Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/5/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Die Kollegin Ulla Lötzer feiert heute ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere Ihnen ganz herzlich, verbunden mit allen guten Wünschen für die nächsten Jahre. ({0}) Der Ältestenrat hat in seiner gestrigen Sitzung verein- bart, während der Haushaltsberatungen in der nächsten Sitzungswoche wie üblich keine Befragung der Bundes- regierung, keine Fragestunde und auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stabilisierung der Finanzlage der Sozialversicherungssysteme und zur Einführung eines Sonderprogramms mit Maßnahmen für Milchviehhalter sowie zur Änderung anderer Gesetze ({1}) - Drucksachen 17/507, 17/814 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({2}) - Drucksache 17/928 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({3}) Otto Fricke Alexander Bonde b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Versicherte in der Krise schützen - Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen - Drucksachen 17/495, 17/928 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({5}) Otto Fricke Alexander Bonde Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion. ({6})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein Gesetz mit dem etwas sperrigen Namen Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Mir als Germanisten geht das etwas schwer über die Zunge. Im Kern geht es darum, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unverschuldet von den Folgen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise bedroht sind, nicht im Stich zu lassen. Nachdem wir in der Vergangenheit bereits Schutzschirme über Banken und Unternehmen gespannt haben, erwarten die Menschen in unserem Lande zu Recht von uns, dass wir sie mit den Folgen der Krise nicht alleine lassen. Es wäre fatal, wenn die Menschen den Eindruck hätten, Banken und Unternehmen, die als Akteure der Krise wahrgenommen werden, würde mit Steuermitteln geholfen, aber sie selbst seien nicht systemrelevant genug. Das Gegenteil ist der Fall. WohlRedetext stand und Wirtschaftswachstum sind nur mit aktiven und leistungswilligen Bürgern möglich. Deshalb spannen wir einen Schutzschirm über diese Bürger. Die leistungswilligen Bürger sind es, die dieses Land voranbringen. ({0}) Die weltweite Wirtschaftskrise reißt spürbare Lücken in die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Deshalb hat die christlich-liberale Koalition vereinbart, dass wir alles dafür tun wollen, die Lohnnebenkosten stabil zu halten. Das erreichen wir, indem wir die krisenbedingten Einnahmeausfälle in der Sozialversicherung einmalig mit Steuermitteln abfedern. Im Bereich der Bundesagentur für Arbeit hat die Wirtschaftskrise zu Einnahmeausfällen und steigenden Ausgaben geführt. Für Ende des Jahres rechnet die Bundesagentur deshalb mit einem Defizit. Dieses Defizit werden wir durch einen einmaligen Bundeszuschuss ausgleichen. Im Regierungsentwurf waren dafür 16 Milliarden Euro vorgesehen. Erfreulicherweise hat sich die Konjunktur seitdem, wenn auch verhalten, verbessert. Im Rahmen unserer gestrigen Beratungen im Haushaltsausschuss haben wir deshalb beschlossen, diesen Zuschuss um 3,2 Milliarden Euro auf 12,8 Milliarden Euro zu verringern. Damit hat die Bundesagentur immer noch - das will ich betonen - genügend liquide Mittel, um ihren Aufgaben gerecht zu werden. Eines muss ich in diesem Zusammenhang betonen: Wir haben den für Eingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose vorgesehenen Aufwuchs der Mittel in Höhe von 900 Millionen Euro mit einer Haushaltssperre belegt. Das soll nichts anderes heißen, als dass wir sicherstellen wollen, dass dieses Geld zweckentsprechend, vernünftig, zielgerichtet, ökonomisch und sicher eingesetzt wird. Diese Sperre werden wir, sobald die Ministerin ihr Konzept für die Verwendung des Geldes vorlegt - das kann bereits in der nächsten Haushaltswoche sein -, wieder aufheben. Dann steht dieses Geld für all diejenigen zur Verfügung, die wieder in Arbeit gebracht werden sollen. ({1}) Bei der gesetzlichen Krankenversicherung wird es in diesem Jahr wegen krisenbedingter Auswirkungen auf Beschäftigung und Löhne ebenfalls Beitragsausfälle geben. Diese gleichen wir durch einen zusätzlichen Zuschuss in Höhe von 3,9 Milliarden Euro aus. Davon erhalten die landwirtschaftlichen Krankenkassen einen Teilbetrag in Höhe von rund 23 Millionen Euro. Die Zuschüsse des Bundes zum Gesundheitsfonds belaufen sich in diesem Jahr auf insgesamt 15,7 Milliarden Euro. Auch das entlastet die Beitragszahler; denn ohne diese Maßnahmen müssten wir die Sozialbeiträge zwingend flächendeckend anheben. Das Hartz-IV-Schonvermögen wird verdreifacht, indem wir die Freibeträge von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr anheben. Auch hier löst die Koalition ihre Zusage aus dem Koalitionsvertrag ein. ({2}) Nun hat die Krise auch vor der Landwirtschaft nicht haltgemacht. Viele landwirtschaftliche Betriebe, insbesondere die Milcherzeuger, mussten einen unerwartet hohen Verfall ihrer Erzeugerpreise hinnehmen. Durch die damit verbundenen finanziellen Einbußen sahen sich viele in ihrer Existenz bedroht. Deshalb stützen wir die Einkommen der Milcherzeuger mit einem Grünlandmilchprogramm. Damit sorgen wir auch für den Erhalt von Grünlandflächen. ({3}) Wir werden hierfür in den Jahren 2010 und 2011 Mittel in Höhe von 300 Millionen Euro zur Verfügung stellen. Darüber hinaus werden von der Europäischen Union über ein sogenanntes EU-Milchprogramm weitere 300 Millionen Euro bereitgestellt. Davon entfallen auf Deutschland 61 Millionen Euro. Auch dies ist ein gutes Signal für die Landwirtschaft. ({4}) Gleichzeitig erhöhen wir den Zuschuss des Bundes an die landwirtschaftliche Unfallversicherung um 100 Millionen Euro, um auch dort Beitragserhöhungen zu vermeiden. Außerdem werden in diesem Jahr zusätzliche 25 Millionen Euro für ein Liquiditätsprogramm für Landwirte zur Verfügung gestellt. Alles in allem ist das ein rundes Paket. Dass dies die öffentlichen Haushalte belastet, ist unbestritten. Aber in dieser Zeit der Krise, angesichts der momentanen Wirtschaftslage führt kein Weg an der Aufnahme neuer Schulden vorbei. Mit dieser Maßnahme wollen wir die Belastungen der Arbeitnehmer reduzieren und damit das zarte Pflänzchen der wirtschaftlichen Erholung weiter unterstützen. Wir müssen natürlich auch die im Grundgesetz verankerte Schuldenregel beachten. Diese verlangt vom Bund im nächsten Jahr eine deutliche Konsolidierungsanstrengung. Das strukturelle Defizit des Jahres 2010 beträgt nach Ende der Schlussberatung um 3.15 Uhr heute Nacht ({5}) 66,5 Milliarden Euro. Dies ist der Referenzwert für den Konsolidierungspfad der nächsten Jahre. Insofern wird man auch im sozialpolitischen Bereich in Zukunft verstärkt darauf zu achten haben, an welcher Stelle Effizienzgewinne realisiert werden können. Ein erster Schritt in diese Richtung war die Einführung des Gesundheitsfonds. Wir haben Wettbewerbsanreize geschaffen, um die Effizienz im Gesundheitswesen zu erhöhen; denn mehr Quantität erzeugt nicht zwangsläufig mehr Qualität. ({6}) Eines muss man an dieser Stelle einmal betonen - vielleicht auch in Richtung der Linken, die an dieser Stelle immer einen falschen Eindruck erwecken wollen -: ({7}) Bereits jetzt machen die Sozialausgaben 54 Prozent der Ausgaben im Bundeshaushalt aus. In absoluten Zahlen ausgedrückt sind es 178 Milliarden Euro allein für diesen Bereich. ({8}) Das ist nicht nur eine haushaltsrelevante Größenordnung, sondern spiegelt auch den hohen Stellenwert wider, den die sozialen Sicherungssysteme in unserer Gesellschaft haben. ({9}) Dies beweist auch die aktuelle Debatte über die Hartz-IV-Regelsätze. Das Verfassungsgericht hat nicht die Höhe der Zahlungen kritisiert, sondern nur die Methode der Ermittlung der Regelsätze. Deshalb sind wir gespannt auf die Berechnungen, die die Bundesarbeitsministerin vorlegen wird. Das Verfassungsgericht hat uns auch verpflichtet, mit sofortiger Wirkung eine Härtefallregelung für die Übernahme dauernder atypischer Kosten von Hartz-IVEmpfängern zu schaffen. Wir Koalitionshaushälter hatten vorgesehen, eine entsprechende Zusatzregelung in diesem Gesetz aufzunehmen, um den Menschen, die darüber mehr Hilfe in Anspruch nehmen könnten, sofort zu helfen. Damit wäre sehr schnell Rechtssicherheit für die Behörden und die Bürger geschaffen worden. Allein im Jahr 2010 hätten wir dafür 100 Millionen Euro zusätzlich für die Empfänger von Leistungen nach dem SGB II vorgesehen. Sie merken, ich spreche im Konjunktiv; denn leider ist es noch nicht so weit. Warum? Ausgerechnet die Sozialdemokraten, die sich immer als Sozialadvokaten gerieren, haben verlangt, dazu eine Anhörung durchzuführen. ({10}) Wenn man aber eine Anhörung durchführt, dann vergeht mehr Zeit und dann können wir die Fristen, die für dieses Gesetz vorgesehen sind, nicht mehr einhalten. Deshalb mussten wir diesen Teil vom jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wieder abtrennen. Das heißt, die Sozialdemokraten haben eine große Zahl von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land in Sippenhaft genommen, um ihre taktischen Spielchen betreiben zu können. Ich finde das nicht besonders schön. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jawohl, gerne.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Barthle, Sie sagen, die Abtrennung der Härtefallklausel bzw. das Ansinnen der Opposition sei ein taktisches Spielchen. Stimmen Sie mir zu, dass Sie hier ansonsten bei jeder Gelegenheit betonen, Gründlichkeit gehe vor Schnelligkeit? Stimmen Sie mir zu, dass Sie, wenn im Haushaltsausschuss vereinbart worden wäre, diese Regelung anzudocken, den eigentlich zuständigen und kompetenten Ausschuss für Arbeit und Soziales umgangen hätten und dann auch nicht die Kritik erörtert worden wäre, die in den vergangenen Tagen von allen großen Wohlfahrtsverbänden geäußert worden ist? Schließen Sie daraus nicht auch, dass es weitaus sinnvoller ist, eine öffentliche Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales unter Einschluss der Kritikerinnen und Kritiker der Gesellschaft durchzuführen? ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege, ich stimme Ihnen in einem zu: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit. An dieser Stelle muss man aber betonen, dass der Terminus „Härtefall“ im Sozialgesetz bereits hinreichend definiert ist. Deshalb wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, diese Regelung in dieses Gesetz aufzunehmen. ({0}) Nun haben Sie uns allen deutlich vor Augen geführt, worum es Ihnen geht: um Kompetenzgerangel. ({1}) Glauben Sie tatsächlich, die Menschen draußen interessiert es, welcher Ausschuss dafür kompetent sein soll? Sie wollen, dass schnell eine Regelung erfolgt und dass Rechtssicherheit besteht. Das hätten wir erreicht, wenn Sie nicht auf Ihrer Kompetenz beharrt hätten. Sie müssen das nun draußen vertreten. - Danke sehr. ({2}) Das war eigentlich ein wunderschöner Schlusspunkt für meine Rede. Meine Redezeit ist ohnehin abgelaufen. Ich bedanke mich. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dass auf die Einsicht in das erreichte Ende der gewährten Redezeit eine so prompte und zutreffende Schlussfolgerung erfolgt, nehmen wir mit besonderer Freude und mit Respekt zur Kenntnis. ({0}) Geburtstag hat heute übrigens auch der Kollege Franz Josef Jung. Er hat zwar keinen runden Geburtstag, aber gleichwohl einen, der alle guten Wünsche für das nächste und die folgenden Jahre verdient. Herzlichen Glückwunsch! ({1}) - Hat noch jemand Geburtstag? Meine Güte, wir machen möglicherweise gleich noch eine Aktuelle Stunde für diejenigen, die auch Geburtstag haben und uns von den Parlamentarischen Geschäftsführern vielleicht noch aufgezeigt werden. Präsident Dr. Norbert Lammert Nächste Rednerin ist die Kollegin Bettina Hagedorn für die SPD-Fraktion. ({2})

Bettina Hagedorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir verabschieden heute ein Gesetz - vielmehr werden Sie es verabschieden -, das einen ganzen Bauchladen von Maßnahmen beinhaltet, die Sie, Herr Kollege Barthle, schon im Detail dargestellt haben. Darum kann ich mich an dieser Stelle etwas kürzer halten. Eingangs will ich darauf hinweisen, dass dieser Gesetzentwurf vier Maßnahmen beinhaltet; der Kollege Barthle hat sie gerade beschrieben. Die Sozialdemokraten stimmen ausdrücklich zu, dass die Bundesagentur für Arbeit in der Krise mit einem steuerfinanzierten Zuschuss gestützt wird. ({0}) Die Sozialdemokraten stimmen ausdrücklich zu, dass es eine Verdreifachung des Schonvermögens geben wird. Wir bedauern aber, dass diese Erkenntnis erst jetzt bei Ihnen angekommen ist. Wenn es nach uns gegangen wäre, hätte das viel früher geschehen können. ({1}) Die Sozialdemokraten stimmen auch zu, dass der Gesundheitsfonds mit weiteren 3,9 Milliarden Euro gestützt wird. Auch das ist in der Krise eine richtige Maßnahme. Allerdings gibt es einen Teil dieses Gesetzentwurfes, der nicht, wie uns sein Name glauben machen will, in erster Linie der Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme dient, sondern eher Ausdruck der Klientelpolitik ist, die wir von dieser Koalition schon kennen. Dabei geht es um die Kuhprämie. Da auch ich aus dem ländlichen Raum komme, kann ich Ihnen sagen: Es ist sehr wohl bei uns angekommen, dass die Milchbauern in einer schwierigen Situation sind. Der Kollege Wilhelm Priesmeier hat schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes für die Kollegen des Agrarausschusses deutlich gemacht, warum wir diesen Teil des Gesetzentwurfes nicht mittragen. Es ist nämlich ein untaugliches Mittel. Damit erreicht man nicht das, was notwendig ist, um den Milchbauern und der Landwirtschaft tatsächlich zu helfen. Natürlich müssen wir deswegen dem Gesetzentwurf insgesamt unsere Zustimmung verweigern. Das vorneweg. Da man nun glauben könnte, dass es eine ganze Menge Übereinstimmung zwischen uns gibt, muss ich jetzt etwas Wasser in den Wein schütten. Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Barthle. Wir haben heute Nacht bis Viertel nach drei im Haushaltsausschuss getagt. Es kann sein, dass Ihre Erinnerung hinsichtlich der Härtefallregelung angesichts der kurzen Nacht, die wir hatten, etwas getrübt ist. Es ist so, dass die Haushälter der Opposition deshalb eine Anhörung beantragt haben - bei uns gibt es übrigens kein Kompetenzgerangel -, weil wir eine an der Sache orientierte Lösung gesucht haben. ({2}) Wir stellen fest, dass die Koalition diese Anhörung auch im Gegensatz zu allen großen Wohlfahrtsverbänden in unserem Land nicht gewollt hat. Sie wollten Ihre Entscheidung letzten Endes durch die kalte Küche durchsetzen. Der Kriterienkatalog, den Sie vorgelegt haben, ist das eine; die 100 Millionen Euro, die Sie bereitzustellen versprechen, ist das andere. Aber wir sagen Ihnen: Wir wollen uns zunächst die notwendige Zeit nehmen und gemeinsam mit den Wohlfahrtsverbänden und anderen kompetenten Akteuren in der Gesellschaft prüfen, ob dies eine angemessene Antwort auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist. ({3}) Wenn Sie jetzt versuchen, den Menschen weiszumachen, dass ihnen, weil es zu einer Verzögerung kommt - und das nur, weil Sie Ihre Entscheidung nicht adäquat eingetütet haben, indem Sie versucht haben, dieses Vorhaben an das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz anzuhängen -, auch nur der Hauch eines Nachteils entstehen wird, dann muss ganz klar gesagt werden: Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass der Anspruch auf Anwendung der Härtefallregelung ab sofort, also schon im Jahr 2010, besteht, ({4}) ob Sie einen Gesetzentwurf einbringen oder nicht. ({5}) Rechtssicherheit - hier gebe ich Ihnen recht - wünschen sich sicherlich vor allem diejenigen, die für die Umsetzung vor Ort zuständig sind. Aber es ist besser, wenn es eine vernünftige und ausgewogene Rechtssicherheit gibt als eine durch die kalte Küche. - So viel dazu. ({6}) Herr Kollege Barthle, im Zusammenhang mit dem Zuschuss an die Bundesagentur für Arbeit sind Sie auf die 900-Millionen-Euro-Sperre eingegangen, ({7}) die die Abgeordneten der Koalition gestern im Haushaltsausschuss vereinbart haben. An dieser Stelle möchte ich Ihnen sagen: Ich freue mich, dass Sie meiner Erkenntnis gefolgt sind. Schon in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes habe ich Ihnen prophezeit, dass die Bundesagentur für Arbeit am Ende nicht 16 Milliarden Euro bekommen muss - diese Zahl stand damals noch im Haushalt, der nur eine Woche vorher eingebracht worden ist -, sondern dass es - jetzt kennen wir die Zahl - nur 12,8 Milliarden Euro sind. Die an dieser Stelle eingesparten 3,2 Milliarden Euro plus die 400 Millionen Euro, die beim Arbeitslosengeld II weniger ausgegeben werden, sind die vermeintlichen Einsparungen im Haushalt, die Sie in die Lage versetzen, die Nettokreditaufnahme jetzt so massiv zu senken. ({8}) Das heißt, es handelt sich nicht wirklich um Einsparungen, sondern um die Anpassung eines Schätzwertes aufgrund einer verbesserten konjunkturellen Lage. Die Verbesserung der konjunkturellen Lage ist vor allen Dingen das Ergebnis einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir noch in unserer gemeinsamen Regierungszeit, im letzten und vorletzten Jahr, betrieben haben und die die Grundlage dafür war, dass die Arbeitslosenzahlen in Deutschland heute viel niedriger sind als in vielen anderen Ländern um uns herum. ({9}) Weil es in der Krise das Wichtigste ist, den Menschen, die in aller Regel ohne ihre Schuld arbeitslos werden, tatsächlich Angebote zu machen, damit sie wieder einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz bekommen, ist es unerlässlich, die Arbeitsmarktpolitik in vollem Umfang zu erhalten. Die 900 Millionen Euro haben Sie zwar nicht gestrichen - das ist richtig -; aber Sie haben sie gesperrt. Dies wirkt de facto wie eine Kürzung, ({10}) es sei denn, Kollege Barthle, Sie tun wirklich das, was Sie hier angekündigt haben. Daran werden wir Sie messen. Wenn es Ihnen gelingt, in den nächsten zwei, drei Wochen die Sperre aufzuheben, dann haben Sie recht; dann ist es nicht gekürzt. Aber wenn Sie damit erst in den April, Mai oder Juni kommen, dann ist es de facto eine Kürzung, und das versuchen Sie vor den NRWWahlen lediglich zu vertuschen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Claudia Winterstein für die FDP-Fraktion. ({0}) Damit die von ihr angeregten Glückwünsche zum heutigen Geburtstag ihres Fraktionskollegen Dr. Edmund Geisen nicht von ihrer ohnehin knappen Redezeit abgehen, nutze ich die Gelegenheit, auch Ihnen recht herzlich zum Geburtstag zu gratulieren. ({1}) Bitte schön, Frau Winterstein.

Dr. Claudia Winterstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003661, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir entscheiden hier heute abschließend über den Entwurf eines Gesetzes zur Stabilisierung der Sozialversicherungssysteme. Wir regeln hier also den Zuschuss zur Krankenversicherung, den Zuschuss zur Arbeitslosenversicherung und die Verdreifachung der Schonvermögen sowie die Einführung eines Sonderprogramms für Milchviehhalter. Zum Schonvermögen möchte ich vorweg eines sagen: Frau Hagedorn, Sie hatten lange genug Zeit, die Verdreifachung des Schonvermögens einzuführen. Ich frage mich, warum Sie das nicht schon früher getan haben. ({0}) Ich finde dafür keine Begründung. Gerne hätten wir zum Beispiel auch über die Härtefallregelung im SGB II abschließend entschieden - Sie haben sie schon erwähnt -, zu der uns das Bundesverfassungsgericht einen Auftrag gegeben hat. Leider ist dies von der SPD verhindert worden. Es bleibt also dank der SPD die Unsicherheit ({1}) - es ist durchaus eine Unsicherheit - sowohl für die Berechtigten als auch für auszahlenden Stellen. Ihre Begründung ist sehr fadenscheinig, wenn Sie meinen, dass man dies abtrennen müsse, anstatt es sofort auf den Weg zu bringen. ({2}) Hier wird jedenfalls von unserer Seite aus nichts durch die kalte Küche eingeführt, sondern man muss ganz klar sagen, dass es für die Härtefallregelung einen sehr vernünftigen, ausgewogenen Vorschlag gibt, ({3}) der sich auch am Wortlaut des Urteils orientiert und einen beispielhaften und dabei ausdrücklich auch nicht abschließenden Katalog von möglichen Härtefällen beinhaltet. Wir könnten damit den Vorgaben des Verfassungsgerichts sehr schnell und solide Folge leisten. Ich bedauere, dass dies von der SPD verzögert worden ist. Aber wenn es von den Betroffenen Nachfragen gibt, dann werden sicherlich Sie wie auch Herr Schneider gerne zur Verfügung stehen und darüber Auskunft geben. Die übrigen Regelungen des Gesetzentwurfs setzen wir nun in Kraft. Hier geht es um wichtige Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen. Wir vermeiden damit Beitragsanhebungen in der Sozialversicherung; es ist also eine in der jetzigen Konjunkturlage sehr richtige Maßnahme. Aus Haushältersicht ist der wichtigste Posten natürlich der Zuschuss zur Bundesagentur für Arbeit. Das Gesetz nennt hier ausdrücklich keinen Betrag; Sie haben das vorhin erwähnt. Es sollten erst 16 Milliarden Euro sein. Wir sind froh, dass es nun nur 12,8 Milliarden Euro sind, weil es weniger Arbeitslose und ein nicht so starkes Absinken der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze gibt. - Zu dem ebenfalls in diesem Gesetz geregelten Zuschuss zur Krankenversicherung wird meine Kollegin Ulrike Flach noch etwas sagen. Der zweite sozialpolitisch bedeutsame Teil des Gesetzes ist die Verdreifachung des Schonvermögens von 250 auf 750 Euro pro Lebensjahr und auf eine Maximalhöhe von 50 250 Euro. Das ist ein wirklich großer Schritt dahin, dass jemand, der unverschuldet in eine solche Situation geraten ist, davor geschützt wird, dass im Prinzip seine Vorsorge angegriffen wird. Durch die Erhöhung des Schonvermögens tragen wir dafür Sorge, dass jemand, der unverschuldet in die Situation gekommen ist, von Arbeitslosengeld II leben zu müssen, sein Altersvorsorgevermögen behalten darf und nicht dafür bestraft wird, dass er vorgesorgt hat. Sie sind vorhin kurz darauf eingegangen, dass wir gestern Abend 900 Millionen Euro des Eingliederungsbudgets gesperrt haben. Als Haushälterin sollten Sie wissen, dass es ein großer Unterschied ist, ob gekürzt wird oder ob gesperrt wird. Wir wollen es einmal ganz deutlich sagen: Wir haben im letzten Jahr für Eingliederungsmaßnahmen 10,1 Milliarden Euro ausgegeben. Wir haben in diesem Jahr hier nichts gekürzt und satteln sogar 900 Millionen Euro drauf. ({4}) Wir haben das Budget mit einer Sperre versehen, weil wir, wie ich schon in meiner letzten Rede zu diesem Thema gesagt habe, möchten, dass zunächst die Wirksamkeit der Arbeitsmarktinstrumente überprüft wird, damit die Weiterbildungsmaßnahmen, die wir anbieten, in Zukunft wirklich effektiv sind und greifen. Es darf nicht dazu kommen, dass Menschen von einer Weiterbildungsmaßnahme in die nächste geschickt werden, ohne dass dies einen Nutzen hat. Das ist auch im Sinne derjenigen, die Arbeit suchen. ({5}) Ziel ist ja, in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Wir sagen ganz klar: In dem Moment, wo wir ein Konzept vorgelegt bekommen - es sollte nicht so schwierig sein, ein Konzept zu entwickeln -, werden wir die Sperre aufheben, und dann stehen diese 11 Milliarden Euro zur Verfügung. Insofern gibt es hier keine Kürzung; jeder, der das behauptet, spricht nicht die Wahrheit. ({6}) Wenn von Ihrer Seite nur Verhetzungspotenzial kommt, hat das mit Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nichts zu tun. Ich denke, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, zu erfahren, wie die Dinge sind: Wir stellen diese 11 Milliarden Euro zur Verfügung, sobald ein vernünftiges Konzept vorliegt. Das werden Sie in den nächsten Wochen und Monaten erleben. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Gesine Lötzsch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als Linke wollen stabile Sozialversicherungssysteme. Wir finden, dass die Menschen, die jahrzehntelang in diese Systeme eingezahlt haben, ein Recht darauf haben, sich darauf verlassen zu können, dass diese Systeme funktionieren. ({0}) Womit wir überhaupt nicht einverstanden sind, meine Damen und Herren von der rechten Seite dieses Hauses, ist, dass die Risiken für die Aufrechterhaltung dieser Systeme immer mehr auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt werden, während die Unternehmen entlastet werden. Das ist doch eine Ursache der Krise. Diese Ursache haben Sie, Herr Kollege Barthle, in Ihrem Vortrag überhaupt nicht angesprochen. Damit bin ich nicht einverstanden. ({1}) Was mich an Ihrer Rede besonders gestört hat, Herr Kollege Barthle von der CDU/CSU, ist, dass Sie gesagt haben: die Krise - als wäre die Krise vom Himmel gefallen. Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist Ergebnis politischen Handelns und politischer Entscheidungen. Diese Regierung hat bisher nichts getan, um die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise wirksam zu bekämpfen. Sie hat nichts getan, um den Bankern und Zockern in den Arm zu fallen. Sie tun so, als wäre die Krise vom Himmel gefallen. Nein, die Krise ist auch Ergebnis Ihrer Politik. Dazu müssen Sie endlich stehen, dazu müssen Sie sich bekennen. ({2}) Die Wurzel des Übels liegt in der andauernden neoliberalen Arbeitsmarkt-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir wissen doch alle, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den Löhnen und Gehältern, den Einkommen in unserem Land und der Sicherheit der Sozialversicherungssysteme. Gestern haben wir vom Statistischen Bundesamt die Nachricht erhalten, dass zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland die durchschnittlichen Bruttoverdienste gesunken sind. Der Durchschnittsverdiener hat also nicht etwa weniger Netto vom Brutto, er hat weniger Brutto. Die skandalöse Lohnsenkungspolitik in unserem Land muss endlich ein Ende haben; denn sie zerstört die Sozialversicherungssysteme. ({3}) Meine Damen und Herren, es geht aber nicht nur um die Durchschnittslöhne. Besonders schlimm ist für viele Menschen doch - insbesondere auch für viele Frauen -, dass der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren enorm angewachsen ist: seit 1995, in den letzten 15 Jahren also, um 46 Prozent. Das heißt, über 6,5 Millionen Menschen in Deutschland arbeiten für Löhne von 4 bis 7 Euro in der Stunde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand von CDU, CSU oder FDP bereit wäre, für derartige Löhne zu arbeiten. Setzen Sie sich endlich dafür ein, dass wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn bekommen! Dann können wir auch die Sozialversicherungssysteme wieder stabilisieren. ({4}) Sinkende Löhne, hohe Arbeitslosigkeit und ein ausufernder Niedriglohnsektor bedeuten auch sinkende Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die Rentenversicherung und das Gesundheitssystem. Den Zusammenhang „Gute Löhne - Stabile Sozialversicherungssysteme“ muss doch jeder begreifen. Mit allem anderen, was hier geredet wird, geht man am Problem vorbei. Vor allen Dingen fordern wir - das will ich noch einmal betonen -, dass auch die Arbeitgeber, die Unternehmen, einen angemessenen Beitrag leisten. Sie haben mit Ihrer Politik - begonnen bei Kohl, fortgesetzt unter Schröder, nochmals fortgesetzt unter Merkel - dazu beigetragen, dass die Lasten immer mehr auf die Menschen, die arbeiten bzw. die Leistungen aus diesem System brauchen, abgewälzt wurden. Das ist unsozial, das ist der falsche Weg, und dem stellen wir uns entgegen. ({5}) Wir brauchen in der Bundesrepublik Deutschland keine Hungerlöhne, sondern wir brauchen Löhne, von denen Menschen in Würde leben können. Ich kann Ihnen einmal kurz etwas vorrechnen: Schon ein Mindestlohn von nur 7,50 Euro in der Stunde - Sie wissen ja, dass wir als Linke hier andere Vorstellungen haben; wir wollen bis zum Ende dieser Legislaturperiode 10 Euro Mindestlohn in der Stunde erreichen, aber bleiben wir einmal bei 7,50 Euro - würde dazu beitragen, dass 4 Milliarden Euro mehr in den Sozialversicherungssystemen wären. Doch Sie verweigern sich dieser Erkenntnis und wollen lieber, dass die Menschen in prekären Verhältnissen bleiben und als Bittsteller „antanzen“ müssen. Sie verweigern ihnen das Recht, in Würde zu arbeiten. Damit ist die Linke nicht einverstanden. Dem stellen wir uns entgegen. ({6}) Ich sage auch ganz klar: Unsere Forderung ist, dass auch diejenigen zur Finanzierung der Sozialsysteme herangezogen werden müssen, die die Verantwortung für die Krise tragen, nämlich die Banken, die Versicherungen und die Zocker. Doch die Bundesregierung geht einen anderen Weg. Die Krisenlasten sollen durchweg die Arbeitslosen, die Beschäftigten und die Rentner tragen. Dem stellen wir uns entgegen. Damit sind wir nicht einverstanden. ({7}) Der vorliegende Gesetzentwurf hat viele Geburtsfehler, der Hauptfehler ist aber, dass die Ursachen der Krise der Sicherungssysteme völlig außer Acht gelassen werden. Das ist eine kurzsichtige Politik, das ist eine verantwortungslose Politik, und das ist die Fortsetzung dessen, was Sie uns hier in den letzten Wochen schon vorgeführt haben, nämlich den Menschen vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen Sand in die Augen zu streuen. Die Menschen sind aber klüger, als Sie denken, und im Mai werden Sie Ihre Quittung erhalten. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Markus Kurth ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Wenn diese schwarz-gelbe Regierung einen Gesetzentwurf einbringt, der im Titel das Wort „Stabilisierungsgesetz“ enthält, dann entbehrt das nicht einer gewissen Komik. Stabilisieren Sie sich doch erst einmal selber! ({0}) Schäuble kämpft gegen die FDP-Steuersenker, die CSU kämpft gegen die FDP, die CSU-Landesgruppe in Berlin kämpft gegen die CSU in Bayern, und Guido Westerwelle kämpft allein gegen alle. ({1}) Kurzum: Die Anordnung, in der sich Schwarz-Gelb präsentiert, ist die einer Massenschlägerei. ({2}) Entsprechend der Zerstrittenheit des Regierungslagers präsentieren Sie im Entwurf des Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes gerade einmal den kleinsten gemeinsamen Nenner und eine ganz kurzfristige Perspektive. Wir haben es hier mit notdürftigster Flickschusterei zu tun, um die Sozialversicherung kurzfristig knapp über der Wasserlinie zu halten. Sie geben keine Antwort auf die drängenden Fragen zur Zukunft der gesetzlichen und solidarischen Krankenversicherung, Sie geben keine Antwort auf Fragen zur zumindest mittelfristigen Lage in der Arbeitslosenversicherung, und Sie geben keine Antwort auf Fragen zu mittel- oder langfristigen Perspektiven und zur Zukunft der Milchwirtschaft. Sie stellen wieder einmal unter Beweis: Sie können es einfach nicht. ({3}) Wenn wir uns die Lage bei der Krankenversicherung anschauen, dann wird deutlich: Im Moment ist der Zuschuss natürlich unabwendbar. Dabei kann ich Ihnen aber nicht den Hinweis ersparen, dass die strukturelle Unterfinanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung erst durch den Gesundheitsfonds, also unter anderem durch Sie von der Union, hervorgerufen wurde. ({4}) Sie bleiben jede Antwort auf die Frage der Perspektiven bei den Maßnahmen zur Dämpfung der Ausgaben im Bereich des Arzneimittelsektors schuldig. Wenigstens das hätte doch Teil eines Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes sein müssen, das seinen Namen verdient. ({5}) Ähnliches gilt für die Arbeitslosenversicherung. Im Moment ist natürlich nichts anderes möglich als ein Ausgleich des Defizits durch einen Zuschuss. Sie können aber bei dem Minibeitragssatz von 2,8 Prozent - selbst wenn Sie ihn auf 3,0 Prozent erhöhen - nicht davon ausgehen, dass sich die Finanzierungslage in der Arbeitslosenversicherung in den nächsten Jahren stabilisieren wird. Sie machen überhaupt keine Aussagen über die Perspektiven ab 2011. Frau Winterstein, ich muss Ihnen schon sagen: Wir wissen, wie es läuft, wenn Sie jetzt die Sperrung von 900 Millionen Euro für aktive Arbeitsmarktpolitik verbrämen und sagen, dass Sie nicht kürzen, sondern nur sperren. Wissen Sie nicht, wie das in der Vergangenheit vielfach gelaufen ist? Da haben Sie so lange gesperrt, bis die Träger die Mittel, die sie hätten einsetzen müssen, am Ende nicht mehr einsetzen konnten. Das heißt, faktisch handelte es sich um eine Kürzung, die Sie als Sperrung verkleidet haben. ({6}) Genau das Gleiche machen Sie im Moment mit dem Programm „JobPerspektive“. In meiner Stadt, in meinem Wahlkreis, wo wir mit dem Programm „JobPerspektive“ über 1 000 Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose geschaffen haben, können Zusagen aktuell nicht eingehalten werden. Sie sagen: Wir verteilen die Mittel nur anders, wir kürzen aber nicht. Faktisch kürzen Sie aber doch. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie sich an dieser Stelle um die politische Debatte herumdrücken: Sie wollen das verschleiern und es dann hintenherum durchführen. ({7}) Genau das haben Sie auch bei der Härtefallklausel versucht. Jetzt unternehmen Sie den untauglichen Versuch, es uns in die Schuhe zu schieben und dann so zu tun, als ob wir etwas Gutes für Langzeitarbeitslose hätten verhindern wollen. ({8}) Nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass sämtliche Wohlfahrtsverbände, zum Beispiel gestern Caritas, deutlich gefordert haben, dass es zu einer öffentlichen Anhörung kommt und die Gelegenheit einer demokratischen, öffentlichen Auseinandersetzung geschaffen wird. ({9}) Wir sollten uns einfach so viel parlamentarische Kultur gönnen und uns nicht in Diffamierungsversuchen ergehen. ({10}) Ich komme zum Schluss: Meine Damen und Herren, wenn diese Art von Notoperationspolitik das Beste ist, was Sie können, sollten Sie es vielleicht mit dem Regieren lassen. Sie haben es versucht, aber Sie haben wieder unter Beweis gestellt: Sie können es einfach nicht. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Bundesministerin Ilse Aigner.

Ilse Aigner (Minister:in)

Politiker ID: 11003028

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Dieser Gesetzentwurf steht für Verantwortung, Verlässlichkeit und Stabilisierung. Das Sozialstaatsprinzip ist ein Kernstück unseres Gemeinwesens. Wir stehen zu unserer Verantwortung. In schwierigen Zeiten greifen wir der Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Landwirtschaft unter die Arme. Verlässlichkeit heißt, dass erarbeitetes Vermögen für die private Altersvorsorge zu schützen ist, gerade wenn man für längere Zeit arbeitslos wird. Die Verdreifachung des Schonvermögens ist ein klares Signal und Teil eines „Schutzschirms für Arbeitnehmer“. ({0}) So wird der Vermögensschutz für geldwerte Ansprüche, die der Altersvorsorge dienen, deutlich verbessert; denn Eigenvorsorge muss sich lohnen. Wir greifen mit diesem Gesetzentwurf aber nicht nur unter die Arme, sondern zeigen damit auch, dass auf diese Bundesregierung in schwierigen Zeiten Verlass ist, natürlich auch auf die sie tragenden Fraktionen. ({1}) Das wird auch an dem Sonderprogramm für die Landwirtschaft deutlich, das Teil des Gesetzentwurfs ist. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, 750 Millionen Euro in zwei Jahren: So ein Programm hat es bisher noch nicht gegeben. ({2}) Damit wollen wir die Betriebe in einer schwierigen Situation stabilisieren. Wir wollen die Leistungskraft erhalten und die Zukunft sichern. Die Bundesregierung hat sich den Erhalt der flächendeckenden Landwirtschaft und Landbewirtschaftung zum Ziel gesetzt. Es ist deshalb richtig und wichtig, mit dem Sonderprogramm ein stabiles Fundament für die Leistungsbranche Landwirtschaft zu sichern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sprechen dabei nicht von irgendeiner Branche. Wir sprechen von der Branche, die dafür sorgt, dass wir ausreichend qualitativ hochwertige Lebensmittel erzeugen, die einen immer größeren Beitrag zu den erneuerbaren Energien liefert und zum Beispiel mit den Grünlandstandorten auch einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz liefert. ({3}) Genau deshalb haben wir das Grünlandprogramm aufgelegt. Es trägt zum Klimaschutz bei. In der schwierigen Situation haben wir hier fokussiert. Das ist ein wichtiger Teil dieses Programms. Wir wissen aber auch, dass wir durch Effizienzsteigerung einen weiteren Beitrag zur Senkung der Emissionen leisten müssen. Auch das ist ein wesentlicher Beitrag zum Klimaschutz. Bei der Erarbeitung dieses Programms mussten wir drei wesentliche Leitplanken einhalten. Das sind zum einen die EU-rechtlichen Vorgaben, etwa beim Beihilferecht; zum anderen mussten wir versuchen, die Mittel so schnell wie möglich den betroffenen Bäuerinnen und Bauern zukommen zu lassen. Zudem mussten wir den bürokratischen Aufwand in Zusammenarbeit mit den Ländern möglichst gering halten. Das war ein schwieriges Unterfangen, aber wir haben es geschafft. ({4}) Unser Sonderprogramm ist ein optimiertes Maßnahmenbündel für kurzfristige und gezielte Hilfen. Neben der Grünlandprämie, die wir von unserer Seite auf die Beine gestellt haben, haben wir noch zusätzliche Mittel der EU ausgehandelt und akquiriert, um neben der Kuhprämie für Milcherzeuger den Gründlandregionen zusätzliches Geld zukommen zu lassen. Das ist aber nur ein Teil. Wir haben noch wesentliche andere Maßnahmen mit unserem Sonderprogramm auf den Weg gebracht, zum Beispiel ein Programm zur Stabilisierung der Liquiditätshilfen. Diese Hilfen werden sehr gut angenommen. Wir haben hier einen sehr starken Mittelabfluss. Das stabilisiert die Betriebe in einer schwierigen Situation. Sie können sich mit finanziellen Mitteln versorgen, um die schwierige Situation zu überbrücken. ({5}) Nicht vergessen möchte ich in diesem Zusammenhang die Aufstockung der Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallversicherung. Auch hier haben wir einen Schwerpunkt gesetzt, mit dem die Betriebe durch Soforthilfen liquide bleiben. Glauben Sie mir, das war ein richtiger Schritt. Die Betriebe merken es gerade jetzt bei den Beitragserhebungen, dass ihnen das Geld direkt, schnell und effektiv zugutekommt. ({6}) Die Soforthilfen des Sonderprogramms sind das eine. Wir müssen aber auch mittel- und langfristig für vernünftige Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft sorgen. Wir müssen sie auf die Zeit nach 2013, nach der jetzigen Finanzierungsperiode der Gemeinsamen Agrarpolitik, einstellen. Das ist ein wichtiger Meilenstein. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass Deutschland wie kaum ein anderes Land in der Europäischen Union den Reformprozess der Europäischen Union vorangetrieben hat. Wir beginnen 2010 mit einer Umstellung auf eine einheitliche Flächenprämie. Es wird bis 2013 keine gekoppelten Prämien, also auch keine Produktionsanreize mehr geben, sondern es wird für eine hervorragende Bewirtschaftung der Fläche unter Einhaltung von Naturschutz-, Umweltschutz- und Tierschutzstandards gezahlt. Das ist das Ziel, und das werden wir bereits 2013 erreichen. ({7}) Um die nächstfolgenden Schritte vorzubereiten, werden wir auf der europäischen Ebene in Verhandlungen eintreten. Es war daher wichtig, die jetzige Situation zu stabilisieren, damit die Betriebe, die gut aufgestellt sind, auch in Zukunft weiter wirtschaften können. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Verantwortung, Verlässlichkeit und Stabilisierung habe ich anfangs genannt. Das ist das Credo der christlich-liberalen Bundesregierung und der sie tragenden Fraktionen. Auf uns ist Verlass, wir halten das ein, was wir im Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Darauf können sich die Menschen verlassen. Vielen herzlichen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Katja Mast ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Milchviehprämie ist nichts anderes als die Steuergeschenke an die Hotelbesitzer und deshalb einfach nur Klientelpolitik. ({0}) Ich begrüße Sie alle heute an Bord der „Titanic“. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vizekanzler Guido Westerwelle stehen auf der Brücke. Nein, sie singen nicht. Beide glauben zu wissen: Unser Schiff sinkt nicht. - Doch sie vergessen, dass der Eisberg, der in der Abendsonne auf sie zuschwimmt, nur zu 10 Prozent sichtbar ist und 90 Prozent davon unter Wasser schwimmen. Die Mannschaft auf der Brücke streitet sich gerade, ({1}) in welchem Restaurant das nächste Versöhnungsgespräch stattfinden soll. Ministerpräsident Horst Seehofer versucht, die Brücke zu erreichen, um einen neuen Kurs durchzugeben, schafft es aber nicht; denn sein Landesgruppenchef macht nicht mit und funkt dazwischen. ({2}) Das alles könnte wie im Film ohne Konsequenzen einfach so weiterlaufen. Aber wir sind weder im Film noch im Kino. Wir sind in der Realität ({3}) und befinden uns in der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise, die Deutschland jemals gesehen hat. Deutschland braucht eine Regierung, die Probleme löst und mehr als 10 Prozent des Eisbergs im Blick hat. ({4}) Diese 10 Prozent des Eisbergs - das ist das sogenannte Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz. Dieses Stückwerk stabilisiert nichts über den Tag hinaus. Es gibt keine Antwort auf die Frage, wie wir unsere Sozialversicherungen zukunftsfest machen können, und das obwohl Menschen zu Hungerlöhnen arbeiten müssen und Kinder die Armut ihrer Eltern erben, ohne echte Chance durch Bildung. Sozialversicherungen werden stabilisiert, indem jeder seinen Beitrag zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung aus eigener Kraft leistet. Das setzt gute Arbeit voraus, von der man in Würde leben kann. Das wissen beide auf der Brücke ganz genau, aber der gesetzliche Mindestlohn ist bei dieser Regierung Fehlanzeige. Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich den Eisberg über Wasser anschauen. Was steckt darin? Zuerst einmal - in der Opposition sollen wir nicht nur kritisieren - endlich die Erhöhung des Schonvermögens. Wir von der SPD waren schon immer Vorreiter bei der Erhöhung des Schonvermögens zugunsten der Altersvorsorge. Hier brauchen wir untereinander keinen falschen Wettbewerb. Das ist eine echte Verbesserung in diesem Gesetz. Der Gesetzentwurf, von Olaf Scholz geschrieben, lag für Frau Ministerin von der Leyen schon in der Schublade. ({5}) Gut ist auch, dass Sie das Defizit der Bundesagentur für Arbeit im Jahr 2010 durch einen Zuschuss ausgleichen. Gut so, sagen sich alle, die heute zuhören. Doch auch hier sollten wir unter die Wasseroberfläche schauen. Was passiert mit den Defiziten 2011, 2012 und 2013? Oder genauer: Was passiert nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai? Was passiert mit den 90 Prozent des Eisbergs, die unter Wasser sind? Die SPD hat aus gutem Grund schon immer Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert. Sie hat deshalb die Weichen dafür gestellt, dass heute die Sozialversicherungsbeiträge unter 20 Prozent liegen. Das war mutige Politik; denn die echte Umverteilung findet in Deutschland nicht über Steuern statt, auch wenn die FDP und große Teile der Union uns das immer weismachen wollen, sondern sie findet über Sozialabgaben statt. Wer wenig verdient, zahlt in Deutschland dank der Schröder-Regierung keine Steuern. Doch Sozialabgaben bleiben. Frau Ministerin von der Leyen - sie ist heute leider nicht da -, ist es unlauter, heute zu fragen, wie Sie das Defizit der Bundesagentur für Arbeit ab 2011 ausgleichen wollen? Nur für 10 Prozent des Eisbergs, also nur für das Defizit für 2010, gibt es für die Arbeitslosenversicherung Geld vom Staat. Darüber redet diese Regierung einfach nicht. Sie hofft natürlich, dass es sonst auch keiner tut. Sagen Sie doch hier und heute, was Sie nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen machen wollen. Kommt dann die Erhöhung der Sozialabgaben, oder gibt es für die Arbeitslosenversicherung weiter Knete von Herrn Schäuble? Ich erwarte von Frau von der Leyen, dass sie spätestens in der nächsten Sitzungswoche in der Haushaltsdebatte sagt, wie sie hier für eine echte Sozialpolitik eintreten will. ({6}) Ich sage Ihnen schon heute auf den Kopf zu: Frau von der Leyen wird nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen die Sozialabgaben erhöhen. Das bedeutet weniger Netto vom Brutto für alle Normalverdiener, für alle normalen Bürgerinnen und Bürger. Sie werden die kleinen Leute schröpfen, um die Steuergeschenke an Reiche finanzieren zu können. ({7}) Die Menschen wollen kein Stückwerk und brauchen gute Arbeit: heute und in Zukunft. Sie können das nicht. Das spüren die Menschen. Hören Sie endlich auf, wie der Kapitän der „Titanic“ die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Noch können wir umsteuern, um eine Katastrophe zu vermeiden. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Ulrike Flach für die FDP-Fraktion. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Mast, mit dem Stückwerk aus Ihrer Regierungszeit befassen wir uns gerade. Das ist der Grund, warum wir überhaupt Stabilisierungsgesetze in den Bundestag einbringen müssen. ({0}) Ich finde es schon ziemlich vermessen, so zu tun, als ob diejenigen, die jetzt an der Macht sind, für das zuständig sind, was Sie uns eingebrockt haben. Ein bisschen mehr Seriosität in diesem Zusammenhang wäre schon angebracht. ({1}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es gelingen, die konjunkturbedingten Mindereinnahmen der gesetzlichen Krankenversicherung über einen einmaligen Bundeszuschuss von 3,9 Milliarden Euro für 2010 abzufedern. Damit - das müssen die Menschen in diesem Lande wissen, damit sie nicht auf das hereinfallen, was ihnen immer wieder in die Ohren geblasen wird zahlen wir bereits jetzt 15,7 Milliarden Euro für den Bereich der Sozialversicherungssysteme. Das sind Steuergelder, die auf den Weg gebracht werden, um ein Sozialversicherungssystem am Leben zu erhalten, dessen Fundament zurzeit weder zukunftssicher noch stabil ist. Der Gesundheitsfonds, dessen Wirksamkeit wir immer angezweifelt haben, zeigt erste Wirkungen. Schon damals haben sehr viele davor gewarnt, dass es die mangelnde Umsetzung erschweren wird, die Zusatzbeiträge zu begrenzen. Heute werden diese Zusatzbeiträge erhoben. Die Kassen kommen mit dem Geld aus dem Fonds nicht mehr aus. Die Zusatzbeiträge, übrigens ohne einen Sozialausgleich, schlagen jetzt zu Buche. Nun kommt die jetzige Opposition und schlägt vor, solche Zusatzbeiträge abzuschaffen. Es ist geradezu abenteuerlich, wie Sie vor den Folgen Ihrer eigenen Politik die Augen verschließen. ({2}) Was wäre eigentlich - überlegen Sie sich das einmal zwei Sekunden lang -, wenn Minister Rösler beim Finanzminister nicht zusätzlich 3,9 Milliarden Euro losgeeist hätte? ({3}) Das ist sozusagen seine erste Amtshandlung in dieser Legislaturperiode gewesen. Wenn er das nicht getan hätte, wäre nämlich das Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung noch erheblich höher. Das haben schließlich Sie uns hinterlassen. ({4}) Wenn also jemand aktiv gegen hohe Belastungen der Versicherten vorgegangen ist, dann ist es diese Koalition mit diesem Minister gewesen, nicht Sie. ({5}) Wir müssen zu einer anderen, krisenfesteren Finanzierung kommen. ({6}) Das ergibt sich natürlich auch aus der demografischen Entwicklung. Wir haben immer mehr alte Menschen und immer weniger junge. Das ist definitiv anders, als es zu Bismarck’schen Zeiten war, in denen dieses System ersonnen wurde. ({7}) - Ja, Frau Hagedorn, dafür müssen wir nicht viele Stunden im Haushaltsausschuss sitzen; das liegt auf der Hand. Aber es ist immer wieder schön, es Ihnen zu sagen. Wir stehen noch immer am Ausgang der schwierigsten Wirtschaftskrise seit den 70er-Jahren. Noch immer ist die Arbeitslosigkeit hoch, und entsprechend zahlen weniger Menschen höhere Beiträge in die Krankenversicherung ein. Hier zeigt sich, welche systemischen Schwächen die einkommensabhängige Finanzierung in Zeiten der Wirtschaftskrise hat. Auch deshalb brauchen wir übrigens eine Festschreibung der Arbeitgeberanteile, um damit die Lohnnebenkosten zu senken und mehr Einstellungen zu ermöglichen. ({8}) Deswegen ist das ein Schirm für die Menschen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Es geht doch darum, den Menschen mit solchen Eingriffen neben allen unbedingt notwendigen Reformen zu helfen. ({9}) Unabhängig davon haben wir dank der Erblast von Herrn Steinbrück auch noch mit der Schuldenbremse umzugehen - auch das ist für uns Haushälter kein leich2518 tes Geschäft -, um kommenden Generationen nicht nur Schulden, sondern auch Handlungsspielräume zu hinterlassen. Liebe Kollegen, die alte SPD-Losung „Immer mehr Staatsgelder in den Topf“ hat ausgedient. Wir werden einen neuen Weg gehen und haben aus diesem Grunde die Kommission zur Reform des Gesundheitssystems auf den Weg gebracht. ({10}) Wir haben damit einen Weg beschritten, der nicht nur für eine stabile und zukunftsfeste Lösung sorgen wird, sondern der auch seriös durchgerechnet sein ({11}) und den Menschen in diesem Lande zeigen wird, dass sie sich darauf verlassen können, dass sie es auch in Zukunft noch mit einem Gesundheitssystem zu tun haben werden, bei dem sie wirklich das bekommen, was sie gerne haben wollen, und bei dem der Steuerzahler weiß, dass er sein Geld nicht in einen unendlich tiefen Schlund hineinwirft, ohne dass etwas Vernünftiges dabei herauskommt. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz der Bundesregierung ist unseres Erachtens eine Mogelpackung. Um beim Lebensmittel des Tages zu bleiben: Es steht „Milch“ drauf, es ist aber nur ein bisschen Milch und viel Wasser drin. ({0}) Allein schon im Sinne des Verbraucherschutzes ist es erforderlich, dass in einem Gesetz auch drin ist, was draufsteht. Auf Ihrem heutigen Gesetz steht „Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz“. ({1}) In Wahrheit stabilisieren Sie nur ein bisschen, aber die Bürgerinnen werden getäuscht und verunsichert. ({2}) Kein Versicherter, der jetzt Zusatzbeiträge zahlen muss, kann erkennen, dass die Finanzierung der Krankenversicherung dadurch stabil ist. Die Regierung gibt vor, Großes zu tun, bleibt aber auf halbem Wege stecken. ({3}) Zusatzbeiträge sind kein Zeichen stabiler Sozialversicherung. Zusatzbeiträge sind schlicht unsozial. ({4}) Denn pauschale Zusatzbeiträge belasten vor allem die kleinen Einkommen und verletzen die Parität, also die gerechte Aufteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Sicher, Sie, Herr Minister Rösler, und Ihre FDP haben diese Zusatzbeiträge nicht eingeführt. Die Zusatzbeiträge gehen zurück auf Überlegungen der CDU/CSU-Fraktion der letzten Legislaturperiode. Aber auch die SPD hat mitgemacht, und Ministerin Schmidt hat die Stellschraube angebracht. Aber Sie, Herr Minister, tun jetzt auch nichts, um etwas daran zu ändern. ({5}) Sie nehmen diese Zusatzbeiträge billigend in Kauf, weil sie Ihnen die Weichen hin zu einer Kopfpauschale stellen. Sie sagen, das Ganze sei, angereichert mit einem Sozialausgleich, doch auch wieder sozial - eine neue Art von sozial. Die Kopfpauschale ist alles andere als sozial. Weder ist der Sozialausgleich finanzierbar, noch ist es sozial, den großen Teil der Bevölkerung zu Bittstellern beim Staat zu machen. ({6}) Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie die Kopfpauschale scheibchenweise einführen. Die Kopfpauschale ist keine Stabilisierung, sondern die endgültige Bankrotterklärung für die Sozialversicherung. ({7}) Wenn Sie, Herr Minister, kurzfristig wirklich etwas zur Stabilisierung der Sozialversicherung tun wollen, müssen Sie dem Antrag der Linken zustimmen, diese Zusatzbeiträge endlich abzuschaffen. Die Linke zeigt Ihnen, wie es geht. Keinem vernünftigen Menschen leuchtet es ein, dass ein Arbeitsloser die Krankenkasse weniger kosten soll als ein Beschäftigter. Wir alle wissen: Arbeitslosigkeit macht krank. Trotzdem bekommen die Krankenkassen für jede ALG-II-Bezieherin, für jeden ALG-II-Bezieher nur rund die Hälfte des durchschnittlichen Beitrags: 126 Euro statt 260 Euro. Das bedeutet insgesamt einen Verlust von 5 Milliarden Euro. Korrigieren Sie diesen Missstand, und das Loch in der Krankenversicherung von geschätzt 4 Milliarden Euro für 2010 ist weg. ({8}) Das macht die Krankenversicherung kurzfristig stabil. Damit wäre dann endlich Schluss mit Verschiebebahnhöfen. Dann können Sie Ihre undurchdachte, unfinanzierbare, unsoziale Kopfpauschale ruhig vergessen. Die Mehrheit der Bevölkerung will sie nicht. Sie will eine solidarische Versicherung, ({9}) und das sollte Ihnen Handlungsauftrag sein. ({10}) Meine Fraktion macht dazu ein Angebot: die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Da ist drin, was draufsteht. Wir werden Ihrer Mogelpackung nicht zustimmen. Danke schön. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Friedrich Ostendorff ist der nächste Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Friedrich Ostendorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003604, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, dass wir heute erneut die 750 Millionen Euro „Kuhschwanz- und Grünlandprämie“ und das damit verbundene Sonderprogramm hier im Parlament debattieren können. Es gibt Gelegenheit, die tiefe Widersprüchlichkeit der Agrarpolitik dieser Bundesregierung zu verdeutlichen. Ich will diese Widersprüchlichkeit an drei Beispielen aufzeigen: Thema Milchmengensteuerung. Das Bundeskartellamt, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, die High-Level-Group Milk bei der EU-Kommission, die meisten Milchbauern und Milchbäuerinnen, die Staaten Frankreich und Spanien, alle fordern sie das eine: die Stärkung der Marktmacht der Milcherzeuger gegenüber den Molkereien durch die Förderung von Erzeugergemeinschaften. Was hingegen niemand gefordert hat, ist ein Subventionsprogramm von 750 Millionen Euro. ({0}) Warum machen Sie das trotzdem? Warum geben Sie in diesem Jahr locker 300 Millionen Euro „Kuhschwanzund Grünlandprämie“ aus, stimmen aber gegen unseren Antrag zur Förderung von Erzeugergemeinschaften in Höhe von gerade einmal 3 Millionen Euro oder 1 Prozent Ihrer Subventionsgießkanne? Warum verweigern Sie sich so beharrlich der Debatte um die Milchmengensteuerung? Sie tun das natürlich nicht aus Versehen. ({1}) Sie tun es, weil die bäuerliche Landwirtschaft Ihrem Weltbild von einer industrialisierten Exportlandschaft widerspricht. Nehmen wir das Thema Ökolandbau. „Wir wollen den ökologischen Landbau insbesondere im Bereich Forschung fördern“, schreiben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag. Das verkündet auch Frau Happach-Kasan auf der Bio-Fach, der Weltmesse für biologischen Landbau. Das klingt schön, ist aber schon ein gebrochenes Versprechen. Beide Agrarsprecher der Koalition verkündeten am 9. Februar stolz die Verdoppelung der Mittel für ihre Exportstrategie. Was sie uns damals aber verheimlichen wollten, war, woher sie das Geld für diese Exportstrategie nehmen wollen. Sie wollten dafür klammheimlich und ohne Not die 16 Millionen Euro Forschungsmittel für den ökologischen Landbau um 3,3 Millionen Euro kürzen. Sie hätten so langfristige Forschungsvorhaben in diesem Bereich verhindert. Es ist Ihnen dann wohl aufgegangen, dass der ideologische Rotstift da doch etwas mit Ihnen durchgegangen ist. Daher kam gestern in der Bereinigungssitzung das Einlenken auf den letzten Drücker. Massive Proteste von Opposition und vielen Verbänden, aber auch aus Ihren eigenen Reihen zwangen Sie, zum Status quo zurückzukehren. Es verwundert uns nicht, dass Sie den ökologischen Landbau geradezu reflexartig als Streichposten betrachten, weil er anscheinend nicht in Ihr agrarindustrielles Weltbild passt. ({2}) Ein letztes Beispiel: Der Weltagrarbericht. Die Lippenbekenntnisse dieser Koalition zu den Zielen der Nachhaltigkeit, der Armutsbekämpfung, der internationalen Gerechtigkeit und des Klimaschutzes würden wahrscheinlich Bände, nein, Bibliotheken füllen. Aber dann gibt es eine so bemerkenswerte internationale Anstrengung wie den Weltagrarbericht, von Weltbank und UN initiiert, an dem vier Jahre über 500 Wissenschaftler und Vertreter der Zivilgesellschaft gearbeitet haben. Hier hieße es, einmal Farbe zu bekennen. Sogar die USA, Kanada und Australien, nicht eben die Musterbeispiele internationaler Kooperation, haben den Bericht mit Einschränkungen unterzeichnet. Die Bundesrepublik hat auch unterschrieben, nur leider die Bundesrepublik Nigeria. Die Bundesrepublik Deutschland verweigert sich bis zum heutigen Tag, diesen Bericht zu unterschreiben. Warum? Das konnte uns auch Staatssekretär Müller in der Fragestunde am Mittwoch nicht beantworten. Ich glaube, ich kann Ihnen sagen, warum. Weil dieser Bericht eines klar sagt: Die bäuerliche Landwirtschaft ist die Zukunftslandwirtschaft für die Welt. Das passt Ihnen nicht. Sie wollen eben weder eine bäuerliche noch eine klimafreundliche noch eine ökologische noch eine tierfreundliche Landwirtschaft. Sie verfolgen in Wahrheit knallharte Industrialisierungs- und Exportideologie. Darauf ist Ihre Politik ausgerichtet. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Landesminister Karl-Josef Laumann, den wir in diesem Hause besonders gerne einmal mehr begrüßen. - Bitte schön. ({0}) Karl-Josef Laumann, Minister ({1}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute kommen wir einmal ohne Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts zu einer wichtigen Änderung des SGB II. Ich sage bewusst: SGB II, und rate, nicht mehr so viel von Hartz IV zu reden. Es ist nämlich schon Minister Karl-Josef Laumann ({2}) ein Ding, dass in Deutschland eines der wichtigsten Sozialgesetze nach einem Vorbestraften benannt ist. ({3}) Als wir vor fünf Jahren über das SGB II debattiert haben, stand das Thema „Fordern und Fördern“ sehr stark im Mittelpunkt. Es hat mittlerweile aber die Entwicklung gegeben, dass ein immer größerer Teil der Arbeitnehmer feststellen musste, dass ihre Arbeitsplätze nicht sicher sind und sie, obwohl sie selber gut ausgebildet sind, obwohl sie selber über viele Jahre bewiesen haben, dass sie leistungsbereit sind, obwohl sie selber nichts verkehrt gemacht haben, ein relativ hohes Arbeitsplatzrisiko haben. Dieses Risiko ist im Übrigen in unserer Arbeitswelt sehr unterschiedlich verteilt. Die vielen Menschen zum Beispiel, die beim Staat arbeiten, haben dieses Risiko so gut wie gar nicht. Die größte Branche, die es mittlerweile in Deutschland gibt, ist das Gesundheitswesen. In unseren Bundesländern stellt diese Branche im Durchschnitt mittlerweile zwischen 11 und 13 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze. Auch diese Branche wächst und ist relativ unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung. Dann gibt es in diesem Land Menschen - immer noch, Gott sei Dank -, die noch in der Produktion arbeiten. Dieser Bereich macht ungefähr 20 Prozent unserer sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze aus. Insbesondere diejenigen, die in der Produktion arbeiten und auch von den Exportmärkten abhängig sind, sind oft von problematischen Entwicklungen auf dieser Erde betroffen, die weder ihr Unternehmen noch sie selber beeinflussen können. Ich persönlich meine immer noch, dass die Menschen, die in der Produktion arbeiten, in Wahrheit diejenigen sind, die uns in erster Linie den Wohlstand erarbeiten und dafür sorgen, dass wir überhaupt noch etwas verteilen können. ({4}) Diese haben aber zugleich das größte Arbeitsplatzrisiko. Da ich in meinem Leben auch einmal zu den Menschen gehört habe, die in der Produktion arbeiten, weiß ich sehr genau, dass sie bei Hartz IV von Anfang an folgende Debatte geführt haben: ({5}) Ist es richtig, dass ich, wenn ich ohne eigenes Verschulden meine Arbeit verliere, nach zwölf Monaten zum Beispiel aus der Arbeitslosenversicherung herausfalle, obwohl ich mit meinen Steuern und Beiträgen, weil ich gut verdient habe, erheblich zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme beigetragen habe, und damit dann so behandelt werde wie jemand, der nie etwas zur sozialen Sicherung in diesem Land beigetragen hat? Das ist schon ein Thema bei den Leuten. ({6}) - Ja, ja. Deswegen war es richtig, dass wir das Arbeitslosengeld für langjährig Versicherte in der Großen Koalition endlich verändert haben. Es hat lange genug gedauert, bis Herr Müntefering die Notwendigkeit eingesehen hat; denn der war in dieser Sache der Bremser. ({7}) Die schwarz-gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen hat schon im Juni 2005 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie für die genannte Personengruppe eine längere Dauer des Bezugs von Arbeitslosengeld und ein höheres Schonvermögen vorsehen will. Das Problem lag also all die Jahre nicht bei Schwarz-Gelb, sondern bei der Blockadehaltung von Bundesminister Müntefering; ich war bei vielen Verhandlungen dabei. ({8}) - Das wollen Sie nicht hören; aber das ist die Wahrheit. Deswegen liegen Sie in den Umfragen jetzt auch nur noch bei 23 Prozent. Das hat ja alles seine Gründe. ({9}) - Historie ist Historie. Das alles können Sie in den Protokollen des Deutschen Bundestages nachlesen. ({10}) - Freuen Sie sich nicht zu früh. Es gibt einen weiteren Punkt, den Sie klar sehen müssen: Wir haben jetzt erreicht, dass die Menschen aufgrund einer Verdreifachung des Schonvermögens - bei Ihnen war nur ein Schonvermögen vorgesehen, das dazu führte, dass die Leute am Ende bestenfalls eine Monatsrente von 85 Euro bekamen - im besten Fall eine Zusatzrente von 300 Euro erhalten. Das ist nicht zu viel; aber es ist angesichts dessen, was ich am Anfang ausgeführt habe, auch nicht mehr als recht und billig. ({11}) Wir sorgen heute dafür, dass dieses Gesetz mehr Akzeptanz bekommt. Sie haben dies in den letzten fünf Jahren, obwohl wir es immer wieder gefordert haben, nicht umgesetzt. Es gibt im Übrigen Bundesanträge dazu; das alles ist ja in den Parlamenten dokumentiert. ({12}) - Nordrhein-Westfalen hat das im Bundesrat beantragt. Das alles können Sie doch in den Protokollen nachlesen. Sie waren diejenigen, die dies nicht umgesetzt haben. Die neue Regierung ist ein halbes Jahr im Amt und Minister Karl-Josef Laumann ({13}) macht dies. Dafür möchte ich mich im Namen von Nordrhein-Westfalen ganz herzlich bedanken. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Laumann, es ist schon ziemlich dreist, muss ich sagen, ({0}) dass Sie hier sagen, Sie hätten die Erhöhung des Schonvermögens jetzt durchgesetzt. Ihre Partei, die Fraktion der CDU/CSU und die Mitglieder Ihrer Partei in der Bundesregierung haben im Sommer letzten Jahres verhindert, dass der Gesetzentwurf, den Olaf Scholz dem Kabinett vorgelegt hat, noch umgesetzt worden ist. ({1}) In diesem Gesetzentwurf war keine Verdreifachung der Freibeträge, sondern eine Freistellung des gesamten Altersvermögens im Zusammenhang mit irgendwelchen Anrechnungen vorgesehen. Das ist die Wahrheit. Sie werden bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl mit solchen Halbwahrheiten keine Punkte machen; das kann ich Ihnen sagen. ({2}) Ich möchte etwas zu dem Thema „Zuschuss zur Krankenversicherung“ sagen. Das Gesetz, um das es heute geht, trägt den Namen „Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz“. Dazu kann man sagen: Stabil ist eines in dieser Koalition, nämlich der Streit, der jeden Tag zwischen München und Berlin und sonst wo ausgetragen wird. Der Punkt ist: Es fehlen dieses Jahr knapp 8 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. 3,9 Milliarden Euro werden einmalig ausgeglichen. Das heißt, das reicht mal eben bis Jahresende. Das hat mit Nachhaltigkeit usw. nichts, aber auch gar nichts zu tun. Das überdeckt die Probleme. Das ist Politik von der Hand in den Mund. Sie haben vor allen Dingen keinerlei Ansätze zur Problemlösung. Jetzt mag es in einer solchen Situation schwierig sein, über Beitragssatzanhebungen nachzudenken. ({3}) - Ich sage ja, es mag schwierig sein, darüber nachzudenken. - Wenn ich aber Beitragssatzanhebungen ausschließe, wenn ich nicht mehr als 3,9 Milliarden Euro aus Steuern einmalig in das System geben will, dann muss ich sofort damit beginnen, bei den Ausgaben etwas zu machen. Ich habe es gestern schon gesagt: Herr Rösler, ein lieber, netter Onkel Doktor zu sein, reicht nicht aus. Sie müssen endlich etwas vorlegen, damit die Ausgaben im nächsten Jahr nicht noch weiter steigen. ({4}) Herr Rösler, laut Leipziger Volkszeitung wollen Sie: Ein System, das sich ähnlich wie die soziale Marktwirtschaft selbst optimiert. Das ist unser Ansatz. … Wir wollen strukturelle Verbesserungen. Bei der Finanzkrise hat man gesehen, welche Auswirkungen selbst regulierende Finanzmärkte haben. Wenn Sie auf Selbstregulierung setzen, Herr Minister Rösler, dann brauchen wir weder einen Bundesgesundheitsminister noch ein Bundesgesundheitsministerium. Dann ist das alles überflüssig. Sie sagen nicht, wie im nächsten Jahr 11 Milliarden bis 12 Milliarden Euro, die dann im System fehlen, finanziert werden sollen, faseln aber gleichzeitig über eine Kopfprämie, obwohl diese nicht finanziert ist und auch kein Geld für einen Sozialausgleich vorhanden ist. Das ist Vogel-Strauß-Politik. So kann man keine Gesundheitspolitik für über 80 Millionen Menschen in diesem Land machen. ({5}) Ein Defizit in Höhe von 11 Milliarden bis 12 Milliarden Euro im nächsten Jahr bedeutete, dass jedes Mitglied der GKV knapp 20 Euro im Monat zusätzlich zahlen müsste. Da Sie nach eigener Aussage die 1-Prozent-Regelung, also die Deckelung, nicht ändern wollen, gehe ich davon aus, dass diese Regelung der Maßstab für den von Ihnen vorgesehen Sozialausgleich ist. Das wiederum bedeutete, dass alle, die weniger als 2 000 Euro im Monat verdienen, auf einen Sozialausgleich angewiesen wären. Ich habe mich gestern noch einmal kundig gemacht: 33,4 Millionen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung haben ein Einkommen von weniger als 2 000 Euro im Monat. Das heißt, Sie wollen mehr als ein Drittel der Bevölkerung zu Bittstellern machen, die auf einen Sozialausgleich angewiesen sind, um die Beiträge zur Krankenversicherung zahlen zu können, die sie vorher aus eigener Tasche zahlen konnten. Das ist doch keine Gesundheitspolitik. ({6}) - Frau Flach, da Sie fragen, woher ich das weiß: Vielleicht kann sich die Regierung endlich dazu bequemen, unsere Fragen zu beantworten. Aber auch das passiert nicht, weil offenkundig niemand in dieser Regierung bereit ist, vor dem 9. Mai die Karten auf den Tisch zu legen und deutlich zu machen, wer durch eine Kopfprämie belastet oder entlastet wird und wie die Lücke von 11 Milliarden bis 12 Milliarden Euro zwischen Einnahmen und Ausgaben im nächsten Jahr geschlossen werden soll. Herr Präsident, der Kollege Bahr möchte mich gerne etwas fragen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Da grübelt man doch, ob das eine spontane Eingebung oder eine langfristige Vereinbarung ist. ({0}) Wie auch immer, ich stelle jedenfalls Einvernehmen zwischen möglichem Fragesteller und Redner fest und erteile hiermit dem Kollegen Bahr das Wort.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Präsident. Es handelt sich nicht um eine Verabredung, sondern um Gewohnheit aus den langen gesundheitspolitischen Diskussionen. Frau Kollegin Ferner, ich möchte Ihnen eine Frage stellen, weil Sie aufgrund bestimmter Annahmen eine mögliche Gesundheitsprämie und das damit verbundene Antragsverfahren kritisieren. Sie haben als SPD den Gesundheitsfonds mit beschlossen. Die logische Folge ist, dass Krankenkassen Zusatzbeiträge erheben müssen. In diesem Zusammenhang haben Sie die 1-Prozent-Grenze angesprochen. Können Sie mir darlegen, wie hier der soziale Ausgleich organisiert ist, den die SPD mit beschlossen hat? Nach meiner Erkenntnis müssen Millionen Versicherte extra einen Antrag stellen. Dann müssen die Krankenkassen prüfen, ob der Zusatzbeitrag höher als 1 Prozent des Bruttoeinkommens ist. Das heißt, das Verfahren bei den Zusatzbeiträgen, das Sie beschlossen haben, ist nichts anderes als ein Antragsverfahren. Ihr Konzept macht also Millionen Versicherte genauso zu Bittstellern bei den Krankenkassen, weil ein Sozialausgleich nicht automatisch gewährt wird, sondern extra ein Antrag gestellt werden muss. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das kann man nicht mit Ja beantworten, lieber Wolfgang Zöller; denn - das wissen Sie ganz genau - die Geschichte ist nicht so gewesen. Herr Kollege Bahr, hätten Sie in den langen gesundheitspolitischen Debatten zugehört, die wir in der letzten Wahlperiode geführt haben, wüssten Sie, dass die Zusatzbeiträge einen Kompromiss darstellen, dass die Zusatzbeiträge für die Union eine Conditio sine qua non waren. Dann würden Sie wissen, dass wir die Zusatzbeiträge prozentual und paritätisch finanziert haben wollten. Dann würden Sie wissen, dass zwei Gutachter - der eine wurde von der Union bestellt, das war Professor Rürup, der andere wurde von uns bestellt, das war Professor Fiedler ({0}) - man darf nicht fragen, wenn man keine Antworten hören will ({1}) übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen sind, dass ein Sozialausgleich bei den Zusatzbeiträgen fehlt. Sie würden auch wissen, dass wir es waren, die bei unserem damaligen Koalitionspartner bis zum Schluss darum geworben haben, dass bei den Zusatzbeiträgen ein Sozialausgleich eingeführt wird. Sie würden auch wissen, dass wir dem Gesamtkonzept des Gesundheitsfonds nur deshalb zugestimmt haben, weil jetzt bei der Verteilung des Beitragsaufkommens deutlich mehr Gerechtigkeit herrscht, als es nach dem alten System möglich war, nämlich dass die Beitragseinnahmen zu 100 Prozent nach dem jeweiligen Mechanismus über alle Versicherungen verteilt werden. Es hängt also nicht mehr davon ab, ob eine Kasse gut oder schlecht verdienende Kassenmitglieder hat. Die krankheitsbedingten Ausgaben, der sogenannte der MorbiRSA, der morbiditäts- ({2}) - Ja, das ist ein schwieriges Wort, das man vor allen Dingen den Menschen, die am Fernseher sitzen und nicht jeden Tag Gesundheitspolitik machen, erklären muss. - Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich, der die Krankheitskosten abbildet und entsprechend ausgleicht, ist deutlich zielgenauer als bisher.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, dass das eine nach meiner Einschätzung außergewöhnlich umfängliche Antwort ist. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, er möchte gerne hören, was ich noch zu sagen habe, Herr Präsident.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe auch keinen Zweifel daran, dass Ihr Interesse an einer noch ausführlicheren Antwort unerschöpflich ist. Ich wollte Sie nur dezent darauf aufmerksam machen, dass Sie für den Rest Ihrer eigentlich beabsichtigten Ausführungen noch 23 Sekunden zur Verfügung haben. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Alles klar. - Sie würden wissen, dass dieser Kompromiss deshalb gemacht worden ist. Damit ist die Frage beantwortet, wahrscheinlich mehr, als Ihnen lieb ist. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden mit dem Kopfprämienmodell baden gehen, weil es weder in der Koalition noch in der Bevölkerung mehrheitsfähig ist. Schönen Dank, Herr Präsident. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Dr. Happach-Kasan erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist richtig: Wir haben eine schwierige Situation in Deutschland. Deswegen ist es gut, dass die christlichliberale Koalition ({0}) um Lösungen ringt und die beste Lösung für die Menschen in diesem Land erarbeitet, statt sie von der Straße aufzulesen, wie uns das die Opposition immer mal wieder vorschlägt. ({1}) Wir befinden uns in einer Wirtschaftskrise. Es ist richtig, dass die Landwirtschaft in dieser Situation Unterstützung erfährt, so wie auch andere Wirtschaftsbereiche Unterstützung erfahren haben. Dem dient das Sonderprogramm Landwirtschaft. Gleichzeitig haben wir in der Koalition mit diesem Sonderprogramm den Ausstieg aus der staatlichen Mengensteuerung bei der Milch vereinbart und weitere nationale Sonderwege verhindert. ({2}) Herr Kollege Ostendorff, wer den Landwirten immer noch erzählt, mit der staatlichen Mengensteuerung hätten sie etwas Gutes, der belügt sie. Das ist nicht in Ordnung. ({3}) Der erzählt ihnen von etwas, das nicht zukunftsträchtig ist. Er nimmt sie nicht mit auf den Weg in die Zukunft. Ich glaube, das ist schlecht. Ihr Programm erinnert letztlich an „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt“. Das zeigt, dass Sie noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen sind. Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht voranzugehen. ({4}) Gleichzeitig eröffnen wir damit auch den Weg in eine neue Agrarpolitik, wie sie zum Beispiel der Agrarkommissar Dacian Ciolos aus Rumänien in seiner Rede im Ausschuss dargestellt hat, nämlich den Abschied von der Mengensteuerung und den alten Regulierungsmechanismen des Marktes, die versagt haben; denn die schwierige Situation der Milchbauern liegt auch daran, dass sie erstens die Milchquote hatten und zweitens die Intervention. Damit wurde verhindert, dass marktfähige Strukturen aufgebaut wurden. Gleichzeitig fördern wir mit diesem Sonderprogramm das Grünland. Grünland hat eine wichtige ökologische Funktion. Grünlandumbruch verursacht in großem Umfang CO2-Emissionen. Aber es reicht nicht, ein Verbot auszusprechen, sondern es müssen Perspektiven für die Nutzung von Grünland eröffnet werden. Genau das haben wir hiermit gemacht. ({5}) Die Unterstützung der Unfallversicherung hilft der gesamten Landwirtschaft. Wer gestern beim „Abend der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung“ war, hat gehört, wie das dort angekommen ist. Ich habe keinen Politiker der Opposition gehört, der sich dagegen verwehrt hat. Dazu nur so viel. Es bleibt Aufgabe der Politik, die Landwirtschaft in die Lage zu versetzen, ihr Einkommen am Markt selbstständig zu erwirtschaften. Dazu gehört die Stärkung der Innovationspotenziale. Das gerade macht der Weltagrarbericht nicht. Deswegen ist es gut, dass die Bundesregierung ihn nicht unterschrieben hat. Er hat keine Zukunftsperspektiven aufgezeigt. ({6}) Die Beendigung der Wettbewerbsverzerrung durch eine hohe Agrardieselsteuer ist von uns auf den Weg gebracht worden. Das wurde von uns initiiert. Außerdem brauchen wir die Eins-zu-eins-Umsetzung von EU-Vorgaben, damit die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe erhalten bleibt. In diesem Sinne werden wir in Zukunft die Landwirtschaftspolitik gestalten, mit den Menschen, mit den Betrieben und im Interesse der Betriebe in Deutschland. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes erhält der Kollege Jens Spahn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, zu sehen, wie Sie sich quälen und winden, wenn Ihnen ein leibhaftiger Arbeitsminister aus Nordrhein-Westfalen Ihre sozialpolitischen Versäumnisse vorhält. ({0}) Die Fakten lassen sich am Ende aber nicht wegdiskutieren, liebe Kollegen von der SPD. Da können Sie hier noch so viel herumschreien. Die Anträge sind tatsächlich aus Nordrhein-Westfalen gekommen. Frau Kollegin Ferner, man fragt sich natürlich, wie sich die ehemalige Gesundheitsministerin, Frau Schmidt, fühlen muss, wenn sie Sie hier so reden hört. ({1}) Das, was Sie von der sozialdemokratischen Fraktion in den letzten Tagen gemacht haben, ist im Grunde eine Abrechnung mit den Regierungsjahren und der Frau Ministerin Ulla Schmidt. ({2}) Sie wollen alles, was damals beschlossen worden ist, zurückdrehen, auch das, was wir gemeinsam beschlossen haben; ({3}) das habe ich in diesem Hause schon gestern gesagt. Das gilt etwa für die Zusatzbeiträge, die eine Entkopplung der steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskosten bewirken. Das wurde auch und immer zu Recht von Frau Ministerin Schmidt positiv begleitet und von uns unterstützt. ({4}) Insofern müssen Sie intern, in Ihrer ehemaligen Regierungsfraktion, vielleicht einmal klären, wie Sie sich zu den letzten elf Jahren Regierungszeit verhalten wollen, ob Sie sich schämen für das, was Sie beschlossen haben, ({5}) oder ob Sie zurückfallen wollen in den Populismus der 80er- und 90er-Jahre; denn das ist es, was wir in den letzten Tagen hier erleben. ({6}) Ich will kurz auf den vorliegenden Gesetzentwurf bezüglich der Dinge eingehen, die die gesetzliche Krankenversicherung betreffen. In diesem Jahr erwarten wir bei der gesetzlichen Krankenversicherung ein Defizit von etwa 8 Milliarden Euro, das sich im Grunde aus zwei Bestandteilen zusammensetzt: Zum einen sind da die Ausgabensteigerungen zu nennen, die wir insbesondere im ärztlichen Bereich, bei den Krankenhäusern und den Arzneimitteln haben. Jeder, der fortgesetzt sagt, wir sollten im Gesundheitswesen endlich mehr sparen, der muss bitte auch konkret sagen, bei welchen Ärzten und welchen Krankenhäusern wir sparen sollen, ({7}) zumal wir die Ausgabenentwicklungen in der Großen Koalition gemeinsam beschlossen haben: etwa für eine bessere Versorgung in Ostdeutschland und für die Pflegestellen in den Krankenhäusern. Ich glaube, diese Entscheidungen waren richtig. ({8}) Neben den Ausgabensteigerungen haben wir zum Zweiten durch die Krise bedingt Einnahmeausfälle in Höhe von gut 4 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist ein gutes Zeichen, dass die christlich-liberale Koalition diese Ausfälle jetzt mit 3,9 Milliarden Euro abfängt. Das wirkt wie ein Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, da dadurch in der Krise die Beiträge nicht steigen müssen und die Einkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insofern nicht geschwächt werden. Einer Aufgabe bzw. Herausforderung müssen auch Sie sich stellen - das wird klar, wenn man Ihre Debattenbeiträge gestern und heute hier verfolgt hat -: Wir erwarten zum 1. Januar 2011 und für das folgende Jahr ein Defizit von 11 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung. Eines jedenfalls geht nicht, nämlich dass man einfach sagt: Es soll alles so bleiben, wie es ist. Sie sagen ja sogar, Sie wollten in die guten alten Zeiten der 80erund 90er-Jahre zurück. Sie wollen also alles zurückdrehen. Sie machen nach Ihren elf Jahren Regierungspolitik eine Abrechnung und sagen: Was passiert, wenn diese 11 Milliarden Euro Defizit da sind, das ist uns egal. Sie wissen genau, was dann passieren wird: Wir werden eine Steigerung bei den Zusatzbeiträgen, die Sie neuerdings immer kritisieren, haben, ohne dass es einen sozialen Ausgleich gibt. ({9}) Genau das ist die Herausforderung, die wir angehen wollen. Heute ist es bei den Zusatzbeiträgen so: Wenn sie über 1 Prozent des Einkommens liegen, wird die Differenz zwischen dem, was von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eigentlich zu zahlen wäre, und diesem 1 Prozent nicht bei den Kassen ankommen. Es wird einfach gekappt. ({10}) Dieses Geld fehlt dann natürlich in der gesetzlichen Krankenversicherung. Genau dieses System wollen wir weiterentwickeln, indem wir einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln einführen. Wenn Sie sagen, dass das für Sie keine Lösung ist, dann müssen Sie zumindest auch sagen, was Ihrer Meinung nach die Lösung wäre. Ein paar konstruktive Ansätze an der einen oder anderen Stelle kann man zumindest von der größten Oppositionsfraktion erwarten. ({11}) Kollege Lauterbach hat uns gestern wieder - das hat er schon im Dezember getan - versprochen, dass wir ein durchgerechnetes Konzept zur Bürgerversicherung vorgelegt bekommen. ({12}) Auf dieses durchgerechnete Konzept warten wir im Grunde schon seit Jahren. ({13}) Sie wissen genau, warum Sie es nicht vorlegen. Bürgerversicherung klingt schön, bedeutet aber, dass Sie Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen und vieles andere mehr mitverbeitragen würden. Dazu müssten Sie sich äußern. ({14}) - Ich kann gar nicht lügen, weil Sie gar kein konkretes Konzept vorlegen. ({15}) Insofern kann man sich zu diesen Fragen nur spekulativ äußern. Sie müssten auch einmal sagen, wo die Beitragsbemessungsgrenze liegen soll. Sie wissen ganz genau, warum Sie dieses Konzept nicht vorlegen: ({16}) Dann würden die Menschen in diesem Land, insbesondere die Facharbeiter und die Angestellten mit mittleren Einkommen, merken, dass sie wieder einmal Ihre Versprechungen bezahlen sollen. ({17}) Deswegen erhalten wir keine konkreten Zahlen von Ihnen. Auch gestern wollten Sie nicht sagen, wie Sie dieses schön klingende Konzept der Bürgerversicherung tatsächlich ausfüllen wollen. ({18}) Wer nichts tun will, muss - das sagen Sie uns immer alles so lassen, wie es ist. ({19}) Man sollte aber sagen, wie man mit diesen Herausforderungen und Entwicklungen umgehen will. Wir geben mit diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden wollen, eine Antwort auf die Frage, wie wir mit dem Defizit in diesem Jahr umgehen. Ich glaube, damit machen wir einen ersten wichtigen Schritt zur Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme. Ich würde mich freuen, wenn Sie die nächsten Schritte konstruktiv - das wäre einmal etwas Neues - begleiten. ({20}) Ich bleibe bei dem, was ich gestern gesagt habe: Wir machen uns frohen Mutes ans Werk. ({21})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetzes auf den Drucksachen 17/507 und 17/814. Der Haushaltsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/928, den Gesetzentwurf der Bundesregierung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Das Erste war die Mehrheit. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses zum Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Versicherte in der Krise schützen - Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit entschärfen“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf der genannten Drucksache, den Antrag der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/495 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit des Hauses angenommen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Niedriglöhne bekämpfen - Gesetzlichen Mindestlohn einführen - Drucksache 17/890 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Klaus Ernst für die Fraktion Die Linke. ({1})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Morgen, Herr Kolb. - Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Präsident! Wiederholt diskutieren wir hier im Deutschen Bundestag über den Mindestlohn. Zuerst zu den Fakten: In der feinkeramischen Industrie liegen die Tariflöhne zurzeit bei 8,95 Euro, in der Kunststoffindustrie bei 8,18 Euro, im Einzelhandel in NRW bei 7,73 Euro, in der Steine-und-Erden-Industrie in Thüringen - jetzt kommen wir weiter nach unten bei 6,83 Euro, im Bewachungsgewerbe in Berlin bei 5,50 Euro und im Friseurhandwerk in Sachsen bei 3,06 Euro. ({0}) Das ist die Realität. Daran wird deutlich, wie sich Leistung in diesem Lande lohnt. Ich kann Ihnen sagen - Sie von der FDP wissen das wohl am besten -: Für dieses Geld würden Sie morgens nicht einmal Ihr Augenlid heben. ({1}) Meine Damen und Herren, der Niedriglohnsektor in unserem Land hat inzwischen Ausmaße angenommen, die unerträglich sind. 1,2 Millionen Menschen, 4 Prozent der Beschäftigten, arbeiten für Löhne unter 5 Euro, für Löhne unter 6 Euro arbeiten 2,2 Millionen Menschen, für Löhne unter 7 Euro arbeiten 3,7 Millionen Menschen, und für Löhne unter 8 Euro arbeiten 5,1 Millionen Menschen. ({2}) Man kann natürlich sagen: Das hat sich zufällig so entwickelt. - Dem ist aber nicht so. Ich erinnere an das, was unser Exkanzler Schröder gesagt hat. ({3}) Er hat im Februar 1999, kurz nach seinem Amtsantritt, verkündet - ich zitiere wörtlich -: Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen … Im Jahr 2005 hat er in Davos gesagt - Zitat -: Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. Das stimmt. ({4}) Die Politik von Rot-Grün hat tatsächlich zu einer Ausweitung des Niedriglohnsektors geführt; das hängt auch mit den Hartz-Gesetzen zusammen. ({5}) Heute hat der Niedriglohnsektor im Vergleich zu 1995 ein deutlich größeres Ausmaß. Im Jahre 1995 waren 29,3 Prozent der unter 25-Jährigen im Niedriglohnbereich beschäftigt. Inzwischen sind 46,9 Prozent der unter 25-Jährigen, also fast die Hälfte, im Niedriglohnbereich beschäftigt. ({6}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie so brüllen. Wir sind doch nicht im Bierzelt! ({7}) Meine Damen und Herren, Leistung soll sich lohnen. Ich frage mich nur: Für wen? Geht es Ihnen um die Leistung der Erben, die Sie durch Ihre Gesetze vor einer besonderen Steuer bewahren wollen, geht es Ihnen um die Leistung der Hoteliers, die Sie bei der Mehrwertsteuer um die Hälfte entlasten, ({8}) oder geht es Ihnen um die Leistung der Steuerhinterzieher, Herr Kolb? Schließlich bemüht sich die FDP ja ganz besonders dafür zu sorgen, dass die entsprechenden Daten nicht in den Besitz des Staates gelangen. Herr Kolb, ich sage Ihnen - das ist das Traurige an dieser ganzen Angelegenheit -: Ihr Chef, Herr Westerwelle, kann nicht rechnen. In der Welt vom 11. Februar dieses Jahres hat er geschrieben - ich zitiere -: Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge. Mittlerweile liegen entsprechende Berechnungen vor. Dankenswerterweise hat auch das Bundesarbeitsministerium gerechnet. Es kam zu dem Ergebnis, dass jemand, der arbeitet, immer mehr Geld bekommt als jemand, der nicht arbeitet. Herr Westerwelle hat also, was den Grundtenor der Aussage angeht, nicht die Wahrheit gesagt. ({9}) Herr Kolb, wenn man ausrechnet, wie viel die Kellnerin aus dem genannten Beispiel wirklich bekommt, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass sie, wenn sie arbeitet, 345 Euro mehr bekommt, als wenn sie nicht arbeitet. Zwischen Wahrheit und Realität liegen bei Herrn Westerwelle also insgesamt 454 Euro. ({10}) Herr Kolb, angesichts dieser Rechenkunststücke kann die Bundesrepublik Deutschland von Glück sagen, dass Herr Westerwelle Außenminister und nicht Finanzminister ist. ({11}) Wäre er in Geografie genauso schlecht wie in Mathematik und würde er bei seinen Auslandsreisen selbst fliegen, dann käme er in Uganda an, wenn er in New York landen will. ({12}) Das ist das Problem, wenn Sie rechnen. Das Ziel, das Sie mit dieser Debatte verbinden, ist natürlich ein anderes. Ihr Ziel ist, diejenigen, die arbeiten, gegen diejenigen auszuspielen, die nicht arbeiten. Sie sausen durch die Gegend und verkünden Parolen, die die Menschen diskriminieren. Meine Damen und Herren, was macht die Bundesregierung? Die Bundesregierung fabuliert in ihrer Koalitionsvereinbarung davon, dass sie sittenwidrige Löhne abschaffen will. Anders formuliert: Sie will zunächst sittenwidrige Löhne einführen, um letztlich eine Untergrenze beim Lohn einziehen zu können. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, was es real bedeuten würde, wenn sittenwidrige Löhne gezahlt würden. ({13}) - Ach, Herr Weiß, wenn Sie es wenigstens wüssten; aber Sie wissen es nicht, Sie heißen nur so. ({14}) Herr Weiß, das Problem ist Folgendes: Wenn eine Friseurin oder ein Friseur jetzt 3 Euro verdient und die Grenze für sittenwidrige Löhne bei 30 Prozent unterhalb des bezahlten Branchenlohns läge, dann dürfte diese Friseurin oder dieser Friseur künftig 2 Euro verdienen. Das ist Ihre Untergrenze. ({15}) Das, was Sie machen, ist eine staatliche Aufforderung zum Lohndumping. Das geht nicht, Herr Weiß; das sage ich in aller Klarheit. ({16}) Meine Damen und Herren, Ihre Vorschläge gehen eindeutig ins Leere. Im Übrigen bringen Sie immer das Argument, dass mit der Einführung des Mindestlohns Arbeitsplätze abgebaut würden. Wir haben folgende Situation: Die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten liegt in den Niederlanden, wo es einen Mindestlohn gibt, bei 4,8 Prozent, in Großbritannien, ebenfalls mit Mindestlohn, bei 5,7 Prozent, in Schweden - ebenfalls mit Mindestlohn; dort ist er tariflich - bei 7,3 Prozent und selbst in den USA, wo es einen Mindestlohn gibt, bei 8,3 Prozent. Bei uns in Deutschland beträgt die Arbeitslosenquote bei Geringqualifizierten ohne Mindestlohn 19,9 Prozent. Ich weiß nicht, woher Sie die Weisheit haben, Herr Weiß, zu sagen, dass die Einführung des Mindestlohns zu einem Mehr an Arbeitslosigkeit in diesem Bereich führte. ({17}) Das ist durch keine Studie belegt. Jede Studie sagt Ihnen etwas anderes. ({18}) Deshalb halten wir es nach wie vor für dringend notwendig, dass eine Untergrenze des Lohnes eingeführt wird. Wir sagen in dieser Legislaturperiode: 10 Euro. Wir sehen, dass es in anderen Ländern, die nicht nur über eine Forderung diskutieren, real existierende Mindestlöhne gibt, die nah an unsere Forderung herankommen. Vielleicht nehmen Sie einmal zur Kenntnis, dass in Luxemburg der Mindestlohn zurzeit 9,73 Euro beträgt, in Frankreich 8,86 Euro - er ist übrigens 2010 um 1,7 Prozent erhöht worden, in Luxemburg um 2,5 Prozent -, in Irland 8,65 Euro, in den Niederlanden 8,64 Euro, in Belgien 8,41 Euro. Ich weiß nicht, warum Sie von der CSU, von der CDU und von der FDP eigentlich glauben, dies ganz anders machen zu können, als es in anderen Ländern in Europa der Fall ist, zumal wir gleichzeitig wissen, dass wir inzwischen Geschäftsmodelle wie bei der Pin AG finanzieren, Herr Weiß, ({19}) die darauf hinauslaufen, dass der Steuerzahler die Löhne für eine ganze Branche finanzieren soll, weil die Löhne in der jeweiligen Branche durch das Nichtvorhandensein von Mindestlöhnen immer weiter nach unten abrutschen. Das Urteil in Sachen Pin AG hat sofort dazu geführt, dass die Löhne abgesenkt wurden. Letztendlich wird das Nichtvorhandensein eines Mindestlohns in der gesamten Wirtschaft, auch in den Branchen, in denen es momentan noch Tarifverträge gibt, dazu führen, dass der Lohn real abgesenkt wird. Dies kann nicht unser Ziel sein. ({20}) Sie sind als Regierung nicht auf so etwas vereidigt. Von der Regierung sind heute ja nicht viele da; offensichtlich interessiert dieses Thema nicht sehr viele in der Bundesregierung. Aber das verstehe ich auch: Deren Löhne sind ja deutlich über dem Mindestlohn. ({21}) Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Wenn wir uns dieses Problems nicht annehmen und nicht dazu kommen, eine Grenze einzuziehen, dann wird das dazu führen, dass sich die Menschen zunehmend fragen, in welchem Interesse dieser Bundestag eigentlich Politik macht: im Interesse derer, die von niedrigen Löhnen profitieren, oder im Interesse der Menschen, die einen Mindestlohn brauchen. Ich danke fürs Zuhören. ({22})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Peter Weiß ist der nächste Redner für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier um ein ernstes Thema, das für Spiegelfechtereien nicht geeignet ist. Ich stelle grundsätzlich fest: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben einen Anspruch auf eine angemessene Entlohnung ihrer Arbeitsleistung. Lohndumping und Lohndrückerei gehören nicht zu einer sozialen Marktwirtschaft. ({0}) Zur sozialen Marktwirtschaft gehört gerechter Lohn für gute Arbeit. Das muss das Prinzip unserer Politik und auch unserer Wirtschaftsordnung sein. Soziale Marktwirtschaft heißt auch: Tarifautonomie. Nicht eine staatliche Behörde, nicht der Deutsche Bundestag, nein, Arbeitnehmer und Arbeitgeber einer Branche wissen am besten, welcher Lohn für welche Arbeitsleistung angemessen ist. ({1}) Nicht ein Bundesminister und nicht ein Parlament sind die Experten der Lohnfindung, sondern die Tarifpartner. Deshalb wollen wir die Tarifautonomie und die Tarifpartner stärken, damit es zu gerechten Löhnen in Deutschland kommt. ({2}) Unsere Politik ist also: Vorrang nicht für den Staat, sondern Vorrang für Arbeitgeber und Gewerkschaften, Vorrang für die Sozialpartnerschaft. In der Großen Koalition haben wir mit der Novellierung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes und des Mindestarbeitsbedingungengesetzes das geeignete gesetzliche Instrumentarium geschaffen. Es funktioniert auch. Bereits die vorige Bundesregierung hat in einigen Bereichen per Rechtsverordnung entsprechende Mindestlöhne festgelegt. Die neue Bundesregierung hat zum 1. Januar dieses Jahres einen Mindestlohn für die Abfallwirtschaft festgelegt. Zum 1. April werden die neuen Mindestlöhne für die Gebäudereiniger - es gibt mehrere Stufen; der höchste Mindestlohn im Westen liegt bei 11,13 Euro - und für das Dachdeckerhandwerk - bundesweit 10,60 Euro - in Kraft treten. Allein diese Beispiele für die Festlegung branchenbezogener Mindestlöhne zeigen: Hätten wir einen staatlich verordneten Einheitsmindestlohn - für ganz Deutschland, über alle Branchen hinweg -, gäbe es wahrscheinlich Bereiche, in denen dieser Mindestlohn zu einer Überforderung der Betriebe führen würde, sprich: Arbeitsplätze vernichten würde. Umgekehrt würden in Bereichen, in denen per Tarifvertrag bereits höhere Mindestlöhne durchgesetzt sind, reihenweise Betriebe aus dem Tarifvertrag fliehen, weil sie ja mit dem staatlichen Mindestlohn weniger bezahlen könnten. ({3}) In beiden Fällen wären die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Betrogenen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir durch die Einführung branchenbezogener Mindestlöhne vorankommen. Zurzeit wird über einen Mindestlohn für den Pflegebereich verhandelt. Ich halte diesen Mindestlohn für dringend notwendig. ({4}) Die Aussichten sind gut, dass die Kommission, die aufgrund der gemeinsamen Gesetzgebung von CDU/CSU und SPD eingesetzt wurde, Herr Kollege Schaaf, zum Ende des Monats März zu einem Abschluss ihrer Arbeit kommt. Auch liegt ein erster Antrag vor, einen Mindestlohn nach dem Mindestarbeitsbedingungengesetz einzuführen, und zwar der Antrag der dbb tarifunion, einen solchen Mindestlohn für Callcenter festzulegen. Außerdem gibt es nach wie vor die Möglichkeit, Mindestlöhne festzulegen, indem man Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt. ({5}) Es ist erfreulich, dass der Einzelhandel seine feste Absicht erklärt hat, diesen Weg zu einem guten Lohn für alle zu beschreiten. Im Einzelhandel haben Arbeitgeber wie Arbeitnehmer die Absicht, einen Mindestlohn einzuführen, indem man Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt. Im Übrigen signalisieren mittlerweile - auch ausgelöst durch Skandale wie bei Schlecker - die Arbeitgeberverbände aus dem Bereich der Zeitarbeit ebenfalls Bereitschaft, auf diesem Weg eine unterste Lohngrenze für Zeitarbeit in Deutschland festzulegen. Das ist erfreulich. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir, die Union, sind aus guten Gründen dagegen, dass der Staat im System der sozialen Marktwirtschaft Einheitsmindestlöhne festlegt. Wir sind allerdings sehr dafür, dass auf dem Weg über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder über das Mindestarbeitsbedingungengesetz oder dadurch, dass Tarifverträge für allgemein verbindlich erklärt werden, in jeder Branche, in der es notwendig ist, Mindestlöhne festgelegt werden, die dafür sorgen, dass für gute Arbeit ein auskömmlicher Lohn gezahlt wird, und damit Lohndumping und Lohndrückerei in Deutschland beenden. ({6}) Wir wollen diesen Weg gehen, weil wir davon überzeugt sind, dass die Entscheidung, ob - und wenn ja, in Peter Weiß ({7}) welcher Höhe - es in einer Branche einen Mindestlohn geben soll, in erster Linie den Tarifpartnern obliegen muss; denn Arbeitgeber und Gewerkschaften verstehen es besser, einen Mindestlohn festzusetzen, als jede staatliche Behörde, und weil wir davon überzeugt sind, dass ein für alle Branchen vom Staat festgesetzter Mindestlohn keine Lösung darstellt, sondern dass wir branchenbezogene Mindestlöhne brauchen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vorrang für Tarifautonomie und Vorrang für gute Lösungen, die Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam erarbeiten und die wir dann als Staat anschließend für allgemein verbindlich für alle erklären: Das und nicht der Weg über einen staatlichen Einheitsbrei, der letztendlich zur Zerstörung der Tarifautonomie und zur Zerstörung des Gestaltungsspielraums von Arbeitgebern und Gewerkschaften führen würde, ist der richtige Weg, um zu guten Löhnen in Deutschland zu kommen. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ottmar Schreiner für die SPD-Fraktion. ({0})

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Mein Wahlkreis grenzt an Luxemburg und Frankreich. Wenn ich nach Luxemburg oder Frankreich fahre und dort die Leute frage: „Kommt ihr mit eurem Einkommen einigermaßen hin?“, dann verstehen sie die Frage nicht. Der Kollege Ernst hat eben auf die Mindestlohnregelung in Luxemburg hingewiesen. Dort sind es 9,70 Euro oder etwas mehr, in Frankreich sind es rund 8,80 Euro. Bei uns müssten einige Millionen Löhne teilweise deutlich angehoben werden, wenn wir auch nur das Niveau in Frankreich erreichen wollten. Das, was der Kollege Weiß gesagt hat - Vorrang für Tarifautonomie -, klingt zunächst einmal gut. Bei näherem Hinschauen wird es dann aber schwierig. Herr Kollege Weiß, wir haben in Deutschland eine insgesamt deutlich rückläufige Tarifbindung. Im Jahr 2007 waren nur noch 50 Prozent der westdeutschen und 33 Prozent der ostdeutschen Betriebe einem Branchentarifvertrag unterworfen. Bei den Beschäftigten sieht es nicht wesentlich besser aus. Das heißt, es gibt im wachsenden Maße eine Lohnfindung jenseits der Flächentarife, und da kommen Sie mit Allgemeinverbindlichkeitserklärungen in nicht vorhandenen Tarifverträgen eben nicht weiter. Damit kommen Sie in eine Sackgasse hinein. ({0}) Nun sage ich Ihnen einmal etwas zu der Allgemeinverbindlichkeitserklärung, Herr Kollege Weiß. Ganze 1 Prozent der Tarifverträge werden nach dem Tarifvertragsgesetz für allgemein verbindlich erklärt, weil die Arbeitgeberseite voll auf der Bremse steht und keinerlei Spielraum lässt, um vernünftige Mindestregelungen in einem Branchentarif durchsetzen zu können. Wenn Sie davon reden, dass der Staat keine Einheitsmindestlöhne festsetzen soll, dann gehen Sie auch damit am Thema vorbei. Es geht nicht um Einheitsmindestlöhne, sondern es geht um gesetzliche Mindestlöhne, die dort gezahlt werden müssen, wo es keine Branchenmindestlöhne gibt oder wo die Branchenmindestlöhne so niedrig sind, dass sie unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes liegen. Dass extremer Handlungsbedarf besteht, zeigt die Nachrichtenlage der letzten Tage. Heute Morgen können Sie im Tagesspiegel, einer Berliner Tageszeitung, lesen, dass inzwischen insgesamt über 900 000 Vollzeitkräfte in Deutschland in der Armut leben. Nach den bisherigen Statistiken befanden sich etwa 400 000 Vollzeitkräfte in der Armut, die gleichzeitig Aufstocker nach Hartz IV sind, um überhaupt irgendwie über die Runden zu kommen. Seit wenigen Tagen wissen wir, dass es nach Untersuchungen der Universität Frankfurt eine Dunkelziffer von nochmals rund einer halben Million gibt, sodass es insgesamt knapp 1 Million Menschen gibt, die trotz Vollzeitarbeit nicht von ihrem Einkommen leben kann. Wenn Herr Westerwelle also auch nur einen Hauch von Anstand hätte, dann würde er sich bei all diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern entschuldigen, die er in eine Schmarotzerecke hineinzudrängen versucht hat. Wenn die FDP nur halbwegs bei Verstand wäre, dann würde sie ihre Losung „Arbeit muss sich lohnen“ gerade bei denen umsetzen, die das am dringendsten benötigen; denn diese Arbeit scheint sich eben nicht zu lohnen. ({1}) Ich will Ihnen noch etwas zum Arbeitslosengeld-IIBezug sagen. Die Zahl der erwerbstätigen Hilfeempfänger entwickelt sich in einem rasanten Tempo. Auf zehn Arbeitslose im Arbeitslosengeld-II-Bezug kommen inzwischen sechs Hartz-IV-Empfänger, die erwerbstätig sind, davon aber nicht leben können. In den letzten vier Jahren stieg die Anzahl der erwerbstätigen Hilfeempfänger, deren Einkommen nicht ausreicht, um fast 500 000. Zwischen 2005 und 2009 hat die Zahl der erwerbstätigen Armen über alle Beschäftigungsformen hinweg um rund 45 Prozent zugenommen. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 56 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die aufstockende Sozialhilfe beantragten, weil ihr Einkommen gering war; diese Zahl hat sich inzwischen versiebenfacht. Inzwischen sind wir in Europa Spitzenreiter in Sachen Niedriglöhne, aber auch in Sachen Niedrigstlöhne: Auch die Zahl derjenigen, die weniger als 5 Euro brutto verdienen, ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Eine vergleichbare Lage gibt es nur noch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort reden die Experten seit Jahren von „Working Poor“. Der deutsche Arbeitsmarkt droht nicht amerikanisiert zu werden, er ist amerikanisiert. ({2}) Deshalb brauchen wir dringender denn je eine praktikable, brauchbare Lohnuntergrenze, damit sich Arbeit in Deutschland für diejenigen, die sich täglich abbuckeln, wirklich wieder lohnt. ({3}) Die Koalition hat im Übrigen das genaue Gegenteil davon vor: Sie will die Hinzuverdienstgrenzen weiter erhöhen. Das führt im Ergebnis zu nichts anderem als zu einer weiteren Ausweitung von Lohnverträgen zulasten Dritter. Es ist eine Einladung an viele Arbeitgeber, Lohnverträge mit Dumpinglöhnen abzuschließen, die dann von Dritten, vom Staat und vom Steuerzahler, auf ein halbwegs erträgliches Minimum aufgestockt werden sollen. Das ist nichts anderes als staatlich begünstigtes Lohndumping. Sie wollen diese Politik fortsetzen und ausweiten. Das ist genau der falsche Weg. ({4}) Stattdessen brauchen wir vernünftige Lohnuntergrenzen. Ich möchte das mit einem Zitat untermauern: Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenzminimum - ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen. Das ist ein Zitat des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt aus dem Jahre 1933. Wir sind in den letzten 77 Jahren eine unvergleichlich reichere Gesellschaft geworden. Angesichts eines enorm gestiegenen gesellschaftlichen Reichtums muss das, was damals, Anfang der 30er-Jahre, galt, doch heute, im Jahre 2010, erst recht gelten: Jeder muss für seiner Hände und Köpfe Arbeit anständig entlohnt werden, um ein anständiges, menschenwürdiges Leben führen zu können. ({5}) Ich will die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU an einen ihrer politischen Ahnen erinnern: Ludwig Erhard. Die Maxime der sozialen Marktwirtschaft - so habe ich Erhard verstanden - war: Wohlstand für alle. Es hieß nicht: Wohlstand für einige. Man kann Ihnen nur sagen: Es wäre schön, wenn Sie diese Maxime nach wie vor teilen würden; Sie scheinen sie nicht mehr zu teilen. Die Maxime „Wohlstand für alle“ war für Erhard gewissermaßen das eiserne Grundgesetz der sozialen Marktwirtschaft. Wohlstand für alle ist nur bei guten Löhnen für alle möglich. Es dürfen nicht immer mehr Menschen mit Dumpinglöhnen, mit denen ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist, nach Hause geschickt werden. Deshalb: Tun Sie Buße und kehren Sie um! ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit zwei Anmerkungen zu meinen Vorrednern beginnen. Herr Kollege Ernst, Sie haben Guido Westerwelle kritisiert und dabei etwas Banales gesagt. Im Kern haben Sie nämlich gesagt: Wer Sozialleistungen bekommt, bekommt so viel wie jemand, der Sozialleistungen bekommt. Sie haben den Bezieher von Hartz IV mit dem Erwerbstätigen verglichen, der zusätzlich Leistungen nach Bundeskindergeldgesetz und Wohngeldgesetz in Anspruch nimmt. Dann kommt das heraus, was Sie gesagt haben. Tatsache ist, dass die Hans-Böckler-Stiftung - es ist sicherlich unverdächtig, sie als Zeugen zu benennen vorgestern darauf hingewiesen hat, dass 500 000 Menschen in unserem Lande ihren Anspruch auf Wohngeld und Kinderzuschlag nicht geltend machen, obwohl sie die Voraussetzungen dafür erfüllen würden, und zwar aus Gründen, die sicherlich nachvollziehbar sind, die ich aber in meiner kurzen Redezeit nicht erläutern kann. Herr Ernst, das ist der 500 000-fache Beweis dafür, dass Guido Westerwelle in dieser Debatte tatsächlich recht hat. ({0}) Möchte die Kollegin Kipping eine Zwischenfrage stellen? - Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich registriere ein Interesse der Kollegin Kipping an einer Frage und die Bereitschaft des Redners, diese zuzulassen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber ja, immer!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie haben die 500 000 Menschen angesprochen, die einen Rechtsanspruch haben, den sie aber nicht geltend machen. In der Fachsprache sind das die verdeckt Armen. Erinnern Sie sich an die Debatten, die wir schon auf der Grundlage eines Antrags der Linken zum Thema verdeckte Armut geführt haben, im dem wir uns auch mit den Ursachen für verdeckte Armut auseinandergesetzt haben? Zu diesen Ursachen zählen entweder mangelnde Kenntnis oder aber Scham und Angst vor Stigmatisierung. Viele haben Angst, das Kainsmal Hartz IV auf die Stirn gedrückt zu bekommen. Insofern ist die hohe Zahl der verdeckt Armen eher ein Beleg dafür, welchen beträchtlichen Schaden solche Äußerungen wie die von Herrn Westerwelle bei den Menschen anrichten. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Kipping, ich kann mich an die Debatten nicht erinnern, aber ich habe gestern einen Blick in die Studie der Böckler-Stiftung geworfen und festgestellt, dass es offensichtlich viele Menschen gibt, die diesen bürokratischen Weg scheuen. Denn derjenige, der den Kinderzuschlag bekommen will, muss vorher nachweisen, dass er die Voraussetzungen für den Wohngeldbezug erfüllt. Er muss seine gesamten Verhältnisse offenlegen. Für denjenigen, der aus irgendwelchen Gründen knapp die Anspruchsgrenze verfehlt, macht das keinen Sinn. 500 000 Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Insofern ist das, was Sie möglicherweise theoretisch in den Raum stellen, in der Praxis leider widerlegt, Herr Kollege Ernst und Frau Kipping. ({0}) Ein weiterer Punkt ist: Der Kollege Schreiner hat gesagt, Guido Westerwelle habe die Bezieher von Hartz IV kritisiert. Das hat er aber ausdrücklich nicht getan. ({1}) Er hat nicht die Bezieher von Hartz IV kritisiert, sondern die Gutmenschen in Deutschland, die nach dem Urteil von Karlsruhe sofort reflexhaft die Erhöhung der Regelsätze gefordert und genau das getan haben, was Karlsruhe kritisiert hat, nämlich die Bedarfssätze ins Blaue hinein zu schätzen. Sie dürfen nicht sozusagen politisch gesetzt werden, sondern sie müssen konkret begründet werden. Deswegen ist Ihre Kritik völlig unbegründet, Herr Kollege Schreiner. ({2}) Der Kollege Ernst möchte eine Zwischenfrage stellen, Frau Präsidentin.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Da Sie das gestatten, kann es jetzt geschehen.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Dr. Kolb, Sie haben erwähnt, dass Menschen auf staatliche Leistungen verzichten, obwohl ein Rechtsanspruch besteht. Ist das nicht erstens ein Beweis dafür, dass die Menschen den Staat keinesfalls ausnützen, wenn sie die staatlichen Leistungen gar nicht in Anspruch nehmen, die ihnen zustehen? Zweitens sagen Sie immer, entscheidend sei, was netto wirklich herauskommt. Ist es da nicht sinnvoll, wenn diese Menschen, die aus irgendwelchen Gründen auf die ihnen zustehenden Leistungen verzichten, durch einen Mindestlohn gar nicht in die Situation kommen, solche Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal stimme ich Ihnen zu. Wir haben öfter mal Übereinstimmungen, Herr Kollege Ernst; das können wir durchaus festhalten. Ich glaube, dass die meisten Menschen Sozialleistungen sehr zurückhaltend in Anspruch nehmen. Ich denke, es ist auch erforderlich, dass man nicht die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates austestet, sondern bei der Inanspruchnahme von Sozialleistungen immer auch mit sich selbst im Reinen ist und die Solidarität der Gesellschaft nur dann in Anspruch nimmt, wenn man keine andere Möglichkeit mehr sieht, sich selbst zu helfen. Das ist erfreulicherweise in unserem Sozialstaat der Fall, und das begrüße ich ausdrücklich. Es ist notwendig für die gesunde innere Verfasstheit eines Sozialstaates. Ihre Euphorie für Mindestlöhne teile ich ausdrücklich nicht, Herr Kollege Ernst. Insbesondere kann ich Ihre Überlegung nicht nachvollziehen, dass man mit höheren Löhnen über den Weg einer höheren Nachfrage mehr Arbeitsplätze schaffen könnte. Das funktioniert nicht. Denn wenn ein Arbeitgeber 100 Euro mehr Lohn zahlt, liegt seine Kostenbelastung unter Berücksichtigung des Arbeitgeberanteils bei 120 Euro. Der Arbeitnehmer erhält aber je nach Grenzbelastung aus Sozialversicherungsbeiträgen und Steuersätzen zwischen 50 und 70 Euro netto. Das allein ist ein krasses Missverhältnis - 50 bis 70 Euro netto zu 120 Euro Mehrkostenbelastung für die Unternehmen -, aber Sie müssen zusätzlich berücksichtigen, dass die Arbeitnehmer möglicherweise einen Teil ihres Einkommens sparen und Sie nicht sicherstellen können, ({0}) - dann nehmen Sie mein zweites Argument -, dass der höhere Nettobetrag tatsächlich zu einer höheren Nachfrage nach Produkten führt, die in Deutschland hergestellt werden. Im Klartext: Mehr Netto und die Nachfrage nach einem japanischen Auto nutzen der Produktion und den Arbeitsplätzen in Deutschland überhaupt nichts. ({1}) Das ist ein wesentliches Problem Ihrer Nachfragetheorie. ({2}) - Sie haben nach dem Mindestlohn gefragt, und ich habe auf diese Frage geantwortet. - Wenn es den Effekt gäbe, dass der Mindestlohn die Beschäftigungsquote erhöht, dann müsste es auch einen optimalen Mindestlohn geben, einen Wert, bei dem sich volkswirtschaftlich gesehen das höchste Maß an Beschäftigung einstellt. Aber genau das ist nicht der Fall. Mindestlöhne, die eine Lohnsteigerung ohne Berücksichtigung der Produktivität mit sich bringen, vernichten Arbeitsplätze. Das ist das Problem. Das haben wir bei dem Feldversuch mit den Postdienstleistungsunternehmen gesehen, als innerhalb weniger Wochen nach Einführung des Mindestlohns 11 000 Arbeitsplätze weggefallen sind. Es gibt sehr ernst zu nehmende Untersuchungen, wonach auch in anderen Bereichen massenhaft Arbeitsplätze gefährdet sind und wegfallen werden, wenn man Mindestlöhne nach Ihren Vorstellungen einführt. ({3}) - Sie können gerne noch nachlegen, wenn Sie wollen. ({4}) Der Kollege hat noch Fragebedarf.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Nun hat sich der Kollege Ernst aber hingesetzt. Nachdem es inzwischen offensichtlich gelungen ist, die Redezeit zu verdreifachen, lasse ich weitere Fragen in diesem Beitrag nicht mehr zu. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist schade, Frau Präsidentin, aber ich akzeptiere das selbstverständlich. - Herr Kollege Ernst, ich habe mir Ihren Antrag sehr genau angesehen und festgestellt, dass Sie viel über Beschäftigte in unterschiedlichen Verhältnissen reden, aber überhaupt nicht über die Arbeitslosen. Die kommen in Ihrem Antrag schlicht und ergreifend nicht vor. ({0}) Sie haben nur die Interessen der Beschäftigten im Sinn. Das sehe ich als problematisch an; denn wenn ich RotGrün in den Jahren 2004/2005 richtig verstanden habe, dann war die Idee doch gerade, dass man einen Marktzugang auch für diejenigen Menschen schafft, die einen hohen Lohn nicht erwirtschaften können. Man hat doch einen Niedriglohnsektor an unsere Volkswirtschaft angebaut, um genau das zu ermöglichen. Heute sind Sie überrascht, was daraus geworden ist. Sie, Frau Kollegin Pothmer, waren erfolgreich mit Ihrer Politik. Sie schauen jetzt aber ganz überrascht und tun so, als ob Sie das nicht gewollt hätten. Ich muss Sie wirklich fragen, ob Sie damals so wenig strategischen Weitblick gehabt haben, dass Sie nicht abschätzen konnten, dass das herauskommen wird, was heute Realität ist. Ich will erwähnen, dass das Ifo-Institut eine Studie vorgelegt hat, wonach bei einem Mindestlohn von 7,50 Euro 1,1 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland gefährdet wären. Das RWI kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Es beziffert die zusätzliche fiskalische Belastung durch den Mindestlohn sogar auf 9 Milliarden Euro. Wir nehmen also gesamtwirtschaftlich gesehen nicht mehr ein, sondern das kostet sogar 9 Milliarden Euro. Die Forderung des DGB nach einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro würde nach diesen Berechnungen 1,5 Millionen Arbeitsplätze kosten. ({1}) Davon wären alleine im Osten - Herr Birkwald, das sollte Ihre Partei besonders interessieren - laut Berechnungen von Wirtschaftsforschungsinstituten bis zu 450 000 Jobs gefährdet. Deswegen sollten Sie, Herr Kollege Schreiner, Ihre Feldversuche und Untersuchungen vor Ort nicht nur an der Luxemburger Grenze machen, sondern auch an der Grenze zu Polen; denn da sehen die Verhältnisse vollkommen anders aus. Da müssten in der Tat viele Menschen um ihren Arbeitsplatz fürchten, wenn Realität würde, was die Linken und die SPD fordern. ({2}) Leider ist meine Redezeit zu Ende. Weitere Zwischenfragen konnten leider nicht gestellt und beantwortet werden. Wir werden sicherlich demnächst in diesem Hause unsere Debatten weiterführen. Ich bedanke mich. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die These, jeder Job sei besser als gar keiner, ist barer Unsinn. Auch Sklavenarbeit ist Arbeit, aber nicht menschenwürdig. Lohndumping darf es in der sozialen Marktwirtschaft nicht geben. Deswegen muss man Mindestlöhne einführen. - Applaus, meine Damen und Herren von der CDU/CSU! Das hat nicht jemand von uns gesagt. Das hat auch kein Linker und kein Sozialdemokrat gesagt. Das hat Ihr Parteifreund Geißler gesagt. ({0}) Wissen Sie, wer dazu applaudiert hat? Wissen Sie, wer da die Laudatio gehalten hat? Ihre Bundeskanzlerin, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. ({1}) Was hat die Bundeskanzlerin in der Laudatio gesagt, in der Würdigung dieses letzten großen Sozialpolitikers in der CDU/CSU? Herr Geißler habe in seiner Sozialpolitik Maßstäbe gesetzt. ({2}) Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit gehöre zu den Konstanten seines Wirkens. ({3}) Jetzt noch einmal zum Mitschreiben für Sie: Lohndumping darf es in der sozialen Marktwirtschaft nicht geben. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Ich bitte um Applaus für Herrn Geißler. ({4}) Aber so gehen Sie mit Ihren Altvorderen um. Ich kann Ihnen nur sagen: Die Jungspunde, die heute bei Ihnen Politik machen, haben einige Mantras. Ein Mantra heißt: Wir wollen keinen gesetzlichen Mindestlohn. Ein anderes Mantra heißt: Wir wollen nicht wirklich etwas gegen Lohndumping tun. Ein weiteres Mantra heißt: Wir wollen Arbeitslosengeld II zu einem flächendeckenden Kombilohn machen. - Dann tun Sie noch so, als hätte das etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Mein Gott, wie vermisse ich Herrn Geißler in Ihren Reihen! ({5}) Die Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist hier schon angesprochen worden. Ich will nicht wiederholen, was darin gesagt worden ist. Aber eines sollten wir uns klarmachen: Das Problem der Geringverdienenden hat eine ganz andere Dimension, als wir es bis jetzt gewusst und geahnt haben. Es sind fast 1 Million Menschen, die Vollzeit arbeiten und von ihrem Lohn nicht leben können. Es ist wirklich eine Schande - dafür schäme ich mich -, dass es diese Leute nicht vermögen, die Leistungen, die ihnen zustehen, zu beantragen. Reden Sie hier nicht so ein dummes Zeug, Herr Kolb. Das hat natürlich auch etwas mit Stigmatisierung zu tun. Daran ist Herr Koch schuld. Daran ist Herr Westerwelle schuld. Sie brauchen doch ganze Bataillone von Leuten, die dieses dumme Gerede von Herrn Westerwelle hier im Parlament und anderswo verteidigen. ({6}) Aber all das nützt gar nichts. Das ist Stigmatisierung. Da steht Stigmatisierung drauf, und da ist auch Stigmatisierung drin. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde, Herr Kolb hat uns heute lange genug belästigt. Ich habe jetzt einfach keine Lust mehr. ({0}) Herr Kolb, setzen Sie sich hin und hören Sie einfach einmal zu. ({1}) Die Entwicklung im Niedriglohnsektor, Herr Weiß - das richtet sich an Sie -, schreit wirklich nach einem gesetzlichen Mindestlohn. Sie können das Problem nicht weiter bagatellisieren. ({2}) Es ist ein Beweis dafür, dass der deutsche Arbeitsmarkt aus den Fugen geraten ist. Es ist ein schlagender Beweis dafür, dass die Tarifparteien eben nicht mehr in der Lage sind, dieses Problem zu lösen. Wir reden deswegen über gesetzliche Mindestlöhne, weil die Tarifautonomie in ganzen Branchen nicht mehr funktioniert. ({3}) Das ist der Grund, warum hier die Politik gefragt ist. Hier können Sie sich nicht länger aus der Verantwortung stehlen. Für die Betroffenen ist es eine Frage der Gerechtigkeit. Aber für den Staat ist es eine außerordentlich wichtige ordnungspolitische Frage. ({4}) Die Verhältnisse sind inzwischen so, dass Arbeitgeber, die Dumpinglöhne zahlen, noch staatlich subventioniert werden, und zwar mit dem Geld, das diejenigen als Steuern zahlen, die für ihre Beschäftigten akzeptable Löhne zahlen, sodass sie von denen wegkonkurriert werden, die staatlich subventionierte Dumpinglöhne zahlen. Das ist volkswirtschaftlicher Unfug. Wenn es tatsächlich so weitergeht, dass die Steuerzahler zum Ausfallbürgen für Lohndumping werden, dann müssen wir als Politik handeln. ({5}) Dann reicht es eben nicht, Herr Weiß, noch ein bisschen an der Sittenwidrigkeit herumzudoktern. Sittenwidrige Löhne sind schon verboten; das ist doch nur weiße Salbe. Der schlagende Beweis, dass wir mit branchenspezifischen Mindestlöhnen nicht weiterkommen, ist doch längst erbracht. Ein bisschen Mindestlohn funktioniert nicht. Das ist wie ein bisschen Schwangerschaft oder ein bisschen Frieden; auch das funktioniert nicht. ({6}) Wir brauchen eine verbindliche Lohnuntergrenze. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, wir als Grüne wissen allerdings sehr genau, dass die Wirkung der Einführung von Mindestlöhnen sehr stark davon abhängt, wie der Prozess der Einführung gestaltet wird. Deswegen ist ein Mindestlohn von 10 Euro tatsächlich sehr problematisch. ({7}) Ich freue mich aber, dass ich in Ihrem Antrag lesen konnte, dass Sie unseren Vorschlag der Einsetzung einer Kommission zur Einführung von Mindestlöhnen, einer Low Pay Commission, ({8}) übernommen haben; das ist doch immerhin eine Entwicklung. Meine Damen und Herren von der CDU und von der FDP, die Zeit ist reif für die Einführung eines Mindestlohnes. Sie stehen historisch auf der falschen Seite. Nur noch notorische Scheuklappenträger - da geht mein Gruß an die Freunde historischer Vergleiche, an die FDP - können so tun, als würde die Einführung von Mindestlöhnen den Untergang des Abendlandes bedeuten. In einem Jahr kommt die Arbeitnehmerfreizügigkeit; das ist auch gut so. Sie werden aber hinweggefegt werden, wenn Sie bis dahin nichts gegen Niedriglöhne tun, wenn Sie bis dahin keine Mindestlöhne eingeführt haben. Mir persönlich missfällt diese Vorstellung zwar nicht. Aber im Sinne der Gerechtigkeit, im Sinne des sozialen Friedens in unserem Lande und im Sinne der Betroffenen kann ich nur hoffen, dass wir das Mindestlohnthema in Deutschland bis dahin gelöst haben. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich dem Kollegen Kolb für eine Kurzintervention das Wort gebe ein Hinweis: Es gibt in unserer Geschäftsordnung nicht das Recht auf Kurzinterventionen zu jeder Zeit und mehrfach in jeder Debatte. Wir sind in der Ältestenratssitzung übereingekommen, dass das weiterhin im Ermessen der jeweiligen Präsidentinnen und Präsidenten steht und dass sie dabei natürlich auch berücksichtigen, wer in einer Debatte schon ausführlich gesprochen hat; außerdem berücksichtigen sie all die anderen Kriterien, die wir dazu vereinbart haben. Wenn ich jetzt dem Kollegen Kolb das Wort gebe, ({0}) ist das also auf jeden Fall das letzte Mal innerhalb dieser Debatte. ({1}) Die Kollegin Pothmer hat dann selbstverständlich das Recht, zu erwidern, wenn sie das vorhat. Bitte, Herr Kollege Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich bedanke mich sehr für die Möglichkeit einer Kurzintervention, die ich auch wirklich kurz halten möchte; ich will maßvoll damit umgehen. ({0}) Frau Kollegin Pothmer, die Möglichkeit, aufzustocken, ist von Rot-Grün geschaffen worden; das war eine bewusste Entscheidung in Ihrer Regierungszeit. Ich wollte Ihnen mit meiner Zwischenfrage, die Sie nicht zugelassen haben, eigentlich nur sagen, dass die wachsende Zahl von Arbeitnehmern, die ergänzend Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen, für uns kein Indiz für Lohndumping ist. Ich wollte das mit einer Zahl untermauern. In der Baubranche gilt ein gesetzlicher Mindestlohn. Trotzdem gab es 2008 mehr als 40 000 Arbeitnehmer, die ihr Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken mussten, und zwar bei einem geltenden Mindestlohn von 9,50 Euro; Quelle: Bundesagentur für Arbeit. Das ist aus meiner Sicht ein nachhaltiger Beweis dafür, dass man mit einem Mindestlohn in einer großen Zahl von Fällen den Bezug von Transferleistungen nicht ausschalten kann. Deswegen war Ihre damalige Entscheidung für die Aufstockung, für den ergänzenden Transferleistungsbezug richtig. Ich wollte Sie fragen, warum Sie das heute eigentlich anders sehen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte schön.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kolb, die Frage ist doch: Wie sähe es in der Baubranche aus, wenn wir keinen Mindestlohn hätten? Es gibt 1 Million Menschen, die ergänzende Leistungen nach dem SGB II bekommen. Gerade Sie treten hier immer als Befürworter der Konkurrenzfähigkeit auf. Sie schaffen völlig ungleiche Konkurrenzbedingungen, wenn ein Arbeitgeber, der Dumpinglöhne zahlt, subventioniert wird, während ein anderer, der ehrliche Löhne zahlt, keine Subventionen erhält. Wir wollen eine Marktwirtschaft; wir wollen Konkurrenz. Aber wir wollen dem einen Rahmen geben. Es geht darum, die Konkurrenz nicht über Schmutzlöhne, sondern über die Qualität der Produkte auszutragen. Danke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Johann David Wadephul das Wort. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem die Kollegin Pothmer von den Jungspunden gesprochen hatte, die in der Union die Verantwortung für Arbeits- und Sozialpolitik tragen, habe ich festgestellt, dass der Kollege Karl Schiewerling und der Kollege Weiß auf ihrem Stuhl wirklich etwas gewachsen sind, dass die ganze Anspannung der Woche von ihnen gefallen ist. Wenn eine so anmutige und grundsätzlich intelligente Frau wie Frau Pothmer die beiden Herren hier als „Jungspunde“ bezeichnet, dann muss ich sagen: Das ist ein guter Auftakt für eine ordentliche Sachdebatte. ({0}) Der Beitrag der Kollegin Pothmer war in einigen Punkten aber vielleicht doch etwas übertrieben. Ich glaube, dass es notwendig und sinnvoll ist, dass wir den Pulverdampf wegblasen und auf diejenigen Punkte schauen, bei denen im ganzen Haus eigentlich Einigkeit besteht. Herr Kollege Weiß hat für die Unionsfraktion schon gesagt - Sie können das unterschiedlich begründen; für uns ist das christliche Menschenbild entscheidend -: Natürlich muss jeder Mensch ein Mindesteinkommen haben, von dem er selber leben kann und mit dem er, so er für andere Verantwortung trägt, für diese sorgen kann; das ist völlig unstreitig. Unstreitig ist auch - das hat der Kollege Weiß ebenfalls gesagt -, dass Dumpinglöhne sanktioniert werden müssen, dass sie auch von niemandem gutgeheißen werden und dass wir uns nicht dem unsäglichen Werbespruch „Geiz ist geil“ eines großen Elektronikdiscounters anschließen. Wir finden sicherlich Sparsamkeit richtig. Geiz jedoch ist die Perversion der Sparsamkeit. Deswegen ist es vollkommen richtig und notwendig, dass Arbeitsgerichte Dumpinglöhne für rechtswidrig und für nichtig erklären und dass sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, denen ordentliche Löhne vorenthalten worden sind, den üblichen Lohn zusprechen, dass die Arbeitgeber also verurteilt werden, einen ordentlichen Lohn zu zahlen. ({1}) Das ist gut und das ist richtig so, und das soll auch so bleiben. Der Niedriglohnsektor ist hier mehrfach erwähnt worden. Kollege Ernst hat hier vollkommen zu Recht die Aussage des früheren Bundeskanzlers Schröder auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zitiert: Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren in Europa aufgebaut. Diese Aussage wurde getätigt, Frau Kollegin Pothmer, nachdem die entsprechenden Gesetze bei Zustimmung der Grünen hier im Deutschen Bundestag eine parlamentarische Mehrheit gefunden hatten. ({2}) Sowohl Sozialdemokraten als auch Grüne sollten sich zu dem bekennen, was sie in diesem Bereich selber gesetzlich veranlasst haben, und sie sollten nicht so tun, als wenn sie unter Gedächtnisverlust leiden würden. ({3}) In diesem Bereich ist nicht alles falsch. Das Grundprinzip ist - das ist eben schon angesprochen worden -, dass wir im Niedriglohnsektor neue Arbeitsmöglichkeiten schaffen wollten. Es geht um Jobs für Menschen, die vorher Schwarzarbeit ausgeübt haben oder scheinselbstständig waren. Wir haben den Niedriglohnsektor immer als ein Sprungbrett hin zu höherwertiger Arbeit und besseren Verdienstmöglichkeiten gesehen. Das, was der Kollege Kolb vorher schon gesagt hat, ist genau richtig: In dem Moment, wo Sie diese Möglichkeit zur Beschäftigung im Niedriglohnsektor wieder verbauen, in dem Moment, wo Sie einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen festlegen, wird natürlich genau das geschehen, was vorher war: ({4}) Es wird mehr Scheinselbstständigkeit und mehr Schwarzarbeit geben. Damit geben Sie diesen Menschen Steine statt Brot.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wadephul, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Wadephul, da Sie die Verantwortung der damaligen, von Rot-Grün getragenen Bundesregierung für das Entstehen eines Niedriglohnsektors angeführt haben, möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass im Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, nachdem es dieses Parlament im Sommer 2003 passiert hatte und bevor es in den Vermittlungsausschuss kam, eine Regelung enthalten war, die da lautete: Zumutbar ist eine Arbeit nur, wenn mindestens der Tariflohn oder aber der ortsübliche Lohn gezahlt wird? Können Sie sich erinnern, dass diese Lohnunterschranke, die in das Gesetz eingezogen worden war, dann im Vermittlungsausschuss auf Betreiben von Union und FDP gekippt worden ist? ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kurth, der SGB-II-Gesetzgebung lag doch das Prinzip zugrunde, dass wir in einem Bereich, der sich bisher in Deutschland in Schwarzarbeit, Scheinselbstständigkeit oder Nichtarbeit erschöpfte, Schätze heben ({0}) bzw. Arbeitsmöglichkeiten schaffen wollten. Wir wollten natürlich denjenigen, die diese Arbeit ausführen, zusätzliche staatliche Leistungen gewähren. Dieses Ziel werden Sie geradezu konterkarieren, wenn Sie Arbeit so teuer machen, dass sie nicht mehr in Deutschland stattfindet oder, weil die Anreize dafür wieder so groß geworden sind, in Form von Schwarzarbeit stattfinden würde. Deswegen ist diese Korrektur damals sinnvoll gewesen. Ich bekenne mich durchaus dazu und nehme somit das, was Sie gesagt haben, zur Kenntnis. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, es reicht nicht aus, wie es hier ja geschehen ist, auf europäische Nachbarstaaten zu verweisen, sondern man muss auch berücksichtigen, wie viel Geld dort aufgrund der Mindestlöhne verdient wird bzw. welche Beträge als Mindestlöhne festgelegt sind. Wenn Sie, Herr Kollege Ernst, anführen, dass viele europäische Staaten einen Mindestlohn haben, müssen Sie auch sagen, ob Sie einen Mindestlohn in Höhe von 1 Euro, wie er in Rumänien oder Polen besteht, haben wollen. ({2}) Was hilft das einem Arbeitnehmer in Deutschland? In Frankreich haben wir zwar einen höheren Mindestlohn - auch auf die dortigen Regelungen wurde ja schon verwiesen -, aber in Frankreich gibt es deswegen die höchste Jugendarbeitslosigkeit mit Folgen wie den Ausschreitungen in den Vorstädten. Das ist mittlerweile anerkannt. Diesen Jugendlichen helfen Sie in keiner Weise, wenn die Arbeit zu teuer gemacht wird und damit junge Menschen nach der Ausbildung nicht in Arbeit kommen, sondern auf der Straße stehen und keine Zukunftshoffnungen mehr haben. ({3}) Die Erfahrungen mit Mindestlöhnen im europäischen Ausland sind deswegen nicht so, dass man sie für Deutschland nutzbar machen könnte und sagen müsste, es wäre zwingend, hier in Deutschland Mindestlöhne einzuführen. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, nämlich des Kollegen Birkwald? ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass es erstens in 20 von 27 Ländern der Europäischen Union einen gesetzlichen Mindestlohn gibt?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Matthias W. Birkwald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004012, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sind Sie zweitens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Durchschnitt dieser Mindestlöhne bei 8,40 Euro liegt?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Ich verweise aber auf die beiden Auswirkungen, die ich schon genannt habe: Entweder liegt der Mindestlohn so niedrig, dass er überhaupt keine Auswirkungen hat, oder er liegt, wie beispielsweise in Frankreich, so hoch, dass er Arbeitsplätze vernichtet. Deswegen bin ich der Auffassung, dass die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen falsch ist. ({0}) Im Übrigen sei an der Stelle noch einmal angemerkt, Herr Kollege Birkwald: Wir sind durchaus dafür, dass in einzelnen Branchen - der Kollege Weiß ist ausführlich darauf eingegangen - Mindestlöhne festgelegt werden, aber eben nur in einzelnen Branchen und nur dann, wenn die Tarifvertragsparteien eine entsprechende Vorlage erarbeitet haben. Das ist unsere Auffassung. Ich denke, so ist das auch richtig. Die Alternative wäre ja, dass wir in der Tat einen gesetzlichen Mindestlohn einführten und dann hier im Hohen Hause Diskussionen darüber hätten, welche Höhe angemessen ist. Meinen Sie, es würde zu einer sachgerechteren Lösung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland führen, wenn wir darüber stritten, ob nun 7,50 Euro oder 8,50 Euro, wie es der DGB jetzt beschließen will, oder 10 Euro, wie es die Linke für richtig hält, als Mindestlohn gelten sollen? Das wäre dann ein Thema im Bundestagswahlkampf in Deutschland. Damit ist niemandem geholfen, und deswegen bekennen wir uns an dieser Stelle eindeutig zur Tarifautonomie. ({1}) - Herr Kollege, die Politik muss sich dort aus gutem Grunde heraushalten. Dort gehört die Politik nicht hin. In Art. 9 unseres Grundgesetzes ist festgelegt, dass dies die Arbeitnehmer und Arbeitgeber in ihrer verbandlichen Organisation autonom regeln sollen. Das ist nicht Aufgabe der Politik. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine letzte Zwischenfrage, in diesem Fall vom Kollegen Ernst?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bitte um Verständnis. Ich möchte versuchen, den Gedankengang abzuschließen. Ich möchte mich zum Schluss dem Antrag der Linkspartei zuwenden. Was Sie hier vorschlagen - die Grünen begrüßen das jetzt; ich kann nur anregen, sich das noch einmal zu Gemüte zu führen -, ({0}) ist im Kern kein gesetzlicher Mindestlohn mehr, sondern ein exekutiver Mindestlohn. Es mag sein, dass man sich da an die Situation in der DDR erinnert hat. Wenn ein nationaler Mindestlohnrat durch die Bundesarbeitsministerin einberufen werden soll, ({1}) dann hat das Parlament darauf übrigens überhaupt keine Einwirkungsmöglichkeiten mehr. Dann gibt man das völlig aus der Hand. ({2}) Dann beschließt die Regierung mithilfe eines von ihr eingesetzten Gremiums diese Lohnbestimmung. Das ist möglicherweise eine Rückkehr zu Denkmustern aus früheren Zeiten im unfreien Teil Deutschlands. Aber das entspricht nicht unseren Vorstellungen davon, wie die Marktwirtschaft in Deutschland sozial organisiert werden sollte. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Anton Schaaf für die SPDFraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Normalerweise geht man davon aus, dass mit zunehmendem Lebensalter Erkenntnisgewinne einhergehen. Ein Erkenntnisgewinn beim Thema Mindestlohn war bei den Rednerinnen und Rednern der Koalition, insbesondere jenen der CDU, überhaupt nicht feststellbar. Ich glaube, in diesem Sinne hat Frau Pothmer von „Jungspunden“ gesprochen. In diesem Sinne sind sie Jungspunde. ({0}) Sie haben überhaupt keinen Erkenntnisgewinn beim Thema Mindestlöhne; das muss man einmal deutlich festhalten. ({1}) Herr Ernst, zur historischen Wahrheit und dazu, Erkenntnisse zu gewinnen. Als wir damals darüber gesprochen haben, wie wir mit dem Niedriglohnsektor umgehen, haben wir in der Tat sehr lange und ausführlich mit den Gewerkschaften darüber verhandelt. Wir waren uns klar darüber: Wir brauchen branchenspezifische Mindestlöhne. ({2}) Hier hat übrigens auch bei uns ein Erkenntniszuwachs stattgefunden: Mit branchenspezifischen Mindestlöhnen kommt man nicht mehr aus. Wir haben in der letzten Legislaturperiode sechs Branchen in die Mindestlohnregelung einbezogen. ({3}) Die Einbeziehung der zentralen und entscheidenden Branche hat die Union aber aus ideologischen Gründen verhindert, nämlich die der Zeit- und Leiharbeitsbranche. ({4}) Alle Voraussetzungen, die wir miteinander vereinbart haben, das Hohelied der Tarifautonomie usw., das von Peter Weiß gesungen wird, waren erfüllt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatten einen gemeinsamen Antrag gestellt. Dann sagte die Union, es gibt konkurrierende Tarifverträge, und bezog sich auf die ihr nahestehenden christlichen Gewerkschaften, die ausschließlich gegründet worden sind, um Lohn- und Sozialdumping zu betreiben. Sich auf diese mit dem Hinweis auf die Tarifautonomie zu beziehen, ist unglaublich. ({5}) Übrigens gilt das genauso für einen Mindestlohn im Postbereich; Herr Kolb, Sie haben ihn vorhin erwähnt. Das Geschäftsmodell derjenigen, die PIN und sonst wie heißen, war, Lohndrückerei und Sozialdumping von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf dem Markt durchzusetzen. ({6}) Sie berufen sich darauf, dass sie ihr Geschäftsmodell in diesem Lande nicht durchziehen konnten, weil wir den Postmindestlohn eingeführt haben. Leider Gottes sind wir bei der Zeit- und Leiharbeit gescheitert. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass man dies durch die Ein2538 führung eines allgemeingültigen gesetzlichen Mindestlohns korrigieren kann. Die Notwendigkeit hierfür ist bereits ausdrücklich erklärt worden. Die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit spielt in Ihren Überlegungen überhaupt keine Rolle. Ottmar Schreiner hat die Situation in Luxemburg und Frankreich angesprochen. Herr Kolb hat mit dem Beispiel Polen darauf geantwortet. Dazu sage ich Ihnen, Herr Kolb: Aus dieser Richtung wird es in den nächsten Jahren Probleme für Hunderttausende von Arbeitsplätzen in Deutschland geben. Sie können darauf nur mit der Einführung eines allgemeinen Mindestlohns antworten. ({7}) Es gibt überhaupt keine andere Möglichkeit, wenn Sie nicht riskieren wollen, dass Hunderttausende Arbeitsplätze in diesem Land mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem Osten Europas besetzt werden, die aus existenziellen Gründen nach Deutschland kommen. Wenn Sie hier nicht handeln, sind Sie dafür verantwortlich, dass es Tausende oder sogar Hunderttausende Arbeitsplätze weniger in diesem Land geben wird. Sie haben aber bislang nicht eine einzige Antwort. Peter Weiß, Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag nur hineingeschrieben, was sowieso durch Rechtsprechung entschieden wurde, und haben mit Hinweis auf die Tarifautonomie jede Arbeit und jede Bedingung für zumutbar erklärt. Statt die Tarifautonomie zu stärken - das wäre eigentlich nötig -, machen Sie sie kaputt. Sie unterlaufen sie, wenn Sie festlegen, dass jede Arbeit zumutbar ist, auch wenn der Lohn unter dem tarif- oder ortsüblichen Mindestlohn liegt. Sie machen die Tarifautonomie kaputt, weil Sie bereit sind, zu tolerieren, dass Löhne unter dem tarif- oder ortsüblichen Mindestlohn gezahlt werden. Sie subventionieren das auch noch und entlassen Arbeitgeber aus der Verantwortung, vernünftige Löhne zu zahlen. So werden Sie die Tarifautonomie nicht stärken, sondern die Arbeitgeber aus den Tarifverbünden regelrecht hinausjagen; denn diese wollen diese Möglichkeit nutzen. Herr Weiß, mit der Politik, die Sie machen, sind Sie eine Gefahr für die Arbeitsplätze in diesem Land. ({8}) Es ist hoch spannend, zu sehen, was Sie bei der Zumutbarkeit vorhaben. Sie wollen die Hinzuverdienstgrenzen anheben. Die Vorredner haben es schon gesagt: Das ist in der Tat nichts anderes als staatlich subventionierte Lohndrückerei. Ich habe den Eindruck, dass Sie die Korrekturen, die aufgrund der stattgefundenen Fehlentwicklungen notwendig sind, in keiner Weise vornehmen wollen. Sie sehen die Zukunft dieses Landes tatsächlich in einem flächendeckenden, subventionierten Niedriglohnbereich. ({9}) Wie Sie damit Wohlstand und Sicherheit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - auch im Alter - gewährleisten wollen, ist nicht erklärbar und begründbar. Vor dem Hintergrund der Freizügigkeit sind Sie eine Gefahr für die Arbeitsplätze in diesem Land. Vor dem Hintergrund dessen, was Sie bei der Zumutbarkeit und den Hinzuverdienstgrenzen real tun, sind Sie leider Gottes eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt in diesem Land. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDPFraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wenig hilfreich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, wenn man in dieser Diskussion einfach Vergleiche mit dem europäischen Ausland zieht. ({0}) Entscheidend ist nicht der Durchschnittslohn bzw. der Mindestlohn im europäischen Ausland, sondern die Lohnspreizung. In manchen osteuropäischen Ländern liegt der Mindestlohn bei 1 oder 2 Euro. Das ist ein wesentlicher Aspekt, den es in der Debatte zu berücksichtigen gilt. Das ist der erste Punkt. Zweiter Punkt. Der Mindestlohn stellt nur einen Anteil an den Lohnkosten dar. Man muss die Lohnkosten in den verschiedenen Ländern miteinander vergleichen, um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu kommen. ({1}) Lieber Herr Schreiner, Sie sprechen von der Amerikanisierung unseres Arbeitsmarktes. Der Soziologe Ulrich Beck spricht von einer Brasilianisierung. Es ist müßig, darüber zu diskutieren; denn das alles führt uns nicht weiter. Ich versuche es etwas einfacher und spreche Sie, Toni Schaaf, als Wirtschaftssubjekt an. Ich weiß nicht, ob Sie regelmäßig zur Maniküre in ein Nagelstudio gehen. Ich gebe freimütig zu, dass ich das nicht tue, obwohl es im Umfeld des Bundestages welche gibt. Ich weiß auch nicht, ob Sie jeden Tag Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - das hätten diese sicherlich verdient - Blumen ins Büro mitbringen. Ich mache es jedenfalls nicht. Wir beide gehören sicherlich nicht zu den Geringverdienern, die sich das alles nicht leisten können. Aber wir, die Wirtschaftssubjekte, haben ein gesundes Preis- und Wertempfinden, auf dessen Grundlage wir entscheiden, ob wir für diese oder jene Leistung Geld ausgeben oder nicht. ({2}) Das heißt, bei der Lohnfindung geht es nicht allein um einen Ausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, sondern auch um die Interessen der potenziellen Kunden, die die Preise zahlen müssen. ({3}) Frau Präsidentin, mein Kollege, Herr Schaaf, hat eine Frage.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Wenn Sie diese Frage zulassen wollen, dann hat Kollege Schaaf das Wort.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit Ihrer Einlassung haben Sie den Unterschied deutlich gemacht. In erster Linie ist Toni Schaaf kein Wirtschaftssubjekt, sondern Mensch. Auch im Wirtschaftskreislauf geht es um die Würde des Menschen. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie es in Anbetracht der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht sein Urteil auf die Würde des Menschen abhebend formuliert hat, durchhalten werden, diese Frage beim Lohn bzw. bei der Subventionierung von Lohn zu ignorieren? Es geht um die Würde des Menschen und nicht um Wirtschaftsobjekte einer Gesellschaft. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Toni Schaaf, ich habe Sie als Wirtschaftssubjekt und nicht als Wirtschaftsobjekt - das haben Sie zuletzt falsch gesagt - angesprochen. Das sind Sie. Sie haben diese Funktion. Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Das, was Sie jetzt machen, ist Rabulistik. Davon distanziere ich mich. Ich glaube, auf diesem Niveau sollten wir uns nicht unterhalten. ({0}) Natürlich ist die Welt nicht schwarz-weiß. Bei der Lohnfindung gibt es einen Graubereich - ich komme auf Ihre Frage zurück -, der die Gestaltung des Lohnes entscheidet. Die Frage ist: Sind Menschen im Arbeitsmarkt drin oder draußen? Ich sage Ihnen ehrlich: Es geht nicht darum, schwarz-weiß zu malen. Wir von der FDP stellen fest: Im Zweifel sind wir dafür, dass die Menschen in den Arbeitsmarkt integriert werden, weil - ich komme zum Thema Menschenwürde - ein Arbeitsplatz eben mehr ist als nur ein Mittel zur materiellen Daseinsvorsorge, sondern er erfüllt die weitere Funktion, die eigenen Begabungen zum Wohle der Gesellschaft einbringen zu können. ({1}) Es ist uns wichtig, die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir trauen der Politik nicht zu, in diesem Graubereich die richtige Entscheidung zu fällen. Das machen die Tarifpartner im Austausch mit den vielen Wirtschaftssubjekten, wodurch die Preis- und Lohnbildung ermöglicht wird. ({2}) Da ich noch 33 Sekunden zur Verfügung habe, möchte ich das noch ausführen: ({3}) Es geht um die Frage, wie wir die Menschen in Arbeitsprozesse integrieren. Wir wollen keinen Mindestlohn, sondern ein Mindesteinkommen. ({4}) Wir werden uns dezidiert gegen die Stigmatisierung von Mindesteinkommen wehren, liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere der Grünen. Aufstocken darf kein Skandal in dieser Gesellschaft sein. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder für die Unionsfraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer! Frau Kollegin Pothmer, zunächst herzlichen Dank. Wenige Tage vor dem Weltfrauentag haben Sie mir ein Kompliment gemacht und mich als Jungspund der CDU/CSU bezeichnet. Das habe ich gerne auf mich bezogen. Auch der Kollege Karl Schiewerling fühlt sich als Jungspund sehr wohl. ({0}) - Sie können mich gerne wieder einmal als Jungspund bezeichnen. Ich habe damit kein Problem. Lieber Kollege Ernst, Sie haben Ihren Vortrag mit einem Hinweis auf die Fakten begonnen. Das ist gut. Es gibt einen intelligenten Spruch, der lautet: Politik, insbesondere gute Politik, beginnt mit der Betrachtung der Realität. Von vielen Vorrednern wurde bereits die Situation in den Nachbarländern angeführt. Ich will das nicht zu sehr vertiefen, aber nicht unerwähnt bleiben sollte die Erkenntnis, dass auch andere beschäftigungspolitisch erfolgreiche Länder in unserer Nähe, die ein funktionierendes Tarifsystem haben - mit dem Ausschuss besuchen wir sie gern, beispielsweise Dänemark, Finnland, Norwegen, Schweden und Österreich -, keinen gesetzlichen Mindestlohn haben. Dort geht die Welt auch nicht unter, und auch dort sitzt man nicht vor der EU-Freizügigkeit wie das Kaninchen vor der Schlange. Meine Damen und Herren von der Linken, Sie haben die Mindestlohnquoten in den Nachbarländern angeführt - in Luxemburg beispielsweise liegt der Mindestlohn bei 9,73 Euro -, die Sie im Lauf der Legislaturperiode toppen wollen. Wie Ihrem Antrag zu entnehmen ist, wollen Sie einen Mindestlohn von über 10 Euro bis zum Ende 2013 einführen. Aber eines haben Sie vergessen. Was Sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wollen, wissen wir nicht. Die Grünen wollen 7,50 Euro. Die Gewerkschaft will 8,50 Euro. Mir kommt das vor wie bei einem Skatspiel: 18, 20, nur nicht passen. Das droht uns, wenn sich der Staat in die gesetzliche Lohnfindung hineinkniet. Von meinen Vorrednern wurde bereits darauf hingewiesen, dass wir oft genug hören, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer, geschweige denn der bessere Banker und sicherlich auch nicht der bessere Gewerkschafter ist. Lieber Kollege Ernst, ich habe im Kürschner nachgeschaut, ob Sie immer noch als Gewerkschaftssekretär firmieren. Sie tun das. Wir können da - darauf haben meine Vorredner auch schon hingewiesen -, wo die Tarifvertragsparteien Löhne ausgehandelt haben, einen tariflichen Mindestlohn gesetzlich übernehmen. Das ist okay. Aber ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn funktioniert nicht. ({1}) - Bitte, da kann man ruhig einmal klatschen, Herr Ackermann. ({2}) - Auch meine Fraktion könnte einmal klatschen. ({3}) Herr Ernst, der Titel Ihres Antrages - das darf ich vielleicht bestätigen - ist ja nicht schlecht: „Niedriglöhne bekämpfen - Gesetzlichen Mindestlohn einführen“. Niedriglöhne wollen auch wir bekämpfen. ({4}) Die Frage ist nur, wie wir das machen. Wir müssen aufpassen, dass wir mit den Niedriglöhnen nicht auch die „niedrigen“ Arbeitsplätze komplett bekämpfen, dass wir nicht Arbeitsplätze vernichten. Darüber streiten wir im Ausschuss, auf Fachebene. Was bringt ein gesetzlicher Mindestlohn? Wir vertreten die Auffassung: Er macht mehr kaputt, als er hilft. Sie sagen: Er ist das Allheilmittel. Er rettet die Welt. Die Hans-Böckler-Stiftung, die wahrlich nicht als Weihrauchschwenker der Regierung verschrien oder als Lobhudeleimaschine für die Bundesregierung bekannt ist, hat die bei Einführung eines Mindestlohns zu erwartenden Arbeitsplatzverluste errechnet - das wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. Februar 2010 ausgeführt; das ist also relativ aktuell -: Bei 5 Euro Mindestlohn werden 659 000 Arbeitsplätze vernichtet, bei 6 Euro sind es 832 000, bei 7,50 Euro werden - das gilt für die Grünen, Frau Pothmer; hören Sie mir einmal zu ({5}) gut 1,1 Millionen Arbeitsplätze vernichtet, und bei 10 Euro Mindestlohn - Kollege Ernst, jetzt sind wir bei Ihnen - sind es mehr als 1,9 Millionen Arbeitsplätze. ({6}) - Von der Hans-Böckler-Stiftung. Ich gebe Ihnen die Aufstellung gern, Herr Kollege Troost. Kommen Sie nachher zu mir. Ich brauche es nicht. Dann können Sie sich das einmal anlesen. Zu Ihnen, Herr Kollege Ernst.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Lehrieder, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst zulassen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte gerade im vorauseilenden Gehorsam Ja sagen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Dann hat der Kollege Ernst das Wort. ({0})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Kollege, dass Sie die Frage zulassen. Ich will wissen, welche Studie Sie meinen. Mir liegt eine Aussage der Hans-Böckler-Stiftung vor. Ich will die Quelle nennen: Böckler Impuls, 3/2000. Dort heißt es - ich zitiere -: Die Wissenschaftler vom Institut Arbeit und Qualifikation … haben einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zusammengestellt. Darin berichten sie von zahlreichen empirischen Studien aus den USA und Großbritannien, die Jobzuwächse infolge von Mindestlohn-Erhöhungen statt der erwarteten Verluste beobachtet haben. ({0}) Welche Quelle zitieren Sie? Mir ist das nicht bekannt. In allen Quellen, auch Studien, die ich kenne, wird das Gegenteil von dem gesagt, was Sie gerade behauptet haben. ({1})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, herzlichen Dank für den Einwand. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr Ihre Studie ist. Sie haben „3/2000“ gesagt. ({0}) - Alles klar. Dann ist das möglicherweise sogar korrekt. Meine Damen und Herren, ich habe die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Februar 2010 zitiert, die sich auf die Hans-Böckler-Stiftung bezogen hat. Ich bin gerne bereit, diese Zahlen zu verifizieren und Ihnen privatissime zu erklären, wo sie herkommen. ({1}) - Dafür bin ich sehr dankbar, Herr Troost. Das meine ich wirklich ernst. Ich bin mit der Beantwortung Ihrer Frage fertig, Herr Ernst. - Wir diskutieren über die richtigen Mittel und die richtigen Wege, um ein Problem hier bei uns zu lösen. Die Zuschauer an den Fernsehgeräten, aber auch die Zuschauer hier, im Plenarsaal, haben kein Verständnis, wenn wir uns aus rein prinzipiellen Überlegungen auf den Kopf hauen. Wir müssen schauen, wie wir eine Lösung finden. Wir streiten um die richtigen Instrumente für die Erreichung eines gemeinsam angestrebten Zieles. Da sind wir noch weit auseinander. ({2}) Bei dem Thema Mindestlöhne haben Sie auch Frankreich angesprochen. Lieber Kollege Ernst, ich muss Sie einmal fragen: Wissen Sie, wie hoch die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich derzeit ist? ({3}) 20 Prozent. Wissen Sie, wie hoch sie in Deutschland ist? 10 Prozent. Ein Mindestlohn führt also insbesondere bei den Jugendlichen nicht zwangsläufig zu einer Vollbeschäftigung. Wissen Sie, wo die meisten Jugendaufstände sind? - In den Vororten von Paris. Zum Glück haben wir diese Situation noch nicht. ({4}) - Der Mindestlohn führt auch dazu, dass Jugendliche, die vielleicht zudem Einstellungshindernisse haben, es noch schwerer haben, einen Job zu bekommen. Diese haben wir auch in Deutschland. ({5}) Auch in Deutschland haben wir Jugendliche mit Sprachproblemen. Wir haben Jugendliche, die Einstellungshindernisse haben. Bei einem Mindestlohn von 10 Euro hätten sie sicher noch weniger Chancen, einen Ausbildungsplatz oder gar einen Job zu bekommen. ({6}) Ich habe ausgeführt, dass der Mindestlohn ein zweischneidiges Schwert ist. Ist er zu niedrig, ist sein Nutzen als Armuts- und Ausbeutungsabwehr schlichtweg gering. Liegt er über dem bisherigen Lohn, gibt es für die Betroffenen nur zwei Möglichkeiten: Entweder werden sie mehr verdienen - das behaupten Sie - oder viele verlieren leider ihren Arbeitsplatz; davon sind wir überzeugt. ({7}) Deshalb haben wir mit dem Kombilohn, mit der Möglichkeit des Aufstockens durchaus adäquate Mittel, die soziale Absicherung von Geringverdienern zu erreichen. Kollege Kober hat bereits darauf hingewiesen: Arbeit ist mehr, als Geld zu verdienen, Arbeit ist auch Verwirklichung des Grundrechts auf Menschenwürde. ({8}) Natürlich ist Arbeit mit einem ausreichenden oder möglichst hohen Einkommen für jeden angenehmer; da haben Sie völlig recht. Aber Sie müssen auch wissen: Egal über welchen Mindestlohn wir diskutieren, ob 7,50 Euro, 8,50 Euro oder 10 Euro, eine Familie mit zwei kleinen Kindern werden Sie von keinem der derzeit in der Diskussion befindlichen Mindestlöhne ernähren können. ({9}) Unsere Sozialleistungen entsprechen derzeit einem Mindestlohnniveau von 11,80 Euro. Frau Kollegin Krellmann hat gestern bei der Diskussion feuchte Augen bekommen, als ich das gesagt habe. Die nächste Forderung lautet: Wenn ich mich und meine Familie von einem Lohn ernähren können soll - das wird in der Bevölkerung durchaus so gesehen -, dann ist ein Mindestlohn von 7 Euro oder 10 Euro zu wenig; diesen Familien müssen wir mehr geben. ({10}) Viele derjenigen, die jetzt ergänzende Sozialleistungen beziehen, sind Familien. ({11}) Mit der Entfristung und Vereinfachung des Kinderzuschlages haben wir mit der SPD Gutes gemacht, lieber Kollege Schaaf, lieber Kollege Juratovic. Ich könnte noch einiges zu dem Thema sagen. Ich schätze, dass dies noch nicht die letzte Diskussion über diese Thematik war, lieber Kollege Ernst. ({12}) - Versprochen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Danke schön. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Josip Juratovic für die SPDFraktion. ({0})

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer Arbeit leistet, verdient Wertschätzung und Fairness. Zu Wertschätzung und Fairness in der Arbeitswelt gehört auch eine anständige Entlohnung. Wir haben in unserem Land aber viele Leistungsträger, die nicht anständig und fair entlohnt werden. Es kann nicht sein, dass viele Beschäftigte trotz Vollzeitarbeit und Überstunden ihre Familien nicht ernähren können, ohne vom Steuerzahler Almosen zu erhalten. ({0}) Die kalkulierte Almosenverteilung ist weder christlich noch hat sie etwas mit Freiheit zu tun. Denn zur Freiheit gehört auch finanzielle Freiheit. ({1}) Leistung muss sich wieder lohnen, fordern Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP. Wer arbeitet, müsse mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. ({2}) Ja, da stimme ich Ihnen zu. Leistung lohnt sich aber erst dann, wenn sie auch fair bezahlt wird. ({3}) Leistung lohnt sich, wenn man von der Arbeit, die man leistet, menschenwürdig leben kann. ({4}) Daher wird sich Leistung für viele Leistungsträger in Deutschland erst dann wieder lohnen, wenn wir einen allgemeinen und flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben. ({5}) Ich finde es unverschämt, dass der Ersatzsozialminister Guido Westerwelle eine Diskussion führt, in der er unterbezahlte Facharbeiter gegen Hartz-IV-Empfänger ausspielt. ({6}) Dazu fällt mir nur unser guter, alter Platon ein: „Der höchste Grad von Ungerechtigkeit ist geheuchelte Gerechtigkeit.“ ({7}) Wenn Sie es mit Ihrer Forderung nach mehr Gerechtigkeit ernst meinen, müssen Sie sich in der Bundesregierung für den Mindestlohn als gesetzliche Lohnuntergrenze einsetzen und nicht dagegen. ({8}) Es ist eine Frage der Moral und wichtig für das Selbstwertgefühl, dass geleistete Arbeit auch anständig bezahlt wird. Für ein gesundes Selbstwertgefühl eines Menschen ist es wichtig, dass er von seiner Vollzeitarbeit seine Familie ernähren kann; das sagen auch die Familienministerin und die Arbeitsministerin in vielen Talkshows. Sicherlich gehören zum politischen Geschäft von Zeit zu Zeit auch Showeffekte. Doch irgendwann muss man das, was man versprochen hat, auch umsetzen. Sonst verliert die Politik noch mehr an Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hängt übrigens auch direkt mit diesem Haus zusammen, wenn man bedenkt, unter welchen Lohnbedingungen Menschen hier im Deutschen Bundestag arbeiten: beim Fahrdienst, bei den Sicherheits- und Reinigungskräften. ({9}) Werte Kolleginnen und Kollegen, es sprechen nicht nur moralische Gründe für einen gesetzlichen Mindestlohn. Lassen Sie mich drei weitere Gründe aufzählen: Erstens. Wenn wir Altersarmut vermeiden wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Rentner von morgen heute vernünftig einzahlen können; ({10}) auch das gehört zur politischen Glaubwürdigkeit. Im Übrigen sind auch die heutigen Rentner bei der Erhöhung ihrer Renten auf die Lohnzuwächse der Beschäftigten angewiesen. Mit einem Mindestlohn schaffen wir faire Renten, heute und in der Zukunft. Zweitens. Wenn wir Mindestlöhne einführen, sorgen wir für mehr Kaufkraft in Deutschland und kurbeln die Binnennachfrage an, gerade jetzt in der Krise. Eine stärkere Binnennachfrage schafft Arbeit. Deswegen wird der Mindestlohn nicht zu einem Minus, sondern zu einem Plus an Jobs führen. ({11}) Großbritannien hat den Mindestlohn bereits 1999 eingeführt. Er hat dort weder zu Arbeitsplatzabbau noch zu Arbeitsplatzverlagerungen geführt. ({12}) Drittens. Ein Mindestlohn würde bewirken, dass wir in Deutschland nicht länger einen Wettbewerb um Unterbieten und Dumpinglöhne, sondern einen Wettbewerb um Innovation und Fortschritt hätten. Dieser Meinung sind übrigens auch die meisten Unternehmen in unserem Land. Sie sind der Auffassung, dass Lohnunterbietung nur Subunternehmen nutzt, die den schnellen und rücksichtslosen Profit suchen, und zwar auf Kosten der Qualität. Unser Motto muss deswegen lauten: Günstig statt billig. Das ist vor allem im nächsten Jahr wichtig, wenn die Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten aufgrund der Vollendung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ohne Einschränkung in Deutschland arbeiten dürfen. Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten wollten einen gesetzlichen Mindestlohn bereits in den vergangenen Jahren einführen. Mit unseren damaligen Koalitionspartnern, CDU und CSU, ließen sich jedoch nur Mindestlöhne für bestimmte Branchen einführen. ({13}) Doch gerade in der Krise hat sich gezeigt, dass alle Beschäftigten in Deutschland einen Mindestlohn brauchen. Werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich appelliere auch an Ihr christliches Menschenverständnis: Setzen Sie sich dafür ein, dass alle Beschäftigten in Deutschland das für den Lebensunterhalt ihrer Familien Notwendige allein aus ihrer Vollzeitarbeit bestreiten können, und verstecken Sie sich nicht hinter der Tarifautonomie, die Sie vorher durch Unterstützung der vermeintlich christlichen Pseudogewerkschaften geschwächt haben. Kolleginnen und Kollegen von der Linken, in der Sache sind wir uns gar nicht so fern. ({14}) Uns unterscheidet aber vor allem der Politikstil. Manchmal scheint Robin-Hood-Politik gerecht zu sein, und sie kommt bei vielen Menschen zunächst einmal gut an. Eine solche Robin-Hood-Politik gefährdet aber den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn Sie einen Mindestlohn von 10 Euro fordern, dann bremsen Sie dieses Projekt eher. Ich gebe zu: 10 Euro sind nicht besonders viel. Aber erstens ist es unseriös, wenn Sie einen Mindestlohnrat einsetzen, seine Ergebnisse aber schon im Voraus beschließen wollen, und zweitens ist es unseriös, wenn wir mit einem Mindestlohn starten, der höher als in jedem anderen Staat der Welt ist ({15}) und der fast jeden vierten abhängig Beschäftigten in unserem Land betrifft; das wird schwierig. Wir Politiker müssen für das, was wir ändern, auch eine gesellschaftliche Akzeptanz herstellen, und zwar in diesem Fall möglichst schnell. Dies erreichen wir mit Ihrer Robin-HoodStrategie nicht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Juratovic, achten Sie bitte auf die Redezeit!

Josip Juratovic (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003782, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Zum Erfolg kommen wir nur mit einem moderaten und vernünftigen Einstieg in den Mindestlohn. Wir Sozialdemokraten werden in den kommenden Wochen einen eigenen Antrag einbringen, um dafür zu sorgen, dass der Mindestlohn gesellschaftliche Akzeptanz erfährt und eine breite politische Tragfähigkeit bekommt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Reiner Deutschmann für die FDP-Fraktion. ({0})

Reiner Deutschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004027, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine Vorredner haben es schon erwähnt: Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt die Einführung eines flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns unabhängig von der Höhe ab. Für uns hat die Tarifautonomie absoluten Vorrang. ({0}) Aus diesem Grund möchte ich hier einige generelle Anmerkungen machen: Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke ist wie so viele Anträge dieser Fraktion - ({1}) - Eben, eben. Die Linke erklärt sich zum alleinigen Vertreter der Rechte und Anliegen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dabei blendet sie aber regelmäßig aus, wie die wirtschaftliche Lage dieses Landes tatsächlich aussieht. ({2}) Sie möchte Wohltaten in Form von unzähligen Milliarden Euro verteilen, ohne zu klären, wer diese Milliardenausgaben finanzieren soll. Sie schreibt Antrag über Antrag, ohne zu erwähnen, wie die Finanzierung erfolgen soll. ({3}) Wenn Sie Ihre Anträge einmal zur Hand nehmen und deren volkswirtschaftlichen Effekt kumulieren, dann dürften Sie und selbst der Kollege Ernst feststellen, dass unser Solidarsystem aus den Angeln gehoben würde, wenn die Summen, die Sie ständig fordern, hier tatsächlich beschlossen werden würden. ({4}) Aber vielleicht ist gerade dies Ihre Absicht. Das Solidarsystem lebt von der Solidarität; das steckt schon in diesem Begriff. Sie aber überstrapazieren diesen Begriff seit Jahren und betrachten ihn als Einbahnstraße. ({5}) Sie wollen Milliarden Euro der privaten und öffentlichen Hand verteilen, als sei es Spielgeld. Kommen Sie aber selbst in der politischen Verantwortung an, ({6}) halten Sie als Tarifpartner in Berlin die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes kurz. ({7}) Das ist Doppelzüngigkeit, und Ihre Doppelzüngigkeit ist manchmal kaum noch auszuhalten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was eine solche Politik einbringt, sehen wir derzeit in Griechenland. Dort hat der Staat jahrzehntelang über seine Verhältnisse gelebt, ohne sich um eine solide Gegenfinanzierung Sorgen zu machen. ({8}) Andere Generationen werden die Suppe auslöffeln müssen, im Zweifelsfalle auch wir. ({9}) Leisten Sie, liebe Linke, doch lieber einen Beitrag dazu, dass Kinder wieder Handlungsspielräume haben, anstatt sie immer enger zu stricken. ({10}) Generationengerechtigkeit scheint für Sie ein Fremdwort zu sein. Was nun den Mindestlohn angeht, sind wirklich alle Argumente ausgetauscht. Ob es 7,50 Euro oder 10 Euro sind, gleich bleibt in allen Fällen, dass gerade diejenigen getroffen werden, die über keine oder nur geringe Qualifikationen verfügen. Ihnen droht die lebenslange Arbeitslosigkeit. Mindestlöhne sind hier kontraproduktiv. ({11}) Höhere Mindestlöhne vernichten gerade im Niedriglohnsektor Arbeitsplätze, führen zu Schwarzarbeit und zu Jobverlagerung ins Ausland. Verschließen Sie doch bitte nicht die Augen vor der Realität! ({12}) Entscheidend ist ein Mindesteinkommen, und das erreichen Sie eben nicht mit einem Mindestlohn. ({13})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Matthias Zimmer für die Unionsfraktion. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man mich dieser Tage fragt, was die Linken denn so tun, so kann ich mit Bert Brecht nur antworten: Sie bereiten mit großer Mühe ihre nächsten Irrtümer vor. ({0}) Der gesetzliche Mindestlohn, den Sie fordern, ist ein solcher Irrtum, und er wird nicht dadurch besser, dass Sie mit der SPD und den Grünen Bundesgenossen im Irrtum gefunden haben. Worum geht es eigentlich bei der grundlegenden Fragestellung der heutigen Diskussion? Es geht um die Frage, ob Menschen in ihrer Möglichkeit der Lebensgestaltung ausschließlich den Marktmechanismen von Angebot und Nachfrage unterworfen werden. Dazu hat der Kollege Peter Weiß für die Union schon gesagt: Nein, das wollen wir nicht. Wenn wir den Anspruch ernst nehmen, dass Wirtschaft die Kulturleistung zur Daseinsvorsorge des Menschen ist, dann ist der Mensch - Herr Kollege Kober hat es erwähnt - natürlich nicht Mittel und Objekt der Wirtschaft, sondern Wirtschaftssubjekt. Die traditionelle Wirtschaftspolitik wusste ebenso wie Ludwig Erhard sehr gut, dass die Wirtschaft keine autonome Sphäre, sondern auf den Menschen bezogen ist. Das gilt auch für den Bereich der Lohnfindung, die in Deutschland - anders als in anderen Staaten - traditionell Sache der Tarifparteien ist. Insofern ist die Diskussion, die wir heute führen, eher ein Anzeichen für die Schwäche der Tarifpartner, vor allen Dingen der Gewerkschaften, als ein Anzeichen für ihre Stärke. Die Bindungswirkung der Gewerkschaften lässt nach. Deswegen stellt sich die Frage nach einer neuen Ordnung, die Frage, wie bei abnehmender Bindungswirkung der Gewerkschaften Tariffindung und Lohnfindung vernünftig stattfinden sollen. Wir haben nicht vor, die Gewerkschaften durch die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns weiter zu schwächen. Wir wollen branchenbezogene Mindestlöhne. Bei branchenbezogenen Mindestlöhnen bleiben die Gewerkschaften bei der Lohnfindung im Boot. ({1}) Nicht zielführend ist der Antrag der Linken. Hier gibt es einen Überbietungswettbewerb wie bei eBay: 7,50 Euro Mindestlohn, 8,20 Euro Mindestlohn, 9,40 Euro Mindestlohn, 10 Euro Mindestlohn. Das ist nicht hilfreich. Aber setzen wir uns mit den Begründungen auseinander, die Ihrem Antrag zugrunde liegen: Sie behaupten, die Einführung eines Mindestlohns führt nicht zum Abbau von Arbeitsplätzen. David Neumark und William Wascher haben 2008 über 300 Studien - aus mehreren Ländern - ausgewertet, in denen es um die Frage Mindestlohn/Arbeitsplätze geht. Schwerpunkt ist die Zeit seit den 90er-Jahren. Drei Ergebnisse ihrer Auswertung erscheinen mir bemerkenswert - das sage ich auch vor dem Hintergrund, dass Anton Schaaf einen Erkenntnisgewinn angemahnt hat; ich hoffe, dass dieser Erkenntnisgewinn damit erfolgt -: Die erste Erkenntnis aus der Auswertung der Studien ist: Mindestlöhne führen zu einer Abnahme der Arbeitsmöglichkeiten für niedrigqualifizierte Arbeitnehmer. ({2}) Der zweite Punkt: Mindestlöhne sind für Familien, die in Armut leben, eher schädlich. ({3}) Der dritte Punkt: Mindestlöhne haben negative Effekte auf die Bildungschancen junger Arbeitnehmer. Neumark und Wascher resümieren: Die überwiegende Zahl der Studien zeigt, dass die Einführung von Mindestlöhnen negative Aspekte mit sich bringt. ({4}) Ich gebe zu, meine Damen und Herren: Das ist nicht im Sinne Ihrer Ideologie gewichtet; aber man muss das Ergebnis dieser Studien einmal zur Kenntnis nehmen. Sie bemühen internationale Vergleiche und haben eben behauptet, der Mindestlohn liege in Europa im Schnitt bei 8,40 Euro. Einen Mindestlohn von mehr als 8,40 Euro haben in Europa nur fünf Länder; in fünfzehn Ländern liegt der Mindestlohn unter 8,40 Euro. Wie Sie angesichts dessen auf 8,40 Euro kommen wollen, das kann nur sozialistische Mathematik leisten. ({5}) - Ja, ja, wir müssen gewichten. ({6}) - Das ist sozialistische Mathematik. Vielen Dank, Herr Ernst, dass Sie mich extra darauf aufmerksam gemacht haben. Sie führen einige internationale Vergleiche an. So heißt es in Ihrem Antrag: Auch Großbritannien ist ein Beispiel dafür, dass die Einführung eines Mindestlohns nicht zu Arbeitsplatzverlusten führt. Ich habe mir das einmal angeschaut: Der Mindestlohn beträgt für über 22-Jährige 5,80 Pfund - das sind 6,42 Euro -, für 18- bis 21-Jährige sind es umgerechnet 5,28 Euro. Von einem einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn kann also nicht gesprochen werden. Nach den Aussagen des Londoner Oberbürgermeisters kann man von diesem Mindestlohn in London nicht leben. Der Mindestlohn liegt in Großbritannien bei etwa 40 Prozent des Durchschnittseinkommens. Wenn wir diese Höhe zugrunde legen, kommen wir für das Jahr 2009 für Deutschland auf einen gesetzlichen Mindestlohn von 6,43 Euro. Das ist ein ganz schöner Unterschied zu den 10 Euro, die Sie fordern. ({7}) - Warten Sie doch einmal ab mit Ihrer Schreierei, bis ich mit meinem Argument zu Ende bin! Dann können wir uns unterhalten. Sie behaupten, die Einführung des Mindestlohns habe nicht zu Arbeitsplatzverlusten geführt. Das sehen Neumark und Wascher in einer 2007 veröffentlichten Studie ganz anders. Dort heißt es, der Hauptteil der Forschungen über Großbritannien habe nur kurzfristige Aspekte untersucht, längerfristige Aspekte seien noch nicht bearbeitet. Neumark und Wascher glauben nicht, dass die Daten aus Großbritannien eindeutig in die eine oder in die andere Richtung zeigen, ({8}) und sie glauben auch nicht, dass Großbritannien ein starkes Argument dafür ist, zu behaupten, dass die Einführung eines Mindestlohns die Nachfrage nach Arbeit nicht reduziert. - Das muss man zur Kenntnis nehmen: Die Wissenschaft unterstützt Ihr Argument nicht. In Frankreich liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 8,82 Euro. Sie behaupten in der Begründung Ihres Antrags, dass die Arbeitslosigkeit durch diesen Mindestlohn nicht gestiegen sei. Was Sie dabei verschweigen: Der Staat subventioniert den Mindestlohn, um negative beschäftigungspolitische Konsequenzen aufzufangen. ({9}) Beispielsweise reduziert er Sozialversicherungsbeiträge bis zum 1,6-Fachen des Arbeitslohns, und es gibt eine zweijährige Befreiung, wenn man Arbeitslose einstellt.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Zimmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen?

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber selbstverständlich. ({0})

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003888, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Zimmer, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Zu den internationalen Vergleichen. Dazu gibt es eine Reihe von Studien, nicht nur die, die Sie eben genannt haben, sondern auch von anderen. Es ist sicherlich richtig, dass es unterschiedliche Ergebnisse für unterschiedliche Länder gibt. Es gibt auch Länder, in denen es negative Wirkungen durch den Mindestlohn gibt - zumindest in Teilbereichen. Die Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich ist ja schon angesprochen worden. Wenn man sich aber die Ergebnisse aller bisherigen internationalen Vergleiche für Großbritannien anschaut - es gibt Studien dazu; das wird auch in der Studie von Neumark und Wascher stehen -, dann stellt man fest, dass es dort keine negativen Beschäftigungseffekte gegeben hat. Es gibt ein paar Studien, die sogar von positiven Effekten sprechen. Insofern ist die Behauptung, dass zwar in allen bisherigen Studien noch keine negativen Effekte dargestellt wurden, diese in Zukunft aber wahrscheinlich irgendwann auftreten müssten, reine Ideologie. Kennen Sie diese Studien zu Großbritannien, und können Sie bestätigen, dass es bisher keine negativen Beschäftigungseffekte gibt? Unsere Schlussfolgerung daraus ist: Man muss den Mindestlohn richtig gestalten, nämlich zum Beispiel so, wie in Großbritannien. Das ist ein Land, das durchaus mit unserem vergleichbar ist.

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Strengmann-Kuhn, vielen Dank für die Frage. - Ich weise lediglich darauf hin, dass Neumark und Wascher in ihrer Studie gesagt haben: Es ist noch zu früh, um abschließend beurteilen zu können, ob es negative oder positive Effekte gibt. Sie sagen auch, dass durch die Erkenntnisse darauf hingewiesen wird, dass das angeführte Argument, durch den Mindestlohn würden keine Arbeitsplätze vernichtet werden, in sich nicht stimmig ist. ({0}) Mir scheint schon durch diese Stichprobe belegt zu sein, dass Sie sich das zu einfach machen. Ihre Annahmen, auf denen Sie Ihre Forderungen aufbauen, werden durch die empirischen Befunde nicht gestützt. Man könnte weitere kritische Fragen hinsichtlich Ihrer Position stellen, Herr Ernst. Warum muss der Mindestlohn in Deutschland beispielsweise so deutlich über dem in Frankreich liegen, obwohl die Lebenshaltungskosten in Frankreich deutlich höher sind? Wie steht es mit dem Verhältnis von Branchenmindestlöhnen zu gesetzlichen Mindestlöhnen? Sie wollen Erstere nur gelten lassen, wenn sie höher sind als der gesetzliche Mindestlohn. Die Tarifautonomie ist aber doch grundgesetzlich geschützt. Müsste sie nicht Vorrang vor dem Gesetz haben? Es gibt viele Fragen, und bei Ihnen finden wir nur Schlagworte, Halbwahrheiten und einfachste Rezepte. Damit haben Ihre Vorgänger schon einmal einen Staatsbankrott hingelegt. Ihre Vorschläge kommen mir ein wenig so vor wie die Moralpredigt aus einem gestohlenen Buch: unglaubwürdig. Mit Ihren völlig überzogenen Forderungen in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zeigen Sie nur: keine Erkenntnisfortschritte. Für uns gibt es keinen Grund, es Ihnen da gleichzutun. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/890 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften - Drucksachen 17/506, 17/813 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 17/923, 17/939 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Dr. Daniel Volk Dr. Thomas Gambke - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 17/929 Berichterstattung: Abgeordnete Norbert Barthle Carsten Schneider ({2}) Otto Fricke Alexander Bonde Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, die nicht mehr mit uns an dieser Aussprache teilhaben können, den Saal zu verlassen, und die anderen bitte ich, Platz zu nehmen. Vizepräsidentin Petra Pau Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe für die Unionsfraktion. ({3})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute in zweiter und dritter Lesung auf unserer Tagesordnung stehende Gesetzentwurf zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften enthält eine Vielzahl steuerrechtlicher Vorschriften. Mit dem zügigen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens beweist die christlich-liberale Koalition ihre steuerpolitische Handlungsfähigkeit. ({0}) Zum einen setzen wir zwingende EU-Vorgaben endlich um; ({1}) zum anderen beschließen wir weitere konjunkturstärkende Maßnahmen. Lassen Sie mich einen kurzen Überblick über den Gesetzentwurf geben. Erstens. Die europarechtlichen Vorgaben, die umzusetzen waren, führten zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen. Ich komme später ausführlicher darauf zurück. Zweitens. In Umsetzung eines EuGH-Urteils sind die Zulageberechtigung und der entsprechende Sonderausgabenabzug bei der sogenannten Riester-Förderung künftig an die Mitgliedschaft in einem inländischen Alterssicherungssystem gebunden, nicht mehr an die unbeschränkte Steuerpflicht. Drittens. In Umsetzung eines weiteren EuGH-Urteils wird die steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden und Mitgliedsbeiträgen grundsätzlich auf entsprechende Einrichtungen in einem EU-Mitgliedstaat ausgedehnt. Viertens. Die degressive Gebäude-AfA kann rückwirkend für alle noch offenen Fälle auch für Gebäude im EU-Ausland in Anspruch genommen werden. Fünftens. Die nach dem Umsatzsteuerrecht erforderlichen zusammenfassenden Meldungen sind zum Zweck einer besseren Bekämpfung des Umsatzsteuerbetrugs künftig monatlich zum 25. abzugeben. All diese Maßnahmen basieren auf EU-Vorgaben. Wir setzen aber auch konjunkturpolitische Impulse: Erstens. Wir konkretisieren die Besteuerung bei Funktionsverlagerungen. Diese entspricht jetzt internationalen Standards und wird nicht mehr zulasten von Arbeitsplätzen in Deutschland gehen. Das wird gerade in den wichtigen Zukunftsbereichen Forschung und Entwicklung Arbeitsplätze schaffen. Mehr dazu erfahren Sie später von meinem Kollegen Middelberg. Zweitens. Leasing- und Factoring-Unternehmen werden als wichtige Mittelstandsfinanzierer gewerbesteuerrechtlich den Kreditinstituten gleichgestellt. Drittens. Mitarbeiterkapitalbeteiligungen werden steuerlich besser gefördert. Viertens. Zwecks Eindämmung der jüngst bekannt gewordenen Umsatzsteuerbetrugsfälle beim Handel mit CO2-Emissionszertifikaten führen wir auch hier das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren ein. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sind still und beeindruckt von der Vielzahl der steuerpolitischen Maßnahmen, die diese Koalition heute den Weg bringt. ({2}) Ich komme jetzt zum wichtigsten Thema dieses Gesetzgebungsverfahrens, zur Neuregelung der Umsatzbesteuerung von Postdienstleistungen. Nach § 4 Nr. 11 b Umsatzsteuergesetz ({3}) waren „die unmittelbar dem Postwesen dienenden Umsätze der Deutsche Post AG“ von der Umsatzsteuer befreit. Es gab also eine Exklusivbefreiung der Deutschen Post. Nach der heute zu verabschiedenden Neufassung wird einerseits die Umsatzsteuerbefreiung auf private Mitbewerber ausgedehnt, soweit sie flächendeckend einen Universaldienst anbieten. Andererseits wird die Umsatzsteuerbefreiung sowohl für die Deutsche Post AG als auch für ihre privaten Mitbewerber auf die Erbringung sogenannter Post-Universaldienstleistungen beschränkt. Hier geht es also um eine Ausweitung und zugleich um eine Einschränkung. Die neue Regelung entspricht exakt dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23. April 2009, ({4}) wonach öffentliche und private Unternehmer in den EUMitgliedstaaten von der Umsatzsteuer zu befreien sind, sofern sie Post-Universaldienstleistungen anbieten. Meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, das ist auch ein Stück Kontinuität: Dieser Teil des Gesetzentwurfs ist wortgleich der Gesetzesinitiative der Großen Koalition, nämlich dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes vom 10. Dezember 2008, ({5}) das wir in der letzten Legislaturperiode leider nicht mehr verabschiedet haben. ({6}) - Frau Kollegin Bätzing, ich komme gleich darauf; das Urteil vom 23. April hat daran nichts geändert.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Kolbe, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bätzing?

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kolbe, stimmen Sie mir zu, dass der Gesetzentwurf, den Sie jetzt einbringen, in der Tat zunächst ein gemeinsamer Gesetzentwurf war, den wir in der 16. Legislaturperiode eingebracht haben, es aber nach dem EuGH-Urteil aufseiten der SPD-Fraktion erhebliche Bedenken und Zweifel gegeben hat, die wir schon damals, in der 16. Legislaturperiode, formuliert haben? Stimmen Sie mir auch dahin gehend zu, dass diese Bedenken und Zweifel in der Anhörung durch die Sachverständigen bestätigt wurden? ({0}) Wäre es nicht sinnvoll, diesen Äußerungen der Sachverständigen Gehör zu schenken, ihre Empfehlungen umzusetzen und gegebenenfalls seine Meinung zu korrigieren? ({1})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Bätzing, ich war in beiden Gesetzgebungsverfahren Berichterstatter und erinnere mich, dass die Gefechtslage stets schwierig war. Es gibt schwerwiegende wirtschaftliche Interessen auf beiden Seiten. ({0}) Das war aber im ersten Gesetzgebungsverfahren nicht anders als im zweiten. ({1}) Im zweiten Gesetzgebungsverfahren waren eigentlich keine neuen Argumente zu hören. ({2}) Das EuGH-Urteil können Sie jedenfalls nicht heranziehen, um Ihre Meinung zu stützen. Es stützt eher unsere Meinung. Das werde ich noch näher ausführen. ({3}) Lassen Sie mich auf drei Punkte eingehen. Erstens. Die Ausdehnung der Umsatzsteuerbefreiung für PostUniversaldienstleistungen auch auf private Mitbewerber war überfällig; denn der daraus bisher resultierende Wettbewerbsvorteil der Deutschen Post AG war - egal wie man zur Neuregelung steht - in jedem Fall europarechtswidrig. Deshalb wird die Neuregelung im Grundsatz auch von keiner ernst zu nehmenden Stimme bestritten. Nicht einmal die Deutsche Post AG lehnt sie im Grundsatz ab. Sie war überfällig, und wir treten für ein zügiges Inkrafttreten zum 1. Juli 2010 ein. ({4}) Zweitens. Von der Umsatzsteuer befreit werden künftig nur noch Post-Universaldienstleistungen, mit denen durch einen oder mehrere Unternehmer eine Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt wird. Den Nutzern muss ein Universaldienst zur Verfügung stehen, der ständig flächendeckend postalische Dienstleistungen einer bestimmten Qualität zu tragbaren Preisen für alle Nutzer bietet. Solche Post-Universaldienstleistungen sind die Beförderung von Briefsendungen bis 2 Kilogramm, die Beförderung von Paketen bis 10 Kilogramm sowie Einschreib- und Wertsendungen. Wir haben als Koalition entsprechend dem Regierungsentwurf auch weitergehende Forderungen privater Mitbewerber nach einer vollständigen Streichung der Umsatzsteuerbefreiung abgelehnt. Wir haben also eine ausgewogene Regelung getroffen. Drittens. Das war der zentrale Punkt: Nicht unter die Umsatzsteuerbefreiung fallen Leistungen, die zwischen Vertragsparteien individuell vereinbart sind - auch das ist unstrittig - und die aufgrund von Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu abweichenden Qualitätsbedingungen oder günstigeren Preisen als den allgemeinen Tarifen erbracht werden. Insbesondere Letzteres war Hauptthema bei der Sachverständigenanhörung und auch bei der Diskussion im Ausschuss. Auch wir als Unionsfraktion wie auch die Koalitionsfraktionen insgesamt haben die Anhörung äußerst sorgfältig ausgewertet und alle Sachverständigen zur Kenntnis genommen. Nach unserer Auffassung wird aber der Regierungsentwurf durch das EuGH-Urteil vom 23. April 2009 voll getragen, Frau Bätzing. In Ziffer 43 führt der EuGH aus, dass nicht etwa alle Dienstleistungen, die von den öffentlichen Posteinrichtungen ausgeführt werden, unabhängig von ihrer Natur befreit sind. In Ziffer 44 führt der EuGH aus, dass die Steuerbefreiung eng auszulegen ist. Insbesondere in Ziffer 46 führt der EuGH aus, dass sich - jetzt zitiere ich - insbesondere aus der Natur des verfolgten Zwecks der Förderung einer Tätigkeit von allgemeinem Interesse ergibt, dass die Befreiung nicht für spezifische, von den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse trennbare Dienstleistungen gilt, zu denen Dienstleistungen gehören, die besonderen Bedürfnissen von Wirtschaftsteilnehmern entsprechen. - So wortwörtlich der Europäische Gerichtshof. Das heißt im Grundsatz: Allgemeine Leistungen für Privathaushalte sind steuerbefreit. Besondere Leistungen für Wirtschaftsteilnehmer zu günstigeren Preisen sind nicht steuerbefreit. ({5}) Gerade Sie von den Sozialdemokraten oder den Linken werfen uns doch immer eine Verminderung des Steuersubstrats vor. ({6}) Sie werfen uns vor, wir würden die Kommunen schädigen. Hier treten Sie für Steuerbefreiungen ein, die meines Erachtens nicht zu rechtfertigen sind. ({7}) Warum sollen denn Massensendungen zu günstigeren Preisen, die Unternehmen an Tausende oder Zehntausende Aktionäre schicken, steuerbefreit sein? Warum sollen Hunderttausende von Rundschreiben von Banken oder Versicherungen an ihre Geschäftskunden steuerbefreit sein? Das ist doch eine Schädigung des Steuersubstrats. ({8}) Bei Sonderkonditionen besteht Umsatzsteuerpflicht. Ob diese Sonderkonditionen individuell ausgehandelt oder aufgrund von AGB vereinbart werden, kann doch keinen Unterschied machen. ({9}) Anderenfalls könnten die Postunternehmen Sonderkonditionen geradezu in den AGB verpacken und damit selber über die Umsatzsteuerpflicht bestimmen. Das kann nicht sein. ({10}) Wir haben alles in allem einen gelungenen Kompromiss gefunden. Ich werbe seitens meiner Fraktion um Zustimmung. Danke. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Sabine Bätzing für die SPD-Fraktion. ({0})

Sabine Bätzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der eher unspektakuläre Titel des heutigen Gesetzentwurfs der Regierung verdeckt die tatsächliche Tragweite des Artikelgesetzes. Bereits zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode zeigt diese „Regierungskollision“ - ich benutze „Kollision“ ganz bewusst -, wie sie mit der fundierten Meinung von Sachverständigen ({0}) aus Anhörungen und mit Änderungsvorschlägen aus dem Bundesrat umgeht. Sie ignoriert sie. ({1}) Sicherlich ist unstreitig, dass nach der Liberalisierung des deutschen Postmarktes gesetzgeberischer Handlungsbedarf im Bereich des Post- und Steuerrechts besteht. ({2}) Das ist absolut unstreitig. Was den Bereich der AGB zu Sonderkonditionen angeht, ignorieren Sie aber hartnäckig die Äußerungen der Sachverständigen. ({3}) Herr Kollege Dautzenberg hat im Finanzausschuss und auch gerade eben gesagt, dass es nicht auf die Anzahl der Sachverständigen ankomme, die eine Meinung verträten, sondern auf deren Qualität. ({4}) Kollegen von der Union, schließe ich daraus richtig, dass die CDU/CSU die Qualität und die Kompetenz sowohl der Monopolkommission als auch die von Herrn Professor Scholz bezweifelt? ({5}) Haben Sie ihm das schon einmal persönlich gesagt? Ich glaube, der steht Ihnen ziemlich nahe. Worum geht es in der Sache? Die EU hat ein Ziel. Sie will erreichen, dass in den Mitgliedsländern ein Universaldienst im Postdienst gewährleistet ist, und dabei will sie nicht lediglich die Privatpost der einzelnen Personen fördern. Jeder, der einmal in Art. 12 der Postrichtlinie hineingeschaut hat, wird das sofort feststellen. Die EU trifft mit dieser Regelung in der Postrichtlinie zielgenau deutsche AGB zu Sonderkonditionen; denn unter vergleichbaren Bedingungen eingelieferte Sendungen werden gleich behandelt, und diese Bedingungen sind allen zugänglich. Das ist gerade der wesentliche Unterschied zu individuellen Vereinbarungen. ({6}) Die EU will auch ganz bewusst Massensendungen fördern. Sie hat verstanden, dass Universalpostdienst für den Einzelnen nicht nur heißt, seinen Brief überall und zu jeder Zeit abschicken zu können, sondern auch, überall und zu jeder Zeit Post, auch informatorische Post, zum Beispiel von der Gemeinde, vom Kegelverein, ob Einladungen, Zeitungen oder Spendenquittungen, erhalten zu können. Das ist die rechtliche Argumentation. Wenn Sie diese nicht überzeugt, dann sollte es vielleicht die politische tun. Wir werden in die Wahlkreise gehen. Wir werden den Kirchen, den Schützenvereinen und den Automobilklubs sagen, dass ihr Porto teurer wird, ({7}) weil die Kolleginnen und Kollegen von der „Regierungskollision“ das so wollen, obwohl EU-Recht dem entgegensteht. ({8}) Wir werden ihnen sagen, dass ihre Vereinsmitglieder die Zeche werden zahlen müssen; denn 300 Millionen Euro Mehrkosten zahlen karitative Einrichtungen nicht einfach aus der Portokasse, sondern sie müssen diese auf ihre Mitglieder umlegen, wenn sie ihr Bestehen nicht gefährden wollen. Herr Kolbe, Sie haben im Finanzausschuss gesagt, es gehe Ihnen um Gerechtigkeit. ({9}) Sie haben gefragt, ob es gerecht sei, wenn ein Brief von der Deutschen Bank an die Commerzbank umsatzsteuerfrei ist. Es geht mir dabei nicht um den Brief der einen Bank an die andere. Es geht mir aber sehr wohl um den Brief der Bank an den Kunden. Wenn dessen Porto nicht umsatzsteuerfrei ist: Wer wird die Mehrkosten zahlen? Die Deutsche Bank? Wohl kaum! Die Bank wird ihre Gebühren für das Übersenden von Kontoauszügen anheben. Was wird passieren - das war Ihr Beispiel -, wenn die Deutsche Bank für ihre Briefe an die Commerzbank Umsatzsteuer zahlen muss? Wird sie weniger Gewinn machen? Nein, sie wird auch diese Mehrkosten auf den Kunden umlegen. Das ist die Wahrheit. ({10}) Sie sagen, das würde nicht passieren, weil durch den Wettbewerb die Preise so gesenkt würden, dass es am Ende für alle billiger würde. Ich warne vor dieser Annahme. Wer nämlich als Marktteilnehmer in diesen Wettbewerb ohne Umsatzsteuerbefreiung eintritt, der leistet keinen Universaldienst mehr. Der bringt nicht jeden Brief zu jeder Zeit an jeden Ort und holt ihn auch dort ab. Nein, der pickt sich die Rosinen heraus. Das war es dann mit dem Universaldienst. ({11}) Wer das wie Sie unterstützt, der hängt die Menschen in den ländlichen Gebieten ab, der sorgt dafür, dass es dort noch teurer wird. Für die Post der Deutschen Bank an alle Kunden in Berlin mag Ihre Idee funktionieren. Wenn aber die Caritas in Rheinland-Pfalz an alle Mitglieder Briefe in den Westerwald verschickt, funktioniert genau das nicht. Deshalb sind wir mit unserem Änderungsantrag näher am Volk und folgen auch logischerweise dem geltenden EU-Recht. Logisch ist es jedenfalls nicht, wenn Leasing-Unternehmen und Firmen, die Teile ihres Betriebes ins Ausland verlagern, nun Steuervorteile erhalten sollen. ({12}) Die SPD hat die Regelungen, die Sie jetzt abschaffen wollen, in der Großen Koalition durchgesetzt. ({13}) Dazu stehen wir; denn sie sind richtig. Sie sind ein Ausgleich für die Verbesserungen gewesen, die die Unternehmen durch die Unternehmensteuerreform erhalten haben. ({14}) Doch nun sollen sie wieder einseitig zulasten der Allgemeinheit zurückgenommen werden, um einige wenige steuerlich zu begünstigen. ({15}) Mir ist nicht klar, wie nur eine einzige Oberbürgermeisterin oder ein einziger Oberbürgermeister von Union oder FDP diese Regierung noch verteidigen kann; ({16}) denn ihre eigenen Bundespolitiker vergrößern permanent die finanziellen Defizite in den Kommunen. ({17}) Durch die Maßnahmen dieses Gesetzes werden den Kommunen schon wieder - das beruht auf Berechnungen der kommunalen Spitzenverbände; ich weiß, dass Sie denen anscheinend nicht mehr glauben - 650 Millionen Euro weggenommen. ({18}) Wenn Sie die Kommunen kaputtmachen wollen, dann sagen Sie das offen. Unsere Unterstützung haben Sie dabei nicht. Sie ignorieren weiter andere Meinungen beim Thema Mitarbeiterkapitalbeteiligung, egal was Gewerkschaften oder die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sagen. Sie ignorieren auch den Bundesrat. ({19}) Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, im Interesse der Betrugsbekämpfung im Bereich der Umsatzsteuer auch den Handel mit Schrott und Altmetallen sowie die Gebäudereinigung von Subunternehmen in das Reverse-Charge-Verfahren aufzunehmen. ({20}) Er begründet dies damit, Herr Kollege Volk, dass es sich um betrugsanfällige Bereiche mit hohem Ausfallrisiko handele. Das heißt doch nichts anderes, als dass der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich laufend Geld entgeht. Die Bundesregierung stimmt dieser Feststellung sogar in ihrer Gegenäußerung zu. Sie werde dieses Problem in einem der nächsten Steuergesetze angehen. ({21}) Was hindert Sie daran, es jetzt zu tun, und zwar in diesem Gesetz? ({22}) Dass die Bundesregierung Gesetze umgehend einbringen kann, hat sie doch bei dem Thema CO2-Emmission bewiesen. Da hat sie schnell reagiert. Es liegt also nicht am Können. Also fragt man sich: Liegt es am Wollen? ({23}) Ich stelle mir die Frage, wieso die Bundesregierung die Erarbeitung eines Gesetzes verschieben will, sodass mit jedem Tag, an dem es nicht ergangen ist, hohe Steuerausfälle verursacht werden. Warum nehmen Sie diese Schäden in Kauf? Braucht Deutschland das Geld nicht, oder wollen Sie es vielleicht gar nicht? Ich komme zum Schluss. Warum ignorieren Sie bei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf schon wieder durchgehend die fundierten Auffassungen der Sachverständigen? Seriöse und ernstgemeinte Gesetzgebung sieht anders aus. Deshalb hören Sie mit dieser Klientelpolitik auf! Danke. ({24})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz mit massiven Steuererleichterungen für Familien legt die konservativ-liberale Regierung das zweite große Steuergesetz mit weiteren wichtigen Steuerreformen vor. ({0}) Der erste wichtige Punkt, den wir aus dem großen Paket der steuerlichen EU-Vorgaben umsetzen, ist die Neuregelung zur Funktionsverlagerung, deren Bedingungen auf ein international übliches Maß zurückgefahren werden. Die negativen Auswirkungen auf den Forschungsund Entwicklungsstandort Deutschland werden so beseitigt. Wir schaffen keine Steuerbefreiung, aber wir nehmen eine Erleichterung in der Bewertung vor. Wir entbürokratisieren also und erleichtern so die Anwendung des Steuerrechts. ({1}) Wir nehmen dabei eine entscheidende Gewichtung vor. Wir wollen, dass der Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland gestärkt wird. Denn wir können nicht verhindern, dass in Deutschland gewonnene Forschungserkenntnisse und -ergebnisse ins Ausland verschoben werden. Aber wir können uns dafür stark machen, dass sie nicht von vornherein im Ausland, sondern bei uns gewonnen werden. Unternehmen müssen nun zur Vermeidung einer steuerlich unklaren Situation nicht mehr bereits ihre Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten im Ausland ansiedeln, sondern können sich zunächst für den Standort Deutschland entscheiden. ({2}) Das schafft Arbeitsplätze vor Ort, erzeugt Wachstum in Deutschland und stärkt sowohl die Steuerbasis als auch den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland. ({3}) Ein weiterer Punkt ist die Gleichbehandlung von Leasingunternehmen. Leasingunternehmen sind zur Finanzierung von Investitionen der Unternehmen unentbehrlich. Deshalb haben wir die durch die Unternehmensteuerreform der Großen Koalition eingeführte Substanzbesteuerung zurückgeführt und korrigieren die Hinzurechnung von Leasingraten bei der gewerbesteuerlichen Bemessungsgrundlage. Leasingunternehmen leisten, vergleichbar mit den klassischen Kreditinstituten, ({4}) einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Finanzsituation in Deutschland, insbesondere des Mittelstands. Diese Leasingunternehmen wurden bisher gegenüber anderen Finanzunternehmen steuerlich benachteiligt. Das ändern wir jetzt. Wir schaffen keine Steuerfreiheit, sondern eine dringend gebotene Gleichbehandlung. ({5}) Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Reverse-ChargeVerfahren im CO2-Handel. Die Bundesregierung reagiert mit konkreten Änderungen im Steuersystem, um dem Umsatzsteuerbetrug beim Handel mit CO2-Verschmutzungsrechten einen Riegel vorzuschieben. Damit stoppen wir zum einen die befürchteten Einnahmeausfälle bei den Finanzämtern, und zum anderen bannen wir die Gefahr eines Reputations- und Vertrauensverlustes des gesamten EU-Emissionshandels. Das ist eine Sofortmaßnahme. Langfristig sollten wir aber auch diesbezüglich die Umstellung von der Soll- auf die Ist-Besteuerung prüfen; denn die Ist-Besteuerung würde dem Umsatzsteuerbetrug von vornherein die Grundlage entziehen. ({6}) Einer der wichtigsten Punkte dieses Gesetzes ist aber ohne Frage die Neuregelung der Umsatzbesteuerung von Postdienstleistern. Die liberal-konservative Koalition hat eine europarechtskonforme Regelung gefunden, die fairen und echten Wettbewerb ermöglicht. Zunächst eine gute Nachricht für unsere Bürger: Die Grundversorgung - also zum Beispiel auch die Osterpost - bleibt auch in Zukunft von der Umsatzsteuer befreit. Mit diesem Gesetz beenden wir aber ein Umsatzsteuerprivileg für nur ein Unternehmen, um so endlich fairen Wettbewerb durch chancengleiche Bedingungen zu ermöglichen. Es ist nicht unsere Aufgabe, die Politik einzelner Firmen zu bewerten oder uns auf Kosten dieser zu profilieren. Es ist aber unsere Aufgabe, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass alle die gleichen Chancen haben. So darf es nicht sein, dass ein einzelnes Unternehmen gegenüber 750 anderen bevorzugt wird. Mehr Wettbewerb führt zu größerer Vielfalt, attraktiven Angeboten und niedrigeren Preisen. Die Preise werden nur dann steigen, wenn es keinen Wettbewerb gibt. ({7}) Im April 2006 hat die Europäische Kommission die einseitige steuerliche Bevorzugung des ehemaligen Monopolisten Deutsche Post angeprangert und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Während die Große Koalition nicht in der Lage war, eine europarechtskonforme Änderung herbeizuführen - das lag wohl im Wesentlichen an der SPD -, gab es im letzten Jahr ein wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes ({8}) Diese Vorgaben des EuGH setzen wir jetzt um. ({9}) Die Bevorzugung eines einzelnen Unternehmens wird aufgehoben. Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen ist weiterhin umsatzsteuerfrei. ({10}) Umsatzsteuerfrei sind also alle Leistungen, die der private Haushalt typischerweise nachfragt. Alle anderen Leistungen, solche, die über die Grundversorgung hinausgehen, werden umsatzsteuerpflichtig. Richtigerweise werden diejenigen Leistungen für Großkunden, die aufgrund Allgemeiner Geschäftsbedingungen zu günstigeren Preisen erbracht werden, in die Umsatzsteuerpflicht einbezogen. Es bedurfte also offenbar erst eines Regierungswechsels in Deutschland, damit die EU-Vorgaben umgesetzt und Sanktionen aus Europa abgewendet werden. ({11}) Lassen Sie mich die Auswirkungen für den Postdienstleistungssektor einmal verdeutlichen. Der Genossenschaftsverband, also die Volks- und Raiffeisenbanken, plant den Eintritt in den Markt für Postdienstleistungen. Über die 13 586 Filialen der Volks- und Raiffeisenbanken sollen Postdienstleistungen angeboten werden, ({12}) übrigens in Orten, wo es nicht einmal Sparkassenfilialen, geschweige denn Postfilialen gibt. ({13}) Die GenoPost geht damit ganz bewusst in die Fläche. Es wird also auch weiterhin ein flächendeckendes Postangebot geben, wenn auch nicht durch die gelbe Post, sondern durch Wettbewerb. Während die Opposition noch im staatsmonopolistischen Denken des vergangenen Jahrhunderts verharrt, erkennen wir die Chancen eines fairen Wettbewerbs, der - wie auf dem Telekommunikationsmarkt - zu besseren Leistungen zu günstigeren Preisen führt. ({14}) Zum Schluss können wir feststellen: Wir schaffen konjunkturstärkende Maßnahmen mit einem mittelstandsfreundlichen und unbürokratischen Gesetz, mit dem wir steuerliche Ungleichheiten beenden und dem Steuerbetrug einen Riegel vorschieben. Wir schaffen mehr Wettbewerb und mehr Wachstum - für unser Land und für unsere Bürger. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach so viel Ideologie vonseiten der FDP tut es not, zum Kern des Gesetzes zurückzukommen. ({0}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist sozial ungerecht, belastet die angeschlagenen öffentlichen Kassen, insbesondere die Kommunen, und er verkompliziert das Steuerrecht. Die Linke wird ihn daher ablehnen. Wir haben dies mit unserem Entschließungsantrag auch untermauert. Erste und wichtigste Botschaft dieses Gesetzentwurfs: Steuergeschenke für die Unternehmen, Stichworte: Neuregelung der Besteuerung von Funktionsverlagerungen und die Ausweitung der Gewerbesteuerprivilegierung von Finanzdienstleistungsunternehmen. Die Große Koalition hatte mit der Unternehmensteuerreform 2008 den Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent auf 15 Prozent gesenkt. Unter anderem damit erhalten die Unternehmen jährlich eine Entlastung von 16 Milliarden Euro - 16 Milliarden! Es gab einige zaghafte Gegenfinanzierungsmaßnahmen, durch die die Steuersenkung auf 5 Milliarden Euro schöngerechnet wurde. Ob dieser Betrag allerdings jemals erreicht worden wäre, werden wir leider nie erfahren; denn die schwarz-gelbe Bundesregierung setzt eine Gegenfinanzierungsmaßnahme nach der anderen außer Kraft. ({1}) Im Ergebnis kommen die Unternehmen in den ungeschmälerten Genuss der gesamten Steuersatzsenkung von 2008 in Höhe von 16 Milliarden Euro. ({2}) - Hören Sie doch auf! Das ist doch ein Mythos, was Sie hier erzählen. Wie beim sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz zeigt sich Ihre Klientel - das kann man schlicht nachlesen - als höchst spendabel als Reaktion auf die prompte Umsetzung ihrer Wünsche. Diesmal waren es die Finanzdienstleister, die sich für die Ausweitung der Gewerbesteuerprivilegierung brav bedankt haben. Bundestagsdrucksache 17/769: Zwei Vermögensberatungsunternehmen haben Anfang Februar insgesamt 200 000 Euro an die CDU gespendet - ein tolles Dankeschön! ({3}) Herr Dautzenberg, wenn Sie das jetzt erstaunt: Lesen Sie einfach einmal in den aktuellen Drucksachen, welche Spenden bestimmte Unternehmen ganz bestimmten Fraktionen hier in diesem Hause zukommen lassen. ({4}) - Ganz einfach: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Danke schön für eine Steuersenkung. - Das ist die Realität, die Sie mit diesem Gesetz hier wieder ganz klar zeigen. ({5}) Dreist ist zudem auch noch Ihre Aussage, die Sie auch im Ausschuss gemacht haben, zu den finanziellen Auswirkungen des Gesetzes: Die Steuergeschenke an die Unternehmen würden die öffentlichen Kassen überhaupt nicht belasten, nichts würde ihnen entgehen. ({6}) Was ist aber die Realität? Sie eröffnen neue Möglichkeiten zur sogenannten Steueroptimierung, sprich im Klartext: zur Steuervermeidung. ({7}) Die Unternehmen werden selbstverständlich diese Möglichkeiten, die da sind, nutzen. Wozu haben sie denn ihre großen Steuerabteilungen? Beispiel Funktionsverlagerungen. Auf knapp 1,8 Milliarden Euro wurde das entsprechende Aufkommen 2008 geschätzt. Da Sie nunmehr weitgehend zur alten Regelung zurückkehren, ({8}) steht dieser Betrag schlicht und ergreifend auf dem Spiel: Jawohl, 1,8 Milliarden Euro. ({9}) Sogar nach den von Ihnen vorgelegten Zahlen, nach Ihrem Finanztableau, sind die Kommunen die einzigen, die durch dieses Gesetz verlieren werden. In der Unternehmensteuerreform 2008 ist doch nachzulesen: 669 Millionen Euro. Da sagen Sie einfach, die öffentliche Hand werde nicht belastet. Die Kommunen, die eh am stärksten belastet sind, werden Sie wieder zur Kasse bitten. ({10}) Die Mehrwertsteuerneuregelung für verschiedene Postdienstleistungen lehnen wir ab. Das hat meine Kollegin Frau Bätzing ausführlich dargelegt. Sie verfolgen damit letztendlich nur ein Ziel - das hat meine Kollegin ja sehr deutlich gemacht, und Sie haben es hier auch dargelegt -: Es geht Ihnen im Endeffekt nicht um mehr Wettbewerb, es geht Ihnen darum, die Deutsche Post als Unternehmen zu zerschlagen und die Universaldienstleistungen in unserem Land einzuschränken. ({11}) - Das ist die Realität. Abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen stellt Ihr Gesetzentwurf eben keine Vereinfachung des Steuerrechts dar. Im Gegenteil, er bringt einen erheblichen Mehraufwand sowohl für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler als auch für die Finanzbehörden mit sich. Nehmen Sie doch einfach das Beispiel - das ging bisher immer unter - der Abzugsfähigkeit von Spenden an ausländische gemeinnützige Körperschaften. ({12}) Nun frage ich Sie wirklich einmal: Wie soll denn ein deutscher Finanzbeamter je real die Gemeinnützigkeit einer Liechtensteiner Stiftung kontrollieren? ({13}) Es wurde auch in der Anhörung bestätigt, dass das einfach unmöglich ist. Hier ergeben sich Schwierigkeiten, und es eröffnen sich Möglichkeiten zur Steuerhinterziehung. ({14}) Ihr Gesetz ist schlecht gemacht. Sie nutzen die Möglichkeiten nicht aus, und Sie belasten insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen durch eine zusätzliche Frist zur Abgabe bestimmter Steuervoranmeldungen. ({15}) Das ist ebenfalls ein Aufblähen der Bürokratie. Erstaunlich finde ich, mit welcher Sturheit Sie Ihre Klientel bedienen, ({16}) indem Sie die Einwände aller Sachverständigen weitgehend ignorieren, ({17}) und Ihr Gesetz durchziehen. Wir werden das ablehnen. Wir lassen uns diese Klientelpolitik auf Biegen und Brechen nicht gefallen. Ich danke Ihnen. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Thomas Gambke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kolbe, es ist ja manchmal ganz gut, nicht die Selbsteinschätzung, sondern die Fremdeinschätzung bei der Bewertung der eigenen Leistung hinzuzuziehen. Da fand ich es schon bezeichnend, dass Herr Professor Wiegard als Mitglied des Sachverständigenrates bei den kürzlich stattgefundenen Berliner Steuergesprächen geäußert hat, dass es vielleicht besser wäre, wenn Schwarz-Gelb die Finger vom Steuerrecht lassen würde. Er empfinde es als Bedrohung, so hat er gesagt, wenn die Koalition neue steuerrechtliche Änderungen plane. Warum das so ist - daran kann ich das gut nachvollziehen -, das zeigt der vorliegende Gesetzentwurf. Nehmen wir die Mitarbeiterkapitalbeteiligung: Noch von der Großen Koalition wurde die steuerliche Förderung für Zusatzleistungen in Form von Kapitalbeteiligungen des Arbeitgebers an seine Angestellten eingeführt. Schon damals haben wir gesagt: Diese Form der Beteiligung ist nicht zielführend. ({0}) Denn erstens wird der Arbeitnehmer an seinem Unternehmen finanziell beteiligt ({1}) und müsste folgerichtig, Herr Dautzenberg, auch mehr Mitsprache in diesem Unternehmen haben. Zweitens wird das Gebot der Risikostreuung missachtet und eine Konkurrenz zur betrieblichen Altersvorsorge aufgebaut. ({2}) Der Arbeitnehmer wird in eine doppelte Abhängigkeit geführt: Er trägt das Arbeitsplatzrisiko, und er riskiert seine Ersparnisse. Er haftet für Fehlentscheidungen des Managements, ({3}) ohne Einfluss nehmen zu können. ({4}) Schwarz-Gelb verschärft diese Fehlentwicklung noch, indem die Entgeltumwandlung des Monatslohnes steuerlich gefördert werden soll. Das ist ein Irrweg, ({5}) der obendrein für den Staat zu Mindereinnahmen führt und Bürokratie aufbaut. Das muss weg. Beispiel Post; dies ist ein zentraler Punkt des Gesetzentwurfes. Klar ist: Die EU-Vorgaben müssen umgesetzt werden. Wir begrüßen Wettbewerbsorientierung dort, wo es richtig ist: ({6}) bei allen frei verhandelten Dienstleistungen. Aber die EU hat auch Vorgaben gemacht, die öffentliche Daseinsvorsorge durch den sogenannten Postuniversaldienst durch die Mehrwertsteuerbefreiung zu fördern. Zum Umfang der öffentlichen Daseinsvorsorge gehört aber nach unserer Auffassung nicht nur das flächendeckende Versenden, sondern auch der flächendeckende Empfang von Briefen und Paketen, und dies betrifft nicht nur den Einzelbrief, sondern auch die Massensendung. Eine Differenzierung an dieser Stelle widerspricht dem Gedanken des Postuniversaldienstes und ist nicht an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichtet. ({7}) Die Infopost erreicht in Zukunft im Zweifel eben nicht die Bevölkerung in der Fläche, sondern nur die in den Ballungszentren. ({8}) Die Verteuerung der Massensendungen betrifft vor allem karitative Organisationen, Wohlfahrtsverbände oder Sportvereine, die alle ein höheres Aufkommen an Briefsendungen haben. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volk?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Daniel Volk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003894, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Gambke, Sie haben den Universaldienst der Post, was das Briefeversenden angeht, angesprochen. Geben Sie mir recht, dass es vor 20 Jahren eine ähnliche Diskussion gab, als es darum ging, dass im Bereich der Telekommunikation ein flächendeckendes Angebot sichergestellt werden sollte, und dass erst durch den durch die damalige Regierung ermöglichten echten Wettbewerb auf dem Telekommunikationsmarkt eine weitaus bessere Versorgung aller Bürger zu weitaus günstigeren Preisen erreicht wurde?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Dr. Volk, ich verstehe den Vergleich, er ist aber - das muss ich Ihnen gerade als Techniker leider sagen falsch. ({0}) Denn die Telekommunikation kann drahtlos erfolgen. Sie können heute überall in der Bundesrepublik drahtlos Kommunikation betreiben. Die Telekommunikation ist etwas anderes als das Versenden eines Briefes. Es gehört aber ebenfalls zur öffentlichen Daseinvorsorge, dass Sie auch an einen Adressaten im Bayerischen Wald einen Brief senden können. Das verhindern Sie mit diesem Gesetzentwurf. ({1}) Ich kann Ihnen, Herr Dr. Volk, nur sagen: Ihre Frage macht deutlich, dass die FDP einzelne Klientelen im Blick hat, aber nicht die Bedarfe aller Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande. ({2}) Kommen wir zu den Unternehmensteuern. Das Ergebnis der großen Unternehmensteuerreform 2008 war die Senkung der Steuerlast von rund 40 auf 30 Prozent. Das Ziel war, den Standort Deutschland zu stärken. So weit, so gut. Gleichzeitig wurden aber neue Instrumente wie die Zinsschranke oder die Bewertung der Funktionsverlagerung eingeführt, um gezielt Fehlentwicklungen, zum Beispiel die Gewinnverlagerung ins Ausland, zu stoppen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gambke, gestatten Sie eine zweite und damit auch letzte Zwischenfrage, in diesem Fall des Kollegen Barthel?

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gerne.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sind in Ihrer Rede leider schon inhaltlich fortgefahren; aber ich hätte Sie gerne gefragt, ob Sie bereit wären, den Herrn Volk darüber aufzuklären, dass wir heute im Bereich der Telekommunikation davon ausgehen müssen, dass jeder Haushalt einen Breitbandanschluss braucht, der Wettbewerb bis heute aber nicht dafür gesorgt hat, dass auch jeder einen hat, dass die Breitbandstrategie der Bundesregierung vor sich hindümpelt und gerade die FDP mit ihrem verantwortlichen Wirtschaftsminister keinerlei Vorschläge macht, wie man die weißen Flecken im sogenannten Universaldienst Telekommunikation und Breitband endlich füllen kann? ({0})

Dr. Thomas Gambke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004037, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für Ihren Hinweis. Ich kann das nur unterstreichen. Ich habe heute Morgen noch einen Brief an den CSU-Oberbürgermeister von Landshut diktiert, in dem ich auf den Umstand aufmerksam mache, dass eine flächendeckende Breitbandversorgung nicht gewährleistet ist und dass wir vonseiten des Staates eingreifen müssen, weil die private Organisation nicht zu einer flächendeckenden Breitbandversorgung geführt hat. ({0}) Zurück zu den Unternehmensteuern. Ich hatte bereits gesagt, dass die Regelungen sowohl bei der Zinsschranke als auch bei der Funktionsverlagerung Fragen aufwerfen. Aber beides einfach zu kassieren mit dem Ergebnis erheblicher Steuermindereinnahmen und zusätzlich auf die gewollte Lenkungsfunktion zu verzichten, ({1}) das ist eine Kapitulation vor den eigenen Zielen, Herr Dautzenberg. ({2}) Die Koalition tut so, als ob es bei der Funktionsverlagerung nur um leichte bürokratische Veränderungen gehe. De facto wird die Regelung aber abgeschafft. Ihre Wei2556 gerung, dies anzuerkennen, ist fast schon peinlich und lässt an Ihrem Sachverstand zweifeln. ({3}) Wir können darüber streiten, ob die Mindereinnahmen tatsächlich 1,8 Milliarden Euro betragen. Worüber wir aber nicht streiten können, ist: Der Staat und vor allem die Kommunen brauchen diese Einnahmen; sie waren fest eingeplant. Den Einnahmen stehen auch Ausgaben gegenüber. Daher kann man nicht einfach sagen: Sorry, es tut mir leid, aber es funktioniert nicht, und deswegen kassieren wir das wieder ein. ({4}) Das ist bei einer Budgetposition von 1,8 Milliarden Euro verantwortungslos. ({5}) Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr! Verzichten Sie auf weitere Steuersenkungen auf Pump, und konzentrieren Sie sich auf Investitionen in die Zukunft, in Bildung und in Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels! Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Danke schön. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg für die Unionsfraktion. ({0})

Dr. Mathias Middelberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004110, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich es in der Kürze zusammenfasse und einen Strich unter das Gesetz ziehe: ({0}) Wir tragen zur Vereinfachung des Steuerrechts bei. Wir leisten einen Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes und auch zur Stärkung des Arbeitsplatzstandortes Deutschland. Wir verbessern die Situation für die Verbraucher durch dieses Gesetz. ({1}) Eine kurze Bemerkung vorweg. Bei der Mitarbeiterkapitalbeteiligung sollte man sehr sorgfältig über die Gestaltung im Einzelnen nachdenken. Manches, was Sie gesagt haben, ist zu bedenken, Herr Gambke. Aber das Prinzip der Mitarbeiterkapitalbeteiligung ist zu 100 Prozent richtig. Es ist gut, dass wir heute einen weiteren Schritt auf diesem Weg machen. Auch die steuerliche Begünstigung ist richtig. Wir zwingen niemanden in die Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Aber wir geben den Menschen die Chance, diesen Weg bewusst zu wählen. Es ist ein ganz wichtiger Schritt; denn wir alle sind uns, glaube ich, darüber einig, dass Kapital als Produktionsfaktor immer wichtiger wird. Deshalb wollen wir die Arbeitnehmer in Deutschland beteiligen. ({2}) Ich komme zu einem anderen Punkt, zur gewerbesteuerlichen Hinzurechnung bei den Leasingunternehmen. Fakt ist: Wir privilegieren keine Unternehmen, auch keine Leasingunternehmen. Vielmehr sorgen wir für eine Gleichbehandlung. ({3}) Ansonsten hätten sich die Leasingunternehmen organisatorisch und gesellschaftsrechtlich umgestellt. Das heißt, sie hätten den Finanzierungsteil ihrer Unternehmung ausgegliedert. In gesellschaftsrechtlicher Hinsicht wäre das ohne Weiteres möglich gewesen. Dann hätten wir auch keine steuerlichen Erträge erzielen können. Angesichts dessen brauchen wir keine steuerlichen Ausfälle zu befürchten. Wir sorgen für eine Gleichbehandlung von Unternehmen, die Finanzierungsgeschäfte tätigen. Die Leasingunternehmen werden nun - das gilt nur für den Finanzierungsteil - genauso behandelt wie Banken und Sparkassen. ({4}) - Frau Kressl, nein, eben nicht. Die Leasingunternehmen werden, was die Fremdgeschäfte angeht, genauso besteuert wie jedes andere Unternehmen in Deutschland. ({5}) Der zweite Punkt ist die Funktionsverlagerung. Der Kollege Volk hat es zutreffend dargestellt: Wir haben nichts anderes gemacht, als das Steuerrecht in diesem Bereich zu vereinfachen. Wir machen es handhabbarer, und zwar nicht für die Unternehmen mit großer Steuerabteilung, Frau Kollegin Höll, sondern für die kleinen und innovativen Unternehmen in Deutschland. ({6}) Sie sollen überblicken können, welche Steuern sie in Zukunft zu zahlen haben, wenn sie in die Situation kommen, eine Funktion ins Ausland verlagern zu müssen. Deswegen ist das, was wir tun, absolut richtig. ({7}) Es bleibt im Übrigen - das sage ich ganz klar - beim Prinzip der Bewertung des Transferpaketes. Es bleibt auch beim Prinzip der Besteuerung der Funktionsverlagerung. Das hat Herr Kollege Volk ebenfalls klargestellt. Das heißt: Wir besteuern wie bisher; wir ändern nur die Methode zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage. ({8}) Wir geben den betreffenden Unternehmen die Chance, dass wir uns, wenn sie in Zukunft die Informationen über einzelne, auch immaterielle Wirtschaftsgüter offenlegen, nach den einzelnen Verrechnungspreisen richten und nicht nach den Transferpaketen. ({9}) Deshalb ist für mich klar, dass es hier keine Beeinträchtigung gibt. Gerade durch die Planbarkeit und Berechenbarkeit einer Investition und einer möglichen späteren Verlagerung - Herr Volk hat es dargestellt - stärken wir den Investitionsstandort. Wir ermutigen die Unternehmer, in Deutschland zu investieren und nicht von vornherein an die Besteuerung zu denken und deshalb nach China oder Indien zu gehen, weil sie wissen, wie sie später behandelt werden. Das stärkt auf Dauer auch unsere Steuerbasis. ({10}) Lassen Sie mich abschließend etwas zum Thema Post sagen. Was Sie zu diesem Themenkomplex vorgetragen haben, fand ich wirklich abenteuerlich. ({11}) Das glatte Gegenteil ist der Fall. Wenn man die Anhörung aufmerksam verfolgt hat - ich habe sie sehr aufmerksam verfolgt -, dann haben Sie völlig treffend dargelegt, dass die Zahl der Gutachter aufseiten der Post AG gewesen ist. Das ist zutreffend. Das kann keiner objektiv bestreiten. ({12}) Das sagt aber nichts über die Qualität der Aussagen aus. ({13}) Wir brauchen uns nur an einer Aussage zu orientieren, nämlich an der Aussage des Europäischen Gerichtshofs. ({14}) Im Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist an keiner Stelle von AGBs oder von AGB-Dienstleistungen die Rede. Diese Begriffe sind von Gutachtern und anderen Beteiligten in diese Debatte eingeführt worden. Herr Kollege Kolbe hat es sehr dezidiert dargestellt: Im Urteil des EuGH ist lediglich von postalischen Leistungen die Rede, die den grundlegenden Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen. ({15}) Es geht um die Grundversorgung. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, den unbestimmten Rechtsbegriff der Grundversorgung nun mit Inhalt zu füllen. ({16}) Der EuGH gibt hier allenfalls einen Rahmen vor; er legt es nicht im Detail fest. Ich bin mir absolut sicher: Mit dem, was wir heute beschließen, bewegen wir uns in diesem Rahmen und definieren wir die Grundversorgung absolut zutreffend. ({17}) Eines ist völlig abwegig: bei Caritas, Schützenvereinen, Diakonie und anderen Vereinen die Angst zu schüren, sie müssten demnächst für ihre postalischen Dienstleistungen mehr bezahlen als bisher. ({18}) Ich sage Ihnen voraus: Das glatte Gegenteil wird der Fall sein. Heute ist ein Freudentag für alle diese Organisationen, weil sie in Zukunft nicht auf die Leistungen der Post angewiesen sein werden, sondern auf andere Wettbewerber ausweichen können. ({19}) Es ist bemerkenswert, wenn man bedenkt - das habe ich bereits in der ersten Lesung ausgeführt; vor allem für unsere Zuschauer auf den Rängen ist das interessant -, was man vor 12 oder 15 Jahren für ein Telefongespräch bezahlt hat. Ein zweiminütiges Ferngespräch hat damals 74 Cent gekostet. Heute zahlen sie für das gleiche Gespräch 3 Cent. ({20}) Das entspricht einer Preisreduktion von 96 Prozent. Das ist mit Sicherheit ein Beitrag für die Verbraucher. ({21}) Ich kann es auch noch konkreter machen: Nehmen Sie den Paketmarkt, der mit Konkurrenz schon gut versorgt ist. Da gibt es eine Menge Wettbewerber, die mit der Deutschen Post, mit DHL, konkurrieren. Bei den 10-Kilogramm-Paketen können Sie, bei Onlinefrankierung, schon jetzt eine Preisreduktion von 10,50 Euro auf 5,90 Euro feststellen. Das ist eine Reduktion um 44 Prozent. ({22}) Was wir heute machen, ist ein Beitrag für die Verbraucher. Eine Politik für niedrige Preise ist ein Stück weit auch soziale Politik. ({23}) Deswegen habe ich überhaupt keine Probleme damit, in der nächsten Woche zu dem Direktor der Caritas bei mir vor Ort zu gehen. Bei dem habe ich einen Termin, und ich werde ihm als Erstes berichten, dass er seine Post demnächst günstiger verschicken kann. Vielen Dank. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort die Kollegin Nicolette Kressl von der SPDFraktion. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, warum die SPDFraktion diesen Gesetzentwurf ablehnen wird. Erstens. Nach der EuGH-Entscheidung und vor allem nach der neuen Bewertung dieser EuGH-Entscheidung durch Sachverständige hatten Sie die Chance, die günstige Grundversorgung für bestimmte Massensendungen, zum Beispiel von gemeinnützigen Körperschaften, sicherzustellen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde es unglaublich dreist, die Sachverständigen in der Anhörung zum Beispiel dadurch zu desavouieren, dass Sie die veränderte Position der Monopolkommission als „inkompetent“ bezeichnen. Dann können wir uns diese Anhörungen in Zukunft auch sparen. ({0}) Auch den Verweis, dass die Caritas und die Kirchen in Zukunft günstiger versenden können, akzeptieren wir nicht. Das wird nämlich erst der Fall sein, wenn die Post zu Hungerlöhnen ausgetragen wird. Sie machen das entweder zulasten der Vereine oder zulasten der Beschäftigten. Das kann aber doch nicht die Alternative sein. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Kressl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber natürlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Dautzenberg.

Leo Dautzenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003067, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Kressl, würden Sie mir in Ihrer Objektivität zustimmen, dass von keinem Redner, auch von keinem Redner meiner Fraktion, die Sachkompetenz der Sachverständigen infrage gestellt worden ist, sondern wir uns immer auf die Anzahl derer, die etwas befürwortet haben, bezogen haben? Für unsere politische Entscheidung war entscheidend, wie die Aussagen zu werten waren. Wir sind zu einer Entscheidung gekommen. Das kann man nicht so abqualifizieren, dass wir die Kompetenz der Sachverständigen infrage gestellt haben. ({0})

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dautzenberg, gut, dass Sie noch einmal nachfragen. ({0}) Vielleicht wissen Sie nicht mehr, was Sie gesagt haben. Ich darf Sie erinnern: Sie haben im Ausschuss höchstpersönlich gesagt, wir sollten uns nicht nach der Anzahl der Sachverständigen richten, sondern auch nach deren Kompetenz. ({1}) - Doch. - Die logische Schlussfolgerung heißt: Es waren zwar viele, aber nicht die Kompetenten, die diese neue Position eingenommen haben. Es tut mir leid, Herr Dautzenberg, aber da kommen Sie nicht mehr heraus. ({2}) Zweitens. Sie verstecken in diesem Gesetz durch zwei schamhafte Umdrucke massivste Steuermindereinnahmen für Bund, Länder und Kommunen. Das sagen nicht nur wir. Das haben Sie auch in den Anhörungen mitgeteilt bekommen. Erst vorletzte Woche hat Petra Roth, Oberbürgermeisterin von Frankfurt und Präsidentin des Deutschen Städtetages, in Bezug auf dieses Gesetz deutlich gemacht: Das bedeutet noch einmal 650 Millionen Euro Mindereinnahmen für die Kommunen. ({3}) Sie bittet dringend darum, im Interesse der Kommunen auf diese Regelung zu verzichten. Ich sage das, damit klar ist, dass wir uns das nicht ausgedacht haben. ({4}) Immer wieder wird das Argument der Einfachheit vorgebracht. Ich darf daran erinnern, dass wir von der SPD-Fraktion im Ausschuss gefragt haben, ob dieses ausführliche BMF-Schreiben zum Thema „Funktionsverlagerungen“ wegfallen würde; dann würde wenigstens dieses Argument stimmen. Die Antwort war: Nein, wird es nicht. Das heißt, weder die Versorgung der Kommunen mit Steuermitteln noch die Frage der Einfachheit sind geklärt. Sie hätten wirklich darauf verzichten sollen. Besonders schlimm finde ich - ich habe es vorhin schon gesagt -, dass Sie das Aufribbeln der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform auch noch in zwei schamhaften Umdrucken versteckt haben. ({5}) Ich finde, wenn man das tun will, sollte man öffentlich dazu stehen und es auch so benennen, statt es in Umdrucken zu verstecken. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Kollegin Kressl, ich glaube, die Übung im Finanzausschuss im Gesetzgebungsverfahren entsprach nicht der Übung der vergangenen elf Jahre. Dass beabsichtigte Änderungsanträge zu einem Gesetzentwurf den Sachverständigen zur Anhörung zugeleitet werden, damit sie die Möglichkeit haben, zu diesen Anträgen Stellung zu nehmen, gehört dazu. ({0}) Dass ein Sachverständiger möglicherweise etwas anderes sagt, als man selbst empfindet, gehört auch dazu. Das Privileg der Politik besteht aber darin, die Aussagen der Sachverständigen zu werten. ({1}) - Entschuldigung, es gab unterschiedliche Sachverständige; das ist in Anhörungen absolut normal und war auch in vergangenen Legislaturperioden so. Die Sachverständigen tragen dazu bei, die Tiefe der Materie zu durchdringen. In der Vergangenheit wurden aus Ihrer Sicht entsprechende Wertungen vorgenommen und letzte Änderungen im Gesetzgebungsverfahren so vorgenommen, wie Sie es für richtig gehalten haben. Wir haben uns mit den Sachverhalten beschäftigt und die Entscheidung so getroffen, wie wir es für richtig halten. Das ist gegen keinen Sachverständigen gerichtet, sondern ganz normaler Bestandteil des Verfahrens. Weil wir nicht alle Details beherrschen können, haben wir uns kundig gemacht. Nachdem wir alle angehört haben, haben wir in einem sauberen, offenen und transparenten Verfahren genau die Entscheidung getroffen, die heute im Bundestag zur Abstimmung steht. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kressl zur Erwiderung.

Nicolette Kressl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002706, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Thiele, es ist völlig richtig, dass die Umdrucke bei der Anhörung beraten worden sind. ({0}) Das entspricht im Übrigen sehr wohl dem bisherigen Verfahren. Sie wissen: Wenn Umdrucke nicht in Anhörungen waren, können sie nachher nicht ins Gesetzgebungsverfahren aufgenommen werden. Das habe ich auch gar nicht gesagt. ({1}) Ich habe gesagt, dass Sie es in diesem Gesetz verstecken. ({2}) Wenn Sie Steuermindereinnahmen in Höhe von 1,7 Milliarden Euro verursachen, ({3}) finde ich nicht, dass Sie dies in einem Umdruck, ob Anhörung oder nicht, zum Gesetzentwurf zur Umsetzung von EU-Vorgaben beim Thema Post verstecken sollten. Dann sollten sie ein Gesetz machen, über das Sie sinngemäß schreiben: Wir geben den Unternehmen jetzt alles wieder, wie sie es bei der Gegenfinanzierung der Unternehmensteuerreform schon immer wollten. Ich finde, das wäre der richtige Weg für eine gute politische Auseinandersetzung. ({4}) Dass es unterschiedliche Bewertungen dessen, was die Sachverständigen sagen, gibt, ist völlig klar. Aber ich will noch einmal das Zitat aus dem Ausschuss nennen, das lautete: Es kommt nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität von Sachverständigen an. - Ich finde, das überschreitet die Grenzen, wie man mit Sachverständigen umgehen sollte. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich lasse keine weitere Kurzintervention zu. Es ist unüblich, eine Serie von Kurzinterventionen abzuhalten. Herr Dautzenberg, ich bitte um Verständnis. ({0}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Sie haben sowieso die Mehrheit und werden sich im Ge- setzblatt wiederfinden. Das sollte Sie befriedigen. Ich schließe die Aussprache.1) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Ände- rung steuerlicher Vorschriften, Drucksachen 17/506 und 17/813. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung, den Gesetzentwurf der Bundesre- gierung in der Ausschussfassung anzunehmen, Drucksa- chen 17/923 und17/939. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/926? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungs- antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen bei Zustimmung der Fraktion der SPD und der Fraktion Die Linke und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/927 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustim- mung der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Frak- tionen der SPD und der Grünen abgelehnt. Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen Schulz ({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD BAföG ausbauen und Chancengleichheit stärken - Drucksache 17/884 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss 1) Anlage 2 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Gehring, Priska Hinz ({3}), Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sozial gerechtes Zwei-Säulen-Modell statt elitärer Studienfinanzierung - Drucksache 17/899 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Swen Schulz von der SPD-Fraktion das Wort. ({5}) Ich bitte diejenigen Kollegen, die dieser Debatte nicht beiwohnen wollen, den Saal zu verlassen, damit sich die anderen auf den Redner konzentrieren können. Bitte schön, Herr Kollege Schulz, Sie haben das Wort.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bildung ist Menschenrecht. Wenn die Gesellschaft das Recht auf Bildung ernst nimmt, dann muss sichergestellt sein, dass Bildung nicht von der Herkunft und nicht vom Geldbeutel abhängig ist. Eine Ausbildung darf nicht daran scheitern, dass man sie sich nicht leisten kann. ({0}) Leider sind wir von diesem Ziel weit entfernt. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie geben Auskunft darüber, warum sich Studienberechtigte gegen ein Studium entscheiden. Es sind vor allem finanzielle Gründe. Drei Viertel von ihnen sagen, dass ihnen die nötigen finanziellen Voraussetzungen für die Aufnahme eines Studiums fehlen. Sie fürchten Schulden und Studiengebühren; unter Frauen ist diese Befürchtung übrigens besonders stark ausgeprägt. Das gilt nicht nur für sozial Schwache, sondern bis weit in den Mittelstand hinein. Eine weitere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass zu einem großen Teil finanzielle Probleme zum Abbruch eines aufgenommenen Studiums führen. Eine ganz ähnliche Entwicklung dürfte es auch bei denjenigen geben, die sich schulisch weiterqualifizieren wollen. Es liegt ganz klar auf der Hand: Wir müssen die soziale Situation der Schüler und der Studierenden dringend verbessern. ({1}) Swen Schulz ({2}) Das zentrale Instrument dafür ist das BAföG. Das BAföG ist der Hebel, um Chancengleichheit zu fördern. Hier müssen wir ansetzen. Der aktuelle BAföG-Bericht zeigt, dass die Förderungsquoten der Studierenden und Schüler in den letzten Jahren gesunken sind. Zwar ist seit der letzten BAföGErhöhung der Großen Koalition wieder eine leichte Trendwende, ein leichter Anstieg zu beobachten, aber nicht in dem Ausmaß, dass uns das zufriedenstellen kann. Im Ergebnis kommt der Beirat für Ausbildungsförderung in seiner Stellungnahme zu dem Schluss, dass die Förderbeträge für BAföG-Empfänger erhöht werden müssen, dass vor allem aber die Freibeträge deutlich zu erhöhen sind. Genau das ist der Vorschlag der SPDFraktion. Wir wollen die Förderbeträge um 3 Prozent anheben und die Freibeträge deutlich, nämlich um 10 Prozent, erhöhen, damit mehr Menschen überhaupt die Berechtigung zur Förderung erhalten und sich nicht um andere Finanzierungsquellen kümmern oder aber auf die Ausbildung verzichten müssen. ({3}) Wir wollen aber noch mehr verbessern. Ich nenne nur ein paar Stichworte: Wir wollen die Kinderfreibeträge und Kinderzuschläge anheben. Wir wollen die Altersgrenzen deutlich anheben. Wir wollen Fachrichtungswechsel erleichtern, Eltern in Ausbildung und denen mit pflegebedürftigen Angehörigen besser helfen, und wir wollen das BAföG künftig automatisch an die Preisentwicklung anpassen. Darüber hinaus greifen wir einen neuen Vorschlag auf. Wir wollen eine zweite Einkommensgrenze einführen. Diejenigen, die nicht weit über der bisherigen Einkommensgrenze für die BAföG-Förderung liegen, sollen künftig ein unverzinsliches Darlehen erhalten können. Bisher wird faktisch gesagt: Na ja, ihr verdient ja genug Geld und könnt die Ausbildung eurer Kinder selber finanzieren. - Wir wissen aber, wie viele Bürgerinnen und Bürger, die ein geregeltes Einkommen haben, trotzdem bei der Finanzierung der Ausbildung der Kinder Schwierigkeiten bekommen. Sie sind heute auf den undurchsichtigen und teuren Kreditmarkt angewiesen. Ihnen wollen wir staatlich helfen. ({4}) Wir machen mit diesen Vorschlägen das BAföG leistungsfähiger, weiten den Kreis der Berechtigten in die Mitte der Gesellschaft aus und machen darüber hinaus das Angebot einer weiteren, neuen Unterstützung. Dies ist ein starker Beitrag für bessere Bildungschancen für alle. ({5}) Das ist nicht etwa Wolkenkuckucksheim aus der Opposition heraus. Wir haben unsere Vorschläge mit konkreten Änderungsanträgen für den Haushalt untermauert. 80 Millionen Euro mehr allein im Jahr 2010 haben wir beantragt. Aber die Regierungskoalition hat abgelehnt. Stattdessen schlägt die Bundesregierung eine, wie sie selbst sagt, moderate Anpassung des BAföG vor, offenbar um der Kritik und dem Druck ein bisschen auszuweichen, damit Frau Schavan sich in Interviews besser darstellen kann. Aber das ist halbherzig; das löst kein Problem. Sie machen beim BAföG nur etwas für die Galerie; das reicht nicht aus. ({6}) Manchmal werden Ihre Ablenkungsmanöver besonders offensichtlich. Um das BAföG nicht so stark erhöhen zu müssen, reden Sie Zahlen schön. Neulich flatterte uns eine Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf den Tisch, wonach aktuelle Zahlen zeigen, dass die Studierquote auf sagenhafte 72 Prozent angestiegen sei. Im Ausschuss haben die Experten Sie dann zurechtgewiesen und deutlich gemacht, dass diese angebliche Erhöhung ein rein statistischer Effekt ist, weil neuerdings die Berufsakademien in Baden-Württemberg mit eingerechnet werden. Peinlich, peinlich! Ihre angebliche Erfolgsstory ist ein Rohrkrepierer, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({7}) Dann verteidigen Sie auch noch die Studiengebühren. Sie nehmen Zahlen vom Statistischen Bundesamt her, um zu zeigen, dass Studiengebühren angeblich keine Auswirkungen auf die Studierneigung haben. ({8}) Aber dann müssen Sie sich im Ausschuss vom Statistischen Bundesamt anhören, dass deren Zahlen überhaupt nichts darüber aussagen. Bums, wieder auf die Nase gefallen mit Ihren Tricks, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition! ({9}) Was macht die Regierungskoalition ansonsten? Lauter Gipfel mit, wie ich sagen würde, fragwürdigem Erfolg. ({10}) Ich erinnere an den letzten Bildungsgipfel der Bundeskanzlerin. Aus der Pressemappe des Bundesministeriums für Bildung und Forschung habe ich hier einige Schlagzeilen vorliegen. Ich lese einmal vor: „Ein Schritt vor, zwei zurück“ - das ist ein Kommentar zu dem Gipfel -, „Zukunft vertagt“, „Es reichte nur für einen Minideal“, „Taschenspielertricks beim Bildungsgipfel“, „Bildung auf dem Grabbeltisch“, „Trauerspiel“. Das ist nicht die Opposition; es ist die Presse, die Ihnen ein Armutszeugnis ausstellt. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, letzter Satz, Herr Präsident. - Darum meine Aufforderung an die Regierungskoalition: Wir haben einen umfassenden Antrag zu einer starken BAföG-Verbesserung vorgelegt. ({0}) Zeigen Sie einmal Mut und Tatkraft, und stimmen Sie diesem Antrag zu! Dann helfen Sie auch den Bürgerinnen und Bürgern. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Helge Braun. ({0})

Prof. Dr. Helge Braun (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003510

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Schulz, das BAföG ist jetzt seit 40 Jahren ein Sinnbild für die Chancengerechtigkeit aller, an der Hochschulausbildung teilzunehmen, und ein positiver Leuchtturm, der auch in anderen Ländern viel Beachtung findet. ({0}) Wenn Sie hier die Vergangenheit ansprechen: Seit 2002 - damals war die Bundesregierung eine andere; Frau Edelgard Bulmahn von der SPD war Bildungsministerin - hat es keine relevante Erhöhung des BAföG gegeben. ({1}) - Ich rede gerade über die Zeit von Rot-Grün. Ich weiß nicht, ob es Widerstand von den Grünen gab; jedenfalls gab es unter der rot-grünen Regierung keine relevante Erhöhung des BAföG. ({2}) 2008 hat unter der Regierung von Angela Merkel Bildungsministerin Annette Schavan das BAföG endlich wieder angehoben, und zwar um 8 Prozent. Die Freibeträge wurden um 10 Prozent erhöht. Das war ein großer Schritt für die BAföG-Empfängerinnen und -Empfänger in Deutschland. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Braun, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmann?

Prof. Dr. Helge Braun (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003510

Selbstverständlich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Rossmann.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, haben wir Sie richtig verstanden, dass Sie behauptet haben, dass es unter SPD und Grünen keine Verbesserung beim BAföG gegeben habe?

Prof. Dr. Helge Braun (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003510

Nein. Ich habe lediglich gesagt, dass eine relevante Erhöhung, wie Sie sie jetzt fordern, nicht stattgefunden hat. ({0}) - Sie haben eine Frage gestellt. Die beantworte ich jetzt. Nach der BAföG-Erhöhung 2001 gab es 2002, 2003, 2004 und 2005 keine adäquate Anpassung mehr. ({1}) - Ich beantworte Ihre Frage gerne weiter. - Unsere besondere Leistung ist, dass wir jetzt, im Jahr 2010, gerade einmal zwei Jahre nach der letzten Reform mit der Anhebung der Freibeträge um 10 Prozent und der Bedarfssätze um 8 Prozent, wieder eine Erhöhung vornehmen und diese sogar höher ausfällt als der Anstieg der Verbrauchspreise und der Anstieg der Löhne. ({2}) Die Kontinuität in der Entwicklung des BAföG, die wir an dieser Stelle zeigen, ist historisch einmalig; damit kann sich Ihre Regierungsphase in keiner Weise vergleichen. ({3}) Wir werden in diesem Jahr das BAföG erhöhen. Selbstverständlich werden wir auch noch andere Elemente umsetzen. Wenn Sie die Studierenden in Deutschland fragen, was sie sich wünschen, ist das Erste, was man Ihnen sagt: eine Vereinfachung, eine Entbürokratisierung des BAföG. Genau das ist Teil der 23. BAföGNovelle. ({4}) Die Anhebung der Altersgrenze, damit im System von Bachelor- und Masterstudiengängen in Zukunft die typischen Bildungsbiografien besser abgebildet werden, ist ebenfalls Teil dessen, was die Bundesregierung in diesem Jahr macht. Wenn über bildungsferne Schichten und von Bildungsarmut gesprochen wird, sage ich: Wer die BAföGVollförderung von 648 Euro im Monat bekommt, hat damit - das zeigt die von Ihnen etwas einseitig zitierte HIS-Studie auch - finanziell durchaus die Möglichkeit, ein Studium zu absolvieren; aus finanziellen Gründen muss er es jedenfalls nicht abbrechen. Viel relevanter ist die Frage, wovon es abhängt, ob sich jemand in Deutschland ein Studium zutraut. Wie die HIS-Studie gezeigt hat, sind nicht die finanziellen Verhältnisse Hauptgrund dafür, sich ein Studium nicht zuzutrauen, sondern die schlechten Schulnoten. ({5}) Deshalb ist es zentrale Aufgabe, im Bildungssystem dafür zu sorgen, dass eine möglichst große Anzahl Menschen in Deutschland so gute Bildungsergebnisse hat, dass sie sich ein Studium zutrauen. Wem es finanziell an den Möglichkeiten fehlt, soll entsprechendes BAföG bekommen. ({6}) Zum Thema Steuern. Sie fordern, dass wir den Freibetrag um 10 Prozent erhöhen. Sie behaupten, es gehe dabei um die Mitte der Gesellschaft. ({7}) Ich muss Ihnen sagen: Die Mitte der Gesellschaft ist durch Steuern und Abgaben am höchsten belastet. Was Sie wollen, ist nichts anderes, als Steuern und Abgaben weiter zu erhöhen und darauf zu verweisen, dass die Kinder der Mittelschicht im Gegenzug BAföG-unterstützt studieren können. ({8}) Das ist nicht die Politik einer christlich-liberalen Regierung. ({9}) Nachdem ich auf den SPD-Antrag eingegangen bin, will ich Ihnen sagen: Die Grünen haben auch einen Antrag eingebracht. Mit Ihrem Zweisäulenmodell gehen Sie natürlich in eine etwas andere Richtung. Sie wollen eine 5-prozentige Anhebung der Freibeträge. Damit liegen Sie sozusagen irgendwo dazwischen. Klar ist aber: Das BAföG ist der Höhe nach sachgerecht ausgebaut. Im Jahre 2008 haben wir es deutlich erhöht. Sie sagen: Wir sehen nur einen ganz leichten Anstieg. - Die letzte Novelle ist im Oktober 2008 in Kraft getreten. In der Studie, für die das BAföG und die Bezieher bis 2008 beobachtet wurden, haben wir einen Anstieg gesehen, obwohl nur die letzten drei Monate in dieser Studie erfasst waren. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass nach der 22. jetzt auch die 23. BAföG-Novelle einen deutlichen Anstieg der Zahl der BAföG-Bezieher zur Folge haben wird. Aus meiner Sicht ist es ein angemessener Wert für die sozial- und bildungspolitische Komponente BAföG in der Studienfinanzierung, dass weit mehr als ein Viertel der Studierenden BAföG bezieht. ({10}) Die Menschen und auch die Studierenden sind individuell. ({11}) Deshalb ergänzen wir das BAföG durch ein nationales Stipendienprogramm, und wir bemühen uns auch um den Ausbau der Bildungsdarlehen, ({12}) damit jeder seine Studienfinanzierung individuell, nach seiner Begabung und nach seinen sozialen Bedürfnissen, so aufbauen kann, dass sie auf ihn maßgeschneidert ist. ({13}) Alles auf ein Instrument zu setzen, ist nicht die Politik dieser Bundesregierung. Meine Damen und Herren, als Letztes komme ich zu Ihrem Zweisäulenmodell. Was Sie hier fordern, ist im Hinblick auf das Zusammenrücken und die Bedeutung der Familien in Deutschland ein grundlegender Wandel. Sie wollen das Kindergeld umwandeln und es direkt an die Kinder fließen lassen, Sie wollen die Finanzierungsverantwortung von den Eltern auf die Kinder übertragen, und Sie wollen hinsichtlich der Zuschussfähigkeit nicht mehr die Eltern, sondern die Kinder prüfen. Im gesamtgesetzlichen Zusammenhang des Unterhaltsrechts in Deutschland müssen Sie dazu die Eltern aus der Solidarverantwortung für ihre Kinder entlassen und die Kinder damit alleinstellen. Sie erhalten dadurch vielleicht einen sozialen Zuschuss, aber der innere Zusammenhalt der Familie und die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder sind wichtige Bindeglieder, die wir erhalten wollen. ({14}) Wenn Sie dies auflösen wollen, dann müssen Sie das hier deutlich sagen. Auch das ist nicht unsere Politik. ({15}) Das BAföG hat sich in 40 Jahren bewährt. Die Diskussion über die bildungsfernen Schichten ist dieser Bundesregierung ein großes Anliegen. Daraus resultierend erhöhen wir das BAföG nach 2008 schon zum zweiten Mal. Wir führen neue Instrumente der Studienfinanzierung ein und werden mit entsprechenden Bildungsmaßnahmen mehr für diejenigen tun, die es im deutschen Bildungssystem nicht so leicht haben. Die Bundesregierung wird damit ihrer Verantwortung umfassend gerecht. Deshalb bitte ich Sie, dem Entwurf für das 23. BAföG-Änderungsgesetz der Bundesregierung zuzustimmen, wenn wir ihn eingebracht haben. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Nicole Gohlke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir verhandeln heute im Bundestag die Frage, wie in Zeiten der anhaltenden Krise und der zunehmenden sozialen Unsicherheit das Studium und die Ausbildung von Millionen junger Menschen zukünftig gesichert werden sollen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung ({0}) beantwortet diese Frage unter anderem mit einem nationalen Stipendienprogramm. Mit Mitteln des Bundes und der Länder, aber auch aus der Wirtschaft und von privaten Geldgebern sollen 10 Prozent der Studierenden, die - in Ihren Worten - Leistungsstärksten und Begabtesten, mit 300 Euro im Monat gefördert werden. ({1}) Erste Erfahrungen mit dem Modell gibt es bereits in Nordrhein-Westfalen. Herr Pinkwart kann gleich sicherlich auch noch einmal Stellung dazu nehmen. Von den angestrebten 8 Prozent aller Studierenden werden bislang allerdings nur 0,6 Prozent gefördert. ({2}) Nur wenige Hochschulen, wie zum Beispiel die RWTH, die Technische Hochschule Aachen, mit engen Verbindungen zur lokalen Wirtschaft und zu finanzstarken Sponsoren können die Kapazitäten aufbringen, die entsprechenden Gelder für das Stipendienmodell einzuwerben. Kleinere Hochschulen in strukturschwachen Gebieten sind chancenlos, an diesem Modell überhaupt mitzuwirken. ({3}) Meine Damen und Herren, im schwarz-gelben Stipendienprogramm steckt de facto die Privatisierung der Hochschulbildung. ({4}) Um es deutlich zu sagen: Fast 40 Jahre nachdem sich Schülerinnen, Schüler und Studierende das BAföG erkämpft haben, droht mit dieser Bundesregierung der schleichende Ausstieg aus der öffentlichen Ausbildungsfinanzierung. Das ist die eigentliche Bildungskatastrophe in der Bundesrepublik. ({5}) Alle Studien zur sozialen Zusammensetzung in der Begabtenförderung belegen, dass etwa drei Viertel der durch Stipendien Geförderten in Deutschland aus einer hohen oder gehobenen Schicht kommen. Gleichzeitig sehen wir, dass junge Menschen aus einkommensschwachen Schichten immer öfter kein Studium aufnehmen, weil sie vor den Verschuldungsrisiken zurückschrecken: ({6}) 71 Prozent der Studienberechtigten begründen ihren Schritt, gar nicht erst ein Studium aufzunehmen, damit, dass sie Angst vor dauerhafter Verschuldung und der Rückzahlung großer Darlehen haben. Das rührt auch daher, dass sie Sorge haben müssen, direkt nach dem Bachelorstudium eben keinen hoch bezahlten Job zu finden, sondern vielleicht sogar in die Erwerbslosigkeit und in Hartz IV zu fallen. Wenn Sie diese Menschen und ihre Ängste ernst nehmen würden, dann würden Sie das BAföG wieder zu einem Vollzuschuss ohne Rückzahlungspflicht machen. ({7}) Durch die misslungene Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge und die überfrachteten Lehrpläne haben viele Studierende heute eine Arbeitswoche von 40 Stunden und mehr. Seit langem ist bekannt, dass 63 Prozent der Studierenden zur Finanzierung des Studiums parallel arbeiten müssen. ({8}) Da die Studiengänge so überhaupt nicht in sechs Semestern zu schaffen sind, müsste die Bezugsdauer des BAföG dringend verlängert werden; das Masterstudium muss grundsätzlich in den BAföG-Bezug einbezogen werden. ({9}) Zudem müssten die Altersgrenzen fallen, um individuelle Bildungswege überhaupt zu ermöglichen. Bildungsbenachteiligungen beginnen übrigens nicht erst an der Hochschule. Die Linke fordert deshalb auch, das BAföG für Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen ab der 11. Klasse endlich wieder vollständig einzuführen. ({10}) Das ist ein längst überfälliger Schritt. In der gestrigen Debatte zur Bologna-Reform hat die CDU/CSU noch einmal ziemlich eindrücklich gezeigt, dass es ihr bei ihrem ganzen Handeln gar nicht um die Frage geht: Wie kommen wir zu mehr, zur besten Bildung für alle? Vielmehr ist das Motiv Ihrer Politik letztNicole Gohlke endlich das Aussieben und Aussortieren. So zitierte Herr Schipanski den EFI-Bericht mit den Worten: „Man muss die Selektionsprozesse früher ansetzen …“. Ich halte das, ehrlich gesagt, für eine Frechheit gegenüber den Menschen, die sich fast schon verzweifelt um gute Bildung bemühen. ({11}) Wie tief lässt dieser Satz und Ihr völlig verengter Begriff der Leistungsstärksten und Begabtesten blicken! Glauben Sie denn, dass Leistungsstärke und Begabung einfach so vom Himmel fallen? Sind sie nicht gerade das Produkt einer gezielten Förderung? ({12}) Was für ein mittelalterliches Menschenbild haben Sie eigentlich? Haben Sie sich noch nie überlegt, dass unter den besten 10 Prozent, die in den Genuss eines Stipendienprogramms kommen würden, viele sein könnten, die über gute Voraussetzungen verfügen, die eben nicht neben der Schule, neben dem Studium arbeiten mussten, die schon durch ihr Elternhaus, ihre soziale Herkunft oder ihr Wohnviertel die Möglichkeit hatten, den besten Kindergarten, die beste Schule zu besuchen? Ich sage Ihnen: Wirkliche Bildungsförderung umfasst nicht nur 10 Prozent, sondern alle, besonders diejenigen, die nicht von Hause aus mit den besten Voraussetzungen gesegnet sind. ({13}) Die Finanzierung der Bildung und des Studiums ist gerade in der Krise eine existenzielle Frage für alle. Die Linke wird nicht tatenlos zusehen, wenn Sie weiterhin auf die Privatisierung der Ausbildungsfinanzierung setzen. Bildung ist ein öffentliches Gut, das allen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft offenstehen muss. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Professor Andreas Pinkwart. ({0}) Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland muss mehr tun, um jungen Menschen unabhängig vom Einkommen und der Herkunft ihrer Eltern den Weg an die Hochschulen zu erleichtern. ({2}) Natürlich ist es wichtig, gerade jungen Menschen aus Nichtakademikerfamilien Mut zu machen, ihre Talente zur Entfaltung zu bringen. ({3}) Aber, Frau Gohlke, das wird ihnen nicht durch die Ausführungen erleichtert, die Sie vor laufenden Kameras und in Gegenwart von jungen Gästen gemacht haben. ({4}) Natürlich ist es falsch, zu sagen, dass ein Bachelorabschluss der direkte Weg in die Erwerbslosigkeit oder in Hartz IV sei. Das Gegenteil ist der Fall. Wer einen akademischen Abschluss erwirbt, hat mit Abstand die besten Arbeitsmarktchancen. ({5}) Sagen Sie das bitte laut! Ermutigen Sie junge Leute, einzusteigen, statt ihnen permanent Angst zu machen! ({6}) - Ja, genau, darüber reden wir hier. Das ist auch gut so. Die jungen Leute brauchen gute Voraussetzungen. Deswegen müssen wir die Studienfinanzierung verbessern. Spätestens seit Beginn des Bologna-Prozesses bestand die Notwendigkeit dazu, weil es, wie wir alle wussten, zu einer Verdichtung der Lehrinhalte kommen würde. Trotzdem sind Sie - das sage ich gerade mit Blick auf die Opposition - in der Zeit, als Sie Regierungsverantwortung hatten, in dieser Frage keinen Deut weitergekommen. Sie haben zugelassen, dass das BAföG - der Herr Staatssekretär hat es angesprochen - in Deutschland sieben Jahre lang nicht angehoben und damit enorm geschwächt wurde. ({7}) Zwischen 2001 und 2008 waren Sie in Sachen BAföG komplett untätig, ({8}) während die neue Regierung jetzt schon zwei Jahre nach der letzten Aufstockung die Freibeträge und die Fördersätze anheben will. Die Grünen haben der 22. BAföGNovelle nicht einmal zugestimmt, ({9}) wie es meine Fraktion im Deutschen Bundestag getan hat. Wir haben es auch vonseiten der Länder massiv befördert, gegen heftige Widerstände des damaligen Bundesfinanzministers, der nicht von der CDU, CSU oder der FDP kam. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pinkwart, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brase? Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({0}): Aber gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister Pinkwart, wir kennen uns ja aus unserer wunderschönen Heimat im Siegerland. Frau Daub kommt ja auch von dort. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir 1998 das Volldarlehen beim BAföG, das damals Kohl, Rüttgers und andere eingeführt hatten, wieder rückgängig machen mussten, um vor allen Dingen Kindern aus Arbeitnehmerfamilien eine bessere Ausstattung und eine bessere Zukunft im Wege des Studiums zu bieten? ({0}) Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({1}): Lieber Herr Brase, ich gebe gerne zu, dass es beim BAföG Fortentwicklungen gegeben hat, auch 2001. Das will ich durchaus anerkennen. ({2}) Aber Sie haben - das muss ich Ihnen entgegenhalten dürfen; denn es geht um die jetzige Situation - federführend mit Frau Bulmahn den Bologna-Prozess in Deutschland eingeführt, der vor zehn Jahren begann. ({3}) Sie haben auch seinerzeit in Nordrhein-Westfalen mit den Grünen Regierungsverantwortung wahrgenommen. Von 2001 bis 2008 - bis dahin waren zumindest die Sozialdemokraten auch in der Bundesregierung in der Verantwortung - haben Sie das BAföG nicht mehr angepasst. ({4}) Auch sonst haben Sie sich nicht um eine Verbesserung der Studienfinanzierung gekümmert. Das entspricht den Tatsachen, und das gilt es hier festzuhalten, damit wir eine klare Ausgangslage für die weitere Debatte haben. ({5}) Sie haben sich zum Beispiel - auch das gehört dazu im Rahmen Ihrer Regierungsverantwortung in den letzten Jahren auch nicht die Frage gestellt, was es neben dem BAföG gibt und was wir an nennenswerten Stipendien in Deutschland haben. Sie haben es zugelassen, dass gerade einmal 2 Prozent unserer Studierenden ein Stipendium bekommen. Sie haben zugesehen, als bei der Umstellung von D-Mark auf Euro das Büchergeld bei Stipendien von 150 DM auf sensationelle 80 Euro umgestellt wurde. ({6}) Das mag vielleicht noch für den Sohn aus gutbetuchtem Hause attraktiv sein. Für alle anderen bedeutet es aber, dass sie sich statt drei wissenschaftlichen Büchern nur noch eines kaufen können. Sie müssen sich auch vorhalten lassen, dass Sie bei den Begabtenförderungswerken eine nahezu ausschließliche Konzentration auf Universitätsstudierende zugelassen haben, und Sie haben hingenommen, dass die Begabtenförderungswerke die Fachhochschulen nahezu gänzlich außen vor gelassen haben. ({7}) Diese Bundesregierung ändert das jetzt endlich. Das ist richtig; denn wir wissen, dass gerade in den Fachhochschulen Bildungsaufsteiger zu finden sind. Gerade in den Fachhochschulen gibt es viele junge Menschen, die den zweiten Bildungsweg beschritten haben und nicht aus Akademikerfamilien kommen. Ich begrüße es außerordentlich, dass es jetzt gelingt, bei den Begabtenförderungswerken eine Aufstockung von 80 Euro auf 300 Euro Büchergeld in Aussicht zu nehmen und dafür Sorge zu tragen, dass die Fachhochschulen im Bereich der Begabtenförderungswerke endlich eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten. Wir sehen durchaus, dass wir beim BAföG ebenso wie bei der ergänzenden Stipendienfinanzierung Verbesserungen brauchen. Es waren doch Sie von der Opposition, die in der Vergangenheit wortreich mehr Stipendien gefordert haben. Der Kollege Oppermann etwa war als niedersächsischer Wissenschaftsminister noch Feuer und Flamme für ein Stipendiensystem. Herr Gabriel hatte sich im Niedersächsischen Landtag sogar bitter darüber beklagt, dass für Stipendien zu wenig getan werde. ({8}) Es war immer die Opposition, die gesagt hat, gerade die Wirtschaft müsse mehr tun, um Stipendien möglich zu machen. ({9}) Genau das will die Bundesregierung erreichen. Wir wollen neben einem verbesserten BAföG als starke zweite Säule ein Stipendiensystem schaffen und ermöglichen, dass über die Begabtenförderungswerke bis zu 10 Prozent der Studierenden gefördert werden können, Minister Dr. Andreas Pinkwart ({10}) kofinanziert vom Staat, den Hochschulen und den Privaten in unserem Land. ({11}) - Das ist ein schöner Zwischenruf. - In Nordrhein-Westfalen sieht man, dass die Fachhochschulen von diesem Stipendienprogramm genauso profitieren wie die Universitäten. Von diesem Stipendiensystem - das sieht man am Beispiel der Universität Duisburg-Essen - profitieren nicht nur die Hochschulen, die in günstig gelegenen Regionen beheimatet sind, sondern auch die, die in vom Strukturwandel besonders hart betroffenen Regionen liegen. ({12}) Ich freue mich darüber, dass die Universität DuisburgEssen nicht nur die erste Universität war, die alle privaten Kofinanzierungsmittel eingeworben hatte, sondern auch die Universität war, die viel mehr Mittel eingeworben hatte, als ihr zunächst an Stipendien in Aussicht gestellt wurden, sodass wir das Programm aufstocken mussten. Was noch viel wichtiger ist: Die Stipendiaten sind jetzt da. Die Stipendiaten der Universität DuisburgEssen sind zu 38 Prozent Stipendiaten mit Migrationshintergrund oder BAföG-Bezieher. Das ist der entscheidende Punkt: Zusätzlich zur BAföG-Förderung gibt es jetzt auch dieses leistungs- und begabungsbezogene Stipendium, und es kommt genau denen zugute, die unserer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. ({13}) Sie haben dieses zivilgesellschaftliche Potenzial bisher nicht nutzbar gemacht, und Sie wollen die Hochschulen daran hindern, es in Zukunft nutzen zu können. ({14}) Ich frage Sie: Was ist das für eine Arroganz der Politik, zu glauben, nur sie könnte festlegen, welche Kriterien bei der Auswahl von Stipendien gelten sollen? Warum ist es in Ordnung, wenn die Heinrich-Böll-Stiftung - so frage ich Sie - mit staatlichen Mitteln Studierende mit journalistischen Ambitionen fördert, und angeblich nicht in Ordnung, wenn ein mittelständisches Unternehmen Studierende der Ingenieurwissenschaften fördern will? Da bitte ich um eine Antwort. ({15}) Ich finde es auch nicht redlich, Herr Schulz, wenn Sie sich öffentlich gegen eine begabungsabhängige zweite Säule der Studienfinanzierung aussprechen und gleichzeitig auf der Webseite der Friedrich-Ebert-Stiftung für ein Probestipendium werben. Mit Genehmigung des Präsidenten darf ich zitieren. Dort heißt es: „Nur wer überdurchschnittliche Leistungen zeigt, wird dann in die reguläre Begabtenförderung aufgenommen.“ - Also, wer SPD-Nähe zeigt, der darf dann doch begabt sein. Oder wie dürfen wir das hier verstehen? ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pinkwart, denken Sie bitte an die Zeit. Dr. Andreas Pinkwart, Minister ({0}): Ich bitte Sie von der Opposition deshalb sehr herzlich im Interesse der Studierenden, im Interesse der Hochschulen: Unterstützen Sie die Bundesregierung, damit die BAföG-Säule möglichst stark bleibt und damit als zweite Säule ein Stipendiensystem für begabte und leistungsbereite Studierende möglich wird, die es verdient haben, unabhängig von ihrer Herkunft in unserem Land endlich die Anerkennung zu finden, die sie brauchen, um ihre Talente und ihre Begabung in den Dienst unseres Landes, der Bildungsrepublik Deutschland, zu stellen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Kai Gehring von Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Pinkwart, erst einmal herzlich willkommen offensichtlich beim NRW-Tag im Deutschen Bundestag! ({0}) Nach Herrn Laumann hat nun Herr Pinkwart gesprochen. Offensichtlich ist es in Düsseldorf so ungemütlich geworden, dass hier nun schon der zweite NRW-Minister spricht. Herzlich willkommen bei uns! ({1}) Zu Ihrem Stipendienmurks komme ich gleich. Ich möchte erst einmal für die Fraktion der Grünen sehr deutlich sagen: Wenn es um Gerechtigkeit geht, wenn es um Wachstum durch Bildung und Zukunftsfähigkeit geht, dann funktioniert das nicht ohne höhere Bildungsinvestitionen in eine viel bessere Studienfinanzierung, als wir sie heute haben. ({2}) Chancengleich statt sozial selektiv, so wollen wir den Zugang zum Studium sicherstellen. Das ist ein Unterschied zur FDP; denn die Herkunft darf eben nicht über Zukunft entscheiden. ({3}) Gerade weil das so ist, muss die staatliche Studienfinanzierung besser, gerechter, verlässlicher und leistungsfähiger werden, so wie es Rot-Grün 2002 durch eine sehr ambitionierte BAföG-Reform vorgemacht hat. ({4}) Die Studienfinanzierung braucht jetzt einen mutigen Umbau, der Aufstieg durch Bildung und mehr Teilhabe verwirklicht. Dabei kann man durchaus auch bei den anderen Fraktionen kleine Fortschritte konstatieren. Es ist gut, dass die SPD ihren Antrag vorgelegt hat; denn an ihrem BAföG-Antrag wird deutlich, was in der BAföGNovelle der Bundesregierung buchstäblich ausgespart wird. Bei Union und FDP ist durchaus positiv zu erwähnen, dass sie überhaupt Verbesserungen beim BAföG planen, zwar nur mickrige, aber immerhin. Jahrelang war schwarz-gelben Protagonistinnen und Protagonisten nichts wichtiger, als aus der Abneigung gegenüber einer klaren und staatlich garantierten Studienfinanzierung keinen Hehl zu machen. Sie wollten am liebsten Studienkredite für alle, was definitiv verkehrt ist und jetzt hoffentlich der Vergangenheit angehört. ({5}) Sie beschreiten aber gleich den nächsten Holzweg, nämlich das nationale Stipendienprogramm. Wir als Grüne sagen ganz klar: Motten Sie dieses 300 Millionen Euro teure nationale Stipendienprogramm ein! Stecken Sie dieses Geld in eine deutliche BAföG-Erhöhung! Das ist ein besserer Beitrag für mehr Bildungsgerechtigkeit in diesem Land. ({6}) Das Stipendienprogramm ist die falsche Antwort auf die soziale Schieflage beim Hochschulzugang. Es ist eben kein Instrument, um junge Menschen aus anderen Herkunftsgruppen für ein Studium zu gewinnen. Wir wissen doch, dass Habitus und Herkunft durchaus mitentscheiden, ob man ein Stipendium bekommt oder nicht. Insofern setzt dieses Programm die falsche Priorität, da ohnehin Bildungsnahe einseitig gefördert werden. ({7}) Die Vergabe von Stipendien in Ihrem Programm - das sieht man ganz klar in NRW - ist abhängig davon, wo man studiert, welches Fach man studiert, ob es eine lokale Stifterbereitschaft gibt und wie die Vergabepraxis vor Ort ist. Ob man ein Stipendium bekommt oder nicht, ist für die Studierenden nichts anderes als eine Stipendienlotterie. Insofern hängt es am allerwenigsten von der Leistung ab, ob man sich da durchbeißt oder nicht. ({8}) Sie wälzen die komplette Organisation der Stipendien auf die Hochschulen ab. Die Hochschulen freuen sich schon, wie sie Tausende von Stipendien akquirieren. Die Hochschulrektoren werden vor lauter Terminen beim Rotary-Club zu nichts anderem mehr kommen, um diese Stipendien überhaupt erst einmal einzuwerben. Die Wirtschaft dagegen nehmen Sie überhaupt nicht in die Pflicht. Sie wissen auch nicht, ob die Länder mitmachen werden. Das Ganze kann ein richtig großer Rohrkrepierer werden. Ihr Stipendienprogramm ist unausgegoren, vor allem für die Studierenden unattraktiv und viel zu unsicher. ({9}) Wenn Sie stattdessen wirklich einen Bildungsaufbruch wollen, dann müssen Sie jetzt beim BAföG unverzüglich die Bedarfssätze und Freibeträge um mindestens 5 Prozent erhöhen; denn die Anhebung um 2 Prozent, die Sie vorhaben, fängt noch nicht einmal die Kostensteigerungen seit der letzten Anpassung 2008 auf. Insofern wird eine höhere Bildungsbeteiligung definitiv ausbleiben. Hier müssen Sie klotzen, anstatt zu kleckern. ({10}) Mit unserem Antrag machen wir deutlich, dass wir mittelfristig keine kleinteiligen BAföG-Reparaturen mehr wollen. Wir wollen endlich eine ambitionierte Reform der Studienfinanzierung. Wir wollen ein Zweisäulenmodell einführen. Dieses Zweisäulenmodell ist eine intelligente Mischung aus bedarfsabhängigen und bedarfsunabhängigen Elementen. Es funktioniert wie folgt: Es gibt künftig eine Säule 1, einen Studierendenzuschuss. Den erhalten alle Studierenden als eine Sockelförderung in gleicher Höhe als Basisabsicherung. Damit geben wir allen Studienberechtigten einen klaren Anreiz, ein Studium tatsächlich aufzunehmen. Mit Säule 2, dem Bedarfszuschuss, sichern wir eine unerlässliche soziale Komponente, weil das die Studienfinanzierung weiter dringend braucht, damit Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern gute Möglichkeiten zur Finanzierung haben. Neu an diesem Modell ist, dass die familienbezogenen Leistungen nicht mehr an die Eltern der Studierenden ausgezahlt oder ihnen steuerlich gutgeschrieben werden, sondern Kindergeld und steuerliche Freibeträge werden in den neuen Sockel für alle überführt. Dieses Geld kommt dann den Studierenden direkt zugute. Das macht auch Schluss mit einer Ungerechtigkeit im Familienlastenausgleich. Dem Staat sind die Studierenden in der Familienförderung nämlich nicht gleich viel wert. Einkommensstarke Eltern erhalten derzeit über Steuerfreibeträge deutlich mehr als einkommensschwache Eltern über das Kindergeld. Deshalb ist das auch ein klarer Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Gehring.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Ja, Herr Präsident. Wir machen auch Schluss mit Teildarlehen und Verschuldung nach dem Studium. Deshalb wollen wir, dass beide Säulen als Vollzuschüsse ausgestaltet werden. Denn auch die Frage, ob man hinterher BAföG-Darlehen abzahlen muss, entscheidet darüber, ob man ein Studium beginnt. Mit unserem Vorschlag gibt es keine finanziellen Gründe mehr, auf ein Studium zu verzichten. Ich erwarte bei der Studienfinanzierung deutlich mehr Mut und dass die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Das BAföG muss deshalb zum Zweisäulenmodell ausgebaut werden, statt ein ungerechtes Stipendienprogramm einzuführen. Dabei hoffe ich auf Ihre Zustimmung. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erspare mir Aussagen zu den verqueren Argumenten der Opposition über Studiengebühren, Bologna und die angebliche Privatisierung unseres Bildungssystems. ({0}) Uns liegen heute zwei Anträge vor, die beide gänzlich einfallslos sind und daher am Ende auch erfolglos sein werden. ({1}) - Ganz ruhig bleiben. - Lassen Sie mich erläutern, warum. Zu dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist anzumerken, dass die dortigen Vorschläge nicht mehr sind als alter Wein in neuen Schläuchen. Sie sprechen im Wesentlichen von Ideen, die vom Deutschen Studentenwerk und in ähnlicher Form von der KMK mit dem Dreistufenbzw. dem Dreikörbemodell schon vor 15 Jahren vorgelegt wurden. ({2}) Die SPD hatte bereits 1994 vergleichbare Ideen entwickelt, und die Grünen haben im Sommer 1995 an ein Modell mit einer Sockelfinanzierung gedacht, bei dem Kindergeld und Steuerfreibeträge nicht mehr den Eltern zugutekommen, sondern direkt an die Studierenden ausgezahlt werden. Schon damals wurden diese Vorschläge von wechselnden Koalitionen als nicht finanzierbar abgelehnt, und auch die SPD ({3}) - hören Sie doch zu, Herr Kollege! - ist am Ende wieder umgeschwenkt. Ihre ehemalige Bildungsministerin Bulmahn hat festgestellt, dass Chancengleichheit nicht „BAföG für alle“ heißt. Zitat: Nein, sorry, das wollen wir Sozialdemokraten nicht. ({4}) Zudem hat ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Familienlastenausgleich aus dem Jahr 1998 ernsthafte Bedenken an der Realisierbarkeit dieses Dreikörbemodells genährt, und diese Bedenken greifen auch hinsichtlich des von den Grünen vorgelegten Zweisäulenmodells. ({5}) Bei den Grünen hat ungeachtet dessen bis heute offensichtlich kein Lernprozess stattgefunden. Im Widerspruch zu der Idee vom lebenslangen Lernen füllen Sie alten Wein in neue Schläuche und hoffen, dass es niemand merkt. Kreativität? - Fehlanzeige! Ich erspare Ihnen eine Fortsetzung der Chronik Ihrer in immer neuem Gewand daherkommenden Vorschläge zur Studienfinanzierung - ich nenne nur das Beispiel BAFF -, Vorschläge, die Sie damals unter Rot-Grün selbst nicht umgesetzt haben. Nun aber zum SPD-Antrag. ({6}) Dieses Haus hat bereits mehrfach und über alle Parteien hinweg festgestellt, dass Bildung die entscheidende Voraussetzung für notwendige Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft ist. ({7}) Deshalb ist es unsere wichtigste Aufgabe, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Niemand soll von einem Studium abgehalten werden, und jeder, der sich für ein Studium entscheidet, soll es auch aufnehmen können. Das BAföG als Sozialleistung hilft uns dabei. Doch das genügt Ihnen nicht. Sie schütten in Ihrem Antrag unter dem Deckmantel der Chancengleichheit ein Füllhorn an zusätzlichen Wohltaten aus. Willkürlich angestrebt sind 100 000 zusätzliche BAföG-Empfänger. ({8}) Da winkt am Horizont vielleicht doch schon wieder die Idee von einem BAföG für alle, wenn nicht gar von einem Studium für alle. Haben Sie sich denn einmal die Mühe gemacht, auszurechnen, was Ihre Vorschläge kosten? Auch in der Opposition sollte man nicht im luftleeren Raum argumentieren, sonst setzt man sich dem berechtigten Vorwurf des Populismus aus. ({9}) Sie werden jetzt argumentieren wollen, dass man für das Ziel hinsichtlich der 100 000 zusätzlichen BAföGEmpfänger das Geld verwenden könne, das für das nationale Stipendienprogramm vorgesehen ist. Aber das geht gerade nicht. Ziel des nationalen Stipendienprogrammes ist es, über eine Kofinanzierung aus privaten Mitteln den staatlichen Förderbetrag zu verdoppeln. Damit sollen zusätzlich 160 000 besonders leistungsfähige Studierende gefördert werden. Das ist nicht etwa elitär, das ist innovativ; ({10}) zumal bei der Auswahl der Stipendiaten ausdrücklich auch soziale Kriterien herangezogen werden können. ({11}) Ich frage Sie: Wie kann man diese Chance auf zusätzliche Mittel für Bildung ablehnen und den helfend ausgestreckten Arm des privaten Sektors - bildlich - zurückschlagen? Das ist in Zeiten knapper Kassen geradezu verantwortungslos. Doch auch beim BAföG setzen wir Zeichen - Staatssekretär Braun hat es angesprochen -: Zum Wintersemester 2008/2009 haben wir die Bedarfssätze um 10 Prozent und die Freibeträge um 8 Prozent angehoben. Dies wird, wir haben es gehört, zu einer signifikanten Besserstellung der Geförderten führen. Wir gehen noch einen Schritt weiter: Mit den von der Bundesregierung in der 23. Novelle des BAföG vorgesehenen Anhebungen der Bedarfsätze um 2 Prozent und der Freibeträge um 3 Prozent greifen wir sogar künftigen Einkommens- und Preisentwicklungen vor. Sie hingegen, Kollege Schulz, konterkarieren Ihren eigenen Antrag, wenn Sie, wie auf Seite 4 oben dieser Vorlage, eine automatische Anpassung der Bedarfssätze und Einkommensgrenzen an die Lebenshaltungskosten fordern. Dies würde nämlich für 2009 und 2010 eine Steigerung von nur 1 Prozent bedeuten. Von einer 3-prozentigen oder gar 10-prozentigen Erhöhung, die Sie hier fordern, sind wir also sehr weit entfernt. ({12}) - Erklären Sie es mir, ja. Noch etwas Grundsätzliches, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion: Die Formulierung in Ihrem Antrag, wonach jungen Menschen ohne ein Studium Zukunftschancen vorenthalten seien und ihre individuelle Lebensführung beeinträchtigt werde, kann so nicht stehen bleiben. Diese Formulierung ist beredter Ausdruck Ihrer überheblichen Einstellung gegenüber jenen, die eine berufliche Ausbildung absolviert haben und sich über Meister- oder andere Weiterbildungskurse für eine verantwortungsvolle Aufgabe in unserer Gesellschaft qualifiziert haben oder qualifizieren wollen. ({13}) Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass nicht alle Bürgerinnen und Bürger zur Verwirklichung ihrer Zukunftschancen ein Hochschulstudium absolvieren müssen. Bildungs- und Innovationspotenziale können auch außerhalb des tertiären Systems gehoben werden. ({14}) Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ist nicht nur auf akademische Fachkräfte ausgelegt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Dr. Stefan Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

An zwei Punkten darf ich Ihnen zur Versöhnung noch recht geben: Die Auszahlung der BAföG-Raten an Neugeförderte sollte möglichst ohne Verzögerung erfolgen, und die Information für Studierwillige über Fördermöglichkeiten nach dem BAföG, aber auch aus anderen Quellen, muss nachhaltig verbessert werden. Alles andere, was Sie hier vorschlagen, werden wir im zuständigen Ausschuss im Rahmen der Diskussion über das BAföG-Änderungsgesetz und auch das nationale Stipendienprogramm beraten. Herzlichen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marianne Schieder von der SPD-Fraktion. ({0})

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Damit ihr Hoffnung habt“, so heißt das Motto des 2. Ökumenischen Kirchentages, der im Mai in München stattfinden wird. Zu dessen Inhalt hatten wir am Mittwoch einen parlamentarischen Abend. Auf dem Plakat und den Einladungen dazu sind zwei Mädchen dargestellt, die fröhlich und hoffnungsvoll Hand in Hand durchs Wasser springen und, bildlich gesprochen, gemeinsam den Weg ins Leben wagen und gehen. ({0}) Dieses Bild hat mir so gut gefallen, dass ich mich entschlossen habe, es auf die heutige Debatte zu übertragen. Ich frage uns alle: Was müssen wir in der Bildungspolitik tun, damit junge Menschen Hoffnung haben? Kollege Swen Schulz hat dargestellt, welche Defizite es immer noch gibt, gerade was die Chancengerechtigkeit betrifft, und wie sehr in Deutschland immer noch ganz deutlich der Geldbeutel der Eltern darüber entscheidet, ob Marianne Schieder ({1}) sich junge Menschen für ein Studium entscheiden können oder ob sie darauf verzichten. Ich meine, es ist unbestritten, dass den jungen Menschen Hoffnung gegeben werden muss - es besteht dringender Handlungsbedarf -, die aus einkommensschwächeren Elternhäusern kommen und Unterstützung brauchen, um sich zu trauen, ein Studium aufzunehmen. Die Bundesregierung setzt neben einer begrüßenswerten, aber eher bescheidenen Verbesserung im Bereich des BAföG auf ein Stipendienprogramm, orientiert an dem, was in NRW versucht wird, aber - alles in allem nicht funktioniert. Herr Minister Dr. Pinkwart, das, was Sie heute hier bezüglich des Funktionierens dieses Programms in NRW dargestellt haben, war ein einziges Schönreden, Schönrechnen und Die-Welt-schön-habenWollen, aber keine Darstellung der Realität. ({2}) Die Hochschulen und Universitäten sollen jetzt die Möglichkeit bekommen, bis zu 8 Prozent ihrer Studierenden mit monatlich 300 Euro zu fördern. Das Ganze soll den Bund und die Länder alles in allem bis zu 300 Millionen Euro kosten. Die Wirtschaft und private Förderer sollen kräftig mitfinanzieren. Die Ausgestaltung des Bewerbungs- und Auswahlverfahrens liegt in der Verantwortung der Hochschulen. Mit circa 160 000 Neuanträgen wird gerechnet. Bei dem Punkt „Auswahlkriterien“ heißt es: Begabung und Leistung, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, familiäre Herkunft und Migrationshintergrund sollen eine Rolle spielen. Meistens ist aber, wenn Sie darüber reden, nur die Rede von Begabung und Leistung, was immer das sein soll. Ich gehe davon aus, dass damit Noten gemeint sind. Niemand kann bis jetzt sagen, in welcher Relation die verschiedenen Faktoren, die in Ihrem Referentenentwurf aufgeführt sind, zueinander stehen sollen und woran man zum Beispiel konkret soziale Herkunft und gesellschaftliches Engagement festmachen will. Selbst die deutsche Wirtschaft hat ja schon - Sie können es in der Financial Times nachlesen - die mangelnde soziale Ausrichtung kritisiert. ({3}) Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat uns bestätigt, dass schon die bisherige öffentliche Begabtenförderung darunter leidet, dass „vor allem Studierende aus akademischen Besserverdiener-Haushalten“ in deren Genuss kommen. Das ist nicht meine Aussage; das ist ein Zitat. Auch von dieser Seite wird eine sozialere Ausrichtung des neuen Stipendienprogrammes gefordert. Ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der FDP: Fragen Sie doch einmal an den Universitäten und Hochschulen nach, was man dort über Ihre neuen Ideen denkt. ({4}) Die Universitäten und Hochschulen wissen doch ganz genau, welch enormer Verwaltungsaufwand und welch enorme Kosten auf sie zukommen, um die Stipendien zu verwalten und um die nötigen Mittel von privaten Förderern einzutreiben. Darüber hinaus - das wissen auch Sie - laufen wir Gefahr, dass es zu einer enormen Verzerrung in der Hochschullandschaft kommt; denn Hochschulen in strukturell schwächeren Regionen werden an Attraktivität einbüßen, da sie mit Sicherheit nicht so viele Stipendien zu vergeben haben wie andere an gefragten Wirtschaftsstandorten. Ähnliche Verwerfungen sind hinsichtlich der Ausrichtung des Studienangebotes zu erwarten. Insbesondere die Geisteswissenschaften drohen auf der Strecke zu bleiben. So sind in NRW nur 38 Prozent der Stipendien, die nach dem neuen System vergeben werden, nicht an eine Fachrichtung gebunden. Kann es denn unser Ziel sein, uns zukünftig von Geldgebern, die sich an Einzelinteressen orientieren, diktieren zu lassen, was an unseren Universitäten studiert werden kann bzw. was dort gelehrt wird? Wo bleibt denn da die Freiheit der Wissenschaften? ({5}) Alles in allem frage ich mich: Wozu betreibt man einen solchen Aufwand, wenn die Gefahr besteht, dass es zu den geschilderten Fehlentwicklungen kommt? Warum investiert man nicht das Geld, das für dieses Stipendiensystem vorgesehen sind, gleich in ein bestens bewährtes und gut funktionierendes Fördersystem, nämlich in das BAföG-System? ({6}) Für BAföG gibt es bereits eine gut funktionierende und ausgebaute Verwaltungsstruktur. Die Vergabe von BAföG unterliegt klaren Richtlinien, die nachprüfbar sind und die sozialen Realitäten objektiv berücksichtigen. Wer Vernunft walten lässt und Chancengerechtigkeit im Bildungssektor ernsthaft will, der muss die Priorität auf eine umfassende Ausweitung von BAföG legen, wie sie von uns gefordert wird. Unter BAföG können sich junge Menschen nämlich etwas vorstellen, hier haben sie nachvollziehbare und berechenbare Grundlagen und nicht vage Aussichten. Das gibt Hoffnung und macht Mut, sich doch noch an ein Studium zu wagen, auch wenn der Geldbeutel der Eltern nicht so dick ist. Deswegen bitte ich Sie: Nehmen Sie Abstand von einem System, das nicht funktioniert, wie es sich ja an dem Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, das jungen Menschen nicht hilft und das uns nicht weiterbringt in unserem Bemühen, auch die jungen Menschen dazu zu motivieren, ein Studium anzutreten, deren Eltern derzeit nicht gerade üppig mit finanziellen Mitteln gesegnet sind. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Marianne Schieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003838, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - In diesem Sinne: Herzlichen Dank fürs Zuhören. Ich hoffe auf eine bessere Einsicht Ihrerseits. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft unseres Landes hängt mehr denn je von der Ausbildung unserer Kinder ab. ({0}) Gerade jetzt in der Krise setzen wir als christlich-liberale Koalition ein Signal und investieren über 12 Milliarden Euro mehr in diesen Bereich. Eine solche Steigerung gab es hier noch nie. ({1}) Wir brauchen in Zukunft - das ist klar - jeden Einzelnen mit seinen Talenten. ({2}) Ich gebe Ihnen recht: Der Geldbeutel der Eltern darf nicht über die Bildung der Kinder entscheiden. ({3}) Wir bauen gerade auch deswegen die Unterstützung bei der Ausbildungsfinanzierung kräftig aus. Die Bedarfssätze beim BAföG werden nicht gesenkt, sondern erhöht. Diese werden um 2 Prozent und die Freibeträge um 3 Prozent erhöht. ({4}) Das ist deutlich mehr als die Einkommens- und Preissteigerungen, die im BAföG-Bericht prognostiziert worden sind. Zusätzlich zum BAföG führen wir ein nationales Stipendiensystem ein. Wir sehen auch Erfolge. Zum aktuellen Wintersemester haben 43 Prozent des Altersjahrgangs mit einem Studium begonnen. Vor zehn Jahren waren es noch 31 Prozent. Die aktuelle HIS-Studie zeigt, dass immer mehr Kinder aus bildungsfernen Schichten studieren. Deren Studierquote ist um 6 Prozent auf 65 Prozent gestiegen. Bei Kindern aus akademischen Elternhäusern betrug die Steigerung nur 3 Prozent. Die Schere schließt sich also. ({5}) Jetzt kann man natürlich bei jeder Erhöhung nach einer weiteren, einer noch größeren rufen. Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Das BAföG ist eine Sozialleistung. Es hat nur derjenige Anspruch darauf, der die für seinen Lebensunterhalt und seine Ausbildung erforderlichen Mittel nicht anderweitig zur Verfügung stellen kann. Das BAföG ist kein Gehalt für Studenten. Im Sinne einer Gleichbehandlung mit anderen Empfängern von staatlichen Transferleistungen sind wir angehalten, ({6}) die Freibeträge und die Bedarfssätze auf einer sachlichen Basis weiterzuentwickeln. ({7}) Das sind wir auch denjenigen schuldig, die diese Leistungen durch ihre Steuern finanzieren, obwohl sie selbst oder ihre Kinder diese nie in Anspruch nehmen werden. Hinzu kommt beim BAföG die Sondersituation, dass die Finanzierung eines Studiums für jeden Einzelnen eine Investition darstellt. Diese Investition zahlt sich aus. Sie zahlt sich in einem deutlich niedrigeren Risiko, arbeitslos zu werden, aus. ({8}) Sie zahlt sich aber auch in einem deutlich höheren Einkommen aus. ({9}) - Ich komme gleich zu den Frauen. - In der OECD-Bildungsstudie wird vorgerechnet, dass Männer in Deutschland, die direkt nach dem Schulabschluss ein Studium aufnehmen, in ihrer Erwerbszeit mit einem Einkommensbonus von 150 000 Euro rechnen dürfen. Für Frauen liegt dieser Einkommensbonus, bedingt durch geringere Löhne und höhere Teilzeitquoten, bei 95 000 Euro. Erlauben Sie mir die Anmerkung - wir haben ja gestern eine Debatte zum Weltfrauentag geführt -, dass dies ein Punkt ist, an dem wir gemeinsam mit der Wirtschaft arbeiten müssen. Der Einkommensunterschied zwischen Mann und Frau ist für mich so nicht hinnehmbar; aber das liegt nicht am BAföG. ({10}) Ich möchte zum Schluss meines Beitrags auf eine andere Verantwortung dieses Parlaments hinweisen. Das ist die Verantwortung für unseren Bundeshaushalt. Die aktuelle Situation des Bundeshaushalts, bedingt durch die Neuverschuldung, ist jedem in diesem Haus hinlänglich bekannt. ({11}) Der sparsame Umgang mit den uns anvertrauten öffentlichen Geldern ist für mich ein Gebot der Generationengerechtigkeit. Vor diesem Hintergrund halte ich die jetzt geplante BAföG-Erhöhung für mehr als angemessen. Ich bitte die Opposition, dies anzuerkennen und im weiteren Verlauf positiv zu begleiten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/884 und 17/899 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe als letzten Tagesordnungspunkt den Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen - Drucksachen 17/449, 17/822 Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Brandt Hartfrid Wolff ({2}) Josef Philip Winkler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Helmut Brandt von der CDU/CSU-Fraktion. ({3})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine geschätzten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir erstmals über diesen Tagesordnungspunkt am 28. Januar debattiert haben und im Rahmen der Sitzung des Innenausschusses am 9. Februar die Diskussion noch einmal vertieft geführt haben, befassen wir uns heute abschließend mit dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, weitere Überstellungen von Asylbewerbern nach Griechenland im Rahmen der Dublin-II-Verordnung sofort auszusetzen und die Prüfung der Asylanträge durch die Ausübung des sogenannten Selbsteintrittsrechtes nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung im nationalen Asylverfahren durchzuführen. Dabei wird Ihr Antrag im Wesentlichen damit begründet, dass das Bundesverfassungsgericht bekanntlich einige Beschlüsse im September letzten Jahres gefasst hat, auf deren Grundlage einstweilige Anordnungen antragsgemäß ergangen sind und den Antragstellern ein Bleiberecht bis zur Entscheidung in der Hauptsache gewährt wurde. Eine solche Entscheidung wird es erst im Sommer dieses Jahres geben. Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Ansinnen ist keineswegs neu, da Sie schon vor den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichtes in Anknüpfung an Forderungen von UNHCR, Pro Asyl und anderen NGOs entsprechende Anträge gestellt haben. Deshalb ist das Argument, das Sie vortragen, wenig glaubhaft: Eine Fortsetzung von Überstellungen nicht besonders Schutzbedürftiger nach Griechenland sei eine Brüskierung des Bundesverfassungsgerichtes. - Im Übrigen wiederholen Sie nur die Argumente aus der Vergangenheit. ({0}) Ihre Argumente vermögen nicht zu überzeugen ({1}) - doch, Frau Jelpke; auf Ihre Ausführungen gehe ich gleich noch zur Genüge ein -; denn die rechtliche und tatsächliche Situation ist eine gänzlich andere. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. ({2}) Was die Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts anbelangt, ist unstreitig klar, dass damit eine abschließende Bewertung durch das Bundesverfassungsgericht gerade nicht getroffen wurde. ({3}) Wie Sie wissen, Herr Veit, basieren die Beschlüsse ausschließlich auf einer Abwägung des Gerichts zwischen den Folgen, die ohne Erlass der einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsache für den Antragsteller erfolgreich wäre, und den Folgen des umgekehrten Falls. Das heißt im Klartext: Die einstweiligen Anordnungen, auf die Sie sich in Ihrer Begründung beziehen, enthalten keine abschließenden Aussagen zur Zulässigkeit der Überstellungen nach Griechenland. Sie enthalten auch keine Beurteilung der Situation in Griechenland. Vielmehr lassen sie gerade die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde offen. ({4}) - Das stimmt ganz. - Mit einem Satz: Das grundsätzliche Festhalten daran, weitere Überstellungen gemäß Dublin-II-Verordnung durchzuführen, stellt keine Brüskierung des Gerichtes dar. Die Behauptung der Antragsteller, für sogenannte Dublin-II-Rückkehrer bestehe in Griechenland kein geordneter Zugang zum Asylverfahren, ist schlichtweg falsch. Die griechische Regierung hat bereits im Jahr 2008 erklärt, dass es aufgrund des unverhältnismäßig hohen Zustroms von Asylbewerbern und Migranten erhebliche Probleme bei der Aufnahme und Durchführung von Verfahren gegeben habe, die Lage sich aber deutlich verbessert habe. Auch der UNHCR stellt in seinen Studien aus den Jahren 2007 und 2008 fest, dass Dublin-II-Rückkehrer grundsätzlich die Möglichkeit haben, einen Asylantrag zu stellen. Griechenland hatte bereits 2007 den Dubliner Büros der Mitgliedstaaten mitgeteilt, dass die sogenannte Abbruchpraxis nicht mehr vollzogen wird. Darüber hinaus hat die griechische Regierung im Sommer 2009 - das ist Ihnen bekannt - das Asylantragsverfahren dezentralisiert. Ich gebe zu: Es ist noch etwas früh, um die Auswirkungen abschließend zu beurteilen, aber es ist sicherlich ein weiterer Fortschritt. ({5}) Die Bewertung der Vereinbarkeit von Regelungen des griechischen Asylrechts mit EG-Recht obliegt im Übrigen der Europäischen Kommission. Uns liegen keinerlei Erkenntnisse vor, die den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen stützen würden. Gegen Ihren Antrag spricht auch die Praxis Belgiens, Dänemarks, Finnlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und anderer europäischer Staaten, die Überstellungen nach Griechenland grundsätzlich durchführen. Das gilt im Übrigen auch für die höchstrichterliche Rechtsprechung in diesen Ländern. Ich weise auf die Entscheidung des niederländischen Raad van State vom 31. August 2009 hin, wonach nach Griechenland überstellt werden kann. Der österreichische Asylgerichtshof entschied am 16. Januar 2009 in gleicher Weise und teilte mit, dass eine Verletzung - ({6}) - Ich spreche gerade von der europäischen Menschenrechtskonvention, und die ist überall gleich. Das ist nicht nur in Deutschland so. Der österreichische Asylgerichtshof hat entschieden, dass eine Verletzung dieser Menschenrechtskonvention gerade nicht vorliegt. Alles, was Sie zitieren könnten - was Sie nicht tun -, führt dazu, dass man Ihrem Antrag nicht folgen kann. Herr Kollege Veit hat in der Sitzung des Innenausschusses auf die hohe Flüchtlingszahl in Griechenland hingewiesen. Herr Veit, ich möchte Ihnen einige Zahlen entgegenhalten; denn die Zahl der Asylbewerber in Griechenland ist seit 2007 erheblich rückläufig, ({7}) und zwar ist sie von 25 113 im Jahr 2007 auf circa 12 000 Asylbewerber im Jahr 2009 gesunken. Das zeigt, dass sich das Problem relativiert hat. Bei den absoluten Zahlen liegt Griechenland im europäischen Vergleich hinter Schweden, Frankreich und Großbritannien erst auf Platz vier in der EU. Die Bundesregierung geht daher nach unserer Auffassung zu Recht davon aus, dass die griechische Regierung die erforderlichen Maßnahmen ergreift bzw. bereits ergriffen hat, um die früheren mit dem ehemals hohen Zustrom von Migranten und Asylbewerbern verbundenen Schwierigkeiten zu bewältigen. Mit Ihnen, Herr Veit, stimme ich nachhaltig darin überein, was die Berurteilung des damaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier anbelangt, der die Bedenken bereits geäußert hat, die auch zutreffend sind. Bei einem generellen Rückschiebungsverbot würde nämlich gleichzeitig der Anspruch aufgegeben, dass die Griechen ihren Verpflichtungen im Rahmen der Europäischen Union nachkommen. Das haben Sie in der Innenausschusssitzung selbst bestätigt. ({8}) - Herr Winkler, ich komme gleich noch zu den Zahlen und dann sehen Sie, auf wessen Rücken wir das austragen. Zwar erscheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass gegenwärtig und in Zukunft im Einzelfall noch Schwierigkeiten bei der Durchführung von Asylverfahren möglich sind, aber wir können auch nicht ausschließen - da gebe ich Herrn Josef Winkler recht -, dass das im Einzelfall zu Schwierigkeiten und Härten führt. Aber das kann nach unserer Auffassung letztlich nicht ausschlaggebend sein; denn es liegen keine Hinweise auf gravierende Verstöße gegen die fundamentale Gewährleistung des Asylrechts oder Kerngewährleistungen des Flüchtlingsrechts oder der Menschenrechte in Griechenland vor. Im Übrigen: Griechenland selbst weist zu Recht auf eine bevorzugte Behandlung sogenannter Dublin-Rückkehrer hin. Josef Winkler, in der Innenausschusssitzung wurde von mir auch auf die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in Deutschland hingewiesen, die unter Hinweis auf die bereits erwähnten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes Rückschiebungen nach Griechenland aussetzen. Genau das ist der richtige Weg. Nur bei einer gerichtlichen Entscheidung zur vorübergehenden Aussetzung verlängern sich die Fristen zur Überstellung. Würde ohne eine gerichtliche Entscheidung von Überstellungen nach Griechenland abgesehen, entstünde wegen Ablaufs der Überstellungsfristen eine deutsche Zuständigkeit zur Durchführung der Asylverfahren. Ich sage ganz klar: Das wollen wir nicht. Außerdem - das dürfte unstreitig sein - würde der sogenannte Pull-Faktor nach Deutschland noch weiter verstärkt, wenn durch die zuständigen Behörden DublinÜberstellungen nach Griechenland generell ausgesetzt würden. Schon 2009 war ein sprunghafter Anstieg unerlaubter Einreisen an deutschen Flughäfen bei Flügen aus Griechenland zu verzeichnen. Nach den vorliegenden Feststellungen haben sich die unerlaubten Einreisen im Jahr 2009 gegenüber 2008 mehr als vervierfacht. Auch das wollen wir verhindern. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trägt der Situation in Griechenland Rechnung, indem es bei besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel bei Minderjährigen, Flüchtlingen hohen Alters, bei Schwangeren, bei ernsthaft Erkrankten, Pflegebedürftigen oder solchen, die besonderer Hilfe bedürfen, von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch macht. ({9}) Ich nenne auch hier die Zahlen - sie sind sehr erfreulich -: In 2009 wurde in 871 Fällen davon Gebrauch gemacht. Demgegenüber wurden in nur 200 Fällen Überstellungen durchgeführt. Daran sieht man, dass sehr verantwortungsvoll damit umgegangen wird. Nach meiner Auffassung bedarf es dieses Antrages daher gar nicht. ({10}) Ferner wird der Überstellungszeitraum grundsätzlich ausgeschöpft, um so eine zeitliche Streckung der Überstellung vorzunehmen und eine Entlastung Griechenlands zu erreichen. Mithin wird alles getan, was dazu dient, den Griechen zu helfen. Da die Kollegin Jelpke deutlich gemacht hat - darauf möchte ich noch zu sprechen kommen, wenn Sie mir einen Moment Ihre Aufmerksamkeit schenken -, ({11}) dass das Dublin-II-Verfahren von ihrer Partei grundsätzlich abgelehnt wird und sie dafür eintritt, dass sich Flüchtlinge ihr Asylland selbst aussuchen dürfen, quasi nach Katalog, ist darauf hinzuweisen, dass gerade die Bundesrepublik Deutschland in diesem Fall mit einem Flüchtlingszustrom zu rechnen hätte, der auch von der Bevölkerung als nicht mehr hinnehmbar und unerträglich angesehen würde. Das Dublin-II-Abkommen war und ist insoweit Garant dafür, dass wir keine unkontrollierten und von uns nicht mehr zu bewältigenden Asylbewerberzahlen haben. Insofern kann das wirklich nur Illusion bleiben. Im Übrigen lassen wir Griechenland mit seinen Problemen nicht allein. Ich habe das eben zum Teil schon gesagt; ich will das nicht wiederholen. Sowohl die Angebote des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge als auch die der Regierung, Hilfestellungen zu leisten, sind Ihnen bekannt. Auch mit Blick auf die finanzielle Hilfe aus dem Europäischen Flüchtlingsfonds und die wahrscheinliche künftige finanzielle Hilfe in organisatorischer und personeller Hinsicht durch das EU-Asylunterstützungsbüro denke ich, dass Griechenland die Mittel erhält, die es braucht, um mit dem Flüchtlingsstrom fertig zu werden. ({12}) Zusammengefasst bedeutet das: Es bedarf dieses Antrages nicht, jedenfalls bedarf es der Maßnahme nicht, weshalb wir den Antrag zurückweisen und ablehnen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der SPD-Fraktion. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege Brandt, das Richtigste von dem, was Sie gesagt haben, war der Hinweis, dass auf Drängen der damaligen Opposition und des Koalitionspartners SPD das BAMF mit ausdrücklicher Billigung von Herrn Staatssekretär Altmaier und maßgebenden Mitarbeitern des BMI gesagt hat: Jawohl, bei der Frage der Zurückschiebungen und bei der Bejahung des Selbsteintrittsrechts schauen wir auf besonders schutzbedürftige Gruppen, und wir gehen sehr vorsichtig vor. Die Anzahl ist in der Tat auf wenige Hundert pro Jahr zurückgegangen. Das war das Richtigste. ({0}) Ansonsten muss ich Ihnen leider sagen: Der Innenausschuss hat im letzten Jahr im Juli eine Delegationsreise nach Griechenland durchgeführt - Delegationsleiter war der Kollege Dr. Stadler; mit dabei waren Stephan Mayer von der CSU, der zwischenzeitlich ausgeschiedene Kollege Werner Wittlich, Gerold Reichenbach von der SPD, Hartfrid Wolff von der FDP, Ulla Jelpke von der Linkspartei und meine Wenigkeit -, um sich über die Situation der Flüchtlinge dort, vor allen Dingen über die Situation der zwangsweise zurückgeführten Flüchtlinge aus Deutschland ein Bild zu machen. Dieses Bild weicht von dem, das Sie gezeichnet haben, leider völlig ab. Zwar haben auch wir festgestellt, dass sich die Realität nicht ganz so katastrophal darstellt, wie es in den Schilderungen mancher NGOs über die Zustände zum Teil behauptet wird, aber - das habe ich schon im Innenausschuss gesagt und wiederhole es hier - den aus Deutschland Zurückgeführten, den Zurückgeschobenen geht es in Griechenland keinen Deut besser, allerdings auch nicht schlechter als den übrigen Flüchtlingen. Aber das ist schlecht genug. Das Interessante ist - das erklärt, warum die Asylbewerberzahlen zurückgegangen sind -, dass die griechischen Behörden völlig außerstande sind, mit diesem Flüchtlingsstrom zurechtzukommen, ihm Herr zu werden. ({1}) - Nein, das ist immer noch so. Wir waren vom 8. bis 12. Juli 2009 dort. ({2}) Wir haben die Schlangen mit Hunderten von Menschen am Eingang zur Petrou Ralli - so heißt die Behörde im Volksmund - stehen sehen. Dort ist es Usus, dass sich am Samstag Hunderte, Tausende anstellen, damit vielleicht einige Hundert von ihnen in der folgenden Woche vorgelassen werden, um ihr Asylbegehren stellen zu können. Kein Wunder, dass die Zahl zurückgeht, wenn die Arbeitskapazitäten überhaupt nicht da sind. Sieben bis acht Polizeioffiziere und etwa ein Dutzend Dolmetscher bearbeiten am Tag vielleicht zusammengenommen 80 Anträge, also 400 in der Woche bzw. 20 000 im Jahr. Tat2576 sächlich aber hat Griechenland das Problem, dass - jedenfalls in den letzten Jahren mit stark steigender Tendenz - etwa 150 000 Flüchtlinge kommen. Knapp die Hälfte von ihnen kommt übrigens aus Albanien; das ist eine Form von Arbeitsmigration. Wenn sie zurückgeführt werden, kommen sie manchmal per Drehtüreffekt wieder. Mehr als die Hälfte von denen, also rund 70 000 bis 80 000 im Jahr, wollen weiter in das übrige Europa. Sie versuchen das dann auch illegal per Schiff, etwa von Patras oder Igoumenitsa aus. Von daher hat man es da mit einem erheblichen Problem zu tun. Dieses Problem erstreckt sich dann auch auf die aus Deutschland Zurückgeführten, auch wenn ihre Zahl vernachlässigbar klein zu sein scheint. Aber auch für sie gilt, dass Flüchtlinge dort in aller Regel kein ordnungsgemäßes Verfahren bekommen. Es gibt auch keine nennenswerte Anerkennungsquote. ({3}) Sie haben auch keinerlei Anspruch auf Gesundheitsversorgung. Ebenso haben sie in der Regel keine Möglichkeit, sich ohne Weiteres eine Wohnung zu nehmen. Sie haben mit einer sogenannten Pink Card, die ihnen ausgestellt wird, zwar für sechs Monate die Chance - in der Regel illegal - zu arbeiten und damit ihren Lebensunterhalt notdürftig zu fristen, aber im Großen und Ganzen besteht dort ein ganz erhebliches Problem von Massenobdachlosigkeit. Ich würde Ihnen gern aus unserem Reisebericht vorlesen, was uns Minister Markogiannakis - er ist der VizeInnenminister und Minister für öffentliche Ordnung gesagt hat. Er stellte nochmals eindringlich die griechische Position dar: Obwohl Ziel der illegalen Migranten nicht Griechenland sei, hindere man diese Personen an der Weiterreise. Griechenland komme hier seinen Verpflichtungen nach und drücke keinesfalls „die Augen zu“. Griechenland sei nun aber einfach nicht mehr in der Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. „Man könne dieser Invasion“ nicht Herr werden. Griechenland sei „erschöpft“. Die offiziellen Statistiken zu illegalen Migranten seien noch viel zu niedrig. Man müsse aktuell von einer Zahl von circa 2 Millionen, also einem Ausländeranteil von fast 20 Prozent, ausgehen. Besonders problematisch sei, dass es infolgedessen gerade in Athen und Patras zu Gettobildung, Verelendung und damit einhergehenden Reaktionen wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit komme, die in dem traditionell fremdenfreundlichen Griechenland bisher unbekannt gewesen seien. Vor diesem Hintergrund bin ich persönlich der Überzeugung - dieser Überzeugung waren wir alle, die wir dort waren -, dass es mit der Dublin-II-Verordnung und einer Fortentwicklung dieser Verfahrenszuständigkeiten und auch mit FRONTEX-Einsätzen in Griechenland nicht getan ist. Wenn man, wie unser Nachbar dort im Südosten, einem derartig massiven Flüchtlingszustrom ausgesetzt ist, dann darf das restliche Europa Griechenland bei dieser Aufgabe nicht allein lassen, sondern muss sich dazu bequemen, selbst etwas großzügiger Flüchtlinge aufzunehmen ({4}) und bei der Durchführung von Verfahren zu helfen. FRONTEX kann schon deswegen keine richtige Antwort sein, weil - auch das haben wir dort gelernt - die gesamte griechische Küste 15 000 Kilometer umfasst. Das ist ungefähr so viel wie die Küste des gesamten restlichen Mittelmeers. Das kann man nicht vernünftig schützen, gegen Migranten schon gar nicht und vor allen Dingen nicht gegen solche, die auf dem Landweg - diese gibt es auch - kommen. Wenn die Nachbarn, beispielsweise die Türkei, ihren europarechtlichen und völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen und keine Flüchtlinge zurücknehmen, dann verstärkt das das Problem vor Ort. Deswegen sagen wir: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass die Dublin-II-Verordnung angemessen und vernünftig, im Sinne von echter Lastenteilung fortgeschrieben wird, nicht nur als reine Zuständigkeitsregelung. Wir müssen darüber hinaus auch dafür sorgen, dass Griechenland mit seinen Problemen nicht alleine bleibt. Das hat mit den jetzigen wirtschaftlichen Problemen gar nichts zu tun. Vor dem Hintergrund ist doch eines, wie ich denke, klar: Wenn aufgrund begründeter Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Asylverfahren nach unseren Vorstellungen - und wenn es nur der Ablauf ist, für den die Kapazitäten nicht ausreichen - unser oberstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht, sagt, dass es sich ganz genau anschauen will, ob die Betroffenen rechtlos und schutzlos gestellt werden, und deswegen in mindestens sechs Fällen im Wege einstweiliger Anordnung entscheidet, dass die Betroffenen nicht zurückgeschoben werden sollen, aber trotz dieser Situation keine Bereitschaft vonseiten der Regierung und der nachgeordneten Behörden besteht, das zu beachten und jedenfalls einstweilen von Rückschiebungen abzusehen, denke ich, hat das Parlament alle Veranlassung, im Sinne des Antrages der Grünen nunmehr einen entsprechenden Entschluss zu fassen. Darum bitte ich Sie im ganzen Haus. Danke sehr. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der FDP-Fraktion. ({0})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es muss formal verhindert werden, dass eine Person in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union einen Asylantrag stellt. Deshalb ist es Ziel der Dublin-II-Verordnung, den EU-Mitgliedstaat festzulegen, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Asylantrags zuständig ist. Zuständig ist meist der Mitgliedstaat, den der Antragsteller in der EU als ersten beHartfrid Wolff ({0}) treten hat. Eine Folge dieser Verordnung ist, dass Rückführungen möglich sind. Im zuständigen Mitgliedstaat sollte dann auch ein entsprechendes Asylverfahren durchgeführt werden. Die Rückführungen nach Griechenland stehen bereits seit längerer Zeit zu Recht unter massiver Kritik bekannter Organisationen wie Pro Asyl, Amnesty International und UNHCR. Die Hauptprobleme sind: Griechenland hat im Hinblick auf Asylsuchende eine besonders geringe Anerkennungsquote. Asylsuchende werden bereits für die Durchführung von Asylverfahren in Haftanlagen untergebracht. Oft können sie gar keinen Asylantrag stellen. Anwaltliche Vertretung wird ihnen nicht gewährt. Dolmetscher werden nur bedingt hinzugezogen. Die Verfahren - die bereits angesprochene Petrou-Ralli-Straße ist ein Beispiel dafür - dauern viel zu lange und sind unglaublich schwierig. In diese Überlegungen muss sicherlich mit einbezogen werden, dass Griechenland aufgrund seiner geografischen Lage eine besonders hohe Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen hat. Von allen Seiten, einschließlich des UNHCR und der EU, wird darauf hingewiesen, dass Griechenland in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen hat, um die Bedingungen der Asylverfahren zu verbessern. Jedoch besteht nachweislich deutlicher Nachholbedarf. Es ist zu begrüßen, dass die Bundesrepublik Deutschland ihre Hilfe für Griechenland auf dem letzten Rat der Justiz- und Innenminister in praktischer Art angeboten hat. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit mit den Grenznachbarn Griechenlands wichtig. Die Einhaltung und Anwendung des Rückübernahmeabkommens mit der Türkei ist auch insofern besonders bedeutsam. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist angewiesen, jeden Einzelfall der Rücküberstellung nach Griechenland sorgfältig zu überprüfen. Nach Angaben von Pro Asyl wird bei besonders schutzwürdigen Gruppen, beispielsweise bei Minderjährigen und Kranken, in Einzelfällen generell von der Abschiebung abgesehen. Angesichts der prekären Lage der Asylantragsteller in Griechenland erscheint es sinnvoll, momentan auf Rücküberstellungen dorthin zu verzichten. Ein generelles Selbsteintrittsrecht nimmt innerhalb Europas aktuell ausschließlich Norwegen wahr. Die diesbezügliche Forderung der Grünen läuft letztlich auf eine deutsche Sonderrolle hinaus. Dies ist meines Erachtens auf Dauer nicht vernünftig. Griechenland sollte nicht von seiner unabweisbaren Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechtsstandards bzw. der Vorgaben der EU im Hinblick auf Asylverfahren entbunden werden. Allerdings ist mittelfristig eine gerechtere Verteilung der Lasten anzustreben. Die Bundesrepublik Deutschland hat in den 90er-Jahren die Hauptlast der Balkanflüchtlinge getragen. Die Verantwortung liegt aber bei allen Staaten der EU. Insbesondere auf europäischer Ebene besteht Handlungsbedarf, gerade wenn es darum geht, gemeinsam entsprechende Regelungen zu treffen. ({1}) - Das ist richtig; trotzdem wollte ich darauf hinweisen. Wir brauchen an dieser Stelle aber vor allem auf europäischer Ebene eine vernünftige Lösung, die dringend anzumahnen ist. Ich weiß, dass sich die Bundesregierung der Sensibilität dieses Themas durchaus bewusst ist und auch handeln möchte. Es wäre wünschenswert, wenn die Grünen ihre an sich berechtigte Kritik, vor allem an der Regierung Griechenlands, aber auch an den Regierungen anderer EUStaaten, deutlicher an deren Adresse richten und die Missstände in Griechenland nicht nur in Deutschland thematisieren würden. ({2}) Wenn Europa flüchtlingsfreundlicher werden soll, darf kein Staat aus seiner Verantwortung für ein korrektes Verfahren entlassen werden. Wir sind der Meinung: Individuell muss noch deutlich mehr getan werden - hier stimme ich dem Kollegen Brandt zu -, aber generell sehen wir an dieser Stelle noch keinen Handlungsbedarf. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Jelpke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zustände im griechischen Asylsystem sind schlicht und einfach verheerend. Wie schlimm es dort zugeht, konnte man übrigens vor wenigen Wochen in einem heimlich aufgenommenen Video in einem Fernsehbericht sehen. Es wurde gezeigt, wie in einer Flüchtlingsunterkunft auf der Insel Lesbos Hunderte von Menschen unter unbeschreiblichen hygienischen Bedingungen in einem Raum eingesperrt waren, schlimmer als in jedem Knast. Dies ist meiner Meinung nach Grund genug, hier zu fordern, dass die Bundesregierung sich endlich human verhält und aufhört, nach Griechenland rückzuschieben. Deshalb unterstützt die Linke jeden Antrag, der in diese Richtung geht. ({0}) Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht mehrfach Abschiebungen nach Griechenland verhindert hat. Die Bundesregierung sagt hier immer wieder, es handele sich um Einzelfälle, und besteht weiterhin auf einer Einzelfallprüfung. Wir haben von dem Kollegen Veit gehört, dass im vergangenen Jahr eine Delegation des Innenausschusses nach Griechenland gereist ist. Ich frage mich ehrlich, Herr Kollege Brandt, warum der Innenausschuss Reisen macht, wenn Sie nicht einmal bereit sind, die Erkenntnisse, die die Delegation mitbringt, entsprechend zu verarbeiten. ({1}) - Ich muss Ihnen wirklich sagen: Es gibt in ganz Athen eine einzige Ausländerbehörde. Dort stehen an jedem Freitag bis zu 3 000 Menschen, die einen Asylantrag stellen wollen. 300 können überhaupt in einer Woche bearbeitet werden. Dabei halte ich es schon für einen Skandal, dass dort Polizeioffiziere die Anhörung durchführen, die in der Flüchtlingsproblematik nicht ausgebildet wurden. Die Linke lehnt die Dublin-II-Verordnung ab, weil die EU will, dass Flüchtlinge in dem Land einen Antrag stellen, das sie zuerst betreten haben. Im vergangenen Jahr sind von Deutschland in der Tat nur 200 Rückschiebungen durchgeführt worden; von Italien sind es doppelt so viele gewesen. Von allen EUStaaten insgesamt wurden 3 000 Flüchtlinge nach Griechenland rückgeschoben. Dem Kollegen Brandt möchte ich hier noch einmal sehr deutlich sagen, dass die griechische Regierung, die Parlamentarier oder mit wem auch immer wir dort gesprochen haben, im wahrsten Sinne des Wortes „Hilfe“ gerufen haben, und zwar nicht nur, was das Asylsystem angeht, sondern vor allen Dingen, was die Rückschiebung angeht. Die Hilfe könnte darin bestehen, dass die Europäische Union überhaupt darüber diskutiert, wie eine gerechtere Umverteilung von Flüchtlingsströmen in den EU-Staaten stattfinden kann. Sie wissen genauso gut wie ich, dass in die EU-Randstaaten die meisten Flüchtlinge kommen, in den meisten Fällen übrigens über das Mittelmeer. Hier muss unbedingt eine Regelung her, die mit sich bringt, dass sich alle EU-Staaten solidarisch verhalten und das Problem nicht auf die Randländer abschieben. Fakt ist jedenfalls, dass letztendlich die Flüchtlinge den Preis zu zahlen haben. Ihre Schutzrechte spielen dort überhaupt keine Rolle. Darüber kann Deutschland nicht einfach hinwegsehen. Das Bundesverfassungsgericht weiß dies im Übrigen und entscheidet deswegen auch regelmäßig so. Deswegen sollte die Bundesregierung auch die Urteile des Bundesverfassungsgerichts genauer beachten. Ich hoffe jedenfalls, dass von diesem Gericht entschieden werden wird, dass diese Rückschiebungen nicht mehr stattfinden dürfen. Wir unterstützen den Antrag der Grünen, sagen aber auch: Ein Stopp der Überstellungen nach Griechenland muss der erste Schritt zu grundsätzlichen Reformen der europäischen Asylpolitik sein, eine Reform hin zu einem Asylsystem, das den Geboten der Humanität und vor allen Dingen dem Flüchtlingsschutz gerecht wird. Dazu müssen auch die Bundesregierung und die Fraktionen dieses Hauses wissen: Wenn sie die Abkommen unterzeichnet haben, müssen sie nicht nur darauf hinwirken, dass die anderen Länder sie umzusetzen haben, sondern dürfen auch unmöglich in Länder abschieben, die das nicht mehr gewährleisten können. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt und an diesem Tage hat der Kollege Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sonntag ist noch nicht, Herr Kollege Fricke. Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit dramatischen Worten hat der griechische Ministerpräsident, Georgios Papandreou, diese Woche seine Bürgerinnen und Bürger auf harte Einschnitte vorbereitet. Seinem Land drohe der Bankrott, es befinde sich in einer Kriegssituation, sagte Papandreou. Daher sei die Regierung zu harten Einschnitten gezwungen, und die Bürger müssten Opfer bringen. Wie kommen Sie, Herr Kollege Brandt - und ich frage die ganze CDU/CSU-Fraktion -, vor diesem Hintergrund zu der Überzeugung, dass Griechenland ohne Probleme zeitnah einen fairen und anständigen Zugang zu Asylverfahren gewährleisten kann? Das hat die letzten zwei bis drei Jahre nicht funktioniert. Angesichts dessen, dass Griechenland vor einem Staatsbankrott steht und der Premierminister von einer Kriegssituation spricht, muss man davon ausgehen, dass er anderes im Kopf hat, als sich um eine Verbesserung des Asylverfahrens zu kümmern. Wir sollten nicht durch eine forcierte Rückführung von Flüchtlingen dazu beitragen, dass die Probleme noch zunehmen. ({0}) Von einem fairen Verfahren, wie man es erwarten kann nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und den EURichtlinien über die Aufnahme von Flüchtlingen, die Durchführung des Asylverfahrens und die Kriterien für die Anerkennung von Flüchtlingen - auf diese Richtlinien haben sich die EU-Mitgliedstaaten geeinigt -, kann man nicht sprechen. Darum hat das Bundesverfassungsgericht einstweilige Anordnungen erlassen. Es stimmt nicht, wenn Sie behaupten, dass sich das Bundesverfassungsgericht zur Sache nicht geäußert hat. Es hat klar gesagt: Für diese Einzelfälle trifft es eine Entscheidung, weil die ihm vorliegenden Berichte, die darauf hinweisen, dass es im Moment nicht möglich ist, in Griechenland ein faires Asylverfahren zu bekommen - wenn man dort überhaupt Zugang zu einem Asylverfahren bekommt -, plausibel sind. Das hat das Bundesverfassungsgericht als Grundlage für seine Eilentscheidung genommen. Richtig ist: Das Bundesverfassungsgericht hat eine Grundsatzentscheidung für den Sommer angekündigt. Diese Grundsatzentscheidung werden wir abwarten müssen. Es wäre aber absurd, davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht einstweilige Anordnungen einfach so erließe ({1}) die im Übrigen letzte Woche wieder verlängert wurden -, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob es in Griechenland wirklich Probleme gibt. Frau Kollegin Jelpke hat auf die Berichte über die Probleme auf der Insel Lesbos hingewiesen. Sie haben davon auch im Zeit-Dossier von letzter Woche lesen können. Es fehlen Tausende Plätze für Asylsuchende. In den letzten beiden Jahren sind über 10 000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Griechenland eingetroffen. In ganz Griechenland gibt es momentan nur 405 Schlafplätze in kindgerechten Unterkünften, und diese sind an ungünstigen Stellen konzentriert. Da stellen sich schon Fragen. Anders als die Linksfraktion das jetzt vorgeschlagen hat, geht es uns in unserem Antrag nicht darum, die Dublin-II-Verordnung einfach aufzukündigen. Wir fordern eine Aussetzung der Rückschiebungen. Wir haben uns in der Europäischen Union verpflichtet, faire Asylverfahren durchzuführen. Richtig ist: In der Regel führt der Aufnahmestaat das Verfahren durch. Wenn der Aufnahmestaat den Zugang zu einem Asylverfahren nicht gewährleisten kann - Herr Veit und andere haben das geschildert; selbst Herr Wolff hat das eingeräumt -, ist es nicht nachvollziehbar, wie Sie sagen können, dass alles in Ordnung sei, dass man die Praxis weiterlaufen lassen könne. Sie widersprechen sich auch, wenn Sie sagen, dass man Hunderte besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, weil ihnen in Griechenland Schlimmes drohe, auf keinen Fall abschieben könne und das Amt gute Arbeit mache, wenn es diese Flüchtlinge hierbehält, dass man alle anderen aber durchaus abschieben könne in dieses krasse System, wo man keinen Zugang zu einem Asylverfahren bekommt. Das ist widersprüchlich. Insofern haben Sie Ihre Ablehnung unseres Antrages denkbar schlecht begründet, unter Menschenrechtsgesichtspunkten erst recht. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/822, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/449 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 16. März 2010, 10 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.