aber die Freibeträge deutlich zu
erhöhen sind. Genau das ist der Vorschlag der SPDFraktion. Wir wollen die Förderbeträge um 3 Prozent anheben und die Freibeträge deutlich, nämlich um
10 Prozent, erhöhen, damit mehr Menschen überhaupt
die Berechtigung zur Förderung erhalten und sich nicht
um andere Finanzierungsquellen kümmern oder aber auf
die Ausbildung verzichten müssen.
({3})
Wir wollen aber noch mehr verbessern. Ich nenne nur
ein paar Stichworte: Wir wollen die Kinderfreibeträge
und Kinderzuschläge anheben. Wir wollen die Altersgrenzen deutlich anheben. Wir wollen Fachrichtungswechsel erleichtern, Eltern in Ausbildung und denen mit
pflegebedürftigen Angehörigen besser helfen, und wir
wollen das BAföG künftig automatisch an die Preisentwicklung anpassen.
Darüber hinaus greifen wir einen neuen Vorschlag
auf. Wir wollen eine zweite Einkommensgrenze einführen. Diejenigen, die nicht weit über der bisherigen Einkommensgrenze für die BAföG-Förderung liegen, sollen
künftig ein unverzinsliches Darlehen erhalten können.
Bisher wird faktisch gesagt: Na ja, ihr verdient ja genug
Geld und könnt die Ausbildung eurer Kinder selber finanzieren. - Wir wissen aber, wie viele Bürgerinnen und
Bürger, die ein geregeltes Einkommen haben, trotzdem
bei der Finanzierung der Ausbildung der Kinder Schwierigkeiten bekommen. Sie sind heute auf den undurchsichtigen und teuren Kreditmarkt angewiesen. Ihnen
wollen wir staatlich helfen.
({4})
Wir machen mit diesen Vorschlägen das BAföG leistungsfähiger, weiten den Kreis der Berechtigten in die
Mitte der Gesellschaft aus und machen darüber hinaus
das Angebot einer weiteren, neuen Unterstützung. Dies
ist ein starker Beitrag für bessere Bildungschancen für
alle.
({5})
Das ist nicht etwa Wolkenkuckucksheim aus der Opposition heraus. Wir haben unsere Vorschläge mit konkreten
Änderungsanträgen für den Haushalt untermauert.
80 Millionen Euro mehr allein im Jahr 2010 haben wir
beantragt. Aber die Regierungskoalition hat abgelehnt.
Stattdessen schlägt die Bundesregierung eine, wie sie
selbst sagt, moderate Anpassung des BAföG vor, offenbar um der Kritik und dem Druck ein bisschen auszuweichen, damit Frau Schavan sich in Interviews besser darstellen kann. Aber das ist halbherzig; das löst kein
Problem. Sie machen beim BAföG nur etwas für die Galerie; das reicht nicht aus.
({6})
Manchmal werden Ihre Ablenkungsmanöver besonders offensichtlich. Um das BAföG nicht so stark erhöhen zu müssen, reden Sie Zahlen schön. Neulich flatterte
uns eine Pressemitteilung des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung auf den Tisch, wonach aktuelle
Zahlen zeigen, dass die Studierquote auf sagenhafte
72 Prozent angestiegen sei. Im Ausschuss haben die
Experten Sie dann zurechtgewiesen und deutlich gemacht, dass diese angebliche Erhöhung ein rein statistischer Effekt ist, weil neuerdings die Berufsakademien in
Baden-Württemberg mit eingerechnet werden. Peinlich,
peinlich! Ihre angebliche Erfolgsstory ist ein Rohrkrepierer, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Regierungskoalition.
({7})
Dann verteidigen Sie auch noch die Studiengebühren.
Sie nehmen Zahlen vom Statistischen Bundesamt her,
um zu zeigen, dass Studiengebühren angeblich keine
Auswirkungen auf die Studierneigung haben.
({8})
Aber dann müssen Sie sich im Ausschuss vom Statistischen Bundesamt anhören, dass deren Zahlen überhaupt
nichts darüber aussagen. Bums, wieder auf die Nase gefallen mit Ihren Tricks, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Regierungskoalition!
({9})
Was macht die Regierungskoalition ansonsten? Lauter Gipfel mit, wie ich sagen würde, fragwürdigem Erfolg.
({10})
Ich erinnere an den letzten Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin. Aus der Pressemappe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung habe ich hier einige
Schlagzeilen vorliegen. Ich lese einmal vor: Ein Schritt
vor, zwei zurück - das ist ein Kommentar zu dem Gipfel -, Zukunft vertagt, Es reichte nur für einen Minideal, Taschenspielertricks beim Bildungsgipfel, Bildung auf dem Grabbeltisch, Trauerspiel. Das ist nicht
die Opposition; es ist die Presse, die Ihnen ein Armutszeugnis ausstellt.
({11})
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, letzter Satz, Herr Präsident. - Darum meine Aufforderung an die Regierungskoalition: Wir haben einen
umfassenden Antrag zu einer starken BAföG-Verbesserung vorgelegt.
({0})
Zeigen Sie einmal Mut und Tatkraft, und stimmen Sie
diesem Antrag zu! Dann helfen Sie auch den Bürgerinnen und Bürgern.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die Bundesregierung spricht jetzt Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Helge Braun.
({0})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege
Schulz, das BAföG ist jetzt seit 40 Jahren ein Sinnbild
für die Chancengerechtigkeit aller, an der Hochschulausbildung teilzunehmen, und ein positiver Leuchtturm, der
auch in anderen Ländern viel Beachtung findet.
({0})
Wenn Sie hier die Vergangenheit ansprechen: Seit
2002 - damals war die Bundesregierung eine andere;
Frau Edelgard Bulmahn von der SPD war Bildungsministerin - hat es keine relevante Erhöhung des BAföG
gegeben.
({1})
- Ich rede gerade über die Zeit von Rot-Grün. Ich weiß
nicht, ob es Widerstand von den Grünen gab; jedenfalls
gab es unter der rot-grünen Regierung keine relevante
Erhöhung des BAföG.
({2})
2008 hat unter der Regierung von Angela Merkel Bildungsministerin Annette Schavan das BAföG endlich
wieder angehoben, und zwar um 8 Prozent. Die Freibeträge wurden um 10 Prozent erhöht. Das war ein großer
Schritt für die BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger
in Deutschland.
({3})
Herr Kollege Braun, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Rossmann?
Selbstverständlich.
Bitte schön, Herr Rossmann.
Herr Staatssekretär, haben wir Sie richtig verstanden,
dass Sie behauptet haben, dass es unter SPD und Grünen
keine Verbesserung beim BAföG gegeben habe?
Nein. Ich habe lediglich gesagt, dass eine relevante
Erhöhung, wie Sie sie jetzt fordern, nicht stattgefunden
hat.
({0})
- Sie haben eine Frage gestellt. Die beantworte ich jetzt. Nach der BAföG-Erhöhung 2001 gab es 2002, 2003,
2004 und 2005 keine adäquate Anpassung mehr.
({1})
- Ich beantworte Ihre Frage gerne weiter. - Unsere besondere Leistung ist, dass wir jetzt, im Jahr 2010, gerade
einmal zwei Jahre nach der letzten Reform mit der Anhebung der Freibeträge um 10 Prozent und der Bedarfssätze um 8 Prozent, wieder eine Erhöhung vornehmen
und diese sogar höher ausfällt als der Anstieg der Verbrauchspreise und der Anstieg der Löhne.
({2})
Die Kontinuität in der Entwicklung des BAföG, die wir
an dieser Stelle zeigen, ist historisch einmalig; damit
kann sich Ihre Regierungsphase in keiner Weise vergleichen.
({3})
Wir werden in diesem Jahr das BAföG erhöhen.
Selbstverständlich werden wir auch noch andere Elemente umsetzen. Wenn Sie die Studierenden in Deutschland fragen, was sie sich wünschen, ist das Erste, was
man Ihnen sagt: eine Vereinfachung, eine Entbürokratisierung des BAföG. Genau das ist Teil der 23. BAföGNovelle.
({4})
Die Anhebung der Altersgrenze, damit im System von
Bachelor- und Masterstudiengängen in Zukunft die typischen Bildungsbiografien besser abgebildet werden, ist
ebenfalls Teil dessen, was die Bundesregierung in diesem Jahr macht.
Wenn über bildungsferne Schichten und von Bildungsarmut gesprochen wird, sage ich: Wer die BAföGVollförderung von 648 Euro im Monat bekommt, hat damit - das zeigt die von Ihnen etwas einseitig zitierte
HIS-Studie auch - finanziell durchaus die Möglichkeit,
ein Studium zu absolvieren; aus finanziellen Gründen
muss er es jedenfalls nicht abbrechen. Viel relevanter ist
die Frage, wovon es abhängt, ob sich jemand in Deutschland ein Studium zutraut. Wie die HIS-Studie gezeigt
hat, sind nicht die finanziellen Verhältnisse Hauptgrund
dafür, sich ein Studium nicht zuzutrauen, sondern die
schlechten Schulnoten.
({5})
Deshalb ist es zentrale Aufgabe, im Bildungssystem dafür zu sorgen, dass eine möglichst große Anzahl Menschen in Deutschland so gute Bildungsergebnisse hat,
dass sie sich ein Studium zutrauen. Wem es finanziell an
den Möglichkeiten fehlt, soll entsprechendes BAföG bekommen.
({6})
Zum Thema Steuern. Sie fordern, dass wir den Freibetrag um 10 Prozent erhöhen. Sie behaupten, es gehe
dabei um die Mitte der Gesellschaft.
({7})
Ich muss Ihnen sagen: Die Mitte der Gesellschaft ist
durch Steuern und Abgaben am höchsten belastet. Was
Sie wollen, ist nichts anderes, als Steuern und Abgaben
weiter zu erhöhen und darauf zu verweisen, dass die
Kinder der Mittelschicht im Gegenzug BAföG-unterstützt studieren können.
({8})
Das ist nicht die Politik einer christlich-liberalen Regierung.
({9})
Nachdem ich auf den SPD-Antrag eingegangen bin,
will ich Ihnen sagen: Die Grünen haben auch einen Antrag eingebracht. Mit Ihrem Zweisäulenmodell gehen
Sie natürlich in eine etwas andere Richtung. Sie wollen
eine 5-prozentige Anhebung der Freibeträge. Damit liegen Sie sozusagen irgendwo dazwischen.
Klar ist aber: Das BAföG ist der Höhe nach sachgerecht ausgebaut. Im Jahre 2008 haben wir es deutlich erhöht. Sie sagen: Wir sehen nur einen ganz leichten Anstieg. - Die letzte Novelle ist im Oktober 2008 in Kraft
getreten. In der Studie, für die das BAföG und die Bezieher bis 2008 beobachtet wurden, haben wir einen Anstieg gesehen, obwohl nur die letzten drei Monate in
dieser Studie erfasst waren. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass nach der 22. jetzt auch die 23. BAföG-Novelle einen deutlichen Anstieg der Zahl der BAföG-Bezieher zur Folge haben wird.
Aus meiner Sicht ist es ein angemessener Wert für die
sozial- und bildungspolitische Komponente BAföG in
der Studienfinanzierung, dass weit mehr als ein Viertel
der Studierenden BAföG bezieht.
({10})
Die Menschen und auch die Studierenden sind individuell.
({11})
Deshalb ergänzen wir das BAföG durch ein nationales
Stipendienprogramm, und wir bemühen uns auch um
den Ausbau der Bildungsdarlehen,
({12})
damit jeder seine Studienfinanzierung individuell, nach
seiner Begabung und nach seinen sozialen Bedürfnissen,
so aufbauen kann, dass sie auf ihn maßgeschneidert ist.
({13})
Alles auf ein Instrument zu setzen, ist nicht die Politik
dieser Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, als Letztes komme ich zu
Ihrem Zweisäulenmodell. Was Sie hier fordern, ist im
Hinblick auf das Zusammenrücken und die Bedeutung
der Familien in Deutschland ein grundlegender Wandel.
Sie wollen das Kindergeld umwandeln und es direkt an
die Kinder fließen lassen, Sie wollen die Finanzierungsverantwortung von den Eltern auf die Kinder übertragen,
und Sie wollen hinsichtlich der Zuschussfähigkeit nicht
mehr die Eltern, sondern die Kinder prüfen. Im gesamtgesetzlichen Zusammenhang des Unterhaltsrechts in
Deutschland müssen Sie dazu die Eltern aus der Solidarverantwortung für ihre Kinder entlassen und die Kinder
damit alleinstellen. Sie erhalten dadurch vielleicht einen
sozialen Zuschuss, aber der innere Zusammenhalt der
Familie und die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder sind wichtige Bindeglieder, die wir erhalten wollen.
({14})
Wenn Sie dies auflösen wollen, dann müssen Sie das
hier deutlich sagen. Auch das ist nicht unsere Politik.
({15})
Das BAföG hat sich in 40 Jahren bewährt. Die Diskussion über die bildungsfernen Schichten ist dieser
Bundesregierung ein großes Anliegen. Daraus resultierend erhöhen wir das BAföG nach 2008 schon zum
zweiten Mal. Wir führen neue Instrumente der Studienfinanzierung ein und werden mit entsprechenden Bildungsmaßnahmen mehr für diejenigen tun, die es im
deutschen Bildungssystem nicht so leicht haben.
Die Bundesregierung wird damit ihrer Verantwortung
umfassend gerecht. Deshalb bitte ich Sie, dem Entwurf
für das 23. BAföG-Änderungsgesetz der Bundesregierung zuzustimmen, wenn wir ihn eingebracht haben.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir verhandeln heute
im Bundestag die Frage, wie in Zeiten der anhaltenden
Krise und der zunehmenden sozialen Unsicherheit das
Studium und die Ausbildung von Millionen junger Menschen zukünftig gesichert werden sollen.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung
({0})
beantwortet diese Frage unter anderem mit einem nationalen Stipendienprogramm. Mit Mitteln des Bundes und
der Länder, aber auch aus der Wirtschaft und von privaten Geldgebern sollen 10 Prozent der Studierenden, die
- in Ihren Worten - Leistungsstärksten und Begabtesten,
mit 300 Euro im Monat gefördert werden.
({1})
Erste Erfahrungen mit dem Modell gibt es bereits in
Nordrhein-Westfalen. Herr Pinkwart kann gleich sicherlich auch noch einmal Stellung dazu nehmen. Von den
angestrebten 8 Prozent aller Studierenden werden bislang allerdings nur 0,6 Prozent gefördert.
({2})
Nur wenige Hochschulen, wie zum Beispiel die RWTH,
die Technische Hochschule Aachen, mit engen Verbindungen zur lokalen Wirtschaft und zu finanzstarken
Sponsoren können die Kapazitäten aufbringen, die entsprechenden Gelder für das Stipendienmodell einzuwerben. Kleinere Hochschulen in strukturschwachen Gebieten sind chancenlos, an diesem Modell überhaupt
mitzuwirken.
({3})
Meine Damen und Herren, im schwarz-gelben Stipendienprogramm steckt de facto die Privatisierung der
Hochschulbildung.
({4})
Um es deutlich zu sagen: Fast 40 Jahre nachdem sich
Schülerinnen, Schüler und Studierende das BAföG erkämpft haben, droht mit dieser Bundesregierung der
schleichende Ausstieg aus der öffentlichen Ausbildungsfinanzierung. Das ist die eigentliche Bildungskatastrophe in der Bundesrepublik.
({5})
Alle Studien zur sozialen Zusammensetzung in der
Begabtenförderung belegen, dass etwa drei Viertel der
durch Stipendien Geförderten in Deutschland aus einer
hohen oder gehobenen Schicht kommen. Gleichzeitig
sehen wir, dass junge Menschen aus einkommensschwachen Schichten immer öfter kein Studium aufnehmen,
weil sie vor den Verschuldungsrisiken zurückschrecken:
({6})
71 Prozent der Studienberechtigten begründen ihren
Schritt, gar nicht erst ein Studium aufzunehmen, damit,
dass sie Angst vor dauerhafter Verschuldung und der
Rückzahlung großer Darlehen haben. Das rührt auch daher, dass sie Sorge haben müssen, direkt nach dem Bachelorstudium eben keinen hoch bezahlten Job zu finden, sondern vielleicht sogar in die Erwerbslosigkeit und
in Hartz IV zu fallen. Wenn Sie diese Menschen und ihre
Ängste ernst nehmen würden, dann würden Sie das
BAföG wieder zu einem Vollzuschuss ohne Rückzahlungspflicht machen.
({7})
Durch die misslungene Einführung der Bachelor- und
Masterstudiengänge und die überfrachteten Lehrpläne
haben viele Studierende heute eine Arbeitswoche von
40 Stunden und mehr. Seit langem ist bekannt, dass
63 Prozent der Studierenden zur Finanzierung des Studiums parallel arbeiten müssen.
({8})
Da die Studiengänge so überhaupt nicht in sechs Semestern zu schaffen sind, müsste die Bezugsdauer des
BAföG dringend verlängert werden; das Masterstudium
muss grundsätzlich in den BAföG-Bezug einbezogen
werden.
({9})
Zudem müssten die Altersgrenzen fallen, um individuelle Bildungswege überhaupt zu ermöglichen.
Bildungsbenachteiligungen beginnen übrigens nicht
erst an der Hochschule. Die Linke fordert deshalb auch,
das BAföG für Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen ab der 11. Klasse endlich wieder vollständig einzuführen.
({10})
Das ist ein längst überfälliger Schritt.
In der gestrigen Debatte zur Bologna-Reform hat die
CDU/CSU noch einmal ziemlich eindrücklich gezeigt,
dass es ihr bei ihrem ganzen Handeln gar nicht um die
Frage geht: Wie kommen wir zu mehr, zur besten Bildung für alle? Vielmehr ist das Motiv Ihrer Politik letztNicole Gohlke
endlich das Aussieben und Aussortieren. So zitierte Herr
Schipanski den EFI-Bericht mit den Worten: Man muss
die Selektionsprozesse früher ansetzen
. Ich halte
das, ehrlich gesagt, für eine Frechheit gegenüber den
Menschen, die sich fast schon verzweifelt um gute Bildung bemühen.
({11})
Wie tief lässt dieser Satz und Ihr völlig verengter Begriff der Leistungsstärksten und Begabtesten blicken!
Glauben Sie denn, dass Leistungsstärke und Begabung
einfach so vom Himmel fallen? Sind sie nicht gerade das
Produkt einer gezielten Förderung?
({12})
Was für ein mittelalterliches Menschenbild haben Sie eigentlich? Haben Sie sich noch nie überlegt, dass unter
den besten 10 Prozent, die in den Genuss eines Stipendienprogramms kommen würden, viele sein könnten, die
über gute Voraussetzungen verfügen, die eben nicht neben der Schule, neben dem Studium arbeiten mussten,
die schon durch ihr Elternhaus, ihre soziale Herkunft
oder ihr Wohnviertel die Möglichkeit hatten, den besten
Kindergarten, die beste Schule zu besuchen? Ich sage Ihnen: Wirkliche Bildungsförderung umfasst nicht nur
10 Prozent, sondern alle, besonders diejenigen, die nicht
von Hause aus mit den besten Voraussetzungen gesegnet
sind.
({13})
Die Finanzierung der Bildung und des Studiums ist
gerade in der Krise eine existenzielle Frage für alle. Die
Linke wird nicht tatenlos zusehen, wenn Sie weiterhin
auf die Privatisierung der Ausbildungsfinanzierung setzen. Bildung ist ein öffentliches Gut, das allen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft offenstehen muss.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt der Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Professor Andreas Pinkwart.
({0})
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Deutschland muss mehr tun, um
jungen Menschen unabhängig vom Einkommen und der
Herkunft ihrer Eltern den Weg an die Hochschulen zu erleichtern.
({2})
Natürlich ist es wichtig, gerade jungen Menschen aus
Nichtakademikerfamilien Mut zu machen, ihre Talente
zur Entfaltung zu bringen.
({3})
Aber, Frau Gohlke, das wird ihnen nicht durch die Ausführungen erleichtert, die Sie vor laufenden Kameras
und in Gegenwart von jungen Gästen gemacht haben.
({4})
Natürlich ist es falsch, zu sagen, dass ein Bachelorabschluss der direkte Weg in die Erwerbslosigkeit oder in
Hartz IV sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wer einen akademischen Abschluss erwirbt, hat mit Abstand die besten Arbeitsmarktchancen.
({5})
Sagen Sie das bitte laut! Ermutigen Sie junge Leute, einzusteigen, statt ihnen permanent Angst zu machen!
({6})
- Ja, genau, darüber reden wir hier. Das ist auch gut so. Die jungen Leute brauchen gute Voraussetzungen. Deswegen müssen wir die Studienfinanzierung verbessern.
Spätestens seit Beginn des Bologna-Prozesses bestand
die Notwendigkeit dazu, weil es, wie wir alle wussten,
zu einer Verdichtung der Lehrinhalte kommen würde.
Trotzdem sind Sie - das sage ich gerade mit Blick auf
die Opposition - in der Zeit, als Sie Regierungsverantwortung hatten, in dieser Frage keinen Deut weitergekommen. Sie haben zugelassen, dass das BAföG - der
Herr Staatssekretär hat es angesprochen - in Deutschland sieben Jahre lang nicht angehoben und damit enorm
geschwächt wurde.
({7})
Zwischen 2001 und 2008 waren Sie in Sachen BAföG
komplett untätig,
({8})
während die neue Regierung jetzt schon zwei Jahre nach
der letzten Aufstockung die Freibeträge und die Fördersätze anheben will. Die Grünen haben der 22. BAföGNovelle nicht einmal zugestimmt,
({9})
wie es meine Fraktion im Deutschen Bundestag getan
hat. Wir haben es auch vonseiten der Länder massiv befördert, gegen heftige Widerstände des damaligen Bundesfinanzministers, der nicht von der CDU, CSU oder
der FDP kam.
({10})
Herr Kollege Pinkwart, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brase?
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({0}):
Aber gerne.
Bitte schön.
Herr Minister Pinkwart, wir kennen uns ja aus unserer
wunderschönen Heimat im Siegerland. Frau Daub
kommt ja auch von dort.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
1998 das Volldarlehen beim BAföG, das damals Kohl,
Rüttgers und andere eingeführt hatten, wieder rückgängig machen mussten, um vor allen Dingen Kindern aus
Arbeitnehmerfamilien eine bessere Ausstattung und eine
bessere Zukunft im Wege des Studiums zu bieten?
({0})
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}):
Lieber Herr Brase, ich gebe gerne zu, dass es beim
BAföG Fortentwicklungen gegeben hat, auch 2001. Das
will ich durchaus anerkennen.
({2})
Aber Sie haben - das muss ich Ihnen entgegenhalten
dürfen; denn es geht um die jetzige Situation - federführend mit Frau Bulmahn den Bologna-Prozess in
Deutschland eingeführt, der vor zehn Jahren begann.
({3})
Sie haben auch seinerzeit in Nordrhein-Westfalen mit
den Grünen Regierungsverantwortung wahrgenommen.
Von 2001 bis 2008 - bis dahin waren zumindest die Sozialdemokraten auch in der Bundesregierung in der Verantwortung - haben Sie das BAföG nicht mehr angepasst.
({4})
Auch sonst haben Sie sich nicht um eine Verbesserung der Studienfinanzierung gekümmert. Das entspricht
den Tatsachen, und das gilt es hier festzuhalten, damit
wir eine klare Ausgangslage für die weitere Debatte haben.
({5})
Sie haben sich zum Beispiel - auch das gehört dazu im Rahmen Ihrer Regierungsverantwortung in den letzten Jahren auch nicht die Frage gestellt, was es neben
dem BAföG gibt und was wir an nennenswerten Stipendien in Deutschland haben. Sie haben es zugelassen,
dass gerade einmal 2 Prozent unserer Studierenden ein
Stipendium bekommen. Sie haben zugesehen, als bei der
Umstellung von D-Mark auf Euro das Büchergeld bei
Stipendien von 150 DM auf sensationelle 80 Euro umgestellt wurde.
({6})
Das mag vielleicht noch für den Sohn aus gutbetuchtem
Hause attraktiv sein. Für alle anderen bedeutet es aber,
dass sie sich statt drei wissenschaftlichen Büchern nur
noch eines kaufen können.
Sie müssen sich auch vorhalten lassen, dass Sie bei
den Begabtenförderungswerken eine nahezu ausschließliche Konzentration auf Universitätsstudierende zugelassen haben, und Sie haben hingenommen, dass die
Begabtenförderungswerke die Fachhochschulen nahezu
gänzlich außen vor gelassen haben.
({7})
Diese Bundesregierung ändert das jetzt endlich. Das
ist richtig; denn wir wissen, dass gerade in den Fachhochschulen Bildungsaufsteiger zu finden sind. Gerade
in den Fachhochschulen gibt es viele junge Menschen,
die den zweiten Bildungsweg beschritten haben und
nicht aus Akademikerfamilien kommen.
Ich begrüße es außerordentlich, dass es jetzt gelingt,
bei den Begabtenförderungswerken eine Aufstockung
von 80 Euro auf 300 Euro Büchergeld in Aussicht zu
nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass die Fachhochschulen im Bereich der Begabtenförderungswerke endlich eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten.
Wir sehen durchaus, dass wir beim BAföG ebenso
wie bei der ergänzenden Stipendienfinanzierung Verbesserungen brauchen. Es waren doch Sie von der Opposition, die in der Vergangenheit wortreich mehr Stipendien
gefordert haben. Der Kollege Oppermann etwa war als
niedersächsischer Wissenschaftsminister noch Feuer und
Flamme für ein Stipendiensystem. Herr Gabriel hatte
sich im Niedersächsischen Landtag sogar bitter darüber
beklagt, dass für Stipendien zu wenig getan werde.
({8})
Es war immer die Opposition, die gesagt hat, gerade
die Wirtschaft müsse mehr tun, um Stipendien möglich
zu machen.
({9})
Genau das will die Bundesregierung erreichen. Wir
wollen neben einem verbesserten BAföG als starke
zweite Säule ein Stipendiensystem schaffen und ermöglichen, dass über die Begabtenförderungswerke bis zu
10 Prozent der Studierenden gefördert werden können,
Minister Dr. Andreas Pinkwart ({10})
kofinanziert vom Staat, den Hochschulen und den Privaten in unserem Land.
({11})
- Das ist ein schöner Zwischenruf. - In Nordrhein-Westfalen sieht man, dass die Fachhochschulen von diesem
Stipendienprogramm genauso profitieren wie die Universitäten. Von diesem Stipendiensystem - das sieht man
am Beispiel der Universität Duisburg-Essen - profitieren
nicht nur die Hochschulen, die in günstig gelegenen Regionen beheimatet sind, sondern auch die, die in vom
Strukturwandel besonders hart betroffenen Regionen liegen.
({12})
Ich freue mich darüber, dass die Universität DuisburgEssen nicht nur die erste Universität war, die alle privaten Kofinanzierungsmittel eingeworben hatte, sondern
auch die Universität war, die viel mehr Mittel eingeworben hatte, als ihr zunächst an Stipendien in Aussicht gestellt wurden, sodass wir das Programm aufstocken
mussten. Was noch viel wichtiger ist: Die Stipendiaten
sind jetzt da. Die Stipendiaten der Universität DuisburgEssen sind zu 38 Prozent Stipendiaten mit Migrationshintergrund oder BAföG-Bezieher. Das ist der entscheidende Punkt: Zusätzlich zur BAföG-Förderung gibt es
jetzt auch dieses leistungs- und begabungsbezogene Stipendium, und es kommt genau denen zugute, die unserer
besonderen Aufmerksamkeit bedürfen.
({13})
Sie haben dieses zivilgesellschaftliche Potenzial bisher nicht nutzbar gemacht, und Sie wollen die Hochschulen daran hindern, es in Zukunft nutzen zu können.
({14})
Ich frage Sie: Was ist das für eine Arroganz der Politik,
zu glauben, nur sie könnte festlegen, welche Kriterien
bei der Auswahl von Stipendien gelten sollen? Warum
ist es in Ordnung, wenn die Heinrich-Böll-Stiftung - so
frage ich Sie - mit staatlichen Mitteln Studierende mit
journalistischen Ambitionen fördert, und angeblich nicht
in Ordnung, wenn ein mittelständisches Unternehmen
Studierende der Ingenieurwissenschaften fördern will?
Da bitte ich um eine Antwort.
({15})
Ich finde es auch nicht redlich, Herr Schulz, wenn Sie
sich öffentlich gegen eine begabungsabhängige zweite
Säule der Studienfinanzierung aussprechen und gleichzeitig auf der Webseite der Friedrich-Ebert-Stiftung für
ein Probestipendium werben. Mit Genehmigung des Präsidenten darf ich zitieren. Dort heißt es: Nur wer überdurchschnittliche Leistungen zeigt, wird dann in die reguläre Begabtenförderung aufgenommen. - Also, wer
SPD-Nähe zeigt, der darf dann doch begabt sein. Oder
wie dürfen wir das hier verstehen?
({16})
Herr Kollege Pinkwart, denken Sie bitte an die Zeit.
Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({0}):
Ich bitte Sie von der Opposition deshalb sehr herzlich
im Interesse der Studierenden, im Interesse der Hochschulen: Unterstützen Sie die Bundesregierung, damit
die BAföG-Säule möglichst stark bleibt und damit als
zweite Säule ein Stipendiensystem für begabte und leistungsbereite Studierende möglich wird, die es verdient
haben, unabhängig von ihrer Herkunft in unserem Land
endlich die Anerkennung zu finden, die sie brauchen, um
ihre Talente und ihre Begabung in den Dienst unseres
Landes, der Bildungsrepublik Deutschland, zu stellen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Pinkwart, erst einmal herzlich willkommen offensichtlich beim NRW-Tag im Deutschen Bundestag!
({0})
Nach Herrn Laumann hat nun Herr Pinkwart gesprochen. Offensichtlich ist es in Düsseldorf so ungemütlich
geworden, dass hier nun schon der zweite NRW-Minister spricht. Herzlich willkommen bei uns!
({1})
Zu Ihrem Stipendienmurks komme ich gleich. Ich
möchte erst einmal für die Fraktion der Grünen sehr
deutlich sagen: Wenn es um Gerechtigkeit geht, wenn es
um Wachstum durch Bildung und Zukunftsfähigkeit
geht, dann funktioniert das nicht ohne höhere Bildungsinvestitionen in eine viel bessere Studienfinanzierung,
als wir sie heute haben.
({2})
Chancengleich statt sozial selektiv, so wollen wir den
Zugang zum Studium sicherstellen. Das ist ein Unterschied zur FDP; denn die Herkunft darf eben nicht über
Zukunft entscheiden.
({3})
Gerade weil das so ist, muss die staatliche Studienfinanzierung besser, gerechter, verlässlicher und leistungsfähiger werden, so wie es Rot-Grün 2002 durch eine sehr
ambitionierte BAföG-Reform vorgemacht hat.
({4})
Die Studienfinanzierung braucht jetzt einen mutigen
Umbau, der Aufstieg durch Bildung und mehr Teilhabe
verwirklicht. Dabei kann man durchaus auch bei den anderen Fraktionen kleine Fortschritte konstatieren. Es ist
gut, dass die SPD ihren Antrag vorgelegt hat; denn an ihrem BAföG-Antrag wird deutlich, was in der BAföGNovelle der Bundesregierung buchstäblich ausgespart
wird. Bei Union und FDP ist durchaus positiv zu erwähnen, dass sie überhaupt Verbesserungen beim BAföG
planen, zwar nur mickrige, aber immerhin. Jahrelang
war schwarz-gelben Protagonistinnen und Protagonisten
nichts wichtiger, als aus der Abneigung gegenüber einer
klaren und staatlich garantierten Studienfinanzierung
keinen Hehl zu machen. Sie wollten am liebsten Studienkredite für alle, was definitiv verkehrt ist und jetzt
hoffentlich der Vergangenheit angehört.
({5})
Sie beschreiten aber gleich den nächsten Holzweg,
nämlich das nationale Stipendienprogramm. Wir als
Grüne sagen ganz klar: Motten Sie dieses 300 Millionen
Euro teure nationale Stipendienprogramm ein! Stecken
Sie dieses Geld in eine deutliche BAföG-Erhöhung! Das
ist ein besserer Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit
in diesem Land.
({6})
Das Stipendienprogramm ist die falsche Antwort auf
die soziale Schieflage beim Hochschulzugang. Es ist
eben kein Instrument, um junge Menschen aus anderen
Herkunftsgruppen für ein Studium zu gewinnen. Wir
wissen doch, dass Habitus und Herkunft durchaus mitentscheiden, ob man ein Stipendium bekommt oder
nicht. Insofern setzt dieses Programm die falsche Priorität, da ohnehin Bildungsnahe einseitig gefördert werden.
({7})
Die Vergabe von Stipendien in Ihrem Programm - das
sieht man ganz klar in NRW - ist abhängig davon, wo
man studiert, welches Fach man studiert, ob es eine lokale Stifterbereitschaft gibt und wie die Vergabepraxis
vor Ort ist. Ob man ein Stipendium bekommt oder nicht,
ist für die Studierenden nichts anderes als eine Stipendienlotterie. Insofern hängt es am allerwenigsten von der
Leistung ab, ob man sich da durchbeißt oder nicht.
({8})
Sie wälzen die komplette Organisation der Stipendien
auf die Hochschulen ab. Die Hochschulen freuen sich
schon, wie sie Tausende von Stipendien akquirieren. Die
Hochschulrektoren werden vor lauter Terminen beim
Rotary-Club zu nichts anderem mehr kommen, um diese
Stipendien überhaupt erst einmal einzuwerben. Die
Wirtschaft dagegen nehmen Sie überhaupt nicht in die
Pflicht. Sie wissen auch nicht, ob die Länder mitmachen
werden. Das Ganze kann ein richtig großer Rohrkrepierer werden. Ihr Stipendienprogramm ist unausgegoren,
vor allem für die Studierenden unattraktiv und viel zu
unsicher.
({9})
Wenn Sie stattdessen wirklich einen Bildungsaufbruch
wollen, dann müssen Sie jetzt beim BAföG unverzüglich
die Bedarfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Prozent erhöhen; denn die Anhebung um 2 Prozent, die Sie
vorhaben, fängt noch nicht einmal die Kostensteigerungen seit der letzten Anpassung 2008 auf. Insofern wird
eine höhere Bildungsbeteiligung definitiv ausbleiben.
Hier müssen Sie klotzen, anstatt zu kleckern.
({10})
Mit unserem Antrag machen wir deutlich, dass wir
mittelfristig keine kleinteiligen BAföG-Reparaturen
mehr wollen. Wir wollen endlich eine ambitionierte
Reform der Studienfinanzierung. Wir wollen ein Zweisäulenmodell einführen. Dieses Zweisäulenmodell ist
eine intelligente Mischung aus bedarfsabhängigen und
bedarfsunabhängigen Elementen. Es funktioniert wie
folgt: Es gibt künftig eine Säule 1, einen Studierendenzuschuss. Den erhalten alle Studierenden als eine Sockelförderung in gleicher Höhe als Basisabsicherung.
Damit geben wir allen Studienberechtigten einen klaren
Anreiz, ein Studium tatsächlich aufzunehmen. Mit
Säule 2, dem Bedarfszuschuss, sichern wir eine unerlässliche soziale Komponente, weil das die Studienfinanzierung weiter dringend braucht, damit Studierende
aus einkommensarmen Elternhäusern gute Möglichkeiten zur Finanzierung haben.
Neu an diesem Modell ist, dass die familienbezogenen Leistungen nicht mehr an die Eltern der Studierenden ausgezahlt oder ihnen steuerlich gutgeschrieben
werden, sondern Kindergeld und steuerliche Freibeträge
werden in den neuen Sockel für alle überführt. Dieses
Geld kommt dann den Studierenden direkt zugute. Das
macht auch Schluss mit einer Ungerechtigkeit im Familienlastenausgleich. Dem Staat sind die Studierenden in
der Familienförderung nämlich nicht gleich viel wert.
Einkommensstarke Eltern erhalten derzeit über Steuerfreibeträge deutlich mehr als einkommensschwache Eltern über das Kindergeld. Deshalb ist das auch ein klarer
Beitrag zu mehr Gerechtigkeit.
({11})
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gehring.
- Ja, Herr Präsident.
Wir machen auch Schluss mit Teildarlehen und Verschuldung nach dem Studium. Deshalb wollen wir, dass
beide Säulen als Vollzuschüsse ausgestaltet werden.
Denn auch die Frage, ob man hinterher BAföG-Darlehen
abzahlen muss, entscheidet darüber, ob man ein Studium
beginnt. Mit unserem Vorschlag gibt es keine finanziellen Gründe mehr, auf ein Studium zu verzichten.
Ich erwarte bei der Studienfinanzierung deutlich mehr
Mut und dass die richtigen Prioritäten gesetzt werden.
Das BAföG muss deshalb zum Zweisäulenmodell ausgebaut werden, statt ein ungerechtes Stipendienprogramm
einzuführen. Dabei hoffe ich auf Ihre Zustimmung.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
erspare mir Aussagen zu den verqueren Argumenten der
Opposition über Studiengebühren, Bologna und die angebliche Privatisierung unseres Bildungssystems.
({0})
Uns liegen heute zwei Anträge vor, die beide gänzlich
einfallslos sind und daher am Ende auch erfolglos sein
werden.
({1})
- Ganz ruhig bleiben. - Lassen Sie mich erläutern, warum.
Zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist anzumerken, dass die dortigen Vorschläge nicht mehr sind als
alter Wein in neuen Schläuchen. Sie sprechen im Wesentlichen von Ideen, die vom Deutschen Studentenwerk und
in ähnlicher Form von der KMK mit dem Dreistufenbzw. dem Dreikörbemodell schon vor 15 Jahren vorgelegt
wurden.
({2})
Die SPD hatte bereits 1994 vergleichbare Ideen entwickelt, und die Grünen haben im Sommer 1995 an ein
Modell mit einer Sockelfinanzierung gedacht, bei dem
Kindergeld und Steuerfreibeträge nicht mehr den Eltern
zugutekommen, sondern direkt an die Studierenden ausgezahlt werden. Schon damals wurden diese Vorschläge
von wechselnden Koalitionen als nicht finanzierbar abgelehnt, und auch die SPD
({3})
- hören Sie doch zu, Herr Kollege! - ist am Ende wieder
umgeschwenkt. Ihre ehemalige Bildungsministerin
Bulmahn hat festgestellt, dass Chancengleichheit nicht
BAföG für alle heißt. Zitat: Nein, sorry, das wollen
wir Sozialdemokraten nicht.
({4})
Zudem hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zum Familienlastenausgleich aus dem Jahr 1998 ernsthafte Bedenken an der Realisierbarkeit dieses Dreikörbemodells genährt, und diese Bedenken greifen auch
hinsichtlich des von den Grünen vorgelegten Zweisäulenmodells.
({5})
Bei den Grünen hat ungeachtet dessen bis heute offensichtlich kein Lernprozess stattgefunden. Im Widerspruch zu der Idee vom lebenslangen Lernen füllen Sie
alten Wein in neue Schläuche und hoffen, dass es niemand merkt. Kreativität? - Fehlanzeige!
Ich erspare Ihnen eine Fortsetzung der Chronik Ihrer
in immer neuem Gewand daherkommenden Vorschläge
zur Studienfinanzierung - ich nenne nur das Beispiel
BAFF -, Vorschläge, die Sie damals unter Rot-Grün
selbst nicht umgesetzt haben.
Nun aber zum SPD-Antrag.
({6})
Dieses Haus hat bereits mehrfach und über alle Parteien
hinweg festgestellt, dass Bildung die entscheidende Voraussetzung für notwendige Innovationen in Wirtschaft
und Gesellschaft ist.
({7})
Deshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, die richtigen
Rahmenbedingungen zu schaffen. Niemand soll von einem Studium abgehalten werden, und jeder, der sich für
ein Studium entscheidet, soll es auch aufnehmen können. Das BAföG als Sozialleistung hilft uns dabei. Doch
das genügt Ihnen nicht. Sie schütten in Ihrem Antrag unter dem Deckmantel der Chancengleichheit ein Füllhorn
an zusätzlichen Wohltaten aus. Willkürlich angestrebt
sind 100 000 zusätzliche BAföG-Empfänger.
({8})
Da winkt am Horizont vielleicht doch schon wieder die
Idee von einem BAföG für alle, wenn nicht gar von einem Studium für alle.
Haben Sie sich denn einmal die Mühe gemacht, auszurechnen, was Ihre Vorschläge kosten? Auch in der Opposition sollte man nicht im luftleeren Raum argumentieren, sonst setzt man sich dem berechtigten Vorwurf
des Populismus aus.
({9})
Sie werden jetzt argumentieren wollen, dass man für
das Ziel hinsichtlich der 100 000 zusätzlichen BAföGEmpfänger das Geld verwenden könne, das für das nationale Stipendienprogramm vorgesehen ist. Aber das
geht gerade nicht. Ziel des nationalen Stipendienprogrammes ist es, über eine Kofinanzierung aus privaten
Mitteln den staatlichen Förderbetrag zu verdoppeln. Damit sollen zusätzlich 160 000 besonders leistungsfähige
Studierende gefördert werden. Das ist nicht etwa elitär,
das ist innovativ;
({10})
zumal bei der Auswahl der Stipendiaten ausdrücklich
auch soziale Kriterien herangezogen werden können.
({11})
Ich frage Sie: Wie kann man diese Chance auf zusätzliche Mittel für Bildung ablehnen und den helfend ausgestreckten Arm des privaten Sektors - bildlich - zurückschlagen? Das ist in Zeiten knapper Kassen geradezu
verantwortungslos.
Doch auch beim BAföG setzen wir Zeichen - Staatssekretär Braun hat es angesprochen -: Zum Wintersemester 2008/2009 haben wir die Bedarfssätze um
10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben.
Dies wird, wir haben es gehört, zu einer signifikanten
Besserstellung der Geförderten führen.
Wir gehen noch einen Schritt weiter: Mit den von der
Bundesregierung in der 23. Novelle des BAföG vorgesehenen Anhebungen der Bedarfsätze um 2 Prozent und
der Freibeträge um 3 Prozent greifen wir sogar künftigen
Einkommens- und Preisentwicklungen vor. Sie hingegen, Kollege Schulz, konterkarieren Ihren eigenen Antrag, wenn Sie, wie auf Seite 4 oben dieser Vorlage, eine
automatische Anpassung der Bedarfssätze und Einkommensgrenzen an die Lebenshaltungskosten fordern. Dies
würde nämlich für 2009 und 2010 eine Steigerung von
nur 1 Prozent bedeuten. Von einer 3-prozentigen oder
gar 10-prozentigen Erhöhung, die Sie hier fordern, sind
wir also sehr weit entfernt.
({12})
- Erklären Sie es mir, ja.
Noch etwas Grundsätzliches, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion: Die Formulierung in Ihrem
Antrag, wonach jungen Menschen ohne ein Studium Zukunftschancen vorenthalten seien und ihre individuelle
Lebensführung beeinträchtigt werde, kann so nicht stehen bleiben. Diese Formulierung ist beredter Ausdruck
Ihrer überheblichen Einstellung gegenüber jenen, die
eine berufliche Ausbildung absolviert haben und sich
über Meister- oder andere Weiterbildungskurse für eine
verantwortungsvolle Aufgabe in unserer Gesellschaft
qualifiziert haben oder qualifizieren wollen.
({13})
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger zur Verwirklichung ihrer Zukunftschancen ein Hochschulstudium absolvieren müssen.
Bildungs- und Innovationspotenziale können auch außerhalb des tertiären Systems gehoben werden.
({14})
Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist nicht nur
auf akademische Fachkräfte ausgelegt.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.
An zwei Punkten darf ich Ihnen zur Versöhnung noch
recht geben: Die Auszahlung der BAföG-Raten an Neugeförderte sollte möglichst ohne Verzögerung erfolgen,
und die Information für Studierwillige über Fördermöglichkeiten nach dem BAföG, aber auch aus anderen
Quellen, muss nachhaltig verbessert werden. Alles andere, was Sie hier vorschlagen, werden wir im zuständigen Ausschuss im Rahmen der Diskussion über das
BAföG-Änderungsgesetz und auch das nationale Stipendienprogramm beraten.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marianne Schieder
von der SPD-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit ihr Hoffnung habt, so heißt das Motto des
2. Ökumenischen Kirchentages, der im Mai in München
stattfinden wird. Zu dessen Inhalt hatten wir am Mittwoch einen parlamentarischen Abend. Auf dem Plakat
und den Einladungen dazu sind zwei Mädchen dargestellt, die fröhlich und hoffnungsvoll Hand in Hand
durchs Wasser springen und, bildlich gesprochen, gemeinsam den Weg ins Leben wagen und gehen.
({0})
Dieses Bild hat mir so gut gefallen, dass ich mich entschlossen habe, es auf die heutige Debatte zu übertragen.
Ich frage uns alle: Was müssen wir in der Bildungspolitik tun, damit junge Menschen Hoffnung haben?
Kollege Swen Schulz hat dargestellt, welche Defizite
es immer noch gibt, gerade was die Chancengerechtigkeit
betrifft, und wie sehr in Deutschland immer noch ganz
deutlich der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob
Marianne Schieder ({1})
sich junge Menschen für ein Studium entscheiden können
oder ob sie darauf verzichten. Ich meine, es ist unbestritten, dass den jungen Menschen Hoffnung gegeben werden
muss - es besteht dringender Handlungsbedarf -, die aus
einkommensschwächeren Elternhäusern kommen und
Unterstützung brauchen, um sich zu trauen, ein Studium
aufzunehmen.
Die Bundesregierung setzt neben einer begrüßenswerten, aber eher bescheidenen Verbesserung im Bereich
des BAföG auf ein Stipendienprogramm, orientiert an
dem, was in NRW versucht wird, aber - alles in allem nicht funktioniert. Herr Minister Dr. Pinkwart, das, was
Sie heute hier bezüglich des Funktionierens dieses Programms in NRW dargestellt haben, war ein einziges
Schönreden, Schönrechnen und Die-Welt-schön-habenWollen, aber keine Darstellung der Realität.
({2})
Die Hochschulen und Universitäten sollen jetzt die
Möglichkeit bekommen, bis zu 8 Prozent ihrer Studierenden mit monatlich 300 Euro zu fördern. Das Ganze
soll den Bund und die Länder alles in allem bis zu
300 Millionen Euro kosten. Die Wirtschaft und private
Förderer sollen kräftig mitfinanzieren.
Die Ausgestaltung des Bewerbungs- und Auswahlverfahrens liegt in der Verantwortung der Hochschulen.
Mit circa 160 000 Neuanträgen wird gerechnet. Bei dem
Punkt Auswahlkriterien heißt es: Begabung und Leistung, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung,
familiäre Herkunft und Migrationshintergrund sollen
eine Rolle spielen. Meistens ist aber, wenn Sie darüber
reden, nur die Rede von Begabung und Leistung, was
immer das sein soll. Ich gehe davon aus, dass damit Noten gemeint sind. Niemand kann bis jetzt sagen, in welcher Relation die verschiedenen Faktoren, die in Ihrem
Referentenentwurf aufgeführt sind, zueinander stehen
sollen und woran man zum Beispiel konkret soziale Herkunft und gesellschaftliches Engagement festmachen
will.
Selbst die deutsche Wirtschaft hat ja schon - Sie können es in der Financial Times nachlesen - die mangelnde
soziale Ausrichtung kritisiert.
({3})
Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
hat uns bestätigt, dass schon die bisherige öffentliche
Begabtenförderung darunter leidet, dass vor allem Studierende aus akademischen Besserverdiener-Haushalten in deren Genuss kommen. Das ist nicht meine Aussage; das ist ein Zitat. Auch von dieser Seite wird eine
sozialere Ausrichtung des neuen Stipendienprogrammes
gefordert.
Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP: Fragen Sie doch einmal an den
Universitäten und Hochschulen nach, was man dort über
Ihre neuen Ideen denkt.
({4})
Die Universitäten und Hochschulen wissen doch ganz
genau, welch enormer Verwaltungsaufwand und welch
enorme Kosten auf sie zukommen, um die Stipendien zu
verwalten und um die nötigen Mittel von privaten Förderern einzutreiben.
Darüber hinaus - das wissen auch Sie - laufen wir Gefahr, dass es zu einer enormen Verzerrung in der Hochschullandschaft kommt; denn Hochschulen in strukturell
schwächeren Regionen werden an Attraktivität einbüßen,
da sie mit Sicherheit nicht so viele Stipendien zu vergeben
haben wie andere an gefragten Wirtschaftsstandorten.
Ähnliche Verwerfungen sind hinsichtlich der Ausrichtung des Studienangebotes zu erwarten. Insbesondere die
Geisteswissenschaften drohen auf der Strecke zu bleiben. So sind in NRW nur 38 Prozent der Stipendien, die
nach dem neuen System vergeben werden, nicht an eine
Fachrichtung gebunden. Kann es denn unser Ziel sein,
uns zukünftig von Geldgebern, die sich an Einzelinteressen orientieren, diktieren zu lassen, was an unseren Universitäten studiert werden kann bzw. was dort gelehrt
wird? Wo bleibt denn da die Freiheit der Wissenschaften?
({5})
Alles in allem frage ich mich: Wozu betreibt man einen solchen Aufwand, wenn die Gefahr besteht, dass es
zu den geschilderten Fehlentwicklungen kommt? Warum investiert man nicht das Geld, das für dieses Stipendiensystem vorgesehen sind, gleich in ein bestens bewährtes und gut funktionierendes Fördersystem, nämlich
in das BAföG-System?
({6})
Für BAföG gibt es bereits eine gut funktionierende und
ausgebaute Verwaltungsstruktur. Die Vergabe von
BAföG unterliegt klaren Richtlinien, die nachprüfbar
sind und die sozialen Realitäten objektiv berücksichtigen. Wer Vernunft walten lässt und Chancengerechtigkeit im Bildungssektor ernsthaft will, der muss die Priorität auf eine umfassende Ausweitung von BAföG legen,
wie sie von uns gefordert wird. Unter BAföG können
sich junge Menschen nämlich etwas vorstellen, hier haben sie nachvollziehbare und berechenbare Grundlagen
und nicht vage Aussichten. Das gibt Hoffnung und
macht Mut, sich doch noch an ein Studium zu wagen,
auch wenn der Geldbeutel der Eltern nicht so dick ist.
Deswegen bitte ich Sie: Nehmen Sie Abstand von einem System, das nicht funktioniert, wie es sich ja an
dem Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, das jungen
Menschen nicht hilft und das uns nicht weiterbringt in
unserem Bemühen, auch die jungen Menschen dazu zu
motivieren, ein Studium anzutreten, deren Eltern derzeit
nicht gerade üppig mit finanziellen Mitteln gesegnet
sind.
({7})
Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
Ja. - In diesem Sinne: Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Ich hoffe auf eine bessere Einsicht Ihrerseits.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Zukunft unseres Landes hängt mehr denn je von der
Ausbildung unserer Kinder ab.
({0})
Gerade jetzt in der Krise setzen wir als christlich-liberale
Koalition ein Signal und investieren über 12 Milliarden
Euro mehr in diesen Bereich. Eine solche Steigerung gab
es hier noch nie.
({1})
Wir brauchen in Zukunft - das ist klar - jeden Einzelnen mit seinen Talenten.
({2})
Ich gebe Ihnen recht: Der Geldbeutel der Eltern darf
nicht über die Bildung der Kinder entscheiden.
({3})
Wir bauen gerade auch deswegen die Unterstützung bei
der Ausbildungsfinanzierung kräftig aus. Die Bedarfssätze beim BAföG werden nicht gesenkt, sondern erhöht. Diese werden um 2 Prozent und die Freibeträge um
3 Prozent erhöht.
({4})
Das ist deutlich mehr als die Einkommens- und Preissteigerungen, die im BAföG-Bericht prognostiziert worden sind. Zusätzlich zum BAföG führen wir ein nationales Stipendiensystem ein.
Wir sehen auch Erfolge. Zum aktuellen Wintersemester haben 43 Prozent des Altersjahrgangs mit einem Studium begonnen. Vor zehn Jahren waren es noch 31 Prozent. Die aktuelle HIS-Studie zeigt, dass immer mehr
Kinder aus bildungsfernen Schichten studieren. Deren
Studierquote ist um 6 Prozent auf 65 Prozent gestiegen.
Bei Kindern aus akademischen Elternhäusern betrug die
Steigerung nur 3 Prozent. Die Schere schließt sich also.
({5})
Jetzt kann man natürlich bei jeder Erhöhung nach einer weiteren, einer noch größeren rufen. Aber wir dürfen
eines nicht vergessen: Das BAföG ist eine Sozialleistung. Es hat nur derjenige Anspruch darauf, der die für
seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel nicht anderweitig zur Verfügung stellen
kann. Das BAföG ist kein Gehalt für Studenten. Im
Sinne einer Gleichbehandlung mit anderen Empfängern
von staatlichen Transferleistungen sind wir angehalten,
({6})
die Freibeträge und die Bedarfssätze auf einer sachlichen
Basis weiterzuentwickeln.
({7})
Das sind wir auch denjenigen schuldig, die diese Leistungen durch ihre Steuern finanzieren, obwohl sie selbst
oder ihre Kinder diese nie in Anspruch nehmen werden.
Hinzu kommt beim BAföG die Sondersituation, dass
die Finanzierung eines Studiums für jeden Einzelnen
eine Investition darstellt. Diese Investition zahlt sich aus.
Sie zahlt sich in einem deutlich niedrigeren Risiko, arbeitslos zu werden, aus.
({8})
Sie zahlt sich aber auch in einem deutlich höheren Einkommen aus.
({9})
- Ich komme gleich zu den Frauen. - In der OECD-Bildungsstudie wird vorgerechnet, dass Männer in Deutschland, die direkt nach dem Schulabschluss ein Studium
aufnehmen, in ihrer Erwerbszeit mit einem Einkommensbonus von 150 000 Euro rechnen dürfen. Für Frauen liegt
dieser Einkommensbonus, bedingt durch geringere Löhne
und höhere Teilzeitquoten, bei 95 000 Euro.
Erlauben Sie mir die Anmerkung - wir haben ja gestern eine Debatte zum Weltfrauentag geführt -, dass dies
ein Punkt ist, an dem wir gemeinsam mit der Wirtschaft
arbeiten müssen. Der Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau ist für mich so nicht hinnehmbar;
aber das liegt nicht am BAföG.
({10})
Ich möchte zum Schluss meines Beitrags auf eine andere Verantwortung dieses Parlaments hinweisen. Das
ist die Verantwortung für unseren Bundeshaushalt. Die
aktuelle Situation des Bundeshaushalts, bedingt durch
die Neuverschuldung, ist jedem in diesem Haus hinlänglich bekannt.
({11})
Der sparsame Umgang mit den uns anvertrauten öffentlichen Geldern ist für mich ein Gebot der Generationengerechtigkeit. Vor diesem Hintergrund halte ich die jetzt
geplante BAföG-Erhöhung für mehr als angemessen. Ich
bitte die Opposition, dies anzuerkennen und im weiteren
Verlauf positiv zu begleiten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/884 und 17/899 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe als letzten Tagesordnungspunkt den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rückschiebungen nach Griechenland sofort
aussetzen
- Drucksachen 17/449, 17/822 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Hartfrid Wolff ({2})
Josef Philip Winkler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Helmut Brandt von der
CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir erstmals über diesen Tagesordnungspunkt am 28. Januar debattiert haben
und im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am
9. Februar die Diskussion noch einmal vertieft geführt
haben, befassen wir uns heute abschließend mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in dem die
Bundesregierung aufgefordert wird, weitere Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung sofort auszusetzen und
die Prüfung der Asylanträge durch die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechtes nach Art. 3 Abs. 2 der
Dublin-II-Verordnung im nationalen Asylverfahren
durchzuführen. Dabei wird Ihr Antrag im Wesentlichen
damit begründet, dass das Bundesverfassungsgericht bekanntlich einige Beschlüsse im September letzten Jahres
gefasst hat, auf deren Grundlage einstweilige Anordnungen antragsgemäß ergangen sind und den Antragstellern
ein Bleiberecht bis zur Entscheidung in der Hauptsache
gewährt wurde. Eine solche Entscheidung wird es erst
im Sommer dieses Jahres geben.
Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Ansinnen ist keineswegs neu, da Sie schon vor den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes in Anknüpfung an Forderungen von UNHCR, Pro Asyl und
anderen NGOs entsprechende Anträge gestellt haben.
Deshalb ist das Argument, das Sie vortragen, wenig
glaubhaft: Eine Fortsetzung von Überstellungen nicht
besonders Schutzbedürftiger nach Griechenland sei eine
Brüskierung des Bundesverfassungsgerichtes. - Im Übrigen wiederholen Sie nur die Argumente aus der Vergangenheit.
({0})
Ihre Argumente vermögen nicht zu überzeugen ({1})
- doch, Frau Jelpke; auf Ihre Ausführungen gehe ich
gleich noch zur Genüge ein -; denn die rechtliche und
tatsächliche Situation ist eine gänzlich andere. Deshalb
werden wir Ihren Antrag ablehnen.
({2})
Was die Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anbelangt, ist unstreitig klar, dass damit eine abschließende Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht gerade nicht getroffen wurde.
({3})
Wie Sie wissen, Herr Veit, basieren die Beschlüsse ausschließlich auf einer Abwägung des Gerichts zwischen
den Folgen, die ohne Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen des umgekehrten
Falls. Das heißt im Klartext: Die einstweiligen Anordnungen, auf die Sie sich in Ihrer Begründung beziehen,
enthalten keine abschließenden Aussagen zur Zulässigkeit der Überstellungen nach Griechenland. Sie enthalten auch keine Beurteilung der Situation in Griechenland. Vielmehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten
der Verfassungsbeschwerde offen.
({4})
- Das stimmt ganz. - Mit einem Satz: Das grundsätzliche Festhalten daran, weitere Überstellungen gemäß Dublin-II-Verordnung durchzuführen, stellt keine Brüskierung des Gerichtes dar.
Die Behauptung der Antragsteller, für sogenannte Dublin-II-Rückkehrer bestehe in Griechenland kein geordneter Zugang zum Asylverfahren, ist schlichtweg falsch.
Die griechische Regierung hat bereits im Jahr 2008 erklärt, dass es aufgrund des unverhältnismäßig hohen Zustroms von Asylbewerbern und Migranten erhebliche
Probleme bei der Aufnahme und Durchführung von Verfahren gegeben habe, die Lage sich aber deutlich verbessert habe. Auch der UNHCR stellt in seinen Studien aus
den Jahren 2007 und 2008 fest, dass Dublin-II-Rückkehrer grundsätzlich die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Griechenland hatte bereits 2007 den Dubliner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die
sogenannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird.
Darüber hinaus hat die griechische Regierung im
Sommer 2009 - das ist Ihnen bekannt - das Asylantragsverfahren dezentralisiert. Ich gebe zu: Es ist noch etwas
früh, um die Auswirkungen abschließend zu beurteilen,
aber es ist sicherlich ein weiterer Fortschritt.
({5})
Die Bewertung der Vereinbarkeit von Regelungen des
griechischen Asylrechts mit EG-Recht obliegt im Übrigen der Europäischen Kommission. Uns liegen keinerlei
Erkenntnisse vor, die den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen stützen würden. Gegen Ihren Antrag spricht
auch die Praxis Belgiens, Dänemarks, Finnlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und anderer europäischer Staaten, die Überstellungen nach Griechenland
grundsätzlich durchführen. Das gilt im Übrigen auch für
die höchstrichterliche Rechtsprechung in diesen Ländern. Ich weise auf die Entscheidung des niederländischen Raad van State vom 31. August 2009 hin, wonach
nach Griechenland überstellt werden kann. Der österreichische Asylgerichtshof entschied am 16. Januar 2009
in gleicher Weise und teilte mit, dass eine Verletzung - ({6})
- Ich spreche gerade von der europäischen Menschenrechtskonvention, und die ist überall gleich. Das ist nicht
nur in Deutschland so. Der österreichische Asylgerichtshof hat entschieden, dass eine Verletzung dieser Menschenrechtskonvention gerade nicht vorliegt. Alles, was
Sie zitieren könnten - was Sie nicht tun -, führt dazu,
dass man Ihrem Antrag nicht folgen kann.
Herr Kollege Veit hat in der Sitzung des Innenausschusses auf die hohe Flüchtlingszahl in Griechenland
hingewiesen. Herr Veit, ich möchte Ihnen einige Zahlen
entgegenhalten; denn die Zahl der Asylbewerber in Griechenland ist seit 2007 erheblich rückläufig,
({7})
und zwar ist sie von 25 113 im Jahr 2007 auf circa
12 000 Asylbewerber im Jahr 2009 gesunken. Das zeigt,
dass sich das Problem relativiert hat. Bei den absoluten
Zahlen liegt Griechenland im europäischen Vergleich
hinter Schweden, Frankreich und Großbritannien erst
auf Platz vier in der EU.
Die Bundesregierung geht daher nach unserer Auffassung zu Recht davon aus, dass die griechische Regierung
die erforderlichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits ergriffen hat, um die früheren mit dem ehemals hohen Zustrom von Migranten und Asylbewerbern verbundenen
Schwierigkeiten zu bewältigen. Mit Ihnen, Herr Veit,
stimme ich nachhaltig darin überein, was die Berurteilung des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs
Peter Altmaier anbelangt, der die Bedenken bereits geäußert hat, die auch zutreffend sind. Bei einem generellen Rückschiebungsverbot würde nämlich gleichzeitig
der Anspruch aufgegeben, dass die Griechen ihren Verpflichtungen im Rahmen der Europäischen Union nachkommen. Das haben Sie in der Innenausschusssitzung
selbst bestätigt.
({8})
- Herr Winkler, ich komme gleich noch zu den Zahlen
und dann sehen Sie, auf wessen Rücken wir das austragen.
Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass
gegenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwierigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren möglich sind, aber wir können auch nicht ausschließen - da
gebe ich Herrn Josef Winkler recht -, dass das im Einzelfall zu Schwierigkeiten und Härten führt. Aber das
kann nach unserer Auffassung letztlich nicht ausschlaggebend sein; denn es liegen keine Hinweise auf gravierende Verstöße gegen die fundamentale Gewährleistung
des Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flüchtlingsrechts oder der Menschenrechte in Griechenland
vor. Im Übrigen: Griechenland selbst weist zu Recht auf
eine bevorzugte Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer hin.
Josef Winkler, in der Innenausschusssitzung wurde
von mir auch auf die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in Deutschland hingewiesen, die unter Hinweis
auf die bereits erwähnten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Rückschiebungen nach Griechenland aussetzen. Genau das ist der richtige Weg. Nur bei
einer gerichtlichen Entscheidung zur vorübergehenden
Aussetzung verlängern sich die Fristen zur Überstellung.
Würde ohne eine gerichtliche Entscheidung von Überstellungen nach Griechenland abgesehen, entstünde wegen Ablaufs der Überstellungsfristen eine deutsche Zuständigkeit zur Durchführung der Asylverfahren. Ich
sage ganz klar: Das wollen wir nicht.
Außerdem - das dürfte unstreitig sein - würde der sogenannte Pull-Faktor nach Deutschland noch weiter verstärkt, wenn durch die zuständigen Behörden DublinÜberstellungen nach Griechenland generell ausgesetzt
würden. Schon 2009 war ein sprunghafter Anstieg unerlaubter Einreisen an deutschen Flughäfen bei Flügen aus
Griechenland zu verzeichnen. Nach den vorliegenden
Feststellungen haben sich die unerlaubten Einreisen im
Jahr 2009 gegenüber 2008 mehr als vervierfacht. Auch
das wollen wir verhindern.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt
der Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei
besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel bei
Minderjährigen, Flüchtlingen hohen Alters, bei Schwangeren, bei ernsthaft Erkrankten, Pflegebedürftigen oder
solchen, die besonderer Hilfe bedürfen, von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht.
({9})
Ich nenne auch hier die Zahlen - sie sind sehr erfreulich -: In 2009 wurde in 871 Fällen davon Gebrauch
gemacht. Demgegenüber wurden in nur 200 Fällen
Überstellungen durchgeführt. Daran sieht man, dass sehr
verantwortungsvoll damit umgegangen wird. Nach meiner Auffassung bedarf es dieses Antrages daher gar
nicht.
({10})
Ferner wird der Überstellungszeitraum grundsätzlich
ausgeschöpft, um so eine zeitliche Streckung der Überstellung vorzunehmen und eine Entlastung Griechenlands zu erreichen. Mithin wird alles getan, was dazu
dient, den Griechen zu helfen.
Da die Kollegin Jelpke deutlich gemacht hat - darauf
möchte ich noch zu sprechen kommen, wenn Sie mir einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken -,
({11})
dass das Dublin-II-Verfahren von ihrer Partei grundsätzlich abgelehnt wird und sie dafür eintritt, dass sich
Flüchtlinge ihr Asylland selbst aussuchen dürfen, quasi
nach Katalog, ist darauf hinzuweisen, dass gerade die
Bundesrepublik Deutschland in diesem Fall mit einem
Flüchtlingszustrom zu rechnen hätte, der auch von der
Bevölkerung als nicht mehr hinnehmbar und unerträglich angesehen würde. Das Dublin-II-Abkommen war
und ist insoweit Garant dafür, dass wir keine unkontrollierten und von uns nicht mehr zu bewältigenden Asylbewerberzahlen haben. Insofern kann das wirklich nur
Illusion bleiben.
Im Übrigen lassen wir Griechenland mit seinen Problemen nicht allein. Ich habe das eben zum Teil schon
gesagt; ich will das nicht wiederholen. Sowohl die Angebote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
als auch die der Regierung, Hilfestellungen zu leisten,
sind Ihnen bekannt. Auch mit Blick auf die finanzielle
Hilfe aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds und die
wahrscheinliche künftige finanzielle Hilfe in organisatorischer und personeller Hinsicht durch das EU-Asylunterstützungsbüro denke ich, dass Griechenland die Mittel
erhält, die es braucht, um mit dem Flüchtlingsstrom fertig zu werden.
({12})
Zusammengefasst bedeutet das: Es bedarf dieses Antrages nicht, jedenfalls bedarf es der Maßnahme nicht,
weshalb wir den Antrag zurückweisen und ablehnen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Herr Kollege Brandt, das Richtigste
von dem, was Sie gesagt haben, war der Hinweis, dass
auf Drängen der damaligen Opposition und des Koalitionspartners SPD das BAMF mit ausdrücklicher Billigung von Herrn Staatssekretär Altmaier und maßgebenden Mitarbeitern des BMI gesagt hat: Jawohl, bei der
Frage der Zurückschiebungen und bei der Bejahung des
Selbsteintrittsrechts schauen wir auf besonders schutzbedürftige Gruppen, und wir gehen sehr vorsichtig vor. Die
Anzahl ist in der Tat auf wenige Hundert pro Jahr zurückgegangen. Das war das Richtigste.
({0})
Ansonsten muss ich Ihnen leider sagen: Der Innenausschuss hat im letzten Jahr im Juli eine Delegationsreise nach Griechenland durchgeführt - Delegationsleiter war der Kollege Dr. Stadler; mit dabei waren Stephan
Mayer von der CSU, der zwischenzeitlich ausgeschiedene Kollege Werner Wittlich, Gerold Reichenbach von
der SPD, Hartfrid Wolff von der FDP, Ulla Jelpke von
der Linkspartei und meine Wenigkeit -, um sich über die
Situation der Flüchtlinge dort, vor allen Dingen über die
Situation der zwangsweise zurückgeführten Flüchtlinge
aus Deutschland ein Bild zu machen. Dieses Bild weicht
von dem, das Sie gezeichnet haben, leider völlig ab.
Zwar haben auch wir festgestellt, dass sich die Realität
nicht ganz so katastrophal darstellt, wie es in den Schilderungen mancher NGOs über die Zustände zum Teil
behauptet wird, aber - das habe ich schon im Innenausschuss gesagt und wiederhole es hier - den aus Deutschland Zurückgeführten, den Zurückgeschobenen geht es
in Griechenland keinen Deut besser, allerdings auch
nicht schlechter als den übrigen Flüchtlingen. Aber das
ist schlecht genug.
Das Interessante ist - das erklärt, warum die Asylbewerberzahlen zurückgegangen sind -, dass die griechischen Behörden völlig außerstande sind, mit diesem
Flüchtlingsstrom zurechtzukommen, ihm Herr zu werden.
({1})
- Nein, das ist immer noch so. Wir waren vom 8. bis
12. Juli 2009 dort.
({2})
Wir haben die Schlangen mit Hunderten von Menschen
am Eingang zur Petrou Ralli - so heißt die Behörde im
Volksmund - stehen sehen. Dort ist es Usus, dass sich
am Samstag Hunderte, Tausende anstellen, damit vielleicht einige Hundert von ihnen in der folgenden Woche
vorgelassen werden, um ihr Asylbegehren stellen zu
können.
Kein Wunder, dass die Zahl zurückgeht, wenn die Arbeitskapazitäten überhaupt nicht da sind. Sieben bis acht
Polizeioffiziere und etwa ein Dutzend Dolmetscher bearbeiten am Tag vielleicht zusammengenommen 80 Anträge, also 400 in der Woche bzw. 20 000 im Jahr. Tat2576
sächlich aber hat Griechenland das Problem, dass
- jedenfalls in den letzten Jahren mit stark steigender
Tendenz - etwa 150 000 Flüchtlinge kommen. Knapp
die Hälfte von ihnen kommt übrigens aus Albanien; das
ist eine Form von Arbeitsmigration. Wenn sie zurückgeführt werden, kommen sie manchmal per Drehtüreffekt wieder. Mehr als die Hälfte von denen, also rund
70 000 bis 80 000 im Jahr, wollen weiter in das übrige
Europa. Sie versuchen das dann auch illegal per Schiff,
etwa von Patras oder Igoumenitsa aus. Von daher hat
man es da mit einem erheblichen Problem zu tun.
Dieses Problem erstreckt sich dann auch auf die aus
Deutschland Zurückgeführten, auch wenn ihre Zahl vernachlässigbar klein zu sein scheint. Aber auch für sie
gilt, dass Flüchtlinge dort in aller Regel kein ordnungsgemäßes Verfahren bekommen. Es gibt auch keine nennenswerte Anerkennungsquote.
({3})
Sie haben auch keinerlei Anspruch auf Gesundheitsversorgung. Ebenso haben sie in der Regel keine Möglichkeit, sich ohne Weiteres eine Wohnung zu nehmen. Sie
haben mit einer sogenannten Pink Card, die ihnen ausgestellt wird, zwar für sechs Monate die Chance - in der
Regel illegal - zu arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt notdürftig zu fristen, aber im Großen und Ganzen
besteht dort ein ganz erhebliches Problem von Massenobdachlosigkeit.
Ich würde Ihnen gern aus unserem Reisebericht vorlesen, was uns Minister Markogiannakis - er ist der VizeInnenminister und Minister für öffentliche Ordnung gesagt hat. Er stellte nochmals eindringlich die griechische Position dar: Obwohl Ziel der illegalen Migranten
nicht Griechenland sei, hindere man diese Personen an
der Weiterreise. Griechenland komme hier seinen Verpflichtungen nach und drücke keinesfalls die Augen
zu. Griechenland sei nun aber einfach nicht mehr in der
Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Man könne
dieser Invasion nicht Herr werden. Griechenland sei
erschöpft. Die offiziellen Statistiken zu illegalen Migranten seien noch viel zu niedrig. Man müsse aktuell
von einer Zahl von circa 2 Millionen, also einem Ausländeranteil von fast 20 Prozent, ausgehen. Besonders
problematisch sei, dass es infolgedessen gerade in Athen
und Patras zu Gettobildung, Verelendung und damit einhergehenden Reaktionen wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit komme, die in dem traditionell fremdenfreundlichen Griechenland bisher unbekannt gewesen
seien.
Vor diesem Hintergrund bin ich persönlich der Überzeugung - dieser Überzeugung waren wir alle, die wir
dort waren -, dass es mit der Dublin-II-Verordnung und
einer Fortentwicklung dieser Verfahrenszuständigkeiten
und auch mit FRONTEX-Einsätzen in Griechenland
nicht getan ist. Wenn man, wie unser Nachbar dort im
Südosten, einem derartig massiven Flüchtlingszustrom
ausgesetzt ist, dann darf das restliche Europa Griechenland bei dieser Aufgabe nicht allein lassen, sondern
muss sich dazu bequemen, selbst etwas großzügiger
Flüchtlinge aufzunehmen
({4})
und bei der Durchführung von Verfahren zu helfen.
FRONTEX kann schon deswegen keine richtige Antwort sein, weil - auch das haben wir dort gelernt - die
gesamte griechische Küste 15 000 Kilometer umfasst.
Das ist ungefähr so viel wie die Küste des gesamten restlichen Mittelmeers. Das kann man nicht vernünftig
schützen, gegen Migranten schon gar nicht und vor allen
Dingen nicht gegen solche, die auf dem Landweg - diese
gibt es auch - kommen. Wenn die Nachbarn, beispielsweise die Türkei, ihren europarechtlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und
keine Flüchtlinge zurücknehmen, dann verstärkt das das
Problem vor Ort.
Deswegen sagen wir: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Dublin-II-Verordnung angemessen und
vernünftig, im Sinne von echter Lastenteilung fortgeschrieben wird, nicht nur als reine Zuständigkeitsregelung. Wir müssen darüber hinaus auch dafür sorgen, dass
Griechenland mit seinen Problemen nicht alleine bleibt.
Das hat mit den jetzigen wirtschaftlichen Problemen gar
nichts zu tun.
Vor dem Hintergrund ist doch eines, wie ich denke,
klar: Wenn aufgrund begründeter Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Asylverfahren nach unseren Vorstellungen - und wenn es nur der Ablauf ist, für den die Kapazitäten nicht ausreichen - unser oberstes Gericht, das
Bundesverfassungsgericht, sagt, dass es sich ganz genau
anschauen will, ob die Betroffenen rechtlos und schutzlos gestellt werden, und deswegen in mindestens sechs
Fällen im Wege einstweiliger Anordnung entscheidet,
dass die Betroffenen nicht zurückgeschoben werden sollen, aber trotz dieser Situation keine Bereitschaft vonseiten der Regierung und der nachgeordneten Behörden besteht, das zu beachten und jedenfalls einstweilen von
Rückschiebungen abzusehen, denke ich, hat das Parlament alle Veranlassung, im Sinne des Antrages der Grünen nunmehr einen entsprechenden Entschluss zu fassen. Darum bitte ich Sie im ganzen Haus.
Danke sehr.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es muss
formal verhindert werden, dass eine Person in mehreren
Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen Asylantrag stellt. Deshalb ist es Ziel der Dublin-II-Verordnung, den EU-Mitgliedstaat festzulegen, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten
Asylantrags zuständig ist. Zuständig ist meist der Mitgliedstaat, den der Antragsteller in der EU als ersten beHartfrid Wolff ({0})
treten hat. Eine Folge dieser Verordnung ist, dass Rückführungen möglich sind. Im zuständigen Mitgliedstaat
sollte dann auch ein entsprechendes Asylverfahren
durchgeführt werden.
Die Rückführungen nach Griechenland stehen bereits
seit längerer Zeit zu Recht unter massiver Kritik bekannter Organisationen wie Pro Asyl, Amnesty International
und UNHCR. Die Hauptprobleme sind: Griechenland hat
im Hinblick auf Asylsuchende eine besonders geringe
Anerkennungsquote. Asylsuchende werden bereits für
die Durchführung von Asylverfahren in Haftanlagen untergebracht. Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen.
Anwaltliche Vertretung wird ihnen nicht gewährt. Dolmetscher werden nur bedingt hinzugezogen. Die Verfahren - die bereits angesprochene Petrou-Ralli-Straße ist
ein Beispiel dafür - dauern viel zu lange und sind unglaublich schwierig.
In diese Überlegungen muss sicherlich mit einbezogen werden, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen Lage eine besonders hohe Zahl von Flüchtlingen
aufzunehmen hat. Von allen Seiten, einschließlich des
UNHCR und der EU, wird darauf hingewiesen, dass
Griechenland in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen hat, um die Bedingungen der
Asylverfahren zu verbessern. Jedoch besteht nachweislich deutlicher Nachholbedarf.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Hilfe für Griechenland auf dem letzten Rat der
Justiz- und Innenminister in praktischer Art angeboten
hat. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit den
Grenznachbarn Griechenlands wichtig. Die Einhaltung
und Anwendung des Rückübernahmeabkommens mit
der Türkei ist auch insofern besonders bedeutsam.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist angewiesen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach
Griechenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angaben
von Pro Asyl wird bei besonders schutzwürdigen Gruppen, beispielsweise bei Minderjährigen und Kranken, in
Einzelfällen generell von der Abschiebung abgesehen.
Angesichts der prekären Lage der Asylantragsteller in
Griechenland erscheint es sinnvoll, momentan auf Rücküberstellungen dorthin zu verzichten.
Ein generelles Selbsteintrittsrecht nimmt innerhalb
Europas aktuell ausschließlich Norwegen wahr. Die
diesbezügliche Forderung der Grünen läuft letztlich auf
eine deutsche Sonderrolle hinaus. Dies ist meines Erachtens auf Dauer nicht vernünftig.
Griechenland sollte nicht von seiner unabweisbaren
Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechtsstandards bzw. der Vorgaben der EU im Hinblick auf Asylverfahren entbunden werden. Allerdings ist mittelfristig
eine gerechtere Verteilung der Lasten anzustreben. Die
Bundesrepublik Deutschland hat in den 90er-Jahren die
Hauptlast der Balkanflüchtlinge getragen. Die Verantwortung liegt aber bei allen Staaten der EU. Insbesondere auf europäischer Ebene besteht Handlungsbedarf,
gerade wenn es darum geht, gemeinsam entsprechende
Regelungen zu treffen.
({1})
- Das ist richtig; trotzdem wollte ich darauf hinweisen.
Wir brauchen an dieser Stelle aber vor allem auf europäischer Ebene eine vernünftige Lösung, die dringend anzumahnen ist. Ich weiß, dass sich die Bundesregierung
der Sensibilität dieses Themas durchaus bewusst ist und
auch handeln möchte.
Es wäre wünschenswert, wenn die Grünen ihre an
sich berechtigte Kritik, vor allem an der Regierung Griechenlands, aber auch an den Regierungen anderer EUStaaten, deutlicher an deren Adresse richten und die
Missstände in Griechenland nicht nur in Deutschland
thematisieren würden.
({2})
Wenn Europa flüchtlingsfreundlicher werden soll,
darf kein Staat aus seiner Verantwortung für ein korrektes Verfahren entlassen werden. Wir sind der Meinung:
Individuell muss noch deutlich mehr getan werden - hier
stimme ich dem Kollegen Brandt zu -, aber generell sehen wir an dieser Stelle noch keinen Handlungsbedarf.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zustände im griechischen Asylsystem sind schlicht und
einfach verheerend. Wie schlimm es dort zugeht, konnte
man übrigens vor wenigen Wochen in einem heimlich
aufgenommenen Video in einem Fernsehbericht sehen.
Es wurde gezeigt, wie in einer Flüchtlingsunterkunft auf
der Insel Lesbos Hunderte von Menschen unter unbeschreiblichen hygienischen Bedingungen in einem Raum
eingesperrt waren, schlimmer als in jedem Knast. Dies
ist meiner Meinung nach Grund genug, hier zu fordern,
dass die Bundesregierung sich endlich human verhält
und aufhört, nach Griechenland rückzuschieben. Deshalb unterstützt die Linke jeden Antrag, der in diese
Richtung geht.
({0})
Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach Abschiebungen nach Griechenland
verhindert hat. Die Bundesregierung sagt hier immer
wieder, es handele sich um Einzelfälle, und besteht weiterhin auf einer Einzelfallprüfung. Wir haben von dem
Kollegen Veit gehört, dass im vergangenen Jahr eine Delegation des Innenausschusses nach Griechenland gereist
ist. Ich frage mich ehrlich, Herr Kollege Brandt, warum
der Innenausschuss Reisen macht, wenn Sie nicht einmal
bereit sind, die Erkenntnisse, die die Delegation mitbringt, entsprechend zu verarbeiten.
({1})
- Ich muss Ihnen wirklich sagen: Es gibt in ganz Athen
eine einzige Ausländerbehörde. Dort stehen an jedem
Freitag bis zu 3 000 Menschen, die einen Asylantrag
stellen wollen. 300 können überhaupt in einer Woche bearbeitet werden. Dabei halte ich es schon für einen Skandal, dass dort Polizeioffiziere die Anhörung durchführen, die in der Flüchtlingsproblematik nicht ausgebildet
wurden.
Die Linke lehnt die Dublin-II-Verordnung ab, weil die
EU will, dass Flüchtlinge in dem Land einen Antrag stellen, das sie zuerst betreten haben.
Im vergangenen Jahr sind von Deutschland in der Tat
nur 200 Rückschiebungen durchgeführt worden; von Italien sind es doppelt so viele gewesen. Von allen EUStaaten insgesamt wurden 3 000 Flüchtlinge nach Griechenland rückgeschoben.
Dem Kollegen Brandt möchte ich hier noch einmal
sehr deutlich sagen, dass die griechische Regierung, die
Parlamentarier oder mit wem auch immer wir dort gesprochen haben, im wahrsten Sinne des Wortes Hilfe
gerufen haben, und zwar nicht nur, was das Asylsystem
angeht, sondern vor allen Dingen, was die Rückschiebung angeht. Die Hilfe könnte darin bestehen, dass die
Europäische Union überhaupt darüber diskutiert, wie
eine gerechtere Umverteilung von Flüchtlingsströmen in
den EU-Staaten stattfinden kann. Sie wissen genauso gut
wie ich, dass in die EU-Randstaaten die meisten Flüchtlinge kommen, in den meisten Fällen übrigens über das
Mittelmeer. Hier muss unbedingt eine Regelung her, die
mit sich bringt, dass sich alle EU-Staaten solidarisch
verhalten und das Problem nicht auf die Randländer abschieben.
Fakt ist jedenfalls, dass letztendlich die Flüchtlinge
den Preis zu zahlen haben. Ihre Schutzrechte spielen dort
überhaupt keine Rolle. Darüber kann Deutschland nicht
einfach hinwegsehen.
Das Bundesverfassungsgericht weiß dies im Übrigen
und entscheidet deswegen auch regelmäßig so. Deswegen sollte die Bundesregierung auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts genauer beachten. Ich hoffe jedenfalls, dass von diesem Gericht entschieden werden
wird, dass diese Rückschiebungen nicht mehr stattfinden
dürfen.
Wir unterstützen den Antrag der Grünen, sagen aber
auch: Ein Stopp der Überstellungen nach Griechenland
muss der erste Schritt zu grundsätzlichen Reformen der
europäischen Asylpolitik sein, eine Reform hin zu einem
Asylsystem, das den Geboten der Humanität und vor allen Dingen dem Flüchtlingsschutz gerecht wird. Dazu
müssen auch die Bundesregierung und die Fraktionen
dieses Hauses wissen: Wenn sie die Abkommen unterzeichnet haben, müssen sie nicht nur darauf hinwirken,
dass die anderen Länder sie umzusetzen haben, sondern
dürfen auch unmöglich in Länder abschieben, die das
nicht mehr gewährleisten können.
Danke schön.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
und an diesem Tage hat der Kollege Josef Winkler von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Sonntag ist noch nicht, Herr Kollege Fricke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit
dramatischen Worten hat der griechische Ministerpräsident, Georgios Papandreou, diese Woche seine Bürgerinnen und Bürger auf harte Einschnitte vorbereitet. Seinem
Land drohe der Bankrott, es befinde sich in einer Kriegssituation, sagte Papandreou. Daher sei die Regierung zu
harten Einschnitten gezwungen, und die Bürger müssten
Opfer bringen.
Wie kommen Sie, Herr Kollege Brandt - und ich frage
die ganze CDU/CSU-Fraktion -, vor diesem Hintergrund
zu der Überzeugung, dass Griechenland ohne Probleme
zeitnah einen fairen und anständigen Zugang zu Asylverfahren gewährleisten kann? Das hat die letzten zwei bis
drei Jahre nicht funktioniert. Angesichts dessen, dass
Griechenland vor einem Staatsbankrott steht und der Premierminister von einer Kriegssituation spricht, muss man
davon ausgehen, dass er anderes im Kopf hat, als sich um
eine Verbesserung des Asylverfahrens zu kümmern.
Wir sollten nicht durch eine forcierte Rückführung
von Flüchtlingen dazu beitragen, dass die Probleme
noch zunehmen.
({0})
Von einem fairen Verfahren, wie man es erwarten kann
nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und den EURichtlinien über die Aufnahme von Flüchtlingen, die
Durchführung des Asylverfahrens und die Kriterien für
die Anerkennung von Flüchtlingen - auf diese Richtlinien haben sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt -, kann
man nicht sprechen.
Darum hat das Bundesverfassungsgericht einstweilige Anordnungen erlassen. Es stimmt nicht, wenn Sie
behaupten, dass sich das Bundesverfassungsgericht zur
Sache nicht geäußert hat. Es hat klar gesagt: Für diese
Einzelfälle trifft es eine Entscheidung, weil die ihm vorliegenden Berichte, die darauf hinweisen, dass es im
Moment nicht möglich ist, in Griechenland ein faires
Asylverfahren zu bekommen - wenn man dort überhaupt
Zugang zu einem Asylverfahren bekommt -, plausibel
sind. Das hat das Bundesverfassungsgericht als Grundlage für seine Eilentscheidung genommen.
Richtig ist: Das Bundesverfassungsgericht hat eine
Grundsatzentscheidung für den Sommer angekündigt.
Diese Grundsatzentscheidung werden wir abwarten müssen. Es wäre aber absurd, davon auszugehen, dass das
Bundesverfassungsgericht einstweilige Anordnungen einfach so erließe ({1})
die im Übrigen letzte Woche wieder verlängert wurden -, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es in
Griechenland wirklich Probleme gibt.
Frau Kollegin Jelpke hat auf die Berichte über die
Probleme auf der Insel Lesbos hingewiesen. Sie haben
davon auch im Zeit-Dossier von letzter Woche lesen
können. Es fehlen Tausende Plätze für Asylsuchende. In
den letzten beiden Jahren sind über 10 000 unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge in Griechenland eingetroffen.
In ganz Griechenland gibt es momentan nur 405 Schlafplätze in kindgerechten Unterkünften, und diese sind an
ungünstigen Stellen konzentriert.
Da stellen sich schon Fragen. Anders als die Linksfraktion das jetzt vorgeschlagen hat, geht es uns in unserem Antrag nicht darum, die Dublin-II-Verordnung einfach aufzukündigen. Wir fordern eine Aussetzung der
Rückschiebungen.
Wir haben uns in der Europäischen Union verpflichtet, faire Asylverfahren durchzuführen. Richtig ist: In
der Regel führt der Aufnahmestaat das Verfahren durch.
Wenn der Aufnahmestaat den Zugang zu einem Asylverfahren nicht gewährleisten kann - Herr Veit und andere
haben das geschildert; selbst Herr Wolff hat das eingeräumt -, ist es nicht nachvollziehbar, wie Sie sagen können, dass alles in Ordnung sei, dass man die Praxis weiterlaufen lassen könne. Sie widersprechen sich auch,
wenn Sie sagen, dass man Hunderte besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, weil ihnen in Griechenland Schlimmes drohe, auf keinen Fall abschieben könne und das
Amt gute Arbeit mache, wenn es diese Flüchtlinge hierbehält, dass man alle anderen aber durchaus abschieben
könne in dieses krasse System, wo man keinen Zugang
zu einem Asylverfahren bekommt. Das ist widersprüchlich. Insofern haben Sie Ihre Ablehnung unseres Antrages denkbar schlecht begründet, unter Menschenrechtsgesichtspunkten erst recht.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/822, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/449 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen
Bundestages auf Dienstag, den 16. März 2010, 10 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.