Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Nehmen Sie bitte Platz. - Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu
dieser Plenarsitzung verbunden mit der Hoffnung, dass
sie nicht ganz so turbulent verläuft wie eine der letzten.
Ich habe einige Mitteilungen zu machen bzw. einige
Wahlen durchzuführen, bevor wir in die Tagesordnung
eintreten.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt anstelle
der ehemaligen Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn
die Kollegin Cornelia Behm als neues stellvertretendes
Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung
der SED-Diktatur vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin
Cornelia Behm hiermit zum stellvertretenden Mitglied
dieses Stiftungsrates gewählt.
Die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer hat ihr Amt als
Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt
die Fraktion Die Linke die Kollegin Heidrun Dittrich
vor. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin
Dittrich zur Schriftführerin gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Notwendigkeit einer einheitlichen Praxis beim
Kauf von Steuer-CDs
({0})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien
und die Glaubwürdigkeit der Politik
ZP 3 Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013
- Drucksache 16/13601 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Dabei soll wie immer in solchen Fällen von der Frist
für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der bisher zur Beratung vorgesehene Tagesordnungspunkt 9 kann ohne Debatte abgeschlossen werden. Hierdurch rücken die beiden nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen entsprechend vor.
Ich mache auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an den Ausschuss für
Kultur und Medien ({3}) soll entfallen.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes
zur Verordnung ({4}) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. September 2009 über Ratingagenturen
({5})
- Drucksache 17/716 überwiesen:
Finanzausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Der in der 25. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Rechtsausschuss ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Klaus Ernst, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Datenschutz für Beschäftigte stärken
- Drucksache 17/779 überwiesen:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hierzu erhebt sich kein Einwand oder Wider-
spruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nadine
Müller ({9}), Elisabeth Winkelmeier-Becker,
Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß, Sibylle
Laurischk und der Fraktion der FDP
Internationaler Frauentag - Gleichstellung
national und international durchsetzen
- Drucksache 17/901 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel
Humme, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mit gesetzlichen Regelungen die Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben umgehend
durchsetzen
- Drucksache 17/821 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern
wirksam durchsetzen
- Drucksache 17/891 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Lazar, Ekin Deligöz, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen
- Drucksache 17/797 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen der
Bundesregierung und den Spitzenverbänden
der deutschen Wirtschaft zur Förderung der
Chancengleichheit von Frauen und Männern
in der Privatwirtschaft
- Drucksache 16/10500 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, Frau Dr. Kristina Schröder.
({14})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vier Anträge zur Gleichstellungspolitik stehen heute auf
der Tagesordnung. Kein einziger dieser Anträge fordert
die Abschaffung des Weltfrauentages; denn zu lang ist
die Liste der Themen, die an diesem Tag unsere Aufmerksamkeit verdienen. Ich möchte daher meine erste
gleichstellungspolitische Rede als Ministerin für ein paar
grundsätzliche Bemerkungen zur Chancengerechtigkeit
von Frauen und Männern in der beruflichen Entwicklung
nutzen.
Meine These ist, dass Strukturen und Kulturen in
der Arbeitswelt nicht nur Frauen benachteiligen, sondern zu einer Benachteiligung von Menschen, von Männern und Frauen, führen, wenn sie Fürsorgeaufgaben in
der Familie übernehmen. Deshalb sehe ich mich hier sowohl als Familienministerin als auch als Gleichstellungsministerin in der Pflicht.
Wir kritisieren zu Recht, dass Frauen immer noch
deutlich weniger verdienen als Männer. Wir kritisieren
zu Recht, dass auf höheren Hierarchieebenen, in Führungspositionen, insbesondere in Vorständen und Aufsichtsräten, sehr wenige Frauen vertreten sind. Aber warum reden wir so wenig über die kulturellen und
strukturellen Ursachen in der Arbeitswelt, die diesen Beobachtungen zugrunde liegen? Ich glaube nicht, dass
Gehaltsunterschiede und die fehlende Präsenz von
Frauen in den Führungsetagen immer noch das Ergebnis
bewusster, schenkelklopfender Diskriminierung sind.
Vielmehr glaube ich, dass wir es mit kulturellen und
strukturellen Ursachen zu tun haben.
Ich denke dabei zum Beispiel an ein Erlebnis, das ich
vor zwei Wochen im Zug hatte. Vor mir saß eine Frau
Mitte dreißig mit Notebook, Handy und Tochter. Die
Kleine plapperte: Mein Zimmer ist das schönste, aber
dein Zimmer und Papas Zimmer sind auch schön. Da
fragte die Mutter: Mein Zimmer? Papas Zimmer? Die
Kleine antwortete: Die Küche und das Büro. Da
musste ich natürlich erst einmal grinsen, aber in dieser
kindlichen Wahrnehmung wird, glaube ich, eines deutlich: Berufstätige Männer nehmen oft zwei, drei Karrierestufen auf einmal, während berufstätige Frauen meist
zwei, drei Jobs auf einmal machen, nämlich Beruf, Kindererziehung und Haushalt.
Das hat wenig mit individuellen Denk- und Verhaltensmustern zu tun. Wenn Paare sich freiwillig für dieses
Modell entscheiden, dann ist das ihre Privatsache. Aber
in vielen Fällen ist es nicht so. Viele Paare heute wünschen sich eine gleichberechtigte Partnerschaft. In den
Führungsetagen vieler Unternehmen gibt es eine strukturell familienfeindliche Kultur, die diese häusliche Arbeitsteilung zementiert. Ich glaube, dass genau das das
Problem ist. Diese Arbeitskultur ist von einer Leistungselite geprägt, die sich deshalb so kompromisslos
ihrer Karriere widmen kann, weil sie die Zuständigkeit
für Kinder und Küche weitgehend outgesourct hat. Dazu
lasse ich gern einen Mann zu Wort kommen. Ich zitiere
aus einem Artikel über Managerehen, der schon vor einiger Zeit in der Wirtschaftswoche erschienen ist. Der moderne Manager sei ein
familienferner Lebensnomade
Ich zitiere weiter:
Seine Firma verlangt den ganzen Mann, rund um
die Uhr und rund um den Globus, dafür wird er
schließlich bezahlt, und nicht nur er, auch seine
Frau und seine Kinder stehen auf der Gehaltsliste
der Firma, als entfernte Angestellte gewissermaßen,
weil auch sie ihr Leben dem Job unterordnen, ganz
klar
Ich glaube, die Luft für Frauen in den Führungspositionen ist auch deshalb so dünn, weil sie keine familienfernen Lebensnomaden sein wollen.
({0})
Dies wird aber in vielen Unternehmen unausgesprochen
erwartet, und auch die Arbeitszeit in vielen Führungspositionen lässt es überhaupt nicht anders zu. Das meine
ich mit den Kulturen und Strukturen, die ich als die Ursache für die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt genannt habe. Solange Frauen kinderlos bleiben
und sich für den klassisch kompromisslosen männlichen
Lebenslauf entscheiden, ist das kein so großes Problem.
Da gibt es zwar die typischen Vorurteile, die jede erfolgreiche Frau kennt, aber das machen Frauen oft durch einen besonderen Arbeitseinsatz wieder wett. Sobald
Frauen aber Mütter werden und sich Zeit für Verantwortung nehmen wollen, bezahlen sie dafür mit Gehaltseinbußen und eingeschränkten beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten.
({1})
Sie sind es, die länger im Beruf aussetzen. Sie sind es,
die in Teilzeit zurückkehren. Sie sind es, die den Familienalltag managen. Das ist - das betone ich noch einmal völlig in Ordnung, solange sich Paare dafür entscheiden.
Ungerecht ist es, wenn die äußeren Bedingungen ihnen
keine andere Wahl lassen.
({2})
Von fairen Chancen für Frauen in der Arbeitswelt
kann keine Rede sein, solange familiäre Aufgaben dort
als Handicap gelten. Dies gilt übrigens genauso für Männer, die bereit sind, mehr familiäre Verantwortung zu
übernehmen. Denn auch sie disqualifizieren sich häufig
für höhere Aufgaben in einer von familienfernen Lebensnomaden geprägten Welt, in der sich Kulturen und
Strukturen nur sehr langsam verändern.
Was aber bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn
Zeit für Verantwortung in der Familie so massiv mit
beruflichen Entwicklungschancen bezahlt werden muss?
Diese Frage halte ich für entscheidend. Denn ich verstehe meine Arbeit als Ministerin für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend nicht nur als Arbeit für diese Zielgruppen, sondern auch als Gesellschaftspolitik mit einem zentralen Ziel: mit dem Ziel, den Zusammenhalt
unserer Gesellschaft zu unterstützen und zu fördern.
Unter diesen Leitgedanken sollten wir auch unsere
Gleichstellungspolitik stellen, und unter dieser Prämisse
sollten wir auch die Forderung nach gesetzlichen Quotenregelungen beurteilen.
({3})
Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag klar zum gemeinsamen Ziel bekannt, den
Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen.
({4})
Dabei kann man mit der Brechstange vorgehen und
gleichstellungspolitische Ziele gesetzlich vorschreiben,
etwa in Form von gesetzlichen Quoten für alle Bereiche,
in denen Frauen fehlen. Das wirkt dann wie Kortison:
Die Symptome verschwinden, aber die Ursachen bleiben.
({5})
Man kann aber auch versuchen, die Ursachen ungleicher Chancen in der beruflichen Entwicklung zu bekämpfen. Das ist eine langfristige Strategie, und sie
fordert ein ganzes Bündel unterschiedlicher Maßnahmen: Maßnahmen, die Denk- und Verhaltensmuster ändern, wie zum Beispiel die Vätermonate oder eine
Gleichstellungspolitik, die gezielt auch Jungen und
Männer in den Blick nimmt, Maßnahmen, die Zeit für
Verantwortung in die Arbeitswelt integrieren, wie zum
Beispiel das Teilelterngeld oder unser wichtiges Vorhaben einer Familienpflegezeit, und nicht zuletzt auch
Maßnahmen, die die Dominanz von Männern ab einer
gewissen Hierarchiestufe transparent machen und Diskussionen darüber anstoßen.
({6})
Hier setzt unser Stufenplan an. Was wir brauchen,
sind Veränderungen, die wir am besten mit Unterstützung der Unternehmen und nicht im Kampf gegen die
Unternehmen erreichen.
({7})
Deshalb halte ich eine Quotenregelung nicht für die gleichstellungspolitische Offenbarung. Das gilt insbesondere im
operativen Bereich, im Management und bei Vorständen;
da wäre eine Quotenregelung schon verfassungsrechtlich
problematisch. Für Aufsichtsräte allerdings schließe ich
eine Mindestanteilsregelung als Ultima Ratio nicht aus.
Denn ich bin überzeugt, als Damoklesschwert kann eine
gesetzliche Mindestanteilsregelung für Aufsichtsräte notwendige Veränderungsprozesse in Gang setzen.
({8})
Als Brechstange benutzt, würde sie aber nur die Zahlen
verändern.
Vielleicht brauchen wir aber weder das eine noch das
andere. Denn Unternehmen können es sich gar nicht
mehr leisten, in den Führungsetagen auf die Kompetenz
von Frauen zu verzichten.
({9})
So viel Selbstbewusstsein sollten wir haben, nicht nur
am Weltfrauentag.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme
für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Zugegeben, ich habe Ihre erste gleichstellungspolitische
Rede mit Spannung erwartet, Frau Schröder. Was ich in
dieser Rede gehört habe, sind aber weder für eine junge
Ministerin neue Impulse, noch sind es in irgendeiner
Weise konkrete Lösungen im Hinblick auf die berechtigte Kritik, die Sie vorgetragen haben. Ganz im Gegenteil, Sie machen nach wie vor den Fehler, Familienpolitik
und Gleichstellungspolitik gleichzusetzen. Ich glaube,
das ist total falsch.
({0})
Familienpolitik und Gleichstellungspolitik gehören eigenständig nebeneinander. Das ist der richtige Weg.
Wir behandeln heute nicht nur die Anträge der Fraktionen, sondern auch die Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen der Wirtschaft und der Bundesregierung zur Förderung der Chancengleichheit aus dem
Jahre 2008. Frau Schröder, es wäre gut gewesen, wenn
Sie sich diese Bilanz einmal angeschaut und sich damit
beschäftigt hätten, was in den zurückliegenden neun Jahren seit 2001 eigentlich passiert ist. Man muss sagen,
dass gleichstellungspolitisch über Freiwilligkeit gar
nichts erreicht worden ist, noch nicht einmal im Schneckentempo. Alle Appelle, die wir an die Wirtschaft gerichtet haben, sind verpufft. Freiwilligkeit hat überhaupt
nichts gebracht.
({1})
Frau Schröder, schauen wir doch einmal hin, wo wir
heute nach neun Jahren stehen: In der Bilanz 2008 ist
konstatiert worden - das haben Sie auch schon gesagt -,
dass Frauen bei gleicher Arbeit 22 Prozent weniger als
Männer verdienten; heute beträgt die Lohnlücke 23 Prozent. In Westdeutschland sind wir - so sagt das Statistische Bundesamt - bei 25 Prozent angelangt. Mit vier anderen Ländern in Europa haben wir die rote Laterne; wir
sind das Schlusslicht. Wollen Sie das etwa hinnehmen?
Wie wollen Sie - das habe ich Ihrer Rede überhaupt nicht
entnommen - eigentlich den negativen Trend durchbrechen, der sich hier ergeben hat? Brauchen wir dafür
nicht gesetzliche Regelungen anstelle von Freiwilligkeit? Brauchen wir nicht endlich ein Entgeltgleichheitsgesetz?
({2})
Frauen in Führungspositionen sind immer noch mit
der Lupe zu suchen. Der Frauenanteil in Aufsichtsräten
liegt heute bei 4 Prozent. Da, wo die Unternehmen mitbestimmt sind, wo die Gewerkschaften aktiv sind, gibt es
11 Prozent Frauen in Aufsichtsräten. Wie sieht es bei
den Vorständen aus? Lediglich eine einzige Frau hat es
geschafft, in den Vorstand eines der DAX-30-Unternehmen zu kommen. Wie wollen Sie diesen Trend brechen?
Wir müssen uns doch die Frage stellen, was zu tun ist.
Hier rate ich Ihnen ganz eindeutig, Frau Schröder,
einmal über den Tellerrand zu gucken. Schauen Sie über
die Grenzen hinweg, aber nicht nur nach Norwegen, wo
es schon Erfolge gibt. Schauen Sie einmal auf Ihre konservativen Kolleginnen und Kollegen in Belgien, die gerade eine Quote für die Aufsichtsräte einführen wollen.
Eine Quote von 40 Prozent für Aufsichtsräte ist der richtige Weg. Das wollen wir ebenso wie die belgischen
Freunde, die ebenfalls erkannt haben, dass Freiwilligkeit
nichts bringt.
({3})
Ich will jedoch - wie das diese Beispiele vielleicht
vermuten lassen - nicht nur Negatives sagen. Positiv ist,
dass wir eine Frauenerwerbsquote von 66 Prozent erreicht haben. Dies ist mehr, als uns das Lissabon-Ziel
vorschreibt. Aber schauen wir einmal genauer hin, wie
es mit dem Arbeitsvolumen aussieht: Das Arbeitsvolumen ist konstant geblieben, was bedeutet, dass heute in
Deutschland nur 37 Prozent der erwerbstätigen Frauen
einen Vollzeitjob haben. Hätten Sie in die Bilanz hineingeschaut, hätten Sie gesehen, dass seinerzeit immerhin
noch 45 Prozent der Frauen in Vollzeit beschäftigt waren. Das heißt, wir haben auch da einen negativen Trend.
Die überwiegende Mehrheit der Frauen ist teilzeitbeschäftigt; dies gilt sowohl für sozialversicherungspflichtige Jobs als auch für Minijobs. Von denen, die allein in
Minijobs sind, sind wiederum zwei Drittel Frauen.
Darum sage ich Ihnen, Frau Schröder: Schauen Sie
genau hin, wie es den Frauen in der Bundesrepublik
geht. Teilzeitarbeit und Niedriglohnsektor sind vor allen Dingen weiblich. Damit bauen wir eine Falle auf, die
darin besteht, dass niedriger Lohn zugleich eine niedrige
Rente für die Zukunft bedeutet. Dies können wir den
Frauen nicht zumuten.
({4})
Darum kündige ich Ihnen jetzt schon einmal an, Frau
Schröder, dass wir ganz genau hinschauen werden, wie
Sie die Elternzeit gestalten. Bauen Sie das Risiko für
eine Falle aus oder nicht? Ihr Vorschlag für zwei Jahre
Pflegezeit, der heute überall herumgeistert, stellt doch
angesichts unserer Arbeitsmarktstrukturen ebenfalls eine
Falle für Frauen dar.
({5})
Welche Frau kann es sich denn heute leisten, über mehrere Jahre auf Einkommen zu verzichten? Schauen Sie
einmal hin, wie die Arbeitswelt wirklich aussieht.
Meine lieben Kollegen, liebe Kolleginnen, wir haben
in unserem Antrag ganz konkrete Lösungen aufgezeigt,
die ich bei Ihnen vermisse. Wir können nur sagen: Der
gesetzliche Mindestlohn ist genau das richtige Instrument, um Frauen im Niedriglohnsektor zu helfen. Natürlich wollen wir auch den Anteil der Vollzeitbeschäftigung erhöhen und die Einkommenssituation der Frauen
verbessern. Dies geht natürlich nur im Einklang mit der
Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist richtig. Wir
brauchen einen Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige und wollen an dem Rechtsanspruch auf diese Betreuung festhalten. Auch hier gebe ich Ihnen eines mit
auf den Weg, Frau Schröder: Nehmen Sie all Ihre Kraft
zusammen und verhindern Sie in Zukunft weitere Steuersenkungen. Wir brauchen hier die Unterstützung für
die Kommunen, die die Betreuungsmöglichkeiten für
unter Dreijährige schaffen müssen. Alles andere wäre
ein gleichstellungspolitischer Rückschritt.
({6})
Zum Abschluss. Frau Schröder, ich will nicht verhehlen, dass Sie auch Positives tun. Wir hören von der
Initiative Perspektive Wiedereinstieg, wir hören von
einem dreijährigen Projekt zur Gleichstellung von
Frauen in der Wirtschaft. Sie haben heute - was auch immer das sein mag - einen Stufenplan angekündigt. Dabei
setzen Sie allerdings wiederum auf Freiwilligkeit. Damit
führen Sie die Frauen an der Nase herum.
({7})
Sie suggerieren mit diesen Projekten, dass Sie etwas tun.
Die Wahrheit ist jedoch: An den Verhältnissen ändern
Sie überhaupt nichts.
({8})
Wir brauchen keine gleichstellungspolitischen Strohfeuer, Frau Schröder. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, die die Frauen ernst nehmen, Maßnahmen, wie wir
sie mit unserem Antrag vorgeschlagen haben: einen gesetzlichen Mindestlohn, ein Entgeltgleichheitsgesetz, eine
Frauenquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte. Das ist
eine Politik, die die Forderungen der Frauen nach mehr
Gleichstellung tatsächlich ernst nimmt.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun die Kollegin Bracht-Bendt für
die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Nie zuvor waren Frauen so gut ausgebildet wie heute; das bestätigt eine soeben veröffentlichte Studie des Berliner Senats.
Der Gender Datenreport Berlin 2009 zeigt allerdings
auch, dass sich der Bildungserfolg von Frauen noch
nicht auszahlt: Rund 40 Prozent der 35- bis 45-jährigen
Männer haben ein monatliches Nettoeinkommen von
über 1 500 Euro. Bei den Frauen sind es nur 32 Prozent.
Mit steigendem Alter wird diese Kluft noch größer.
Frauen gehören weit öfter als Männer zu den Geringverdienern, aber nur selten zu den Spitzenverdienern.
Teilzeitarbeit ist weiblich; daran hat auch das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz, mit dem die Große Koalition mehr Männer für Teilzeitarbeit motivieren wollte,
nichts geändert. 32 Prozent der weiblichen Beschäftigten
arbeiten Teilzeit, ein Drittel davon, weil sie keine Kinderbetreuung für den ganzen Tag bekommen. Alleinerziehende Frauen beziehen statistisch betrachtet am
häufigsten Arbeitslosengeld II.
Diese Fakten machen deutlich, warum wir auch im
Jahre 2010 den Internationalen Frauentag zum Anlass
nehmen sollten, offene Fragen anzusprechen.
Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion haben
heute einen Antrag eingebracht. In diesem Antrag weisen wir darauf hin, dass sich der Anteil der Frauen, die
für das Familieneinkommen sorgen, in den letzten
15 Jahren von rund 6 Prozent auf fast 10 Prozent erhöht
hat, im Osten sogar von 10 Prozent auf 13 Prozent. Die
Frage der Frauenerwerbstätigkeit wird für den Alltag
der Familien immer wichtiger.
Dennoch müssen wir feststellen: Obwohl in Deutschland heute fast 60 Prozent der Hochschulabsolventen
Frauen sind, lag laut Statistischem Bundesamt der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern 2008
weiterhin bei 23 Prozent. Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich auf einem der letzten Plätze.
Es gibt viele Ursachen für Lohnunterschiede: Erstens.
Viele junge Mädchen entscheiden sich noch immer für
traditionell als weiblich geltende Berufe. Viele dieser
Berufe sind eine Einbahnstraße, weil es so gut wie keine
Aufstiegsmöglichkeiten gibt.
Zweitens. Wenn sich Frauen der Familie zuliebe für
mehrere Jahre aus dem Beruf ausklinken, haben sie später häufig schlechte Karten; denn da sie weniger Berufserfahrung haben, verdienen sie weniger als männliche
Kollegen.
Drittens. Es gibt Probleme bei der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Diese Probleme sind oft der Grund,
warum Frauen Teilzeit arbeiten.
Meine Damen und Herren, weniger Geld ist das eine.
Dass Frauen in leitenden Positionen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind, ist das andere. In der Privatwirtschaft beträgt der Anteil von Frauen in Führungspositionen rund 27 Prozent, im öffentlichen Dienst
23 Prozent.
Ein Beispiel: Mittlerweile sind mehr als 50 Prozent
derer, die in Zeitungsredaktionen arbeiten, Journalistinnen. Je weiter es in der Hierarchie nach oben geht, umso
dünner wird die Luft: Chefredakteurinnen machen gerade einmal 1 Prozent aus.
Hinzu kommt, dass in Deutschland Frauen, die Karriere
machen, überdurchschnittlich oft kinderlos sind. Dies
gilt bekanntlich nicht nur für den Medienbereich.
Warum machen Frauen häufig einen Rückzieher,
wenn Vorstandsposten und leitende Funktionen ausgeschrieben werden? Wenn die Kindertagesstätte um fünf
schließt, ist für Alleinerziehende eine Tätigkeit, die häufig mit Überstunden verbunden ist, nicht machbar. Von
Wahlfreiheit kann erst die Rede sein, wenn das Infrastrukturangebot bei der Kinderbetreuung stimmt.
({0})
Fehlende flexible Öffnungszeiten von Kindergärten
sind aber nicht das einzige Motiv dafür, dass Frauen oft
keine Führungsaufgabe anstreben. Frauen fehlt es auch
an Selbstbewusstsein. Frauen gründen selten Netzwerke.
Seilschaften sind für sie etwas Unanständiges, während
sie für Männer als klarer Karrierevorteil selbstverständlich sind. Ich rate allen Frauen, mehr Eigen-PR zu leisten
und offensiv für sich einzutreten - auch bei Gehaltsverhandlungen.
Wenn wir über Gleichstellungspolitik reden, dann
denke ich nicht nur an Frauen in der obersten Etage. Wir
müssen auch über die Situation von Frauen reden, die
nur ein geringes Gehalt bekommen und später wenig
Rente zu erwarten haben. Verheiratete Frauen, die auf
das Familieneinkommen des Ehemanns angewiesen waren, haben meistens wenig für das Alter vorgesorgt.
Altersarmut wird in einigen Jahren weiblich sein. Die
Gleichstellungspolitik muss zum Ziel haben, soziale Risiken in den Lebensläufen zu erkennen. Wir brauchen familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche Lebensund Arbeitsbedingungen.
({1})
Ich möchte noch einmal den Begriff Wahlfreiheit
aufgreifen; denn ob Mütter oder Väter berufstätig sind
und in welchem Umfang, können sie erst dann wirklich
frei entscheiden, wenn die Kinderbetreuung funktioniert.
Hier ist auch weiterhin die Politik gefordert.
Aber auch die Unternehmen sind in der Pflicht. Wir
brauchen familienfreundliche Arbeitszeitmodelle; denn
das wollen auch junge Väter. Viele von ihnen wollen
nicht nur Feierabendpapis sein. Diese Entwicklung ist
erfreulich.
({2})
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Die Zeit der Lila-Latzhosen-Frauenpolitik ist vorbei.
({3})
Heute muss es darum gehen, das umzusetzen, worüber
wir jahrelang diskutiert haben. Frauen sind auch hier in
der Pflicht. Wir müssen eigenverantwortlich und selbstverständlich für unsere Rechte eintreten.
Am Internationalen Frauentag sollte es nicht ausschließlich um die Belange der Frauen gehen. Gleichberechtigung von Frauen und Männern muss in allen gesellschaftlichen Bereichen selbstverständlich sein.
({4})
Lassen Sie uns gemeinsam die Weichen dafür stellen,
damit Benachteiligungen in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, in der Politik und in der Gesellschaft endlich
ausgeräumt werden.
({5})
Die Kollegin Cornelia Möhring von der Fraktion Die
Linke ist die nächste Rednerin.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich befürchte, wir führen hier eigentlich eine völlig überflüssige und auch verlogene Debatte, und ich glaube, die
meisten von uns wissen das auch.
Mit dem Thema dieser Diskussion tun CDU, CSU
und FDP so, als wollten sie mit ihrer Politik tatsächlich
ernsthafte Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen
und Männern erreichen.
({0})
In Wirklichkeit interessiert sie die Gleichstellung aber
nur dann, wenn es für die Wirtschaft nützlich ist und
nichts kostet.
({1})
Die Lage der Betroffenen ist in ihrem Denken völlig außen vor.
Schon das Gleichstellungsverständnis der Koalitionsfraktionen ist selektiv und kritikwürdig. Sie beschränken
Gleichstellung auf Chancengleichheit bei der Teilhabe.
Dabei hat schon das Bundesverfassungsgericht vor Jahren festgestellt, dass Gleichstellung Teilhabe und Antidiskriminierung sowie ein Leben frei von Rollenstereotypen beinhalten muss.
({2})
Davon ist die Bundesregierung mit ihrer Gleichstellungspolitik Lichtjahre entfernt.
({3})
Meine Damen und Herren, in vier Tagen begehen wir
den Internationalen Frauentag. In den 99 Jahren seines Bestehens haben Frauen weltweit viele Fortschritte
erreicht. Dennoch müssen sie auch heute noch um ihre
demokratischen Rechte, für Frieden, für gleichen Lohn
bei gleichwertiger Arbeit und um ihre Teilhabe an der
Gesellschaft kämpfen - auch in der Bundesrepublik.
So mussten die Verkäuferinnen bei Hertie und Quelle
im letzten Jahr erfahren, dass formale Gleichberechtigung nicht automatisch auch reale Gleichbehandlung bedeutet. Für die Rettung kriminell agierender Banken hat
die Bundesregierung 2009 einen riesigen Schutzschirm
aus Hunderten Milliarden Euro aufgespannt. Für die
Verkäuferinnen hatten Sie nicht einmal ein Cocktailschirmchen übrig.
Dieses Jahr ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Auch vor
diesem Hintergrund ist es dringlich, endlich verpflichtende Maßnahmen zur Beseitigung der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern festzulegen.
({4})
2010 sollte der Unterschied in der Bezahlung von
Frauen- und Männerarbeit in der BRD eigentlich nur
noch 15 Prozent betragen. So hatte es die Bundesregierung 2008 beschlossen. Das wäre zwar immer noch kein
Ruhmesblatt für die Politik, aber doch eine deutliche
Verbesserung.
Die Realität sieht aber anders aus: In den unteren und
mittleren Gehaltsgruppen erhalten Frauen konstant immer noch 22 bis 23 Prozent, in den höheren Gehaltsgruppen sogar 27 Prozent weniger Lohn als Männer, allen
Appellen der Bundesregierungen an die Wirtschaft zu
freiwilligen Selbstverpflichtungen, allen Aktionstagen
und Förderprogrammen zum Trotz. Die Gründe für die
Entgeltungleichheit sind vielfältig; aber alle sind politisch beeinflussbar, wenn ein entsprechender Wille dazu
vorhanden wäre.
({5})
Der Bundesregierung fehlt aber der Wille. Sie verschärft die Lohndiskriminierung weiter, statt zu ihrer Bekämpfung beizutragen. Sie weiten den Niedriglohnsektor aus, in dem überproportional viele Frauen beschäftigt
sind. Internationale Erfahrungen zeigen uns, dass eine
wirksame Strategie zur Bekämpfung der Entgeltungleichheit die Einführung flächendeckender gesetzlicher
Mindestlöhne beinhalten muss.
({6})
Die Linke fordert das seit Jahren: Wir wollen, dass spätestens 2013 jede Frau und jeder Mann für jede Stunde
Erwerbsarbeit mindestens 10 Euro erhält.
({7})
Die Bundesregierung setzt auch in dieser Wahlperiode auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Das bedeutet erneuten Stillstand statt mehr
Frauen in den Chefetagen.
({8})
Besonders in den großen Konzernen haben Frauen so gut
wie keine Chance, in höhere Hierarchieebenen aufzusteigen. Die wenigen, die es dorthin schaffen, erwartet
eine herbe Enttäuschung: Sie erhalten für gleiche Arbeit
weniger Gehalt, weniger Sonderzahlungen und Boni. All
das weiß die Bundesregierung, lehnt aber trotzdem eine
verbindliche Festlegung von Quoten für die Privatwirtschaft ab. Da muss wirklich die Frage erlaubt sein, wie
ernst Sie es mit der beruflichen Gleichstellung von
Frauen meinen.
({9})
Heute liegt Ihnen ein Antrag meiner Fraktion zur
wirksamen Durchsetzung der Entgeltgleichheit zwischen
den Geschlechtern vor. Danach sollen Arbeitgeber und
Tarifparteien vom Gesetzgeber zur Herstellung der Entgeltgleichheit bei Wahrung der Tarifautonomie verpflichtet werden. Die Bundesregierung lehnt eine solche
Verpflichtung ab. Diese Haltung negiert die Verantwortung der Politik gemäß Art. 3 Grundgesetz für den
Schutz von Frauen vor Diskriminierung und für die Beseitigung aller bestehenden Benachteiligungen.
Der uns vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
listet fast alle Defizite auf, die zur Verbesserung der
Lage von Frauen in der Bundesrepublik zu beseitigen
wären; aber er enthält für keines der Defizite eine Lösungsstrategie. Daher lehnt meine Fraktion den Antrag
ab. Stattdessen fordert die Linke: Schluss mit den Minijobs, her mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro bis 2013!
({10})
Schluss mit den zarten Bitten an die Unternehmen, her
mit einem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft!
({11})
Schluss mit Prüfaufträgen und Evaluierungsverfahren,
her mit einem Gesetz, das gleiche Löhne für gleiche und
gleichwertige Arbeit garantiert!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Frau Kollegin Möhring, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für
die Fraktion der Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Internationale Frauentag ist der Tag, an dem wir eine Bilanz ziehen müssen: Wie steht es im Jahr 2010 um die
Gleichstellung der Geschlechter? Frau Ministerin, leider
hat mir Ihre Rede bei dieser Frage nicht wirklich viel
Hoffnung gegeben.
({0})
Sie haben uns hier eine Analyse geliefert; Sie haben versucht, irgendwie die Verhältnisse zu erklären. Sie müssen aber schlicht und einfach die Fakten anerkennen,
dass hier in Deutschland von Gleichberechtigung überhaupt keine Rede sein kann
({1})
und wir überhaupt nicht davon reden können, dass
Gleichstellung tatsächlich stattfindet. Dazu gibt es bekanntermaßen jede Menge Zahlen und Fakten. Ihre Analyse bringt uns also nicht weiter. Nehmen Sie es einfach
zur Kenntnis!
({2})
Ein paar Beispiele: Frauen verdienen bei uns immer
noch deutlich weniger als Männer. Dies unterstreicht
auch der europäische Vergleich. Wenn es um Führungsposten geht, bleiben Männer hierzulande lieber unter
sich; sie haben ungern Frauen mit dabei. Das ist Fakt.
Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die Opfer von
häuslicher Gewalt sind. Armut in Deutschland hat vor
allem ein weibliches Gesicht. Das ist Fakt. Frauen sind
immer noch diejenigen, die die Frage der Vereinbarkeit
von Familie und Beruf alleine lösen müssen, auch wenn
Sie noch so viel über Männerpolitik reden. Das ist Fakt.
Ich könnte diese Aufzählung immer weiter fortsetzen.
Spitze ist Deutschland auch im europäischen Vergleich
nur in einem einzigen Punkt: in der Eheförderung.
({3})
Insbesondere durch das Ehegattensplitting halten wir
weiter an einer Ideologie fest, die lautet: Frauen sollen
am besten zu Hause bleiben und dem Arbeitsmarkt fernbleiben. Das ist eine Ideologie. Sie haben noch keine
einzige Antwort darauf geliefert, wie wir diese Ideologie
in unserem Land überwinden können.
({4})
Damit komme ich zu der Kernfrage. Die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt ist und bleibt die Kernfrage
des neuen Feminismus. Jetzt höre ich aber von der Ministerin und von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion
wie Frau Bär, dass Sie Feminismus als einen Kampfbegriff sehen und sich gerne davon distanzieren.
({5})
Ich halte das für einen Fehler. Der Feminismus ist für
mich bzw. für uns junge Frauen das Ergebnis einer Frauenrechtsbewegung. Diesem Feminismus haben wir es zu
verdanken, dass wir heute diese Debatte führen können.
({6})
Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass
junge Frauen, dass unsere Generation aufrecht und
selbstbewusst durchs Leben gehen kann. Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass meine Tochter
auch das Büro, also Frauen im Beruf, für selbstverständlich hält statt für irgendetwas, das in weiter Ferne liegt.
Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass
wir über Gleichstellung und gleiche Chancen von Männern und Frauen reden. Von diesem Feminismus sollten
Sie sich nicht distanzieren. Vielmehr sollten Sie sich ihm
verpflichtet fühlen. Das ist Ihre Aufgabe.
({7})
Was aber macht die Regierung? Sie machen Frauenpolitik zu einer Prüfaufgabe. Sie reden. Sie wollen eintreten. Sie wollen werben. Sie wollen ankündigen. Sie
wollen prüfen, ob Sie prüfen, dass Sie prüfen.
({8})
Das reicht doch nicht. Sie müssen schon ein bisschen
mehr machen.
Eines machen Sie: Sie halten an einem alten Gesellschaftsvertrag fest und machen aus einem kleinen Unterschied einen großen, und darauf sind Sie auch noch
stolz. Das ist Ihr Fehler.
({9})
Es liegt viel im Argen. Wir Grünen haben in der letzten und in dieser Wahlperiode jede Menge Vorschläge
gemacht: Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft,
Mindestlohn - davon würden vor allem Frauen profitieren - und die eigenständige Existenzsicherung von
Frauen.
In diesem Zusammenhang muss ich leider der SPD
sagen: Sie hätten dem allen zustimmen können. Sie hätten mutiger sein können. Sie hätten das alles mitmachen
können. Wo waren Sie in den letzten Jahren?
({10})
Es ist schön, dass Sie das jetzt endlich auch erkannt haben, aber es wäre besser gewesen, Sie hätten es früher
erkannt. Dann wäre das jetzt nämlich alles per Gesetz
geregelt.
({11})
Wir wollen, dass jede und jeder so leben kann, wie sie
oder er es möchte, aber nicht auf Kosten des anderen Geschlechts. Eine echte Gleichberechtigung fordert beiden
Seiten etwas ab.
Sie propagieren Jungenpolitik bzw. Männerpolitik.
Ich erziehe einen Sohn und eine Tochter. Ja, ich will,
dass mein Sohn Chancen im Leben und die bestmögliche
Förderung hat. Ich will aber auch, dass meine Tochter
die gleichen Chancen und Rechte hat, und zwar nicht
nur, indem ihr Bruder sich für sie einsetzt, sondern weil
es in diesem Land selbstverständlich ist, dass sie die
gleichen Rechte hat. Das sollten wir durchsetzen, statt
nur darüber zu reden.
({12})
Frau Kollegin Deligöz, ich erlaube mir den Hinweis,
dass mindestens bei der großzügigen Bemessung der Redezeit der amtierende Präsident Kolleginnen mindestens
gleichberechtigt behandelt.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für
die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
mich zunächst bei unseren Parlamentarischen Geschäftsführern, Herrn Altmaier, Herrn Müller und Herrn van
Essen, bedanken, dass unsere beiden Koalitionspartner
die Wichtigkeit dieses Themas auch dadurch erkennen
lassen und zum Ausdruck bringen,
({0})
dass wir es heute seit 9 Uhr in der Kernzeit behandeln.
({1})
Das zeigt doch ganz deutlich, dass für uns Frauenpolitik kein Gedöns ist, wie das bei anderen Fraktionen der
Fall ist, sondern dass wir Frauenpolitik ernst nehmen.
({2})
Ich finde es beeindruckend, welche Beißreflexe ausgelöst werden. Ganz ehrlich, meine lieben Kolleginnen
von den Grünen und der SPD, Sie glauben doch nicht,
dass Sie etwas für die Frauen in diesem Land erreichen
können, wenn Sie eine Kollegin hier so behandeln.
({3})
- Frau Künast, immer die Lauteste zu sein, bringt nichts,
wenn man keine Ergebnisse vorweisen kann. Da Sie sich
angeblich so für Frauen und lila Latzhosen einsetzen,
wie Sie vorhin betont haben
({4})
- das hat sie gesagt; Sie hätten die Zwischenrufe hören
sollen -, hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich in den
sieben Jahren von Rot-Grün auch für die Frauen eingesetzt hätten. Es tut mir leid, aber das haben Sie nicht getan.
({5})
Ich habe mich vor 17 Jahren mit Begeisterung in mein
politisches Ehrenamt gestürzt und hätte jemandem, der
mir damals gesagt hätte, dass wir im Jahr 2010 eine Debatte wie die heutige führen würden, nicht geglaubt. Leider Gottes müssen wir eine solche Debatte führen, weil
in diesem Land nicht alles so ist, wie wir uns das vorstellen. Dass Frauenpolitik eine gesamtgesellschaftliche
Aufgabe und nicht nur ein Frauenthema ist, lässt nur die
CDU/CSU-Fraktion erkennen; denn wir sind die einzige
Fraktion, die später auch einem Mann das Wort geben
wird.
({6})
Unter Zeugen hat unser Fraktionsvorsitzender vorhin gesagt, dass er in dieser Debatte zu Wort kommen möchte.
Das ist hiermit notiert und wird ihm auch gewährt.
Ich bitte Sie, sich nun dem Thema angemessen zu
verhalten und vielleicht auch denjenigen zuzuhören, die
am Rednerpult stehen.
({7})
Eine Studie der Hertie School of Governance belegt,
dass nur 27 Prozent der Führungskräfte in der Privatwirtschaft Frauen sind. Wir dürfen aber nicht nur mit
dem Finger auf die Privatwirtschaft zeigen; denn im öffentlichen Dienst ist diese Quote mit 23 Prozent noch
schlechter. Wenn wir uns andere EU-Länder ansehen,
müssen wir feststellen, dass wir in Deutschland mit dem
Anteil von Frauen in Führungsetagen nur im unteren
Mittelfeld liegen. In einigen Ländern gibt es gesetzliche
Maßnahmen zur Gleichstellung - darüber haben wir
schon im Ausschuss gesprochen -, beispielsweise in
Norwegen und den Niederlanden. Leider gilt im Jahr
2010 noch immer, dass es der beruflichen Entwicklung
junger Frauen schadet, wenn sie in der Familiengründungszeit zu lange aussetzen oder in Teilzeit arbeiten.
Wir haben in der letzten Legislaturperiode begonnen,
gegenzusteuern. Wir von der Union haben Zukunftspolitik gemacht. Zukunftspolitik ist natürlich nichts anderes als Familienpolitik. Wir haben einige Maßnahmen in
die Wege geleitet, zum Beispiel den quantitativen und
qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung in diesem
Land. Wir haben des Weiteren das Elterngeld eingeführt
und für eine bessere steuerliche Absetzbarkeit der Betreuungskosten gesorgt. Wir leisten dadurch einen wichtigen Beitrag für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
({8})
Es ist nicht nachvollziehbar, dass gut ausgebildeten,
hochmotivierten Frauen nicht in gleichem Maße Verantwortung übertragen wird wie Männern. Für mich ist es
daher nicht nachvollziehbar, dass Frauen erst dann geholt werden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Vielmehr müssen schon im Vorfeld Schritte gemacht werden. Man darf nicht so lange warten, bis es nicht mehr
genügend Männer gibt.
Auch mir war zunächst nicht die Möglichkeit gegeben, in meiner Pfarrgemeinde zu ministrieren. Erst ein
paar Jahre später, als es nicht mehr genügend Jungen
gab, wurden die Mädels herangezogen. Mir ist wichtig,
dass die Privatwirtschaft erkennt, dass sie nun die Möglichkeit hat, Frauen zu beschäftigen, weil dann effizienter und wirtschaftlicher gearbeitet wird, Stichwort
Fachkräftemangel. Wir haben - das hat die Ministerin
bereits angesprochen - im Koalitionsvertrag einen Stufenplan zur Erhöhung des Anteils von Frauen in Vorständen und Führungspositionen vorgesehen. Wir setzen uns
mit der Vereinbarung der Bundesregierung mit der Privatwirtschaft für mehr Gleichberechtigung ein. Aber auch das möchte ich an der Stelle sagen - wenn sich weiterhin nichts tut, dann werden wir zusätzlich konkrete
Maßnahmen beschließen müssen.
({9})
Bitte schön, Frau Kollegin Sager, Sie haben Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.
Frau Kollegin Bär, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass Sie einfach erfolgreich gewartet haben, bis
keine männlichen Messdiener mehr zur Verfügung standen und Sie dann an der Reihe waren. Dürfen wir das so
verstehen, dass wir einfach so lange warten sollen, bis
keine Männer mehr in die Aufsichtsräte wollen und wir
endlich an der Reihe sind?
({0})
Es tut mir leid, dass Sie es einfach nicht kapiert haben.
({0})
Mehr kann man dazu leider nicht sagen, Frau Sager.
Aber ein Blick in das Protokoll wird Ihnen vielleicht ermöglichen, das zu begreifen, was ich hier mitgeteilt
habe.
({1})
Wir sollten uns hier eher damit beschäftigen, herauszufinden, wo die Ursachen liegen. In den Unternehmen
gibt es immer noch eine übertriebene Anwesenheitskultur. Natürlich muss man das anprangern. Jeder von uns
weiß, dass alleine die Anwesenheit im Plenum keinen
Abgeordneten zu einem guten Parlamentarier macht.
Dasselbe muss auch für die Privatwirtschaft gelten. Es
darf nicht sein, dass diejenigen, die abends die Letzten
sind und das Licht ausmachen, befördert werden. Frauen
können sich oft nicht leisten, bis abends in Diskussionsrunden zu sitzen. Frauen wollen effizient arbeiten und
Ergebnisse liefern.
Wir wollen ein weiteres wichtiges Thema bearbeiten,
nämlich den Unterschied im Lohn. Heute wurde schon
mehrfach von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen
der Oppositionsfraktionen angesprochen, dass Frauen
weniger als Männer verdienen. Das stimmt nicht.
({2})
Frauen verdienen genauso viel wie Männer, aber sie bekommen weniger. Das ist der große Unterschied.
({3})
Deswegen wollen wir die Bedingungen dafür schaffen,
dass diese Lohnlücke geschlossen wird; denn
40 Prozent Lohnlücke kann man nicht nur damit erklären, dass Frauen niedrig bezahlte Berufe wählen und familienbedingte Erwerbsunterbrechungen haben. Beispielsweise gibt es bei Berufsanfängerinnen immer noch
einen Unterschied von 18,7 Prozent zum Lohn der Berufsanfänger. Der lässt sich dadurch nicht erklären.
Ein letztes Wort an die Kolleginnen von der SPD, die
die ganze Zeit mehr mit sich selbst als mit der Sache beschäftigt sind. Sie sollten vielleicht einmal in Ihrer eigenen Partei dafür sorgen, dass erstens diese Themen nicht
wie Gedöns behandelt werden - das habe ich vorhin angesprochen - und zweitens auch Ihre männlichen Kollegen mit Frauen in der Politik anders umgehen. Wenn Ihr
ehemaliger Parteivorsitzender Herr Beck sagt, er wolle
im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz Frau Klöckner wie einen Mann behandeln, nämlich fair und sachlich, dann
heißt das im Umkehrschluss, dass er sonst mit Frauen
anders umgeht. Das empfinde ich als viel skandalöser als
alles andere.
Vielen Dank.
({4})
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Eigentlich könnten wir jedes Jahr am Internationalen Frauentag die Reden vom Jahr davor hervornehmen. Es hat
sich seit 99 Jahren leider immer noch nichts geändert. Es
geht immer noch um die gleichen Themen. Was mich bei
dieser Debatte - das muss ich ganz offen sagen - nach
30 Jahren Frauenpolitik und Gleichstellungspolitik wirklich aufregt, ist, welches Verständnis zumindest Teile des
Hauses vom Thema Gleichstellungspolitik haben.
({0})
Es geht hier nicht um die Frage, ob Gleichstellung gewährt wird, sondern es geht um Rechte. Wir haben ein
Grundgesetz mit dem Art. 3. Viele Frauen haben damals
gekämpft, dass er in das Grundgesetz hineinkommt.
({1})
Viele Frauen von der eben viel gescholtenen Lila-Latzhosen-Generation haben in ihrer Zeit für eine Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Gleichstellung gekämpft. Ich finde, es steht uns überhaupt nicht an, diese
Frauengeneration in irgendeine Ecke zu stellen; denn
ohne diese Frauengeneration wären viele von uns heute
nicht da, wo sie heute sind.
({2})
Die Frage ist: Welches Verständnis von Gleichstellungspolitik haben wir? In dem Antrag der Koalitionsfraktionen steht - ich zitiere -:
Gleichstellungspolitik muss gezielt die Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und
Männern berücksichtigen und bei der Familiengründung oder in der Phase des Wiedereinstiegs ins
Erwerbsleben zielgenaue Hilfe anbieten.
Das unterscheidet uns: Wir wollen uns mit diesen Verhältnissen nicht abfinden. Wir wollen die Verhältnisse
ändern, nicht die Auswirkungen beklagen, aber dann etwas darüberstülpen, um das Ganze zu kaschieren.
({3})
Frau Schröder, es stimmt auch nicht, dass nur Eltern,
sprich Mütter, benachteiligt sind. Sie sind stärker benachteiligt; das ist richtig. Aber auch Frauen ohne Kinder, ob sie nun gewollt oder ungewollt kinderlos sind,
werden benachteiligt. Sie kommen nicht in Führungspositionen hinein. Gut, schenkelklopfend ist die Diskriminierung wahrlich nicht mehr, aber es gibt diskriminierende Strukturen in unserer Gesellschaft. Diese
Barrieren gilt es zu überwinden. Das ist die gläserne Decke, gegen die Frauen noch immer stoßen und die sie daran hindert, in Führungspositionen hineinzukommen.
({4})
Diese Frauenministerin hält nach drei Monaten ihre
erste gleichstellungspolitische Rede und hat nichts anderes als einen Antrag der Koalitionsfraktionen anzubieten, in dem es um die Unterstützung bei Gehaltsverhandlungen geht. Equal Pay, gleiche Bezahlung, ist doch
keine Frage der Unterstützung bei Gehaltsverhandlungen. Gleiche Bezahlung für gleiche bzw. gleichwertige
Arbeit ist ein Recht. Es ist kein Kavaliersdelikt, wenn
dagegen verstoßen wird.
({5})
Das ist Diskriminierung, ob jetzt schenkelklopfend oder
nicht, aber es ist und bleibt eine Diskriminierung, nichts
anderes. Dagegen muss man vorgehen.
Länder, in denen es entsprechende gesetzliche Maßnahmen gibt, stehen auf dem Gender-Index besser als
wir da. Dort sind mehr Frauen in Führungspositionen. Es
gibt bessere Einrichtungen zur Kinderbetreuung und
bessere Möglichkeiten zur Vereinbarung von Familie
und Beruf. Das Gender-Pay-Gap, also der Unterschied in
der Bezahlung von Männern und Frauen, ist in solchen
Ländern nicht so groß wie bei uns. Darin, über diese Fragen zu diskutieren, sind wir spitze. Aber wenn es darum
geht, Art. 3 des Grundgesetzes mit Leben zu füllen, dann
sind wir ganz hinten, insbesondere mit dieser Regierung.
Ich befürchte, dass es in den nächsten vier Jahren zu
einem Stillstand in der Gleichstellungspolitik kommen
wird, weil Sie nicht bereit sind, endlich entsprechende
Maßnahmen zu ergreifen. Wir haben jetzt seit über zehn
Jahren freiwillige Vereinbarungen, die nichts gebracht
haben. Es wird die Frauen keinen Millimeter weiterbringen, noch einmal vier Jahre und danach noch weitere
vier Jahre auf freiwillige Vereinbarungen zu setzen. Was
wir brauchen, sind verbindliche Regelungen, die bewirken, dass die Barrieren abgebaut werden, beispielsweise
auch die Barrieren in unserem Einkommensteuerrecht,
das das Zuhausebleiben befördert und nicht unbedingt
den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf.
({6})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich darf Ihnen einen
letzten Rat mit auf den Weg geben. Sie haben vernünftigerweise das Betreuungsgeld in Ihrem Antrag schon gar
nicht mehr erwähnt. Beerdigen Sie diese Idee. Das Betreuungsgeld ist ein Baustein für mehr Ungleichheit statt
zu mehr Gleichheit.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Kollegin Miriam Gruß für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Frau Ferner, Sie haben gerade
beklagt, dass wir jedes Jahr den Internationalen Frauentag begehen und immer wieder darüber reden, sich aber
Jahr für Jahr nichts ändere. Ich glaube, in den letzten elf
Jahren haben Sie regiert. Sie hätten etwas tun können.
Warum stehen Sie jetzt hier und beklagen die Situation,
die Sie elf Jahre lang hätten ändern können?
({0})
Für mich verhält es sich mit dem Internationalen
Frauentag wie mit vielen Gedenktagen:
({1})
Es ist wichtig und richtig, dass wir diese Gedenktage begehen und an diesen Tagen über die Verhältnisse sprechen und diskutieren. Aber wir sollten eben nicht nur an
diesem einen Tag darüber reden, sondern wir müssen
365 Tage im Jahr darüber reden, diskutieren, aber auch
Lösungen finden. Diese Koalitionsfraktionen bieten Lösungen an, und zwar im Gegensatz zu Ihnen, die Sie die
letzten elf Jahre nur Maßnahmen verkündet, aber nichts
davon durchgesetzt haben.
({2})
Im Koalitionsvertrag haben wir einige Maßnahmen
festgehalten, wie zum Beispiel einen Rahmenplan zur
gleichberechtigten Teilhabe von Frauen in den verschiedenen Phasen des Lebensverlaufs, die Weiterführung der
Bundesinitiative Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft, Maßnahmen zur Förderung eines leichteren
Wiedereinstiegs in das Berufsleben und die Überwindung der Entgeltungleichheit durch das Lohntestverfahren Logib-D.
({3})
Wichtig ist mir ganz persönlich aber auch die Erweiterung des Blickwinkels in der Gleichstellungspolitik auf
Jungen und Männer. Ich möchte an diesem Tag betonen
- weil es da auch bestimmte Befürchtungen gibt -, dass
wir durch die Einbeziehung von Jungen und Männern in
unsere Gleichstellungspolitik nicht die Wichtigkeit der
weiteren Mädchen- und Frauenförderung vergessen dürfen. Das will auch diese Koalition nicht. Wir wollen nur
den Blickwinkel erweitern, weil er in den letzten Jahren
verengt war.
Es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt darüber
sprechen, dass Jungen die Bildungsverlierer sind und öfter schlechtere Startchancen haben, aber dann irgendwann weiter Karriere machen und die Nachteile ausgleichen, weil die Frauen viel von der Erziehungszeit
übernehmen. Aber es muss auch Ziel sein - und es ist
das Ziel dieser Regierung -, Jungen die gleichen
Startchancen zu geben und einen neuen Blick auf Jungen- und Männerpolitik zu werfen.
({4})
Wir müssen Stereotypen überwinden. Es ist beispielsweise nach wie vor so, dass sich fast ausschließlich
Frauen in Erzieherberufen wiederfinden und Männer
umgekehrt meist technische oder handwerkliche Berufe
ergreifen. Diese traditionell weiblichen oder traditionell
männlichen Berufe bringen aber auch Probleme mit sich,
wie beispielsweise den Mangel an Männern in Erzieherberufen. Es ist wichtig, dass wir daran etwas ändern,
denn auch Jungen brauchen Vorbilder, und zwar auch
männliche. Deswegen brauchen wir mehr Männer in Erzieherberufen. Es muss gestattet sein, auch das in der
Debatte zum Internationalen Frauentag zu sagen.
({5})
Wir wollen deswegen Initiativen fortführen und erweitern, zum Beispiel neben dem Girls Day auch einen
Boys Day ins Leben rufen und die Initiative Neue
Wege für Jungs fortführen, weil wir wissen, dass Jungen, die beispielsweise im Rahmen von Schnupperpraktika Einblick in traditionell weibliche Berufe bekommen
haben, sich auch selbst eine Berufstätigkeit in diesen Bereichen vorstellen können.
Für alle gilt: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein ganz wichtiger Schritt für die Gleichstellung
im Leben. Aber - das ist schon gesagt worden - auch
Männer wollen Familienzeit erleben können. Der Ausbau der Betreuung muss deshalb oberste Priorität haben,
und zwar qualitativ wie quantitativ. Betreuung erschöpft
sich im Übrigen nicht in der Betreuung von unter Dreijährigen, sondern bezieht sich auf die gesamte kindliche
Lebensphase. Deswegen müssen wir zusammen mit den
Ländern Lösungen finden, die eine qualitativ gute Betreuung und bei Trägervielfalt eine flexible Betreuung
ermöglichen.
({6})
Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert aber
auch familiengerechte Arbeitszeiten. Wir brauchen eine
Arbeitswelt, die auf Familien Rücksicht nimmt. Dies gilt
nicht nur für die Betreuung von Kindern, sondern - diese
Debatte ist gestern angestoßen worden - natürlich auch
für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Der gesamte
Pflegebereich ist noch sehr weiblich geprägt. Wir müssen diese Debatte anstoßen und Chancen eröffnen, die
die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowohl für
Frauen als auch für Männer ermöglichen.
({7})
Gestern hat eine Kollegin von den Linken im Hessischen Landtag, Frau Schott, gefordert, den Internationalen Frauentag in Hessen, aber auch nur in Hessen zum
Feiertag zu machen. Wir müssen den Internationalen
Frauentag zum Anlass nehmen, um die bestehenden Probleme ins Bewusstsein zu rufen, sie anzugehen und Lösungen für sie zu finden - und zwar über Hessen hinaus.
Vielen Dank.
({8})
Katja Kipping ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am
8. März findet zum 99. Mal der Internationale Frauentag
statt. Anlässlich dieses Ereignisses sollten wir festhalten,
dass die Frauenbewegung in den letzten 100 Jahren einiges erkämpft hat.
({0})
Es ist falsch, die Geschichte der Frauenbewegung als
eine Geschichte des Scheiterns zu beschreiben.
Nichtsdestotrotz gibt es immer noch sehr viel, was
wir verändern müssen und was wir auch erkämpfen müssen, bis wir von wirklicher Geschlechtergerechtigkeit reden können. Nur einige wenige Beispiele:
Zwei Drittel aller Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, sind Frauen, und das bei gleichen bis besseren Schulabschlüssen. Dem Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge gehen
zwei Drittel aller Mütter mit einem Kind unter drei Jahren keinerlei Arbeit nach. Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Ich finde nicht, dass man junge
Frauen unbedingt zu den Segnungen der Erwerbsarbeit
zwingen muss. Meine Kritik setzt dann an, wenn ein
Mangel an Kitaplätzen, ein Mangel an guter Arbeit oder
aber Rollenklischees Frauen dazu zwingen, auf Erwerbsarbeit zu verzichten.
({1})
Immer noch wird ein Großteil der Hausarbeit der
Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes zufolge von den Frauen erledigt; 80 Prozent der Putzarbeit
tragen die Frauen weg. Wenn man diese Zahl nennt, hört
man im politischen Raum, besonders gern von Männern:
Was hat denn die Politik damit zu tun? Das muss innerhalb der Familien geregelt werden. - Mit diesem Einwand macht man es sich zu einfach. Solange wir Regelungen wie das Ehegattensplitting haben, die natürlich
befördern, dass einer in der Familie der Haupternährer
ist und ein anderer maximal der Hinzuverdiener - es darf
dreimal geraten werden, wer der Hauptverdiener ist -, so
lange zementieren wir alte, überkommene Rollenmodelle. Das Ehegattensplitting gehört abgeschafft. Die
Idee des Haupternährers ist ein alter Zopf, der im
21. Jahrhundert endlich abgeschnitten gehört.
({2})
In dem Antrag der FDP und der CDU/CSU werden zu
Recht wichtige Probleme, wie die Entgeltgerechtigkeit,
festgestellt - so weit, so gut. Doch was schlagen Sie
dann vor? Zum Beispiel, dass der Übergang von Minijobs, also prekärer Arbeit, in sozialversicherungspflichtige Arbeit erleichtert wird. Damit erwecken Sie
geradezu den Eindruck, als ob der Minijob das Tor zu
guter Arbeit wäre. In der Realität ist das Gegenteil der
Fall: Minijob bedeutet Sackgasse Prekarität, und Minijobs bedeuten Minirenten. Somit ist Altersarmut vorprogrammiert.
Die Erwerbsarbeit von Frauen wird zunehmend prekär, das heißt unsicherer und schlecht bezahlt. Gegen
diese Prekarisierung regt sich nun Widerstand. Nicht nur
die Reinigungskräfte, nicht nur die Beschäftigten bei
Schlecker wehren sich vehement gegen Lohndumping.
Bei all diesen Kämpfen gegen die Prekarisierung von Erwerbsarbeit geht es nicht nur um reine Abwehrkämpfe.
Nicht nur für mich sind die Kämpfe gegen diese Prekarisierung verbunden mit einem Aufbruch in die Vier-in-einem-Perspektive. Das wäre eine Vision, die für Männer
wie Frauen gleichermaßen mehr Lebensqualität bedeuten würde. Danach besteht eine Woche aus den folgenden vier gleichberechtigten Tätigkeiten: ein Viertel Erwerbsarbeit, ein Viertel Haus- und Familienarbeit, ein
Viertel politisches, gesellschaftliches Engagement und
ein Viertel Arbeit an sich selber.
Für diese wichtige Vision gibt es Reformschritte, die
uns dahin führen können. Dazu gehören für die Linke
die Einführung des Mindestlohnes, die Abschaffung des
Ehegattensplittings und die Einführung von wirklich
verbindlichen Vorgaben für die Wirtschaft. Wer immer
noch glaubt, allein Appelle an die Freiwilligkeit der
Wirtschaft können hier etwas verändern, dem kann ich
nur sagen: Ihr Warten auf die freiwilligen Leistungen der
Wirtschaft kann ganz schnell zum Warten auf Godot
werden, und der kam bekanntlich nie.
({3})
Ich habe am Anfang über die bisher erkämpften Fortschritte gesprochen. Ich will noch einmal sagen: Alle
bisherigen Fortschritte mussten erkämpft werden. Das
Patriarchat hat noch nie den Frauen ihre Rechte auf dem
Silbertablett serviert. Insofern möchte ich uns einfach ermuntern: Wenn es um die Rechte von Frauen geht, wenn
es um Geschlechtergerechtigkeit geht, bleiben wir kämpferisch!
Danke schön.
({4})
Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frauen sind mehr wert. Dieses Credo haben sich mehrere europäische Länder auf die Fahnen geschrieben. In
Norwegen müssen seit 2006 mindestens 40 Prozent der
Sitze in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen
von Frauen besetzt sein. Sanktionen bis hin zum Börsenentzug sind dabei vorgesehen. Auch in den Niederlanden
gibt es eine Quotenregelung. In Belgien und in Österreich wird diese diskutiert, und in Frankreich hat eine
entsprechende Initiative die erste parlamentarische
Hürde genommen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung
nimmt sich an diesen Ländern kein Beispiel, obwohl sie
nicht zu den politisch weit links stehenden gehören.
Die Führungspositionen in der deutschen Privatwirtschaft sind nach wie vor fest in Männerhand. Das
gilt auch für die Aufsichtsräte. In den 200 größten deutschen Unternehmen liegt der Frauenanteil bei unter
10 Prozent. Den größten Teil hiervon stellen dann auch
noch die Arbeitnehmervertretungen. Die Vereinbarung
von 2001 zwischen der rot-grünen Bundesregierung und
den Arbeitgeberverbänden ist de facto gescheitert. Hiermit sollte die Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft gefördert werden. Passiert
ist leider nichts. Das müssen wir wirklich schmerzhaft
zur Kenntnis nehmen. Aber daraus lernen wir: Es ist Zeit
für verbindliche Regelungen nach einem festen Zeitplan.
Frau Ministerin Schröder hat ja von der Quote als
Brechstange gesprochen. Wenn wir das Wort schon gebrauchen wollen, kann ich nur sagen: Manch einer merkt
es vielleicht nicht ohne Brechstange. Wahrscheinlich ist
jetzt die Zeit der Brechstange da.
({0})
Doch Union und FDP setzen weiterhin auf ein lahmes
Pferd und halten unbeirrt an freiwilligen Selbstverpflichtungen fest. Der vorgesehene Stufenplan ist unverbindlich, beinhaltet keine festen Zeitvorgaben und sieht vor
allem auch keine Sanktionen vor. Das ist nur Säbelrasseln mit stumpfen Waffen. Das spiegelt sich auch im Antrag der Koalition zu diesem Tagesordnungspunkt wider.
Der Forderungsteil ist wachsweich und beinhaltet keine
konkreten Maßnahmen. Für einen Antrag einer Regierungskoalition ist das wirklich peinlich; denn Sie sind
doch jetzt an der Regierung und könnten das umsetzen,
statt Prüfaufträge zu erteilen.
({1})
Bündnis 90/Die Grünen fordern dagegen eine generelle Änderung des Aktiengesetzes. Wir wollen eine umfassende Modernisierung der Unternehmensführung und
-kontrolle. Frauen sollen zu mindestens 40 Prozent in
den Aufsichtsräten vertreten sein. Ziel ist eine paritätische Besetzung. Ähnliches fordert auch die SPD. Es ist
allerdings wirklich traurig - das wurde ja vorhin auch
schon angesprochen -, dass Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, in den Jahren, als Sie an der Regierung waren - Sie waren ja noch mehr Jahre als wir an
der Regierung -, nichts davon umgesetzt haben.
({2})
- Das gebe ich natürlich zurück. Es gab jemanden, der
hieß Schröder, war männlich und hat sich in der Frauenund Gleichstellungspolitik nicht mit Ruhm bekleckert.
({3})
Der Antrag der Linksfraktion spiegelt leider nur allgemeine Forderungen wider. Es ist richtig, Mindestlöhne
und auch Verbesserungen bei den Minijobs, also in den
unteren Bereichen, zu fordern. Da sind wir uns einig,
auch wenn gewisse Differenzen bleiben. Allerdings habe
ich in Ihrem Antrag Forderungen nach Veränderungen
auch in den Führungsetagen vermisst. So etwas hätte ich
mir gewünscht.
({4})
- Dann machen Sie den anderen Antrag. Darauf warten
wir.
({5})
Ich denke, wir müssen neben Absicherung in den unteren Etagen auch dafür sorgen, dass sich etwas in den
Führungsetagen ändert. Diese müssen endlich weiblicher werden.
({6})
Die Diskriminierung von Frauen hat viele Verliererinnen und Verlierer. Sie schadet den Unternehmen, der
Wirtschaft und unserer Demokratie. In einer Pressemitteilung des Deutschen Juristinnenbundes wurde das auf
den Punkt gebracht. Darin heißt es,
dass die Performance von Unternehmen, die Diversity leben, um vieles besser ist. Daher liegt die Erhöhung des Frauenanteils unmittelbar im Unternehmensinteresse.
Wir sollten es nicht länger hinnehmen, dass Bildungsinvestitionen vergeudet werden, dass auf kreative Potenziale verzichtet wird und die Chancen auf eine neue Dynamik im Arbeitsmarkt verschlafen werden.
Zum Schluss noch ein kleiner Hinweis auf den Lohnunterschied, der, wie ja schon angesprochen wurde,
bundesweit 23 Prozent beträgt. In Ostdeutschland ist
dieser Unterschied geringer. Ein Grund ist unter anderem, dass Männer dort weniger verdienen. Mir fallen
auch bundesweit einige Männer in Führungspositionen
ein, die weniger verdient hätten. Vielleicht ist das ja auch
ein Weg.
Vielen Dank.
({7})
Nun erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei unserer eigenen Fraktion, bei den Kolleginnen und Kollegen aus
der AG Familie, Senioren, Frauen und Jugend, besonders bedanken,
({0})
dass ich als einziger Mann in dieser Debatte sprechen
darf.
({1})
Auch das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist.
Mein Kollege Gauweiler gab mir gerade noch mit auf
den Weg - ich glaube, das macht den Kontrast zu unserer Politik sehr deutlich -,
({2})
an die engagierten Feministen Schröder und Fischer
zu erinnern. Sie haben gerade Gerhard Schröder erwähnt; aber Joschka Fischer stand ihm, glaube ich, in
nichts nach.
({3})
Aufgrund der Bandbreite, in der wir in unserer Fraktion den Internationalen Frauentag sehen, möchten wir
deutlich machen, dass es uns nicht nur darum geht, dass
wir heute über die Mängel diskutieren, die sicherlich
auch in unserer Gesellschaft vorhanden sind. Ich sage
nicht, dass all das, was Sie angesprochen haben, unberechtigt ist. Aber ich glaube, dass es an einem solchen
Tag - bei einer Debatte zur Kernzeit ist es besonders
wichtig, dass wir breit darüber diskutieren - auch wichtig ist, den internationalen Aspekt - als außenpolitischer
Sprecher bin ich froh darüber, dass ich sprechen darf ({4})
in die Debatte hineinzubringen. Ich glaube, dass es einen
inneren Zusammenhang zwischen Emanzipation, der
Verwirklichung von Frauenrechten und der Implementierung des Friedens in der Gesellschaft gibt. Das ist der
Grund dafür, warum es heute nicht nur um die Frauenpolitik weltweit geht, sondern auch um die Friedenspolitik.
({5})
Meine Damen und Herren, ich stimme Frau Kipping
zu, wenn sie sagt, dass von der Frauenbewegung in den
vergangenen 100 Jahren sehr viel erkämpft worden ist.
Man sollte sich einmal vor Augen führen: Wenn Clara
Zetkin vor fast genau 100 Jahren auf der Internationalen
Frauenkonferenz in Kopenhagen die Einführung eines
Frauentages gefordert hat, dann hat sie das nicht getan,
um einen Frauentag als Institution, als Selbstzweck zu
schaffen, sondern hat damit auch konkrete politische
Forderungen und deren Umsetzung verbunden. Dank der
Frauenbewegung und dank der Emanzipation in
Deutschland sind auf diesem Gebiet über Jahrzehnte hin
Erfolge zu verzeichnen. Deshalb möchte ich allen
Frauen, die sich hierfür engagiert haben, herzlich danken.
({6})
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu sehen, wo
Deutschland international Verantwortung trägt, wo wir
uns mit dem wichtigen Anliegen der Emanzipation, der
Gleichstellung einbringen können. Die UNO hat sich
vor zehn Jahren mit der Resolution 1325 besonders für
die Frauenrechte eingesetzt. Unsere Kollegin Müller, die
kürzlich mit unserem UN-Botschafter Wittig gesprochen
hat, hat mich gerade darauf hingewiesen, dass Deutschland zurzeit versucht, in der UNO an dieser Stelle neue
Impulse zu setzen, indem unser Botschafter dort eine besondere Arbeitsgruppe leiten wird. Ich sage ganz klar,
dass sich unsere Außenpolitik auch an Werten orientieren muss. Ein ganz wichtiger Wert ist die Verwirklichung der Rechte von Frauen und Mädchen. Wenn es darum geht, in der Welt internationale Verantwortung zu
zeigen, dann ist das für uns ein ganz wichtiger Punkt.
({7})
Dieser Weg ist bei weitem noch nicht zu Ende. Aber
ich möchte auch auf die Erfolge hinweisen, die erreicht
worden sind. Ich nenne das Beispiel Afghanistan. Bevor
die Taliban 1996 in Kabul einmarschiert sind und danach
den Besuch der Universität verboten haben, gab es knapp
10 000 Studenten, davon 40 Prozent Frauen. Während der
Herrschaft der Taliban gab es in Afghanistan keine einzige Frau an den Universitäten. Wenn wir uns anschauen,
was sich in dieser Gesellschaft heute verändert hat, dann
sehen wir - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, dass zu einer Friedenspolitik und zum Aufbau einer Zivilgesellschaft selbstverständlich gehört, dass Frauen Zugang zu
Universitäten und zu Schulen überhaupt bekommen. Deshalb ist es richtig, auch in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass von heute 34 000 Studierenden in Afghanistan
7 000 Frauen sind. Das ist noch zu wenig; das kann noch
mehr werden. Aber wir sind dort auf einem guten Weg.
({8})
Im Auswärtigen Dienst der afghanischen Regierung befinden sich Frauen, zum Beispiel die Geschäftsträgerin
der afghanischen Botschaft, Frau Neda, hier in Berlin.
Ich habe sie in der großen Afghanistan-Debatte vor einigen Wochen schon erwähnt.
Ich möchte auf andere Beispiele zu sprechen kommen. In fast allen großen Konflikten auf der Welt sind
Frauen und Kinder die Hauptopfer von Auseinandersetzungen. Auch in unserem Antrag ist davon die Rede.
Nach UN-Angaben sind 75 Prozent der Opfer in Krisengebieten Frauen und Kinder. Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich das große Engagement von mutigen
Frauen herausheben. Es sind sehr häufig Frauen, die sich
für ihr eigenes Geschlecht sehr stark einsetzen, und dies
unter sehr schwierigen Bedingungen. Ich rede von
Kudakwashe Chitsike aus Simbabwe. Sie ist Anwältin
und engagiert sich für eine Menschenrechtsorganisation.
Sie unterstützt vor allem die Aufarbeitung der Untaten
von Robert Mugabe, der schätzungsweise 2 000 Frauen
- es waren insgesamt viel mehr - gezielt für ihre Tätigkeit in der Opposition zur Rechenschaft gezogen hat,
und zwar auf brutalste Art und Weise: Sie wurden geprügelt oder brutal vergewaltigt. Ich bin der Meinung, dass
es an einem solchen Tag zu einer solchen Debatte gehört, dass wir neben Aufsichtsratsposten, Managergehältern und anderem auch darüber reden, dass andernorts
die Verhältnisse, in denen Frauen leben, wesentlich
schlechter sind. Deswegen wollen wir von hier aus dazu
aufrufen, dass diejenigen, die eine Verbesserung der Situation von Frauen verhindern, wie zum Beispiel Robert
Mugabe, für ihr Fehlverhalten und ihre schlimmen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
({9})
Frau Chitsike hat ein Internetvideo produziert, das ich
Ihnen empfehle. Sie können es überall im Internet finden. Es heißt Hear Us. Dort schildern vier Frauen auf
sehr bewegende Art und Weise ihre schlimmen Erlebnisse in diesem schrecklichen Konflikt.
Ich sehe, dass meine Redezeit leider schon vorbei ist,
aber ich möchte ein weiteres Beispiel nennen.
({10})
Da müssen Sie sich aber sehr beeilen, Herr Kollege
Mißfelder.
Im Iran gehen mutige Frauen gegen das Regime von
Ahmadinedschad auf die Straße und werden dafür brutalst zusammengeschlagen. Deshalb denke ich, dass es
wichtig ist, am heutigen Tag darauf hinzuweisen, dass es
in allen Krisenherden der Welt fast immer Frauen sind,
die als Erste mit den schlimmen Auswirkungen zu leben
haben. Deshalb möchte ich allen Frauen dieser Welt, die
an ihre Freiheit glauben und dafür kämpfen, für den Mut,
den sie aufbringen, danken.
Herzlichen Dank.
({0})
Gabriele Hiller-Ohm ist die nächste Rednerin für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Mann
macht noch keine Gleichstellung.
({0})
Ich freue mich, dass sich auch in der CDU Männer vom
Thema Gleichstellung angesprochen fühlen. Das sollte
sich dann aber auch im politischen Handeln, in den richtigen Konzepten niederschlagen. Da sieht es bei Ihnen
leider zappenduster aus, wie Sie auch heute wieder unter
Beweis gestellt haben.
({1})
Der Equal Pay Day zeigt es schonungslos: Knapp drei
Monate länger, nämlich bis zum 26. März 2010, müssten
Frauen in Deutschland arbeiten, um das gleiche Einkommen zu erhalten, das Männer 2009 im Schnitt verdient
haben. Selbst bei gleicher Arbeit haben Frauen oft weniger in der Lohntüte als ihre männlichen Kollegen, und
das bei ausgezeichneten Bildungsabschlüssen. Schluss
damit!, sagte deshalb die damalige rot-grüne Bundesregierung und setzte sich mit Vertretern der Wirtschaft zusammen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden.
Im ersten Schritt wurde eine freiwillige Vereinbarung
zur Durchsetzung gleicher Chancen für Männer und
Frauen beschlossen. Leider ging diese in die Hose. Wir
haben gelernt: Freiwilligkeit hat ihre Grenzen. Aus dieser Erfahrung heraus hatte Olaf Scholz im vergangenen
Jahr als Arbeitsminister einen Gesetzentwurf zur Verwirklichung von Entgeltgleichheit vorgelegt. Lohndiskriminierung würde damit aufgedeckt, und gleiche
Löhne wären rechtlich durchsetzbar. Die Arbeitgeber
könnten sagen: In meinem Betrieb werden Frauen anständig bezahlt. - Leider, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, haben Sie diese dringend notwendige Initiative eiskalt ausgebremst.
({2})
Sie schreiben nun in Ihrem Antrag, den Sie gemeinsam
mit der FDP vorlegen: Wir wollen auf die Beseitigung
der Entgeltungleichheit hinwirken. Um Himmels willen,
dann wirken Sie doch endlich!
({3})
Sie sind doch an der Regierung. Haben Sie das noch
nicht begriffen? Wo bleibt Ihr Gesetzentwurf? Der von
Olaf Scholz liegt übrigens noch im Ministerium in einer
Schublade.
({4})
Eine Verbesserung der Situation der Frauen können
wir auch durch entsprechende Richtlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge durchsetzen. Warum - so
frage ich Sie - vergeben wir öffentliche Aufträge nicht
nur an Unternehmen, die Frauen und Männer gleich entlohnen? Wir fordern dies in unserem Antrag.
Niedriglöhne sind viel zu oft Frauenlöhne. Zwei
Drittel der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland
hängen in mies bezahlten Jobs fest, davon arbeiten
60 Prozent in Teilzeit oder Minijobs. Hier zeigt sich
ganz deutlich: Wir brauchen dringend einen gesetzlichen
Mindestlohn und eine Begrenzung der Minijobs.
({5})
Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind keine
Brücke in reguläre Beschäftigung. Das haben wir aus der
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gelernt.
Dumpinglöhne und unfaire Arbeitsbedingungen finden wir auch im Bereich der Leiharbeit. Als wir hier im
Plenum über die XXL-Sauerei bei Schlecker diskutiert
haben, war die Arbeitsministerin von der Leyen sehr betroffen und hat Änderungen zugesagt. Wo, so frage ich,
bleiben die Vorschläge zur Verbesserung der Situation
der Beschäftigten in der Leiharbeitsbranche?
({6})
Nicht einmal einen Branchenmindestlohn setzen Sie
durch. Außer Thesen nichts gewesen!
({7})
Wir fordern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Stopfen
Sie endlich die Löcher im Gesetz!
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, durch die Verweigerung eines gesetzlichen Mindestlohns bringen Sie viele Menschen in Armut. Für
den, der heute von Niedriglöhnen leben oder sogar mit
Arbeitslosengeld II aufstocken muss, ist Armut im Alter
vorprogrammiert. Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und FDP, wollen allen Ernstes die Altersarmut, die vor allem Frauen droht, mit Informations- und
Beratungsangeboten bekämpfen. Das ist ja geradezu lächerlich. Realitätsferner geht es ja wohl nicht.
({9})
Ihr Verhalten und die Äußerungen von Minister
Westerwelle bestätigen: Das größte Armutsrisiko in
Deutschland ist Ihre Regierung.
({10})
Man muss keine Prophetin sein: Das Betreuungsgeld
der CSU führt keineswegs zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
({11})
sondern geradewegs in die Sackgasse. Ich hoffe, die
neue Familienministerin Schröder, die auch Ministerin
für Frauen ist, hat die Kraft, sich gegen die unsägliche
Herdprämie der CSU durchzusetzen. Wir brauchen dieses Geld dringend für gute Betreuungs- und Bildungsangebote;
({12})
denn trotz großer Anstrengungen unter sozialdemokratischer Regierung ist es nicht gelungen, die Betreuungssituation in Deutschland so zu gestalten, dass Eltern arbeiten gehen können, während ihre Kinder gut versorgt sind
und gefördert werden. Diese wichtige Grundlage für die
Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist immer wieder
am Widerstand der schwarz-gelb regierten Bundesländer
gescheitert.
({13})
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nutzen Sie die Mehrheiten und die Zeit, die Ihnen
noch bleibt, und machen Sie Druck auf Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat, damit wir auch hier einen Schritt
vorankommen!
({14})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben uns die Situation der Frauen in
Deutschland heute unter sehr vielen verschiedenen Aspekten vor Augen geführt. In den Anträgen wird dazu einiges ausgeführt. Ich bin Philipp Mißfelder sehr dankbar
dafür, dass er den internationalen Aspekt und den Zusammenhang zwischen Emanzipation und Frieden schaffenden Maßnahmen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen plastisch dargestellt hat. Ich glaube, das ist ein ganz
wichtiger Zusammenhang. Das musste hier gerade aus
Anlass des Internationalen Frauentages einmal gesagt
werden.
({0})
Nun ist Philipp nicht der Erste, der diesen Gedanken
formuliert hat. Dazu gibt es auch eine Resolution der
Vereinten Nationen, die Resolution 1325. In ihr wird ein
besserer Schutz von Frauen gefordert, gerade in kriegerischen Auseinandersetzungen bzw. in Zeiten politischer
Umstürze, in denen Gewalt gegen Frauen ganz bewusst
als strategisches Mittel eingesetzt wird. Das müssen wir
ächten. In dieser Resolution wird dazu aufgefordert, die
Täter konsequent zur Verantwortung zu ziehen. In ihr
wird aber auch aufgezeigt, dass Frauen einen unverzichtbaren konstruktiven Anteil leisten können und müssen,
wenn es darum geht, eine bessere zivile Gesellschaft
aufzubauen. Das ist genau das, was Ziel unseres Einsatzes ist.
Diese Resolution wird in diesem Jahr zehn Jahre alt.
Allein das ist Anlass genug, an diese Resolution zu erinnern. Ein noch besserer Anlass aber ist ihre Aktualität.
Wir sind dabei, das Afghanistan-Konzept neu auszurichten. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, diese
Resolution in unser Afghanistan-Konzept einzubringen
und ihre Forderungen dort ganz konkret umzusetzen.
({1})
Wir sind aber auch aufgerufen, zu überlegen, was die
Situation von Frauen und Mädchen in unserem Land
konkret verbessern kann. Wir müssen die Mädchen hier
noch besser vor Gewalt schützen. Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung sind ganz wichtige Themen. Beides sind massive Menschenrechtsverletzungen.
Wir müssen klarmachen, dass wir das nicht tolerieren.
({2})
Das ist kriminelles Unrecht; das lässt sich auch nicht mit
dem Hinweis auf andere Traditionen rechtfertigen. Das
muss strafrechtlich und auch ausländerrechtlich geahndet werden. Wir haben den besseren Schutz vor Zwangsverheiratung und vor allem einen besseren Opferschutz
im Koalitionsvertrag vorgesehen. Für beides, Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung, liegen bereits
Gesetzentwürfe vor, die den Bundesrat passiert haben.
Sie werden demnächst bei uns auf der Agenda stehen.
Wir werden uns sehr genau ansehen, ob wir da Verbesserungen erzielen können.
({3})
Nicht zuletzt - auch das möchte ich erwähnen - sieht
der Koalitionsvertrag eine Verbesserung der Situation
für die Opfer von Menschenhandel vor; dies betrifft in
der Mehrzahl Frauen. Es ist an der Zeit, dass das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels endlich auch bei uns ratifiziert wird.
({4})
Wir hoffen, dass das Vertragsgesetz in Kürze vorgelegt
wird.
({5})
Wir haben in Deutschland auch die im wahrsten Sinne
des Wortes hausgemachte Gewalt. 37 Prozent der Frauen
haben in einer Studie des Frauenministeriums angegeben, dass sie selbst schon mit körperlicher Gewalt konfrontiert gewesen sind. Dies ging durch alle soziologischen Gruppen und Schichten, ob bildungsnah oder
bildungsfern. Für diese Frauen gibt es durchaus ein differenziertes Hilfsangebot. Wir haben bereits über die
Frauenhäuser gesprochen. Dazu gibt es das Gewaltschutzgesetz, auf dessen Grundlage die Polizei und die
Gerichte helfen. Es gibt die Sozialgesetze und das private Unterhaltsrecht. Aber diese Hilfen wirken nur,
wenn man sie kennt, verfügbar und erreichbar hat. In Bedrohungssituationen kann man nicht lange nach der richtigen Adresse suchen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass
wir eine einheitliche Notrufnummer einrichten. Das
würde Frauen in akuten Notsituationen helfen, in denen
sie nicht lange herumtelefonieren oder suchen können,
sondern ein konkretes Angebot vorhanden sein muss.
({6})
Wir begrüßen es außerdem, dass die spanische Ratspräsidentschaft das Thema häusliche Gewalt auf die
Agenda gesetzt hat. Wir werden an einer europäischen
Schutzanordnung arbeiten, und wir werden dies zum
Anlass nehmen, bei uns in der Praxis noch einmal ganz
konkret zu fragen, ob alle Rechte für die Behörden und
die Eingreifmöglichkeiten vorhanden sind, um bei drohender Gefahr das zu tun, was nötig ist, um Opfern auch
im häuslichen Bereich zu helfen.
({7})
- Und der Frauenhausbericht; auf den warten auch wir
mit Spannung.
Ich möchte noch einmal auf die ungenutzten Möglichkeiten und Potenziale zurückkommen. Mir geht es
dabei zum einen um die Chancen für Frauen, um Gerechtigkeit für Frauen, zum anderen aber auch darum, ob
die Wirtschaft alle Potenziale nutzt oder Potenziale ungenutzt liegen lässt. Wir sehen die Unterschiede bei den
Entgelten, die ungleiche Beteiligung in Bezug auf einflussreiche Positionen in der Wirtschaft und die schlecht
abgesicherten Mini- und Midijobs. Die Analyse teilen
wir; die objektiven Zahlen sind vorhanden. In der Bewertung gibt es Parallelen, aber auch Unterschiede. Ich
bin mir sicher, dass wir deutlich mehr Frauen im Management unserer Unternehmen, gerade auch in den Vorständen und Aufsichtsräten, brauchen,
({8})
um gerechte Chancen für Frauen zu sichern, aber auch
als Chance für die Wirtschaft. Denn internationale Studien zeigen, dass Unternehmen, die mehr Frauen in den
Aufsichtsräten haben, besser wirtschaften; sie kommen
besser durch diese Krise. Diese Chance wollen wir allen
Unternehmen gönnen.
({9})
Der fast völlige Ausschluss von Frauen auf dieser
Ebene betrifft doch gerade die Unternehmen, deren kollektive Fehlentscheidungen die Finanz- und Wirtschaftskrise maßgeblich mit ausgelöst haben. Da sollte man
einmal die Frage nach Ursache und Wirkung stellen. Ich
denke, dass die jetzt nötigen Umstrukturierungen eine
gute Gelegenheit bieten, mehr Frauen in diese Positionen zu bringen.
Die freiwillige Vereinbarung aus dem Jahr 2001 hat in
der Tat nichts gebracht.
({10})
Beispiele aus dem zivilisierten europäischen Ausland
zeigen, dass es auch im abendländischen Kulturkreis
möglich ist, über andere Wege nachzudenken, und dass
Quoten nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten.
({11})
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag eine erste
Stufe beschrieben.
({12})
Es muss klar sein, dass dieser ersten Stufe weitere Stufen
folgen werden. Bei uns steht die Quote nicht im Mittelpunkt. Aber es ist ganz klar, dass wir hier zu verbindlichen Zielvorgaben und zu verbindlichen Maßnahmen
kommen müssen. Es dürfen nicht wieder neun Jahre vergehen, bevor wir die nächste Bilanz ziehen und uns anschauen, ob unsere Maßnahmen etwas gebracht haben.
({13})
Differenziert sehen wir die Teilzeitarbeit. Sie entspricht in der Tat dem Wunsch vieler Frauen und auch
mancher Männer, die sie in Anspruch nehmen. Diese
Wahlfreiheit erkennen wir ausdrücklich an. Wir sind
nicht erst zufrieden, wenn alle Eltern, auch die kleiner
Kinder, sofort wieder Vollzeit arbeiten.
({14})
Wir wollen nicht, dass man sich rechtfertigen muss,
wenn man sich entscheidet, einen wesentlichen Teil des
Tages der Familie zu widmen.
({15})
Das kann verschiedene Gründe haben. Es kann pädagogische Gründe haben, es kann um Zeit für Pflege gehen,
es kann aber auch schlichtweg um ein Stück Lebensqualität gehen, für das man die Nachteile, die damit verbunden sind, bewusst in Kauf nimmt.
Wir müssen zweierlei tun: Erstens müssen wir darauf
achten, dass diese Entscheidung wirklich freiwillig getroffen wird. Da, wo es um strukturelle Nachteile geht,
die keine andere Wahl lassen, ist die Wahlfreiheit nicht
gewährleistet. Wir sind sicherlich alle der Meinung, dass
hier die Rahmenbedingungen verbessert werden müssen.
Zweitens müssen wir die unberechtigten Nachteile, die
sich aus Teilzeitarbeit ergeben, abbauen. Teilzeitarbeit
darf keinen Knick in der Karriere bedeuten. Man muss
auch dann noch Karrierechancen haben, wenn man sich
nach einer Phase der Teilzeitarbeit wieder voll in den
Beruf stürzen will.
Kritisch sehen wir allerdings die Zahl von Frauen in
Mini- und Midijobs.
Frau Kollegin!
Ich komme sehr bald zum Schluss. ({0})
Sie können eine Brückenfunktion haben; dann haben sie
ihre Berechtigung. Wenn wir aber ernsthaft über eine
Ausweitung und Dynamisierung von Minijobs diskutieren wollen, müssen wir zum Prüfkriterium machen, ob
sie für Frauen wirklich eine Brückenfunktion haben oder
ob sie nicht doch eine Sackgasse sind.
({1})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck-
sache 17/901 mit dem Titel Internationaler Frauentag -
Gleichstellung national und international durchsetzen.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit der Mehr-
heit der Stimmen des Hauses angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 3 b bis 3 e.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/821, 17/891, 17/797 und 16/10500 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 17/797 soll feder-
führend beim Rechtsausschuss beraten werden. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen
Krankenversicherung wiederherstellen
- Drucksache 17/879 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer
Präsident Dr. Norbert Lammert
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Keine Zusatzbeiträge für Bezieherinnen und
Bezieher von Arbeitslosengeld II
- Drucksache 17/674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Dr. Lauterbach für die SPD-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Gesundheitspolitik der Regierungskoalition ist zurzeit eine
sehenswerte Mischung aus Stillstand in der Sache und
heftigem, hektischem Streit - jeder gegen jeden - zu beobachten. Der Streit ist so würzig, dass man als Oppositionspartei kaum zu Wort kommt. Auch ich habe es in
diesen Tagen daher nicht leicht.
({0})
Kein noch so hässlicher Vorwurf gegen die Regierung
würde nicht auch von der Regierung selbst gegen die eigenen Kollegen öffentlich vorgetragen. So wirft Minister
Söder Minister Rösler völlig zu Recht vor, dass er umgehend Vorschläge zur Kostensenkung machen soll, statt
überflüssige Kommissionen mit in der Sache nicht kompetenten Kabinettskollegen zu organisieren. In der Berliner Zeitung stellt er fest, dass der Pharmagipfel von
Herrn Rösler keine Ergebnisse gebracht hat. Nun ja, man
muss schon völlig neu im Geschäft sein, um zu glauben,
dass ausgerechnet die Pharmaindustrie mit Sparvorschlägen ins Ministerium spaziert.
({1})
Das ist uns in zehn Jahren nicht passiert - und ich sage
Ihnen: Das wäre mir in Erinnerung geblieben.
({2})
- Wir haben die Pharmaindustrie immer gemieden.
Auch hat Herr Söder natürlich recht, genauso wie sein
Chef Seehofer, dass die Kopfpauschale, die die FDP
einführen will, unsozial, ungerecht und unbezahlbar ist.
({3})
Selbst 75 Prozent der FPD-Wähler sind gegen diese
aberwitzige Idee. Aber der Minister hält stur an dem
Vorschlag fest.
Mit Blick auf die NRW-Wahl kann ich nur sagen:
Weiter so, Herr Rösler! Sie sind unser bester Wahlkämpfer, neben Ministerpräsident Rüttgers, und für Sie müssen wir wenigstens nicht bezahlen. Wir bekommen Sie
gratis; wir müssen nicht 6 000 Euro auf den Tisch legen.
({4})
Angst vor dem Wähler kann man Ihnen, Herr Rösler,
nicht zum Vorwurf machen.
Wenn die Regierung die Oppositionsarbeit so wirkungsvoll leistet, dann müssen wir als Opposition die
Regierungsarbeit übernehmen
({5})
- wir kommen Ihnen zu Hilfe, ja - und konkrete Vorschläge zur Lösung der immer stärker drängenden Probleme bringen. Heute will die SPD einen Vorschlag für
die Finanzierung des Gesundheitssystems einbringen. Er
ist das Gegenteil dessen, Herr Zöller, was Teile der
Union und die FDP planen.
Union und FDP haben sich zumindest in einem Punkt
geeinigt - das ist die einzige Einigung, die ich sehen
kann -: Sie wollen, dass die Arbeitgeber bei der Finanzierung des Gesundheitssystems entlastet werden. Das
bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass die Arbeitnehmer zusätzlich belastet werden sollen, denn nur so
kann es ja gehen.
({6})
Aber weshalb sollen die zusätzlichen Kosten im Gesundheitssystem gerade in der heutigen Zeit von den Arbeitnehmern und nicht von den Arbeitgebern bezahlt werden? Weshalb sollen wir ausgerechnet in der heutigen
Zeit die Arbeitgeber entlasten? Welchen Sinn macht
das? Das will doch niemand. Weshalb sollen Ausbeuterfirmen wie Schlecker und andere ausgerechnet bei den
Gesundheitskosten entlastet werden, und dies zulasten
der Bürger, Herr Singhammer? Das ist auch für die CSU
eine untragbare Position. Sie wollen nicht den Bürger
entlasten, sondern die Arbeitgeber, und dies zulasten der
Arbeitnehmer. Damit ist die Kritik von Herrn Seehofer
und Herrn Söder in diesem Punkt ohne Wenn und Aber
berechtigt und richtig.
({7})
Herr Westerwelle, wenn Sie wirklich wollen, dass
sich die Arbeit für den Geringverdiener wieder lohnt,
dann setzen Sie die Pläne zur Kopfpauschale aus,
({8})
wodurch Reiche entlastet und Geringverdiener belastet
würden, und hetzen Sie nicht die Geringverdiener gegen
die Arbeitslosen auf. Fangen Sie bei der eigenen Gesundheitsreform, die Sie vorhaben, an; denn das ist die
Reform, die die Geringverdiener am stärksten belasten
wird!
({9})
Herr Lanfermann, die FDP beschimpft den Staat als
teuren Schwächling, aber treibt gleichzeitig 20 Millionen Leute als Bittsteller für einen Sozialausgleich zum
selben Staat, den sie bisher nicht nötig hatten.
({10})
Sehen Sie diesen Widerspruch nicht,
({11})
oder wollen Sie den Bürger verschaukeln?
({12})
Wir brauchen eine einfache, unbürokratische und gerechte Finanzierung des Gesundheitssystems. Kurzfristig schlägt die SPD daher vor, den Beitrag wieder paritätisch zu erheben - ohne kleine Kopfpauschalen, ohne
Sonderbeiträge -, sodass sich auch die Arbeitgeber wieder zur Hälfte beteiligen.
({13})
Wenn die Löhne sinken oder stagnieren, ist es nicht gerecht, die steigenden Gesundheitskosten, wie Sie, meine
Kollegen von der Union und von der FDP, es für richtig
halten, allein dem Arbeitnehmer aufzubürden. Sie wollen keine Mindestlöhne, akzeptieren aber höhere Gesundheitskosten für die Geringverdiener. Wir als SPD
wollen genau das Gegenteil.
({14})
Sie werden jetzt höhnen - ich höre es schon -, die
SPD verabschiede sich von alten Positionen.
({15})
Wissen Sie was? Damit haben Sie zum Teil sogar recht.
Wir sind es dem Bürger schuldig als SPD. Wir sind ein
lernfähiges System.
({16})
Sie wissen genau wie ich, dass die kleinen Kopfpauschalen, die Zusatzprämien, der SPD von der CDU/CSU aufs
Auge gedrückt worden sind.
({17})
- Das ist die Wahrheit; stellen Sie sich doch nicht
dumm! - Nur aus diesem Grunde, Herr Rösler, haben
Sie bisher noch nichts unternommen, um diese kleinen
Prämien abzuwenden. Seit fünf Monaten ist Stillstand
im Ministerium. Selbst Ihnen wohlgesonnene Journalisten fangen an, sich zu wundern. Nichts passiert, um die
Zusatzprämien abzuwenden.
({18})
Herr Kollege Lauterbach, Sie denken bitte auch an die
Zeit.
Ich komme zum Schluss.
Mit jedem Tag wachsen die Sorgen der Bürger, und
das Defizit steigt. Zu einer langfristig gerechten Gesundheitsversorgung mit guter Qualität für alle, ohne Zweiklassenmedizin, ohne immer mehr Bürokratie, ohne Sozialausgleich auf Pump, ohne Bittstellerei beim Staat,
führt nur die von Ihnen gehasste, aber von 80 Prozent
der Bürger gewollte Bürgerversicherung.
({0})
Darin haben weder Ihre kleinen noch Ihre großen Kopfpauschalen Platz.
({1})
Lassen Sie mich schließen mit der Ankündigung, dass
die SPD Sie in den nächsten Wochen mit konkreten Gesetzentwürfen zur Senkung der Arzneimittelkosten unterstützen wird.
({2})
Von der Regierungskoalition erwarten wir diesbezüglich
genauso wenig wie Herr Söder, nämlich nichts. Sie werden nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen im
Bundesrat ohnedies auf unsere Hilfe und Zuarbeit angewiesen sein.
({3})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon bedeutsam, dass sich bei der Einbringung des
SPD-Antrags der gesundheitspolitische Sprecher der
SPD zuerst beklagt hat, dass er nicht mehr wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit.
({0})
Das zeigt, worum es letztendlich geht: Es geht um Wahlkampf. Die gesamte Rede war davon durchtränkt.
Nur, Herr Kollege Lauterbach, wenn Sie vom Bezahlen reden: Ich glaube, Sie sind einer der bestbezahlten
Gesundheitspolitiker in diesem Plenum. Ihre Vorträge
mögen zwar umsonst sein; aber es gibt sie nicht umsonst.
({1})
- Die Lenkung aus dem Rhön-Klinikum-Konzern direkt
spricht Bände, Herr Kollege Lauterbach. - Das nur zu
dem, was Sie hier vorhin ausgeführt haben.
Schön ist, dass ich nicht feststellen kann, dass die
ehemalige Bundesgesundheitsministerin bei dieser Debatte anwesend ist.
({2})
Ich kann das verstehen; denn dieser Antrag der SPD ist
eine knallharte Abrechnung mit der Gesundheitspolitik
von Ulla Schmidt.
({3})
Hier wird alles, was unter Rot-Grün und in der Großen
Koalition beschlossen worden ist, zur Disposition gestellt und letztendlich eine rückwärtsgewandte Politik
eingeleitet.
({4})
Es ist bemerkenswert, dass von der SPD fünf Monate,
nachdem sie die Regierungsämter verloren hat, Vorschläge kommen, die von Bismarck kommen könnten.
Auf einmal soll der Zusatzbeitrag von 0,9 Prozentpunkten, den Rot-Grün eingeführt hat, wieder abgeschafft
werden. Ich möchte zu bedenken geben, dass es für die
Einführung dieses Zusatzbeitrages gute Gründe gab. Zudem liefern Sie natürlich keinen Vorschlag, wie dies finanziert werden soll.
Das Schönste ist, dass Sie den kassenindividuellen
Zusatzbeitrag, das Lieblingskind der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin, ebenfalls abschaffen wollen.
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat hier im
Plenum ständig darauf hingewiesen,
({5})
dass gerade dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag
Ausdruck des Wettbewerbs zwischen gut geführten
Krankenkassen und angeblich weniger gut geführten
Krankenkassen ist.
({6})
Das zeigt sehr deutlich: Die SPD schlägt hier vor, dass es
keinen Wettbewerb mehr zwischen den gesetzlichen
Krankenkassen geben darf.
In Ihrem Antrag wird natürlich reflexartig wieder einmal die PKV gegeißelt.
({7})
- Nein, Frau Kollegin Ferner, das stört mich überhaupt
nicht. Ich frage mich nur, ob Sie bei diesem Vorschlag
tatsächlich richtig nachgedacht haben.
({8})
- Ich habe den Eindruck, dass Sie das nicht getan haben. Ich habe in Ihrem Antrag gelesen, dass Sie einen Finanzausgleich entsprechend der Morbidität einführen
wollen. Die Ausgabenentwicklung, in der sich die Morbidität letztendlich widergespiegelt, war bei der privaten
Krankenversicherung in der Vergangenheit doppelt so
hoch wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich
weiß nicht, ob ein solcher Finanzausgleich in Ihrem eigenen Sinne ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
SPD.
({9})
Dies wird noch dadurch untermauert, dass gerade bei
der privaten Krankenversicherung eine Überalterung des
Versichertenbestandes festzustellen ist. Deshalb kann bei
der Pflegeversicherung mittlerweile festgestellt werden, dass die Zahl der Einstufungen in die Pflegestufe II
bei den Versicherten in der PKV prozentual gesehen höher ist als bei den gesetzlich Krankenversicherten. Unterstützen Sie also mit die gute PKV! Das wäre ehrenwert. Ich habe aber den Eindruck, Sie haben eigentlich
etwas anderes im Sinn.
Schön ist auch, dass die Bundesregierung in diesem
Antrag aufgefordert wird, ein eigenes Konzept der Bürgerversicherung vorzulegen.
({10})
Die Erarbeitung eines Konzepts der Bürgerversicherung
überlassen wir Ihnen.
({11})
Hiermit haben Sie in der Vergangenheit nicht unbedingt
die besten Erfahrungen gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Leute darauf freuen, wenn sie auf
Zinseinnahmen, auf Mieteinnahmen und auf weitere außerordentliche Einkünfte Beiträge zahlen dürfen. Das ist
Ihre Angelegenheit; das sollten Sie den Bürgerinnen und
Bürgern auch im nordrhein-westfälischen Wahlkampf
darlegen.
Ich stelle fest: Das ist eine Politik, die rückwärtsgewandt ist und mit der die Herausforderungen der Zukunft in keiner Weise bewältigt werden.
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?
Ich kann dem Herrn Kollegen Heil den Wunsch nicht
verwehren.
Bitte schön.
Lieber geschätzter Herr Kollege Straubinger, ich habe
nur eine Frage: Hat Herr Söder mit seiner Kritik an der
Kopfpauschale, die Ihre Regierungskoalition plant,
recht oder nicht? Ja oder nein?
Die Regierung plant keine Kopfpauschale in diesem
Sinne. Wir sagen sehr deutlich - ich komme später noch
darauf; aber ich bin dankbar, dass Sie dies hier ansprechen -: Wir haben eine Regierungskommission eingesetzt. Dies steht auch im Koalitionsvertrag.
({0})
Diese Regierungskommission wird sich mit den zukünftigen Herausforderungen bei der Finanzierung eines gerechten und auf Solidarität beruhenden Gesundheitssystems auseinandersetzen. Im Gegensatz zu manchen, die
sich aus der Landespolitik dazu äußern, ist die CSULandesgruppe bereit,
({1})
dies offensiv zu begleiten.
({2})
Herr Kollege Heil, für die Gesamtpartei CSU gilt: Die
CSU stand der Kopfpauschale in der Vergangenheit und
steht ihr auch in der Zukunft sehr kritisch gegenüber ganz einfach.
({3})
Kollege Straubinger, auch Kollegin Hendricks würde
gern eine Frage stellen.
Ja.
Bitte sehr.
Herr Kollege Straubinger, kann es sein, dass die Regierungskommission eingesetzt worden ist, damit wenigstens ein Teil der Regierung schon einmal den Anschein von Arbeit erweckt?
({0})
Liebe Frau Kollegin Hendricks, Sie beklagen tagtäglich in Ihren Debattenbeiträgen, dass die Regierung zu
schnell arbeitet,
({0})
zum Beispiel als wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland gestärkt haben, was letztendlich
die Grundlage dafür ist, dass in unserem Land Arbeitsplätze entstehen. Arbeitsplätze sind die beste Grundlage
für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme.
({1})
Es ist mit entscheidend, dass die Wirtschaft wieder Kraft
gewinnt, damit mehr Arbeitsplätze entstehen und damit
viele Beitragszahler die gesetzlichen Sicherungssysteme, also die Renten-, die Kranken-, die Pflege- und die
Arbeitslosenversicherung, tragen. Das ist das Primat der
Politik dieser Großen Koalition -,
({2})
- dieser christlich-liberalen Koalition. Dafür legen wir
die Grundlagen.
({3})
Diese Bundesregierung hat kurzfristig reagiert - wir
werden es morgen im Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz und nächste Woche im Bundeshaushalt festlegen -: Wir stehen den Versicherten mit einem Aufwuchs der Steuerzuschüsse um 3,9 Milliarden Euro bei.
({4})
- Frau Kollegin Ferner, wir machen es nicht wie in Zeiten von Rot-Grün. Damals hieß es: Rauchen für die Gesundheit. Die Steuer auf Tabakerzeugnisse wurde angehoben; und schon ein Jahr später wurde von der
gleichen, der rot-grünen Bundesregierung der Bundeszuschuss für die gesetzlichen Krankenversicherungen gekürzt.
({5})
Wir sind für eine beständige und nachhaltige Finanzierung unseres Krankenversicherungssystems. - Frau
Kollegin Bender hätte eine Zwischenfrage.
Ja, ich glaube es. Ich lasse sie aber nicht zu; denn
nach Ablauf der Redezeit kann ich nicht zur Verlängerung derselben Zusatzfragen zulassen. Ich sage dies, obwohl ich um die Großzügigkeit der Kollegen weiß, gerade in solchen Fällen Zusatzfragen besonders gerne
zuzulassen. Also: Ein schöner Schlusssatz krönt die
Übung.
({0})
Diese christlich-liberale Regierung ist angetreten,
eine der demografischen Entwicklung angepasste, generationengerechte und solidarische Finanzierung des
Krankenversicherungssystems in der Zukunft zu gewährleisten, mit Bundesminister Rösler an der Spitze
und mit tatkräftiger Begleitung der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Straubinger hat natürlich in einem Punkt recht; an einer
Stelle war uns die Regierung in der Tat zu schnell: bei
der Entlastung der Hotels.
({0})
Der Antrag der SPD hat mich zugegebenerweise etwas verwirrt. Früher galt die SPD als Partei, die sich für
soziale Gerechtigkeit einsetzt. Dann kam Schröder und
ab 2003 seine Agendapolitik. Diese Wende hat die Positionen der SPD verwechselbar mit denen der Union und
der FDP gemacht. Jetzt will die SPD Teile dessen, was
sie mit der Agendapolitik eingeführt hat, wieder abschaffen.
({1})
Aufgrund der Agenda 2010 mussten sich die Krankenversicherten mit Leistungskürzungen, höheren Zuzahlungen und der Einführung der Praxisgebühr abfinden. Die regierenden Parteien, SPD und Grüne, einigten
sich mit der Union auf das größte Kürzungsprogramm in
der Geschichte der Krankenversicherung. Zu dieser Politik gehörte auch die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten der Beschäftigten durch den Sonderbeitrag von
0,9 Prozentpunkten. Die Linke war damals die einzige
Partei, die diese Sozialkürzung kritisiert und nach der
Einführung immer wieder ihre Abschaffung gefordert
hat.
({2})
2007 legten SPD und Union mit dem Gesundheitsfonds gemeinsam den Grundstein für die Zusatzbeiträge.
Das gleiche simple Konzept, die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten der Beschäftigten, war die Richtschnur
der Politik, bis im letzten Jahr das Konjunkturpaket II
auf der Tagesordnung stand. Da gab es auf einmal Geld
zu verteilen. Die Linke hat damals die Abschaffung des
Sonderbeitrags als Änderungsantrag auf die Tagesordnung gesetzt.
({3})
Als dann auch noch der CSU-Wirtschaftsminister die
Abschaffung des Sonderbeitrags forderte, kippte die
Stimmung in der SPD, und plötzlich forderten SPD-Vertreterinnen und -Vertreter öffentlich die Abschaffung.
Aber wie ging die Abstimmung aus? SPD, Grüne, CDU/
CSU und FDP lehnten in trauter Einigkeit die Abschaffung des Sonderbeitrags im Rahmen des Konjunkturprogramms ab. Dabei wäre das ein sinnvoller Konjunkturimpuls gewesen.
({4})
Nun liegt ein Antrag der SPD vor, in dem gefordert
wird, nicht nur den Sonderbeitrag abzuschaffen, sondern
auch die Zusatzbeiträge. Ich freue mich über diesen
Wandel, hätte mich aber noch mehr gefreut, wenn die
SPD diese Position schon vertreten hätte, als sie noch etwas zu sagen hatte.
({5})
Noch mehr hätte es mich gefreut, wenn sie diese Regelungen, die sie jetzt wieder abschaffen will, erst gar nicht
eingeführt hätte.
({6})
Ganz so weit sind die Grünen noch nicht; aber sie fordern immerhin in ihrem Antrag die Abschaffung der Zusatzbeiträge für Hartz-IV-Betroffene, weil Zusatzbeiträge die Versicherten einseitig belasten. Das ist völlig
richtig, aber zu kurz gesprungen: Warum denken die
Grünen diesen Gedanken nicht zu Ende und fordern die
Abschaffung der Zusatzbeiträge für alle
({7})
sowie die Abschaffung des Sonderbeitrags und damit die
Wiederherstellung des Grundsatzes, dass Arbeitgeber
und Arbeitnehmer sich die Beiträge halbe-halbe teilen?
Ich bin aber zuversichtlich, dass dieser Lernprozess noch
nicht abgeschlossen ist, und freue mich, dass sich sowohl SPD als auch die Grünen unseren Positionen
Schritt für Schritt annähern.
Bei der FDP und der Mehrheit der Union jedoch ist
kein Lernprozess zu verzeichnen. Immer noch laufen
Rösler und sein Gefolge der Idee der Kopfpauschale wie
Lemminge hinterher.
({8})
Wenn Sie die Augen aufmachten, dann sähen Sie, dass
dieser Weg direkt in den Abgrund führt. Die Kopfpauschale ist unsozial, weil sie eine direkte Umverteilung
von unten nach oben ist. Sie ist nicht finanzierbar, weil
ein sozialer Ausgleich dieser Umverteilung jedes Jahr
bis zu 40 Milliarden Euro kosten würde.
Es ist klar, dass Sie immer wieder versuchen, diese
Fakten wegzuwischen und zu beschwichtigen. Minister
Rösler, als junger Tiger dieser Bundesregierung gestartet
und inzwischen auf bestem Wege, als Flokati zu landen,
({9})
erwähnt mittlerweile in jedem Interview, dass alles nur
schrittweise eingeführt werden soll und deswegen gar
nicht so schlimm würde. Aber egal, ob Sie die Kopfpauschale sofort oder schrittweise in einer Salamitaktik einführen wollen: Im Endergebnis bleibt sie unsozial und
unfinanzierbar.
({10})
Im Gegensatz zur FDP versteht die große Mehrheit
der Bevölkerung dies und will deshalb keine Kopfpauschale. Sogar über 70 Prozent der FDP-Anhänger lehnen
sie ab. Diesen FDP-Anhängern kann man eigentlich nur
raten, bei den nächsten Wahlen diejenigen zu wählen,
die ihre Interessen tatsächlich vertreten.
Ein weiterer Trick von Minister Rösler ist, die Verantwortung für sein aktuelles Nichthandeln der Vorgängerregierung und ihrem Gesundheitsfonds in die Schuhe zu
schieben. Um die Kopfpauschale scheibchenweise einzuführen, sind ihm die Zusatzbeiträge sogar sehr willkommen. Rösler gibt zwar vor, mit den Versicherten mitzuleiden, wenn jetzt eine Kasse nach der anderen
Zusatzbeiträge einführen muss.
({11})
Es läge jedoch in seiner Macht, diese Zusatzbeiträge zu
verhindern. Er müsste nur die Vorschläge der Linken zur
Finanzierung der Sozialversicherungssysteme aufgreifen, die morgen hier debattiert werden.
({12})
Der FDP-Minister zieht es aber vor, sich einfach zurückzulehnen und zuzuschauen, wie durch die Zusatzbeiträge sein Herzenswunsch teilweise zur harten Realität wird: Zusatzbeiträge sind nichts anderes als kleine
Kopfpauschalen. Rösler hat schon vor gut drei Wochen
im Weser-Kurier durchblicken lassen, dass er den Ausbau der Zusatzbeiträge für eine Möglichkeit hält, die
Kopfpauschale ohne großen gesetzgeberischen Aufwand
einzuführen. Genau deswegen müssen die Zusatzbeiträge weg.
({13})
Um eine weitere Nebelbombe zu werfen, ruft die
Bundesregierung nun fast unisono nach dem Kartellamt,
das die Krankenkassen kontrollieren soll, wenn sie Zusatzbeiträge einführen. Das ist populär, bringt aber überhaupt nichts. Die Krankenkassen sind schließlich keine
gewinnorientierten Unternehmen, sondern ein Teil des
Sozialstaates. Hier darf das Kartellamt überhaupt keine
Befugnisse haben; es hat tatsächlich auch nur wenige
Befugnisse. Die gesetzliche Krankenkasse auf eine Ebene
mit Kaffeeröstereien oder Energiekonzernen zu stellen,
ist skandalös.
({14})
Genauso gut könnte man fordern, dass sich das Kartellamt mal um die Preisabsprachen bei den Gesprächsterminen mit CDU-Ministerpräsidenten kümmern soll.
({15})
Hier wird nämlich tatsächlich ein Monopol zum Schaden
der Demokratie ausgenutzt.
Zurück zur Kopfpauschale und zu den Zusatzbeiträgen. Nun wurde eine Regierungskommission zur Kopfpauschale einberufen, deren alleiniger Zweck es ist, die
Öffentlichkeit zu täuschen. Diese Kommission kann
nichts Neues mehr herausfinden. Seit vielen Jahren wird
nonstop öffentlich über die Kopfpauschale debattiert.
Egal welche Modelle im Detail ersonnen wurden, immer
sehen diese Modelle vor, dass die Geringverdienenden
draufzahlen, damit die Wohlhabenden weniger in die
Krankenkassen zahlen. Das wollen die Menschen nicht.
Der ganze Terminplan dieser Verschleierungskommission ist darauf aus, die Wählerinnen und Wähler bis zur
Wahl in Nordrhein-Westfalen über die wahren Absichten
der Regierung im Unklaren zu lassen;
({16})
denn diese Wahl ist auch eine Abstimmung über die
Kopfpauschale. Wenn Schwarz-Gelb in NordrheinWestfalen keine Mehrheit bekommt, hat Schwarz-Gelb
auch im Bundesrat die Mehrheit verloren. Dann kann die
Kopfpauschale nicht durchgesetzt werden.
({17})
Wer also mit seiner Stimme die Kopfpauschale verhindern will, darf in Nordrhein-Westfalen nicht CDU oder
FDP wählen.
({18})
- Die kann man in Nordrhein-Westfalen zum Glück
nicht wählen.
({19})
Zum Schluss ein Ausflug in die Geschichte. Kopfpauschalen waren noch nie beliebt. Als 1380 der englische
König Richard II. Krieg gegen Frankreich führte, ging
ihm das Geld aus. Er schuf eine Kopfsteuer und verlangte von jedem, egal ob armer Bauer oder wohlhabender Händler, den gleichen Betrag.
({20})
Ergebnis war die Peasants Revolt, ein gewaltsamer
Aufstand der Bauern, die sich dies nicht bieten lassen
wollten. Aber auch aus der jüngeren Vergangenheit gibt
es ein Beispiel, wieder aus England. Ende der 80er-Jahre
ersetzte Margaret Thatcher eine vermögensabhängige
Steuer durch eine Kopfsteuer. Millionenfach weigerten
sich die Menschen, diese Steuer zu zahlen. Es gab gewalttätige Proteste. Die eiserne Lady musste zurücktreten und ihr Nachfolger John Major die Kopfsteuer
wieder abschaffen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nicht so, dass
Sie, Herr Rösler, mein Wunschminister sind. Wenn Sie
aber länger im Amt bleiben wollen, ist Ihnen dringend
zu raten, auf solche Kopfpauschalenabenteuer zu verzichten und endlich auch gegen die kleine Variante der
Kopfpauschale, die Zusatzbeiträge, vorzugehen.
Vielen Dank.
({21})
Die nächste Rednerin ist Ulrike Flach für die Fraktion
der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Weinberg, das trifft auf Sie genauso wie auf
Herrn Lauterbach zu: Wenn Sie hier von der Kopfpauschale reden, verschwenden Sie Ihre Redezeit. Diese Regierung plant keine Kopfpauschale.
({0})
Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir sie nicht wollen.
Sie ist eben nicht sozial ausgeglichen
({1})
und erfüllt nicht die Grundvoraussetzungen, die nach unserer Meinung für eine Gesundheitsreform gelten sollten. Wir wollen eine einkommensunabhängige Gesundheitsprämie plus Sozialausgleich.
({2})
Das kann man nicht oft genug sagen.
({3})
Lieber Herr Lauterbach, ich war heute optimistisch
hierhergekommen und hatte gedacht, dass Sie das getan
haben, was Sie uns versprochen haben, nämlich einen
durchgerechneten Antrag zu Ihrer Bürgerversicherung
vorzulegen.
({4})
Nun sagen Sie einfach: Wir wollen eine Bürgerversicherung. - Ein bisschen mehr Ehrgeiz von Ihrer Seite hätte
ich mir gewünscht.
({5})
Sie tun in Ihrem vorliegenden Antrag so, als hätten in
den letzten elf Jahren nicht Sie, sondern wir regiert. Die
Zusatzbeiträge sind aber nicht das Ergebnis einer von Ihnen behaupteten Untätigkeit des Ministers Rösler, sondern das Ergebnis der Tätigkeit von Ulla Schmidt.
({6})
So einfach ist das.
({7})
Es ist Ihr Gesetz. Es ist Ihr Gesundheitsfonds.
({8})
Frau Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oppermann?
Aber natürlich.
Frau Kollegin Flach, Sie reden hier für die FDP-Bundestagsfraktion. Können Sie uns mal erklären, warum
Bundesgesundheitsminister Rösler in dieser Debatte
nicht das Wort ergreift? Hat er uns in dieser Diskussion
nichts zu sagen, oder müssen Sie ihn verstecken?
({0})
Lieber Kollege Oppermann, ich kenne und schätze
Sie seit vielen Jahren als konstruktiven Gegner. Aber
mich hier zur Nanny von Herrn Rösler zu machen, ist sicherlich völlig neben der Kappe.
({0})
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass unsere Fraktion
schon Leute hat, die reden können. Herr Lanfermann
und ich machen das heute.
({1})
Es spricht heute auch nicht Ihr Fraktionsvorsitzender. Es
hätte mich gefreut, wenn wir Herrn Steinmeier dazu gehört hätten.
({2})
Unabhängig davon darf ich Ihnen mit großer Freude berichten, dass in der nächsten Haushaltswoche selbstverständlich Herr Rösler sprechen wird. Freuen Sie sich darauf!
({3})
Also, es ist Ihr Gesetz, es ist Ihr Gesundheitsfonds,
und es sind natürlich auch Ihre Zusatzbeiträge.
({4})
Sie haben die Möglichkeit für die Krankenkassen geschaffen, 8 Euro mehr zu nehmen, eine Regelung, die
Sie mit einer Überforderungsklausel versehen haben.
Lieber Herr Lauterbach, wir beide sind doch lange genug im Geschäft. Wenn Sie mit der Regelung so unzufrieden waren, warum haben Sie die Koalition nicht verlassen?
({5})
Wer etwas als unsozial empfindet und das nicht will,
hätte das tun sollen. Das hätte ich von Ihnen erwartet.
Dann wäre das, was Sie uns jetzt erzählen, ehrlich.
({6})
Ich habe gestern in alten Protokollen des Gesundheitsausschusses nachgeschaut. Darin preisen Sie den
Gesundheitsfonds, den Sie jetzt angreifen,
({7})
weil er die Solidarität und den Wettbewerb zum Wohle
des Patienten stärke.
({8})
Jetzt frage ich mich: Was ist denn daraus geworden? Haben Sie das vergessen? Sie sind damals mit diesem Gesetz zum Wohle des Patienten auf den Markt gegangen,
und heute versuchen Sie, dem Patienten klarzumachen,
dass das alles nicht mehr wahr sei. Das ist politische
Amnesie, Vergesslichkeit in hohem Grade. Etwas anderes ist das nicht.
({9})
Das Gleiche gilt übrigens für die Entkoppelung der
Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie
sind damals zusammen mit den Grünen den ersten
Schritt gegangen. Sie haben jetzt also eine Kampagne
gestartet, die sich gegen alles richtet, was Sie uns in den
letzten elf Jahren auf den Tisch gelegt haben.
({10})
Eigentlich müsste die Kampagne Nein zu den Auswirkungen der SPD-Gesundheitspolitik! heißen; dann wäre
sie nämlich ehrlich.
({11})
Sie kritisieren uns in diesen Tagen in Ihrer Kampagne
und auch in Ihrem Antrag für angebliche Geschenke für
die Ärzte. Jetzt frage ich mich: Wer hat denn die besonderen Arzthonorarsteigerungen des letzten Jahres zu
verantworten? Doch nicht die FDP oder Herr Rösler.
({12})
Sie sagen, die Ärztinnen und Ärzte würden von der Bundesregierung besonders verwöhnt. In den letzten Jahren
seien ihre Honorare überdurchschnittlich gestiegen, und
zwar von 2004 bis 2008 um 12,7 Prozent. Das ist ein
Zitat aus Ihrer Kampagne. Das war Ihr Werk, es waren
Ihre Ausgabensteigerungen,
({13})
und es waren Ihre fehlgeschlagenen Versuche einer
gleichzeitigen Kostendämpfung.
({14})
Frau Flach, der Kollege Lauterbach würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Aber natürlich.
Frau Flach, Sie kritisieren, dass wir in der letzten Legislaturperiode die Arzthonorare, also auch die Honorare
für Fachärzte und Hausärzte, angehoben haben. Verstehe
ich Sie richtig, dass Sie diese Anhebung für falsch halten
und daher die Arzthonorare wieder kürzen wollen?
({0})
Lieber Herr Lauterbach, ich kritisiere nicht, dass Sie
dafür gesorgt haben, dass auch Ärzte in diesem Lande
das bekommen, was sie verdienen, und zwar leistungsgerecht und ordentlich.
({0})
Ich kritisiere aber Sie, lieber Herr Lauterbach, weil Sie
so tun, als ob Sie das nicht selbst auf den Weg gebracht
hätten.
({1})
Sie versuchen, uns etwas in die Schuhe zu schieben, was
zu der Zeit geschah, als wir noch auf den Oppositionsbänken saßen. Das nenne ich - noch einmal - politische
Vergesslichkeit.
({2})
Jetzt kommen Sie mit einem Gegenmodell, von dem
ich gehofft hätte, dass wir heute ordentlich darüber reden
können: die Bürgerversicherung. Sie sollten den Leuten
auch sagen, dass der Großmutter, die für ihren Enkel ein
Sparkonto angelegt hat und deren Zinseinkünfte dann für
die Finanzierung der Kassen herangezogen werden, eine
zusätzliche Belastung ins Haus steht.
({3})
Sie sollten das auch der Familie sagen, die in ihrem
Hause eine Einliegerwohnung vermietet und deren Mieteinnahmen mitberechnet werden. All dies verschweigen
Sie den Leuten. Sie tun mit Ihrer Kampagne so, als ob in
diesem Land nur Menschen lebten, die sich an nichts
mehr erinnern können.
({4})
Frau Flach, möchten Sie noch eine letzte Zwischenfrage des Kollegen Weinberg von der Linksfraktion zulassen?
({0})
Aber sicher, Herr Weinberg.
({0})
Reden Sie doch nicht dauernd dazwischen.
({0})
Frau Kollegin Flach, meine Frage lautet ganz simpel:
Haben Sie schon einmal von Freibeträgen im Zusammenhang mit Zins- und Kapitaleinkünften gehört?
Lieber Herr Weinberg, selbstverständlich habe ich
von Freibeträgen gehört, aber ehrlich gesagt können wir
heute über Freibeträge überhaupt nicht reden, weil Herr
Lauterbach sein Versprechen nicht gehalten hat. Läge
uns ein durchgerechnetes Modell vor, dann könnten wir
über Freibeträge reden. Wir tun das gerne. Aber jetzt
sind wir noch nicht so weit. Insofern sind wir beide in
dieser Frage unwissend, weil Herr Lauterbach uns unwissend gelassen hat.
({0})
Meine lieben Kollegen, wir haben in diesen Tagen
eine Kommission eingesetzt, die dazu beitragen wird,
dass wir dieses Gesundheitssystem auf wirklich stabile
finanzielle Füße stellen werden.
({1})
Wir werden es demografiefest machen. Wir werden in
den nächsten Tagen die Ausgabenseite angehen. Sie
können sicher sein, dass wir am Ende dieser vier Jahre
eine Gesundheitsreform auf den Weg gebracht haben,
mit der zumindest die eine Seite dieses Hauses und die
Menschen in diesem Lande äußerst zufrieden sein werden. Das ist das Wichtigste.
({2})
Das wird nicht einfach werden. Aber wie hat Philipp
Rösler das so schön formuliert? Dann hätten auch Sie es
machen können.
({3})
Die nächste Rednerin ist Biggi Bender für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was ist
eigentlich mit der CSU los?
({0})
Ist das wichtig? Ja, Herr Kollege Zöller, es ist wichtig,
was mit der CSU los ist, wenn einem der Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens am Herzen liegt.
({1})
Der Kollege Straubinger hat vorhin vorgeführt, dass
in der CSU etliche ein schlechtes Gedächtnis haben. Sie
haben uns vorgehalten, den Steuerzuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung gekürzt zu haben. Es
ist genau umgekehrt: Rot-Grün hat ihn aufwachsend eingeführt. Es war die erste Amtshandlung der Großen
Koalition, Herr Straubinger, mit der dieser Steuerzuschuss auch mit Ihrer Stimme wieder heruntergesetzt
wurde.
({2})
Genauso ist es mit dem Koalitionsvertrag. Da hat
Herr Seehofer einen Vertrag unterschrieben, in dem die
Rede von einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen ist, also von Kopfpauschalen,
({3})
die man langfristig in das bestehende Ausgleichssystem
überführen wolle. Herr Lanfermann, eigentlich sollten
Sie sich mit der CSU direkt streiten. Jetzt weiß Herr
Seehofer nichts mehr davon. Seehofer und Söder ziehen
zu Felde und sagen: Die Kommission muss erst gar nicht
arbeiten, die ist mit ihrer Arbeit ganz schnell fertig.
({4})
Daraufhin keilt der Landesgruppenvorsitzende zurück.
Das wiederum garantiert dem Herrn Söder das nächste
Interview.
({5})
Das alles hat einen hohen Unterhaltungswert. Man
könnte geneigt sein zu sagen: Ist doch schön, wenn die
CSU das Geschäft der Opposition gleich mit besorgt.
Dann sind wir entlastet.
({6})
Ich fürchte nur, Herr Kollege Zöller, es ist eben nicht so.
Dieser Widerstand ist inszeniert.
({7})
So wie zu jedem Komödienstadl eine ordentliche Wirtshausschlägerei gehört, so ist auch diese Auseinandersetzung nichts anderes als Theaterdonner.
Schauen wir uns mal an, worin Sie sich einig sind. Sie
sind sich doch völlig einig - das stellt überhaupt niemand infrage -, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag einfrieren wollen. Jetzt gucken wir einmal auf die Kostensteigerungen der letzten Jahre in der gesetzlichen
Krankenversicherung zurück. In den letzten 20 Jahren
sind die Beiträge in der GKV um 2,5 Prozentpunkte gestiegen. Das würde für einen durchschnittlich verdienenden Menschen, der das in dieser Zeit alleine ohne den
Arbeitgeberanteil tragen müsste, bedeuten, dass er heute
30 Euro mehr im Monat zahlen müsste. Für einen Menschen, der nahe an der Beitragsbemessungsgrenze verdient, wären das 45 Euro mehr im Monat.
Sie glauben doch wohl nicht, dass in den nächsten
Jahren angesichts der demografischen Entwicklung und
des medizinischen Fortschritts die Gesundheitskosten
nicht mehr ansteigen werden. Also bedeutet das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages, dass das die Versicherten
teuer zu stehen kommt. Diese werden einseitig belastet.
Dagegen haben die Bayern nicht das Geringste einzuwenden.
({8})
Hier geht es doch nur darum, dass sich die CSU als
das inszeniert, was sie eigentlich ist, nämlich eine bayerische Regionalpartei mit bayerischen Sonderinteressen.
Da geht es nämlich um das, was Herr Söder regionale
Differenzierungsmöglichkeiten nennt. Auf Deutsch: Es
soll mehr Geld nach Bayern kommen, damit die CSU
ihre teuren Wahlversprechen gegenüber der bayerischen
Ärzteschaft finanzieren kann.
({9})
Das ist doch der Casus knacktus. Das ist gar keine
gute Nachricht.
({10})
Spätestens seit der Kollege Kauder sich für die CDU
an die Seite des Bundesgesundheitsministers gestellt hat,
wissen wir doch, dass Sie im Grundsatz bereit sind, dieses Kopfpauschalenmodell einzuführen.
({11})
- Schließlich, Herr Kollege Spahn, steht das auch im
Grundsatzprogramm der CDU aus dem Dezember 2007.
Da heißt es, die einkommensabhängigen Beiträge sollen
durch Prämienelemente
({12})
ergänzt werden und diese sind dann so bald wie möglich
durch ein Prämienmodell zu ersetzen.
({13})
Es ist also folgendermaßen: Erstens sind CDU und
FDP sich darin einig, die Kopfpauschale einzuführen.
({14})
Verhandeln werden sie über das Reformtempo; das ist
ihre Intention.
({15})
Zweitens. Wer darauf hofft, dass die CSU die Kopfpauschale verhindert, wird bitter enttäuscht sein. Denn
ihr geht es nur darum, die Klientel im eigenen Bundesland zu bedienen.
Drittens. Wer die Kopfpauschale nicht will - und die
Grünen wollen sie nicht -,
({16})
der darf hinsichtlich der Zusatzbeiträge nicht schweigen. Denn die Zusatzbeiträge sind der Türöffner für dieses Prämiensystem.
({17})
Es gibt doch zu denken, dass es bereits Forderungen aus
der CDU gibt, die Belastungsgrenze von 1 Prozent bei
den Zusatzbeiträgen an- oder gleich aufzuheben.
Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die SPD
neuerdings auch gegen Zusatzbeiträge ist. Sie wird allerdings ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem haben,
denn immerhin ist das entsprechende Gesetz von der
Großen Koalition verabschiedet worden.
Zusatzbeiträge sind für alle Versicherten eine Belastung, und zwar eine einseitige. Deswegen lehnen wir sie
ab. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, für die
diese Zusatzbeiträge nicht nur eine Belastung, sondern
bereits heute eine soziale Bedrohung sind. Ich rede von
den Hartz-IV-Empfängern. Sie müssen die Zusatzbeiträge aufgrund der Gesetzeslage nämlich aus eigener Tasche bezahlen.
Gerade erst gab es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der der Politik ins Stammbuch geschrieben wurde, dass aus dem Grundsatz der Achtung
der Menschenwürde ein Recht auf Existenzsicherung
folgt und dass zwar ein monatlicher Festbetrag ausgewiesen werden kann, aber unabweisbare zusätzliche Bedarfe auch zusätzlich finanziert werden müssen.
({18})
Die einzige Alternative zur Zahlung eines Zusatzbeitrages ist für einen Menschen, der ALG II bezieht, Krankenkassenhopping,
({19})
und zwar so lange, bis es keine Kasse mehr gibt, die einen Zusatzbeitrag erhebt. Das war bisher in allen Antworten auf unsere parlamentarischen Initiativen die
Empfehlung der letzten wie der jetzigen Regierung.
Meine Damen und Herren, das darf doch wohl nicht
wahr sein!
({20})
Wir wollen, dass der Zusatzbeitrag, solange es ihn
gibt, genauso behandelt wird wie der Krankenkassenbeitrag selbst, der ja von den Jobcentern übernommen wird.
Wir wollen ALG-II-Empfänger nicht zwingen, die Krankenkasse in einem Hase-und-Igel-Spiel ständig zu wechseln.
Wenn man den Presseberichten der letzten Tage glauben darf, dann soll es jetzt eine Liste von Ausnahmen
geben, in denen das Jobcenter den Zusatzbeitrag vielleicht doch übernimmt, zum Beispiel wenn jemand
schon eine Zahnbehandlung beantragt hat oder dergleichen.
({21})
Es geht jedoch gerade nicht darum, dass Menschen, die
von Hartz IV leben, Einzelverhandlungen mit dem Amt
führen müssen, sondern es geht um eine generelle Regelung, nach der diese Zusatzbeiträge übernommen werden.
({22})
Da sollten Sie wirklich in sich gehen. Anders lässt sich
das ohnehin nicht halten. Ich verspreche Ihnen für die
Grünen, dass wir gegen die Zusatzbeiträge als Türöffner
für das Prämiensystem
({23})
kämpfen werden. Bei uns ist das kein Theaterdonner,
Herr Zöller!
({24})
Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege Jens
Spahn.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man muss noch einmal in Erinnerung rufen, worüber wir
hier eigentlich debattieren. Es geht um einen Antrag insbesondere der SPD-Fraktion, der, Herr Kollege
Oppermann, es nicht wert ist, dass der Minister dazu
spricht,
({0})
denn die Substanz Ihres Antrags ist mehr als überschaubar.
({1})
Die eigentliche Aussage Ihres Antrages ist, dass Sie
sich von elf Jahren Regierungspolitik verabschieden und
mit der Arbeit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt
abrechnen,
({2})
als schämten Sie sich dessen, was wir auch zum Teil gemeinsam beschlossen haben. Sie fallen zurück auf den
Stand von vor 1998, in den Populismus, den Sie in den
80er- und 90er-Jahren an den Tag gelegt haben. Das
bringt Sie vielleicht näher zu den Linken; aber das bringt
Sie nicht näher zur Regierungsbeteiligung in diesem
Land, und das ist auch richtig so.
({3})
Sie wollen zurücknehmen, dass der Arbeitnehmer einen Beitrag von 0,9 Prozent allein tragen muss.
({4})
Das ist im Übrigen etwas, was unter der rot-grünen Bundesregierung in diesem Land eingeführt worden ist. Ich
darf einmal zitieren, was Frau Ministerin Schmidt 2003
gesagt hat - ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich
Ministerin Schmidt gleich mehrfach in einer Rede zitiere;
aber es scheint nötig zu sein, um Sie an das zu erinnern,
was auch Sie einmal für richtig gehalten haben -: Ziel
ist es, die Lohnnebenkosten zu senken. Die Alternative
wäre gewesen, die Zuzahlungen weiter zu erhöhen. Wer
die Lohnzusatzkosten senken will, um die Rahmenbedingungen für Wachstum und Arbeitsplätze zu verbessern,
muss die paritätisch finanzierten Ausgaben verringern. Das sagte Ulla Schmidt 2003. Was gilt denn nun? Das,
was die ehemalige Gesundheitsministerin gesagt hat,
oder das, was Karl Lauterbach heute erzählt? Diese Frage
müssen Sie uns einmal beantworten, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der SPD.
({5})
Ich möchte ein zweites Thema behandeln - es ist gerade schon angesprochen worden -: Sie wollen den Gesundheitsfonds wieder abschaffen. Wir haben gemeinsam für den Gesundheitsfonds gekämpft und ihn auch
durchgesetzt.
({6})
- Natürlich. Lesen Sie einmal genau, was in Ihrem Antrag steht. - Wir haben gesagt: Das, was sich mit der
Einführung des Gesundheitsfonds ändert, ist, dass sich
die Einnahmen der Krankenkassen nicht mehr nach der
Einkommensstruktur ihrer Versicherten richten, sondern
nach der Risiko-, also der Krankheitsstruktur ihrer Versicherten.
({7})
Das haben wir gemeinsam mit der Einführung des Gesundheitsfonds beschlossen. Das stellen Sie jetzt wieder
infrage.
({8})
Ich möchte gerne einmal hören, wie Sie das insbesondere den chronisch Kranken in diesem Land erklären
wollen.
({9})
- Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen, Frau Kollegin Ferner.
Ich komme auf einen dritten Punkt zu sprechen - er
ist ebenfalls schon angesprochen worden -: Sie wollen
die Zusatzbeiträge wieder abschaffen, die wir - ich muss
es noch einmal sagen; ich kann es gar nicht oft genug
wiederholen - gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen haben.
({10})
- Stellen Sie Ihr Lichtlein doch nicht so sehr unter den
Scheffel, als wenn Sie in der Großen Koalition irgendetwas hätten machen müssen. Sie haben oft genug den Bockigen gespielt und Dinge nicht mitgemacht.
({11})
Da muss man die Frage stellen, warum Sie an dieser
Stelle mitgemacht haben. Sie haben bei diesen Zusatzbeiträgen zugestimmt. Wenn man das tut, dann vertritt
man das auch gemeinsam politisch nach außen. Das ist
zumindest mein Verständnis von politischer Rechtschaffenheit an dieser Stelle.
({12})
Stichwort Zusatzbeitrag von 8 Euro. Schauen wir
einmal, wie es früher war: Jemand mit einem Bruttoeinkommen von 1 000 Euro musste früher bis zu 32 Euro
im Monat mehr als andere zahlen; denn es gab Krankenkassen mit einem Beitragssatz von 13,5 Prozent und andere mit einem Beitragssatz von 16,7 Prozent. Bei einem
Bruttoeinkommen von 3 000 Euro konnte der Unterschied bis zu 96 Euro im Monat betragen. Es hat niemanden in diesem Land, im Übrigen auch nicht die Grünen, gestört, dass man bei der AOK Berlin im Monat
viel mehr zahlen musste, als man bei anderen Kassen
zahlen musste. Dennoch rufen Sie heute bei einem Unterschied von 8 Euro den Untergang des Abendlandes
aus. In der politischen Debatte so vorzugehen, ist nicht
besonders redlich.
({13})
Herr Spahn, der Kollege Kuhn würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Herr Spahn, ich möchte etwas zu Ihrer argumentativen Figur fragen. Es geht darum, dass Sie darauf verweisen, eine Fraktion habe früher etwas mitgetragen, was
sie heute kritisiert. Wir zum Beispiel kritisieren, dass Arbeitnehmer für 0,9 Prozent des Krankenkassenbeitrags
allein aufkommen müssen. Halten Sie es eigentlich für
unmöglich, dass Fraktionen zu etwas, was sie früher in
einer Koalition mitgetragen haben - in diesem Fall geht
es um ein Vorgehen aus dem Jahr 2003, also um etwas,
was sieben Jahre zurückliegt -, nach reiflicher Überlegung sagen: Das wollen wir nicht weiter mittragen, weil
wir aus bestimmten Gründen eine andere Konzeption
besser finden.
Ich persönlich finde, dass Lernprozesse in der Politik
das Einzige sind, was Politik wirklich erträglich macht.
Stellen Sie sich einmal vor, wir würden immer Politik
nach dem Muster machen: Alles, was man mitgetragen
hat, muss man ewig mittragen. Wir sagen zum Beispiel,
dass dieser Beitrag von 0,9 Prozent nicht richtig ist, weil
er ein Schritt in Richtung Auflösung der Parität ist. Dazu
hatten wir eine lange Diskussion, und mittlerweile sind
wir auf Grundlage eines breiter angelegten Gesundheitskonzepts zu einer anderen Auffassung gekommen.
Wenn alle Reden hier mit Ihrer Technik gehalten werden, dann wird ein ziemlich simples Spiel gespielt, weil
jeder bei jedem irgendetwas findet, was er früher anders
gesehen hat. Sollte das unser Niveau sein, oder wollen
wir doch mehr um die Sache ringen?
Lieber Herr Kollege Kuhn, wenn es denn um einen
Lernprozess im Sinne von positiver Erfahrung, die dann
zu neuen Entscheidungen und gegebenenfalls zur Revidierung von Entscheidungen führte, ginge, dann könnte
man Ihnen sicherlich zustimmen. Aber ich habe auch in
Ihrem Beitrag keine Begründung gehört, warum die
0,9-Prozent-Regelung zurückgenommen werden sollte.
Sie müssen sich doch damit auseinandersetzen, warum
die Aussagen von Ulla Schmidt zum Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, die ich vorhin zitiert habe,
heute nicht mehr gelten sollen. Ich habe noch nicht einen
Satz in dieser Debatte dazu gehört, warum die Begründung von damals heute nicht mehr gelten soll.
({0})
Bei den Forderungen der Kollegen von der SPD handelt es sich nicht um einen Lernprozess, sondern damit
geben sie ihrer Sehnsucht nach der guten alten Oppositionszeit in den 80er-Jahren mit der entsprechenden Rhetorik Ausdruck. Es handelt sich um den Versuch, über
populistische Politik vielleicht etwas mehr Prozentpunkte als bei der letzten Bundestagswahl zu erreichen.
Das ist doch der einzige Grund für die Debatte, die wir
an dieser Stelle führen.
({1})
Herr Spahn, jetzt gäbe es eine Zwischenfrage von
Herrn Lauterbach.
Bitte schön.
Bitte schön.
Herr Spahn, leuchtet Ihnen denn das Argument nicht
ein, dass wir es deswegen, weil die Löhne verfallen - Sie
tun ja nichts zur Einführung von Mindestlöhnen -, für
falsch halten, ausgerechnet die Arbeitgeber von den steigenden Belastungen durch die Gesundheitskosten auszunehmen? Das ist doch eine Begründung. Die Situation
ist doch anders als 2003, als es die Finanzkrise noch
nicht gab
({0})
und die Löhne noch höher waren. Damals brauchten wir
im Gegensatz zu heute, wo Sie das blockieren, keine
Mindestlöhne. Das müssen Sie doch zumindest als Argument verstehen, auch wenn Sie es nicht nachvollziehen oder mittragen.
({1})
Zum Ersten ist zu sagen: Dieses Argument hört man
in dieser Debatte zum ersten Mal. In Ihrem Antrag findet
es sich nicht.
({0})
Sie sollten vielleicht einmal ein wenig über die Inhalte
Ihrer Anträge diskutieren.
Zum Zweiten bleibe ich dabei - das ist unsere politische Auffassung -, dass das, was 2003 richtig war,
({1})
gerade jetzt in Zeiten der Krise richtig ist, nämlich die
Begrenzung von Lohnnebenkosten. Wenn diese die Arbeit in Deutschland noch teurer machen, befördert das
im Zweifel die Flucht in die Schwarzarbeit. Somit ist
dieses Vorgehen in der Krise noch viel richtiger, als es
2003 war. Auch um diese Frage geht es an dieser Stelle.
({2})
Wir haben zudem im Zusammenhang mit den Zusatzbeiträgen immer gesagt - auch hier möchte ich noch einmal ein Zitat bringen -:
Deshalb können sich die Versicherten entscheiden,
ob ihnen ihre Kasse einen Zusatzbeitrag wert ist
oder ob sie in eine andere Kasse wechseln, in der
sie keinen Zusatzbeitrag zahlen müssen. So funktioniert das. Ich glaube, das ist notwendig, damit
von den Versicherten Druck auf die Kassen ausgeübt wird, vernünftig mit den Geldern umzugehen.
Zitat von Ulla Schmidt in diesem schönen Hause bei der
Debatte um die Einführung von Zusatzbeiträgen!
Auch mit diesem Argument müssen Sie sich inhaltlich auseinandersetzen, statt die Uhr einfach nur zurückzudrehen. Jetzt gibt es nämlich eine bessere Preistransparenz für die Versicherten. Die Versicherten müssen
nicht mehr wie ehedem per Dreisatz mühsam errechnen,
welche unterschiedlichen Kostenstrukturen sich in den
Beitragssätzen der Krankenkassen verstecken, was man
dann im Zweifel in der Lohnabrechnung gar nicht immer
ganz nachvollziehen konnte. Das war alles sehr unübersichtlich. Heute gibt es dadurch, dass ein fester Eurobetrag erhoben wird, ein ganz anderes Preissignal. Ich als
Versicherter kann ganz individuell entscheiden, ob mir
meine Krankenkasse diesen Zusatzbeitrag wert ist oder
nicht. Auch das war damals unsere gemeinsame Begründung dafür, die Möglichkeit zur Erhebung von Zusatzbeiträgen einzuführen. Ich halte sie inhaltlich nach wie
vor für vollkommen richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Wir haben im Übrigen gesagt, dass es uns nicht um
eine Kopfpauschale geht, wie die Kollegin Flach schon
deutlich gemacht hat, auch wenn Sie diesen Kampfbegriff immer weiter munter verwenden.
({4})
Darum geht es uns nicht.
({5})
Uns geht es um die Weiterentwicklung des heutigen Systems, und zwar nicht um einen Totalumbau, sondern um
einen schrittweisen Umbau: Evolution statt Revolution.
({6})
Sie haben recht: Wir haben gesagt, die 1-Prozent-Regel, wie sie heute gilt, funktioniert nicht. Warum funktioniert sie nicht? Weil heute, wenn der Versicherte mehr
als 1 Prozent seines Einkommens als Zusatzbeitrag zahlen müsste, die Zahlung einfach gekappt wird, die Kasse
aber die Differenz zwischen dem Betrag, der eigentlich
gezahlt werden müsste, und dem auf 1 Prozent des EinJens Spahn
kommens begrenzten Betrag nicht bekommt. Diese Differenz fehlt der Kasse einfach. Es findet kein Ausgleich
statt. Genau dieses Problem wollen wir über einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln lösen. Diesen würden
im Übrigen all die, die nicht in der GKV versichert sind,
mitfinanzieren, und auch all diejenigen, deren Beitrag
aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze gekappt ist,
würden dieses anteilig mitfinanzieren.
Deswegen sagen wir, es ist gerechter, die Zusatzbeiträge weiterzuentwickeln und noch mehr Elemente einkommensunabhängiger Prämien in der gesetzlichen
Krankenversicherung einzuführen, aber, und das sagt jeder in dieser Koalition, Schritt für Schritt. Deswegen
sollten Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal wo
Sie in Deutschland ansässig sind, damit aufhören, etwas
anderes zu behaupten.
({7})
Herr Spahn, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
der Kollegin Bender?
Bitte schön.
Herr Kollege Spahn, ich habe Sie so verstanden, dass
Sie an den Zusatzbeiträgen festhalten, aber die 1-prozentige Überforderungsklausel abschaffen und stattdessen
einen Sozialausgleich einführen wollen. Bedeutet das
dann, dass in Zukunft jeder, der den Bescheid von der
Krankenkasse bekommt, dass ein Zusatzbeitrag erhoben
wird, anschließend zum Amt gehen und dort einen Sozialausgleich beantragen soll, und halten Sie das für ein bürokratiearmes Verfahren?
Liebe Frau Kollegin Bender, hätten Sie mir die
Chance gegeben, meine Rede fortzusetzen, wäre ich auf
diesen Punkt zu sprechen gekommen. Wir wissen natürlich um die Herausforderungen, die sich aus dem, wie
ich finde, wunderbaren theoretischen Konzept in der
praktischen Umsetzung noch ergeben. Da ist zum einen
die Frage der Haushaltsmittel: Wie viele Euro stehen tatsächlich zur Verfügung, um diesen sozialen Ausgleich
herzustellen? Die Antwort darauf wird unter anderem
die Größe der Schritte bemessen müssen. Zum anderen
sprechen Sie die noch grundsätzlicher zu lösende Frage
an, wie wir den sozialen Ausgleich so organisieren, dass
es nicht zu millionenfachen zusätzlichen Einkommensprüfungen für die Betroffenen kommt. Genau damit wird
sich die Regierungskommission in den nächsten Wochen und Monaten in aller Ruhe beschäftigen.
({0})
Wie wäre es denn, wenn wir die erst einmal arbeiten lassen und wir hier dann alle gemeinsam über die Ergebnisse der Regierungskommission debattieren
({1})
und wenn wir nicht jede Woche mit irgendwelchen Showanträgen die gleichen Debatten führen?
({2})
Im Übrigen will ich darauf hinweisen, welches Ziel
hinter unserem Konzept steckt. Es ist kein Fetisch irgendeiner Fraktion oder irgendeiner Partei,
({3})
über einkommensunabhängige Prämien zu reden. Dahinter steckt ja auch eine Idee, nämlich die, dass wir die
Entwicklung der steigenden Gesundheitskosten - dazu
wird es in einer älter werdenden Gesellschaft und aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts automatisch kommen; bei der Steigerung der Arzneimittelausgaben geht es ja nicht um Hustensaft, sondern in aller
Regel um Krebsmedikation und andere Medikamente,
die mit hohen Innovationskosten verbunden sind - nicht
immer eins zu eins zulasten der Arbeitskosten in
Deutschland ausgleichen und dadurch Arbeit in
Deutschland teurer machen. Die eigentliche Frage, um
die es geht, ist, wie einerseits die Dynamik, nämlich steigende Ausgaben, möglich gemacht wird, ohne andererseits gleichzeitig die Arbeitskosten in Deutschland zu
belasten. Ich finde, es ist es inhaltlich und jenseits von
Überschriften wert, darum zu ringen, was die richtige
Lösung sein kann. An diese Arbeit sollten wir uns alle
gemeinsam machen.
({4})
Im Übrigen reicht es nicht, einfach zu sagen: Wir
wollen zurück und all das abschaffen, was wir gemeinsam - in welcher Konstellation auch immer - irgendwann einmal beschlossen haben.
({5})
Sie müssen vielmehr eine Frage beantworten: Am
1. Januar 2011 werden wir wahrscheinlich ein Defizit
von 11 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung haben, Tendenz steigend.
({6})
2020 wird es 15 Prozent mehr Rentner in Deutschland
und 20 Prozent weniger Beitragszahler geben.
({7})
Die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass
der Beitragssatz, wenn wir nichts tun, in Richtung
20 bzw. 25 Prozent geht. Derjenige, der nichts tut und alles zurückdrehen will, muss zumindest die Frage beantworten, wie er mit diesen Herausforderungen klarkommen will.
Der Kollege Lauterbach - Frau Kollegin Flach hat
schon darauf hingewiesen - hat im Dezember letzten
Jahres, glaube ich, angekündigt, die SPD werde das
durchgerechnete Konzept zur Bürgerversicherung, auf
das wir seit Jahren warten,
({8})
bald präsentieren. Wir hatten eigentlich gehofft, dass es
Bestandteil der heutigen Debatte wird; denn Sie werden
ein paar Fragen beantworten müssen: Wo soll denn dann
die Beitragsbemessungsgrenze liegen?
({9})
Sollen Zinsen, Kapitaleinkünfte, Mieten berücksichtigt
werden und, wenn ja, wie? Sie werden vor allem den
Facharbeitern und den Angestellten in diesem Land erklären müssen, warum es wieder sie sind, die alles bezahlen sollen, und warum die Kosten allein auf deren
Schultern abgeladen werden und warum nicht, etwa über
das Steuersystem, insbesondere die ganz starken Schultern in diesem Land,
({10})
deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze
und der Versicherungspflichtgrenze liegt, mit einbezogen werden.
({11})
Sie wissen ganz genau, warum Sie hier keine Zahlen
vorlegen. Dann würden die Menschen nämlich merken,
was Sie eigentlich vorhaben und dass es für viele in diesem Land teurer wird.
({12})
So bleibt es am Ende dabei: Sie präsentieren auch
heute keine konkreten Zahlen. Sie bleiben bei Überschriften. Es ist eine Showveranstaltung, wie wir sie
schon in den letzten Sitzungswochen - diese Debatte erfolgt ja inzwischen wöchentlich - erlebt haben.
({13})
Es wurde bereits angekündigt, auch in den nächsten Sitzungswochen ähnliche Debatten führen zu wollen. Mit
jeder Woche heißer Luft
({14})
helfen wir den Menschen in diesem Land nicht weiter.
Wir wollen in der Regierungskommission gemeinsam an
der Umsetzung der gerade beschriebenen Ziele arbeiten.
Ob Sie es glauben oder nicht: Wir jedenfalls gehen weiterhin frohen Mutes an die Arbeit.
Danke schön.
({15})
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Edgar Franke für
die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, als
Person sind Sie nicht nur im Ausschuss, sondern auch
hier im Bundestag sehr sympathisch aufgetreten.
({0})
Aber Ihre Politik, Herr Minister, ist alles andere als sympathisch. Ihre Politik geht in die völlig falsche Richtung,
weil sie nur eine Klientel bedient, nämlich Ihre Wähler.
({1})
Dem Antrag, den die SPD heute vorlegt, könnten Sie
eigentlich - wenn ich Frau Flach richtig verstanden
habe - zumindest in Teilen zustimmen; denn ob man es
Kopfpauschale - das ist, glaube ich, kein Kampfbegriff ({2})
oder Gesundheitsprämie nennt:
({3})
Kopfpauschalen bzw. Gesundheitsprämien haben immer einen Sozialausgleich. Aber der Zusatzbeitrag von
8 Euro hat diesen Sozialausgleich nicht. Insofern ist es
nur konsequent, diesen Zusatzbeitrag abzuschaffen.
Aber das werden Sie nicht machen, Herr Rösler. Sie
versuchen vielmehr, die Kosten der Arbeitgeber zu minimieren. Sie versuchen, die private Versicherungswirtschaft zu begünstigen. Sie wollen vor allen Dingen die
Besserverdienenden finanziell entlasten. Dafür haben
wir aber kein Geld. Am Dienstag habe ich mit Herrn
Rürup, der als Erfinder der Kopfpauschale gilt, diskutiert. Er hat mir gesagt: Man kann nicht die Gesundheitsprämie einführen und gleichzeitig die Steuern senken.
Das Konzept wird nicht aufgehen.
({4})
Herr Rösler, Ihre Politik führt in eine Dreiklassenmedizin. Es wird die Holzklasse für Arme geben. Eine gute
Versorgung wird es nur für diejenigen geben, die sich einen privaten Aufschlag finanziell leisten können. Für
Reiche wird es eine Luxusklasse geben. Das kann keine
Politik für die Mehrheit der Menschen sein.
({5})
Wir haben - Herr Spahn hat es angedeutet - durch
medizinischen Fortschritt und durch eine älter werdende
Gesellschaft steigende Kosten. Diese Kosten müssen wir
gerecht verteilen. Herr Spahn, es ist richtig, dass 2006
die Zusatzbeiträge eingeführt worden sind. Die Zusatzbeiträge sind aber nur auf Druck von CDU/CSU eingeführt worden; das muss man klar sehen.
({6})
Sie haben damals gesagt: Den Gesundheitsfonds gibt es
nur, wenn Zusatzbeiträge eingeführt werden. Das ist die
Wahrheit.
({7})
Sie brauchen sich also nicht darüber aufzuregen.
Zu dem, was wir eben diskutiert haben und wozu Herr
Kuhn auch noch einmal nachgefragt hat: Wir haben vor
der Finanz- und Wirtschaftskrise beschlossen, einen
Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens
zu erheben. Momentan befinden wir uns wirtschaftlich
in einer ganz anderen Situation. Wenn sich die SPD dafür ausspricht, zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung zurückzukehren, weil wirtschaftlich gesehen andere Bedingungen herrschen, dann muss man das
zur Kenntnis nehmen.
Wir brauchen keine Kopfpauschale. Vielmehr brauchen wir eine solidarische Politik und eine solidarische
Krankenversicherung. Eine solidarische Krankenversicherung ist das, was die Bevölkerung will. Es gibt eine
aktuelle Umfrage von Infratest. Darin steht, dass über
70 Prozent der Befragten an einer solidarischen Krankenversicherung festhalten. Über 70 Prozent sagen: Wir
brauchen eine paritätisch finanzierte Krankenversicherung.
({8})
Das ist eine ganze Menge. Das sind auch Wähler. In
Nordrhein-Westfalen werden Sie sehen, dass sie Wahlen
entscheiden können.
({9})
Wir brauchen eine funktionierende Krankenversicherung. Wir brauchen eine moderne Krankenversicherung.
Eine moderne Krankenversicherung ist die Bürgerversicherung. Helmut Schmidt hat gesagt: Ein Sozialstaat
ist eine Kulturleistung. - Solidarität gehört zum Sozialstaat dazu. Wenn sich gerade die Gutverdienenden dem
Solidaritätsgedanken entziehen können, dann ist das
nicht richtig. Welche Situation haben wir momentan in
der Krankenversicherung? Momentan ist es so, dass die
wirtschaftlich Leistungsstärksten und die im Durchschnitt Gesündesten privat versichert sind und sich somit
dem Solidarprinzip entziehen.
({10})
Die Bürgerversicherung hat zwei Vorteile. Erstens.
Die Einnahmebasis wird verbreitert, weil auch die Gutverdienenden in diese Versicherung einzahlen. Dadurch
haben wir mehr Geld im System. Zweitens haben wir
mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, weil
alle Krankenkassen unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren. Es kann ja nicht sein, dass die
eine Krankenkasse die chronisch Kranken und die
Schlechtverdienenden hat, während eine andere Krankenkasse die Gutverdienenden hat und deswegen ganz
andere Tarife anbieten kann. Das ist kein gerechter Wettbewerb. Deswegen brauchen wir echten Wettbewerb. Sie
von der FDP sind doch immer für Wettbewerb. Insofern
müssten auch Sie, Herr Rösler, eigentlich für die Bürgerversicherung sein.
({11})
Dann hätte man ein System, das sozial gerecht wäre;
dann hätte man ein System, das die Wettbewerbsfähigkeit steigern würde; dann hätte man ein System, das die
Einnahmesituation der Krankenkassen stabilisieren
würde. Die Probleme bei der Finanzierung eines modernen Krankenversicherungssystems können nicht mit Zusatzbeiträgen, Kopfpauschalen oder Gesundheitsprämien, wie Sie das bezeichnet haben, gelöst werden. Es
gibt nur eine Lösung für die dringenden Probleme. Diese
Lösung heißt: Bürgerversicherung.
Ich danke Ihnen.
({12})
Herr Kollege Franke, das war Ihre erste Rede hier im
Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir Ihnen recht
herzlich und wünschen alles Gute für Ihre Arbeit.
({0})
Jetzt hat der Kollege Heinz Lanfermann für die FDPFraktion das Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Kollege Lauterbach hat aus guten Gründen kaum über den eigenen Antrag gesprochen.
Das ist schon allein deshalb verständlich, weil er sich zu
der Behauptung verstiegen hat, die Opposition müsse
jetzt schon die Arbeit der Regierung mitmachen. Tatsächlich ist es umgekehrt. In dem Antrag steht lapidar in
einem Satz, man solle bitte einsehen, dass eine Bürgerversicherung das Richtige sei. Es wird aber überhaupt
nicht erklärt, was darunter zu verstehen ist.
({0})
Ganz zum Schluss heißt es dann:
fordert die Bundesregierung
auf, bis Ende 2010 ein Konzept zur Einführung einer
Bürgerversicherung vorzulegen. Also soll
doch wohl eher die Regierung die Arbeit der SPD
machen. Herr Kollege Lauterbach, ich gebe zu, dass Ihre
Fraktion sehr geschrumpft ist, aber trotzdem muss man
in der Opposition selber arbeiten - als Sprecher werden
Sie das noch merken -, wenn man hier Konzepte vorlegen will.
({1})
Sie haben versprochen, hier ein durchgerechnetes
Modell vorzulegen. Das sollte die Mutter aller Anträge
werden, was die Gesundheitspolitik angeht. In Wirklichkeit haben Sie hier heute ein äußerst dürftiges, schmales
Papier vorgelegt, aus dem nur hervorgeht, dass Sie sehr
vergesslich sind. Den Namen Ulla Schmidt erwähnen
Sie schon gar nicht mehr.
Dann haben Sie gesagt, die Pharmaindustrie sei völlig unnachgiebig gewesen, mit ihr sei überhaupt nicht zu
reden gewesen, elf Jahre lang hätten Sie das sozusagen
ertragen. Aber gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Antrag - es ist bemerkenswert, dass gleich der erste Satz
mit einer Unwahrheit beginnt -:
Seit seinem Amtsantritt
hat der Bundesgesundheitsminister
keinerlei Initiativen ergriffen,
Effizienzreserven
zu nutzen und insbesondere
die überproportional steigenden Arzneimittelausgaben zu begrenzen.
({2})
Zur Lektüre habe ich Ihnen Überschriften aus der
Presse der letzten Wochen mitgebracht,
({3})
aus denen hervorgeht, was der Minister gefordert hat
und mit wem er gesprochen hat. Das waren die Krankenkassenvertreter. Das waren die Pharmaverbände. Wenn
Ihnen die eine Überschrift Pharmakonzerne lenken ein
aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht gefällt,
haben Sie vielleicht mehr Spaß an der Süddeutschen Zeitung: Pharmalobby bietet Hilfe an.
({4})
Lassen Sie sich vom Minister doch einmal informieren.
Er ist in den Gesprächen mit der Pharmaindustrie nach
drei Monaten weiter als Frau Schmidt nach neun Jahren.
Das ist die Wahrheit.
({5})
Meine Damen und Herren, um mit diesem Hirngespinst gleich aufzuräumen: Es gibt keine Kopfpauschale.
Niemand will eine Kopfpauschale.
({6})
Das ist ein unsinniger Begriff. Der Kollege Weinberg hat
uns dankenswerterweise ein paar historische Beispiele
genannt. Das, was man irgendwann einmal als sogenannte Kopfsteuer - darum ging es - in England gewollt
hat, war, dass jeder Bürger unabhängig von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen genau den gleichen Betrag an
den Staat abführen muss. Indem Sie diesen Begriff verwenden, versuchen Sie, die einkommensunabhängige
Prämie zu diskreditieren.
({7})
Diese Prämie ist nicht eine Prämie,
({8})
sondern ein System, in dem ein Teil des Arbeitnehmerbeitrages in einem ersten Schritt in eine einkommensunabhängige Prämie überführt wird, die jede einzelne
Krankenkasse kalkulieren und festsetzen kann. Abhängig von ihren Bedingungen, von dem, was sie in Verträgen erwirtschaftet, je nachdem, wie wirtschaftlich und
unbürokratisch sie arbeitet usw., setzt jede Krankenkasse
einen anderen Betrag fest. Das ist das Erste, das zeigt,
dass nicht alle den gleichen Betrag zahlen.
Zweitens behaupten Sie - das sind Halbwahrheiten,
mit denen Sie die Öffentlichkeit täuschen, insbesondere
jetzt bei Ihrer Kampagne, bei der Sie Unterschriften gegen den Weltuntergang sammeln -, jeder zahle den gleichen Betrag,
({9})
und verschweigen, dass ein Großteil am Ende - darauf
kommt es doch wohl an ({10})
einen Sozialausgleich bekommt. Dieser Sozialausgleich
macht es für den Einzelnen - auch die Sekretärin und die
Verkäuferin, die Sie immer wieder anführen - billiger als
für den von Ihnen zitierten Manager,
({11})
der diesen Teilbeitrag zahlt und nichts erstattet bekommt. Auch wenn Sie diese einfache Subtraktion nicht
hinbekommen, sollten Sie zumindest nicht die Öffentlichkeit darüber täuschen.
({12})
Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Der Begriff
Kopfpauschale ist ein Hirngespinst und dient nur der
Täuschung der Öffentlichkeit.
({13})
Die Kollegin Hendricks würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Herr Kollege Lanfermann, wollen Sie mit mir vielleicht einmal die Anzahl der Worte zählen, die Sie gerade gebraucht haben, um zu begründen, dass die Kopfpauschale keine Kopfpauschale sei?
Ich empfehle Ihnen, das Protokoll zu lesen. Dann haben Sie es ganz genau, sogar per Wortzählung am Computer; das macht es einfacher. Ich könnte es einfacher erklären, aber da Sie es immer so kompliziert darstellen,
({0})
wollte ich den Kollegen die Möglichkeit geben, alle Aspekte kennenzulernen. Ich hoffe, das ist mir gelungen,
und wir werden unsachliche Argumente wie das, alle
müssten den gleichen Betrag zahlen, in Zukunft nicht
mehr hören. Ich lade Sie jedenfalls ein, einmal über die
Sache selbst zu diskutieren und eigene Modelle vorzulegen.
({1})
Im Übrigen haben Sie auch nicht gemerkt, dass es
eine seltsame Argumentation ist, wenn Sie hier gegen
Ihre eigene frühere Politik gerichtet kritisieren, die Beiträge seien nicht paritätisch.
Soweit wir wissen, soll bei Ihrer Bürgerversicherung die Bemessungsgrundlage verbreitert werden,
nicht nur bezüglich der Personen, sondern auch bezüglich der Einkommen. Die Zinsen aus Bausparverträgen,
das, was die Oma für die Enkel anlegt, die Mieteinnahmen und anderes werden dazugerechnet.
({2})
Sie sagen, dadurch sinke der Beitrag, das sei ganz toll.
Ja, dann sinkt aber auch der Arbeitgeberbeitrag, und
dann entlasten Sie die Arbeitgeber. Vielleicht möchten
Sie einmal mit denen darüber diskutieren; die freuen sich
darüber.
({3})
Wir laden Sie zu einer fairen und sachlichen Diskussion ein. Eines muss klar sein: Die Zusatzbeiträge, die
Sie eingeführt haben und die, weil sie keinen Sozialausgleich haben,
({4})
unsozialer sind als das, was wir vorhaben, dürfen Sie
nicht mit einer einkommensunabhängigen Prämie verwechseln. Um es mit einem Satz zu erläutern: Die einkommensunabhängige Prämie ersetzt zu einem Teil den
jetzigen Arbeitnehmerbeitrag, der prozentual vom Lohn
erhoben wird, während dagegen der Zusatzbeitrag, wie
der Name unschlagbar klar sagt, zusätzlich zu dem vollen einkommensabhängigen prozentualen Beitrag erhoben wird. Ich hoffe, dass zumindest dieser eine Satz bei
Ihnen auf Verständnis getroffen ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
An der Reihe ist jetzt der Kollege Lothar Riebsamen
für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn man die vorliegenden Anträge eindampft, dann bleibt übrig: Hartz IV erhöhen,
({0})
Schuld für die Finanzierungslücke der GKV bei der Regierung suchen
({1})
und Sündenbock suchen für die Probleme der paritätischen Finanzierung, die es schon seit vielen Jahren gibt.
Aber eigentlich geht es im Wesentlichen darum, in den
nächsten Wochen und Monaten, solange die Regierungskommission tagt, destruktive, schrille Begleitmusik zu
machen. Das wird nicht funktionieren, und das wird
auch die Regierungskommission nicht beeindrucken.
({2})
Zu der Frage: Wer hat die paritätische Finanzierung
aufgegeben? Dazu wurde schon einiges gesagt. Während
der rot-grünen Regierung im Jahr 2003 wurden die Lasten um 0,9 Prozent einseitig verschoben,
({3})
es wurde die Praxisgebühr eingeführt und anderes mehr,
und während der Großen Koalition wurde der Arbeitgeberbeitrag bei 7 Prozent eingefroren - alles unter einer
SPD-Ministerin. Die CDU/CSU hat dem zugestimmt,
weil diese Maßnahmen im Kern richtig waren und sind.
Wir halten Kurs. Sie aber distanzieren sich von Ihren eigenen Entscheidungen, die Sie selbst einmal als notwendig erachtet haben, ausgerechnet in der jetzigen Krise, in
der es mehr denn je darum geht, Arbeitsplätze zu sichern
und international wettbewerbsfähig zu bleiben.
({4})
Was die Finanzsituation der GKV betrifft, kann
man vieles behaupten; es gibt in der Tat sehr viele Baustellen. Aber zu behaupten, die Finanzierungslücke sei
von der Regierung verursacht, das ist schlicht absurd.
Ursache der Finanzierungslücke ist die Kostenentwicklung.
({5})
Die Kosten steigen viel stärker als die Lohnsumme. Dieses Delta schließen wir mit 11,8 Milliarden Euro; das ist
so viel wie noch nie. Wir verursachen keine Lücken,
sondern wir schließen sie, und das mit großen Anstrengungen.
Fakt ist, dass die Beiträge im Jahr 2003 noch ausgereicht haben, um die GKV zu finanzieren. 2004 wurden
zu Recht die versicherungsfremden Leistungen übernommen. 2008 waren wir bei 2,5 Milliarden Euro, 2009
bei 7,2 Milliarden Euro, und nun sind wir bei 11,8 Milliarden Euro. Sie haben offensichtlich vergessen, wer
diese Steigerungen mit zu verantworten hat. Das waren
nämlich unsere gemeinsamen Entscheidungen. Ich erinnere daran: Die Krankenhäuser - Stichwort Pflegedienste - haben 3 Milliarden Euro mehr bekommen,
und der ambulante Bereich, also die niedergelassenen
Ärzte, in etwa die gleiche Summe. Eines ist klar: Es
kann so nicht weitergehen.
({6})
Aber anstatt den Menschen die Wahrheit, die sie ohnehin
schon kennen, zu sagen, streuen Sie ihnen weiter Sand in
die Augen. Das ist falsch.
({7})
Im Antrag der Grünen werden die Zusatzbeiträge als
unsozial bezeichnet. Der Zusatzbeitrag von 8 Euro wäre
doppelt so hoch - er würde 16 Euro betragen -, hätten
wir nicht über die 11,8 Milliarden Euro hinaus einen
Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. für die Geringverdiener in Höhe von 3,9 Milliarden Euro gespannt,
({8})
um die krisenbedingten Ausfälle auszugleichen.
({9})
Ich sage Ihnen, was unsozial ist: Mit knappen Ressourcen unwirtschaftlich umzugehen, das ist unsozial.
({10})
Das Gesundheitswesen unseres Landes, das nach wie
vor eines der besten der Welt ist, durch ein stures Weiterso! an die Wand zu fahren, das wäre unsozial. So weit
lassen wir es nicht kommen, meine Damen und Herren.
({11})
Wir brauchen in diesem System in der Tat mehr
Transparenz und mehr Wettbewerb; die Zusatzbeiträge
machen dies deutlich. Die ALG-II-Empfänger sind in
der gleichen Situation wie alle anderen. Sie können und
müssen die Kasse wechseln, und in Härtefällen wird der
Zusatzbeitrag vom Staat übernommen.
Ausgehend von einem Monatseinkommen in Höhe
von 800 Euro sind 8 Euro 1 Prozent. Das liegt im Rahmen der üblichen Preissteigerungen. Wer fragt denn, gerade in diesen Tagen, da die Benzinkosten steigen, danach, wie viel die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
aufgrund der Steigerung der Energiekosten bzw. der
Fahrtkosten mehr ausgeben müssen, wenn sie 20, 30 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz fahren? Es wäre gegenüber denen, die keine Sozialleistungen bekommen, nicht
gerecht, wenn wir diese 8 Euro übernehmen würden.
Aber das interessiert Sie nicht.
Die christlich-liberale Koalition wird einen Vorschlag
machen. Die Regierungskommission unter der Leitung
von Minister Rösler wird dafür sorgen, dass mit den Beiträgen zukünftig effizient umgegangen wird und dass sie
bezahlbar bleiben. Es wird dem medizinischen und dem
demografischen Fortschritt Rechnung getragen. Das ist
unser Ziel. Dieses Ziel werden wir auch erreichen, mit
oder ohne Begleitmusik.
Herzlichen Dank.
({12})
Herr Riebsamen, das war Ihre erste Rede heute hier
im Deutschen Bundestag. Alles Gute für Sie und auf
gute Zusammenarbeit!
({0})
Jetzt hat Elke Ferner das Wort für die SPD-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Das, was eben teilweise geboten worden ist, insbesondere an Rechenkünsten, kann man wirklich nur als
Milchbubenrechnung bezeichnen. Ich will das an ein
paar Beispielen deutlich machen.
({0})
Der Kollege eben sagte, wir hätten 11,8 Milliarden
Euro zusätzlich im System; zusätzlich kämen 3,9 Milliarden Euro hinzu. Von den 11,8 Milliarden Euro sind
aber 6,2 Milliarden Euro gar nicht zusätzlich im System.
Vielmehr ersetzen sie Beiträge in Höhe von 0,6 Beitragssatzpunkten, um die abgesenkt worden ist. Insofern
sollte man nicht nur die Höhe, die Quantität, sondern
auch die Qualität heranziehen.
Der zweite Punkt: Die Kopfpauschale bleibt eine
Kopfpauschale. Der Ausdruck mag Ihnen nicht gefallen,
aber es verhält sich so.
({1})
Wenn Sie den gleichen Beitrag pro Versichertem nehmen, dann heißt das, der Chef zahlt zumindest für den
einen Teil so viel wie seine Sekretärin.
({2})
Dann bedeutet das, dass die Sekretärin, weil sie gerade
so über der Grenze für den Sozialausgleich liegt, aber
keine Steuern zahlt, den gleichen Betrag zahlt, während
ihr Chef nicht nur weniger Krankenkassenbeitrag zahlt
als vorher, sondern auch noch, wenn Sie die Steuern reduzieren, weniger Steuern zahlt und zusätzlich durch die
steuerliche Absetzbarkeit des Beitrages stärker entlastet
wird, weil er einen höheren Grenzsteuersatz als seine Sekretärin hat.
({3})
Wer jetzt behauptet, dies sei gerechter, der kann entweder nicht rechnen oder
({4})
hat ein höchst merkwürdiges Verständnis von Gerechtigkeit.
({5})
- Natürlich, Herr Lanfermann. Dafür müssen Sie aber
zusätzlich mehr Steuermittel in die Hand nehmen, um einen sogenannten Sozialausgleich überhaupt finanzieren
zu können. Wir reden immerhin über die Kleinigkeit von
fast 10 Milliarden Euro, wie man so hört. Da muss man
auch sagen, woher das Geld kommen soll.
({6})
Wenn Sie jetzt beabsichtigen, eine zusätzliche Steuer
einzuführen, um das zu finanzieren, dann sagen Sie das
doch.
({7})
Sie aber setzen eine Kommission ein, die keine ist. Für
das, was früher eine Ministerin gemacht hat, muss jetzt
gleich ein halbes Kabinett herhalten. Weiter wird versucht, das, was wirklich Sache ist, das, was die Leute erwartet, wenn Sie Ihr Kopfpauschalenkonzept umsetzen,
bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai
zu verschweigen. Das ist keine verantwortliche Politik,
sondern Wegducken vor den Problemen.
({8})
Ich sage Ihnen eines, Herr Rösler: Sie sind hier nicht
Chefarzt in der Schwarzwaldklinik, sondern Sie sind
Bundesgesundheitsminister.
({9})
Der dritte Punkt betrifft das Thema Zusatzbeiträge.
Die Zusatzbeiträge sind nach dem Gesetz möglich. Aber
wenn man nicht bereit ist, bei den Ausgaben schnell zu
handeln,
({10})
und gleichzeitig nicht dafür sorgt, dass die Einnahmen
die Ausgaben zu 100 Prozent decken, dann sind die Zusatzbeiträge zwangsläufig. Derjenige, der jetzt handeln
könnte - das ist der Bundesgesundheitsminister -, hat in
den viereinhalb Monaten seiner Amtszeit nichts, aber
auch überhaupt nichts dazu getan, die Ausgaben zu begrenzen.
({11})
Wer sich auch nur ein kleines bisschen im System auskennt, weiß, dass Ausgabenbegrenzungen bei den Arzneimitteln nicht mit dem Umlegen eines Schalters zu erreichen sind, sondern dass es Monate, teilweise Jahre
dauert, bis ergriffene Maßnahmen sich tatsächlich in geringeren Kosten ausdrücken.
({12})
Frau Ferner, Herr Lanfermann würde gern Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage bereichern.
Ja, gerne.
Bitte schön.
Frau Kollegin Ferner, nachdem Sie gerade hier die
Vermutung geäußert hatten, den Bürgern werde irgendetwas vor der Landtagswahl nicht bekannt, darf ich Sie
fragen: Sind Sie denn bereit, nachdem Sie hier diesen
Antrag vorgelegt haben, in dem nur der eine Satz steht,
Sie wollten eine solidarische Bürgerversicherung, uns
einmal rechtzeitig vor der Wahl am 9. Mai in NordrheinWestfalen im Einzelnen zu erklären, wie die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage aussehen soll? Welche
Elemente außer dem Prozentsatz vom Lohn der Arbeitnehmer sollen, um diese Bürgerversicherung zu finanzieren, von allen Bürgern erhoben werden? Was ist insbesondere mit Einkommen aus Zinsen oder Mieten?
Herr Kollege Lanfermann, da Sie nicht erst seit gestern im Gesundheitswesen unterwegs sind, dürfte Ihnen
das Konzept der SPD zur Bürgerversicherung bekannt
sein.
({0})
Es gibt dazu eine Veröffentlichung des SPD-Parteivorstandes, und zwar aus dem Jahr 2005, wenn ich mich
richtig erinnere.
({1})
- Mit Zahlen, werter Herr Spahn.
({2})
- Wir reden jetzt über das Jahr 2005. Erstens soll für
sonstige Einkünfte zunächst einmal ein Freibetrag gelten, nämlich unten. Der Sparerfreibetrag, der damals
gegolten hat, war schon recht hoch. Bei den jetzigen
Zinssätzen muss man schon ordentlich Vermögen haben,
um Zinsen zu generieren, mit denen man über die Freibeträge kommt, sprich: dass man überhaupt etwas zahlen
muss.
Wenn Sie sich richtig erinnern - ich weiß nicht, ob
Sie das können, Herr Lanfermann -, werden Sie mir
recht geben, dass das Thema Mieteinkünfte in unserem
Konzept keine Rolle gespielt hat.
({3})
Das Thema Mieteinnahmen hat in der Diskussion eine
Rolle gespielt, im endgültigen Konzept und in dem Beschluss dazu aber nicht mehr.
({4})
Jetzt wollen wir einmal sehen, was es bedeutet, wenn
Sie Ihr Konzept durchsetzen.
({5})
Ihr Konzept heißt: Der Arbeitgeberbeitrag wird dauerhaft festgeschrieben. Das heißt, die Arbeitgeber sollen
auch in Zukunft nicht mehr als 7 Prozent zahlen.
({6})
- Sie müssen schon mir überlassen, wie ich auf Ihre Frage
antworte, Herr Lanfermann. So viel Freiheit würde ich
von einem Liberalen doch erwarten.
({7})
Der zweite Punkt. Sie wollen, dass alle zusätzlichen
Kosten - Kosten, die durch die Demografie bedingt sind,
aber auch Kosten, die durch Nichtstun dieser Regierung
bedingt sind - allein auf die Versicherten abgewälzt werden. Das wird dazu führen, dass die Kopfpauschale jedes
Jahr steigt und dass der Bedarf an Steuerzuschüssen größer wird. Vor allen Dingen wird die Anzahl derer, die auf
einen Sozialausgleich angewiesen sind, steigen.
Als wir uns damals das niederländische Modell angeschaut haben, haben wir hochgerechnet, wie viel Steuermittel man bräuchte, um dieses Modell auf eine Bevölkerung von 82 Millionen auszudehnen. Das ist nicht zu
finanzieren. Selbst die Kollegen und Kolleginnen von
der Union haben angesichts der Zahlen Fracksausen bekommen.
({8})
Genauso wenig ist Ihre Kopfpauschale finanzierbar,
Herr Rösler.
({9})
- Es ist keine andere Ausgangslage.
Jetzt möchte ich noch etwas zu den Zusatzbeiträgen
sagen. Sie werden in keinem Protokoll eine Rede von
mir zur Gesundheitspolitik finden, in der ich erklärt
hätte: Zusatzbeiträge sind klasse.
Frau Ferner, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Spahn zulassen?
Gerne.
Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe eine ganz einfache Frage - sie lässt sich mit einem Satz beantworten,
und der braucht nicht einmal ein Verb -: Wann werden
Sie das vom Kollegen Lauterbach - er ist, wenn mich
nicht alles täuscht, gesundheitspolitischer Sprecher Ihrer
Fraktion, spricht also für Ihre Fraktion - angekündigte,
durchgerechnete Konzept für eine Bürgerversicherung vorlegen? Wenn Sie sich nicht auf ein Datum einigen können: Wird das vor oder nach der Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen sein?
Wir werden unser Konzept vorlegen, wann wir das
für richtig halten.
({0})
Auf alle Fälle werden wir ein Konzept vorlegen, das gerecht finanziert ist, das solidarisch finanziert ist, wo die
starken Schultern mehr tragen als die schwachen und wo
vor allen Dingen die Arbeitgeber nicht aus der Verantwortung entlassen werden.
({1})
Wir werden kein Modell für eine Kopfpauschale vorlegen, sondern ein Modell für eine Bürgerversicherung.
Das Modell, das wir vorlegen,
({2})
wird durchgerechnet sein.
({3})
Ich möchte noch ein Wort zum Sozialausgleich und
zu den Zusatzbeiträgen sagen. Die Zusatzbeiträge sind
auf Druck der Union in das Gesetz aufgenommen worden.
Hier wurde eben eine Falschaussage gemacht. Mit
keinem Wort stellen wir im Antrag den Verteilungsmechanismus des Gesundheitsfonds infrage - nirgendwo.
Falsch gelaufen ist damals allerdings - das haben uns
sowohl Professor Fiedler, der von uns benannt worden
ist, als auch Professor Rürup, der von der Union benannt
worden ist, übereinstimmend gesagt -, dass der Sozialausgleich, der für den Zusatzbeitrag auch noch erforderlich ist, von der Union verweigert wurde.
Wo das hinführt, wenn die Union Gesundheitspolitik
macht - insbesondere die CSU -, möchte ich Ihnen
gerne einmal an folgendem Beispiel abschließend darlegen: Die Eingeweihten werden sich an die sogenannte
Bayern-Klausel erinnern, die der Herr Stoiber durchgesetzt hat. Sie hat dazu geführt, dass Bayerns Kassen
vorab 324 Millionen Euro aus dem Gesundheitsfonds
bekommen haben, weil ja angeblich so groß umverteilt
wird.
Man hat nun festgestellt, dass es gar keine Umverteilung gab. Das Geld müsste jetzt zurückgezahlt werden.
Die Kassen haben das aber schon ausgegeben. Warum
haben sie das ausgegeben? Ich will einmal zitieren: Was
meinen Sie, was los gewesen wäre, wenn wir denen
- den Ärzten - gesagt hätten, wir müssten 90 Millionen
Euro auf die hohe Kante legen? - Das heißt: Sie betreiben Klientelpolitik. Es ist wieder einmal bewiesen. Genau so eine Klientelpolitik ist Ihre Kopfpauschale, die
hoffentlich niemals kommen wird.
Eines ist aber schon jetzt sicher: Einer wird bei dem
Thema auf alle Fälle umfallen müssen, entweder die
FDP, die CDU/CSU-Fraktion, Herr Seehofer oder wer
auch immer. Ohne Umfaller wird es das Ding nicht geben.
Schönen Dank.
({4})
Der Kollege Erwin Rüddel hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Gesundheitsminister gehört bekanntlich
nicht meiner Fraktion an, aber ich will es dennoch eingangs sagen: Es befremdet mich, wie die SPD hier im
Haus in Versammlungen, Veranstaltungen, Verlautbarungen mit dem Minister umgeht.
({0})
Man kann es nicht häufig genug sagen: Herr Minister
Rösler hat den Gesundheitsfonds und damit die Zusatzbeiträge nicht beschlossen. Das waren Sie zusammen
mit uns und unter Federführung der zuständigen Ministerin.
Sind die damaligen Ziele - mehr Wettbewerb, mehr
Transparenz, mehr Anreize zum sparsamen Wirtschaften
und zur Begrenzung der Arbeitskosten - nichts mehr
wert, nur weil Sie jetzt in der Opposition sind? Warum
stehen Sie nicht zu dem, was Sie in der Großen Koalition
beschlossen haben,
({1})
statt andere Leute für die Folgen dessen zu attackieren,
was ohne Sie niemals Gesetz geworden wäre?
({2})
Stattdessen legen Sie heute einen Antrag vor, der sich
vor allem dadurch auszeichnet, dass Sie damit die Realitäten, wie die demografische Entwicklung, die Folgen
des medizinischen Fortschritts und die Lebensfähigkeit
der Betriebe, souverän außen vor lassen.
Warum wollen Sie die Arbeitskosten denn schon
wieder in die Höhe treiben? Außerdem: Unternehmen,
die mehr Sozialabgaben zahlen, zahlen weniger Steuern.
Warum versuchen Sie seit Wochen, die im Koalitionsvertrag vorgesehene Gesundheitsreform geradezu zu dämonisieren, als ob Union und FDP nichts Besseres zu
tun hätten, als die Bürgerinnen und Bürger leichtfertig
mit überflüssigen Lasten zu beschweren?
({3})
Ich will es Ihnen sagen: Sie tun das, weil Sie jede rationale Diskussion über die zukünftige Finanzierung der
Gesundheitspolitik verhindern wollen und weil Sie dieses sensible Thema benutzen, um die Menschen zu verunsichern und ihnen Angst zu machen.
({4})
Lassen Sie die Bundesregierung und ihre Regierungskommission doch arbeiten!
({5})
Wir werden sehen, dass ordentliche Ergebnisse herauskommen. Wer sagt Ihnen denn, dass die Kommission
nicht zu Ergebnissen kommt,
({6})
die für Geringverdiener und sozial Benachteiligte sogar
günstiger ausfallen als die gegenwärtige Rechtslage?
Tun Sie nicht so, als ob Sie ein Patentrezept hätten!
Ihre sogenannte solidarische Bürgerversicherung ist
doch in erster Linie eine Wortgirlande, ein Paradebeispiel für die verbalen Wattebäusche, mit denen Sie den
Menschen auch auf anderen Feldern eine Wohlfühlwelt
vorgaukeln,
({7})
in der im Zweifel immer die anderen für die von Ihnen
versprochenen Wohltaten aufkommen müssen.
({8})
Dabei enthält Ihr Konzept in Wahrheit eine ganze
Reihe schwerwiegender Pferdefüße, von denen ich nur
einige aufzählen will: Ihr Konzept treibt die Arbeitskosten in die Höhe, verschärft die demografischen Probleme,
verhindert Transparenz und Wettbewerb, verhindert damit Strukturreformen und verschüttet Einsparpotenziale,
schreibt Mängel des vorhandenen Systems fort, weil einkommensschwächere Versicherte den Krankenversicherungsschutz einkommensstärkerer beitragsfrei versicherter Ehepartner mitbezahlen müssen.
({9})
Was soll eigentlich aus der bisherigen Quersubventionierung der GKV durch die Privatversicherten werden, wenn Sie - das entspricht offenbar Ihrer Wunschvorstellung - die Privaten endlich kleingekriegt haben?
Sollen die Milliarden, die jetzt aufgrund höherer Abrechnungssätze in der ambulanten Behandlung und bei
Wahlleistungen im Krankenhaus aufgebraucht werden
können, also die Beiträge, ohne die viele Praxen gar
nicht existieren könnten, auf die Abrechnungssätze der
gesetzlichen Kassen aufgeschlagen werden? Nein, so
einfach ist die Sache nicht. Lassen Sie die Kommission
in Ruhe arbeiten und hören Sie auf, die Menschen zu
verunsichern!
({10})
Ich sage das auch mit Blick auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Was den Antrag der grünen Fraktion
zu den Zusatzbeiträgen angeht, so bin ich im Übrigen
sicher, dass die Bundesregierung und die Bundesagentur
für Arbeit hier vernünftige und sozialverträgliche Lösungen finden. Wir werden uns jedenfalls von niemandem
in unserer sozialen Verantwortung für die Versicherten
übertreffen lassen.
({11})
Wir stehen auch künftig für ein Gesundheitssystem ein,
in dem alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch darauf
haben, auf der Höhe des medizinischen Fortschritts versorgt zu werden, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihrem Einkommen und ihrem gesundheitlichen
Risiko, und zwar ohne dabei finanziell überfordert zu
werden.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen
auf den Drucksachen 17/879 und 17/674 an die Aus-
schüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung vorge-
sehen sind. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungsurkunden vom 24. November 2006 zur
Konstitution und zur Konvention der Interna-
tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember
- Drucksache 17/760 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 17/800 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Sascha Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding
({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Zukunft für Haiti - Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen
- Drucksache 17/885 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare Abrüstung stärken
- Drucksache 17/886 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Verteidigungsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kinderspielzeug - Risiko für kleine Verbraucher
- Drucksache 17/656 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({5})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Federführung strittig
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
f) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die größten
Emissionsreduktionspotentiale in Schwellenund Entwicklungsländern und Sektoren
- Drucksache 16/13771 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
g) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Achtzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung
der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Absatz 2
- Drucksache 17/485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der
die Federführung strittig ist.
Tagesordnungspunkt 25 e: Interfraktionell wird die
Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel Kinderspielzeug - Risiko für
kleine Verbraucher auf Drucksache 17/656 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisung ist damit bei Zustimmung
durch Bündnis 90/Die Grünen und SPD abgelehnt; die
übrigen Fraktionen haben sich dagegen entschieden.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke angenommen; SPD und
Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt.
Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen.
Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 d sowie 25 f bis
25 g: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 26 a bis
26 j sowie dem Tagesordnungspunkt 9. Es handelt sich
dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen
keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 26 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 40 zu Petitionen
- Drucksache 17/801 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 40 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses so angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 41 zu Petitionen
- Drucksache 17/802 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 41 ist wiederum mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 42 zu Petitionen
- Drucksache 17/803 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 42 ist ebenfalls mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 26 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 43 zu Petitionen
- Drucksache 17/804 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 43 ist angenommen bei
Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP,
SPD und Linkspartei. Dagegen hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 26 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 44 zu Petitionen
- Drucksache 17/805 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 44 ist angenommen bei
Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion der Linken hat dagegen gestimmt.
Tagesordnungspunkt 26 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 45 zu Petitionen
- Drucksache 17/806 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 45 ist angenommen.
Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Es gab keine Enthaltungen.
Tagesordnungspunkt 26 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 46 zu Petitionen
- Drucksache 17/807 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 46 ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die
Linke und Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen
und SPD. Enthaltungen gab es keine.
Tagesordnungspunkt 26 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 47 zu Petitionen
- Drucksache 17/808 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 47 ist angenommen.
Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen und die
Linke. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 26 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 48 zu Petitionen
- Drucksache 17/809 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 48 ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 26 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 49 zu Petitionen
- Drucksache 17/810 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 49 ist angenommen bei
Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen
haben gestimmt die Fraktion von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
Tagesordnungspunkt 9:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des DirektzahlungenVerpflichtungengesetzes
- Drucksache 17/758 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18})
- Drucksache 17/924 Berichterstattung:
Abgeordnete Johannes Röring
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/924, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/758 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen des gesamten
Hauses.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter
Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher
angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien
und die Glaubwürdigkeit der Politik
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke.
({19})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen
Sie uns zunächst einen Blick auf die bisher bekannt gewordenen Fakten werfen, die diese Debatte notwendig
machen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass hohe
Repräsentanten unseres Staates, leibhaftige Ministerpräsidenten, zumindest stundenweise angemietet werden
können. Nichts anderes ist das, was wir gehört haben.
Der eine Ministerpräsident hat mittlerweile erklärt, er sei
gegen seinen Willen vermietet worden. Bei dem anderen
hat der Vermieter erklärt, er habe nicht den Ministerpräsidenten vermietet, sondern den Landesvorsitzenden.
Zufälligerweise handelt es sich dabei um dieselbe Person. Der eine Vermieter ist wegen der bevorstehenden
Wahl entlassen worden. Der andere ist noch im Amt,
vermutlich weil in Sachsen keine Wahlen bevorstehen.
Fühlen Sie sich eigentlich in der CDU/CSU für Ihre
Zweigniederlassungen beispielsweise in Dresden noch
zuständig, oder wollen Sie stillschweigend weiterhin tolerieren, was dort abläuft? Ich sage Ihnen eines: Es ist
doch klar, dass die Herren Mieter diese Personen nicht
wegen ihrer Unterhaltsamkeit und Kurzweiligkeit stundenweise anmieten, sondern deshalb, weil sie sich davon
Vorteile versprechen.
({0})
Wenn man in Deutschland einen Ministerpräsidenten
- und sei es nur auf Stundenbasis - mieten kann, weil
man sich davon Vorteile verspricht, dann untergräbt das
das Vertrauen der Bevölkerung - man muss leider sagen:
das Restvertrauen - in die Demokratie.
({1})
Wir lernen derzeit an der Saar, dass man sogar ganze
Regierungen zusammenkaufen kann.
({2})
Wir lernen mittlerweile auch den Marktwert der Grünen
an der Saar kennen. Der beläuft sich nach den heutigen
Aussagen von Herrn Ulrich auf 38 000 Euro plus X.
({3})
Dabei hat er seine persönlichen Apanagen, die er vom
sogenannten Paten von der Saar bezogen hat, noch nicht
mitgezählt. Wie weit sind wir eigentlich gekommen,
wenn sich ein einziger Unternehmer durch Parteispenden und Bezahlung von Parteifunktionären Regierungen
zusammenkaufen kann?
({4})
Für die Grünen gilt natürlich dasselbe, was ich über die
CDU in Sachsen gesagt habe. Sie begleiten alles, was
dort abläuft, mit Stillschweigen. Das ist ein unvorstellbarer Vorgang. Fühlen Sie sich für Ihren saarländischen
Landesverband unzuständig? Tolerieren Sie das durch
Schweigen, oder was hat man davon eigentlich zu halten? Wir kennen seit längerem auch den Marktwert des
Kollegen Westerwelle, jedenfalls vor seiner Amtszeit als
Außenminister.
({5})
Der Kern der Debatte ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU: Wir haben heute schon
einen so breiten Graben zwischen den Wählenden und
den Gewählten. Wenn Sie nicht kapieren wollen, dass
das Prinzip der Demokratie darauf basiert, dass die Wählerinnen und Wähler darauf bauen können, dass ihre
Stimme über die Geschicke des Staates entscheidet und
nicht die Höhe eines ausgestellten Schecks und nicht ein
in Aussicht gestellter Vorstands- oder Aufsichtsratsposten,
({6})
und wenn das Vertrauen weiter zerstört wird, dann werden ganz andere Leute die Oberhand gewinnen, nämlich
die von rechts außen, die Rattenfänger, die es schon seit
jeher in dieser Republik gibt. Sie machen sich mit dem
Sumpf, den Sie hier anrichten, an der deutschen Demokratie schuldig.
({7})
Zurück zu diesem sogenannten Sponsoring. Man fragt
sich, warum eigentlich die Staatsanwaltschaften nicht tätig werden; denn es handelt sich um Vorteilsannahmen,
die an Personen geknüpft sind. Diese Frage stellt sich,
und ich stelle sie in diesem Plenum. Das verwundert
mich übrigens genauso wie die Einstellung von fünf Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Herrn
Ostermann an der Saar. Aber lassen wir das einmal außen vor. Ich will es nur erwähnt haben. Es gibt ein ganz
schlichtes Ergebnis dieser Debatte, das ich Ihnen nahelege - das ist das Mindeste -: Raffen Sie sich dazu auf,
dieses sogenannte Parteiensponsoring durch das Parteiengesetz zu verbieten!
({8})
Ich entnehme der heutigen Zeitung, dass das schon
die Zustimmung des SPD-Vorsitzenden Gabriel findet.
Insofern sind wir der Wahrheitsfindung wieder etwas näher. Ich hoffe, dass auch Sie von der FDP, auch wenn es
Sie möglicherweise schwer trifft, sich zu diesen Verlusten für Ihre Parteikasse zum Wohle des Staatsganzen bekennen können.
({9})
Ingo Wellenreuther hat das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Allein der Titel dieser Aktuellen
Stunde zeigt, dass es Ihnen von den Linken weder um
eine seriöse Aufklärung der Sachverhalte in NordrheinWestfalen oder in Sachsen geht noch um eine ernsthafte
Diskussion über das Parteienrecht, das sich in den letzten Jahren sehr gut bewährt hat, weil es Transparenz geschaffen hat. Ihnen geht es um etwas ganz anderes: Sie
wollen die Parteienfinanzierung in Deutschland diskreditieren, Sie wollen Spender verunsichern, und Sie wollen sich mit einer gezielten politischen Skandalisierung
Vorteile im Landtagswahlkampf verschaffen und den
politischen Gegner verunglimpfen.
({0})
Dass es Ihnen nicht um die Aufklärung geht, ergibt
sich auch daraus, dass Sie die Prüfung der Sachverhalte
durch die Bundestagsverwaltung, die im Gange ist, nicht
abwarten können. Ich sage Ihnen ganz offen: Es ist unerträglich, dass Sie wieder einmal bei den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland bewusst den Eindruck erwecken, man könne in unserem Land politische Entscheidungen kaufen. Sie wissen genau: Das ist abwegig
und trifft nicht zu. Es ist selbstverständlich, dass ein Ministerpräsident nicht vermietet werden kann. Das widerspricht dem öffentlichen Amt, das er innehat. Die Kanzlerin hat dazu bereits das Entsprechende gesagt. Mit der
Käuflichkeit politischer Entscheidungen hat das nichts,
aber auch gar nichts zu tun.
({1})
Was Sie treiben, ist schäbig und schadet in hohem Maße
unserer Demokratie und der Politik im Gesamten. Vor
allem weiß die Staatsanwaltschaft in Deutschland ganz
genau, ob und wann sie tätig wird, und bedarf dazu keiner anmaßenden Aufforderung von Ihnen, Herr Maurer.
Die konkreten Fälle werfen aber die grundsätzliche
Frage auf, wie mit Parteienfinanzierung und insbesondere mit Parteiensponsoring rechtlich umzugehen ist. Sie
wissen, dass die Parteien nach dem Grundgesetz den
Auftrag, aber auch den Anspruch haben, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Um das
tun zu können, haben sie einen berechtigten Finanzierungsbedarf. Wir haben uns in Deutschland ganz bewusst gegen eine rein staatliche Alimentierung entschieden und die gesellschaftliche Verankerung als
Wesenselement politischer Parteien definiert.
({2})
Im Wesentlichen wird dieser Bedarf durch Mitgliedsbeiträge, durch staatliche Zuwendungen und durch Spenden
gedeckt.
({3})
- Hören Sie zu, dann verstehen Sie es vielleicht. ({4})
Im Gegenzug ergibt sich die grundgesetzliche Verpflichtung, dass die Parteien über die Herkunft und über die
Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen. Das ist im Parteiengesetz
geregelt und auch gut so. Wir wissen, dass Spenden über
10 000 Euro im Rechenschaftsbericht angegeben und
Spenden über 50 000 Euro dem Bundestagspräsidenten
gemeldet werden müssen, der sie unverzüglich im Internet veröffentlicht. Diese Transparenz hat sich bei den
Parteispenden ausdrücklich bewährt.
({5})
Jetzt stellt sich die Frage, wie es sich beim Sponsoring
verhält. Im Parteiengesetz gibt es dafür keine ausdrückliche Regelung. Nach dem sogenannten Sponsoringerlass
des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 1998 handelt es sich dabei um eine Gewährung von Geld durch
Unternehmen zur Förderung unter anderem von Parteien, mit der regelmäßig auch eigene unternehmensbezogene Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit verbunden
sind. Die Gegenleistung der Partei besteht in der Zurverfügungstellung von Werbemöglichkeiten zugunsten des
Sponsors, aber gerade nicht in der Gewährung eines
politischen Vorteils.
({6})
Deshalb ist der Vorwurf der Käuflichkeit geradezu abwegig. Solche Geldzuflüsse müssen bereits jetzt nach
dem Parteiengesetz als Einnahmen aus Veranstaltungen
angegeben werden, allerdings nicht gesondert und nicht
unter dem Stichwort Sponsoring.
({7})
Um es noch einmal zu sagen: Der Leistungsaustausch
beim Sponsoring ist der entscheidende Unterschied zur
Spende, für die es keine Gegenleistung gibt. So eindeutig Parteispenden zulässig und erwünscht sind, so wenig
ist Sponsoring in dem genannten Sinne unzulässig oder
anrüchig.
({8})
In beiden Fällen, Herr Poß, geht es um eine wünschenswerte Unterstützung einer Partei, wobei im Falle des
Sponsorings dem Unterstützenden noch die Möglichkeit
zur Werbung und zur Öffentlichkeitsarbeit gegeben
wird.
({9})
- Auch das kann er. Wenn Sie betriebswirtschaftliche
Kenntnisse hätten, wüssten Sie, warum. - Um es klar zu
sagen: Sponsoring ist eine zulässige Form der Finanzierung politischer Veranstaltungen, wie zum Beispiel bei
Parteitagen oder Kongressen, bei denen es in der Regel
um die Vermietung von Standflächen mit der Gelegenheit zum politischen Meinungsaustausch geht. Das ist
gängige Praxis bei allen Parteien. Wenn trotz der Rechtmäßigkeit des Sponsorings der Eindruck entsteht, dass
Sponsoringmaßnahmen in einer rechtlichen Grauzone
liegen, so könnte es förderlich sein, Sponsoring klarer im
Parteiengesetz zu verankern, um es noch transparenter
zu machen.
Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben
kein Problem mit der Transparenz.
({10})
Transparenz ist bei politischen Entscheidungen unverzichtbar. Aber dass Sie damit große Probleme haben, hat
gerade das Verwaltungsgericht in Berlin im Januar festgestellt. Ausgerechnet die Linke hat gegen das Transparenzgebot des Parteiengesetzes verstoßen, indem sie eine
Spende in Höhe von 146 000 Euro im Landtagswahlkampf Rheinland-Pfalz in ihrem Rechenschaftsbericht
nicht angegeben hat.
({11})
In dieser Aktuellen Stunde wollten Sie die Glaubwürdigkeit der Politik durch Spenden und Sponsoring infrage stellen. Das Beispiel, das ich gerade genannt habe,
zeigt aber, dass Sie die Einzigen sind, die mit der Glaubwürdigkeit ein Problem haben und selbst nicht glaubwürdig sind.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion der SPD hat die Kollegin Gabriele
Fograscher das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Schon seit einigen Wochen steht die Finanzierung
von Parteien im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht es
um ganz unterschiedliche Sachverhalte.
Der eine Sachverhalt war die fragwürdige Millionenspende des Mövenpick-Besitzers an FDP und CSU, die
in zeitlicher Nähe zu der Entscheidung stand, den Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen zu senken. Darüber haben wir bereits diskutiert. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet, mit denen mehr Transparenz
ermöglicht würde, zum Beispiel die Begrenzung der
Höhe von Parteispenden, die unverzügliche Veröffentlichung großer Spenden durch den Bundestagspräsidenten
und das Verbot von Verbandsspenden. Leider lehnen Sie
diese Vorschläge ab und verweisen auf das geltende Parteiengesetz. Dass diese Spenden ein Geschmäckle haben, sehen Sie bis heute nicht ein.
Heute geht es aber um einen anderen Sachverhalt,
nämlich um das sogenannte Sponsoring. Dass sich Unternehmen auf Parteitagen oder Parteiveranstaltungen
gegen eine Standmiete präsentieren oder Sachspenden
leisten, ist ein öffentlicher und transparenter Vorgang.
Wenn Einnahmen erzielt werden, werden diese entsprechend im Rechenschaftsbericht der Parteien als Einnahmen aus Veranstaltungen ausgewiesen und selbstverständlich auch versteuert. Bei der SPD machen diese
Einnahmen unter 1 Prozent der Gesamteinnahmen aus.
({0})
Selbstverständlich und nicht anrüchig ist es, wenn die
Organisatoren oder Verantwortlichen einen Rundgang
machen und sich bei den Sponsoren für ihr Engagement
bedanken.
({1})
Anders aber verhält es sich, wenn der Vertrag über einen Werbestand auf einer Parteiveranstaltung mit einem
Gesprächstermin mit dem Ministerpräsidenten oder mit
anderen Amtsträgern verknüpft wird
({2})
und dafür auch noch zusätzlich Geld verlangt wird. Ein
solcher Vertrag ist eben kein Sponsoring mehr. Die öffentlich gewordenen Vorgänge um die Ministerpräsidenten Rüttgers und Tillich sind kein Sponsoring mehr. Gelder für Gesprächstermine sind Zweckspenden, die schon
heute im Parteiengesetz verboten sind.
Ich will aus dem Gesetz zitieren. In § 25 Abs. 2 des
Parteiengesetzes heißt es:
Von der Befugnis der Parteien, Spenden anzunehmen, ausgeschlossen sind:
Und dort steht unter Nr. 7:
Spenden, die der Partei erkennbar in Erwartung
oder als Gegenleistung eines bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Vorteils gewährt werden;
({3})
Daneben ist es Amtsträgern sowieso verboten, Geld für
Gespräche zu verlangen oder anzunehmen. Eine solche
Praxis ist von vornherein sittenwidrig und hat mit Sponsoring nichts zu tun.
({4})
Dass das alles nicht in Ordnung ist, sagt auch Rüttgers
und feuert seinen Generalsekretär, will aber als Parteivorsitzender nichts von der Rent-a-Rüttgers-Praxis gewusst haben.
({5})
Entweder hat Rüttgers diese besonderen vertraglichen
Regelungen gebilligt und die bezahlten Termine absolviert, oder er hat keinen Überblick darüber, was in seiner
Partei geschieht, um die Finanzen aufzubessern. Beides
ist nicht akzeptabel.
({6})
Nun fordert also der Bundestagspräsident, der bekanntlich CDU-Mitglied ist und aus NRW stammt, Änderungen im Parteiengesetz, da es sich - das haben Sie
gerade dargestellt - nach Meinung der CDU um einen
ungeregelten Bereich handelt. Nein, es ist nichts ungeregelt. Die Handlungsweise der CDU ist bereits verboten.
({7})
Weil es sich bei diesen Sachverhalten um verbotene
Zweckspenden handelt, fordern wir den Bundestagspräsidenten auf, Strafzahlungen gegen die CDU zu verhängen,
({8})
und zwar unverzüglich und nicht erst nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob
es sich nicht um Vorteilsnahme handelt.
({9})
Wählerinnen und Wähler haben das Recht, vor der Wahl
zu erfahren, wie diese Praxis zu bewerten ist.
Was sollen wir Ihrer Meinung nach eigentlich ins Parteiengesetz schreiben? Vielleicht: Gespräche mit Ministerpräsidenten sind manchmal umsonst, aber auf jeden
Fall kostenlos? Das ist doch absurd. Immer wenn Sie
bei unsauberen Praktiken erwischt werden, rufen Sie
lautstark nach Gesetzesänderungen, statt den Rechtsbruch zuzugeben und die Praxis abzustellen.
({10})
Glaubwürdig und verantwortungsvoll ist es, wenn Sie
sich an die Gesetze, die Sie ja selbst mit beschlossen haben, auch halten. In einer Demokratie muss jeder Zugang zu Amts- und Mandatsträgern haben können. Ein
solches Gespräch darf nicht denjenigen vorbehalten sein,
die dafür bezahlen können.
Parteien haben nach Art. 21 Grundgesetz eine besondere Stellung im Staat. Daraus ergibt sich auch eine besondere Verantwortung, und dieser, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, werden Sie nicht
gerecht.
Danke schön.
({11})
Marco Buschmann ist der nächste Redner für die
Fraktion der FDP.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute über die Finanzierung der politischen Parteien.
({0})
Das Thema begleitet die politische Öffentlichkeit schon
seit Jahrzehnten, und die Ursache dieser permanenten
Diskussionen liegt im Wesen der Parteien.
({1})
Sie sind Zwitter des Staatslebens, und das macht den
Umgang mit ihnen bisweilen komplex. Die Parteien stehen zwischen den beiden Sphären, die das liberale
Staatsverständnis prägen, nämlich zwischen Staat und
Gesellschaft. Als Transmissionsriemen transportieren sie
den gesellschaftlichen Diskurs in die Sphäre des Staates
hinein.
({2})
Das Wesen der Parteien als Mittler zwischen Staat
und Gesellschaft gebietet es, dass sie auf keinen Fall
vollständig staatlich finanziert werden dürfen. Vielmehr
soll durch das Angewiesensein auf Mitgliedsbeiträge,
aber auch auf Zuwendungen wie Spenden die Anbindung an die Sphäre der Gesellschaft durch die Finanzverfassung der Parteien stipuliert werden. Das heißt ganz
konkret: Spenden einzuwerben ist nichts Ehrenrühriges.
Wer etwas anderes behauptet, steht nicht im Einklang
mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
({3})
Natürlich darf es nicht dazu kommen, dass durch Zuwendungen gesellschaftliche Finanzkraft in staatspolitische Macht umgewandelt wird. Natürlich darf niemand
den Eindruck erwecken, dass man Repräsentanten unseres Staates oder eines Bundesstaates kaufen oder mieten
könnte.
({4})
Das ist gar keine Frage. Aber um dieser Gefahr vorzubeugen, setzt das Grundgesetz auf finanzielle Transparenz. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz setzt klar auf
transparente Rechenschaft der politischen Parteien. Diesem Gebot kommt jedenfalls meine Partei stets und mit
großer Sorgfalt bei allen Sachverhalten, die immer wieder ins Feld geführt werden, nach.
({5})
Was das verfassungsrechtliche Gebot der finanziellen
Transparenz angeht, sind die Oppositionsfraktionen dieses Hauses bestimmt nicht dazu berufen, irgendjemandem Nachhilfe zu erteilen.
({6})
Ich frage die Kollegen von der SPD: Warum hat denn
der SPD-eigene Vorwärts-Verlag bis heute immer noch
nicht aufgeklärt, wie viel für die Vermarktung von Peer
Steinbrück kassiert wurde?
({7})
Wie viel ist denn geflossen, als auf der Höhe der Finanzkrise über milliardenschwere Programme entschieden
worden ist? Warum hat denn Ihr Parteivorsitzender
Sigmar Gabriel die Zahlungen des VW-Konzerns an die
CoNeS GmbH verantwortet? Warum sollte dieses Geld
dahin fließen? Es handelt sich um eine Gesellschaft ohne
Anschrift im Telefonbuch oder im Internet. Es ging doch
nur darum, den gesellschaftsrechtlichen Schleier einer
GmbH über den Geldfluss zu legen, sodass die Spur
nicht direkt zu ihm führt.
({8})
Die geringste Glaubwürdigkeit, was Transparenz angeht, besitzen nun wahrlich die Linken, also die Initiatoren dieser Aktuellen Stunde.
({9})
Eigentlich müsste man in dieser Debatte nur das Stichwort Operation Putnik nennen; mehr müsste man nicht
sagen. Es ist eigentlich zu unappetitlich für dieses Haus,
was Sie da zu verantworten haben. Aber weil dieser Vorgang noch nicht transparent genug ist,
({10})
erlaube ich mir, ein paar Worte darüber zu verlieren. Ihre
Partei, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat erwiesenermaßen dreistellige Millionenbeträge aus dem SEDAltvermögen auf Schwarzgeldkonten zu schaffen versucht.
({11})
Dazu wurden Altschulden der Moskauer Firma Putnik
mit falschen Belegen vorgetäuscht und Schwarzkonten
eingerichtet.
({12})
Nicht nur wegen dieser, sondern auch wegen vieler weiterer Transaktionen kam die unabhängige Untersuchungskommission des Deutschen Bundestages in ihrem
Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass Ihre Partei - Zitat - eine Strategie der Vermögensverschleierung verfolgt habe.
({13})
Weil Herr Maurer die strafrechtliche Verfolgung angesprochen hat, möchte ich ihn gerne auf Folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung dieser Vorgänge haben Gregor Gysi und
Lothar Bisky die Aussage verweigert, wahrscheinlich
aus der Sorge, sich selbst zu belasten.
({14})
So viel zur strafrechtlichen Aufklärung.
({15})
Wer so mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der finanziellen Transparenz umgeht, der besitzt keinerlei
Glaubwürdigkeit, um hier über irgendjemanden Ankläger oder Richter zu sein.
({16})
- Hören Sie gut zu! - Zur Glaubwürdigkeit gehört immer auch, sich an die eigene Nase zu fassen, und die ist
bei Ihnen länger als bei Pinocchio.
({17})
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Jetzt hat das Wort der Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da
haben Sie ja schön die Backen aufgeblasen, Herr
Buschmann.
({0})
Können Sie mir eigentlich sagen, wie sehr die FDP in
NRW noch an den Möllemann-Strafzahlungen zu tragen
hat?
({1})
Wer so austeilt, der sollte klarstellen, wie sehr die eigene
Landespartei unter dieser Bürde heute noch leidet, auch
unter der Bürde der mangelnden Glaubwürdigkeit in diesen Debatten.
({2})
Das politische Versagen damals bestand nicht einfach
nur darin, dass ein ganzer Landesvorstand zu falsch verbuchten Spenden geschwiegen hat, sondern es bestand
vor allen Dingen in der politischen Substanz dessen, was
Herr Möllemann mit diesen ergaunerten Mitteln im
Wahlkampf gegen den Zentralrat der Juden und gegen
Israel gemacht hat.
({3})
Volker Beck ({4})
Auch daran darf man in dieser Debatte noch einmal erinnern.
Die parlamentarische Demokratie in unserem Land ist
gegenwärtig in keiner guten Situation: Mövenpick-Spenden, Ministerpräsidenten-Flatrates bei Herrn Rüttgers,
Staatskanzlei-Sparabo bei Herrn Tillich. Bei den Bürgerinnen und Bürgern entsteht der Eindruck - ich will gar
nicht behaupten, dass es so ist; aber wir müssen uns mit
diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen -, dass
Politik in diesem Land käuflich ist,
({5})
dass man die entscheidenden Gesprächstermine bekommt, wenn man Geld auf den Tisch legt. Zumindest
Letzteres ist in der Tat Gegenstand von Vereinbarungen
der CDU Sachsen und der CDU Nordrhein-Westfalen
mit Sponsoren gewesen.
({6})
Um Schaden von uns allen abzuwenden, von Ihrer
Partei wie von der Legitimität aller politischen Parteien
hier im Deutschen Bundestag, ist es dringend erforderlich, dass diese Vorgänge unverzüglich von der Bundestagsverwaltung aufgeklärt werden und die entsprechenden Sanktionen ergehen.
({7})
- Ach, Sie bestreiten, dass es so war?
({8})
Warum ist denn Herr Wüst zurückgetreten? Weil nichts
war? Bei Ihnen tritt man offensichtlich zurück, obwohl
nichts vorgefallen ist.
({9})
Es ist ja so gewesen: Sie haben Sponsorenverträge gemacht, die mit der Möglichkeit eines Gesprächstermins
beim Ministerpräsidenten verbunden waren.
({10})
Wer diese Möglichkeit wahrnehmen wollte, musste etwas mehr zahlen,
({11})
als wenn er nur einen Stand auf der Messe gebucht hätte.
Das ist eindeutig kein Gegenstand von Sponsoring. Es
handelt sich auch nicht um eine Werbemaßnahme,
({12})
sondern es handelt sich um die Ermöglichung von politischem Einfluss auf einen Amtsträger, in diesem Fall den
Ministerpräsidenten.
Nach dem Parteiengesetz - das hat die Kollegin vorhin zu Recht zitiert; das ist da klipp und klar geregelt handelt es sich um eine Spende, die der Partei erkennbar
in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten,
in dem Fall politischen, Vorteils vermutlich gewährt
worden ist.
({13})
Deshalb ist es eine unzulässige Spende. Sie ist nach dem
Parteiengesetz sanktioniert.
({14})
Ich erwarte vom Bundestagspräsidenten, auch wenn
er Ihrer Partei angehört, auch wenn er aus NordrheinWestfalen kommt,
({15})
dass die entsprechenden Verfahren bis spätestens Mitte
April abgeschlossen sind. Die Wählerinnen und Wähler
haben einen Anspruch darauf, vor der Landtagswahl in
Nordrhein-Westfalen zu erfahren, wie diese Dinge nach
dem Parteiengesetz zu bewerten sind.
({16})
Ich bin sicher, dass der Bundestagspräsident - so kenne
ich ihn - so unabhängig sein wird und dafür sorgen wird,
dass die Verwaltung zügig arbeitet und das zu einem Abschluss bringt.
Meine Damen und Herren, wir haben hier schon vor
einigen Wochen über einen Antrag unserer Fraktion zur
Reform des Parteiengesetzes diskutiert, damals aus Anlass der Mövenpick-Spenden an die FDP und der damit
zusammenhängenden Mehrwertsteuersenkung. Ich denke,
wir sollten jetzt schleunigst im Innenausschuss eine Anhörung machen und dabei auch über die Probleme des
Sponsorings reden.
Es gibt nämlich eine Unwucht im Parteiengesetz: Wir
haben zwar auf der einen Seite relativ klar reguliert, was
an Spenden möglich ist. Wir meinen, man sollte die
Spendenhöhe auf 100 000 Euro pro Spender und pro
Jahr begrenzen. Das ist eine klare Grenze. Das führt niemanden, auch nicht die Schwächsten von uns hier im
Hause, in Versuchung, durch Spenden politisch beeinflusst zu werden. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass
auf der anderen Seite über das Sponsoring all das umgangen werden kann, was wir für Spenden minutiös im
Parteiengesetz geregelt haben.
({17})
Wir brauchen beim Sponsoring die gleiche Transparenz.
Wir müssen auch darüber reden, ob man es begrenzen
soll, und über die Frage diskutieren, ob es weiterhin
Volker Beck ({18})
steuerlich in vollem Umfang absetzbar sein soll. Wenn
es dabei wie heute um Beträge unbegrenzter Größenordnung gehen kann, dann läuft die Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit, die es im Spendenbereich gibt,
faktisch ins Leere; denn Unternehmen und andere wirtschaftliche Subjekte können diese Begrenzung durch
entsprechend hohes Sponsoring, das faktisch steuerlich
begünstigt ist, kompensieren. Das ist eine Unwucht. Das
ist vom Gesetzgeber so auch nicht gewollt.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Deshalb lassen Sie uns unverzüglich an dieses Thema
herangehen. Ich glaube, es trägt erheblich zur Legitimität der Parteien und der parlamentarischen Demokratie
bei, wenn wir dafür sorgen, dass hier absolute Transparenz herrscht. Transparenz ist immer noch die beste Korruptionsprophylaxe und die beste Prophylaxe vor Beschädigungen der Legitimität der parlamentarischen
Demokratie.
({0})
Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Beck, das war weniger ein Beitrag zur parlamentarischen Demokratie als mehr ein Beitrag zum
nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf. Deswegen möchte ich wieder zur Sache zurückkommen.
({0})
Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit, so heißt es in Art. 21 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Ich
glaube, wir sind mit dieser Parteiendemokratie in den
über 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland gut gefahren,
({1})
auch wenn die Feinde der Demokratie, etwa die extremistische Linke, keine Gelegenheit auslassen, dieses demokratische System verächtlich zu machen.
({2})
Jedenfalls läuft es dort, wo es diesen Wettbewerb der
Parteien nicht gibt, nicht besser.
Klar ist auch: Parteien brauchen, um ihre Aufgaben
zu erfüllen, finanzielle Mittel. Dafür gibt es Staatszuschüsse, aber aus gutem Grund nicht nur staatliches
Geld, weil wir keine Staatsparteien wollen. Parteien finanzieren sich auch über Mitgliedsbeiträge, Spenden
und sonstige Einnahmen wie etwa über das Sponsoring.
Als ich im Jahr 2005 Generalsekretär der badenwürttembergischen CDU geworden bin, habe ich Wert
darauf gelegt, dass wir die Praxis des Sponsorings auch
mit der Bundestagsverwaltung, die sozusagen kraft Amtes für die Parteienfinanzierung zuständig ist, abklären
lassen, und habe im November 2005 die Auskunft bekommen, dass Sponsoring nach umfangreicher Abstimmung mit der Bundestagsverwaltung abgesichert, also
rechtlich nicht zu beanstanden ist. Das ist zunächst einmal der Sachverhalt.
Nun gab es in den letzten Tagen eine aufgeregte Debatte. Frau Künast von den Grünen redet von einem Angriff auf die Demokratie.
({3})
Aus den Reihen der SPD ist zu hören: Es stinkt zum
Himmel. Politische Korruption! Politische Prostitution!
({4})
Herr Gabriel möchte die Immunität von Kollegen aufheben und die Staatsanwaltschaften einschalten. Keine verbale Kraftmeierei ist also zu schade, um in NordrheinWestfalen beim Wahlkampf ein paar läppische Punkte zu
machen.
({5})
- Verehrte Kollegen von den Grünen, sehr gerne sage ich
Ihnen etwas zur Sache. Zunächst möchte ich Ihnen zurufen: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.
Das kann schiefgehen.
({6})
Zum Sponsoring beim Bündnis 90/Die Grünen.
Daniel Holefleisch, der Vorstandsreferent der Grünen für
Unternehmenskontakte/Fundraising, schreibt auf seiner
Kontaktseite im Internet - nachzulesen beim Business
Network XING -:
Ich suche
Sponsoren für Parteitage und andere
Parteiveranstaltungen.
({7})
So weit, so gut. Und weiter:
Ich biete direkten Zugang zu Gesprächspartnern in
Parteispitze und Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
({8})
Thomas Strobl ({9})
Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, heißt
es in der Bergpredigt, Kollege Winkler.
({10})
Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, auch Ihnen wäre zu empfehlen, sich etwas sachlicher und ruhiger zu verhalten. Die
SPD in Sachsen schreibt für jedermann nachlesbar:
Unser Angebot an Sie: Als Sponsor der SPD Sachsen möchten wir Ihnen die Gelegenheit geben, in
direkter und gezielter Weise mit Ihrer Ziel- und
Kundengruppe in Kontakt zu treten. Machen Sie
auf sich aufmerksam! Leistungen und Sponsormöglichkeiten im Überblick:
Und dann heißt es unter einem der vielen Punkte:
Vermittlung exklusiver Gesprächspartner auf Veranstaltungen
({11})
Die Beteiligung für Sie als Sponsor richten wir
ganz individuell nach Ihren Wünschen aus.
({12})
Gustav Heinemann war Mitglied der SPD. Er hat gesagt: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, vergisst
meist, dass drei Finger derselben Hand auf ihn selber
zeigen.
({13})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ob und
welche Regeln wir brauchen, lassen Sie uns das sine ira
et studio miteinander besprechen. Aber lassen Sie uns
keinen billigen Jakob für den Landtagswahlkampf in
Nordrhein-Westfalen daraus machen,
({14})
sondern folgen wir dem Rat des Bundestagspräsidenten,
mit zeitlichem Abstand ganz nüchtern miteinander zu
schauen, ob wir gesetzgeberischen Änderungsbedarf haben und welche gegebenenfalls neuen Regeln wir brauchen.
Danke fürs Zuhören.
({15})
Der Kollege Michael Groschek spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sie hätten es wohl gern, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, dass wir mit Ihnen durch den
Nebel stapfen. Wir lassen aber weder einen Eintopf kochen, noch gestatten wir den Blockparteierben, mit dem
Finger auf die Linke zu zeigen und von den eigenen Versäumnissen abzulenken.
({0})
Von Ihnen war kein Wort zur Sache zu hören.
Worum geht es? Es geht darum, dass die Menschen
draußen im Lande den Eindruck haben, es sei politischer
Winterschlussverkauf in Dresden, Düsseldorf und Berlin, und zwar durch Sie verursacht.
({1})
Zunächst der Ratenkauf bei der Mövenpickerei und dann
der Mietkauf von Politikern und Staatsämtern bei der
CDU in Nordrhein-Westfalen. Immerhin ist der Landesvorsitzende der Stellvertreter von Frau Merkel. Dazu ist
von Ihnen kein Wort zu hören.
({2})
Ich finde, man muss deutlich machen, welches System hinter all dem steckt. Die geistig-moralische Haltung bei dem Verkauf von Politik und Ämtern ist, dass
der Staat als Beute begriffen wird. Sie wollen den Staat
zur Beute machen.
({3})
Sie verwechseln den Besitz politischer Macht auf Zeit,
legitimiert durch Wahlen, mit dem Recht auf Missbrauch
politischer Macht. Das ist der große Unterschied.
({4})
Ihre Denke ist: Willkommen im Klub.
({5})
Man kennt sich, man gönnt sich etwas; uns kann keiner,
wir können alles. Das ist der Geist, durch den aus bloßer
Klientelpolitik knallharte Günstlingswirtschaft wird. Darüber wollen wir jetzt im Einzelnen sprechen.
({6})
Willkommen im Klub - Platin-Club, so nannte das
die CDU in Nordhrein-Westfalen. Damit war systematische Abzocke gemeint. Pakete wurden geschnürt. Das
Dabeisein bei Veranstaltungen gab es schon für
16 000 Euro.
({7})
Oder man konnte de luxe den Platin-Club buchen.
Dort gab es für 4 000 Euro den Oppositionsführer und
für 6 000 Euro den Ministerpräsidenten, das Schoßsitzen
bei Dr. Rüttgers und die erste Reihe bei Fernsehauftritten. Diese Haltung verurteilen wir, weil das nach Politikerkauf riecht. Das sagen wir ganz deutlich.
({8})
Sie müssten nicht das Grundgesetz zitieren - das ist
keine Rezitierstunde -,
({9})
sondern Sie müssten gemeinsam mit uns anerkennen,
dass immer gewiss sein muss, dass der Wert der Politik
in einer Demokratie keinen Preis hat. Der Wert von Politik darf keinen Preis haben.
({10})
Das ist der Punkt. Deshalb haben Sie die politische Kultur ins Abseits geschoben und durch politische Dekadenz ersetzt. In diesem Zusammenhang ist Dekadenz der
richtige Begriff.
({11})
- Herr Strobl, ich habe das Gefühl, dass Sie sonst nicht
zuhören.
Sie haben nämlich einen Baden-Württemberger vergessen, dessen Person höchstspannend ist. Er spielt immer wieder - nach dem Motto Willkommen im Klub eine unrühmliche juristische Rolle. Es ist der hochgeschätzte Professor Lenz, einer der Ihren. Den kennen wir
schon aus der Kohlschen Spendensumpfpraxis.
({12})
Schon damals hat er versucht, den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mundtot zu machen. Er hat sich
bei jeder gerichtlichen Auseinandersetzung eine Niederlage abgeholt. Heute ist ausgerechnet dieser Professor
Lenz der angebliche Kronzeuge und Gutachter dafür,
dass die Vorgänge in der CDU in Nordrhein-Westfalen
nicht zu beanstanden sind. Ein Freibrief dieses Mannes
ist das beste Vorverurteilungsinstrument, das man sich
nur vorstellen kann. So sieht es doch aus.
({13})
Zu einem anderen Thema: Aus den Opfern Täter machen, mit diesem System versuchen Sie, durchzukommen. Das war in Nordrhein-Westfalen wieder zu besichtigen. Nach der Videoüberwachungsaffäre wurde nicht
etwa untersucht, wer in der Arbeitsteilung Staatskanzlei/
Parteizentrale CDU dafür verantwortlich ist,
({14})
sondern das Landeskriminalamt wurde dafür missbraucht, die Gewissensnöte des Informanten zu kriminalisieren. Das war Ihr Ansatz. Auch aktuell geht es nicht
darum, dass Sie per Selbstanzeige bekennen, beim Mietkauf von Dr. Rüttgers gefehlt zu haben. Im Gegenteil:
Sie erstatten Anzeige gegen die Aufklärer und versuchen, die Staatsanwaltschaft zu missbrauchen.
({15})
- Herr Strobl, Sie werden mich nicht mundtot machen. Die Perspektive ist, dass Sie einen Überschwappeffekt
organisieren wollen, nach dem Motto: Wenn die Staatsanwaltschaft ermittelt, muss etwas schiefgelaufen sein.
({16})
Diejenigen, die sich dann noch trauen, einen Skandal
auch einen Skandal zu nennen, sollen kriminalisiert und
weichgekocht werden. Auch das werden wir nicht mit
uns machen lassen.
({17})
Eine letzte Anmerkung: Dr. Rüttgers verfährt als Chef
des Rüttgers-Klubs nach dem Prinzip Er duckt sich, er
drückt sich, er opfert die Lämmer und schweigt. Das ist
eines Ministerpräsidenten, eines Landes- und stellvertretenden Bundesvorsitzenden unwürdig.
({18})
Wir erwarten, dass er sich stellt und aufklärt und dass er
nicht andere vorschiebt, die die Suppe auslöffeln sollen.
Das ist der Maßstab für einen Ministerpräsidenten.
Auch Bundestagspräsident Lammert ist in besonderer
Weise gefordert. Er hat mit Blick auf die NRW-CDUPraxis gesagt: Selten dämlich. Das ist richtig, aber das
reicht nicht als Beurteilung. Warum? Gerade er, der oft
Gast und Teilnehmer dieser dubiosen Verkaufsveranstaltungen war, müsste das größte Interesse an schnellstmöglicher Aufklärung haben. Deshalb appellieren wir an
die Politiker- und Parlamentarierehre von Norbert
Lammert: Sorgen Sie dafür, dass schnellstmöglich aufgeklärt wird. Die Dunkelmänner in Düsseldorf müssen
enttarnt werden. Das ist das Gebot der Stunde.
({19})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
welch gesteigertes Interesse Sie an einer sachlichen Argumentation haben, zeigt schon die Auswahl Ihrer Redner. Sie stellen den Generalsekretär der im Wahlkampf
befindlichen SPD NRW hier auf, der mit großer Lautstärke fleißig auf die an den Vorgängen der vergangenen
Wochen Beteiligten einhackt, ohne eine einzige sachliche Äußerung zu dem Thema zu machen, die uns in der
Sache irgendwie weiterbringen könnte.
({0})
Uns ist eine sachliche Diskussion wichtig - manch
heuchlerisches Wort ist hier schon gefallen -, die dazu
führen könnte, dass wir die Transparenz als oberstes Gebot der Parteienfinanzierung weiter stärken. Eine sachliche Diskussion ist notwendig und nicht solch billige und
kleine Münze im Vorfeld von Wahlen, die uns am Ende
alle in unserer demokratischen Legitimation beschädigen wird.
({1})
Warum warten Sie denn nicht ab, was Herr Lammert
zu dem Vorgang sagt? Er hat eine Prüfung angekündigt.
Frau Merkel hat sich ebenfalls geäußert. Am Ende dieser
Prüfung wird ein ganz sachliches Ergebnis stehen. Dieses Vertrauen habe ich. Dann können wir uns darüber
unterhalten, was wir damit machen.
({2})
Wir als FDP würden gerne mit Ihnen ins Gespräch
kommen, aber, wie gesagt, in einer anderen Tonlage.
Eine so aufgeheizte Atmosphäre erschwert das. Was Sie
machen wollen, ist, pure Symbolpolitik an die Stelle von
sachlichen Lösungen zu setzen.
({3})
Die Parteienfinanzierung in Deutschland ist im internationalen Vergleich rigide. Wir wollen - das hat Herr
Buschmann richtigerweise gesagt - keine Staatsparteien,
sondern die klassischen, gesellschaftlich getragenen Parteien als Mittler von politischer Willensbildung aus der
Mitte der Gesellschaft.
({4})
Nur durch solche Parteien - das möchte ich Ihnen noch
einmal sagen - sind breite Bevölkerungskreise hier vertreten. Sie schaffen es, die Verbindung zwischen Staat
und Gesellschaft herzustellen.
Wenn wir uns nun fragen, wie wir mit Sponsoring
umgehen wollen, dann müssen wir auch einmal klarstellen: Das steht heute schon in jedem Rechenschaftsbericht einer Partei. Tun Sie bitte nicht so, als ob wir die
Dinge nicht aufführen würden. Das macht jeder: die
Grünen, die SPD, die Linken, die FDP und die CDU genauso.
({5})
Wie gesagt: Es ist völlig richtig, dass man Staatsamt
und Parteienfinanzierung nicht vermischen darf. Wenn
wir schon genauer fragen, dann würden wir hier gerne
auch noch einige andere Fragen stellen wollen, etwa, wie
es mit den Einnahmen aus den Medienimperien der SPD
aussieht.
({6})
Was kosten denn Anzeigen in der WAZ? Wer schaltet
sie? Welche politischen Unterstützer werden so indirekt,
anstelle von Mieten und Ständen auf Parteitagen, an der
Parteienfinanzierung beteiligt? Es ist doch so: Sie erzielen aus den Unternehmensbeteiligungen mehr Einnahmen als die FDP an Spenden.
({7})
Ich habe Herrn Hunzinger und den damaligen Schatzmeister der Grünen gefragt, warum Joschka Fischer damals nicht 20 000 Mark annahm. Herr Hunzinger sagte:
19 999 Mark sollten es sein, damit es unterhalb der
Grenze ist. Der Schatzmeister der Grünen hat das indirekt bestätigt. Hören Sie also auf, im Glashaus sitzend
mit Steinen auf andere zu werfen.
({8})
- Seien Sie beruhigt, Sie waren in dieser Frage gar nicht
angesprochen; bei Ihnen war ich vorhin.
Es wäre aber auch interessant zu wissen, wie etwa die
Abwrackprämie mit Parteispenden von Automobilkonzernen an Sie zusammenhängt. Diese Punkte werfen Sie
uns immer vor, stehen aber bei Ihnen genauso im Raum.
Wenn der Pulverdampf etwas verraucht ist, sollten wir
zur sachlichen Diskussion zurückkommen.
({9})
Am Ende meiner Rede noch etwas zu den Linken.
Herr Buschmann hat zum SED-Parteivermögen schon
das Nötige gesagt.
({10})
Sie legen solch eine Intransparenz an den Tag, dass Sie
sich ja noch nicht einmal trauen, ein Programm aufzuschreiben.
({11})
Wer soll für diesen Irrsinn spenden, von dem keiner etwas Genaues weiß? Alle denken, dass die Maske fällt,
wenn man ein Programm aufschreibt.
({12})
Ein Letztes. Wer, wie am Freitag letzter Woche, den
kalkulierten Rechtsbruch hier im Parlament plant - Frau
Enkelmann, Sie haben gesagt: Ja, wir wissen, das dürfen
wir nicht, aber manchmal muss man eben zu anderen
Mitteln greifen -,
({13})
der sollte etwas stiller sein, wenn es um Fragen von Moral im Umgang von Parteien und Fraktionen untereinander geht.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich vor einem halben Jahr in den Bundestag gewählt wurde, hätte ich nicht gedacht, dass ich hier so
häufig reden muss,
({0})
und das nur, weil ältere Herren zu blöd sind, mit Geld
umzugehen.
({1})
Herr Wellenreuther, man sollte vielleicht etwas mehr
lesen als Überschriften. Ich verstehe ja, dass Sie ein Problem mit der Gründung der neuen Linken haben.
({2})
Das, was Sie angesprochen haben, war eine Unterstützung des Wahlkampfes der WASG, weil die Linke nicht
angetreten ist. Dies war im Rechenschaftsbericht der
WASG nicht aufgeschrieben worden. Machen Sie daraus
keinen Skandal.
({3})
Nun will ich aber nicht - ich bin ja ein freundlicher
Mensch - mit gleicher Münze zurückzahlen. Deswegen
will ich der in Verruf geratenen CDU jetzt nicht voller
Misstrauen unterstellen, sie setze das Sponsoring zur
Umgehung des Parteiengesetzes absichtsvoll ein. Niemals. Es wäre ja absurd, anzunehmen, dass ausgerechnet
Sie so handeln würden wie Kohl, Koch und Kanther.
({4})
Das würde im Übrigen auch die FDP nicht zulassen, die
mit Sicherheit gelernt hat aus Lambsdorff, Möllemann
und Rexrodt.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es hat
ja schon postpubertäre Züge, wie Sie hier auf die Linke
reagieren.
({6})
Ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt - das wüssten Sie,
würden Sie zuhören -, was mit dem SED-Vermögen geschehen ist. Ich nenne zwei Daten: 31. August 1991,
sämtliche Konten gesperrt; 18. Juli 1995, Vergleich mit
der Kommission zur Überprüfung des Vermögens der
Parteien.
({7})
Was unser Programm angeht, da zweifle ich an Ihren
Lesefähigkeiten; denn wir haben eines. Im Übrigen hat
ziviler Ungehorsam diesem Parlament noch nie geschadet.
({8})
Nun kommen wir noch einmal zum Sponsoring. Dieses ist im Parteiengesetz mit seinen Publikationspflichten tatsächlich nicht vollständig geregelt. Dennoch sind
die Leistungen des Sponsors steuerlich absetzbar und für
ihn aufgrund der Werbewirksamkeit durchaus attraktiv.
Sponsoring ist, so hat Professor Martin Morlok formuliert, eine praktisch bedeutsame Form der Parteienfinanzierung. Es ist aus Sicht der CDU eine durchaus
zauberhafte Variante, ihre politisch fragwürdigen Machenschaften zu betreiben, ohne die in Verruf geratenen
Parteispenden zu nutzen. Im Übrigen ist es mir völlig
wurscht, ob die Ministerpräsidenten von NRW und Sachsen, Rüttgers und Tillich, käuflich und daher als Landesväter nicht tragbar sind oder ob sie nicht wissen, was ihre
Partei hinter ihrem Rücken veranstaltet. Am Ende gilt nur
eines - der Bundestagspräsident hat recht -: Es ist selten
dämlich.
({9})
Diese Art der Parteienfinanzierung ist nur ein Teil des
Puzzles aus Geld, Macht und Politik. Abgeordnetenbestechung und Lobbyismus, Sponsoringleistungen an die
Bundestagsverwaltung, die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großer Unternehmen und Verbände in die Ministerien - das alles macht das Puzzle
komplett.
Es ist genau dieses Puzzle, das zu Parteienverdrossenheit, Politikverdrossenheit und letztendlich zu Demokratieverdrossenheit führt.
({10})
Die Menschen haben nämlich das Gefühl: Nicht die Abgabe der Stimme bei der Wahl ist entscheidend. Vielmehr ist es so: Wer Geld hat, kommt an die Mächtigen in
Politik und Staat heran und kauft sich die entsprechenden politischen Entscheidungen einfach.
({11})
Der Gedanke der Repräsentation in unserem politischen
System wird damit ad absurdum geführt. Aber Sie stellen sich hierhin und beklagen ernsthaft, dass die Leute
nicht mehr zur Wahl gehen. Meinen Sie denn im Ernst,
die lassen sich von Ihnen an der Nase herumführen? Für
wie dumm halten Sie die Menschen eigentlich?
({12})
Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode einen
Gesetzentwurf eingebracht, mit dem der Tatbestand der
Abgeordnetenbestechung an das internationale Niveau
angeglichen werden sollte.
({13})
Abgelehnt! Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode
einen Antrag eingebracht, um ein Lobbyistenregister
einzuführen.
({14})
Abgelehnt! Wenn Sie das, was Sie sagen, ernst meinen,
dann stimmen Sie diesem Gesetzentwurf bzw. Antrag,
die wir erneut einbringen werden, einfach zu.
({15})
Meine Damen und Herren, Repräsentation bedeutet
nicht nur Stellvertretung, sondern auch das Sichtbarmachen von Unsichtbarem, also Transparenz. Wir brauchen
ein System der öffentlichen Finanzierung mit vollständiger Transparenz. Wir brauchen eine Kontrollinstanz, die
durch gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten gestützt wird.
Transparenz verlangt auch eine systematische Berichterstattung und Rechnungsprüfung. Kontrolle erfordert eine
starke Instanz, ausgestattet mit ausreichenden gesetzlichen Vollmachten, um zu überwachen und gegebenenfalls auch einen Staatsanwalt einschalten zu können.
Wenn wir das alles machen, dann sind wir einen Schritt
weiter. Alles, was dahinter zurückbleibt, führt weiterhin
zu Politikverdrossenheit und damit auch zu einer geringeren Wahlbeteiligung.
({16})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer, den ich
bitte, erst dann ans Podium zu kommen, wenn er aufgerufen ist. - Bitte schön, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte nur etwas Zeit
sparen.
({0})
Ich glaube, es ist durchaus sachgerecht, darauf zu achten, dass unsere Debatten, auch wenn sie dadurch qualitativ teilweise vielleicht nicht sehr hochwertig sind, zügig durchgeführt werden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
glaube, es wäre zunächst einmal ratsam, in dieser Angelegenheit die politische Dimension von der rechtlichen
Dimension zu trennen. Was die politische Dimension anbelangt, möchte ich gar nicht verhehlen, dass die Schreiben der CDU-Landesgeschäftsstellen in NordrheinWestfalen und Sachsen, um die es geht, durchaus unglücklich formuliert sind.
({1})
Allerdings möchte ich auch deutlich zum Ausdruck
bringen, dass man sich gerade angesichts der heutigen
Debatte des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es Ihnen von den Oppositionsfraktionen nicht darum geht,
moralischen Grundsätzen in der Politik zum Durchbruch
zu verhelfen
({2})
oder die politische Kultur in Deutschland zu verbessern,
sondern dass es Ihnen in heuchlerischer und pharisäischer Art und Weise
({3})
um genau das Gegenteil geht.
({4})
Sie haben das Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die
politische Klasse in Deutschland insgesamt korrupt, bestechlich und käuflich ist.
({5})
Damit erweisen Sie der politischen Kultur in Deutschland einen Bärendienst.
({6})
Indem Sie vom Mieten eines Ministerpräsidenten und
von korrupten Politikern sprechen, versuchen Sie genau
Stephan Mayer ({7})
das Gegenteil dessen, was, wie ich glaube, das Ziel in
diesem Hause sein sollte. Wir sollten nämlich versuchen,
den Eindruck zu vermeiden, wir seien wirklich käuflich.
({8})
Das Gegenteil ist nämlich der Fall.
Die meisten Abgeordneten - ich kann dies zumindest
für die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion bestätigen nehmen sich tagein, tagaus in kleinteiliger und teilweise
mühevoller Arbeit der Sorgen und Nöten der Bevölkerung an. Sie nehmen an Veranstaltungen teil, ob hier in
Berlin oder in ihrem Wahlkreis,
({9})
hören sich die Nöte an,
({10})
seien es die Nöte der Bürgerinnen und Bürger, seien es
die Nöte der Wirtschaft,
({11})
und all das - um auch das zum Ausdruck zu bringen ohne Geld von den Bürgern zu nehmen.
({12})
Wir werden ordentlich bezahlt; über unsere Bezahlung
dürfen wir uns nicht beschweren. Diese kleinteilige, mühevolle und sehr redselige Arbeit vieler Politiker auf
Bundes- und Landesebene wird durch die pauschale Kritik, die Sie zum Ausdruck bringen, eindeutig diskreditiert.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, den CDULandesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen und Sachsen, dem Kollegen Rüttgers und dem Kollegen Tillich,
ist hoher Respekt zu zollen,
({14})
und zwar dafür, dass sie umgehend und unverzüglich gehandelt, die Angebote des Sponsorings sofort zurückgenommen und diese Vorgehensweise eingestellt haben.
({15})
Ich stelle auch in aller Deutlichkeit fest: Weder Ministerpräsident Rüttgers noch Ministerpräsident Tillich ist
käuflich.
({16})
Ebenso ist aus dieser Rücknahme der Sponsoringangebote kein wie auch immer geartetes Schuldeingeständnis
zu konstruieren. Es wäre, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch rundweg naiv, anzunehmen,
dass große politische Weichenstellungen, dass politische
Grundentscheidungen durch ein kurzes Gespräch mit
dem Ministerpräsidenten an einem Stand eines Parteitages oder am Rande einer Parteiveranstaltung beeinflusst
würden.
({17})
Ich möchte aber insbesondere noch auf die rechtliche
Dimension dieser Angelegenheit eingehen. Der Bundestagspräsident prüft jetzt, ob ein Verstoß gegen das Parteiengesetz vorliegt. Die dafür nötige Zeit sollte er sich
meines Erachtens auch nehmen. Ich weise auch, lieber
Herr Maurer, in aller Deutlichkeit darauf hin: Hier geht
Qualität ganz klar vor Eilbedürftigkeit.
({18})
Es ist vollkommen verfehlt, anzunehmen, es ginge hier
darum, die Zeit bis zur Nordrhein-Westfalen-Wahl am
9. Mai abzuwarten. Wir setzen hier auf Qualität, auf eine
sorgfältige und intensive Prüfung.
({19})
Am Ende dieser Prüfung werden wir mit Sicherheit auch
in diesem Haus darüber zu debattieren haben, ob es notwendig ist, das Parteiengesetz zu novellieren. Vor einem warne ich in aller Offenheit, nämlich vor falschem
Aktionismus in der Form, jetzt vorschnell etwa das Parteiengesetz novellieren zu wollen und die Regelungen
der Parteienfinanzierung, die sich aus meiner Sicht in
den letzten Jahren wirklich bewährt haben, über Bord
werfen und diese auf neue Beine stellen zu wollen.
Wir sind in den letzten 60 Jahren gut damit gefahren,
dass wir in Deutschland keine staatsfinanzierten Parteien
hatten, und ich möchte dies beileibe auch nicht. Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, das gab es ja leider in der DDR, dass alle Parteien
am Tropf des Staates hingen.
({20})
Stephan Mayer ({21})
Ich möchte nicht, dass die Parteien am Tropf des Staates
hängen. Es ist wichtig - auch das Bundesverfassungsgericht hat in vielen Entscheidungen darauf hingewiesen -,
dass es eine Staatsfreiheit der Parteien gibt, dass die Parteien, indem sie sich um Spenden und Unterstützung bemühen müssen, sich natürlich auch attraktiv gestalten
und das Band zwischen sich und der Bevölkerung erhalten müssen.
({22})
Der Erhalt dieses Bandes ist ganz entscheidend, und deswegen warne ich in aller Deutlichkeit davor, jetzt aufgrund dieses Sachverhalts, der bisher in keiner Weise als
irgendwie rechtswidrig deklariert wurde,
({23})
die Regelungen unserer Parteienfinanzierung komplett
über Bord werfen zu wollen.
({24})
Deswegen sollten wir die Überprüfung durch den Bundestagspräsidenten in aller Ruhe abwarten und dann,
wenn wieder Sachlichkeit und Nüchternheit eingekehrt
sind, die Angelegenheit bei Lichte betrachten,
({25})
wenn sich der gesamte Rauch verzogen hat.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({26})
Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn ich Sie
heute hier so von redseliger Arbeit und Transparenz
reden höre, dann kommen Sie mir so vor wie der Verein
Gib Gummi, der sich auf einmal für Tempo-30-Zonen
einsetzt, nur weil es den Vereinsvorsitzenden aus der
Kurve getragen hat.
({0})
Sie haben hier einen Haufen Nebelkerzen gezündet. Ich
sage einmal als Neuling hier im Deutschen Bundestag:
In diesen fünf Monaten habe ich wirklich vieles lernen
müssen: über Hotellobbyisten, über Mövenpick-Spenden,
({1})
über Geld, das manchmal eben doch gewaltig zum Himmel stinkt. Vieles davon hat sich mittlerweile auch in
den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt, so etwa der
Vorwurf der schamlosen Klientelpolitik. Viele Bürgerinnen und Bürger meinen seit den Mövenpick-Spenden
tatsächlich, dass Politik in diesem Land käuflich ist. Das
ist ein fataler Eindruck; er schadet unserer Demokratie.
Aber dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung.
({2})
Das, was wir seit den Mövenpick-Spenden erlebt haben, ist noch nicht genug gewesen. Wir haben außerdem
erlebt, dass sehr viel mehr zwischen Himmel und Erde
bzw. zwischen Ruhr und Elbe zum Himmel stinkt: Ministerpräsidenten werden durch ihre Parteiapparate zum
Geldanschaffen geschickt - Rent a Rüttgers, Politik am
Wühltisch -, und das alles interessanterweise auch noch
zu Ost-West-Regelsätzen: In Sachsen kostet ein
Schwätzchen mit dem Ministerpräsidenten 4 000 Euro,
während Sie im reicheren Nordrhein-Westfalen mindestens 6 000 Euro berappen müssen. Rüttgers und Tillich
sind begehrte Mietobjekte und nur im Nebenberuf Ministerpräsident, denken viele Menschen in diesem Land
inzwischen.
({3})
Das muss bei all den Nebelkerzen, die heute gezündet
wurden, deutlich als das benannt werden, was es ist: Das
ist politisch katastrophal, das ist moralisch verwerflich,
und das ist ein Verstoß gegen das Parteiengesetz. Es ist
deshalb schlicht und einfach illegal.
({4})
Eines hat Schwarz-Gelb in den ersten Monaten dieser
Bundesregierung geschafft: Das Thema Parteienfinanzierung hat wieder Hochkonjunktur wie zum Ende der
Kohl-Ära mit schwarzen Kassen und dem bösen Begriff
der gekauften Republik. Meine Damen und Herren von
den Regierungsfraktionen, ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes da nahtlos anschließen, wo Sie Ende der
90er-Jahre aufgehört haben? Das wäre eine ganz seltsame Kontinuität.
({5})
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nichts Anrüchiges dabei, wenn jemand einer Partei etwas spendet.
Das tun viele Menschen erfreulicherweise, und das ist
vollkommen in Ordnung. Es wäre falsch, wie der Kollege Maurer das gefordert hat, Sponsoring generell zu
verdammen. Wer das tut, verfehlt den Kern des Themas.
Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, wenn der heimische Bäckermeister zum Sommerfest der Linken oder
der CDU oder der SPD Brötchen mitbringt oder Grillkohle sponsert.
Mit dem Täuschen und Tricksen, damit muss Schluss
sein.
({6})
Und es muss Schluss sein mit Kopplungsgeschäften, die
nach dem Motto laufen: Zahl was, dann leiht dir der gewählte Ministerpräsident sein Ohr. Solche Kopplungsgeschäfte sollte man in der Politik nicht einmal mit spitzen
Fingern anfassen.
({7})
Es geht um nicht weniger als um die Grundregeln der
Demokratie: dass jeder Bürger, unabhängig von Status
oder Geldbeutel, die gleiche Chance auf Einfluss und
Mitsprache hat; dass der gewählte Landesvater auch dem
sein Ohr leiht, der nicht mit einem dicken Bündel Geldscheine kommt.
Gespräche gegen Geld sind nur der Anfang. Wer Geld
zahlt, erwartet eine Gegenleistung. Meine Damen und
Herren von den Regierungsfraktionen, ich glaube, Sie
haben noch nicht verstanden, dass es in einer Demokratie keine Grauzone zwischen Geldzuwendung und Einflussnahme geben darf; dass gewählte Ministerpräsidenten ihre Zeit nicht verscherbeln und damit den Eindruck
erwecken dürfen, dass Politik in diesem Land käuflich
wäre.
({8})
Ich habe den Eindruck, dass nach fünf Monaten
Schwarz-Gelb die politischen Sitten wieder einmal verlottern, zumindest an Rhein, Ruhr und Elbe. Das werden
wir Sozialdemokraten Ihnen nicht durchgehen lassen.
({9})
Wir begrüßen nachdrücklich, dass der Bundestagspräsident in diesen Vorgängen ermitteln will. Ich sage aber:
Er muss schnell ermitteln, er darf das nicht auf die Zeit
nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verschieben.
({10})
Dieses Thema darf man nicht auf die lange Bank schieben.
({11})
Dadurch würde man die Politikverdrossenheit vergrößern. Irgendwann werden die Bürger uns dann sagen,
dass wir den Bundesadler besser durch eine Möwe ersetzen - das wäre der Anfang vom Ende.
({12})
Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der
Kollege Helmut Brandt von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Dass uns heute diese Debatte beschert wird,
folgt einem gewissen System - insbesondere der Linken,
im Augenblick aber wohl der gesamten Opposition -,
nämlich dem System, Sachverhalte zu skandalisieren.
Anders als es der Titel dieser Aktuellen Stunde suggeriert, wird die Glaubwürdigkeit der Politik durch solch
eine Handhabung gerade nicht gefördert. Das Gegenteil
ist der Fall.
({0})
Ich persönlich - ich denke, die meisten Redner haben
diese Auffassung bestätigt - halte die Spenden- und
Sponsoringpraxis der Parteien generell für angemessen.
Sie ist erforderlich, und sie entspricht im Übrigen den
Vorschriften des Parteiengesetzes.
({1})
Nach § 24 Abs. 4 - Herr Ströbele, Sie schütteln den
Kopf; es ist dennoch so - müssen Spenden von Personen
und Firmen ausgewiesen und Einnahmen aus Veranstaltungen im Rechenschaftsbericht dargestellt werden.
({2})
Nichts wird verschleiert. Es gibt auch nichts zu verschleiern.
Sie können gerne unsere Parteitage besuchen,
({3})
was viele Leute, auch unabhängige, gerne tun. Dann
können Sie sehen, wer da als Sponsor auftritt. Die
Stände sind genau zu erkennen, und sie sind im Programm auch alle benannt. Es gibt keine Heimlichtuerei
oder Verschleierung.
Ich gebe zu: Es gibt einen Punkt, bei dem die Grenze
überschritten ist.
({4})
Das ist nämlich zweifellos dann der Fall, wenn ein Ministerpräsident oder ein Minister gegen Bezahlung sozusagen angeboten wird; das ist ganz klar.
({5})
- Herr Ströbele, Sie müssen mich zu Ende reden lassen.
Das haben Sie doch auch für sich immer in Anspruch genommen.
({6})
- Das stimmt zwar auch, aber ich möchte ihm doch weiterhelfen. Ich bin ja bei der Resozialisierung.
({7})
Nachdem dieses Tun bekannt geworden ist, ist es sofort
eingestellt worden. Ich muss ganz offen zugeben - das ist
auch unstreitig -: Eine solche Vermischung zwischen
Parteiinteressen und Regierungsämtern darf es nicht geben, wird es nicht geben und hat es auch nicht gegeben.
Das ist nämlich das, was Sie suggerieren wollen.
({8})
Der Ministerpräsident hat solche Gespräche nie geführt, und ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen
- ich komme ja zum Glück aus Nordrhein-Westfalen -:
Ich kenne keinen Ministerpräsidenten in diesem Land
wie Jürgen Rüttgers, der täglich das Gespräch mit Bürgern, Betriebsräten, Unternehmen und Verbandsvertretern sucht, um unser Land in diesen schwierigen Zeiten
nach vorne zu bringen.
({9})
Wenn man über die Glaubwürdigkeit in der Politik
diskutiert, was Sie ja gerne möchten, dann muss man
auch die Frage stellen, ob die staatliche Parteienfinanzierung nicht generell einmal überprüft werden sollte und
entsprechend geändert werden müsste. Für mich ist es
unerträglich, dass vom Verfassungsschutz überwachte
links- und rechtsextreme Parteien vom Staat Geld erhalten, solange sie nicht verboten werden.
Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit würde es im Übrigen auch beitragen - das ist heute ja mehrfach gesagt
worden; damit wende ich mich einmal an die Linke -,
endlich einmal offenzulegen, was aus dem aus DDRZeiten stammenden Vermögen Ihrer Vorgängerorganisation, der SED, geworden ist.
({10})
Einmal abgesehen davon, dass bei Ihrer politischen Programmatik in einem freiheitlich-demokratischen Land
wahrscheinlich kein Sponsor gefunden wird, kommen
Sie aufgrund dieses Hintergrundes offensichtlich auch
ohne Sponsoren gut aus.
({11})
Mein Appell an SPD und Grüne geht allerdings auch
dahin, die eigene Praxis einmal zu betrachten und dann
öffentlich darzulegen, wie es dort aussieht.
({12})
Herr Ströbele, zu den Grünen. Ich erinnere einmal
beispielhaft an den Parteitag 2004 in Kiel, den die Deutsche Bahn kofinanziert hat, und darf an dieser Stelle einmal Ihren Bundesschatzmeister, Dietmar Strehl, zitieren.
Er hat gesagt: Ich habe keine Probleme damit, so etwas
mitzumachen, weil es natürlich auf solchen Parteitagen
eine geniale Gelegenheit gibt. Die Leute kommen alle,
und da kann man Gesprächsmöglichkeiten schaffen. Ich
glaube nämlich, das ist eigentlich das Uransinnen der
Politik. - Das ist der Originalton Ihres Bundesschatzmeisters.
({13})
- Sie haben sich hier ja schon oft durch Zwischenrufe
bemerkbar gemacht.
Ich komme jetzt auch zur SPD. Sie hat ja nun wirklich
ganz erhebliche Einkünfte aus ihren Zeitungsverlagen.
Eben wurde ja schon die mögliche Verknüpfung zwischen Anzeigen und Annoncen von Unternehmen und
den SPD-Beteiligungen deutlich gemacht.
({14})
Ich will jetzt aber einmal auf den Vorwärts kommen,
der ja bekanntlich Kamingespräche organisiert. Ehrengäste, Redner und Gesprächspartner waren die Granden
der SPD. Ich darf aus einem Artikel in Spiegel Online
vom 23. Februar 2010 zitieren, in dem ein regelmäßiger
Teilnehmer dieser Kamingespräche zu Wort gekommen
ist und gesagt hat, dass das eben keine sogenannten Kundenbindungsgespräche sind, sondern dass er das ganz
anders erlebt hat: Man wird nur eingeladen, wenn man
etwas geleistet hat.
Bevor man also mit dem Finger auf andere zeigt - das
hat der Herr Kollege Strobl eben schon zu Recht gesagt -,
sollte man wirklich bedenken, dass dann immer auch
drei Finger auf einen selbst gerichtet sind.
Lassen Sie mich am Ende dieser Aktuellen Stunde
zum Schluss noch Folgendes zusammenfassend ausführen: Die Spenden- und Sponsorenpraxis der Parteien ist
- ich habe es zu Beginn gesagt - wegen der Offenheit
und aufgrund der Vorschriften des Parteiengesetzes nach
meiner Auffassung kein Grund für eine Diskussion, sondern damit wird im Grunde genommen die Glaubwürdigkeit der Politik untermauert. Allerdings sehe ich
schon Fehlentwicklungen, die auf einer Amerikanisierung der Partei- und Wahlkampffinanzierung basieren.
Diese sollten wir frühzeitig erkennen und auch abstellen.
Insofern mag diese Debatte doch einen Sinn gehabt haben.
Ich danke Ihnen.
({15})
Der Kollege Strobl hat einen Zwischenruf gemacht:
Lassen Sie sich doch von dem Straftäter nicht unterbrechen!
({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das entspricht nicht dem parlamentarischen Sprachgebrauch. Sie treten dort dem Kollegen persönlich zu nahe.
Ich rüge diesen Zwischenruf.
({1})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung einer Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft
- Drucksache 17/950 Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Kretschmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Enquete-Kommission soll für die Gesellschaft bedeutende
Entwicklungen unabhängig vom Alltagsgeschäft beleuchten und analysieren. Deswegen ist es wichtig, dass bereits
bei der Einsetzung ein breiter Konsens der politischen
Parteien hier im Parlament herrscht. Das ist der Fall. Das
wird für den Erfolg der Arbeit eine große Bedeutung haben. Ich freue mich sehr darüber, dass es uns von der
CDU/CSU gelungen ist, mit den anderen Parteien - nicht
nur mit dem Koalitionspartner - Einigkeit darüber zu erzielen, dass eine Enquete-Kommission zum Thema Internet und digitale Gesellschaft notwendig ist, weil sich
in unserer heutigen Zeit in der Tat sehr vieles verändert.
Wir sollten zu den 17 Sachverständigen, die in Zukunft in dieser Enquete-Kommission mitarbeiten werden, einen 18. Sachverständigen gedanklich hinzunehmen: den sachverständigen Bürger.
({0})
Wir wollen bei dieser Enquete-Kommission eine breite
Partizipation. Ich halte es - auch im Hinblick auf die Akzeptanz und das Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission - für ganz wichtig, dass die Bürger mitgestalten
können. Wir wünschen uns, dass die Bundestagsverwaltung diesen Gedanken offensiv aufgreift, dass es eine
breite Diskussion in Blogs, Foren und auf andere Art
und Weise geben kann, sodass die Arbeit von all jenen,
die mitarbeiten wollen, im Netz verfolgt werden kann.
Es ist schon ein erster Erfolg, dass wir nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Ich glaube, auch das
ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich für das
Internet besonders interessieren.
Wir wissen: Bereits heute sind 70 Prozent aller Internetnutzer fast jeden Tag online. Das Internet ist für den
überwiegenden Teil der Gesellschaft etwas ganz Selbstverständliches geworden und findet im Alltag statt. Zugleich müssen wir uns klarmachen, dass das Netz eine
Welt der verschiedenen Geschwindigkeiten ist: Natürlich gibt es eine Avantgarde der Internetnutzer; aber es
gibt auch viele, die das Internet weit weniger nutzen, die
es als Erleichterung des Alltagsgeschäfts sehen, beim
Onlinebanking und -shopping, bei Onlinebuchungen
oder -recherchen. Es gibt auch diejenigen, die sich mit
klugem Hintergrund für eine Entschleunigung der Datenflut einsetzen.
Allen gemeinsam ist, dass das Netz ein Teil ihres Lebens geworden ist. Deshalb müssen wir aufhören, zwischen dem wahren Leben und dem virtuellen Leben zu
unterscheiden. Nein, das Internet ist ein Teil des Lebens,
und das schon seit einer ganzen Weile.
({1})
Im Internet gelten auch keine anderen Gesetze. Persönlichkeitsrechte, Rechte auf Privatsphäre, Selbstbestimmung und Chancengleichheit gelten hier wie dort. Es ist
eine staatliche Aufgabe, diese Rechte auch im Internet
zu garantieren, zu schützen und zu fördern. Das mag im
globalen Netz etwas schwieriger sein, weil die Komplexität höher ist; aber wir erwarten von dieser EnqueteKommission konkrete Anstöße, wie wir bei diesem globalen Medium mittelfristig weltweit zu gemeinsamen
Standards kommen. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft des Deutschen Bundestages auch international wahrnehmbar sein
kann, wenn sie gute Vorschläge macht; das wünsche ich
mir außerordentlich.
({2})
Wir wissen, dass Suchmaschinen immer intelligenter
werden und gewaltige Sammlungen privater Daten organisieren. Auch hier brauchen wir besondere internationale Regeln für den Datenschutz. Ich wünsche mir, dass
wir dies zu einem zentralen Thema der Enquete-Kommission machen.
Hinzu kommt, dass jeder Mensch selbst für die Daten
verantwortlich ist, die er ins Netz einstellt und anderen
zur Verfügung stellt. Aus diesem Grund muss die Medienkompetenz ein großes Thema sein. Wir müssen früh
und intensiv schulen, wie man mit diesem Medium umgeht. Wir können die Komplexität des Internets nicht
verändern, aber wir müssen vermitteln und lehren, wie
man mit dieser Komplexität umgeht, damit man sich im
Internet genauso sicher bewegen kann wie auf unseren
Straßen. Das muss zumindest unser Ziel sein.
({3})
Ich kann unseren Bundesinnenminister nur unterstützen, wenn er sagt - ich zitiere -:
Jeder Einzelne muss die Wahl haben, wie er im Internet kommuniziert, ob er seine Identität preisgibt
oder nicht. Es ist legitim und schützenswert, bestimmte Kommunikationsformen im Internet anonym oder unter einem Pseudonym zu nutzen.
Das Internet ist eine große Chance für die Freiheit
und die Demokratiebewegung in der Welt. Denken Sie
daran, welche Bedeutung das Internet in autoritären
Staaten wie dem Iran hat. Auch hier gilt es, diese Freiheit zu erhalten und zu fördern.
Wir wünschen der Enquete-Kommission, dass sie intensiv arbeitet und regelmäßig Zwischenberichte verfasst und dass wir darüber auch in diesem Hause debattieren. Ich glaube, es ist notwendig, das digitale Zeitalter
mit dieser Enquete-Kommission noch einmal neu zu bearbeiten und neue Antworten zu finden. Ich wünsche dabei viel Erfolg.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Dass wir heute im Bundestag die Einsetzung einer Enquete-Kommission Internet und digitale
Gesellschaft beschließen, zeigt, dass die netzpolitische
Debatte kein Nischenthema mehr ist. Netzpolitik und die
Herausforderung, die digitale Welt zu gestalten, sind
mitten in der politischen Debatte angekommen. Ich habe
die Hoffnung, dass mit der Einsetzung der EnqueteKommission diese Debatte auch endlich im Deutschen
Bundestag ankommt.
Der Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommission ist sicherlich das persönliche Engagement einiger
hier im Haus, und zwar parteiübergreifend. Der hauptsächliche Grund für diese Enquete-Kommission - auch
das gehört zur Wahrheit dazu - ist allerdings, dass uns
als Parlamentariern gerade im letzten Jahr vielfach verdeutlicht wurde, dass wir mit unseren Debatten nicht
mehr auf der Höhe der Zeit waren,
({0})
dass sich gerade junge Menschen von dem abgewandt
haben, was wir hier machen, und dass wir auch gemerkt
haben, dass wir gerade die junge Generation mit vielen
Entscheidungen nicht mehr erreicht haben.
Wir haben diese Enquete-Kommission also vor allem
denjenigen zu verdanken, die zu Zigtausenden eine Onlinepetition gegen die Netzsperren unterzeichnet haben.
Wir haben sie denjenigen zu verdanken, die auf die
Straße gegangen sind, um für Bürgerrechte im Netz zu
kämpfen, und denjenigen, die sich jenseits der politischen Parteien engagiert haben. Lassen Sie uns das heute
noch einmal deutlich betonen.
({1})
Die Politik hat Fehler gemacht. Lassen Sie mich zumindest für meine Partei sagen: Wir haben aus diesen
Fehlern gelernt. Das Internet ist nicht ein Raum der Bedrohung, sondern der Chance. Auch die Aussage vom
Internet als rechtsfreier Raum wird nicht durch Wiederholung richtig: Das Internet war nie ein rechtsfreier
Raum, und genauso wenig darf es ein bürgerrechtsfreier
Raum sein. Wir haben begriffen, dass der kompetente
Umgang mit neuen Medien einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellt, und wir haben verstanden, dass sich
Gesellschaft und Öffentlichkeit durch das Internet immer stärker online manifestieren und die Politik ihren
Gestaltungsanspruch wahrnehmen muss.
Ich betone: Netzpolitik ist keine Politik für eine diffuse Klientel, die wir Politiker gern als Community bezeichnen. Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Bei der
Arbeit der Enquete-Kommission wird es darauf ankommen, genau das deutlich zu machen.
In den vergangenen Monaten wurden von allen Parteien
viele Hände in die Richtung derjenigen ausgestreckt, die
sich lautstark gegen politische Fehlentscheidungen in der
Netzpolitik gewehrt haben. Eine ausgestreckte Hand und
ein kulturelles Bekenntnis zum Web 2.0 reichen aber
noch lange nicht aus, um Vertrauen zu schaffen oder zurückzugewinnen. Ein funktionierender Twitter-Account
macht noch keinen guten Netzpolitiker.
Wenn die FDP-Fraktion in einer Pressemitteilung zur
Einsetzung des Unterausschusses Neue Medien
schreibt: Parlament unterstreicht seine Web-2.0-Kompetenz, dann klingt das für mich eher bemüht als kompetent.
Es reicht eben nicht aus, die Hand auszustrecken und
ein Smartphone bedienen zu können. Es kommt darauf
an, dass wir hier im Parlament substanzielle Lösungen
erarbeiten. Es kommt darauf an, dass wir Rahmenbedingungen setzen, die das Leben, Arbeiten und Wirtschaften in der digitalen Gesellschaft ermöglichen. Das wird
in den nächsten zwei Jahren unsere Aufgabe sein.
({2})
Die Zeit der Symbolpolitik muss vorbei sein. Natürlich werden wir kontrovers diskutieren. Natürlich wird
es Widersprüche geben. Natürlich haben wir viele unterschiedliche Interessen zusammenzubringen. Klar ist
schon jetzt: Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es
muss aber vor allem darum gehen, dass wir als EnqueteKommission deutlich machen: Es gibt im Internet andere
Logiken als in der Offlinewelt. Wir werden die Wertschöpfungsmechanismen aus der Offlinewelt nicht eins
zu eins in die Onlinewelt übertragen können. Gleiches
gilt für die Balance zwischen Bürger- und Freiheitsrechten. Diese neuen Logiken und neuen gesellschaftlichen
Entwicklungen zu begreifen, zu erklären und umzusetzen, wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein.
Die SPD-Fraktion unterstützt den interfraktionellen
Antrag zur Einrichtung der Enquete-Kommission gerade
deshalb, weil alle aus unserer Sicht relevanten Themen
aufgegriffen wurden. Die SPD-Fraktion hat in der Verhandlung darauf gedrängt, dass im Vergleich zum Ursprungsentwurf der gesamte Bereich der sozialen Absicherung einer digital geprägten Arbeitswelt mit auf die
Agenda kommt. Es gibt wohl kaum ein Politikfeld, das
sich durch Digitalisierung so verändert hat wie der Bereich der Arbeitswelt. Wir haben völlig veränderte Erwerbsbiografien und Erwerbsformen. Genau hierauf
muss die Politik Antworten finden. Ich bin froh, dass es
meiner Partei zusammen mit den Grünen gelungen ist,
diesen Bereich in die Enquete-Kommission aufzunehmen.
({3})
Ich halte es für einen Fortschritt, dass wir in der Enquete-Kommission Themen wie Open Data oder OpenGovernment-Strategien diskutieren. Der Versuch von
Barack Obama, in den USA mehr Transparenz und Offenheit in Bezug auf staatliches Wissen herzustellen,
sollte auch uns beschäftigen. Seine Ansätze in den USA
stehen für ein Staatsverständnis, das von Offenheit und
Transparenz geprägt ist. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg auch in Deutschland gehen und dadurch mehr
Offenheit und Transparenz schaffen.
Ich habe einige Themenschwerpunkte skizziert und
halte es für sinnvoll, dass wir in den nächsten zwei Jahren über all diese Fragen grundsätzlich diskutieren. Ich
sage aber auch: Diese Enquete-Kommission darf nicht
zur Ausrede werden, um drängende politische Fragestellungen auf die lange Bank zu schieben. Wir als SPD
werden in den verschiedenen Ausschüssen, vor allem im
Unterausschuss Neue Medien, die Debatten zu einer
gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität, zu Medienkompetenz, zu Grundrechtsschutz und zur Wahrung
von Medienfreiheit und Medienvielfalt vorantreiben,
weil der Handlungsbedarf im Hier und Jetzt besteht und
wir uns nicht auf Vorschläge einer Kommission verlassen können, die erst in zwei Jahren vorliegen. Diese Enquete-Kommission darf nicht zum Ruhekissen der Regierung werden und so ermöglichen, dass drängende
Sachverhalte der Netzpolitik um zwei Jahre vertagt werden.
({4})
Ohnehin erwarte ich mir von der Regierung eine stärkere Koordination ihrer netzpolitischen Arbeit. Chaos
scheint der rote Faden dieser Regierung zu sein, auch in
der Netzpolitik.
({5})
Von Ressort zu Ressort gibt es völlig unterschiedliche
Richtungen. Auch wenn ich vielleicht die Forderungen
der Internetwirtschaft nach einem Internetminister für zu
hochgesteckt halte, so ist das Ansinnen hinter dieser Forderung doch berechtigt. Weil Netzpolitik Gesellschaftspolitik ist, sind unterschiedliche Ressorts, Ministerien
und Staatskanzleien beteiligt. Mein Eindruck - zumindest in den letzten Wochen - war, dass all diese Akteure
in völlig unterschiedliche Richtungen laufen. Es fehlt an
Koordination, vor allem fehlt es aber an Konzeption.
Man muss sich das einmal anschauen: Der Innenminister
lädt zu einer Dialogreihe Netzpolitik. Die Familienministerin will ein Forum Internet gründen.
({6})
Die Verbraucherschutzministerin ist damit beschäftigt, Google zu beschimpfen. Auch der regierungsinterne
Streit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Vorratsdatenspeicherung zeigt: Diese Regierung hat
keine Linie in der Netzpolitik.
({7})
Wir brauchen ganzheitliche gesellschaftspolitische
Ansätze, weil es uns nur dann gelingt, die Potenziale des
Internets völlig auszuschöpfen. Wir alle reden von einer
Konvergenz der Medien. Wir sehen aber auch, dass wir
eine Konvergenz der Politik oder auch eine Konvergenz
des Rechts noch nicht haben. Wenn man sich die Debatte
um die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages anschaut, sieht man auch da: Wir streiten über Zuständigkeiten, erledigen aber nicht die eigentlichen Aufgaben, die uns die digitale Gesellschaft mit auf den Weg
gibt.
Lassen Sie mich zu meinem letzten Punkt kommen:
zu den Chancen für eine demokratische und politische
Partizipation. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zeiten einer hohen Politikverdrossenheit und katastrophalen
Wahlbeteiligung das Internet durch diese Enquete-Kommission stärker aufstellen können, um Menschen an
politischen Prozessen zu beteiligen. Ich bin fest davon
überzeugt, dass wir durch eine intensive Nutzung des Internets für eine Revitalisierung der Demokratie sorgen
können. Die ersten Ansätze, beispielsweise die Onlinepetition, hat es bereits gegeben. Ich plädiere dafür, dass
wir auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission neue
Ideen ausprobieren, indem wir zum Beispiel Gesetzentwürfe und Papiere online zur Verfügung stellen und um
Kommentierung bitten. Der Kollege Kretschmer hat gerade vom 18. Sachverständigen geredet. Ich plädiere
ausdrücklich dafür, dass wir nicht nur die Sachverständigen und die Abgeordneten einbeziehen, sondern dass wir
diese Enquete auch für die Bevölkerung öffnen und
diese mitdiskutieren lassen.
({8})
Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Lassen Sie uns unserem Auftrag gerecht werden. Lassen Sie uns die Erwartungen erfüllen, die in uns gesetzt werden. Lassen Sie
uns vor allem dafür sorgen, dass diese Enquete-Kommission kein netzpolitisches Feigenblatt des Deutschen
Bundestages ist. Wir haben viel zu tun. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können.
Herzlichen Dank für das Zuhören.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Höferlin von
der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Mit der Einsetzung der EnqueteKommission Internet und digitale Gesellschaft schlagen wir ein neues Kapitel in der Netzpolitik auf. Als
selbstständiges Gremium ist die Enquete-Kommission
bewusst als Querschnittskommission ausgelegt. Das ist
ein ganz wichtiger Punkt; denn die Enquete-Kommission soll gerade nicht Tagespolitik machen. Sie entwickelt vielmehr langfristige Perspektiven in der Netzpolitik. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Sie ist gerade
nicht dazu gedacht, tagespolitische Themen zu behandeln, sondern es handelt sich um ein langfristig angelegtes Projekt, in dem Netzpolitik in ihrer Gesamtheit behandelt wird. Die Enquete-Kommission unterscheidet
sich damit grundsätzlich von den regulären Ausschüssen. Netzpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die in jedem Politikbereich ressortiert ist.
Das politische Debakel der Vorgängerregierungen
- dabei richte ich mich gerade an Ihre Seite - bei den
Themen Netzsperren oder Vorratsdatenspeicherung zeigt
uns, dass kein Ministerium allein die Antwort auf die
Herausforderungen finden kann. Netzpolitik ist nicht nur
Innenpolitik, nicht nur Rechtspolitik und nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern eine Querschnittsaufgabe. Es ist
gut, dass wir so viele kompetente Herren und Damen in
den Ministerien haben, die sich dazu äußern können und
wollen.
({0})
Wir werden in der Enquete-Kommission Fachpolitiker und Sachverständige aus den verschiedensten Bereichen haben. Sie werden gemeinsam die Antworten auf
die Herausforderungen geben. Entscheidend ist aber
auch die neue Transparenz, die wir in dieser EnqueteKommission installieren möchten. Der Deutsche Bundestag wird die Arbeit der Kommission auf einer Webseite begleiten und für Transparenz und Bürgernähe sorgen. Die einen reden, die anderen machen. Wir von der
FDP-Bundestagsfraktion haben bereits eine Webseite
online gestellt: open-enquete.de. Wir möchten die Community gerne einbinden, wir möchten sie befragen. Herr
Kretschmer hat es schön gesagt: Der 18. Sachverständige kann bei uns teilhaben. Wir möchten deswegen auf
dieser Internetpräsenz alle Interessierten zum Dialog
einladen. Wir wollen die Menschen, die uns einen Input
geben können, daran beteiligen.
({1})
Die Seite open-enquete.de wird von uns so begleitet,
dass unsere Mitglieder in der Enquete-Kommission befragt werden können. Sie werden sich dort äußern können, und wir werden die Möglichkeit haben, Input von
außen in die Enquete-Kommission aufzunehmen. Das ist
genau das, was die Community von uns erwartet. Wir in
der FDP-Fraktion setzen unser Web-Engagement damit
konsequent weiter um. Ich freue mich sehr, dass der
Deutsche Bundestag und die FDP-Fraktion mit der Netzgemeinde diesen Dialog suchen. Eines sollte uns allen
klar sein: Wir müssen diesen Input und das Wissen der
Community nutzen. Es handelt sich um ein kollektives
Wissen und kollektive Vorschläge. Dieses Potenzial wollen wir nutzen, und dieses Potenzial müssen wir in die
Arbeit integrieren. Ich freue mich außerordentlich auf
die Arbeit in der Enquete-Kommission.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck:
Schon bevor die erste Sitzung der Enquete-Kommission
stattgefunden hat, findet eine parteipolitische Profilierung statt.
({0})
Das spiegelt sich in dem Punkt wider, wie mit diesem
Antrag umgegangen worden ist. Dieser Antrag wird von
vier Fraktionen dieses Hauses eingebracht, nämlich von
der CDU/CSU, von der SPD, von der FDP und von den
Grünen. Man hat es trotz aller breiten Konsensbeschwörungen in den Einführungen, trotz der versprochenen
Partizipation als Grundlage für diesen Auftrag und trotz
der Zusage, die Community einzubeziehen, nicht für
notwendig erachtet, auch die fünfte Fraktion hier im
Hause einzubeziehen, um diesen breiten Konsens wirklich von vornherein zu demonstrieren.
Einige Bemerkungen zur inhaltlichen Herangehensweise an die Enquete-Kommission. Die Linke steht in
der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft an der Seite der Nutzerinnen und Nutzer. Vielleicht ist das der Grund, dass man sich uns gegenüber etwas spröde verhält.
({1})
Viele der Nutzerinnen und Nutzer werden uns zurzeit
über Livestream zuhören oder unsere Beiträge über
Netzpolitik.org oder auch in Twitter-Feeds nachvollziehen und verfolgen, was wir dazu zu sagen haben. Uns
geht es zudem bei der Mitarbeit in dieser Kommission
um ein modernes Urheberrecht, um einen verbesserten
Datenschutz. Uns geht es insbesondere auch um die hier
viel beschworene Transparenz, die aber offenbar nicht so
alltäglich zu sein scheint. Es geht um demokratische
Teilhabe im Netz.
({2})
Es ist für uns selbstverständlich, dass niemand unserer Meinung sein muss. Wir akzeptieren abweichende
Einschätzungen und Positionen. Wir kämpfen aber mit
der Kraft des Arguments für unsere Positionen und hören dabei auf die klugen Ratschläge aus der Netzwelt:
von Profis und auch von Gelegenheitsnutzern aus dem
Netz.
Sie, werte Abgeordnete von CDU/CSU, SPD, FDP
und den Grünen, haben die Anzahl der Sitze in der Enquete-Kommission erhöht. Alle Fraktionen haben mehr
Sitze bekommen, alle, außer der Linken.
({3})
Sie verweigern sich den einfachsten demokratischen
Spielregeln, so mein Eindruck. Sie wollen nicht einmal
unseren Namen auf Ihrem Antrag zur Einsetzung der
Kommission sehen. Das ist eine ziemlich kleinkarierte
Entscheidung von Ihnen und auch keine schlaue. Es geht
darum, sehr sorgfältig zu arbeiten, den Expertinnen und
Experten zuzuhören, Argumente abzuwägen, bestehende
Gesetze auf den Prüfstand zu stellen
({4})
und über den Tellerrand des Parlaments und über den
Tellerrand der eigenen Erfahrungen zu sehen. Jeder von
uns kann lernen, jeder von uns muss lernen, dass eine
Politik der Ausgrenzung hier fehl am Platz ist. Das ist
ein Fehlstart der Kommission.
({5})
Nehmen wir die Nutzerinnen und Nutzer einfach einmal ernst: die Onlineunternehmer; diejenigen, die Abmahnungen im Briefkasten haben; diejenigen, die nicht
wissen, wie sie ihr Forum rechtssicher gestalten müssen;
diejenigen, die diese Gesellschaft von einer analogen in
die digitale überführen wollen; die Nerds, die Hacker,
die Strategen und die vielen unbezahlten und aus Leidenschaft handelnden Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker. Mit Letzteren sind nicht jene gemeint, die sich hier
im Bundestag als solche bezeichnen, sondern das sind
die wirklichen, die echten, die Betreiber und Nutzer von
Blogs und Websites, die Nachrichten generieren, die Informationen über Wikileaks transparent machen, die diskutieren und sich kontroverse Debatten liefern.
Die Linke begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Es ist ein erster
kleiner Schritt auf dem Weg zu ihrer Abschaffung. Alles
ständig im Netz zu überwachen, halten wir für mit dem
Grundgesetz unvereinbar. Wir halten es auch für einen
notwendigen Schutz der Nutzerinnen und Nutzer, dieses
Abschöpfen von Daten zu verhindern.
({6})
Je stärker unser Leben digital geprägt wird, je mehr
Daten gespeichert werden, desto mehr muss auch der
Gesetzgeber darauf achten, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Linke ist nicht nur
gegen eine Aufweichung des Datenschutzes, sondern
auch gegen den bestehenden Status quo der Schutzqualität. Wir brauchen mehr Datenschutz. Wir brauchen qualitativ höheren Datenschutz, und zwar einen Datenschutz, der zu der neuen Netzgeneration passt.
Wir werden in der Enquete-Kommission zentrale Aspekte einer digitalen Gesellschaft bearbeiten. Dazu gehört ebendiese neue Qualität von Datenschutz, neue Formen politischer Beteiligung im Netz sowie Fragen der
Zugänglichkeit von Wissen und digitalen Ressourcen.
Dazu gehören insbesondere auch die Arbeitsbedingungen der im Netz Agierenden.
Mit der Digitalisierung verändern sich ganze Branchen. Klassische Wirtschaftsbereiche kämpfen ums
Überleben, neue entstehen. Der Linken ist es dabei besonders wichtig, die neuen Beschäftigungsverhältnisse
zu reflektieren. Sittenwidrige Total-Buyout-Verträge für
Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel, neue Formen gemeinsamer Arbeit in Wikis und Clouds, soziale
Standards in der Informationsgesellschaft und eine bessere kollektive Absicherung der Beschäftigten müssen
auf den Tisch. In der Enquete-Kommission werden wir
dieses Thema auf den Tisch legen und gründlich diskutieren wollen.
({7})
- In der Kommission kommen wir sicherlich auch dazu,
den Begriff der Clouds, der Ihnen heute noch nicht bekannt ist, aufzuklären.
({8})
Die Antragsteller haben sich geweigert, in den Antrag, der heute beraten wird, den Komplex aufzunehmen,
in dem es um Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und die
Verbesserung des Datenschutzes geht. Auch das ist
ziemlich peinlich, meine Damen und Herren von den antragstellenden Fraktionen.
Die Linke setzt sich für ein modernes Urheberrecht
ein. Die Regelungen, die wir haben, taugen nicht für die
digitale Welt. Es funktioniert nicht, einfach die Regelungen für analoge Medien zu übertragen und zu sagen, damit seien wir in der digitalen Welt angekommen. Das
Urheberrecht ist aus dem Lot geraten, es verliert an Akzeptanz. Wir müssen uns dagegen wehren, dass das Urheberrecht zulasten der Urheber missbraucht werden
kann. Wir müssen sicherstellen, dass Urheber abgesichert werden. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen,
dass die Nutzerinnen und Nutzer gesetzlich garantierte
Freiheiten haben.
Am Ende der Arbeit der Enquete-Kommission wird
es einen Bericht mit Hunderten von Seiten geben. Die
wenigsten von Ihnen werden diesen lesen. Lassen Sie
uns deshalb parallel andere Kommunikationsmöglichkeiten nutzen; das ist schon angesprochen worden. Wir
brauchen Transparenz, aber wir brauchen auch die Expertinnen und Experten sowie die Nutzerinnen und Nutzer. Wir wollen eine aktive Begleitung durch die Nutzerinnen und Nutzer in dieser Kommission, und zwar nicht
nur als Konsumenten, sondern auch als Akteure; wir
brauchen ihre Kommentare und ihre Kritik.
Es geht einzig und allein darum, Antworten darauf zu
finden, wie das Netz der Zukunft gestaltet werden soll,
welche Leitplanken wir brauchen und welche schon
heute nicht mehr taugen. Die Linke stellt die Nutzerinnen und Nutzer in den Vordergrund. Für sie gehen wir in
die Kommission.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz
von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man spricht
bei der Aufgabe, die wir jetzt zu bewältigen haben, nämlich der Digitalisierung, auch von der vierten Revolution. Nach der Entwicklung der Sprache, der Schrift und
der Erfindung des Buchdrucks ist die Digitalisierung der
vierte große gesellschaftliche Umbruch in diesem Bereich.
Das sagt sich so leicht dahin, und man kann sicherlich
in Nuancen von der Bewertung, ob der Digitalisierung
diese Bedeutung beizumessen ist oder nicht, abweichen.
Aber dass die Digitalisierung, also die Möglichkeit, digitale Inhalte in Sekundenschnelle unendlich oft und ohne
Qualitätsverlust zu vervielfältigen, einen gesellschaftlichen Umbruch bewirken wird, sollte allen klar sein.
Dass wir heute diese Enquete-Kommission gründen, ist
Ausdruck dieser Erkenntnis.
Die Digitalisierung und das Internet haben fundamentale soziologische und ökonomische Auswirkungen auf
unsere Gesellschaft, und zwar in praktisch allen Lebensbereichen. Die bisherige Politik in diesen Bereichen war
Stückwerk; da brauchen wir uns nichts vorzumachen.
Wo auch immer ein Problem aufgetreten ist, hat man
versucht, schnell irgendwie zu reagieren. Entsprechend
unnachhaltig war leider auch die Netzpolitik dieses Hauses. Wir Grünen versprechen uns von dieser EnqueteKommission, dass dicke inhaltliche Bretter gebohrt werden. Deshalb glauben wir, dass sich heute ein Neustart in
diesem Bereich vollzieht.
({0})
Netzpolitik ist kein Modethema, das in irgendwelchen
Kaffeerunden bei Ministerien abgehandelt werden kann,
sondern es ist eine der zentralen Arbeitsaufgaben der
Politik im Jahre 2010. Deswegen ist die heutige Einsetzung der Enquete-Kommission richtig und wichtig.
Wir brauchen konkrete Antworten - das ist schon
vielfach angesprochen worden -, aber auch große Linien. Wir brauchen konkrete Antworten im Urheberrecht, wo sich drängende Fragen des Ausgleichs zwischen Urhebern, Verwertern und Nutzern stellen. Wie
man aber zum Beispiel an der Diskussion über Computersucht feststellen kann, brauchen wir auch in anderen
Bereichen große Linien. Einfache Antworten wie Man
darf nicht mehr so lange vor dem Computer sitzen verbieten sich, wenn man bedenkt, dass die Arbeitswelt von
morgen, aber auch schon von heute sich immer stärker
um das Internet und den Computer dreht.
Natürlich sollen auch Kinder weniger am Computer
sitzen. Sie sollen aber gleichzeitig Medienkompetenz
vermittelt bekommen, und dazu gehört der Umgang mit
dem Medium Computer.
Noch vor kurzem hat man gefragt - Sie alle kennen
diese Umfragen -: Wie viele Stunden bist du online?
Wie viele Tage in der Woche verbringst du im Internet?
Inzwischen ist Gesprächsthema, ob man sein Smartphone an Weihnachten auch einmal ausschalten sollte
oder nicht.
({1})
Daran kann man erkennen, wie radikal und schnell diese
Umbrüche sind. Die reale und die digitale Welt verweben sich; es gibt im Grunde keine Unterschiede mehr
zwischen ihnen. Dieser Wirklichkeit muss die Politik in
diesem Land endlich gerecht werden.
({2})
Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Das Internet
ist eben kein rechtsfreier Raum. Es ist aber auch kein
grundrechtsfreier Raum. Mit dem jüngsten Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung
wurde festgestellt: Die Politik hat hier zu kurz gegriffen.
Wir haben über Verbote diskutiert, nicht über die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung, über die
Privatsphäre, über die Menschenwürde. Es ist eine ganz
konkrete Aufgabe dieser Enquete-Kommission, sich der
Verwirklichung der Grundrechte im Internet anzunehmen.
({3})
Für uns Grüne war wichtig, folgende Punkte in den
Auftrag für die Enquete-Kommission hineinzuverhandeln:
Die Fortentwicklung des Urheberrechts: Wer glaubt,
in diesem Bereich in alten Mustern verharren zu können,
der irrt; denn eine Revolution, also auch die digitale Revolution, ist immer mit Umbrüchen und Veränderungen
verbunden. Diesen Herausforderungen müssen wir in
der Enquete-Kommission und hier im Hohen Haus gerecht werden.
Die Diskussion der Bedeutung und der Förderung
freier Software und offener Standards: Gerade internationale Ansätze sind erforderlich; denn das Internet ist
ein internationales Medium. Es gibt keine Landesgrenzen im Internet. Das muss die Politik begreifen, und das
muss auch Grundlage dieser Enquete-Kommission und
unseres Arbeitsansatzes sein.
({4})
Gleichzeitig brauchen wir Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen - auch sie müssen das Internet
nutzen können - und Zugangsgerechtigkeit. Wir fordern
die E-Partizipation. Dafür ist diese Kommission in der
Tat ein guter Anfang. Wie wir da kommunizieren, darf
keine Einbahnstraße - schicke Presseerklärungen und
Berichte darüber, was die Enquete-Kommission am jeweiligen Tage verhandelt hat - sein, sondern wir müssen
in diese Kommission auch hineintragen, was draußen
diskutiert wird. Dazu gibt es einige interessante Ansätze,
die wir hoffentlich so umsetzen werden, wie wir sie aufgeschrieben haben, also in Form von Foren und Ähnlichem.
Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass es gelungen ist, hier einen gemeinsamen Antrag zustande zu
bringen. Ich möchte auf den Umstand eingehen, dass die
Linke diesen Antrag nicht mit eingebracht hat. Ich darf
für meine Fraktion sagen: Wir bedauern das. Es war
Conditio sine qua non, über die Dinge zu diskutieren. Ich
glaube, uns wäre kein Zacken aus der Krone gefallen,
wenn wir die Linke einbezogen hätten. Gerade angesichts des Änderungsantrages, der minimale Änderungen an dem Programm für die Enquete-Kommission beinhaltet - wir werden ihm zustimmen -, sehe ich nicht,
warum man dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen
kann.
({5})
Ich hoffe, dass wir in der Arbeit in der Tat einen gemeinsamen Weg finden.
Mit Blick auf die nächsten zwei Jahre halte ich für
absolut notwendig, dass wir eine offene, progressive
Diskussion über die digitale Revolution und ihre Auswirkungen führen. Wenn es nach uns Grünen geht, dann
wird diese Enquete-Kommission der transparente und
kreative Arbeitsspeicher des deutschen Parlaments.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Internet ist das freiheitlichste und effizienteste
Informations- und Kommunikationsforum der Welt
und trägt maßgeblich zur Entwicklung einer globalen Gemeinschaft bei.
Das ist schlicht und ergreifend der erste Satz in unserem
Einbringungsantrag und auch der maßgeblichste. In der
Tat, das Internet bietet eine Vielzahl von persönlichen
Entfaltungsmöglichkeiten, informelle Selbstbestimmung
und auch wirtschaftliche Betätigung. Das Netz ist nicht
nur eine technische Plattform, sondern ist ein wichtiger
Bestandteil des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens
geworden. Wir leben mit dem Internet, wir leben im Internet, wir arbeiten damit, gestalten unsere Freizeit und
unseren Alltag mit ihm.
Die Bedeutung des Internets wächst rasant an und damit natürlich auch die Herausforderung für politisches
Handeln. Ich nenne hier nur: Verbraucherschutz, Datenschutz, Jugendschutz, Urheberschutz. Natürlich wird ein
solches Medium oftmals auch missbraucht; Internetkriminalität gibt es. Darauf müssen wir Antworten finden.
Hier prallen offensichtlich zwei Welten aufeinander: die
sogenannte virtuelle und die reale Welt. Wir müssen uns
aber von dieser Vorstellung lösen; denn das Internet ist
nicht virtuell. Es ist ganz real. Das ist unsere Gesellschaft; das sind wir. Es geht nicht um irgendeine unverstandene Technologie oder um irgendeine imaginäre Internetcommunity.
({0})
Der Zugang zu freiem Wissen und freier Information - das ist das kostbarste Gut, das wir haben. Es ist für
uns teilweise schon so selbstverständlich geworden, dass
wir oftmals nicht mehr in der Lage sind, es wertzuschätzen und zu verteidigen und zu schützen. Vor mir wurde
ja schon angesprochen, dass zum Beispiel die Opposition im Iran ohne das Internet keine Möglichkeit hätte,
auf ihre Lage aufmerksam zu machen, keine Möglichkeit hätte, die Familienmitglieder und die Freunde im
Ausland zu benachrichtigen, keine Möglichkeit hätte,
die Machenschaften dieser Diktatur öffentlich zu machen.
Wir brauchen aber gar nicht so weit weg zu gehen.
Ich bin im Osten dieser Republik aufgewachsen, und ich
bin 1989 für Pressefreiheit auf die Straße gegangen. Für
uns war es natürlich sehr wichtig, Zugang zu freier Information und freiem Wissen sowie, banalerweise, zu
guter Musik zu erhalten. Das ging nur über grenzüberschreitende Medien wie Rundfunk und Fernsehen. Deswegen sehe ich das neue Medium Internet als eine
unverzichtbare Bereicherung unserer globalen Gemeinschaft an.
({1})
Meine Damen und Herren, die digitale Welt kann man
auch nicht binär nur in Null und Eins, in Schwarz und
Weiß, in Falsch und Wahr auseinanderdividieren. Es ist
auch kein Selbstzweck für trockene Verarbeitung von digitaler Information, sondern diese digitale Welt ist viel
mehr. Sie ist bunt, sie ist vielfältig, sie ist informativ, sie
ist voller Wissen und voller Unterhaltung. Unsere Aufgabe ist es nun erstens, dieses wertvolle Gut zu schützen
und weiterzuentwickeln bzw. dafür zu sorgen, dass es
weiterentwickelt werden kann, zweitens, Antworten auf
die Herausforderungen zu finden, die dieses Medium mit
sich bringt, und drittens, klare, nachvollziehbare und akzeptable Lösungen und Regeln zu finden.
({2})
Ich persönlich wünsche mir dabei mehr Technologieoffenheit, mehr Innovationsfreundlichkeit, Sachlichkeit,
gute technische und rechtliche Lösungen. Das ist besser
als Verteufelung und Gängelei.
({3})
In einer funktionierenden Gesellschaft - das ist ganz
klar - braucht man Leitplanken. Diese Leitplanken müssen aber so ausgestaltet sein, dass man sich darin sicher
und frei bewegen kann. Der Nutzer muss frei sein und
sich sicher bewegen können, und zwar unabhängig von
sozialer Herkunft, unabhängig von regionaler Herkunft
und vor allen Dingen auch unabhängig von Fragen der
Technik und von Fragen der Infrastruktur. Das Internet
ist für mich ein Teil der Daseinsvorsorge.
({4})
Was haben wir als Gesetzgeber nun zu tun? Wie soll
die Bestandsaufnahme ausgestaltet werden? Ich bin der
Meinung, wir sollten die Enquete-Kommission nicht
überfrachten. Wir können in ein, zwei oder drei Jahren
nicht das lösen, was auf der Agenda steht. Wir wollen
mit den Experten zusammen Denkansätze finden und
aufnehmen. Wir wollen aufklären. Wir wollen informieren, und vor allen Dingen wollen wir Transparenz schaffen. Wir wollen kommunizieren, offen sein für Argumente und ohne Vorurteile und Scheuklappen vorgehen.
({5})
Wir wollen das in gelassener Ernsthaftigkeit sowie mit
Offenheit und Sachverstand tun.
Wenn uns das gelingt, dann haben wir am Ende etwas
Gutes erreicht. Ich wünsche uns für die Enquete-Kommission alles Gute und lade alle ein, dort konstruktiv
mitzuarbeiten.
Vielen herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydan Özoğuz von
der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich freue mich über die Einsetzung einer
Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft.
Es ist schon einiges dazu gesagt worden; das alles muss
man nicht wiederholen.
Als Familienpolitikerin möchte ich heute gleich zu
Beginn unserer Arbeit den Blick auf den Bereich Kinder,
Jugendliche und ihre Eltern, aber auch auf unser Bildungssystem im Umgang mit digitalen Medien richten.
Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Eltern
von heute - wahrscheinlich sind auch einige hier - nicht
von klein auf mit PC und Computerspielen groß geworden sind, Großeltern schon gar nicht. Für manche - ich
weiß nicht, ob sich der eine oder andere daran erinnern
wird - war durchaus schon die Einführung eines Anrufbeantworters revolutionär, und es fiel nicht wenigen
schwer, sich mit diesen Apparaturen anzufreunden. Dies zur Basis, auf der wir arbeiten.
Die Welt hat sich trotzdem weiterentwickelt. Heute ist
es üblich, dass beispielsweise 11-Jährige über ein eigenes Profil bei schülerVZ verfügen. Computerverbot gehört zu den gängigen Erziehungsmethoden. Nach der
KIM-Studie 2008 gehen inzwischen rund 60 Prozent aller 6- bis 13-Jährigen ins Internet. Über diese hohe Zahl
ist schon gesprochen worden. Zwei Drittel von ihnen
sind mindestens einmal pro Woche online, 17 Prozent
sogar täglich. Das bedeutet aber auch - das ist mir wichtig -, dass eine nicht unwesentliche Zahl von Schülerinnen und Schülern in unserem Land keinen unmittelbaren
Zugang zum Netz hat. Auch das sollte uns bei unserer
Arbeit beschäftigen.
({0})
Auf eine, wie ich finde, etwas widersprüchliche Art
nimmt die Schule Einfluss auf das Onlineverhalten. Die
zweithäufigste Tätigkeit der regelmäßig ausgeübten Internetaktivitäten der Kinder ist die Suche nach Informationen für den Unterricht. Gleichzeitig aber schneidet
Deutschland beim Einsatz digitaler Medien in den Schulen äußerst schlecht ab. Das hat eine repräsentative Umfrage der Initiative D 21 und von TNS Infratest belegt.
Zurück zu den Kindern und Jugendlichen. Je älter diese
werden, desto regelmäßiger und länger wird dann auch
die Nutzung von Computer und Internet. Laut der JIMStudie 2009 verfügen immerhin drei Viertel der 12- bis
19-Jährigen über einen eigenen Computer oder Laptop,
und mehr als die Hälfte, also 54 Prozent, kann vom eigenen Zimmer aus ins Internet gehen. Was bedeutet das
aber für unsere Arbeit? Wir dürfen bei aller Kompetenz
und aller Begeisterung, die wir haben, nicht vergessen,
dass es viele Menschen, darunter viele Eltern, gibt und
weiterhin geben wird, die über keine große Medienkompetenz verfügen - ich habe schon zu Beginn meiner
Rede versucht, dies deutlich zu machen - und die zum
Teil recht hilflos den eigenen Kindern gegenüberstehen.
Die Nutzung findet längst nicht nur zu Hause statt, wie
wir wissen. Wie können Eltern beispielsweise internetfähige Handys noch kontrollieren? Wie können sie da
noch auf Gefahren hinweisen? Mit Verboten - das wurde
hier angedeutet - werden wir da ganz sicher nicht weiterkommen.
Unbestritten bietet das Internet viele positive Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Aber es kann nur
der von der Informationsfülle des Internets profitieren,
der auch die Fähigkeit hat, aus dem Angebot sinnvoll
auszuwählen und verantwortungsvoll mit den eigenen
Daten umzugehen. Es ist schon erschreckend, wie viele
persönliche Informationen gerade Jugendliche im Internet über sich selbst preisgeben. Ein gängiges Beispiel
- das werden viele von Ihnen schon kennen - ist das
Vorstellungsgespräch. Es ist möglich, dass der Personalchef gegoogelt und eine Menge über den Jugendlichen
im Internet gefunden hat, was er vielleicht gar nicht wissen sollte oder wissen muss. Und nicht zu vergessen:
Das Internet vergisst nichts!
Gefahren drohen auch von anderen Seiten, zum Beispiel beim sogenannten Grooming, also wenn sich ein
erwachsener Täter in Chatrooms eine kindliche Identität
gibt und getarnt Kontakt zu seinen Opfern aufnimmt,
oder beim Cyber-Mobbing, das heißt, dass Einzelne im
Internet ungeschützt an den Pranger gestellt werden. Ich
finde es daher besonders wichtig - wie auch im Antrag
formuliert wird -: Der Schutz der Persönlichkeit und des
Rechts auf informationelle Selbstbestimmung muss auch
im Netz gelten.
({1})
Das sind nur einige Aspekte. Ich habe leider nicht die
Zeit, auf alles einzugehen. Aber es ist klar, dass wir auf
die bestehenden Fragen schlüssige Antworten finden
müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass schon die Kinder
lernen, welche Konsequenzen es haben kann, Privates
im Netz preiszugeben. Wir müssen dieses Bewusstsein
und einen sparsamen Umgang mit den eigenen Daten
fördern. Und wir müssen Eltern und Lehrer - das Wort
Lehrer möchte ich besonders unterstreichen - für die
Gefahren sensibilisieren und die Vermittlung von Medienkompetenz bereits in Grundschulen zum Thema machen.
({2})
Alle bereits in diese Richtung steuernden Initiativen sollten von uns berücksichtigt werden; denn am Ende soll
ein stringentes Gesamtkonzept stehen.
Ich war mit einigen von Ihnen letzte Woche bei der
Präsentation von fragFINN.de; das ist ein von der Bundesregierung gefördertes Angebot eines geschützten
Surfraumes, der speziell für Kinder geschaffen wurde
und in dem sich die Kinder frei im Internet bewegen
können, ohne auf ungeeignete Inhalte zu stoßen. Diese
Initiative hat bundesweit Schulen Kooperation und Information angeboten, aber nur in drei Bundesländern
kam man auf das Angebot zurück. Drei von 16: Das ist
eindeutig zu wenig.
({3})
fragFINN.de muss nicht das einzige Programm sein,
aber ich finde, dass das fehlende Interesse eine gewisse
Tendenz zur bislang mangelnden Sensibilität für das
Thema aufzeigt. Wir brauchen kompetente Lehrerinnen
und Lehrer und kompetente Eltern, dann haben wir auch
kompetente Kinder und Jugendliche im Umgang mit den
Medien unserer Zeit.
Zum Schluss möchte ich noch an ein Schreiben erinnern, das die Minderheitenverbände Anfang des Jahres
an die Fraktionsvorsitzenden richteten. Sie fordern darin
die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, bei
der Einsetzung dieser Enquete-Kommission auch dem
Schutz vor und der Verfolgung von Hasspropaganda im
Internet Aufmerksamkeit zu schenken. Ich denke, dieser
Aufforderung sollten wir unbedingt nachkommen. Ich
freue mich auf die gemeinsame Arbeit.
Vielen Dank.
({4})
Frau Kollegin Özoğuz, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen
Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Blumenthal
von der FDP-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Behrens, Sie haben uns von der Regierungskoalition in einer Art und Weise angesprochen, sodass ich jetzt etwas von meinem Redeskript abweichen
möchte; das mache ich aber gern.
Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Als ich eben gehört habe, wie Sie uns in einer losen Aneinanderreihung
von Fachbegriffen Sachverhalte dargelegt haben, hatte
ich, offen gestanden, nicht den Eindruck, dass sie überhaupt durchdringen, was Sie uns vortragen. Wenn wir
über Medienkompetenz und Fachkompetenz sprechen,
dann muss man feststellen: Das war schon einmal nicht
der beste Beitrag. Uns als Koalition einen Fehlstart zu
unterstellen, bevor wir begonnen haben, ist sicherlich
auch nicht produktiv und tut der Sache nicht gut. Darauf
können wir gerne verzichten.
({0})
Wir beraten heute über die Einsetzung einer EnqueteKommission Internet und digitale Gesellschaft. Wir
als FDP-Fraktion haben dieses Vorhaben von Anfang an
ausdrücklich unterstützt; denn wir sind der Meinung,
dass diese Enquete längst überfällig ist.
Sie ist deshalb überfällig, weil das Internet in der politischen Diskussion oftmals nur als Hort für illegale Inhalte oder als Hilfsmittel für kriminelle Handlungen
diskreditiert wurde. Etwas mehr Sachverstand in der politischen Debatte hätte ich mir, offen gestanden, bereits in
der Vergangenheit oft gewünscht.
({1})
Ich bin mir aber sicher, dass wir mit den neuen Kollegen
aus allen Fraktionen, die zu uns gestoßen sind, in Zukunft einen besseren Kurs fahren können.
Wichtig ist uns von der FDP eine grundsätzliche Feststellung: Es sind und bleiben Menschen, die als Nutzer
in Einzelfällen kriminell oder illegal handeln, und dieser
Umstand kann nicht zu einem Generalverdacht gegenüber dem Medium oder den Nutzern führen.
({2})
Die FDP möchte den Fokus und den Blickwinkel erweitern und auch darüber sprechen, welchen Nutzen das InAydan ÖzoðuzAydan Özoğuz
ternet jedem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft zu
bieten hat. Das bezieht sich auf den privaten Bereich genauso wie auf das berufliche Umfeld. Aus Sicht der
FDP-Fraktion muss es darum gehen, die Chancen und
die Potenziale des Internets in den Mittelpunkt zu stellen
und die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Auch dazu brauchen wir diese EnqueteKommission.
Den vorliegenden Einsetzungsantrag brauchen wir
vor allem, um sicherzustellen, dass wir uns folgenden
konkreten Themen stellen: Wichtig ist, dass die Menschen sich ihrer Rechte und ihrer Verantwortung bei der
Nutzung des Mediums Internet bewusst sind, aber sie
müssen auch ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass der
Freiheitsgedanke dort zum Tragen kommt.
({3})
Wichtig ist ferner, dass wir im Bereich Medienkompetenz dafür Sorge tragen - da möchte ich gerne an die
Ausführungen der Kollegin von der SPD anschließen -,
dass die Nutzer eigenverantwortlich, bewusst und frei
entscheiden können, wo sie welche Daten publizieren.
Wir müssen aber auch das Bewusstsein dafür schärfen,
welche Gefahren im Internet vorhanden sind, dass andere mit diesen Daten Missbrauch treiben können. An
dieser Stelle stimme ich der Kollegin von der SPD völlig
zu. Diesbezüglich treffen Sie die Linie der Freien Demokraten: Die Schaffung von Medienkompetenz ist eine
wichtige Aufgabe, der wir uns in der Enquete-Kommission widmen möchten. Ich freue mich insofern auf die
Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Enquete-Kommission.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Das Internet hat in den vergangenen 15 Jahren unsere
Welt und unsere Gesellschaft verändert. Bis vor wenigen
Jahren haben auch in der Politik viele eher skeptisch auf
die Entwicklungen in der sogenannten virtuellen Welt
geschaut. Heute ist klar: Es gibt keine Trennung mehr
zwischen virtueller und realer Welt. Für fast 60 Prozent
der Deutschen ist ein Leben ohne Internet nicht mehr
vorstellbar. Es ist zum festen Bestandteil ihres realen Lebens geworden.
Das Netz hat dabei einen grundlegenden Wandel hinter sich. Es ist gestartet als eine eher technische Informations- und Kommunikationsplattform. Heute ist es eine
Lebensplattform, auf der grenzüberschreitend Menschen
zusammenfinden. Im Internet, auf dieser Plattform, werden Freundschaften gepflegt und geschlossen, Interessengemeinschaften bilden und organisieren sich dort,
und für Wissenschaftler und Unternehmen entstehen
ganz neue Formen der Kooperation und der Wertschöpfung. Davon können alle Beteiligten profitieren. Es ist
im Interesse eines starken Wissens- und Wirtschaftsstandorts Deutschland, dass wir vonseiten der Politik
diese Entwicklungen unterstützen.
({0})
Die Bevölkerung will, dass wir uns dieses Themas
vermehrt annehmen. Bei einer Umfrage des BITKOM
haben 60 Prozent angegeben, dass die Internetpolitik in
dieser Legislaturperiode ein wichtiges oder sehr wichtiges Thema sein soll. Gleichzeitig zweifelt aber eine
Vielzahl der Menschen daran - 44 Prozent waren es in
dieser Umfrage -, dass in der Politik der notwendige
Sachverstand dafür existiert.
Die Diskussionen der letzten Wochen haben gezeigt,
dass der Staat seine Rolle in der Informationsgesellschaft noch nicht richtig gefunden hat. Es ist deswegen
höchste Zeit, dass wir losgelöst vom Tagesgeschäft mit
Experten und mit der Öffentlichkeit darüber nachdenken
und diese Rolle genauer definieren.
({1})
Ich begrüße daher ausdrücklich den fraktionsübergreifenden Antrag zur Bildung dieser Enquete-Kommission.
Wir werden darin natürlich auch die Debatten der letzten
Wochen weiterführen. Das Internet ist ein freies Medium. Es lebt von der Freiheit. Wir wollen diese Freiheit
auch bewahren. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen:
Zur Freiheit gehört untrennbar ein Mindestmaß an Sicherheit.
({2})
Das Internet ist kein rechtsfreier Raum.
({3})
Der Staat muss auch in der Informationsgesellschaft
Mittel und Wege haben, wirkungsvoll gegen Kriminalität vorzugehen. Das sind wir unseren Bürgerinnen und
Bürgern schuldig.
Dabei haben Fragen des Datenschutzes für mich
oberste Priorität. Nicht der Staat, nicht ein Unternehmen,
sondern der Bürger selbst ist Eigentümer seiner persönlichen Daten.
({4})
Auch im Internet gilt das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung. Wir müssen die Bürger rechtlich,
technisch und bezüglich ihres Kenntnisstands in die
Lage versetzen, dort dieses Recht durchzusetzen. An
dieser Stelle ist nach meiner Ansicht der Unterschied
zwischen offline und online, dass der Bürger online, um
überhaupt teilhaben zu können, oftmals gezwungen ist,
seine persönlichen Daten preiszugeben. Es gibt Bürger,
die hier sehr freigiebig sind; das liegt primär in ihrer eigenen Verantwortung. Sie müssen aber auch über mögliche Konsequenzen ihres Tuns informiert werden. Auf
der anderen Seite gibt es Bürger, die übervorsichtig sind
und sich zum Beispiel nicht trauen, online ein Buch zu
kaufen.
Hier sind Staat und Wirtschaft gefordert, Vertrauen in
die Sicherheit des Netzes zu schaffen. Denn nicht nur an
dieser Stelle droht uns eine digitale Spaltung. Während
das Internet für viele zur Lebensplattform geworden ist,
sind es in der Gesamtschau nur 71 Prozent, die das Internet tatsächlich nutzen. Wir dürfen die anderen 29 Prozent nicht vergessen oder gar von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen.
({5})
Sie sehen: Es gibt viel zu tun. Wir werden den Auftrag des Deutschen Bundestages ernst nehmen und in
den kommenden zwei Jahren mit Experten und der interessierten Öffentlichkeit intensiv daran arbeiten. Ich
wende mich an dieser Stelle auch explizit an die Bürgerinnen und Bürger, die diesen Debattenbeitrag nicht live,
wie die Kollegen oder die vielen Besucher hier, verfolgen, sondern ihn online über das Internet, zum Beispiel
auf bundestag.de, abrufen. Dort wird in wenigen Wochen auch diese Enquete-Kommission mit einem Angebot vertreten sein.
({6})
Dort haben Sie die Möglichkeit, sich aktiv in unsere Arbeit einzubringen. Nutzen Sie auch diese Möglichkeit
des Internets und der politischen Beteiligung. Wir freuen
uns über jeden Beitrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Die Einsetzung dieser EnqueteKommission ist ein Meilenstein für dieses Haus und für
die Politik in Deutschland. Dort wird über sehr viele der
gesellschaftlichen Herausforderungen auf dem Weg in
die Kommunikationsgesellschaft des digitalen Zeitalters
diskutiert werden. Gerade im Bereich Medienkonvergenz tritt dies besonders deutlich zutage.
Medienkonvergenz ist ein eher dröges Wort für die
dominierende Entwicklung in unserem Alltag. Es geht
um Fragen wie: Was ist Fernsehen? Was ist Rundfunk?
Was ist Telefonie? Ist YouTube ein Fernsehsender? Ist
die Tagesschau eine Internetplattform? - Das gilt genauso für uns in diesem Haus; denn fast alle Kollegen
sind mittlerweile im Internet aktiv. Sie sind tätig als Herausgeber und Redakteure von Texten auf der eigenen
Homepage, als Reporter auf Twitter oder als Regisseure
online gestellter Videos. Die Grenzen sind schon jetzt
fließend, und die Entwicklung - Sie werden es ahnen ist längst nicht am Ende. Medienkonvergenz ist kein
Endzustand.
({0})
Die Funktionen von heute noch getrennten Geräten wie
Telefon oder Radio werden sich annähern und verschmelzen.
Die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten
und der bessere Zugang zu Informationen werden auch
einen positiven Einfluss auf unsere Demokratie haben.
Es wird eine deutlich größere Teilhabe der Bürgerinnen
und Bürger am politischen Geschehen geben. Die Interaktion zwischen Politikern und Bürgern und auch zwischen Herstellern und Verbrauchern ändert sich gerade
auf fundamentale Weise. Deshalb kann die Einsetzung
dieser Enquete-Kommission nur ein Startschuss für die
dringend notwendige politische Begleitung dieser Themen sein.
({1})
Ich freue mich ganz besonders, dass diesem Bundestag eine ganze Reihe neuer junger Abgeordneter mit
Kompetenz angehört. Herr Kollege Klingbeil, Kompetenz beweist man jedenfalls nicht, indem man bei der
Besetzung der Enquete-Kommission auf die Generation
Münzfernsprecher setzt. Wir setzen auf Abgeordnete,
die aus der Branche und der Community kommen.
({2})
Wir werden uns Gedanken machen, wie wir als Gesellschaft und als Gesetzgeber den technologischen Fortschritt und seine Auswirkungen dauerhaft beobachten
und, falls erforderlich, regelnd eingreifen. Wir brauchen
langfristig brauchbare Erkenntnisse und Positionen. Wir
können diese Enquete-Kommission schließlich nicht in
jeder Legislaturperiode neu einsetzen. Dieses Querschnittsthema verdient auch in diesem Haus seinen eigenen Platz.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Internet ist eine Kommunikations- und Informationsplattform, die in der Geschichte der Menschheit bisher
kein Vorbild kennt. Deshalb ist vieles, wie so oft bei
neuen Entwicklungen, für erfreulich viele Menschen erst
einmal sehr positiv. Sie gehen unvoreingenommen und
positiv an die Dinge heran. Das ist, wie ich glaube, eine
gute Sache. Aber neben dem Positiven und all den
Potenzialen gibt es im Zusammenhang mit dieser neuen
Informations- und Kommunikationsplattform auch Risiken und Gefahren. Diese will ich, wollen wir als Union
nicht in den Vordergrund stellen, aber wir wollen sie
auch nicht ausblenden.
({0})
Der Kollege Koeppen hat vorhin davon gesprochen, dass
wir Leitplanken brauchen; das ist ein richtiges und schönes Bild. Wir brauchen ein Leitbild - ich hoffe, wir können uns möglichst einvernehmlich darauf verständigen -,
und wir müssen hier und da gewisse Leitplanken setzen.
Mehr oder weniger freiwillig - die Kollegin hat darauf schon hingewiesen - werden heute im Internet von
vielen Leuten viele Informationen preisgegeben: beim
Onlinebanking, beim Einkaufen oder wenn sie Fotos ins
Netz stellen. Sie tun das manches Mal sicherlich auch,
ohne zu wissen, was alles mit ihren Daten passieren
kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der Vermittlung von Medienkompetenz vorankommen, einerseits
bei den jungen Leuten, andererseits aber natürlich auch
bei denen, die nicht mit dem Internet groß geworden
sind.
Als Sie, Herr Kollege, gerade die Generation Münzfernsprecher erwähnt haben, klang das für mich ein
bisschen negativ. So war es sicherlich nicht gemeint.
({1})
Aber Spaß beiseite: Bei vielen neuen technischen Entwicklungen ging es immer darum, auch die vielen mitzunehmen, die nicht mit dem Internet groß geworden sind.
Deswegen ist mir einerseits wichtig, junge Leute mit
Medienkompetenz auszustatten, aber andererseits eben
auch, diejenigen, die für sich bis jetzt noch nicht den
richtigen Zugang gefunden haben, mit Angeboten zu
versehen, damit sie den Einstieg finden und zumindest
teilweise die Chancen des Internets nutzen können.
({2})
Es wurde bereits angesprochen, dass wir im Bereich
Jugendmedienschutz eine ziemlich große Baustelle haben. Es gibt allerdings einige erfreuliche Entwicklungen.
fragFINN ist schon genannt worden. Ich halte dies für
ein tolles Projekt, auf dem man aufbauen kann und das
durch die Bundesregierung entsprechend vorangetrieben
wird. Aber da müssen wir eine ganze Menge mehr tun.
Deshalb will ich diesen Bereich der Enquete-Kommission bei ihrer Arbeit mit auf den Weg geben.
Ein Punkt, der bisher noch keine so große Rolle gespielt hat, obwohl ihn einige Kolleginnen und Kollegen
angesprochen haben, ist der Schutz des geistigen Eigentums. Wir haben aufgrund vieler Debatten in diesem
Hause gesehen, dass es hier durchaus eine Bandbreite an
Meinungen gibt. Unsere Sicht ist bekannt. Wir sind der
Meinung, dass im Bereich der neuen Medien und damit
auch im Internet der Schutz des geistigen Eigentums
- dort vielleicht mit anderen Mitteln - den gleichen Stellenwert haben muss wie außerhalb der neuen Medien,
({3})
weil uns ansonsten irgendwann ein Stück weit die Dynamik verlorengeht. Wenn wir das geistige Eigentum nicht
schützen, dann werden diejenigen, die in diesem Bereich
tätig sind, irgendwann wirtschaftlich an ihre Grenzen geraten, weil man dann von diesen Innovationen nicht leben kann.
({4})
Ein weiteres Thema, das wir in diesem Hause durchaus kontrovers diskutieren - ich will der Debatte hier
nicht aus dem Wege gehen, sondern sie im Gegenteil offensiv ansprechen -, ist die Aussage, die Kollege
Kretschmer vorhin traf: Im Internet gelten die gleichen
Rechte. Ich will es etwas anders formulieren: Es gilt das
gleiche Recht. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, wie wir mit Kinderpornografie, Extremismusdarstellungen, Gewaltverherrlichung und dergleichen mehr
umgehen, und hier zu ernsthaften Lösungen kommen.
Bisher ist es uns noch nicht gelungen, im Internet auch
nur ansatzweise einen vergleichbaren Schutz sicherzustellen wie außerhalb dieses Mediums. Das ist ein wichtiges Thema, bei dem wir meines Erachtens ein Stück
weiterkommen müssen. Die Position, gegen alles zu
sein, die so manch einer vertritt, ist mir jedenfalls etwas
zu einfach.
({5})
Der Arbeitsauftrag an die Enquete-Kommission, wie
ich ihn einmal definieren will, könnte lauten: Wie schaffen wir es, auf der einen Seite die Chancen zu nutzen,
ohne übermäßig einzuschränken und zu gängeln, aber
auf der anderen Seite auch die schützenswerten Rechte
nicht völlig außer Acht zu lassen?
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/950 mit
dem Titel Einsetzung einer Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zunächst abstimmen.
Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/951 zu? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPDFraktion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Jetzt kommen wir zum Einsetzungsantrag auf Drucksache 17/950. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dageVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer abmildern - ALG I befristet auf
24 Monate verlängern
- Drucksachen 17/22, 17/269 Berichterstattung:
Abgeordnete Katja Mast
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag
der Linken, in dem formuliert wird, dass der
Einbruch am Arbeitsmarkt geringer ist, als befürchtet.
Meine Damen und Herren von der Linken, worüber
diskutieren wir dann heute?
Unsere Maßnahmen zur Bewältigung der Krise haben
Wirkung gezeigt. Der große Einbruch am Arbeitsmarkt,
den einige Experten in düstersten Prognosen ausgemalt
haben, hat bisher nicht stattgefunden. Dies belegen die
Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Saisonbereinigt
sind die Zahlen angesichts der Krise sogar positiv zu bewerten. In Ostdeutschland liegt die Arbeitslosenquote
gegenwärtig bei 13,7 Prozent. Insgesamt sind 3,6 Millionen Menschen arbeitslos. Dies ist Ausdruck einer Arbeitsmarktpolitik mit Augenmaß, an der vor allem die
unionsgeführte Bundesregierung einen großen Anteil
hatte und hat.
({0})
Unsere Arbeitsmarktreformen haben gewirkt. Vor der
Krise nahm die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf knapp 3,2 Millionen ab. Im Februar 2010 sank
die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern gegenüber dem Vorjahresmonat sogar um 3,5 Prozent. Das
sind Erfolge, die Sie nicht wegdiskutieren können.
({1})
Diese Zahlen zeigen, dass wir in den zurückliegenden
Monaten durch die Einführung der Kurzarbeiterregelung, durch die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages auf 2,8 Prozent und durch die Verlängerung der Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer für ältere
Arbeitnehmer die richtigen Maßnahmen getroffen haben, um in der Krise Arbeitsplätze zu erhalten.
({2})
Ein Wort zur Kurzarbeiterregelung. Mit den Konjunkturpaketen I und II hat die unionsgeführte Bundesregierung die Weichen richtig gestellt. Daran haben Sie von
der SPD mitgewirkt.
({3})
Die christlich-liberale Koalition hat im November letzten Jahres die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld verlängert. Diese Maßnahme finanzieren wir aus dem Bundeshaushalt mit circa 1,5 bis 2 Milliarden Euro. Dadurch
unterstützen wir in der Krise Arbeitnehmer und mittelständische Betriebe dort, wo Hilfe gebraucht wird.
Die Bundesagentur für Arbeit hat jüngst mitgeteilt,
dass gerade kleine und mittelständische Betriebe die
Kurzarbeiterregelung nutzen. 15 Prozent der Unternehmen, die weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen, nutzen
die Kurzarbeiterregelung. Die Hälfte der Betriebe, die
zwischen 20 und 500 Mitarbeiter beschäftigen, nutzt die
Kurzarbeiterregelung. Von den großen Unternehmen
nutzt nur ein Drittel die Kurzarbeiterregelung. Die
christlich-liberale Koalition wird die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Arbeitsplätze der Arbeitnehmer in den mittelständischen Unternehmen erhalten bleiben.
({4})
Eine Verlängerung der Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer würde die schon zu hohen Lohnnebenkosten weiter ansteigen lassen. Die Linke macht in ihrem Antrag
keinen einzigen Vorschlag, wie diese Maßnahme gegenfinanziert werden soll. Eine Anhebung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages und somit die Gefährdung von
Hunderttausenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen wären die Folge.
({5})
Im letzten Wahlkampf hat die Linke mit dem Slogan
Reichtum für alle geworben.
({6})
Im Gegensatz zu Ihnen müssen wir verantwortungsvoll
handeln. Wir können keine leeren Versprechungen abgeben.
({7})
Mit der Verabschiedung des morgen auf der Tagesordnung stehenden Entwurfs eines SozialversicherungsStabilisierungsgesetzes werden wir Folgendes tun: Erstens. Die Beitragssätze und damit die Lohnnebenkosten
werden stabilisiert. Zweitens. Die Bundesagentur erhält
einen Bundeszuschuss, um ihre Mindereinnahmen auszugleichen. Drittens. Wir werden die Freibeträge für das
Altersvorsorgevermögen von 250 Euro auf 750 Euro je
vollendetem Lebensjahr erhöhen. Viertens. Außerdem
stärken wir die private Altersvorsorge.
Im Vergleich zu den Maßnahmen in anderen EU-Ländern haben unsere Maßnahmen zur Bekämpfung der
Krise Wirkung gezeigt. Darauf können und werden wir
uns nicht ausruhen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten sehr schnell wieder in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Ein Grund dafür ist die aktive
Arbeitsvermittlung. Ich möchte diese Gelegenheit heute
nutzen und mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BA und allen privaten Arbeitsvermittlern bedanken, welche mit großem persönlichen Einsatz tagtäglich
Menschen wieder in Arbeit bringen.
({8})
Mit Blick auf die demografische Entwicklung in den
nächsten Jahren können wir es uns nicht leisten, jüngere
Arbeitnehmer zu Hause zu lassen. Wir brauchen dringend Fachkräfte, vor allem in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen. Wir werden alles daransetzen
und entsprechend dem Bedarf auf unserem Arbeitsmarkt
verstärkt qualifizieren und ausbilden. Als nächste
schwierige Aufgabe steht die Neuordnung der Jobcenter
im SGB II vor uns. Dies ist eine große, wichtige und bedeutende Aufgabe. Die Betroffenen sollen ihre Leistungen ab dem 1. Januar 2011 in gewohnter Weise erhalten.
({9})
Wir lehnen den Antrag der Linken ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Kurzarbeit als breitere
und längere Beschäftigungsbrücke ist ein Erfolg. Ich
sage das, weil das schnell in Vergessenheit gerät, und
will auch daran erinnern, dass Gelb-Schwarz schlecht
beraten war, sie vorschnell zurückzubauen. Und wer hat
diese breite Beschäftigungsbrücke erfunden - ich frage
einmal wie in der Werbung -, Frau Brehmer, die uns in
Deutschland derart geholfen hat? Ich erinnere mich hier
doch gerne an den ehemaligen Bundesarbeitsminister
Olaf Scholz.
Der Wermutstropfen bei der Kurzarbeit ist natürlich,
dass alle, die kurzarbeiten, Lohneinbußen hinnehmen
müssen. Da ich glaube, dass es hier einige gibt, die sich
in den Details nicht so gut auskennen, will ich auf eines
hinweisen: Wenn wir über Kurzarbeit und Arbeitslosengeld I reden, besteht immer die Sorge, dass sich die
Kurzarbeit nachteilig auf das Arbeitslosengeld auswirken könnte. Ich will daran erinnern: Für Kurzarbeiter,
die Arbeitslosengeld I beziehen müssen, spielt die Höhe
des Kurzarbeitergeldes keine Rolle, da das Arbeitslosengeld auf der Grundlage ihres ursprünglichen Einkommens berechnet wird. Lohneinbußen zählen hier also
nicht. Das ist sehr wichtig.
Ich setze mich gerne mit dem Antrag der Linken auseinander, insbesondere mit der ersten Forderung. Ich
denke, wir haben morgen in der Debatte noch Gelegenheit, zu der Frage Stellung zu nehmen, wie haushaltsrelevant die zweite Forderung ist.
Meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie
übernehmen einen Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-BöcklerStiftung, greifen aus dieser klugen Analyse einen Teil
heraus und machen daraus einen Antrag. Sie wollen die
maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einheitlich auf 24 Monate verlängern und das Ganze bis zum
Jahresende 2012 befristen. Wer allerdings die kluge
Analyse des Instituts gelesen hat, der weiß, dass dies in
weitere Vorschläge eingebettet ist. Diese kommen in Ihrem Antrag nicht vor. Ich habe darin beispielsweise
nichts zum Umbruch und zur Neuausrichtung des Arbeitsmarkts gelesen. Ein Schwerpunkt der Analyse ist:
Wie sieht es mit den Branchen aus, in denen die Zukunft
der Arbeit liegt? Wie sieht es mit anderen Branchen aus,
in denen wir möglicherweise einen erheblichen Rückgang bei der Zahl der Arbeitsplätze zu verzeichnen haben? - Das Resultat ist - wir alle wissen das -: Wir brauchen Qualifizierung, Bildung und Weiterbildung, und
zwar in den Branchen, die zukunftsträchtig sind. Dazu
sagen Sie gar nichts. Sie kaprizieren sich auf die Bezugsdauer.
Wenn man sich genauer mit Ihrem Vorschlag befasst,
erkennt man, dass er erhebliche Ungerechtigkeiten birgt.
Ich will das kurz darlegen: Am meisten profitieren jene
Arbeitnehmer, die nur kurz Beiträge eingezahlt haben
und damit über eine geringe Anwartschaft verfügen. Sie
würden, folgte man Ihrem Antrag, sozusagen achtfach
die Gewinner sein. Ältere Arbeitnehmer ab 55 aufwärts
profitieren leider überhaupt nicht von Ihrem Vorschlag;
denn die Bezugsdauer ist für sie bereits heute so geregelt, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Das halte ich
nicht für ausgewogen; das kritisiere ich. In der Regel
- darauf beziehen Sie sich - geht man von einer Beschäftigungsdauer von zwei Jahren aus; nur dann würde
sich die Bezugsdauer verdoppeln.
Ich finde den Vorschlag, den der DGB gemacht hat,
viel interessanter. Dieser Vorschlag ist aus guten Gründen viel differenzierter. Demnach könnte es eine Lösung
sein, ein befristetes Überbrückungsgeld zu zahlen, und
zwar im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I,
für zwölf Monate und in voller Höhe des ALG I. Das
käme - so der DGB - für jeden vierten oder fünften Arbeitslosengeld-I-Bezieher infrage. Ich finde den Vorschlag interessant. Er enthält auch eine gute Empfehlung
für die Kostentragung: Steuerzahler und Arbeitslosenversicherung sollen die Kosten hälftig übernehmen.
In Wirklichkeit geht es um ein anderes Thema - ich
habe es schon angesprochen -: Wir müssen viel größeres
Augenmerk auf Qualifizierung und Weiterbildung in
Verbindung mit dem Bezug von Arbeitslosengeld I legen.
({0})
Da ist die Debatte in der SPD richtig; denn wir wählen
anders als Sie - das muss ich leider sagen - eine größere
Perspektive: Wir schauen über 2012 hinaus und schauen,
wie die Arbeitswelt von morgen und übermorgen sein
wird. Da gibt es eigentlich nur eine kluge Richtung: Der
Schlüssel zu guter Arbeit für morgen und für alle liegt in
Qualifizierung und Weiterbildung. Das ist unser Thema.
Es lässt sich hervorragend mit all dem verbinden, was
wir möglicherweise und klugerweise in Bezug auf das
Arbeitslosengeld ändern wollen.
Wir alle wissen, dass die betriebliche Weiterbildung
in Deutschland ein Sorgenkind bzw. Stiefkind ist: Die
Teilnehmerquote liegt bei nur 30 Prozent; das ist erbärmlich. Im europäischen Vergleich haben uns Österreich und Spanien längst überholt. Daraus folgt: Wenn
wir darüber reden, wie wir uns gut aufstellen, müssen
wir uns fragen, wie wir die Bereitschaft zur Weiterbildung fördern und was dabei der richtige Weg ist. Ich
kann nur sagen: In dieser Hinsicht gibt es gute Unterstützung von Arbeitsmarktexperten des IAB, die auch sagen,
dass wir die große Linie sehen müssen.
Die SPD hat dazu eine kleine Faustregel aufgestellt.
Sie heißt: zwei mal drei. Ich will sie gerne erläutern. Wir
wollen für jede und jeden den bestmöglichen Einstieg in
die Erwerbstätigkeit. In der Regel braucht man dafür
drei Jahre. Dies soll unter bestmöglichen Rahmenbedingungen stattfinden. Wir alle wissen aber, dass Erwerbsbiografien nicht mehr so ungebrochen sind, wie das einmal war. Deshalb sind wir der festen Überzeugung: Wir
brauchen im Erwerbsleben weitere drei Jahre, in denen
Weiterbildung und Qualifizierung ermöglicht und gefördert werden. Das ist eine Perspektive für Männer und
Frauen im Arbeitsleben. Diese Perspektive wollen wir
entwickeln.
({1})
Die SPD hat in der Debatte dazu verschiedene Vorschläge entwickelt. Manche sagen: Wir wollen eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I nur
dann gewähren, wenn der Bezug mit mindestens zwölf
Monaten Weiterbildung verbunden wird. Ich glaube, das
ist ein richtiger Einstieg; aber wenn wir ehrlich sind,
reicht es nicht. Wir reden auch über Weiterbildung und
Qualifizierung bereits im Job. Das heißt, es gibt viel zu
tun für diejenigen, die in Arbeit sind und diese halten
wollen. Es gibt viel zu tun für alle, die sich um betriebliche Weiterbildung kümmern. Das sind nicht zuletzt die
Gewerkschaften, die mit vielen Tarifabschlüssen dafür
gesorgt haben, dass wir den Einstieg geschafft haben.
Ich weise abschließend darauf hin, dass sich auch dieses Haus darum kümmern muss; denn wir müssen feststellen, dass die Unternehmen das offenkundig nicht von
alleine machen. Sie haben die SPD auf Ihrer Seite. Die
gute Nachricht für alle Bezieher von Arbeitslosengeld I
und II ist: Auch sie geben wir nicht auf. Auch ihnen gilt
unser Angebot: Steigt ein in Qualifizierung und Weiterbildung! Das ist die Perspektive, für die wir eintreten.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Aus Sicht der FDP-Fraktion kann ich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Wir werden Ihren
Antrag aus fünf Gründen ablehnen.
Der erste Grund ist, dass der Antrag von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die Arbeitslosigkeit wird weit
weniger dramatisch steigen als gedacht. Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Sie wissen so gut wie ich, dass
sich der Einbruch am Arbeitsmarkt im zweiten Halbjahr
2009 stabilisiert hat und dass wir im Januar 2010 saisonbereinigt sogar einen leichten Zuwachs bei den Arbeitsplätzen hatten. Alle Prognosen geben Anlass zur Hoffnung, dass wir im Jahresmittel vielleicht sogar unter
4 Millionen Arbeitslosen bleiben werden. Aber statt sich
darüber zu freuen, legen Sie veraltete Anträge vor. Ich
glaube, solchen Anträgen sollten wir nicht zustimmen;
wir sollten sie in die Tonne kloppen. Der Facharbeitermangel nach der Krise ist schon in Sicht. Das ist doch
auch eine gute Nachricht. Ihr Hinweis auf die drohende
Arbeitslosigkeit am Ende der Kurzarbeit geht insoweit
ins Leere.
Der zweite Grund bezieht sich auf Ihre Forderung, die
Defizithaftung des Bundes wieder einzuführen. Entsprechend geringer wird auch der Finanzbedarf sein. Die von
Ihnen genannten Zahlen sind längst überholt. Sie sprechen noch von einem Defizit von 55 Milliarden Euro
von 2010 bis 2013. Die aktuelle Prognose geht von
41 Milliarden Euro aus. Im Übrigen muss die Finanzierbarkeit nicht über die Wiedereinführung der Defizithaftung gesichert werden; denn sie ist jederzeit gesichert.
Sie wissen so gut wie ich, dass der Bund zu Liquiditätshilfen verpflichtet ist, aber eben als Darlehen.
({0})
Ich glaube, das ist eine gute Sache. Wenn Sie die Beratungen im Ausschuss verfolgt hätten, dann hätten Sie
mitbekommen, dass selbst der Chef der Bundesagentur,
Johannes Vogel ({1})
Herr Weise, gesagt hat, dass das Darlehen grundsätzlich
die sinnvollere Lösung ist,
({2})
weil es dazu anhält, sinn- und maßvoll mit den Mitteln
umzugehen. Das hat er so gesagt.
In einer Jahrhundertkrise, wie wir sie gerade erlebt
haben, in der durch das Kurzarbeitergeld zwangsläufig
höhere Kosten auf die BA zukommen, muss man Sonderlösungen finden. Das haben wir als Regierung mit
dem Sonderzuschuss getan. Darüber werden wir morgen
im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz nochmals beraten. Das ist der Ausdruck
dessen, dass wir in der Krise bereit sind, zu agieren.
Aber der BA langfristig einen Freifahrtschein auszustellen und zu signalisieren, dass es egal ist, ob das Darlehen
zurückgezahlt wird, weil der Bund für das Defizit haftet,
ist ein völlig falscher Weg, der selbst von der Bundesagentur abgelehnt wird.
Ein weiterer Punkt neben den falschen Voraussetzungen ist, dass wir es für besser halten, die Folgen der
Krise zu verhindern, statt sie abzumildern. Ziel muss
doch sein, Arbeitsplätze zu schaffen.
({3})
- Ja, Frau Pothmer, lassen Sie mich doch ausführen, was
wir tun. - Sie signalisieren, dass die Arbeitslosigkeit
nicht mehr so schlimm wäre, wenn wir die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes verlängern. Ich halte das für ein
völlig falsches Signal. Wir müssen vielmehr die bestehenden Arbeitsplätze sichern und neue schaffen, indem
wir Wachstum fördern. Das ist allemal sinnvoller, als die
Arbeitslosigkeit komfortabler zu gestalten.
({4})
Der dritte Grund, den Antrag abzulehnen, ist, dass er
neue Ungerechtigkeiten produziert. Mit welcher Begründung wollen Sie, wenn die Arbeitslosigkeit alle Menschen gleich hart trifft, heute ein Jahr Arbeitslosengeld,
morgen zwei Jahre und übermorgen wieder drei Jahre
Arbeitslosengeld gewähren? Das nimmt Ihnen niemand
ab. Das kann man auch niemandem vermitteln. Die
Menschen würden das zu Recht als ungerecht empfinden; insofern kann man das nicht machen. Man kann
niemandem vermitteln, warum jemand, wenn er zufällig
in einem bestimmten Zeitkorridor arbeitslos wird, anders
behandelt wird als derjenige, den dieses Schicksal davor
oder danach ereilt hat.
({5})
Der vierte Grund ist, dass wir meines Erachtens die
Mittel der Bundesagentur besser einsetzen müssen,
({6})
zum Beispiel für die Qualifikation. Sie haben selber ausgeführt, dass wir den Menschen Qualifikationsangebote
machen sollten.
Ich frage Sie: Woher wollen wir das Geld für die Qualifikation nehmen, wenn Sie den Beitrag für die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verbraten wollen?
({7})
Dies gilt ferner für die Verbesserung der Vermittlung;
denn auch das wird nicht kostenfrei gehen. Es geht
schließlich auch um das Verhältnis zwischen Arbeitsvermittlern und Arbeitslosen. An der Stelle ist es ebenfalls
nicht sinnvoll, das Geld für eine solche Maßnahme auszugeben.
Und schließlich gilt es für einen niedrigen Beitrag.
Ziel muss doch sein, den Beitrag langfristig stabil und
niedrig zu halten, da das die Lohnnebenkosten unten hält
und so neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Insofern
atmet Ihr Antrag den völlig falschen Geist. Sie wollen
nur Folgen abmildern. Sie machen sich zu wenige Gedanken darüber, wie wir aus der Krise herauskommen
und langfristig Arbeitsplätze schaffen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass man, wenn man
den parlamentarischen Beratungsprozess - Plenum,
Ausschuss, Plenum - ernst nimmt, zur Kenntnis nehmen
muss, dass der Antrag nicht nur von der Regierung, sondern auch im Ausschuss einhellig abgelehnt wurde. Alle
Fraktionen außer der Ihren haben diesen Antrag abgelehnt. Ich glaube, man sollte diese große Allianz von
Fachpolitikern ernst nehmen; es wird etwas dran sein.
Insofern sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob
Ihr Antrag nicht ganz durchdacht ist.
Wir von der Regierung werden richtigerweise andere
Dinge unternehmen, um die Krise abzumildern und den
Menschen Perspektiven zu geben. Als Erstes haben wir
notwendigerweise die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes verlängert, weil es das richtige Mittel ist, um Menschen in Beschäftigung zu halten. Weiterhin setzen wir
auf Wachstum, weil wir, liebe Frau Pothmer, nicht Hotels, sondern kleine und mittlere Unternehmen sowie Familien entlasten wollen.
({8})
Das ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum und auf
dem Weg aus dieser Krise.
({9})
Wir wollen außerdem die Abgabenbelastung und die
Steuerbelastung der Menschen niedrig halten; darüber
machen wir uns Gedanken. Wir wollen die Steuern weiter senken und den Sozialstaat so ausgestalten, dass sich
der Weg in den Arbeitsmarkt durch bessere Zuverdienstmöglichkeiten lohnt und dass nicht der Verbleib in der
Arbeitslosigkeit befördert wird.
Ich finde, Ihr Antrag ist für Ihre Verhältnisse insgesamt
ungewöhnlich konsistent; das muss man sagen. Gewöhnlich ist allerdings in meinen Augen die vollkommen verfehlte Zielsetzung. Sie verschlimmern die Situation und
wollen dies konsequenterweise durch die Wiedereinführung der Defizithaftung finanzieren. Der Unterschied ist:
Johannes Vogel ({10})
Sie wollen die Arbeitslosigkeit verwalten. Wir wollen sie
bekämpfen. Anstatt an den vermeintlichen Folgen herumzudoktern, nehmen wir die Herausforderung ernst und
schaffen neue Perspektiven und neue Arbeitsplätze für
die Menschen. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat Sabine Zimmermann für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Vogel, welche Arbeitsplätze wollen Sie
schaffen? Welche Arbeitsplätze haben Sie geschaffen?
Das waren nur Arbeitsplätze im Minijobbereich und im
Midijobbereich, also im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Das ist Ihr Slogan. Wir hatten beim
Arbeitslosengeld I einst eine Bezugsdauer von 32 Monaten. Das ist mein erster Punkt.
({0})
Nun zu meinem zweiten Punkt. Frau Brehmer, wenn
man Ihnen so zuhört, dann denkt man, die Welt sei in
Ordnung. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Realität
wesentlich anders aussieht. Sie müssen einmal in einen
Betrieb gehen und sich sachkundig machen, wie es den
Menschen geht. Ihr Slogan ist nicht Reichtum für alle,
sondern Mehr Armut in diesem Land. Das ist bedenklich.
({1})
Was wir hier im Moment erleben, ist eine unerträgliche und verlogene Sozialhetze durch die FDP und ganz
konkret durch Herrn Westerwelle. Daran sind auch Sie
beteiligt, Herr Vogel.
({2})
Es werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem niedrigen Lohn gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem guten Tarif ausgespielt. Arbeitsplatzbesitzer werden gegen Erwerbslose aufgehetzt; das
kann es einfach nicht sein. Der Grund ist aus meiner
Sicht, dass Sie offensichtlich einen weiteren Sozialabbau
vorbereiten.
({3})
Unser Antrag, der heute zur Abstimmung steht - ich
gehe davon aus, dass Sie ihm alle zustimmen -,
({4})
geht natürlich in die andere Richtung. Wir wollen den
Sozialstaat und die Arbeitslosenversicherung stärken,
und das im Interesse von Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern. Worum geht es? Im Zuge der Wirtschaftskrise verlieren Hunderttausende ihren Job. Nicht
wenige rutschen wegen fehlender Jobs nach einem Jahr
vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV. Das ist eine Politik,
die Sie alle betrieben haben. Deshalb sind Sie von SPD,
FDP, CDU/CSU und Grünen sich auch alle einig. Das ist
bedenklich, und das werden wir als Linke verhindern.
({5})
Deshalb wollen wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I krisenbedingt - die Betonung liegt auf krisenbedingt - von derzeit 12 Monaten auf 24 Monate
verlängern.
Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel. Ein Kollege, Metaller, 48 Jahre, aus Baden-Württemberg, arbeitete bis zum März letzten Jahres in einem Automobilzuliefererbetrieb. Die Krise hat ihn voll erwischt. Er besaß
einen Arbeitsvertrag, der nur befristet war. Das Unternehmen hatte leichtes Spiel und hat ihn sofort entlassen.
Die Aussichten auf einen neuen Job - das wissen Sie alle sind sehr schlecht. Bis sich die Automobilbranche wieder erholt, werden noch Monate vergehen. Das Fazit ist:
Dem Kollegen droht jetzt der Absturz in Hartz IV; denn
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben,
aber soweit sie nicht älter als 50 Jahre sind, erlischt ihr
Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach zwölf Monaten,
und sie erhalten nur Arbeitslosengeld II. Genau das ist
ungerecht, und dagegen wehren wir uns.
({6})
Diese Regelung ist ein Produkt Ihrer Hartz-IV-Gesetze;
denn davor richtete sich die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I stärker nach der Zahl der Versicherungsjahre.
Es sind keine Einzelfälle. Im letzten Jahr gingen monatlich 20 000 Menschen direkt vom Arbeitslosengeld I
in das Arbeitslosengeld II, und die Tendenz ist steigend.
Dieser schnelle Absturz in Hartz IV verängstigt Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Unser Vorschlag ist einfach: Wir wollen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I krisenbedingt von 12 auf 24 Monate
verlängern. Machen Sie endlich eine Politik, damit die
Menschen nicht ärmer werden! Nehmen Sie ihnen die
Angst vor der Armut!
Danke für die Aufmerksamkeit.
({7})
Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Brigitte
Pothmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Brehmer, lieber Herr Vogel, die Krise auf dem Arbeitsmarkt ist entgegen dem, was Sie hier formuliert haben, noch lange nicht vorbei.
({0})
Die Arbeitslosenzahlen steigen, und sie werden in den
nächsten Monaten noch weiter ansteigen. Das wahre
Ausmaß der Unterbeschäftigung ist deutlich größer, als
es die offiziellen Arbeitslosenzahlen vermuten lassen. In
Deutschland fehlen im Moment mehr als 5 Millionen
Vollzeitarbeitsplätze. In dieser zugespitzten Situation
müsste eine Regierung alles, aber auch alles tun, um vorhandene Arbeitsplätze zu sichern und die Entstehung
neuer Arbeitsplätze anzuregen.
({1})
In dieser Situation müssten Sie alles, aber auch alles tun,
um vor allen Dingen diejenigen bestmöglich zu unterstützen, die einen Arbeitsplatz suchen. Das heißt vor allem
langfristige Qualifizierung. Was tut Ihr Außenminister,
Herr Vogel? In dieser arbeitsmarktpolitisch schwierigen
Situation bricht er eine Hetzkampagne gegen Arbeitslose
vom Zaun.
({2})
Ich persönlich hätte eigentlich erwartet, dass die Kanzlerin wirklich mehr als eine Stilkritik äußert, dass sie sich
ohne Wenn und Aber von ihrem Außenminister abgrenzt
und sich vor die Geringqualifizierten und die Arbeitslosen stellt. Das hat sie nicht getan.
({3})
Ich kann daher nur sagen: Shame on you!
({4})
Was Sie in dieser Krise, die auch eine Strukturkrise
ist, tun sollten, wäre, Konzepte für Innovationen und zukunftstaugliche Arbeitsplätze vorzulegen. Wir brauchten
von Ihnen Konzepte für Aus- und Weiterbildung. Der
letzte Tag der Krise - damit haben Sie, Herr Vogel, ausnahmsweise recht - ist der erste Tag des Fachkräftemangels. Aber, lieber Herr Vogel, wo bleiben denn Ihre Konzepte, um Fachkräfte tatsächlich vorzuhalten?
({5})
Frau Zimmermann, Sie liegen mit der Beschreibung
der Arbeitslosenproblematik nicht ganz falsch. Aber Sie
können doch nicht allen Ernstes glauben, dass bei einer
Problembeschreibung dieser Kategorie, der Sie nicht widersprechen, die einfache Verlängerung der Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I eine richtige und angemessene
Lösung ist. Die reine Verlängerung der Bezugsdauer
passiver Leistungen ist keine hinreichende Antwort.
Ich frage Sie: Was ändert sich qualitativ tatsächlich
für einen 55-jährigen Arbeitslosen, wenn er sechs Monate länger Arbeitslosengeld I erhält? Das bringt ihn einem Arbeitsplatz keinen Millimeter näher. Was wir ihm
anbieten müssen, ist Qualifizierung. Sie wissen genauso
gut wie ich, wie schnell Arbeitslosigkeit dequalifiziert.
({6})
Ich finde es wirklich schade, dass Sie außer der Verlängerung der Bezugsdauer von Transferleistungen wenig anzubieten haben.
Frau Pothmer, Frau Zimmermann möchte Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?
Ja, bitte.
Bitte.
Vielen Dank. - Frau Pothmer, nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir hier nicht über die 55-Jährigen, sondern die
bis 50-Jährigen reden, also die unter 50-Jährigen? Um
diese Menschen geht es. Wenn jemand zum Beispiel
zehn Jahre eingezahlt hat, bekommt er trotzdem nur
zwölf Monate lang Arbeitslosengeld I. Uns geht es darum, dass dieser Mensch 24 Monate lang Arbeitslosengeld I beziehen kann.
Ich frage Sie: Meinen Sie, dass es einem Menschen,
der nach zwölf Monaten vom Arbeitslosengeld I sofort
in Hartz IV abstürzt, besser geht, als wenn er 24 Monate
Arbeitslosengeld I beziehen würde? Was denken Sie darüber?
Frau Zimmermann, wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass nach Ihren Vorstellungen ein 55-Jähriger weniger lange Arbeitslosengeld I beziehen soll? Das meinen
Sie doch nicht wirklich. Wir müssen dann auch dem
55-Jährigen länger Geld geben.
({0})
Frau Zimmermann, die Anstrengungen, die wir unternehmen müssen, bestehen darin, Menschen wieder in
Arbeit zu bringen. Die Umsetzung Ihres Vorschlages
würde unglaublich viel Geld verschlingen und brächte
uns einer qualitativen Lösung keinen Millimeter näher.
Deswegen müssen unsere Anstrengungen in eine andere
Richtung gehen, Frau Zimmermann. Das denke ich darüber.
({1})
Was ich an Ihrem Antrag übrigens auch problematisch finde, ist die Tatsache, dass die Grundsicherungsempfänger davon überhaupt nicht profitieren. Die wahre
Herausforderung, der wir uns zu stellen haben, ist, Menschen nicht in Dauerarbeitslosigkeit zu entlassen. Was
wir machen müssen, ist, sie für die Umsetzung neuer, innovativer Produktideen und eine ökologisch ausgerichtete Wirtschaft zu gewinnen.
Ich will Ihnen sagen, worauf wir setzen. Wir Grüne
setzen auf regionale und weiterbildungsorientierte
Transfergesellschaften. Transfergesellschaften geben
den Menschen eine finanzielle Absicherung und bieten
ihnen Qualifizierung und Beschäftigung. Kurzarbeit und
Transfergesellschaften sind arbeitsmarktpolitische Konzepte, die Beschäftigungsfähigkeit erhalten und wirksam
vor einem Abgleiten in die Grundsicherung schützen.
Die reine Ausweitung passiver Leistungen eröffnet überhaupt keine Perspektive. Das ist der Grund, warum wir
Ihren Antrag ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Paul Lehrieder.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!
Werte Kollegen! Wir haben vor einigen Wochen hier im
Plenum über einen Antrag der Linkspartei zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beraten und
diskutiert. Dieser Antrag datiert vom 10. Februar; das
Urteil ist vom 9. Februar 2010. Man hatte den Eindruck:
Die Tinte war noch nicht trocken, da haben Sie Ihren
Antrag schon geschrieben, oder er war schon vorgefertigt.
Heute ist es genau umgekehrt. Wir stimmen über einen Antrag vom 10. November 2009 ab, in welchem Sie
ausführen:
Der Einbruch am Arbeitsmarkt ist geringer, als befürchtet wurde. Dies ist auf die stabilisierende Wirkung des verlängerten Kurzarbeitergeldes zurückzuführen.
Frau Kollegin Lösekrug-Möller hat bereits auf die Voraussetzungen dafür, die wir seinerzeit noch in der Großen Koalition schaffen konnten, hingewiesen. Nicht nur
Olaf Scholz, sondern auch wir haben daran mitgewirkt.
Viele der derzeit von Kurzarbeit Betroffenen sind
aktuell von Arbeitslosigkeit bedroht, haben Sie am
10. November 2009 geschrieben.
Mittlerweile dürfen wir feststellen, dass zum Glück
- dafür gebührt den kleinen und mittelständischen Unternehmen ein ganz besonderes Lob - sehr viele Unternehmen das Instrument der Kurzarbeit länger und ausgiebiger nutzen, als wir es uns bei seiner Einführung vorstellen
konnten. Allen Unternehmen gebührt Respekt, die uns
trotz Auftragsflaute geholfen haben, das Tal nicht so tief
werden zu lassen, wie es uns noch vor Jahresfrist alle
Wirtschaftsinstitute prognostiziert haben.
({0})
Der eine oder andere ist vielleicht noch im Besitz alter
Tageszeitungen von Januar und Februar 2009. Wenn
man sich die damaligen Prognosen für die heutige Zeit
anschaut, sieht man, dass uns kein einziges Institut unter
4 Millionen Arbeitslose gesehen hat. Durch die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes haben
wir eine viel geringere Delle in der Wirtschaft und im
Arbeitsmarkt erlitten, als wir es noch vor einem Jahr befürchtet haben.
Jetzt legen Sie in Ihrer allumfassenden Weisheit einen
Antrag vor, in dem Sie unter Punkt II.2 fordern, dass
die Finanzbasis der Bundesagentur für Arbeit unverzüglich und nachhaltig gestärkt wird. Was haben wir
bei den Haushaltsberatungen denn gemacht? - Wir haben 16 Milliarden Euro nicht als Darlehen, sondern als
Zuschuss gewährt; darauf hat der Kollege Kober bereits
hingewiesen. Zu Ihrem Punkt II würden wir im Petitionsausschuss sagen: Abschluss, weil teilweise entsprochen wurde.
Unter Punkt II.1 fordern Sie, unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für alle Anspruchsberechtigten befristet bis 2012 auf 24 Monate erhöht. Schauen wir uns
doch einmal die jetzige Rechtslage an. Derzeit bekommt
ein 58-Jähriger bis zu 24 Monate ALG I, wenn er
36 Monate Vorversicherungszeit in den letzten fünf Jahren hat. Für einen 58-Jährigen bringt Ihr Antrag also
schon einmal gar nichts. Hinsichtlich der 50- bis 55-Jährigen haben Sie, Frau Kollegin Zimmermann, ausgeführt, dass wir ihnen die Angst vor der Armut nehmen
sollen. Ich frage Sie: Ist einem 50-Jährigen die Angst vor
der Armut genommen, wenn er ein Jahr länger ALG I
bezieht, oder ist ihm die Angst genommen, wenn er eine
Chance hat, wieder einen Job zu bekommen? Das Geld,
das Sie in die Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer stecken wollen, müssen wir - auch darauf hat die Kollegin
Lösekrug-Möller zutreffend hingewiesen - woanders
wieder einsparen. Wir können den Menschen doch nicht
im Gegenzug ein Stück weit die Vermittlungstätigkeit
vorenthalten und statt Arbeit Arbeitslosigkeit finanzieren. Diese Entwicklung, Frau Kollegin Zimmermann,
geht in die falsche Richtung.
({1})
Deshalb können, wollen und werden wir Ihrem Antrag
nicht zustimmen.
Die nächsten Monate werden zeigen, dass wir gerade
die Facharbeiterqualifikation von älteren Menschen ganz
anders zu betrachten haben, als es in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Wir werden froh sein, wenn auch
ältere Menschen in Lohn und Brot bleiben und weiterhin
zur Verfügung stehen.
Für jüngere Arbeitnehmer, also diejenigen unter
50 Jahren, beträgt die Anspruchsdauer tatsächlich zwölf
Monate, allerdings bereits seit Inkrafttreten des Arbeitsförderungsgesetzes - man höre und staune - am 1. Juli
1969. Ihr Antrag geht irrtümlicherweise davon aus, dass
ein möglichst langer Arbeitslosengeldbezug ein Garant
für sozialen Frieden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn
jemand bereits im zweiten Jahr ALG I bezieht, kann er
davon ausgehen, dass er noch weniger vermittelbar ist
als im ersten Jahr. Wir sind sehr froh, dass es uns gelingt,
einen Großteil der ALG-I-Bezieher wieder in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen.
({2})
Auch dafür gebührt den Agenturen für Arbeit sowie den
Argen, die im Bereich des ALG II dafür zuständig sind,
ein ausdrückliches Wort des Dankes. Sie bemühen sich,
Arbeitsplätze zu schaffen und ihrer Vermittlungsaufgabe
nachzukommen.
Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Zimmermann zu?
Ja, Frau Zimmermann, bitte.
Verehrter Herr Kollege Lehrieder, ich habe eine ganz
kurze Frage: Wo, bitte schön, sind die Millionen von Arbeitsplätzen, die wir für unsere hohe Zahl von arbeitslosen Menschen brauchen?
Anders als die Linkspartei glaubt, sind Millionen von
Arbeitsplätzen keineswegs staatlich zu garantieren. Sie
fordern letztendlich einen öffentlichen Arbeitsmarkt, der
steuerfinanziert aufgebaut werden müsste.
({0})
Wir müssen den Unternehmen die Möglichkeit geben,
diese Arbeitsplätze hier zu schaffen, und zwar für alle
Lohngruppen. Es geht hier eben nicht nur um den Bereich der Hochqualifizierten. Unsere Kanzlerin hat die
Aussage getroffen: Die Krise bietet die Chance, aus ihr
besser aufgestellt herauszukommen, als wir in sie hineingegangen sind, wenn wir die richtigen Bereiche fördern. Ich denke an Elektromobilität und die regenerativen Energien; da haben die Grünen in den letzten Jahren
gut mitgewirkt. Wir haben schon die Chance, der Welt
auch in Zukunft Produkte anzubieten und so wieder zu
dem Exportweltmeister zu werden, der wir in den letzten
Jahren waren. Ob wir das mit dem Export großkalibriger
Autos erreichen werden, das mag dahingestellt sein.
Natürlich müssen wir auch Arbeitsplätze schaffen.
Wir haben in diesem Haushalt - das, Frau Zimmermann,
haben Sie sicherlich gemerkt - den Bereich Bildung,
Entwicklung und Forschung ausgeweitet, ganz einfach
deshalb, weil wir, wenn wir im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben wollen, auch in Zukunft
gute, unserem Lebensstandard entsprechende, hochwertige Produkte herstellen müssen, die wir weltweit exportieren können. In dieser Hinsicht müssen wir die Unternehmen unterstützen. Da können wir einiges tun. Da
entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft. Unsere Ziele erreichen wir nicht mit staatlichem Dirigismus und VEBs,
wie es sie früher einmal gegeben hat.
({1})
Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung und keine Ansparversicherung. Das Ziel muss sein,
Arbeitsplätze zu schaffen; ich habe bereits darauf hingewiesen. Die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes sollte so
kurz wie möglich sein. Der Ansatz, die Vermittlungstätigkeiten zu intensivieren, ist der bessere. Es kann nicht
angehen, dass wir einfach nur den Verbleib im ALG I
verlängern. Wir sollten vielmehr gemeinsam mit der
Agentur für Arbeit über eine Verstärkung der Vermittlungstätigkeiten im ALG-I-Bereich versuchen, sowohl
die Qualifizierten als auch die Nichtqualifizierten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse
zu bringen. Begleiten Sie uns auf diesem Weg, Frau Kollegin Zimmermann; dann sind wir nahe beieinander. Mit
Ihrem Antrag erreichen wir nicht das, was Sie wollen. So
nehmen wir den Menschen nicht die Angst vor der Armut.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abmildern - ALG I befristet
auf 24 Monate verlängern. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/269, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/22 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Fraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Grütters, Tankred Schipanski, Albert Rupprecht
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({1}), Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Bologna-Prozess vollenden - Länder und
Hochschulen weiter unterstützen
- Drucksache 17/905 Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Thomas Rachel.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Gemeinsame Ziele, vergleichbare Strukturen in
Europa, aufeinander aufbauende Hochschulabschlüsse,
gemeinsame Instrumente der Qualitätssicherung, dies alParl. Staatssekretär Thomas Rachel
les beschreibt den europäischen Hochschulraum. Mit
dem Bologna-Prozess sind wir dieser Vision ein gutes
Stück nähergekommen.
({0})
Viele junge Menschen profitieren davon. Wir sehen
aber auch, dass es an vielen Stellen hakt und die Umsetzung nicht überall so problemlos verläuft, wie wir uns
das erhoffen. Bei der Bologna-Jubiläumskonferenz in
Budapest und Wien wird es deshalb - neben der Zufriedenheit mit bereits Erreichtem - um eine kritische Auseinandersetzung mit offenbar gewordenen Defiziten in
der konkreten Umsetzung gehen müssen. Grundlage für
die Bewertung werden die Ergebnisse einer unabhängigen Evaluation durch ein internationales Konsortium
von Hochschulforschern sein sowie Studien der am Bologna-Prozess beteiligten Studierenden und Hochschulorganisationen.
Wo stehen wir? Der überwiegende Teil der 46 Bologna-Länder hat die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Es wurden in allen Ländern gestufte Studienstrukturen eingeführt, mit einem ersten
Abschluss nach drei oder vier Jahren und einem zweiten
nach einem oder zwei weiteren Jahren. Hier in Deutschland wurden bereits 79 Prozent aller Studiengänge auf
Bachelor und Master umgestellt. Zwischen den Staaten
gibt es noch Unterschiede in der Umsetzung. Bisher hat
es noch kein Land geschafft, alle Vorgaben zu erfüllen.
Ich denke, eine so tiefgreifende Reform braucht auch ein
wenig Zeit.
Ich habe in den vielen Gesprächen in den letzten Monaten vor allem zwei Dinge gelernt:
Erstens. Ich habe mit vielen Studierenden gesprochen.
Dabei hat sich mein Eindruck bestätigt, dass die ganz
überwiegende Mehrheit die Ziele der Bologna-Reformen
unterstützt. Das zeigen auch die aktuellen Umfragen:
Drei Viertel der Studierenden unterstützen die Ziele der
Bologna-Reformen.
({1})
Zweitens. Die Umsetzung der Reformen kann und
muss verbessert werden. Als Allererstes nenne ich die
Frage der Studierbarkeit. Hier muss es Verbesserungen
geben. Außerdem müssen Mobilitätshindernisse, national wie international, ausgeräumt werden. Schließlich
müssen wir für eine noch breitere Akzeptanz des Bachelors sorgen. Es geht also um konkrete Maßnahmen vor
Ort, an der einzelnen Hochschule, die den Studienalltag
der Studierenden unmittelbar betreffen.
Ich bin sehr froh, dass die Kultusministerkonferenz
und die Hochschulrektorenkonferenz erste Schritte unternommen haben, um die konkreten Studienbedingungen vor Ort zu verbessern. Ich nenne die Neufassung der
Ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen. Wir
als Bundesregierung unterstützen diesen Veränderungsprozess. In dieser Legislaturperiode wird der Bund
12 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung ausgeben. Das ist einmalig in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Was ist seit 1999, seit Beginn des Bologna-Reformprozesses, geschehen? Es gibt mehr Bewegung, mehr
Mobilität: Hier in Deutschland hat sich die Zahl der Studierenden, die einen Abschnitt ihres Studiums im Ausland durchführen, nahezu verdoppelt. Wir möchten, dass
noch mehr Studierende einen studienbedingten Auslandsaufenthalt wahrnehmen. Deshalb wird die Bundesregierung einen Mobilitätspakt auf den Weg bringen, mit dem
wir dieses Vorhaben durch Individualstipendien unterstützen, Hochschulkooperationen verstärken und JointDegree-Programme einführen.
({3})
Wir wollen aber zusätzlich gemeinsam mit den Bundesländern den Hochschulpakt um eine dritte Säule in
Form eines Qualitätspakets Lehre ergänzen. Weiteres
Personal für die Hochschulen ist das eine; Zentren für
Studium und Lehre, die neue Impulse zur Professionalisierung und Qualitätssicherung der Lehre an den Hochschulen geben sollen, sind das andere. Der Bund ist bereit, für diese dritte Säule des Hochschulpakts in den
nächsten zehn Jahren 2 Milliarden Euro zusätzlich zur
Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein gutes Signal
an die Hochschulen in Deutschland.
({4})
Wir werden dies jetzt gemeinsam mit den Ländern besprechen und dann Verhandlungen über eine Bund-Länder-Vereinbarung aufnehmen.
Bei der Nationalen Bologna-Konferenz am 17. Mai
werden wir Bilanz über die Umsetzung und den Stand
der eingeleiteten Korrekturen ziehen. Wir werden gemeinsam mit den Studierenden, den Hochschulen und
den Ländern den weiteren Fahrplan für den BolognaProzess vereinbaren.
({5})
Wir alle spüren doch: Die deutsche Hochschullandschaft
ist so in Bewegung wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Erstmalig haben wir eine Studienanfängerquote von
43 Prozent. Das ist Rekord in der deutschen Geschichte.
Ich finde, das ist positiv.
({6})
Der schon von der vorherigen Bundesregierung auf
den Weg gebrachte, aber jetzt von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung verstärkte Hochschulpakt
zeigt sehr viel schneller Wirkung, als wir erwartet haben.
Bereits über 100 000 zusätzliche Studienplätze sind geschaffen worden; das sind mehr, als für den jetzigen
Zeitpunkt vorgesehen war.
({7})
Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass
wir die Chancen der auszubildenden jungen Menschen
ernst nehmen. Wir möchten, dass sie am Hochschul2404
standort Deutschland beste Ausgangsbedingungen bekommen. Wir sehen auch mit Freude, dass unsere Hochschulstandorte für Studierende aus der ganzen Welt
attraktiv sind. Die Bundesrepublik Deutschland steht
hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle hinsichtlich der Zahl ausländischer Studierender.
({8})
Nur das, was sich verändert, kann langfristig Bestand
haben. Das sage ich auch denen an den Hochschulen, die
sich noch schwertun, weil sich manches eben gegenüber
dem, wie es in den letzten 20 bis 30 Jahren war, ändert.
Aber die deutschen Hochschulen haben auch eine
Chance, nämlich die Chance, sich als Teil des europäischen Hochschulraums zu verstehen. Das heißt, sie müssen die internationalen Ansprüche und Erwartungen
auch erfüllen. Die Partner in anderen am Bologna-Prozess beteiligten Ländern achten darauf. Die Hochschulen
müssen sicherstellen, dass die Studierenden in unserem
Lande auf der Basis einer guten Lehre und unter den
richtigen Studienbedingungen hervorragend ausgebildet
werden. Das muss das gemeinsame Anliegen von uns allen sein.
({9})
Meine Damen und Herren, uns verbindet in der christlich-liberalen Koalition,
({10})
dass wir gemeinsam dafür arbeiten möchten, dass noch
mehr junge Menschen auf dem beruflichen Sektor, aber
auch in der Hochschullandschaft insgesamt qualifiziert
ausgebildet werden. Deutschland braucht mehr gut ausgebildete Menschen. Gemeinsam mit den Bundesländern, den Studierenden und den Hochschulen wollen wir
diesen Hochschulstandort noch attraktiver und leistungsfähiger machen.
Herzlichen Dank.
({11})
Jetzt hat der Kollege Swen Schulz das Wort für die
Fraktion der SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im
Hochschulbereich eine ganze Menge Probleme; das haben die Studierendenproteste gezeigt. Aber auch unser
Fachgespräch zur Umsetzung des Bologna-Prozesses,
das wir neulich im Ausschuss geführt haben, hat deutlich
gemacht, dass wir einen erheblichen Handlungsbedarf
haben. Alle Experten haben das gesagt. Und so erwarten
die Bürgerinnen und Bürger, die Studierenden und die
Lehrenden eine kraftvolle Initiative der Regierungskoalition.
Ich habe gerade Staatssekretär Rachel zugehört. Er
hat eine ganze Menge salbungsvoller Worte gesagt; aber
nichts steckt dahinter.
({0})
Wenn man sich den Antrag Bologna-Prozess vollenden, den die Regierungskoalition vorgelegt hat, einmal
durchliest, kann man nachgerade depressiv werden.
({1})
Es fängt damit an, dass Sie das Problem verharmlosen.
Da wird gesagt:
In Deutschland ist die Umsetzung der Bologna-Reformen weit vorangeschritten.
Wesentliche Ziele
der Reform sind bereits jetzt erreicht
({2})
Dann sprechen Sie davon, dass die Zahl der Studienabbrecher an Universitäten von 24 auf 20 Prozent zurückgegangen sei. Das stimmt. Aber dass die Quote der Studienabbrecher an den Fachhochschulen im gleichen
Zeitraum von 17 auf 22 Prozent gestiegen ist, das kommt
bei Ihnen nicht vor.
({3})
Dann kommen Sie doch zur Kritik und schreiben:
Die vergangenen Studentenproteste haben verdeutlicht, dass die Bologna-Reform an einigen Hochschulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten
konnte.
({4})
Hui, ist das kritisch! Was für eine realistische Problemsicht!
({5})
Dann begrüßen Sie umfangreich unterschiedliche angebliche Aktivitäten der Bundesregierung:
Der Deutsche Bundestag begrüßt
das Bekenntnis
der Bundesregierung,
die Bereitschaft der
Bundesregierung,
die Absicht der Bundesregierung,
- was haben wir hier noch? Noch einmal: die Absicht der Bundesregierung,
die Einladung
der Bundesbildungsministerin
An einer Stelle werden Sie allerdings konkret und
forsch. Sie sprechen nämlich von dem Bologna-Gespräch am 12. April 2010. Es ist dumm gelaufen: Das
Gespräch ist am 17. Mai. Sogar Sie sind also von der
Schlafmützigkeit Ihrer Ministerin überrascht worden.
({6})
Wenn ich mir den Katalog dessen ansehe, was Sie an
der Bundesregierung begrüßen, dann stelle ich fest, dass
noch fehlt, dass Sie die Ministerin dafür abfeiern, dass
Swen Schulz ({7})
sie morgens ins Büro geht und dem Pförtner Guten Morgen wünscht.
({8})
Es schließen sich dann Aufforderungen vollkommen
ohne Belang und - noch viel länger und ausführlicher Appelle an die Länder, die Hochschulen und die Wirtschaft, also an die Adresse von anderen, an. Meine sehr
verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, das ist ideenlos, harmlos, folgenlos. Das bringt uns
nicht weiter.
({9})
Dass Ihnen das selbst ein bisschen peinlich ist, merkt
man schon daran, dass Sie über diesen Antrag hier direkt
abstimmen lassen wollen und ihn nicht erst, wie das normalerweise der Fall ist, in die Ausschussberatung überweisen und dann noch einmal im Plenum über ihn diskutieren lassen wollen. Das Ding soll vielmehr schnell weg
in die Rundablage. Das ist keine ernsthafte parlamentarische Arbeit, sondern ein Witz. Das geht so nicht.
({10})
Es wäre aber alles nicht so schlimm, wenn Sie nicht
noch die guten Anträge und die guten Initiativen von uns
ablehnen würden. Das fing bei der CDU/CSU schon in
der Großen Koalition an. Da haben Sie unseren Vorschlag zur Einführung eines Studienpakts blockiert.
Unseren Antrag zur Förderung guter Lehre haben Sie
ebenfalls abgelehnt. Nach vielen Protesten und Diskussionen kommt Bildungsministerin Schavan um die Ecke
geschlichen und spricht von einem Qualitätspakt
Lehre, für den 2 Milliarden Euro innerhalb von zehn
Jahren vorgesehen sind. Aber was passiert konkret?
Nichts. Im Haushaltsplan für 2010 sind im entsprechenden Titel 2 Millionen Euro vorgesehen. So viel zu den
2 Milliarden Euro. Unseren Antrag im Ausschuss, diesen Titel deutlich aufzustocken, haben Sie auch noch abgelehnt. Das ist wirklich schwach von der Regierungskoalition.
({11})
Wir wollen erreichen, dass jährlich 1 Milliarde Euro
mehr in gute Lehre und in die Hochschulen investiert
wird. Machen Sie das, stimmen Sie dem zu, anstatt hier
so eine Wischiwaschi-Nummer abzuziehen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Professor
Dr. Martin Neumann.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Lieber Kollege Schulz, was Sie eben geboten
haben, war sehr dünn; das muss ich an dieser Stelle sagen.
({0})
Lassen Sie mich aus eigener beruflicher Erfahrung darüber reden, an welchen Punkten Sie oberflächlich über
Dinge hinweggehen und Verunsicherung schüren, die im
Volk vorhanden ist. Ich sage Ihnen: Wir sind auf dem
richtigen Weg. Sie waren bei der Anhörung des Ausschusses dabei. Dort hat Frau Professor Wintermantel,
die Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz vieles
gesagt, was Sie offensichtlich nicht hören wollten.
Ich werde auf einige Dinge eingehen. Sie hat unter
anderem gesagt, dass wir mit dem Bologna-Prozess eine
der tiefgreifendsten Reformen im deutschen Hochschulsystem seit 200 Jahren vorangebracht haben.
({1})
Bologna ist gut für Studierende. Bologna ist gut für
Deutschland und auch für Europa.
({2})
- Wir werden es ordentlich machen. Sie haben elf Jahre
lang Zeit gehabt, etwas zu tun. Sie haben nichts getan.
Sie haben das Geld in Autos gesteckt und nicht in die
Bildung.
({3})
Meine Damen und Herren, wir reden über die Qualität
der Vermittlung von Wissenschaft in Lehre und Forschung. Wir sprechen auch über Qualitätsansprüche. Es
gibt eine ganze Menge dazu zu sagen, wie man die Qualität an bestimmten Stellen erhöhen kann. Mit Ihren
Worten verunsichern Sie wieder nur die Diskussion. Eines muss klar sein: Bologna ist und bleibt ein Prozess
zur Verbesserung von Organisation und Zusammenarbeit
in Forschung und Lehre in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen.
Der Antrag von Union und FDP hat deshalb die Zielstellung, den Bologna-Prozess zu qualifizieren und weiterzuentwickeln, und zwar gemeinsam mit den Ländern
und den Hochschulen. Sie erwecken den Eindruck, als
ob der Bund in die Autonomie der Hochschulen eingreifen will. Das wollen wir nicht. Wir wollen die Gestaltungskraft der Hochschulen fördern und begleiten.
({4})
Die Proteste der Studierenden Ende letzten Jahres haben
die Notwendigkeit deutlich gemacht.
Dr. Martin Neumann ({5})
Ihr Kollege Zöllmer war gestern bei einem Forum
- ich war auch Gast, Sie waren nicht dort - und hat erzählt, dass er Studentenproteste beobachtet hat, bei denen im Hörsaal sieben Studierende anwesend waren.
Man hat sie nicht weggetrieben, sondern man hat versucht, eine Diskussion zu führen. Reden Sie mit Ihren
Kollegen.
({6})
- Ich auch. Ich bin jede Woche an der Hochschule. Ja, so
ist das.
Wir müssen neben den kritischen Punkten, die ich
nicht unterschlagen möchte, das Positive hervorheben.
Das mache ich an dieser Stelle und sage Ihnen - um die
Verunsicherung abzubauen -: 80 Prozent der Studiengänge an deutschen Universitäten und Fachhochschulen
sind auf Master und Bachelor umgestellt.
({7})
Die Arbeitsmarktakzeptanz der ersten Bachelorabsolventen ist überwiegend gut, die Zahl der Studienabbrüche geht seit den Bologna-Reformen signifikant zurück.
({8})
Die Verkürzung der Studienzeit auf durchschnittlich
9,6 Fachsemester ist ein guter Anfang.
({9})
Deutlich wird aber auch - das sage ich aus beruflicher
Erfahrung -: Wir leiden unter der jahrelangen Unterfinanzierung des Hochschulsystems. Das ist kein Problem, das erst im Zuge des Bologna-Prozesses entstanden ist, sondern das war auch schon vorher da.
({10})
Wir haben zu geringe Investitionen in Personal- und
Sachausstattung. Die Reform wurde damals von RotGrün beschlossen, aber auch schon damals nicht mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet.
({11})
Darin begründet sich eine Vielzahl von Kritikpunkten,
liebe Frau Burchardt, Sie wissen es besser. Ich habe Listen von Studierendenräten bekommen, die mir das bestätigt haben. Genau das sind die Punkte, über die wir hier
sprechen. Wir brauchen - das sage ich deutlich - eine
bessere Lehre und mehr Personal für die Betreuung der
Studierenden,
({12})
zum Beispiel Professuren mit Schwerpunkt auf Lehre
usw.
Die Koalition wird sich deshalb - das will ich an dieser Stelle betonen - sehr intensiv mit folgenden Aspekten beschäftigen und Lösungsansätze anbieten:
({13})
Notwendig ist eine verbesserte Studienfinanzierung.
({14})
- Darüber werden wir reden. Es gibt entsprechende Anträge. Das wissen Sie.
Wir brauchen auch eine verbesserte Studienberatung.
Hier gilt es - das ist ganz wichtig -, Verunsicherung abzubauen.
({15})
- Wir werden darüber reden. Lassen Sie uns das doch
ganz konkret besprechen.
Die HIS-Studie befasst sich auch mit dem Thema Stipendien, über das Sie gerne diskutieren. Sie haben gesehen, dass an den Hochschulen mit Studiengebühren die
Zulassungszahlen und die Studienqualität steigen. Es ist
wichtig, das einmal hervorzuheben.
({16})
- Ich glaube nicht, dass wir das verwechseln.
Wir brauchen weniger verschulte Studienordnungen;
das haben wir schon gesagt. Das ist aber eine Aufgabe
der Hochschulen.
Überlegenswert - das sage ich auch aus eigener Erfahrung - ist ein bundesweites Tutorenprogramm zur
besseren Betreuung der Studierenden. Warum? Weil Studierende eine Anlaufstelle in der Hochschule brauchen;
das muss nicht immer der Professor sein. Das kann man
sicherlich gut organisieren, und das kostet vielleicht gar
nicht so viel Geld.
Wir brauchen eine verbesserte Mobilität. Wir erreichen dies durch eine größere Vergleichbarkeit der Studiengänge. Deshalb beziehen wir die Hochschulen ein
- das kann und muss man den Hochschulen zugestehen und fordern von ihnen eine bessere Nutzung der vorhandenen Spielräume hinsichtlich der Dauer von Studiengängen usw.
Wir brauchen regelmäßige Bewertungen der Qualität
der Lehre und eine Veröffentlichung der Ergebnisse der
Qualitätseinschätzungen.
({17})
- Wir werden das in dem Programm umsetzen; das habe
ich gerade gesagt.
Weil meine Redezeit zu Ende geht, sage ich:
Dr. Martin Neumann ({18})
({19})
Im Bund und in den Ländern werden wir uns um den
Aufbau und die Finanzierung zusätzlicher Studienplätze
kümmern. Wir werden uns um den Bologna-Qualitätsund Mobilitätspakt kümmern und die Qualität des Studiums sowie die Mobilität der Studierenden verbessern.
Das nationale Stipendienprogramm hat zum Ziel
- lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal sagen -,
10 Prozent der Studierenden ein Stipendium zu geben
({20})
und das BAföG zu novellieren, um letztendlich ein gesamtes Paket zur Studienfinanzierung zu haben.
Meine Damen und Herren, wir stecken nicht Geld in
alte Autos, sondern in mehr Bildung.
({21})
Wir machen unsere Hausaufgaben. Wir gehen fest davon
aus, dass die Länder wie die Hochschulen ihren Beitrag
leisten werden, damit der Bologna-Prozess ein Erfolg
wird. Der Bologna-Prozess ist ein Baustein der Bildungspolitik. Die nächsten Schritte gehen wir gemeinsam mit den Verantwortlichen am 17. Mai 2010 beim
Bologna-Gipfel.
Ich bedanke mich.
({22})
Für die Fraktion Die Linke hat Nicole Gohlke das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess in der Tat über
den radikalen Umbau der Hochschulen. Im Zuge dieser
Reform wurde natürlich auch über viele positive Ziele
diskutiert, unter anderem über das schon genannte Ziel
der internationalen Mobilität. Dass wir heute über Fragen der sozialen Durchlässigkeit oder über Demokratisierung diskutieren können, haben wir vor allem den
Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zu
verdanken.
({0})
Wenn man sich die Umsetzung der Bologna-Reform
ansieht, muss man feststellen, dass es der Regierung,
dass es Ihnen vor allem um zwei Ziele geht. Mit Ihren
Worten gesagt, sind das internationale Wettbewerbsfähigkeit und die sogenannte Beschäftigungsfähigkeit,
also die Verwertbarkeit der künftigen Absolventinnen
und Absolventen. Der Bologna-Prozess ist untrennbar
verbunden mit der Lissabon-Strategie, in der die europäischen Regierungen ihre Absicht dargelegt haben, bis
2010 die USA und den asiatischen Raum wirtschaftlich
zu übertrumpfen. Zur Lissabon-Strategie gehört auch,
die Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Steuern zu erhöhen. Die Hochschulreform sollte also noch dazu so
gut wie nichts kosten. Diese drei Ziele zusammengenommen - verbissene Elitebildung, maximale wirtschaftliche Verwertbarkeit der Absolventinnen und Absolventen sowie rigoroser Sparzwang - haben nicht nur
zu Murks geführt,
({1})
die Verwirklichung dieser Ziele musste für Studierende,
Forschende und Lehrende zum Albtraum werden.
({2})
Sparzwang bedeutet mehr Geld für die einen und
zwangsläufig weniger Geld für die anderen. Die bevorzugte Ausstattung weniger ausgewählter Hochschulen
im Zuge der Exzellenzinitiative ist mit der Deklassierung der meisten anderen Hochschulen verbunden. Es
handelt sich um einen Selektionsprozess zwischen den
Hochschulen. Um diesen in Gang zu bringen, wurden
die Forschenden entmachtet: in den Hochschulgremien
und über die Abhängigkeit von Drittmitteln. Der Wettbewerb der Hochschulen untereinander in Form von Rankings, Ausschreibungen und Akkreditierungen absorbiert inzwischen weitgehend deren Leistungsfähigkeit.
Es trifft genauso die Lehre. Bachelorstudiengänge
sollen große Mengen von Studierenden möglichst
schnell durch voll ausgelastete Hörsäle schleusen und
sind so konzipiert, dass den Studierenden genau so viel
Wissen vermittelt werden soll, wie für ihre spätere Verwertbarkeit benötigt wird. Anwesenheits- und Leistungskontrollen sollen die Studierenden dabei auf Trab
bringen. Ganze Wissensgebiete wurden dafür in kleine,
gut abrufbare Bildungshäppchen zerlegt.
({3})
Genau deshalb bietet der Bachelor - entgegen Ihren Behauptungen - keine guten Berufschancen. Er hat nicht
nur ein Imageproblem, das man mit einer Marketingkampagne beheben könnte, er ist de facto eine Bildungskürzung. Bachelorabsolventinnen und -absolventen
wünschen sich etwas anderes als billige und einseitige
Qualifizierung.
({4})
Solche Institutionen sind keine Hochschulen, sind
keine Universitäten mehr. Für selbstbestimmtes Lernen
und kritisches Reflektieren, für die Entfaltung der Persönlichkeit und für die Einbeziehung in die Forschung
ist kein Platz mehr. Die Regierungen der letzten Jahre
haben letztendlich daran mitgewirkt, dass der Bildungsbegriff auf wirtschaftliche Bedürfnisse verengt wurde
und dass anstelle des Allgemeinwohls die Interessen von
Unternehmen zum Maßstab für die Umgestaltung der
Hochschule gemacht wurden. Das ist ein politischer
Skandal.
({5})
Wir fordern das Recht auf eine gute wissenschaftliche
Bildung für alle Studierenden, und zwar an einer Hochschule, in der sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden zugleich Forschende sind und an der die Lehrenden
gesicherte Arbeitsverträge haben. Sie aber wollen viele
Studierende zu einem Studienabbruch in Form eines Bachelors zwingen.
({6})
Durch amtliche Vorgaben, durch eine Quote soll vorab
festgelegt werden, wie viel Prozent eines Jahrgangs als
begabt genug gelten, um zum Masterstudiengang zugelassen zu werden. Einen absurderen Begabungsbegriff
kann man sich nicht vorstellen.
({7})
Die Linke unterstützt die Studierenden in ihrer Forderung nach einem Recht - nicht der Pflicht - auf einen anschließenden Masterstudiengang für alle. Wir hoffen,
dass wenigstens SPD und Grüne sich dieser Forderung
anschließen können.
Vielen Dank.
({8})
Kai Gehring hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Hochschulbereich steckt definitiv voller Baustellen;
das ist in der bisherigen Debatte sehr deutlich geworden.
Da helfen auch keine Schönwetterreden von Herrn
Rachel und auch keine Schmalspuranträge der Koalition,
wobei man ja schon fast anerkennen muss, dass Sie sich
überhaupt auf einen gemeinsamen Antrag haben verständigen können.
({0})
Die Zwischenbilanz der Bologna-Reform lässt sich
kurz zusammenfassen: Ziele weitgehend gut, Umsetzung vielerorts schlecht. Das muss man so deutlich sagen. Die Vision eines europäischen Hochschulraumes
muss man verwirklichen, statt sich davon zu verabschieden, wie es zum Beispiel die Linke offensichtlich tut.
Man muss jetzt die Probleme der Studierenden und der
Hochschulen konkret lösen; das ist das Entscheidende.
Ich hatte beim ersten Lesen des Antrags ein bisschen
das Gefühl: Bei CDU/CSU und FDP gibt es fast einen
Sinneswandel oder Lerneffekt. Sie schreiben:
Die vergangenen Studentenproteste haben verdeutlicht, dass die Bologna-Reform an einigen Hochschulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten
konnte.
Da kann ich nur sagen: Aufgewacht und mitgemacht!
Sie sind ja einen kleinen Schritt weiter. Glückwunsch,
dass Sie die Studierendenproteste nicht mehr runtermachen
({1})
nach dem Motto: Das ist gestrig oder sie als eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen, wie Sie es im
Parlament getan haben. Dazu kann man nur sagen: Das
weckt ein bisschen Hoffnung, dass Sie nach einer mehrjährigen Phase des Schönredens vielleicht endlich in der
Bologna-Realität ankommen. Dazu wird es im zehnten
Bologna-Jahr höchste Zeit.
({2})
Das war mein erstes Gefühl, als ich den Antrag gelesen habe. Dann habe ich weitergelesen
({3})
und gemerkt: Das ist ein Dokument der Unverbindlichkeit und der Konzeptionslosigkeit. Sie drücken sich in
Ihrem Antrag völlig um die Frage herum, wie die
Bologna-Reform künftig gegenfinanziert werden soll.
({4})
Uns allen ist klar, dass die Reform unterfinanziert ist.
Jetzt werden 12 Milliarden Euro für Bildung und Wissenschaft in dieser Legislatur versprochen. Dann hätten
Sie mindestens 3 Milliarden Euro im Haushalt 2010 einstellen müssen. Davon sind Sie sehr weit entfernt. Sie
hangeln sich von einem Schwarzer-Peter-Spiel zum
nächsten Sperrvermerk, dann gibt es wieder Vorbehalte
hinsichtlich des Bologna-Gipfels und des Bildungsgipfels. Man fragt sich: Was sagen eigentlich die Länder
dazu? Wollen die Länder zustimmen? Gehen sie mit
oder nicht?
Sie schreiben in Ihrem Antrag, bei Arbeitgebern herrsche Skepsis gegenüber den neuen Bachelor-Abschlüssen. - Es ist schön, dass Sie das feststellen. Aber was ist
Ihre Lösung? Was wollen Sie dagegen tun? Wie ist Ihre
Strategie, das zu ändern?
({5})
Dieser Fakt ist extrem wichtig.
({6})
An einer anderen Stelle Ihres Antrags habe ich zuerst
ein bisschen geschmunzelt, aber dann habe ich mich erschrocken. Sie schreiben: Wir fordern die Bundesregierung auf, die deutschen Erfahrungen mit der Umsetzung
des Bologna-Prozesses auf europäischer Ebene einzubringen, um den Bologna-Prozess weiterzuentwickeln.
({7})
Das ist Kabarett. Dazu kann ich nur sagen: Bloß nicht!
({8})
Ihre Aufgabe wäre, die Best-Practice-Erfahrungen anderer Bologna-Länder zu studieren, anstatt sich mit dem,
was Sie in Deutschland tun, auf europäischer Ebene zu
blamieren.
In Deutschland ist die Anerkennungsquote katastrophal. Nur 41 Prozent der im Ausland erworbenen Studienleistungen werden hierzulande anerkannt. Das ist ein
ganz konkretes Problem der Studierenden. Die Koalition
sagt dazu kein Wort und hat auch keine Lösung. Wir haben mehrfach gefordert: Prüfen Sie doch endlich, ob
man eine Mobilitäts- und Anerkennungsgarantie einführen kann,
({9})
damit man die derzeitige Praxis umkehrt und sagt: Jeder,
der im Ausland etwas geleistet hat, kann danach in
Deutschland weiterstudieren. - Damit würde man eine
große Mobilitätshürde nehmen.
({10})
Dazu, dass Universitäten mittlerweile untereinander Vereinbarungen treffen, mit dem Ziel, wechselseitig ihre
Abschlüsse anzuerkennen, kann ich nur sagen: Hier wird
die Bologna-Idee ad absurdum geführt. Für dieses Problem müssen Sie eine Lösung finden.
({11})
Wir wollen mehr Freiräume für die Studierenden:
mehr Freiräume für Auslandsaufenthalte, Praktika, studentische Nebenjobs und für Engagement. Dabei muss
man ganz konkrete Zeit- und Mobilitätsfenster im Studium einbauen und festschreiben. Außerdem muss man
die vorhandene Überstrukturierung abbauen: durch Entfrachtung der Studienordnungen an den Universitäten,
weniger Prüfungen und weniger Anwesenheitspflichten.
Der Workload muss also runter, und die Studierbarkeit
muss rauf. Das muss die Maßgabe sein, auch bei KMKVerabredungen.
({12})
Wir wollen, dass diese Studienstrukturreform endlich
in eine Qualitäts- und Lehrreform mündet. Die Ankündigungen von Frau Schavan klingen ganz gut. Ich bin gespannt, welche Vorschläge sie tatsächlich auf den Tisch
legt. Allein, mir fehlt der Glaube. Ich rede mir hier seit
Jahren den Mund fusselig und weise immer wieder darauf hin, dass wir im Rahmen des Hochschulpakts endlich eine Qualitätsoffensive brauchen. Wenn Sie dieses
Thema wirklich anpacken, kann ich nur sagen: Die Opposition hat gewirkt.
({13})
Was all die Baustellen, auf denen Sie nicht handeln,
betrifft, werden wir nicht lockerlassen. Dazu gehört auch
die soziale Dimension von Bologna. Die haben Sie in Ihrem Antrag nicht einmal erwähnt. Außerdem müssen Sie
für eine größere Durchlässigkeit beim Übergang vom
Bachelor zum Master sorgen.
Herr Kollege.
Sie dürfen diesen Übergang nicht durch Quote und
Note zum Nadelöhr machen, sondern müssen Studienplätze und damit mehr Bildungschancen für die junge
Generation schaffen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Unionsfraktion spricht Tankred Schipanski.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser
Antrag mit dem Titel Bologna-Prozess vollenden Länder und Hochschulen weiter unterstützen ist ein begleitender Antrag zur internationalen Bologna-Konferenz, die in Kürze in Wien und Budapest stattfindet, und
zum Bologna-Gespräch am 17. Mai dieses Jahres; das
Datum wurde in unserem Antrag in der Tat noch nicht
ausgetauscht. Da es sich um einen begleitenden Antrag
handelt, muss man ihn auch nicht extra im Ausschuss
behandeln. Zudem ist er nicht schmal. Ich habe die
Freude, Ihnen jetzt in sechs Minuten zu erklären, was in
diesem Antrag steht, weil Sie das anscheinend noch immer nicht verstanden haben.
Unser Antrag ist eine Zwischenbilanz der BolognaReform, und zwar eine reale Zwischenbilanz, im Gegensatz zu dem, was die Kollegin von der Linkspartei ausgeführt hat. Ich weiß nicht, wo Sie studiert haben und
wo Sie leben. Die Bilder, die Sie gezeichnet haben, habe
ich allerdings überhaupt nicht verstanden. Das war völlig utopisch.
({0})
Unsere Zwischenbilanz, die Sie in unserem Antrag lesen
können, wurde in der jüngsten EFI-Studie und in der Bologna-Studie der Universität Konstanz bestätigt. Der
Grundtenor ist: Wir sind mit Bologna auf dem richtigen
Weg in die Bildungsrepublik Deutschland.
({1})
Es gilt aber, in der Feinsteuerung gewisse Herausforderungen zu bewältigen.
Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bildungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Für Bildungspartnerschaften braucht man ein konstruktives gemeinsames
Wirken.
Bologna hat zu einem neuen Hochschulsystem geführt, Bologna bedeutet strukturiertes Lernen in der
Hochschule. Wir wollen mit diesem Antrag den Geist
von Bologna in der Gesellschaft festigen, wir wollen
Verständnis wecken, an die Beteiligten appellieren, wir
wollen die Botschaft von Bologna stärker vermitteln und
in das Bewusstsein der Beteiligten bringen, und wir wollen in der Öffentlichkeit über unser neues Hochschulsystem richtig informieren.
Die Expertenkommission Forschung und Innovation bescheinigt uns in der jüngsten Studie: Wir sind auf
einem guten Weg. Das betrifft die Geisteswissenschaften, bei denen wir große Erfolge bezüglich der Strukturierung und der geringen Abbrecherquote haben.
({2})
Das betrifft die Verkürzung der Studienzeit, das betrifft
die Akzeptanz der Abschlüsse in der Wirtschaft, und das
betrifft die hohe Studierendenzahl.
Aber wir haben auch Korrekturbedarf; dies bestreitet
überhaupt niemand von uns. In den MINT-Fächern haben wir Nachholbedarf, und wir haben Nachholbedarf
bei der Selektion. Man muss die Selektionsprozesse früher ansetzen bzw. frühere Leistungskontrollen einführen.
({3})
Die EFI-Studie, aus der ich zitiere, nennt die Kernprobleme beim Namen: Die Lerninhalte sind im Zuge der
Reform kaum verändert worden. Das ist ein Kritikpunkt, der im Verantwortungsbereich jeder Hochschule
liegt, und zwar dort im Verantwortungsbereich der Lehrenden.
({4})
Bologna ist ein neues Hochschulsystem und umfasst
neue Hochschulabschlüsse. Viele Hochschulen, speziell
die Lehrenden, haben die Lehrinhalte bzw. die Stoffmengen in zu geringem Maße geändert. Auf dieses Dilemma
haben uns die Studenten bei ihren Protesten zu Recht
hingewiesen, nicht die zuständigen Akkreditierungsagenturen.
({5})
Herr Schipanski, der Kollege Gehring würde Ihnen
gern eine Zwischenfrage stellen.
Dann soll er das mal tun.
Ganz herzlichen Dank für die Möglichkeit, nachfragen zu dürfen. Ich traute meinen Ohren nicht, als Sie gerade wohl tatsächlich formulierten: Wir müssen die Selektionsprozesse früher ansetzen. Können Sie bitte
einmal erläutern, was Sie damit konkret meinen?
Das ist ein Zitat aus der EFI-Studie. Es geht darum,
dass man checken muss, ob jemand für einen Studiengang geeignet oder nicht geeignet ist. Selbstverständlich
muss man sich bemühen, dies nicht erst im sechsten Semester festzustellen, sondern nach Möglichkeit im zweiten Semester.
({0})
Meine Damen und Herren, vielleicht darf ich fortfahren: Wir erweitern unseren Hochschulpakt um eine dritte
Säule, nämlich das Qualitätspaket für gute Lehre - genau, wie es im Koalitionsvertrag steht. Wir arbeiten dabei an zwei Handlungslinien, nämlich einem gemeinsamen Programm für eine bessere Betreuung für
Studierende. Stichworte hierfür sind Tutoren, Mentoren,
Beratung und Anerkennung guter Lehrleistungen. Zudem schaffen wir Didaktikzentren, so wie es der Wissenschaftsrat vorgeschlagen hat. Hierbei geht es um die Entwicklung von Lehrstandards und um Schulungen.
Entgegen den Behauptungen, die hier aufkamen, stellt
der Bund ab 2010 bis 2020 dafür 2 Milliarden Euro zur
Verfügung. Selbstverständlich erwartet er auch eine angemessene Beteiligung der Länder. Gespräche hierüber
laufen bereits; Staatssekretär Rachel hat darauf hingewiesen.
({1})
Meine Damen und Herren, Ziel des Bologna-Prozesses ist ein gemeinsamer europäischer Hochschulrahmen;
die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse wurde hier
angesprochen. Somit ist es also Ziel, Mobilität zu schaffen und die Beschäftigungsfähigkeit der europäischen
Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Insbesondere die
Studenten wollen Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Mobilität und ein grenzüberschreitendes Ausbilden. So sagt
es das Grünbuch der Europäischen Union. Daher hat die
christlich-liberale Koalition im Koalitionsvertrag ein
Mobilitätspaket angekündigt. Dazu zählen zwei Maßnahmen, an denen wir zurzeit arbeiten, zum einen daran,
Studien- und Prüfungsleistungen konsequent anzuerkennen, und zum anderen daran, die finanzielle Ausstattung
der Studenten zu verbessern, und dies mit unserem Dreiklang von BAföG-Erhöhung, nationalem Stipendiensystem und Bildungssparen.
Meine Damen und Herren, unser heutiger BolognaAntrag benennt drei Handlungsfelder - hätten Sie den
Antrag richtig gelesen, dann hätten Sie das auch verstanden -, drei Punkte, an denen wir Bologna erfolgreich
weiterentwickeln müssen. Das sind erstens die Lehrqualität, zweitens die Mobilität und drittens die Akkreditierungen, also das Qualitätsmanagement.
Gegenwärtig sind die Akkreditierungsagenturen so
ausgestaltet, dass sie nur den Istzustand erfassen, aber
die Universitäten nicht begleiten, nicht verbessern, nicht
evaluieren. Eine ganz zentrale Forderung unsererseits in
diesen Bologna-Gesprächen lautet: Wir brauchen einheitliche, bundesweite Kriterien für die Akkreditierungsagenturen, eine kontinuierliche Begleitung und ein Qualitätsmanagement an unseren Hochschulen.
Abschließend darf ich feststellen: Der Bologna-Prozess ist, wie das EFI-Gutachten sagt, auf einem guten
Weg. Wir setzen auf Weiterentwicklung, und zwar genau
auf diesen drei Handlungsfeldern Lehrqualität, Mobilität
und Qualitätsmanagement. Mit diesem Dreiklang wird
die christlich-liberale Koalition den Bologna-Prozess erfolgreich weiterentwickeln.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal: Ich freue mich, dass auch die Regierungsfraktionen auf der Tagesordnung des Deutschen
Bundestages mit eigenen Anträgen vertreten sind, zumal
bei einem solch wichtigen Thema, wie es die Umsetzung
des Bologna-Prozesses zweifellos ist.
Die SPD bekennt sich zu den Zielen der Bologna-Reform. Vergleichbarkeit und Mobilität in einem europäischen Hochschulraum sind und bleiben die richtigen
Vorhaben. Dahinter gibt es kein Zurück.
Gleichzeitig verändert diese Reform die Studienrealität der knapp 2 Millionen Studierenden in Deutschland
und der Lehrkräfte an den Hochschulen ganz erheblich.
Gerade weil diese Reform so tiefgreifend ist, lohnt es
sich, genau hinzuschauen. Nicht zuletzt die Proteste Tausender Studierender haben deutlich gemacht, dass dies
dringend nötig ist.
({0})
Die Probleme liegen auf der Hand: Neben der mangelhaften Vergleichbarkeit der Studiengänge - selbst zwischen einzelnen Bundesländern -, neben der zum Teil
schlechten Umsetzung der Bologna-Reformen, neben
der Überfrachtung von Studiengängen und neben Problemen bei der Lehramtsausbildung tritt eines immer
wieder zutage: Die Hochschulen im ganzen Land sind
unterfinanziert und können erstklassige Lehre, wie sie
die Bachelor-/Master-Studiengänge benötigen, nicht leisten. Hier ist substanzielles und aktives politisches Handeln gefragt.
({1})
Was tut die schwarz-gelbe Koalition in ihrem vorliegenden Antrag? Sie lobt, sie bittet, und sie appelliert butterweich, als sei alles in bester Ordnung. Nach der
Lektüre Ihres Antrages nehme ich Ihnen maximal ein
klein wenig Problembewusstsein ab. Alles andere wäre
nach den Studierendenprotesten der letzten Monate, die
ja nicht zu übersehen waren, auch ein Wunder. Den Willen, das Mögliche zu tun, wirkliche Tatkraft erkenne ich
in diesem Antrag nicht. Wo bleiben die konkreten Maßnahmen zu einer wirklich erfolgreichen Umsetzung des
Bologna-Prozesses? Dabei läge das Notwendige auf der
Hand - und wurde vom Wissenschaftsrat und vielen anderen auch so formuliert -: Wer die Lehre im System
Bachelor/Master qualitativ verbessern will, muss der
Unterfinanzierung entgegenwirken und Maßnahmen ergreifen, um die Betreuung, aber auch die Betreuungsrelation zu verbessern.
({2})
Wer will, dass mehr Menschen studieren, muss mehr
Studienplätze in bester Qualität bereitstellen. Ohne ein
breit angelegtes Programm wird das kaum zu bewältigen
sein. Werte Koalitionäre, wenn Sie wirklich an einer
signifikanten Verbesserung der Zustände interessiert
sind, dann unterstützen Sie den Vorschlag der SPD-Fraktion, mit den Ländern einen Pakt für Studienqualität und
gute Lehre auf den Weg zu bringen. 2 Millionen Euro im
nächsten Haushalt sind wohl kaum ausreichend.
({3})
- Im Haushalt steht im Moment: 2 Millionen Euro.
({4})
Schauen Sie Ihren eigenen Haushalt noch einmal an!
Wir können uns gern im Ausschuss noch einmal darüber
unterhalten.
Wer will, dass Menschen ohne Ansehen ihres finanziellen Hintergrunds ein Studium aufnehmen, kommt zudem nicht umhin, sich um die allgemeine Studienfinanzierung Gedanken zu machen. Die mehrfach zitierte
EFI-Kommission hat in ihrem aktuellen Bericht deutlich
gemacht, dass die Lieblingsinstrumente der schwarz-gelben Koalition - Stipendiensysteme und Bildungssparen vorrangig Gruppen erreichen, die bereits einen akademischen Hintergrund haben.
Die SPD bleibt deshalb dabei: Wer beste Bildung für
alle erreichen will, muss das BAföG ausweiten.
({5})
Daniela Kolbe ({6})
Wir fordern eine umfassende Ausweitung der Freibeträge. Wir wollen, dass mehr junge Menschen aus der
Mittelschicht vom BAföG profitieren. Die 300 Millionen Euro wären beim BAföG sicherlich besser angelegt
als bei Ihrem Stipendienprogramm.
({7})
Es bleibt viel zu tun in unserem Hochschulsystem.
Das vernünftig anzugehen, sind wir den jungen Menschen in unserem Land schuldig. Schöne Worte und Aufforderungen wie in Ihrem Antrag werden allerdings
nicht reichen. Das weiß nicht nur die Opposition, das erkennen - darauf können Sie sich verlassen - auch die
Studierenden.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 17/905 mit dem Titel Bologna-Prozess vollenden Länder und Hochschulen weiter unterstützen. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung
durch die Koalition und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Kuhn, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Mehr Netto für Geringverdienende
- Drucksache 17/896 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Wieso fragst du eigentlich nicht mehr, was die Wählerinnen und Wähler dazu sagen?
({0})
- Das sehen wir gerade an den Umfragewerten.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Mit dieser Binsenweisheit hat FDP-Vorsitzender
Westerwelle versucht, die Ärmsten gegen die Armen
auszuspielen und auf billige Weisen Stimmen zu fangen.
Aber noch während Herr Westerwelle versucht hat,
sich als Sozialterminator zu profilieren,
({2})
haben die Leute schon einmal damit angefangen, zu fragen: Was haben der und die FDP außer Sprüchen eigentlich noch auf der Tasche?
({3})
Dann wurde es plötzlich doch ziemlich einsilbig; denn
im Angebot war nichts anderes als ein gigantischer
Niedriglohnsektor.
Der eigentliche Skandal ist, dass wir einen anderen
Satz nicht gehört haben:
({4})
Wer arbeitet, muss auch davon leben können. Diesen
Satz haben wir von Herrn Westerwelle nicht gehört. Das
ist der eigentliche Skandal.
({5})
Wir haben in Deutschland derzeitig den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
({6})
6,5 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor
und 2 Millionen davon zu Löhnen von unter 5 Euro die
Stunde. Allein in den ersten neun Monaten im Jahr 2009
hat der Bund 8 Milliarden Euro für Aufstocker ausgegeben.
({7})
Ich bin mir wirklich sicher, dass wir diese Steuermilliarden für etwas anderes und für etwas Besseres als für die
Subventionierung von Lohndumping ausgegeben hätten.
({8})
Wir haben Ihnen mit diesem Antrag - vielleicht lesen
Sie ihn einfach einmal - einen sehr passgenauen Dreischritt vorgeschlagen, mit dem man Leuten im Niedriglohnbereich und mit kleinem Einkommen tatsächlich
helfen und zugleich die Anzahl der SGB-II-Bezieher
deutlich absenken kann.
Erstens gehört der Mindestlohn dazu. Wir werden
morgen ausführlich dazu reden. Deswegen an dieser
Stelle nur eines: Wenn Sie den Mindestlohn weiter blockieren und gleichzeitig an der Zuverdienstschraube drehen, dann werden Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher
exorbitant erhöhen, und dann wird der Niedriglohnsektor immense Ausmaße annehmen.
({9})
Zweitens gehört dazu: Wenn Sie, wie wir es Ihnen in
unserem Antrag mit unserem Progressivmodell vorschlagen, die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal absenken und dann langsam, wie
wir es von der Steuer her kennen und im Übrigen auch
als gerecht empfinden, progressiv ansteigen lassen, dann
reduzieren Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher und der
Aufstocker um ungefähr 500 000. Das liegt einfach daran, dass diese Leute dann tatsächlich mehr Netto vom
Brutto in der Tasche haben. In diesem Zusammenhang
können wir die Minijobs in diesem Progressivmodell
aufgehen lassen. Die Minijobs haben in der Vergangenheit - das muss man an dieser Stelle deutlich sagen - zur
Erosion am Arbeitsmarkt beigetragen.
({10})
Drittens. Meine Damen und Herren insbesondere von
der FDP, wer Menschen in Arbeit bringen will, der muss
sie fördern und unterstützen. Das gilt insbesondere für
Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Wer diese
Menschen in Arbeit bringen will, darf sie nicht bedrohen
und nicht gegen sie hetzen, sondern muss sie qualifizieren und die Wünsche der Betroffenen respektieren.
({11})
Man muss an dieser Stelle sagen: Diese Leute sind in aller Regel sowieso motiviert. Die größte Motivation ist
aber eine Arbeit, von der man leben kann. Solche Arbeit
erreichen wir durch Mindestlöhne, unser Progressivmodell und gut ausgebildete Arbeitsuchende. Ich fordere
Sie auf: Unterstützen Sie uns in diesem Anliegen!
Ich danke Ihnen.
({12})
Für die Unionsfraktion spricht Dr. Matthias Zimmer.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir
am Dienstag davon gehört haben, dass die Fraktion der
Grünen einen Antrag mit dem Titel Mehr Netto für Geringverdienende einbringen will - heute diskutieren wir
darüber -, habe ich mich zunächst darüber gefreut; denn
es ist ein wichtiges und richtiges Thema. Ich hatte lediglich ein wenig Bedenken - der Antrag lag noch nicht
vor; er kam erst gestern -, dass ich nicht genügend Zeit
finden könnte, die Tiefe der Gedanken und der differenzierten Vorschläge, die zu erwarten waren, ausreichend
zu würdigen.
({0})
Als dann der Antrag gestern kam, hatte ich den Eindruck: Diese Befürchtung war unbegründet.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
ich bin sehr für Recycling; aber was Sie hier an munterem Allerlei recycelt haben und durch keinen stringenten
Gedanken zusammenhalten, ist schon verblüffend.
({2})
Ich will Ihnen an einem kleinen Beispiel demonstrieren,
wie wenig Mühe Sie sich gegeben haben. Sie schreiben:
Wer mehr soziale Gerechtigkeit will, muss auch bereit sein, mehr Mittel dafür zur Verfügung zu stellen.
Nach Ihrer Logik bedeutet das: Wer ganz viel Gerechtigkeit will, muss ganz viel Mittel zur Verfügung stellen;
wer soziale Gerechtigkeit umfassend verwirklichen will,
muss umfassend Mittel zur Verfügung stellen. Das ist
Ihre Logik,
({3})
die vollkommen übersieht, dass Gerechtigkeit ein regulatives Prinzip ist, das zwischen Freiheit und Gleichheit
vermittelt; es ist aber kein Ziel, das es mit noch so vielen
Mitteln zu erreichen gilt.
({4})
Frau Pothmer, in Ihrem Antrag findet sich Weiteres
aus der Abteilung Wiederverwertung, zum Beispiel die
FDP-Schelte. Man hat hier fast schon den Eindruck, Sie
seien vergnügungssüchtig: Anstatt eine vernünftige Debatte zu führen, schlagen Sie immer wieder auf die FDP
ein.
({5})
Aus der Hartz-IV-Diskussion der letzten Woche ist
die Forderung nach einem Regelsatz von 420 Euro übrig
geblieben; das steht nicht im Antrag, aber in dessen Begründung. Ich frage mich schon: Woher kommt dieser
Betrag von 420 Euro eigentlich? Das Verfassungsgericht
hat uns doch aufgegeben, die Sache transparent und
nachvollziehbar zu gestalten.
({6})
Davon ist bei Ihnen nichts zu sehen. Es reicht Ihnen als
Begründung völlig aus, dass es die Sozialverbände gefordert haben. Das erinnert mich ein wenig an John
Lockes Mahnung, andere nicht zum Vormund eigener
Einfalt zu machen. Es ist doch besser - wir haben das
vor -, die Regelsätze nachvollziehbar und transparent zu
berechnen, anstatt sich auf den Zuruf anderer zu verlassen.
({7})
Frau Pothmer, Sie schlagen außerdem ein Sanktionsmoratorium im SGB-II-Bereich vor. Ich halte das für unsinnig. Die Linken wollen die Sanktionen ganz abschaffen.
({8})
Sie folgen der Spur der Linken und wollen die Sanktionen ebenfalls aussetzen. Ich kann das ein wenig nachvollziehen: Sanktionen und Zwang sind auch bei den
Grünen unpopulär.
({9})
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
hat sich der Frage angenommen, ob Sanktionen überhaupt wirken. Ich darf das Fazit zitieren:
Eine Leistungskürzung erhöht die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von acht Monaten nach der Sanktion
aus dem Leistungsbezug abzugehen, um etwa 70 Prozentpunkte. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit,
eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
zu finden, um mehr als 50 Prozentpunkte. Ein verstärkter Einsatz von Sanktionen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben würde somit zu einer effektiveren Aktivierung der Hilfebedürftigen beitragen und
die Übergangsraten aus der Hilfebedürftigkeit hinaus in Beschäftigung deutlich erhöhen.
Kommen wir zum Antrag selbst. Bei dem von Ihnen
geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro muss man schon
dankbar sein, dass Sie den Mindestlohnwettlauf von
7,50 Euro auf 8,20 Euro, 9,40 Euro und 10 Euro nicht
mitmachen und an dieser Stelle etwas bescheidener sind.
Wir sagen allerdings: Flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne waren falsch, sind falsch und bleiben falsch.
({10})
Im Übrigen wundert es mich, Frau Pothmer, dass die
Grünen, die sonst einen etwas differenzierteren Gerechtigkeitsbegriff haben, hier einfach mit flächendeckenden
gesetzlichen Mindestlöhnen arbeiten. Da bleiben selbst
Sie hinter Ihren Möglichkeiten zurück.
({11})
Des Weiteren wollen Sie die Lohnnebenkosten für
Geringverdienende senken. Das ist grundsätzlich eine
gute Idee, Frau Pothmer. Aber ich vermisse in Ihrem Antrag, wer das bezahlen soll. Keine Aussage. Welche
Konsequenzen hat das? Keine Aussage. Sie müssen den
Leuten doch sagen, das geht entweder über Steuererhöhungen oder über Abgabenerhöhungen für andere. Damit belasten Sie die Leistungsträger, die wir entlasten
wollen.
Sie müssen auch sagen: Progressive Beitragssätze
führen zu einer geringeren Rente. Das ist keine Entlastung, sondern ein Programm zur Steigerung von Altersarmut.
({12})
Auf das doppelte Problem fehlender Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungssysteme und sinkender
Ansprüche für die Leistungsempfänger geben Sie keine
Antwort. Das ist im wörtlichen Sinn verantwortungslos.
Da hätte ich von Ihnen mehr erwartet. Wir machen so einen Unfug nicht mit.
({13})
Die Koalition hingegen hat gehandelt. Wir haben in der
letzten Legislaturperiode den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung deutlich reduziert. Das ist eine spürbare
Entlastung. Außerdem werden wir morgen das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz beraten, mit dem die krisenbedingten Mindereinnahmen durch den Gesundheitsfonds und die Bundesagentur für Arbeit aufgefangen
werden. Wir stabilisieren damit die Lohnnebenkosten,
und wir haben etwas für die Familien getan.
All das ist konkret und realitätsgerecht. Ihr Antrag ist
das nicht. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Danke schön.
({14})
Für die SPD-Fraktion spricht Angelika KrügerLeißner.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Aufgeregt und scheinheilig - manche
auch ziemlich kopflos - sprechen wir dieser Tage über
Hartz IV. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Debatte darüber ausgelöst, wie viel Geld ein Mensch
braucht, um ein menschenwürdiges, existenzsicherndes
Leben zu führen.
Es ist eine Debatte um Gerechtigkeit: um Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit. Es geht dabei um Familien, Alleinerziehende und
ganz besonders um Kinder, die am Rande des Existenzminimums leben. Es geht um Menschen, die dauerhaft
von der Grundsicherung leben, die jeden Euro zweimal
umdrehen müssen und deren Weg aus dieser Situation
sehr steinig ist, sodass sie ihn allein, ohne Hilfe, vielleicht niemals schaffen werden.
Ich halte eine ehrliche und sachorientierte Debatte für
richtig und wichtig. Manches, was wir in den letzten
Wochen erlebt haben, ging allerdings daran vorbei. Wir
kommen in dieser Diskussion aber nicht drum herum,
auch über diejenigen zu sprechen, die zu der Gruppe der
Working Poor gehören, also diejenigen Geringverdiener,
die voll erwerbsfähig sind und deren Einkommen gerade
so oder nur mithilfe von staatlichen Leistungen zum Leben reicht. Wir reden von der Kellnerin, der Friseurin,
der Gärtnerin, der Verkäuferin, der Leiharbeiterin und
der Pflegekraft.
({0})
- Heute ist ein besonderer Tag. Darum habe ich das so
formuliert.
Der Niedriglohnsektor hat sich seit Mitte der 90erJahre rasant ausgeweitet. Wachsende Lohnspreizung hat
zu erheblichen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Problemen geführt. Der Druck auf das Lohnniveau nahm
immer mehr zu. Laut einer Studie der IAQ der Uni Essen
arbeitet inzwischen jeder fünfte abhängig Beschäftigte
für einen Niedriglohn. Das sind 6,5 Millionen Beschäftigte. Viele davon beziehen zusätzlich Hartz-IV-Leistungen. Es gibt 1,3 Millionen Aufstocker, also Geringverdiener, die ihr Einkommen aus der Erwerbstätigkeit mit
Regelleistungen aufbessern müssen. Das kostet die BA
viel Geld; zuletzt waren es 9,3 Milliarden Euro.
Darum ist die Forderung in Ihrem Antrag - mehr
Netto für Geringverdiener - vollkommen richtig. Die
Frage ist nur, wie wir das erreichen können. Wer muss
was tun? Die Verantwortung allein den Tarifpartnern zu
übertragen und auf die Tarifautonomie zu vertrauen,
kann nicht die Lösung sein. Die Realität zeigt: Es sind
nicht die produzierenden oder exportierenden Gewerbe
im industriellen Bereich, in denen Niedriglöhne gezahlt
werden. Denn da sind noch kräftige Gewerkschaften, die
ausreichend Organisationskraft haben. In meinem Wahlkreis gibt es zum Beispiel ein Stahlwerk, die Hennigsdorfer Elektrostahlwerke. Dank eines engagierten Betriebsrats und einer guten Geschäftsführung findet man
dort keine Leiharbeit, und es werden ordentliche Löhne
gezahlt. Niedriglöhne findet man im Handwerk, vor allem im Dienstleistungsgewerbe und im Einzelhandel.
Betriebsräte sind dort eher die Ausnahme. Hier ist der
Gesetzgeber gefragt.
In den letzten Wochen haben wir über das Lohnabstandsgebot - von unserer Seite besser noch: das Lohnanstandsgebot - diskutiert. Wir haben auch darüber diskutiert, dass Leistung sich wieder lohnen muss. All das
ist richtig, wenn man es richtig interpretiert, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Zu den Geboten unserer
sozialen Marktwirtschaft zählt nach wie vor: Wer hart
arbeitet, muss davon leben können. Wer Leistung bringt,
muss sein Leben verbessern können. Dazu gehört ebenfalls: Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben. Ich
werde das Gefühl nicht los, dass einige in der Regierungskoalition dies aus den Augen verloren haben. Stattdessen gilt an dieser Stelle das Matthäus-Prinzip: Wer
hat, dem wird gegeben. Eine solche Politik darf in diesem Land nicht mehrheitsfähig bleiben. Wir müssen etwas tun, damit Leistung sich lohnt und damit die Menschen, die sich anstrengen und hart arbeiten, von ihrem
Lohn auch leben können.
({1})
Darum kann die Antwort nur heißen: Der gesetzliche
Mindestlohn ist das wirksamste Instrument, wenn es darum geht, den Niedriglohnsektor zu bekämpfen. Niedrige Regelsätze und schärfere Sanktionen würden den
Druck auf die Arbeitsuchenden noch erhöhen, schlecht
bezahlte Jobs annehmen zu müssen. Tatsache ist aber:
Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt diese schwarzgelbe Regierung ab.
({2})
Mit Blick auf den Koalitionsvertrag erfahren wir: Der
Niedriglohnsektor soll weiter ausgebaut werden. Die
schwarz-gelbe Zauberformel heißt: Erleichterung befristeter Beschäftigung und Ausweitung der Minijobs. Die
Ausweitung des Niedriglohnsektors ist kein wirkungsvolles Konzept zur Beschäftigungsförderung. Vor allen
Dingen ist es nicht wirkungsvoll gegen Lohndumping
und Armut in diesem Land. Um Brücken zu bauen, die
den Hilfebedürftigen Wege aus ihrer prekären Situation
weisen, brauchen wir eine umfassende Strategie. Der gesetzliche Mindestlohn ist dabei eine unabweisbare Maßnahme. In diesem Punkt sind wir uns mit den Grünen einig. Einig sind wir uns mit ihnen auch in puncto Bildung
und Qualifizierung. Da müssen wir weitere Maßnahmen
auf den Weg bringen.
({3})
Eingangs erwähnte ich auch die Chancengleichheit.
Darauf will ich nun zurückkommen. Oberstes Ziel muss
es sein, allen Kindern die gleichen Chancen auf die beste
Bildung zu ermöglichen. Familienarmut darf sich nicht
vererben. Langzeitarbeitslose brauchen Perspektiven.
Sie brauchen Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote, um am Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Deswegen brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die unter anderem die individuelle Förderung und die Integration in
Arbeit verbessert. Mit einer restriktiven aktiven Arbeitsmarktpolitik würden wir die Betroffenen aufgeben und
alleinlassen. Das ist ein fatales Zeichen. Heute ist wieder
so ein fatales, scheinheiliges Zeichen gesetzt worden.
Ich weiß nicht, ob alle davon wissen. Im Haushaltsausschuss, der gerade berät, hat die FDP-Fraktion einen
Antrag auf Änderung des Bundeshaushalts gestellt. Es
sollen 900 Millionen Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik gesperrt werden. Was das vor Ort bedeutet, kann
sich jeder ausdenken. Ab Herbst können keine weiteren
Maßnahmen geplant werden. Den Hilfebedürftigen, die
eine Antwort darauf haben wollen, wie wir ihnen helfen,
kann keine Antwort gegeben werden.
({4})
- Herr Kolb, Sie können diese Scheinheiligkeit Ihres
Handelns in Ihrer Rede aufklären. - Ich denke, wir dürfen dieser Regierungskoalition so etwas nicht durchgehen lassen.
({5})
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, wir stimmen in vielen Punkten überein.
Wir sind uns einig beim Thema Mindestlohn, auch was
die Höhe und die Festlegung durch eine Kommission betrifft. Wir sind uns einig, dass Bildung, Weiterbildung
und Qualifikation Maßnahmen sind, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen, und wir sind uns in dem Punkt
einig, dass auch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge ein wichtiger Schritt ist. Allerdings gehen wir
dabei unterschiedliche Wege. Der Weg, den Frau
Pothmer mit dem Progressivmodell beschrieben hat, ist
für mich die falsche Lösung.
({6})
Ich habe zu wenig Zeit, um das genau auszuführen. Sie,
Frau Pothmer, bleiben nämlich beim Kombilohnmodell.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja. Ich sage noch einen Satz, wenn ich darf. Schauen Sie sich unser Modell an, das auch in die Richtung geht, die Sozialversicherungsbeiträge gerade im
Niedriglohnbereich zu senken. Wir wollen unser Modell
Bonus für Arbeit - wir haben es schon einmal vorgestellt - weiterentwickeln, und wir verbinden es mit dem
Mindestlohn, der ein notwendiger Bestandteil dieses
Modells ist.
({0})
Frau Kollegin.
Es lohnt sich also, gemeinsam auf diesem Weg zu
streiten.
({0})
Danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Was kümmert
mich mein Geschwätz von gestern.
({0})
Die Kollegin Brigitte Pothmer hat ihn heute weiterentwickelt zu der Formel: Was kümmert mich mein Gesetz
von gestern.
({1})
Denn Sie, Frau Kollegin Pothmer, haben beklagt, es
gebe in Deutschland einen Niedriglohnbereich, in dem
6,5 Millionen Beschäftigte seien. Wer hat das beschlossen? Die Grünen. Sie waren es, die in der rot-grünen Ära
genau dieses als Rezept für die Lösung aller Probleme
erkannt haben. Sie haben bedauert und beklagt, es gebe
viele Menschen, die ihre niedrigen Löhne aufstocken
müssten. Wer hat denn die Aufstockungsmöglichkeit beschlossen? Es waren die Grünen während der rot-grünen
Regierungszeit. Sie haben gesagt, die Einführung der
Minijobs sei fatal gewesen, weil das zu einer Aushöhlung der Vollzeitstellen geführt habe. Frau Kollegin
Pothmer, wer hat das denn beschlossen? Die Grünen
sind es in Ihrer Regierungszeit gewesen. Sie sollten in
absehbarer Zeit nicht mehr regieren, sondern erst einmal
Ihre Hausaufgaben machen. Mit Antragsrecycling werden Sie, Frau Kollegin Pothmer, nicht weiterkommen.
({2})
Dabei will ich hier anerkennend feststellen: Die Überschrift und der erste Satz Ihres Antrags könnten auch
von uns sein. Die Überschrift Mehr Netto für Geringverdienende und den Satz Arbeit und Leistung sollen
sich lohnen,
kann ich voll und ganz unterstützen. So
weit sind wir immerhin einer Meinung. Der Antrag fängt
gut an, lässt dann aber stark nach. Zum Ende hin findet
sich in Ihrem Antrag relativ wenig. Spätestens die Forderung nach einem generellen Mindestlohn macht es uns
unmöglich, Ihnen zuzustimmen. Darüber brauchen wir
nicht zu reden. Ich bin eigentlich auch nicht davon überzeugt, wenn ich Ihre Beiträge im Ausschuss höre, dass
Sie, Frau Kollegin Pothmer, selbst daran glauben.
({3})
Ihre Ausführungen und Ihre Überlegungen dort sind viel
zu differenziert, als dass Sie die absurde Idee von einem
generellen Mindestlohn ernsthaft verfolgen könnten. Sie
handeln nach dem Motto doppelt gemoppelt: Erst fordern Sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro,
und dann fordern Sie darüber hinaus flächendeckend
nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz Branchenmindestlöhne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das
wirklich wollen.
Herr Kolb, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn zu?
Aber gern.
Bitte schön.
Herr Kolb, ich habe die Bitte, sich nicht an uns abzuarbeiten nach dem Motto Da haben Sie doch regiert!.
Das langweilt mich.
Mich nicht.
Ich will nur ein emotionales Feedback geben.
Ich möchte Sie nach einem Punkt fragen, der mich interessiert. Ich lese in der Zeitung, das liberale Bürgergeld sei eine großartige Alternative zu den Sozialtransferleistungen. Ich möchte gerne von Ihnen erklärt haben,
wie Sie sich das genau vorstellen. Da zum Beispiel
Wohngeld hinzugerechnet werden soll, würde mich interessieren, wie Sie zwischen Regionen wie beispielsweise
München, Heidelberg und Sachsen-Anhalt differenzieren wollen und wie das bürokratiefrei gehen soll. Sagen
Sie einfach einmal, was Sie wollen, anstatt immer die
anderen anzukoffern.
({0})
Frau Präsidentin, wenn wir uns auf eine Verlängerung
der Redezeit um 30 Minuten verständigen könnten, dann
könnte ich dem Kollegen Kuhn unser Modell erklären.
({0})
Neulich hat Präsident Lammert allerdings bei einer ähnlichen Gelegenheit darauf hingewiesen, dass die Zeit für
Frage und Antwort in einem angemessenen Verhältnis
zur Redezeit stehen muss.
Genau das ist die Herausforderung an Sie.
Es gibt Dinge, die man ausführlicher erläutern muss.
Sie lassen sich nicht auf die Schlagzeile einer großen
deutschen Tageszeitung reduzieren.
({0})
Herr Kuhn, ich bin aber gern bereit,
({1})
Ihnen das in einem Privatissimum zu erläutern.
({2})
- Wenn Sie wieder aufstehen würden, kann ich Ihnen
aber schon jetzt kurz etwas dazu sagen.
({3})
- Wie wäre es mit einer Minute?
({4})
- Gut.
Wir sind der Meinung, dass wir nicht über Mindestlöhne, sondern über ein Mindesteinkommen reden sollten. Das Bürgergeld stellt ein bedarfsgerechtes Mindesteinkommen sicher. Für jede Bedarfsgemeinschaft
wird ermittelt, welche Aufwendungen zu decken sind.
Dies wird mit dem Nettoeinkommen dieses Haushalts
verglichen. Was nicht selbst erwirtschaftet werden kann,
wird im Wege einer negativen Einkommensteuer dem
einzelnen Haushalt zur Verfügung gestellt. An der Stelle,
wo der Bedarf gedeckt ist, fängt die Steuerzahlung des
einzelnen Bürgers bzw. des Haushalts an. Damit wird sichergestellt, dass wir ein durchgängiges Erwerbsinteresse in allen Bedarfsgemeinschaften haben. Das ist, wie
ich finde, ein sehr moderner und zukunftsträchtiger Vorschlag. Nähere Einzelheiten sage ich Ihnen, wenn Sie
wollen, persönlich.
({5})
Ich bin der Meinung, dass wir mit dem Thema Mindestlohn und vor allen Dingen mit der Kombination von
Mindestlohn und Branchenmindestlohn, die Sie, Frau
Kollegin Pothmer, vorschlagen, wirklich vorsichtig umgehen müssen. Wir werden am Ende nicht mehr Beschäftigung schaffen, wenn wir in Deutschland Mindestlöhne einführen.
({6})
Wir fragen uns bei jeder Maßnahme, die wir im Bereich der Sozialversicherung verabschieden, wie sie sich
auf die sogenannten Lohnnebenkosten auswirkt und ob
dadurch die Arbeit verteuert wird. Dass ausgerechnet
beim Lohn selbst, also beim größten Kostenblock, diese
Grundüberlegung nicht mehr gelten soll, vermag ich
wirklich nicht nachzuvollziehen. Wenn, wie manche
glauben, Mindestlöhne mehr Arbeit schaffen, dann frage
ich Sie, wie hoch der optimale Mindestlohn ist. Sie haben sich jetzt auf 7,50 Euro Mindestlohn festgelegt. Sie
hinken damit der Karawane etwas hinterher.
({7})
Der DGB wird demnächst 8,50 Euro fordern. Die Linken, Avantgarde wie immer - Kompliment, Frau Kollegin Krellmann, Herr Kollege Birkwald -, sind schon bei
10 Euro. Da sieht man genau die Gefahr einer politischen Lohnsetzung. In den letzten zwei Jahren sind Sie
ziemlich flott von vormals ebenfalls 7,50 Euro auf
10 Euro, die Sie heute fordern, durchgaloppiert.
Frau Präsidentin, die Kollegin Pothmer möchte eine
Zwischenfrage stellen.
Bitte schön, Frau Pothmer.
Herr Kollege Kolb, da Sie sich an dem Mindestlohn
so festgebissen haben, befürchte ich, dass Sie Ihre gesamte Redezeit darauf verwenden, obwohl der entsprechende Tagesordnungspunkt morgen aufgerufen wird.
Ich möchte daher von Ihnen zu gerne etwas zu dem Progressivmodell hören. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass
der jetzige Bundesgesundheitsminister Rösler damals in
Niedersachsen ein Mini-Progressivmodell nach dem
Modell der Grünen vorgeschlagen hat, das beinhaltet, bis
zu einem Verdienst von 1 000 Euro die Lohnnebenkosten radikal abzusenken? Mich würde einmal interessieren, ob Rösler da allein auf weiter Flur steht oder ob die
FDP hier im Bund ihm da folgt.
Gut, das gibt mir Gelegenheit, einige Anmerkungen
zu dem Progressivmodell zu machen; das hatte ich sowieso vor. Sie haben das Modell jetzt wieder aus der
Versenkung geholt. 2006 haben Sie es entwickelt, und
zwischendurch hat man nicht viel davon gehört, Frau
Kollegin Pothmer. Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass
das Modell bei einer breiten Öffentlichkeit angekommen
ist. Immerhin ist es aber offensichtlich bei einer Fachöffentlichkeit angekommen, wenn Philipp Rösler sich
schon damit befasst hat.
Dieses Progressivmodell ist für mich so etwas wie die
eierlegende Wollmilchsau der Sozialpolitik. Ich will
Ihnen das auch anhand der Begründung Ihres Antrags
belegen. Dort heißt es: Dieses Modell schafft eine Absicherung bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Es erhöht das Nettoeinkommen der
Geringverdiener, entlastet die Betriebe, schafft neue Arbeitsplätze und macht die Schwarzarbeit unattraktiv. Außerdem ist es anscheinend kostenlos; darüber schweigen
Sie sich in Ihrem Antrag vornehm aus, Frau Kollegin
Pothmer. Wenn es wirklich so einfach wäre! Aber es ist
nicht so einfach. Man sieht ja an Ihrem Geeiere, Ihrem
damaligen Regierungshandeln und Ihren heutigen Einlassungen, dass Sie überhaupt nicht so recht wissen, wohin Sie eigentlich wollen.
Wenn man einen 400-Euro-Job sozialversicherungspflichtig macht und mit Beiträgen in Höhe von 20 Prozent
belastet, wovon die Hälfte auf die Rentenversicherung
entfällt, dann zahlt man einen Rentenversicherungsbeitrag von 40 Euro. Das ist ein sechstel Entgeltpunkt und
entspricht mithin einer Rente von 4 Euro im Jahr. Das ist
doch pervers. Das soll eine vernünftige Absicherung im
Alter sein, Frau Kollegin Pothmer? Das ist doch vollkommen lebensfremd!
Möglicherweise findet jemand wie Sie, der den Langzeitarbeitslosen in seiner Regierungszeit einen Rentenanspruch pro Jahr Langzeitarbeitslosigkeit von heute
noch 2,09 Euro verordnet hat, es auch gut, wenn man mit
eigenen Beiträgen einen Rentenanspruch von 4 Euro im
Jahr erwerben kann. Eine Politik gegen Altersarmut ist
das aber wirklich nicht.
({0})
- Wir haben hier eine klare Regel: Sie fragen, ich antworte. Sie finden manches nicht spannend, und ich finde
manches spannend, was Sie langweilt. Damit müssen
wir leben.
Was kostet Ihr Progressivmodell denn jetzt wirklich?
2006 haben Sie, glaube ich, einmal etwas von 13 Milliarden Euro gesagt.
({1})
Ich finde es schon erstaunlich, wenn Sie ein Projekt in
dieser Größenordnung in die Debatte werfen, obwohl
Sie uns vor wenigen Wochen noch dafür beschimpft haben, dass wir Entlastungen in Höhe von 4,6 Milliarden
Euro für Familien mit Kindern in das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hineingeschrieben haben, die am
1. Januar 2010 wirksam geworden sind.
({2})
Das halte ich für progressiv. Das, was Sie hier vorschlagen, ist alles andere als progressiv.
Sie schreiben in Ihrem Antrag außerdem, die Rechte
von Hilfsbedürftigen und ihren Angehörigen im SGB II
sollten gestärkt werden. Es herrscht Einigkeit hinsichtlich der Wichtigkeit der Förderung und der Eröffnung
von Bildungsangeboten. Aber man hat schon ein bisschen den Eindruck, dass Ihren Referenten am Ende des
Antrags die ohnehin schon recht dünne Tinte endgültig
ausgegangen ist. Sie arbeiten sich da nur noch bei verdrehter Wahrnehmung und Umdeutungen der Wirklichkeit an der FDP ab. Das ist wirklich unter Ihrem Niveau;
Sie können es besser.
({3})
- Hört mir eigentlich noch jemand zu bei den Grünen?
Es wäre vielleicht ganz sinnvoll, wenn Sie sich einmal
mit konstruktiver Kritik an Ihrem Antrag auseinandersetzen.
({4})
Dann versteigen Sie sich sogar noch dazu, unmittelbar nach dem Karlsruher Urteil einen neuen und, wie Sie
sagen, richtigen Regelsatz von 420 Euro zu nennen; die
Linken waren sogar schon bei 500 Euro. Ich finde das
deswegen bemerkenswert, weil Karlsruhe Ihnen - Ihnen
wurde mit dem Urteil das Gesetz um die Ohren geschlagen - gesagt hat, dass man Regelsätze nicht einfach ins
Blaue hinein politisch definieren darf, sondern dass es
darauf ankommt, den Regelsatz Bedarf für Bedarf wertungsmäßig festzulegen. Sie drücken sich erneut darum
herum. Das ist eine Missachtung des Karlsruher Gerichtes. Das finde ich wirklich empörend. Wir sollten Karlsruhe ernst nehmen und das tun, was uns vorgegeben ist,
nämlich nicht prozentual irgendetwas ableiten, sondern
in jedem Einzelfall sagen: Diesen Bedarf sehen wir als
zur Abdeckung des physischen Existenzminimums und
darüber hinaus als für die gesellschaftliche, politische
und kulturelle Teilhabe erforderlich an und jenen nicht.
Herr Kollege Kolb!
Dann bestimmt man einen Regelsatz; das werden wir
in diesem Hause noch tun.
Ich bedanke mich für die Zwischenfragen, Herr Kollege Kuhn, Frau Kollegin Pothmer. Ich bin gerne bereit,
in nächster Zeit - vielleicht morgen früh - wieder Rede
und Antwort zu stehen.
({0})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Guten Tag, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin
immer ganz begeistert, wenn ich mitbekomme, dass Herr
Kolb immer ganz genau weiß, was die Linke will. Er hat
das mit den 10 Euro Mindestlohn und mit der Millionärssteuer verstanden.
({0})
Herr Kolb, es macht wirklich Spaß, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
({1})
- Wissen Sie, auch ich kann lesen. Ich bin jedes Mal hin
und her gerissen, wenn ich bestimmte Sachen lese. Wir
können gerne noch einmal darüber reden, aber nicht
jetzt.
Im Grunde muss ich leider Herrn Zimmer recht geben.
({2})
Mir ging es genauso wie Ihnen: Auch ich war völlig irritiert, als ich diesen Antrag gelesen habe, weil ich irgendwie nicht wusste, wann die Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro erhoben worden war. Nach
meiner Erinnerung hat man vor zwei Jahren über einen
Mindestlohn von 7,50 Euro gesprochen. Jetzt wird hier
ein Antrag auf den Tisch gelegt, in dem ein Mindestlohn
von 7,50 Euro gefordert wird. Davon redet doch kein
Mensch mehr. Dieser Betrag würde hinten und vorne
nicht mehr genügen.
({3})
Trotzdem finde ich es löblich, dass sich die Grünen
um den Ausstieg aus den Niedriglohnsubventionen bemühen. Aber ich persönlich halte das Modell, das Sie
vorgelegt haben, für nicht besonders weitsichtig. Als besonders neu kann man es auch nicht bezeichnen.
({4})
Wie bisher profitieren insbesondere Arbeitgeber von
den niedrigen Löhnen. Die Betroffenen müssen auch
weiterhin von staatlichen Zuschüssen leben, die uns an
anderen Ecken fehlen werden. Was mit dem Niedriglohn
geschaffen wurde, sind neue Formen der Ausbeutung.
Ich persönlich halte es für eine riesige Katastrophe, dass
in einem der reichsten Länder auf dieser Erde, nämlich
in Deutschland, geschaut werden muss, ob man eine
Möglichkeit findet, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können. Ich finde, es ist eine Katastrophe, dass man
darüber überhaupt nachdenken muss.
({5})
Dabei sind die Vorschläge der Grünen eine bunte Tengelmann-Mischung. Das Problem ist: Dadurch werden
die Niedriglöhne nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Sie
werden auch noch zementiert. Es ist also dasselbe in
Grün, nur irgendwie anders formuliert. Deshalb lehnt die
Linke diesen Antrag ab. Mit der Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro, wie die Linke sie fordert - Herr
Kolb hat das vorhin schon einmal gesagt -, wäre Ihr ganzes Modell überflüssig und hätten die Menschen Arbeit,
und zwar solche, von der sie leben könnten.
({6})
Die Rechnung ist ganz einfach: Bisher müssen
1,4 Millionen Menschen ergänzend zu ihrer Arbeit
Hartz IV beantragen, um über die Runden zu kommen;
sie können von den gezahlten Hungerlöhnen ihrer Arbeitgeber nicht leben. Das ist ein absoluter Skandal.
({7})
Es kostet die Steuerzahler - jetzt bitte ich Sie alle, ganz
genau hinzuhören - 9,3 Milliarden Euro. Noch einmal,
anders ausgedrückt: 9,3 Milliarden Euro sind 9 300 Millionen Euro. So viel muss dafür verwandt werden.
({8})
Nach dem Modell der Grünen soll die staatliche Aufstockung abgeschafft werden. Die Grünen planen dafür
die Entlastung durch niedrigere Sozialabgaben. Das so
erzeugte Loch in den Sozialkassen soll dann der Steuerzahler übernehmen. Der Niedriglohnsektor bliebe also
erhalten, die Förderung von Dumpinglöhnen auch.
Geiz bliebe folglich für die Arbeitgeber geil, und die
6,5 Millionen betroffenen Beschäftigten würden trotz
Arbeit arm bleiben.
Niedriglöhne - egal wie sie bezuschusst werden schaffen keine Arbeitsplätze, wohl aber verdrängen sie
gute Löhne und reguläre Beschäftigung. Sie setzen eine
Lohnspirale nach unten in Gang. Das kann man auch belegen; das findet auch momentan statt.
Dumpinglöhne werden mit geringeren Sozialabgaben
noch belohnt. Arbeitgeber werden regelrecht dazu verleitet, die Löhne weiter zu reduzieren. Die Grünen behaupten, die Höhe der Sozialabgaben verhindere die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Behauptung ist alt
und der Ausgangspunkt der Niedriglohnpolitik. Arbeitsplätze geschaffen hat das nicht. Die Senkung der Sozialabgaben für Geringverdiener entlastet die Unternehmer
weiter in erheblichem Maße.
Mehr Netto ohne mehr Brutto geht zulasten von uns
allen.
({9})
Das Solidarsystem ist nicht die Melkkuh der Nation, die
dazu dient, ständig sinkende Löhne auszugleichen. Weniger Sozialabgaben führen zu drastisch geringeren Einnahmen der Sozialkassen. Es besteht die Gefahr, dass
das Loch in den Sozialversicherungen dann wieder als
Begründung für den Abbau von Sozialleistungen herhalten muss.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Okay. - Die Linke fordert deshalb mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen hier in Deutschland. Wir fordern einen Mindestlohn. Wir werden uns
am Freitag noch einmal ganz explizit in Person meines
Kollegen Klaus Ernst mit der Frage beschäftigen.
({0})
Vielen Dank.
({1})
Paul Lehrieder spricht für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Mir geht es ähnlich wie dem Kollegen
Kolb. In unserer christlich-liberalen Koalition passt erstens zwischen die Partner kein Blatt Papier. Zweitens
denken wir in vielen Bereichen ähnlich.
Ich habe mir den Antrag voller Vorfreude durchgelesen. Der Titel Mehr Netto für Geringverdienende ist ja
nicht schlecht. Unser bayerischer Finanzminister hat vor
anderthalb Jahren gefordert: mehr Netto vom Brutto. Es
hat uns auch keiner geglaubt, dass wir das ernsthaft anstreben. Wir streben es heute noch an. Mehr Netto für
Geringverdienende klingt ja nun einmal nicht schlecht.
Auch der Einleitungssatz Arbeit und Leistung sollen
sich lohnen ist konsensfähig. Ich will jetzt nicht alles
wiederholen, was der Kollege ausgeführt hat.
In einem anderen Punkt geht es mir allerdings ebenso
wie ihm. Ich habe mir die Augen ausgeschaut; ich habe
verschiedene Brillen aufgesetzt. Ich habe nirgends einen
Finanzierungsvorschlag in diesem Antrag entdecken
können. Vielleicht liefern Sie uns den nach, Frau Kollegin Pothmer. Dann können wir uns Gedanken über die
Kosten dieses Vorschlags machen.
({0})
Ihr Progressivmodell klingt gut. Natürlich kann man
sagen, wir entlasten im unteren Einkommensbereich,
also die Geringverdiener - da haben wir im Übrigen
mehr gemacht als die rot-grüne Koalition seinerzeit; aber
darauf komme ich nachher noch zu sprechen -, aber
dann müssen Sie auch sagen, wie Sie es finanzieren wollen. Durch Bundeszuschüsse? - Das wäre systemwidrig.
({1})
- Dazu, ob sich das durch Einsparungen bei den Aufstockern finanzieren lässt, findet sich überhaupt nichts in
Ihrem Antrag. - Wollen Sie es etwa durch Erhöhung der
Lohnzusatzkosten im oberen Bereich finanzieren, das
heißt also, dass wir qualifizierte Arbeit verteuern? - Das
hoffe ich nicht.
({2})
- Darüber müssen wir aber reden, Frau Pothmer.
Ich finde ja die Idee grundsätzlich nicht a priori
schlecht und möchte sie nicht sofort und ohne Hintergedanken zurückweisen.
({3})
- Stellen Sie mir doch eine Frage, Frau Pothmer, statt
nur dazwischenzurufen. Dann hätte ich auch Zeit für
eine Antwort.
Meine Damen und Herren, der Antrag klingt ja nicht
schlecht; aber er ist so, wie er vorliegt, absolut nicht behandelbar und nicht zustimmungsfähig. Wir werden ihn
auf jeden Fall ablehnen. Das Ganze könnte zwar zu einem interessanten Debattenbeitrag werden, aber nicht in
dieser unausgereiften Form. Künftig sollten Sie keinen
Schnellschuss aus der Hüfte mehr machen, liebe Frau
Kollegin.
Wer hat denn nun die Sozialversicherungsbeiträge in
den letzten Jahren gesenkt? Das war nicht Rot-Grün.
Auch das muss für die Zuschauer auf der Tribüne und
die Fernsehzuschauer hier einmal ausdrücklich gesagt
werden. 1998 lag der Sozialversicherungsanteil immerhin bei 42,1 Prozent, heute liegt er bei sage und schreibe
38,65 Prozent. Das heißt, Sie schmücken sich mit fremden Federn. Wir - ich räume ein, dass die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD auch ein bisschen dazu beigetragen haben - haben die Sozialversicherungsbeiträge
senken können. Und das ist gut so, meine Damen und
Herren.
Wir haben den Eingangssteuersatz vor einem guten
Jahr von 15 auf 14 Prozent gesenkt. Dazu kann man sagen, dass man mehr erwartet hätte. Wir prüfen nach Vorliegen der Steuerschätzung, ob hier noch mehr Steuerentlastung möglich ist. Zur Entlastung gehört aber auch
die Erhöhung des Kinderfreibetrages, den wir Anfang
des Jahres immerhin von 6 000 auf 7 008 Euro erhöhen
konnten. Wir prüfen auch, ob darüber hinaus im Sozialversicherungsbereich Entlastungen möglich sind.
Meine Damen und Herren, der Antrag lässt nicht erkennen, wie man dem Nettofinanzierungsbedarf von
6,5 Milliarden Euro gerecht werden will. Das Bundesverfassungsgericht hat uns bestätigt, dass der Gesetzgeber bei Einführung der SGB-II-Regeln 2004 und 2005
zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums feste Regelsätze schaffen durfte. Wenn Sie jetzt,
Frau Pothmer, ähnlich wie die Linke pauschal, Pi mal
Daumen, einen Regelsatz von 420 Euro verlangen, dann
verstoßen Sie doch, genauso wie die Linken, gegen das,
was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat.
({4})
Schauen Sie sich doch einmal das Urteil an, Frau
Krellmann. Ich habe letzte Woche Ihrem Kollegen Ernst
gesagt, er solle das Urteil einmal lesen. Entweder hat er
es nicht gelesen oder er hat es nicht verstanden. Bei Ihnen muss ich dasselbe vermuten. Schauen Sie sich das
Urteil einmal an. Da steht, man muss ermitteln, weshalb
welche Bedarfe erforderlich sind. Lassen Sie uns in den
nächsten Wochen und Monaten im Ausschuss konstruktiv darauf hinarbeiten, wie man das zusammen machen
kann, Frau Pothmer. Von daher ist eine Pauschale von
420 Euro leider ebenfalls nicht konsensual.
Zu den Mindestlöhnen. Wir reden morgen früh ausführlich darüber. Ich habe dankenswerterweise die Möglichkeit, morgen früh zwei, drei Sätze dazu zu sagen; daher kann ich es jetzt kurz machen. Gefordert wird ein
genereller Mindestlohn von 7,50 Euro.
({5})
- Klar, Sie fordern 10 Euro. In einem halben Jahr sind
Sie bei 12 oder 13 Euro.
({6})
Dann hecheln Sie wieder hinterher. Dazwischen liegt der
Gewerkschaftsbund mit seiner Forderung. Es ist doch
ein Witz. Wir verdummen doch die Leute, wenn wir sagen, mit einem Mindestlohn von 7,50 Euro könne man
eine Familie mit zwei kleinen Kindern ernähren.
({7})
- Das kann man auch mit einem Mindestlohn von
10 Euro nicht. Sie brauchen sich nicht zu echauffieren.
Die jetzigen Sozialleistungen einer Familie mit zwei
Kindern sind mittlerweile bei einer Größenordnung, dass
der Mindestlohn für eine solche Familie bei 11,80 Euro
liegen müsste.
({8})
- Dann verlangen Sie doch einen Mindestlohn von
12 Euro. Dann haben wir Sie noch mehr demaskiert.
Meine Damen und Herren, wir können keine Mindestlöhne nach dem Familienstand einführen. Das ist
über unser Sozialsystem geregelt; dazu werden wir morgen einiges ausführen. Deshalb sind alle drei Unterpunkte in Ihrem Antrag, zumindest jetzt, leider vollumfänglich abzuweisen. Es gebietet sich eigentlich, dass
man dazu nicht noch mehr ausführt. Über den Mindestlohn wird morgen früh diskutiert.
Frau Pothmer, lassen Sie uns über das Progressivmodell ohne Scheuklappen und über die Parteigrenzen hinweg nachdenken und sehen, ob es eine Lösung ist und
was diese kostet. Dann können wir versuchen, Teile der
FDP, die vielleicht Sympathie dafür haben, zu beatmen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/896 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert
Liebing, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz: UNESCOWeltnaturerbe würdigt Schutz des Wattenmeeres
- Drucksache 17/903 Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu
eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Als Erstes gebe ich das Wort der Parlamentarischen
Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, dass wir heute, nur einen Tag
nach dem Internationalen Tag des Artenschutzes, einen
Antrag debattieren, den mein Kollege Ingbert Liebing
initiiert hat. Es freut mich auch, dass wir, Frau Präsidentin, zu einer solchen Zeit über ein wichtiges Naturschutzthema in diesem Haus diskutieren können und
nicht wie sonst auf die späteren Uhrzeiten verwiesen
werden. Erst einmal herzlichen Dank an Ingbert Liebing
und alle Kolleginnen und Kollegen, die diesen Antrag
zur internationalen Wattenmeerkonferenz, die Mitte
März auf der Insel Sylt stattfinden wird, verfasst haben.
Es waren ganz schön große Anstrengungen notwendig, um dorthin zu kommen, wo wir heute beim Thema
Wattenmeer stehen, nämlich dass es - das erfüllt uns mit
Stolz - geschafft wurde, UNESCO-Weltnaturerbe zu
werden und dass damit das Ökosystem Wattenmeer in
einer Reihe steht mit Weltnaturerben wie dem Grand
Canyon, dem Amazonas-Gebiet in Brasilien oder Ähnlichem. Das ist schon eine tolle Leistung, die vor allen
Dingen die Bevölkerung vor Ort mit ihren Initiativen erbracht hat.
Kollege Liebing, ich kann Ihnen und den Kollegen
vor Ort bestätigen: Wir, das Bundesumweltministerium,
unterstützen Sie gerne dabei, weiter voranzukommen
und noch mehr zu erreichen als das, was Sie schon erreicht haben; denn die Liste ist noch lang, was wir im
Antrag nachlesen können.
({0})
Um es ganz klar zu sagen: Die allergrößte Bedrohung
des Wattenmeeres geht vom Klimawandel aus. Die Alpen und das Wattenmeer sind die Gebiete in Deutschland, die vom Klimawandel am meisten betroffen sein
werden. In der Wattenmeerregion werden wir es gleich
doppelt zu spüren bekommen. Zum einen ändert sich
durch die höheren Luft- und Wassertemperaturen die Zusammensetzung der Arten massiv. Das kann das Ökosystem in seiner Funktionsfähigkeit bedrohen. Zum anderen
bringt der rasche Anstieg des Meeresspiegels Bedrohungen für Mensch und Natur mit sich. Die Lösung wird
sicherlich nicht darin liegen, Superdeiche zu bauen; die
trockenfallenden Wattflächen sind unverzichtbar.
Grenzüberschreitende Aufgaben, wie sie beim Wattenmeer anfallen, können nur gemeinsam bewältigt werden. Seit über 30 Jahren besteht die deutsch-dänisch-niederländische Wattenmeerkooperation, die uns die
nötigen Strukturen und Instrumente für künftige Herausforderungen gibt. Das Wattenmeer ist fast flächendeckend und umfassend in nationale, europäische und internationale Schutzgebietsnetze eingebettet.
Ich habe mich heute gewundert. Es gab eine Presseerklärung des WWF, in der gefordert wird, wir in den
Ministerien müssten untereinander enger zusammenarbeiten. Ich kann Ihnen versichern: Der Kollege Staatssekretär aus dem Verkehrs- und Bauministerium, Enak
Ferlemann, und ich haben in den letzten Wochen zum
Thema Wattenmeer und bezüglich möglicher Maßnahmen seines Ministeriums sehr intensiv konferiert und kooperiert. Wir haben ordentlich was geleistet. Deshalb
spreche ich dem Herrn Staatssekretär meinen herzlichen
Dank für die gute Zusammenarbeit beim Thema Wattenmeer aus.
({1})
Wir haben ein großes Interesse an der Wattenmeerkonferenz. Sehr viele internationale Besucher, die daran
teilnehmen werden, möchten sich darüber informieren,
wie wir das Abkommen zum Schutz des Wattenmeeres
voranbringen wollen. Ich denke, dass wir einiges vorlegen werden.
2010 ist das Internationale Jahr der biologischen Vielfalt. Wir sind verpflichtet, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen, die biologische Vielfalt in diesem Jahr noch
besser in der öffentlichen Aufmerksamkeit und in der
politischen Agenda zu verankern. Diese Debatte hilft
uns dabei, ebenso wie die Sylter Wattenmeerkonferenz
einen Beitrag dazu leisten wird. Dabei sollen die internationalen Kontakte insbesondere zu Dänemark und den
Niederlanden weiter gestärkt werden. Die Zusammenarbeit mit dem Wattenmeerforum soll fortgeführt werden.
Wichtige Themen auf Grundlage des bisher Erreichten sind die Entwicklung von Strategien und Projekten
für die Anpassung an den Klimawandel, der Umgang
mit nicht einheimischen Tier- und Pflanzenarten, die
weitere Gestaltung der Nutzung des Wattenmeeres wie
Fischerei, Schifffahrt, Energiegewinnung und Tourismus, der bei aller Freude über viele Besucher, gerade als
Folge des Welterbestatus, so naturverträglich wie möglich gestaltet werden muss.
Ich freue mich auf diese Konferenz. Ich danke meinem Kollegen Ingbert Liebing für die Arbeit vor Ort,
und den Kolleginnen und Kollegen hier danke ich für die
Aufmerksamkeit.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Küstengebiet mit vergleichbarer ökologischer Bedeutung, Schönheit, Dynamik und Größe. Das Wattenmeer, dieser einzigartige
Bereich des Lebens zwischen Land und Meer mit seinen
Salzwiesen und Muschelbänken, ist ein weltweit einmaliger Lebensraum für viele bedrohte Tiere und Pflanzen
sowie die Drehscheibe für Millionen von Zugvögeln wie
Ringelgänsen, Eiderenten und Alpenstrandläufern. Hier
leben Tausende Seevögel, darunter auch europaweit bedrohte Arten wie Brandseeschwalbe und Seeregenpfeifer
sowie Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben.
Gleichzeitig werden Küste und Meer fast nirgends auf
der Welt so intensiv vom Menschen geprägt wie in den
Niederlanden, Deutschland und Dänemark.
Doch das Wattenmeer ist nicht nur eine europäische
Großlandschaft von höchster Bedeutung, sondern es ist
zugleich hochgradig gefährdet. So werden über 75 Prozent der im Wattenmeer vorkommenden Biotoptypen
und Biotopkomplexe zumindest als gefährdet eingestuft.
Betroffen ist das Wattenmeer in dramatischer Form - das
ist gerade schon angesprochen worden - vom Klimawandel, insbesondere vom Anstieg des Meeresspiegels,
der diesen Raum, der sich über einen Zeitraum von mehr
als 7 000 Jahren dort gebildet hat, massiv gefährdet.
Neben der Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels ist die Anpassung der Wattenmeerregion an die
möglichen Auswirkungen nötig. Die Herausforderungen sind groß. Nach Aussagen des Alfred-Wegener-Instituts stehen der Region durch den Anstieg des Meeresspiegels - Zitat - fast unglaubliche Veränderungen bevor. Bis Ende des Jahrhunderts könne der Meeresspiegel
um bis zu 1 Meter ansteigen, erklären die Meeresforscher. Mit dem Verlust des Wattenmeeres wäre die Küste
insgesamt bedroht.
Vor dem Hintergrund all dieser Herausforderungen
und zunehmender Gefährdungspotenziale für die Natur,
zum Beispiel durch die Fischerei, den Tourismus, teilweise aber auch durch den technischen Küstenschutz,
haben die drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark,
die Niederlande und Deutschland koordinierte Schutzund Managementmaßnahmen ergriffen. Mit beiden
Nachbarstaaten arbeitet Deutschland für den Schutz des
Wattenmeeres seit vielen Jahren gut und eng zusammen.
Die trilaterale, sprich: Dreiländerzusammenarbeit zum
Schutz des Wattenmeeres ist eine Erfolgsgeschichte und
ein Musterbeispiel für den grenzüberschreitenden Schutz
der biologischen Vielfalt.
Im Wattenmeer funktioniert seit Jahrzehnten, worum
die Staatengemeinschaft in anderen Fragen derzeit ringt.
Gemeinsam ist es möglich, den Verlust der Artenvielfalt
aufzuhalten, das Gleichgewicht eines Ökosystems zu erhalten und gleichzeitig eine nachhaltige Nutzung zuzulassen und die Menschen vor Ort für den Schutz ihrer
Heimat zu gewinnen, auch wenn das ein durchaus langer
Weg war und ist, wie diejenigen, die an der Küste leben
oder dort gelegentlich Urlaub machen, wissen.
Die Überarbeitung der grundlegenden Dokumente und
Strukturen der Zusammenarbeit ist notwendig geworden,
weil die bisherigen Vereinbarungen fast 30 Jahre alt sind.
Auf der Konferenz auf Sylt in wenigen Tagen wird es
auch darum gehen, wie wir die Empfehlungen des Welterbekomitees umsetzen. Zum Glück ist das Wattenmeer
nach langem Kampf seit dem 26. Juni des letzten Jahres
Weltnaturerbe. Das ist eine Entscheidung, die, wie gesagt, lange bekämpft und jetzt zum Glück erkämpft
wurde.
({0})
Damit wurde und wird das Wattenmeer in seiner Bedeutung gewürdigt. Es steht jetzt gleichrangig auf der
UNESCO-Liste neben bedeutenden Naturschätzen wie
dem Yellowstone-Nationalpark in den USA oder den
Galapagosinseln im Pazifik. Die Auszeichnung bringt
einen enormen Imageschub für das Wattenmeer und
wird hoffentlich auch den - ich unterstreiche das - nachhaltigen Tourismus stärken. Hier zeigt sich, dass Naturschutz, Wirtschaft und Tourismus keine Gegensätze sein
müssen. Die Anerkennung des Nationalparks ist aber
auch eine Bestätigung für die Leitlinie, in weiten Bereichen dieses einmaligen Naturerbes Natur Natur sein zu
lassen und für umfangreiche Schutzzonen einzutreten.
Herr Liebing - Sie sind hier schon mehrfach gewürdigt worden -, Sie haben einen interessanten Antrag vorgelegt. Vieles von dem können wir unterschreiben. Die
Zusammenarbeit zwischen den Ministerien wurde gerade gelobt. Inwieweit das Lob zutrifft, kann ich nicht
sagen. Hinter diese Aussage setze ich aber zumindest ein
Fragezeichen. Eine schlechte, jedenfalls keine sehr produktive Zusammenarbeit ist die zwischen Ihnen hier im
Bundestag und denen, die in den Ländern Verantwortung
tragen. Ich finde es geradezu skandalös, dass Sie von
Schwarz-Gelb im Bundestag die Wichtigkeit des Wattenmeerschutzes beschwören, während Ihre Kollegen
von Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein und Niedersachsen durch Beschlüsse genau das Gegenteil tun
({1})
- das wird noch zu würdigen sein - und mit der Kettensäge an die Finanzierung wichtiger Projekte gehen. So
möchte Schleswig-Holstein die Zuschüsse zum Freiwilligen Ökologischen Jahr kürzen, und zwar um eine halbe
Million Euro im Jahr.
({2})
Kirchen und Verbände in Schleswig-Holstein fürchten,
dass von den 150 Plätzen, die für die Arbeit der Naturschutzverbände existenziell wichtig sind, nur noch
100 Plätze übrig bleiben. Das ist nicht hinnehmbar, und
diese Kritik müssen wir dann hier auch formulieren.
Was passiert in Niedersachsen? Das Land Niedersachsen ist dabei, die Förderung der Nationalparkhäuser
trotz steigender Besucherzahlen zu kürzen, obwohl es so
gern den Naturschutz mit den Menschen predigt, wie
nachzulesen ist. Das ist ein wirklicher Rückschlag für
das Weltnaturerbe. Das darf man international eigentlich
niemandem erzählen. In den letzten Jahren wurden die
Mittel gekürzt, und mehr Geld für die Ausstattung der
Nationalparkhäuser im Wattenmeer wird es - so ist zu
hören - bis 2013 nicht geben. Offensichtlich müssen die
Nationalparkhäuser selber sehen, wie sie mit den gestiegenen Anforderungen für die Informations- und Bil2424
dungsarbeit zurechtkommen, die gerade jetzt mit der
Anerkennung als Weltnaturerbe auf sie zukommen. Ich
jedenfalls sehe die Entwicklung der 14 Nationalparkhäuser und -zentren in Niedersachsen mit Sorge. Seit dem
Antritt der schwarz-gelben Landesregierung ist die Finanzierung zurückgefahren worden. Auch für das Jahr
2010 gibt es keine Besserung.
Kommen wir zu den PSSAs; ich nenne jetzt nicht den
langen englischen Begriff. Das sind die Schutzzonen der
Internationalen Schifffahrtsorganisation. Seit 2001 ist
das Wattenmeer eine solche Schutzzone. Das ist schön;
aber im Wattenmehr gibt es kaum Schiffe. Die Schiffe
kann man nur sehen, wenn man abends zum Beispiel in
Juist am Strand steht; man sieht sie im Dunkeln als helle
Punkte am Horizont. Sie befinden sich vor der Schutzzone. In diesen Bereichen und in den Bereichen der gefährdeten Hafeneinfahrten gibt es Schiffe.
Sie haben recht mit Ihrem Hinweis auf mögliche
Wettbewerbsverzerrungen gegenüber niederländischen
Häfen, wenn man diesen Bereich ohne Weiteres in den
Schutz einbeziehen würde. Deshalb wäre es notwendig,
in einen konstruktiven Dialog darüber einzutreten, wie
die Seeschifffahrt - in Abstimmung der Umweltschutzbehörden mit den Verkehrsbehörden - sicherer gemacht
werden kann, ohne dass Wettbewerbsverzerrungen eintreten. Dies ist zum Beispiel der Wunsch bzw. die Bitte
vieler Naturschutz- und Umweltschutzverbände, deren
Position wir nachhaltig unterstützen. Eine solche Perspektive zeigen Sie in Ihrem Antrag nicht auf.
Der Antrag der Koalition macht deutlich, dass es in
diesem Haus eine hohe Übereinkunft bei der Einschätzung der Bedeutung des Wattenmeeres und der Zusammenarbeit der drei Länder gibt; das ist gut so. Ihr Antrag
allerdings hat wenig Substanz, bringt uns zu wenig nach
vorn und schont die falsche Politik Ihrer Landesregierungen. Deshalb wird sich die SPD bei der Abstimmung
über den Antrag enthalten.
Vielen Dank.
({3})
Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin
Angelika Brunkhorst.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben gerade bei uns in der Fraktion einen neuen
Slogan entworfen: Würmer, Watt und Weltnaturerbe.
Das klingt doch gut. Diese Debatte hört sich auch eher
an wie eine große Schwärmerei für das, was hier gelungen ist. Die Aufnahme der deutsch-niederländischen
Wattenmeerregion in die Liste der UNESCO-Weltnaturerbestätten stellt sie auf eine Ebene - das wurde schon
gesagt - mit anderen großen Naturstätten wie dem Grand
Canyon in den USA und dem Great Barrier Reef vor der
Küste Australiens.
Es wurde auch schon gesagt, dass wir es hier mit einem
einzigartigen, außergewöhnlichen Naturraum zu tun haben, in dem es eine hohe Artenvielfalt von Vögeln, Fischen, Krebstieren und natürlich auch Robben gibt. Auf
dieser Welt gibt es keine größere zusammenhängende Wattenmeerregion: 13 000 Quadratkilometer, allein 10 000 davon in der Schutzkategorie Nationalpark. Als eines der
größten Feuchtgebiete der Erde, als Rastplatz für viele
Millionen Zugvögel, als Kinderstube für Meerestiere und
mit seinem Reichtum an Lebensräumen für Tierarten und
Pflanzenarten ist das Wattenmeer weltweit einzigartig.
Dieser außergewöhnliche Wert wurde nun von der
UNESCO gewürdigt. Das Wattenmeer hat ein tolles Prädikat erhalten.
({0})
Ebenso wurde - Sie haben die Konkurrenz bei der
Schifffahrt angesprochen - von der Internationalen
Schifffahrtsbehörde anerkannt, dass das Wattenmeer
durchaus ein bedeutsames und ökologisch empfindsames Gebiet darstellt. Die trilaterale Wattenmeerzusammenarbeit basiert auf der gemeinsamen Erklärung der
drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark, Niederlande
und Deutschland. Die Trilaterale Wattenmeerkonferenz
findet vom 17. bis 19. März 2010 unter deutscher Präsidentschaft, die Deutschland seit 2006 ausübt, auf Sylt
statt. Auf dieser Konferenz soll eine gemeinsame Ministererklärung verabschiedet werden, in der die Schwerpunkte für die nächste Präsidentschaft festgelegt werden,
und es sollen auch modernere Organisationsstrukturen
festgelegt werden.
Das Leitbild der drei Anrainerstaaten bei der Entwicklung gemeinsamer Maßnahmen ist, so weit wie
möglich ein natürliches und sich selbst erhaltendes Ökosystem zu erreichen, in dem natürliche Prozesse ungestört ablaufen können. Um dies zu schaffen, wurde im
Jahre 2001 das Wattenmeerforum eingerichtet. Es ist ein
Forum, welches soziale, aber auch wirtschaftlich und
ökologisch ausgerichtete Maßnahmen entwickeln soll,
die im Rahmen einer Gesamtvision wirken sollen. Hier
sind Vertreter aus dem staatlichen Bereich, Vertreter von
Nichtregierungsorganisationen, aber auch die Bürger vor
Ort mit eingebunden; das ist selbstverständlich. Es ist
wichtig, dass das Wattenmeerforum seine Arbeit auch in
Zukunft fortsetzen kann. Viele Probleme lassen sich nur
in Kooperation mit anderen Staaten lösen; allein sind sie
nicht lösbar.
Das Prädikat UNESCO-Weltnaturerbe ist - ich
habe es schon gesagt - wertvoll. Es ist auch ein wirksames Marketinginstrument. Die Wattenmeerregion kann
sich eine gute Marktposition auf dem Gebiet des naturnahen Tourismus verschaffen. Damit ist das für den Tourismus wertvolle Prädikat Weltnaturerbe sicherlich ein
Standortvorteil für die deutsche Küstenregion. Wir begrüßen, dass auch der dänische Teil des Wattenmeeres
jetzt als Nationalpark eingestuft werden soll, und hoffen,
dass in der Folge auch dieser Teil als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt wird.
({1})
Zudem hat die Stadt Hamburg sozusagen auf der Zielgeraden gerade noch den Antrag gestellt, auch ihre Wattenmeerflächen als UNESCO-Weltnaturerbe anzuerkennen.
Dem Vorhaben, die sogenannten PSSAs, die Particularly
Sensitive Sea Areas, auszuweiten - dass dies geschieht,
war eine Sorge der maritimen Wirtschaft -, haben die zuständigen Bundesressorts eine Absage erteilt. Man erachte die gültigen Schutz- und Sorgfaltspflichten als angemessen.
Unser Wattenmeer muss für die jetzige Generation
und für künftige Generationen erhalten bleiben. Die Managementmaßnahmen im Rahmen der Trilateralen Wattenmeerkonferenz sind insbesondere darauf ausgerichtet,
den Anforderungen an die Erhaltung der Biodiversität in
dem natürlichen und dynamischen Wattenmeerökosystem gerecht zu werden.
Die ersten Bemühungen zeigen bereits Erfolge. Beispielsweise waren die Kegelrobben stark dezimiert; sie
wären fast ausgestorben. Jetzt gibt es wieder große Populationen, die insbesondere in einer Kolonie auf der
Kachelotplate zu finden sind. Dort können sie sich völlig
ungestört entwickeln und haben Ruhe und Wurfplätze.
Es ist gut, zu sehen, dass bestimmte Tierarten, wenn man
sie vor Verfolgung schützt und ihnen Ruhe gewährt und
Rückzugszonen einräumt, sich wieder vermehren und
sich dort heimisch fühlen.
Die FDP verfolgte schon immer eine Naturschutzpolitik - es sei mir zum Schluss gestattet, darauf hinzuweisen -, die Naturschutz mit den Menschen proklamiert. Für bestimmte Maßnahmen brauchen wir die
Akzeptanz der Menschen vor Ort. Ich glaube, die Nominierung des Wattenmeeres als UNESCO-Weltnaturerbe
ist dafür ein Paradebeispiel. Denn die Menschen vor Ort
sind auf breiter Basis für die Anmeldung und Durchsetzung dieser langjährigen Bemühungen eingetreten und
haben sie mitgetragen. Dafür danke ich den Menschen
vor Ort.
Ich danke auch für Ihre Aufmerksamkeit und bitte,
dem Antrag zuzustimmen.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Stüber für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Wattenmeer - im Gezeitenwechsel der Nordsee mal Land, mal Meer - ist mit 10 000 Quadratkilometern das größte Küstenfeuchtgebiet Europas. Sie, sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
würdigen in Ihrem Antrag den einzigartigen Naturwert
mit seiner enormen Artenvielfalt. Zu Recht benennen
Sie Erfolge, auf die wir stolz sein können. Seit 1982 arbeiten Dänemark, Deutschland und die Niederlande zusammen, um diesen Naturraum zu schützen.
Dabei wurde viel erreicht, von der Unterschutzstellung bis zur gemeinsamen Nominierung des Wattenmeeres für die Welterbeliste und der Anerkennung als Weltnaturerbe. Die Arbeit soll weitergeführt, entwickelt und
natürlich auch finanziert werden.
Alles, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, können
wir nur unterstützen - bis auf einen, aus unserer Sicht
leider keinen kleinen Widerspruch; fast könnte man es
überlesen. Ich zitiere:
Deshalb unterstützt der Deutsche Bundestag die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegen eine
Ausdehnung des PSSA-Gebietes
über das Wattenmeer-Kooperationsgebiet hinaus.
In der trilateralen Zusammenarbeit konnte man sich
lange nicht zu einem Schutz des Wattenmeeres vor möglichen Folgen der Schifffahrt einigen,
({0})
bis zur Havarie des Frachters Pallas vor Amrum 1998.
Nur rund 100 Tonnen Öl kosteten 16 000 Seevögel das
Leben. 2001 einigten sich die drei Staaten darauf, für das
Wattenmeer den Status als Besonders Empfindliches
Meeresgebiet bei der IMO, der UN-Organisation für die
weltweite Regelung der Schifffahrt, zu beantragen. Diesen Status erhalten nur Gebiete mit einer besonders hohen ökologischen Bedeutung, die von der Schifffahrt
durch Verschmutzung gefährdet werden können. Die
südliche Nordsee gehört dazu. Sie ist eines der weltweit
am stärksten befahrenen Meeresgebiete.
Der Gebietsschutz geht allerdings bisher nicht über
die Weltnaturerbefläche hinaus, und man konnte sich
auch noch nicht über zusätzliche Schutzmaßnahmen verständigen. Die bestehenden Maßnahmen wurden als ausreichend eingestuft.
Was heißt das, Kolleginnen und Kollegen? Das heißt,
dass mit diesem Antrag, über den wir heute hier befinden, das Signal für die künftige Arbeit der trilateralen
Wattenmeerkooperation doch recht dürftig ausfällt; denn
neben der Unterstützung all der durchaus wichtigen
Maßnahmen wird der grundsätzliche Schutz des Wattenmeeres, die Einrichtung einer Pufferzone um das eigentliche Weltnaturerbe, explizit ausgeschlossen. Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil Deutschlands ist wie in
vielen Fällen die eher fadenscheinige Begründung.
({1})
Das Wattenmeer braucht mehr Schifffahrtsschutz als
bisher. Der Schiffsverkehr auf dem Hauptstrom parallel
zum deutschen und niederländischen Wattenmeer wird
weiter zunehmen. Ich möchte mir den Wettbewerbsnachteil für den deutschen Tourismus und die Fischerei an
der Nordsee nach einer jederzeit möglichen Havarie gar
nicht vorstellen.
Umwelt- und Schifffahrtsverbände machen immer
wieder Vorschläge und fordern seit Jahren ein umfassendes Schiffsverkehrsmanagement. Hinzu kommt die Forderung nach einer Erweiterung der Schutzzone und
deren Einstufung als Besonders Empfindliches Meeres2426
gebiet. Dem schließen wir uns als Linke an. Den Antrag
in der jetzigen Form lehnen wir ab.
({2})
Wir erwarten von der Bundesregierung, mit ihren Vorschlägen den gegenwärtigen Erfordernissen mit einem
Blick in die Zukunft gerecht zu werden.
Danke.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Valerie Wilms
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Als Grüne müsste ich mich
eigentlich wirklich freuen: Auf Antrag der Koalition
- Herr Liebing, vielen Dank - reden wir heute über das
UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer, und dies gerade
im Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt, wie die
Parlamentarische Staatssekretärin sagte. Das ist wirklich
zu begrüßen.
Aber was muss ich dann feststellen? Das von Ihnen
abgelieferte Papier bleibt äußerst dünn, und damit entspricht der Antrag leider auch dem Gesamtbild, das
diese Koalition seit ihrem Bestehen abgibt.
({0})
Was bitte wollen Sie mit diesem deklaratorischen Antrag
eigentlich erreichen? Wenn Sie wirklich etwas für das
Wattenmeer tun wollen, müssen Sie an größeren Rädern
drehen. Oder ist Ihnen das zu anstrengend?
Da wäre zum Beispiel die zunehmende Vermüllung
der Meere. Inzwischen gehört die Deutsche Bucht zu
den am meisten verschmutzten Gewässern. Das Wattenmeer und unsere Küsten leiden unter all den bekannten
negativen Auswirkungen, auch auf Natur und Tourismus. Hier erwarten wir von Ihnen Vorschläge. Davon ist
nichts zu sehen, Sie drücken sich.
({1})
Das Wattenmeer gehört zwar inzwischen zum
UNESCO-Weltnaturerbe und ist damit geschützt; aber
was kann dagegen getan werden, dass Schiffe ihren Abfall auf offener See einfach verklappen? Was irgendwo
da draußen in die Nordsee gekippt wird, landet früher
oder später im Watt. Vögel und Meerestiere fressen
kleine Plastikteile und verenden daran. Schauen Sie sich
einmal den Film Plastic Planet an! Er ist sehr interessant.
({2})
Der Rest steckt im Schlick oder wird an den Strand gespült. Das ist die Realität, mit der das Wattenmeer heute
zu kämpfen hat. Auch davon findet sich in Ihrem Antrag
nichts.
({3})
Auch über die Deichsicherheit und den Klimawandel
verlieren Sie in Ihrer Vorlage kein Wort. Dabei hat uns
das Sturmtief Xynthia erst letztes Wochenende gezeigt, womit wir in Zukunft zu rechnen haben. Weltweit
werden die Meeresspiegel dramatisch ansteigen. Allein
seit 1900 ist der Pegel der Nordsee um 20 Zentimeter angestiegen. Der Klimawandel wird diesen Effekt noch
verschärfen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Setzen Sie
diese Problematik auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz auf Sylt. Gerade die Insel Sylt - Herr Liebing,
das wissen Sie als Sylter am besten - ist besonders betroffen.
({4})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon zu
Beginn betont, dass wir Grünen es begrüßen, wenn sich
der Bundestag mit dem UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer beschäftigt. Die Koalition hat eine Reihe von
Punkten durchaus zu Recht in ihren Antrag aufgenommen. Dennoch bleibt vieles hinter dem Notwendigen zurück. Ihr Antrag ist eine Deklamation von Bekanntem
und Wünschenswertem. Deswegen fordere ich Sie auf,
endlich etwas für den Schutz des gesamten Meeres zu
tun.
({5})
Wir werden das Wattenmeer in seiner Einzigartigkeit nur
bewahren können, wenn wir für die gesamte Nordsee
und den Atlantik etwas tun und zum Beispiel die zunehmende Vermüllung stoppen. Werden Sie dazu auf europäischer und globaler Ebene aktiv! Dazu bietet sich
diese Regierungskonferenz geradezu an, wenn Sie die
Leitlinien für die nächste Präsidentschaft bestimmen
wollen.
Es ist schade, dass Sie über dieses wichtige Thema
sofort abstimmen wollen. Wir hätten gerne im Ausschuss Verbesserungen eingebracht, damit auch die Naturschutzverbände voll hinter Ihnen stehen. Ein Stichwort wäre, dass Sie die Ausweitung des Schutzstatus
PSSA ablehnen. Schon vor diesem geringen Schutzstatus schrecken Sie zurück, obwohl hiervon keinerlei negative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu erwarten
sind. Das ist mehr als enttäuschend.
({6})
Bei etwas so Wichtigem wie dem Wattenmeer hätte
man bei gutem Willen durchaus zu einem Antrag des
ganzen Hauses finden können. Das war offensichtlich
nicht Ihr Wunsch. Für eine Regierungskoalition, die
Maßstäbe setzen will, hat Ihr Antrag leider zu wenig Inhalt. Sie werden unsere Stimmen nicht brauchen - und
auch nicht bekommen. Ich empfehle meiner Fraktion
eine Enthaltung.
Vielen Dank.
({7})
Frau Kollegin Dr. Wilms, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr
herzlich und verbinde das mit den besten Wünschen für
die weitere Arbeit.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Ingbert Liebing für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die heutige Debatte über das Wattenmeer hat gezeigt,
dass wir alle miteinander in diesem Hause stolz darauf
sind, dass die UNESCO diesen einzigartigen Naturraum
im vergangenen Jahr als Weltnaturerbe ausgezeichnet
hat.
Nach Ihrem Beitrag, Frau Dr. Wilms, sage ich bei aller persönlichen Wertschätzung ganz offen: Ich hätte
mich gefreut, wenn Sie bei diesem Thema das, was uns
verbindet, in den Vordergrund gestellt hätten.
Ich habe ausdrücklich darauf verzichtet, nun alles
Mögliche aus den Unterlagen der Konferenz abzuschreiben - Ministererklärung, Wattenmeerplan und Ähnliches -,
in denen all die Dinge, die Sie hier einfordern, sehr wohl
angesprochen werden: von der Sicherheit auf See über
den Seeverkehr bis hin zum Klimawandel. Wenn Sie
sich die Mühe gemacht hätten, einmal in diese Konferenzunterlagen hineinzusehen, dann hätten Sie feststellen können, dass dies alles auf der Konferenz behandelt
wird. Wir brauchen das alles aber nicht noch einmal in
unserem Antrag abzuschreiben.
Es ist gut, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag mit diesem Thema beschäftigen, weil das auch eine
Würdigung der Anerkennung des Wattenmeeres als
Weltnaturerbe darstellt. Dabei war das wahrlich keine
Selbstverständlichkeit. 18 Jahre hat es gedauert, bis
diese Auszeichnung erreicht werden konnte. Es war ein
schwieriger Diskussionsprozess, den ich selber vor Ort
erlebt habe.
Schließlich gibt es auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Naturraum Wattenmeer und den
vielfach zitierten Vergleichsregionen wie Grand Canyon
und Great Barrier Reef. Das Wattenmeer ist schließlich
auch ein Raum, in dem Zehntausende Menschen auf den
Inseln und Halligen mitten im Wattenmeer leben und arbeiten. Wenn wir die Küstenregionen dazunehmen, kommen weitere Millionen Menschen hinzu.
Es ist ein Raum, in dem jährlich Millionen von Menschen Urlaub machen. Die Menschen auf den Inseln und
Halligen sind von der Schifffahrt und vom Küstenschutz
abhängig, mit dem sie über Jahrhunderte hinweg ihren
Lebensraum gesichert haben. Hafen- und Energiewirtschaft hängen eng mit dem Wattenmeer zusammen. Das
gilt genauso für die Fischerei und die Landwirtschaft.
Sie alle haben gefragt: Welche Folgen hat die Anerkennung als Weltnaturerbe für uns? - Es ist inzwischen
klargestellt: Das Wattenmeer verfügte bereits vor der
Anmeldung über ein so hohes Schutzniveau, dass es zusätzlicher Restriktionen nicht bedarf. Niemand muss
deshalb Sorge haben, dass durch das Welterbe legitime
Interessen der Region beeinträchtigt werden. Deshalb
gab es im Juni vor allem Stolz und ein Aufatmen in der
Region.
({0})
Das ist aber auch das Ergebnis einer geänderten Vorgehensweise gewesen. Ich habe erlebt, wie umweltpolitische Ziele von Rot-Grün von oben und von außen vorgegeben worden sind. Dadurch wurde eher Widerstand
hervorgerufen. Es sind dann andere, Unionspolitiker,
und andere Landesregierungen, christlich-liberale Landesregierungen, gewesen, die dann anders damit umgegangen sind, die die Menschen mitgenommen und Überzeugungsarbeit geleistet haben.
({1})
Deswegen ist es gelungen, dass die Menschen in der Region zu diesem Welterbe jetzt Ja sagen.
({2})
Herr Kollege Liebing, ich darf Sie kurz unterbrechen.
Der Herr Kollege Schwabe möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja, gerne.
Herr Kollege Liebing, ich will Ihr Engagement durchaus würdigen, und Sie haben zu Recht angesprochen,
wie schwierig die Situation vor Ort ist und wie schwierig
es ist, Akzeptanz bei den Menschen vor Ort zu erreichen.
Trotzdem will ich Sie an dieser Stelle doch noch einmal fragen: Wie kann es sein, dass gerade die Landesregierungen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die
Sie ja gerade, denke ich, ein Stück weit gelobt haben, die
Mittel für die Infrastruktur, für die Nationalparkhäuser
und für das Personal kürzen, obwohl sie ja gerade dafür
da sind, Akzeptanz zu schaffen, eine Nachhaltigkeit bei
der touristischen Nutzung zu erreichen und Überzeugungsarbeit zu leisten? Wie kann es also sein, dass diese
Mittel gekürzt werden?
Ich sehe keineswegs, dass die niedersächsische Landesregierung ihrer Verantwortung für das Wattenmeer
jetzt nicht nachkommt, sondern ganz im Gegenteil: Die
niedersächsische Landesregierung investiert im Rahmen
eines Interreg-Programms gemeinsam mit den Nachbarn
in den Niederlanden 300 000 Euro für zusätzliche Maßnahmen im Wattenmeer.
Zum FÖJ in Schleswig-Holstein. Es geht ausschließlich darum, dass die Finanzierung auf den Level der anderen Bundesländer abgesenkt wird, nachdem Ihre Kollegen in Kiel in roter und rot-grüner Regierungszeit das
Land über 18 Jahre hinweg ruiniert haben. Das Land ist
jetzt pleite, und jetzt kann man sich nicht mehr erlauben
als andere Länder.
({0})
- Herr Kelber, ich schlage vor, dass wir jetzt zum Thema
zurückkommen. Kommen wir zurück zum Wattenmeer.
({1})
- Das ist nicht unangenehm, aber beschäftigen wir uns
lieber mit unserem Thema.
Wir sind stolz auf die Anerkennung als Weltnaturerbe, und es ist gut, dass jetzt auch der Hamburger Senat
das klare Bekenntnis dazu abgegeben hat, die dortigen
Flächen nachzumelden. Auch Dänemark wird diese Diskussion jetzt aufnehmen können, nachdem die Anerkennung als Nationalpark auf den Weg gebracht wurde. Das
alles sind gute Perspektiven für das Wattenmeer.
Wir müssen aber auch die Chancen nutzen, vor allem
auch für den Tourismus. Hier sehe ich eine nationale
Verantwortung. Ich freue mich, dass das Bundesumweltministerium dieses Thema aufgegriffen hat, und möchte
Staatssekretärin Heinen-Esser ausdrücklich ermuntern,
diesen Weg weiterzugehen; die Unterstützung der Koalition ist hier sicher.
({2})
Seit über 30 Jahren arbeiten die Niederlande, Dänemark und Deutschland in der Trilateralen Wattenmeerkooperation zusammen. Diese Kooperation bildet die
Grundlage für das hochrangige Schutzniveau, das wiederum die Voraussetzung für die Anerkennung als Weltnaturerbe gewesen ist. Im Rahmen der Kooperation finden alle vier Jahre Regierungskonferenzen statt, so auch
in zwei Wochen auf Sylt. Die Konferenz auf Sylt bildet
den Abschluss einer erfolgreichen deutschen Präsidentschaft in der Trilateralen Wattenmeerkooperation. Wir
können diese Präsidentschaft wegen der erfolgreichen
Anmeldung des Weltnaturerbes, wegen des überarbeiteten Wattenmeerplans, wegen des erneuerten Gründungsdokuments der Kooperation, wegen der neu entwickelten Organisationsstruktur und wegen des Entwurfs einer
Ministererklärung ausdrücklich würdigen.
Ich will gerne zwei der Themen aufgreifen, die auf
der Konferenz verhandelt werden sollen. Das Thema
PSSA ist mehrfach kritisch angesprochen worden. Um
es ausdrücklich zu sagen: Das Thema der Sicherheit auf
See ist für die Wattenmeerkonferenz von entscheidender
Bedeutung. Es spielt, wie man den Unterlagen entnehmen kann, auch auf der Konferenz eine Rolle. Hier sitzt
niemand, der sagt: Wir müssen uns nicht mit dem Thema
beschäftigen. Ich persönlich setze mich seit vielen Jahren dafür ein, die Sicherheitsstruktur auf See zu verbessern. Es wird ein Thema sein, die Bundeskompetenzen,
die gesplittet sind und sich auf verschiedene Behörden
verteilen, zu bündeln. Es waren die Sozialdemokraten,
die dies in der Vergangenheit immer verweigert haben.
Die christlich-liberale Koalition hat sich vorgenommen,
die Kompetenzen zu bündeln; wir werden das tun. Ich
werde Sie daran messen, ob Sie mitziehen, wenn wir
dies einbringen.
({3})
Beim Thema PSSA geht es um mehr: In erster Linie
geht es nicht um den Schutz des Wattenmeeres. Es
glaube doch bitte keiner, dass diejenigen in Holland, die
die Ausdehnung der PSSA vorantreiben, dies ausdrücklich mit Blick auf den Schutz des Wattenmeeres tun! Sie
tun es mit Blick darauf, dass die deutschen Seehäfen
nach einer Ausdehnung in das Schutzgebiet einbezogen
wären und damit die Zufahrt zu ihnen erschwert würde,
während Rotterdam - auch Antwerpen - außen vor bleiben würde. Natürlich hat dies Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Häfen, die wir nicht akzeptieren können. Beschäftigen wir uns lieber mit den konkreten
Maßnahmen, die tatsächlich für mehr Sicherheit im Seeverkehr sorgen, anstatt nur pauschal über das Thema der
PSSA zu sprechen!
Im Übrigen darf ich daran erinnern: Ehemalige Minister - sowohl Herr Tiefensee von der SPD als auch
Herr Trittin von den Grünen - haben die Ausdehnung
der PSSA über das eigentliche Schutzgebiet des Wattenmeeres hinaus nicht betrieben. Da das Stichwort Pallas
gefallen ist, möchte ich hervorheben: Das Unglück der
Pallas wäre auch durch eine Ausdehnung der PSSA nicht
verhindert worden; denn ein PSSA-Gebiet schützt nicht
davor, dass ein Havarist von draußen in das Wattenmeer
hineintreibt. Es handelte sich um einen Holzfrachter, der
durch jedes PSSA-Gebiet hätte fahren dürfen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist das
Wattenmeerforum. Es ist ein sehr gutes Instrument, das
die Interessenorganisationen in der Wattenmeerregion
bündelt und in die Wattenmeerkooperation mit einbringt.
Dieses Wattenmeerforum bekommt mit dieser Regierungskonferenz einen neuen, gestärkten Status als Berater des neuen Wattenmeervorstandes. Wenn man dies tut,
dann muss man auch dafür sorgen, dass die Arbeit kontinuierlich fortgesetzt werden kann. Deswegen setzen wir
uns mit unserem Antrag auch dafür ein, dass diese Arbeit fortgesetzt werden kann, auch in finanzieller Hinsicht. Ich bin sicher: Dies stärkt das Vertrauen in der Region und dient dem gemeinsamen Interesse des
Wattenmeerschutzes.
Die beiden Ereignisse - Listung des Wattenmeeres als
Weltnaturerbe sowie die Trilaterale Wattenmeerkonferenz auf Sylt zum Abschluss der deutschen Präsidentschaft - sind es wert, vom Deutschen Bundestag gewürdigt zu werden. Dies tun wir, die Fraktionen der
christlich-liberalen Koalition, mit unserem Antrag. Ich
werbe für ein deutliches Signal des Deutschen Bundestages, den Wert dieses Naturraums zu würdigen, die Leistung der deutschen Präsidentschaft in der Wattenmeerkooperation anzuerkennen und die Chancen, die dieser
Raum bietet, beherzt zu nutzen. Darum bitte ich Sie
heute um Unterstützung für unseren Antrag.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/903 mit dem Titel 11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz - UNESCO-Weltnaturerbe würdigt Schutz des
Wattenmeeres. Wer stimmt für den Antrag? - Wer ist
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Arndt-Brauer, Rainer Arnold, Sabine Bätzing und
weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD,
sowie der Abgeordneten Jan van Aken, Agnes
Alpers, Dr. Dietmar Bartsch und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE
sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae,
Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1})
und weiterer Abgeordneter der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 17/888 ({2}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Matthias Miersch von der SPD-Fraktion das
Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Recht, einen Untersuchungsausschuss zu verlangen,
ist ein Urrecht und ein wichtiges Recht, das meistens die
Minderheit im Parlament wahrnimmt. Wir meinen, dies
ist ein Mittel, das sehr sorgfältig eingesetzt werden
muss; aber es muss eingesetzt werden, wenn es um zentrale Fragen geht.
Die Endlagersuche und die Risikotechnologie Atomenergie sind solche zentralen Fragen. Wir haben Zweifel,
ob die einseitige Festlegung auf den Erkundungsstandort
Gorleben tatsächlich auf richtigen Erwägungen beruht.
Wir haben vielmehr den Eindruck, dass vieles verdeckt
werden soll und dass die schwarz-gelbe Bundesregierung alle Zweifel vom Tisch wischen will. Das darf nicht
sein. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, einen
Untersuchungsausschuss einzurichten.
({0})
Worum es im Einzelnen gehen wird, wird meine Kollegin Ute Vogt, die für uns die Obfrau in diesem Ausschuss sein wird, näher erläutern. Ich will nur kurz den
Kern skizzieren. Es geht darum, zu klären, ob es unter
der Regierung von Helmut Kohl, unter der schwarz-gelben Bundesregierung im Jahr 1983 zur Festlegung auf
den Untersuchungsstandort Gorleben gekommen ist, obwohl man es hätte besser wissen müssen.
Die Frage, die sich stellt, ist, ob Zweifel, die von
Fachleuten angemeldet wurden, unberücksichtigt geblieben sind. Die Frage ist, ob die Politik dergestalt Einfluss
genommen hat, dass Fachleute und Gutachten nicht
mehr die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Frage
ist, ob Zweifel, die frühzeitig geäußert wurden, unterdrückt wurden.
Wir haben Hinweise darauf, dass Gutachten manipuliert wurden und die Fakten bewusst nicht zur Kenntnis
genommen worden sind. Darum wird es in diesem Untersuchungsausschuss gehen.
Die Diskussion über das Endlager findet in einem
hochaktuellen Kontext statt. Sie streiten sich als
schwarz-gelbe Koalition wie die Kesselflicker um die
Frage, wie Sie mit der Atomtechnologie weiter umgehen.
({1})
Parallel dazu kürzen Sie bei den erneuerbaren Energien.
Was wir heute aus den Haushaltsberatungen hören, ist
mehr als alarmierend. Sie scheinen wirklich weit in die
Vergangenheit zurückzufallen.
Gleichzeitig formiert sich der Widerstand in der Öffentlichkeit. Am 24. April 2010 werden viele Menschen
aus den unterschiedlichsten Gruppen ihre Interessen dadurch vertreten, dass sie zwischen Brunsbüttel und
Krümmel eine Menschenkette bilden werden. Gleichzeitig will Bundesminister Röttgen jetzt plötzlich in Gorleben die Öffentlichkeit beteiligen.
Wenn Herr Röttgen etwas sagt, dann muss man sehr
genau aufpassen, wie Worte und Taten zusammenzubringen sind. Auch hier zeigt sich, dass die Beteiligung der
Öffentlichkeit vieles offenbar kaschieren soll und dass es
eigentlich nur eine Pseudobeteiligung ist. Denn worum
geht es? Sie haben vor, das Ganze weiterhin nach dem
Bergrecht zu regeln, mit der Folge, dass es gerade keine
richtigen Möglichkeiten zu Einwendungen und Klagen
der Bevölkerung gibt.
Führen Sie die Leute nicht vor! Wir haben drei elementare Forderungen: Erstens. Beteiligen Sie die Öffentlichkeit richtig, statt sie vorzuführen!
Zweitens. Stellen Sie, solange dieser Untersuchungsausschuss tagt, alle Tätigkeiten der weiteren Erkundung
von Gorleben ein! Alles andere wäre unverantwortlich.
({2})
Drittens. Führen Sie keine einseitige Erkundung
durch! Denn wir wissen schon heute, dass es eigentlich
um viel mehr geht. Sie wissen, dass Sie in Gorleben
enorme Probleme bekommen werden. Denn die Verträge
mit den Grundstückseigentümern laufen 2015 aus. Wer
seriös an die Sache herangeht, weiß, dass man für die Erkundung viel länger braucht. Sie wissen eigentlich heute
schon, dass Sie bei Gorleben gar nichts gewinnen können. Insofern ist der Schritt, den der Bundesminister jetzt
scheinbar vorhat, ein unverantwortlicher.
({3})
Jeder, der sich mit der Frage beschäftigt, weiß, dass
neben Salz inzwischen ganz andere Gesteinsarten - beispielsweise Ton und Granit - infrage kommen. Wer sich
heutzutage einseitig auf Gorleben festlegt, produziert eigentlich den nächsten Skandal. Denn wer in die Schweiz
oder in andere Länder schaut, weiß, dass man sich nicht
einseitig festlegen darf. Das ist unverantwortlich.
({4})
Sie werden genau überlegen müssen, wie Sie mit den
Menschen vor Ort umgehen. Wenn sich herausstellen
sollte, dass hier manipuliert worden ist, oder sich herausstellen sollte, dass fachliche Stellungnahmen nur unzureichend zur Kenntnis genommen worden sind, dann
können Sie doch nicht in einem so gefährlichen Gebiet
nach dem Motto handeln: Augen zu und durch. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie werden hier
mit dem geballten Widerstand der Opposition zu rechnen haben. Deswegen sage ich zum Abschluss noch einmal: Lassen Sie augenblicklich die Finger von Gorleben!
Nehmen Sie Ihre Kraft mit in den Untersuchungsausschuss! Klären Sie das gemeinsam mit uns auf, und unterlassen Sie, solange der Untersuchungsausschuss tagt,
jegliche Vorhaben, diese Erkundung weiter durchzuführen!
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria
Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Herr Kollege Miersch hat es bereits gesagt: Es ist
das schärfste Schwert der Opposition, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu beantragen, und zugleich ist es ein Minderheitenrecht. Für uns als Unionsfraktion, als größte Fraktion im Bundestag, ist es
selbstverständlich, dass wir den Untersuchungsauftrag
mit großem Respekt vor den Maßgaben des Grundgesetzes unaufgeregt abarbeiten.
Untersuchungsgegenstand ist ein schwerwiegender
Vorwurf gegen die Regierung Kohl/Genscher aus dem
Jahr 1983. Damals fiel die Entscheidung, ausschließlich
den Salzstock Gorleben als mögliches Endlager für radioaktive Abfälle untertägig zu erkunden. Der Vorwurf,
dass dort Manipulationen stattgefunden haben, wurde
wie zufällig wenige Wochen vor der Bundestagswahl
2009 durch den damaligen Bundesumweltminister publik gemacht. Das Bundeskanzleramt hat diese Vorwürfe
überprüft und einen eindeutigen Bericht dazu abgegeben.
({0})
Das Bundesumweltministerium hat dasselbe gemacht.
Beide Berichte sind nicht ganz gleichlautend.
({1})
Auch das wird sicherlich Gegenstand der Arbeit in
unserem Ausschuss sein.
Die Nutzung von Kernenergie ist seit den 70er-Jahren
eine wichtige Ressource zur Produktion von Strom in
der Bundesrepublik Deutschland. Dabei fällt hochradioaktiver Abfall an. Es ist eine ethische Verpflichtung, eine
Frage der politischen Redlichkeit und der Übernahme
von Verantwortung für einmal getroffene Entscheidungen, dass der Deutsche Bundestag sich der Lösung der
Entsorgungsfrage tatsächlich annimmt.
({2})
Es ist eine Frage der nationalen Entsorgung, natürlich
nach unseren Sicherheitsstandards hier in Deutschland.
Es ist außerdem eine Frage der Generationengerechtigkeit, um den kommenden Generationen nicht den Müll
von heute vor die Füße zu werfen.
({3})
Kurz zur Geschichte Gorlebens: 1977 beschließt die
Regierung Schmidt, nach Abstimmung mit dem Kabinett Albrecht in Niedersachsen, Gorleben als Endlagerstandort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein für die
damalige Zeit umfangreiches Auswahlverfahren vonseiten der Bundesregierung, die 26 verschiedene Standorte
in Betracht zog, und eine Untersuchung von mehr als
140 Salzstöcken in Niedersachsen durch die Landesregierung. Es gab 1979 ein umfangreiches Gorleben-Hearing, eine einwöchige Expertenanhörung unter Hinzuziehung des niedersächsischen Landtags. Ab 1979 wurde
der Salzstock oberirdisch und ab 1986 auch unterirdisch
untersucht. Seit 2000 wird nichts mehr gemacht. Es gilt
ein Moratorium.
Ich bin froh, dass die jetzige Bundesregierung und
Bundesumweltminister Röttgen keinen Zweifel daran
lassen, dass die Lösung der Endlagerfrage für hochradioaktiven Abfall ganz oben auf der Agenda der neuen Bundesregierung steht. Ganz anders war es bei den Vorgängerregierungen und seinen Vorgängern im Amt, den
Herren Trittin und Gabriel. Das Ganze soll in einem offenen und transparenten Verfahren erfolgen, das der Koalitionsvertrag vorsieht.
Bundesumweltminister Röttgen hat am vergangenen
Dienstag am Rande der CeBIT in einer Sitzung des niedersächsischen Kabinetts gesagt, dass diese Untersuchung ergebnisoffen mit Beteiligung der Bevölkerung,
der Bürgerinitiativen und auch der Kommunalpolitiker
vor Ort, ähnlich wie bei der Asse-Begleitgruppe, erfolgen soll.
({4})
Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ist für uns
entscheidend, so Röttgen. Darüber hinaus wird es eine
Peer Review geben, das heißt, wir wollen internationale
Experten zurate ziehen, um alle Befunde, die es bislang
in Gorleben gegeben hat, untersuchen zu lassen und ihrem Rat bezüglich der Eignung dieses Salzstocks zur
Endlagerung in Anspruch zu nehmen. Dieses Verfahren
hatten wir übrigens in der letzten Legislaturperiode Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, angeboten, leider Gottes vergeblich.
Frau Kollegin, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Herr Kollege Kelber möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit, eine
Frage zu stellen. Sie hatten gerade nach den Erläuterungen meines Kollegen Miersch das Thema der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger angesprochen. Unter
Bürgerbeteiligung versteht man ein Verfahren, in dem
die Bürgerinnen und Bürger per Verordnung oder Gesetz
festgelegte Rechte der Beteiligung haben. Können Sie
mir bestätigen, dass das von Herrn Minister Röttgen gewählte Verfahren keine Rechte für die Bürgerinnen und
Bürger vorsieht, sondern ein reines Informationsverfahren ist?
({0})
Herr Kollege Kelber, ich darf Sie darüber informieren, dass wir zunächst den Weg über das Bergrecht und
dann den der Beteiligung, die eher mit dem Asse-Verfahren vergleichbar ist, wählen werden. Möglicherweise ist
Ihnen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von
({0})
und eine Bestätigung dieses Urteils von 1995 nicht mehr
in Erinnerung. Darin wurde eben diese Frage höchstrichterlich dahin gehend entschieden, dass die Erkundung im
Vorfeld des Planfeststellungsverfahrens sowohl angemessen als auch rechtens ist. Diese Frage ist höchstrichterlich zweimal entschieden worden. Genau auf diesen
Entscheid gründet sich unser weiteres Vorgehen.
({1})
Nach diesen Voruntersuchungen, die stattfinden müssen, damit das Planfeststellungsverfahren überhaupt aufgenommen werden kann, wird natürlich ein atomrechtliches
Verfahren eingeleitet. Das heißt, das Planfeststellungsverfahren läuft selbstverständlich nach Atomrecht ab, mit
den entsprechenden Beteiligungen aller interessierten
Gruppen.
({2})
- Das geht gar nicht anders, Sie haben völlig recht. - Es
ergibt Sinn, dass man weit im Vorfeld dessen intensiven
Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sucht
und zudem die Suche nach internationalen Standards begleitet. Nach dem Planfeststellungsverfahren - auch das
wissen Sie - ist es natürlich möglich, gegen den Planfeststellungsbeschluss, sollte er positiv ausgefallen sein,
zu klagen. Damit ist auch klar, dass ein Endlager vor
dem Jahr 2030 vermutlich nicht zur Verfügung stehen
wird.
Die Bundesregierung strebt dieses Verfahren auf der
Grundlage der zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts von 1990 und 1995 an. Darüber hinaus hat die rotgrüne Regierung, als sie 2000 den Ausstiegsvertrag mit
den EVUs gemeinsam vereinbart hat, in dem Ausstiegsbeschluss festgeschrieben, dass nichts gegen die Eignungshöffigkeit dieses Salzstocks spreche. Daher muss
er weiter untersucht werden. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat in seinem Synthesebericht von 2005, der
die Zweifelsfragen abgearbeitet und die Ergebnisse zusammengefasst hat, gesagt, dass es ein Nachweiskonzept
für die Langzeitsicherheit von Endlagern gebe und dass
die Sicherheit eines möglichen Standorts nur mit standort- und anlagenspezifischen Sicherheitsanalysen ermittelt werden könne, sprich: Man muss tatsächlich vor Ort
nachschauen, und das heißt weiter erkunden.
Als Letztes möchte ich das Urteil zum Schacht Konrad
anführen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg führte
im März 2006 aus, dass es eben keiner alternativen Standorterkundung bedürfe und dass ein Mangel im Verfahren
nicht darin bestehe, dass alternative Standorte nicht umfassend und vergleichend untersucht worden seien.
Diese Bundesregierung mit dem Bundesumweltminister Röttgen stellt sich endlich nach so vielen Jahren des
Wegschauens, des Wegtauchens und des Verantwortungvon-sich-Schiebens ihrer Verantwortung für die Entsorgung in einem ergebnisoffenen und transparenten Verfahren mit internationalen Standards. Nun müssen wir tatsächlich ergebnisorientiert auch im Hinblick auf die
zahlreichen oberirdischen Zwischenlager überall in
Deutschland handeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur Vergangenheit aufarbeiten, sondern Zukunft gestalten, das ist
der Auftrag, den dieses Haus hat. Ich hoffe, dass in diesem Sinne auch der Parlamentarische Untersuchungsausschuss arbeiten wird.
Herzlichen Dank.
({3})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Dorothée Menzner.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Eben wurde schon gesagt, ein Untersuchungsausschuss sei eine der schärfsten
Waffen der Opposition und keine Fraktion werde sie
leichtfertig benutzen.
({0})
In den letzten Wochen und Monaten sind uns aber in
mindestens fünf Komplexen Zusammenhänge deutlich
geworden und bekannt geworden, die diesen Untersuchungsausschuss rechtfertigen.
({1})
Ohne dass der Untersuchungsausschuss seine Arbeit
überhaupt begonnen hätte, gibt es ernstzunehmende Hinweise auf folgende Missstände:
Erstens. Die Entscheidungen wurden seinerzeit nicht
nach fachlichen Kriterien und nach Stand von Wissenschaft und Technik gefällt, sondern nach politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit. Man beschränkte sich
in den 70er-Jahren lediglich auf Salz als mögliches Einlagerungsmedium und untersuchte über 100 Salzstöcke.
Dabei wurde nicht nur bewertet, ob sie geologisch geeignet sind, sondern es wurde beispielsweise auch bewertet,
ob die örtliche Bevölkerung besonders aufmüpfig ist
oder ob man Entscheidungen dort leicht durchsetzen
kann.
({2})
Wissenschaftler sagen bis heute, es sei in weiten Teilen eine politische und nicht eine sachlich-wissenschaftliche Entscheidung gewesen. Auch die Zweifel, die seit
den 70er-Jahren bestehen, konnten in den letzten Jahren
durch Untersuchungen nicht ausgeräumt werden. Probleme sind ein über weite Teile fehlendes Deckgebirge,
die Inhomogenität des Salzstockes oder Frostrisse im
Gestein.
Zweitens. Die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung wurde ignoriert und soll offensichtlich - wir
haben es eben gehört - weiter ignoriert und mit Füßen
getreten werden. Wie anders ist es zu verstehen, wenn
der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich
Sander, FDP, ankündigt, man wolle weiter nach Bergrecht vorgehen?
({3})
Drittens. Es gibt Dokumente, aus denen hervorgeht,
dass die Entsorgungstochter der AKW-Betreiber, die
DWK, Geld fließen ließ, um Gorleben voranzutreiben.
Es flossen sowohl an das Land Niedersachsen als auch
an den Landkreis und an die Kommunen Gelder, um für
Gorleben als Standort zu werben. Mindestens 40 Prozent
dieser Gelder - so belegen es Dokumente, die uns vorliegen - kamen direkt von den AKW-Betreibern.
Viertens. Aus unserer Sicht gilt es zu klären, mit wessen Beteiligung und Wissen Gorleben unter Tage viel
stärker ausgebaut wurde, als zur reinen Erkundung notwendig war. Auch diese Dokumente sind bekannt, und
darüber wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. In Gorleben ist unter Tage viel mehr passiert, als zur reinen Erkundung notwendig gewesen wäre. Schwarzbauten sind
errichtet worden, um vollendete Tatsachen zu schaffen
und ein Endlager wahrscheinlicher zu machen.
Fünftens. Als ob das alles nicht reicht, liegen jetzt Dokumente vor, aus denen sich ableiten lässt - ich sage das
ganz bewusst so vorsichtig -, dass 1983 unter politischer
Einflussnahme der damaligen schwarz-gelben Koalition
ein entscheidendes Gutachten verändert wurde, indem
Passagen herausgenommen wurden, die ursprünglich besagten, man solle parallel auch andere Standorte erkunden.
Das riecht verdammt nach Manipulation, und ich
glaube, es ist nicht nur unsere Pflicht als Opposition, da
Licht ins Dunkel zu bringen, sondern Klarheit und
Transparenz bei diesen Vorgängen sind auch das gute
Recht der Bevölkerung und der Öffentlichkeit.
({4})
Die sture Fixierung auf Gorleben entgegen den Warnungen zahlreicher Wissenschaftler und gegen den Widerstand der örtlichen Bevölkerung ist sehr bezeichnend.
Als ob das Desaster mit der Asse, bei dem wir im Moment alle gemeinsam überlegen, wie wir es möglichst
unschädlich machen können, noch nicht reicht, wollen
Sie weiter vollendete Tatsachen schaffen. Das ist mit der
Linken nicht zu machen. Wir werden auf Transparenz
achten und sehr genau hinschauen, vielleicht auch, weil
wir nicht genötigt sind, an irgendeiner Stelle eine innerparteiliche Schonhaltung einzunehmen.
({5})
Die kriminelle Müllkippe Asse und Gorleben reichten
seinerzeit gerichtlich als Entsorgungsnachweis für die
AKWs Brokdorf, Stade, Grohnde, Biblis A und Biblis B.
In dem Zusammenhang halte ich es für fahrlässig, über
Laufzeitverlängerungen zu diskutieren. Ich komme zu
dem Schluss, dass nicht die Menschen vor Ort, die Angst
haben, und nicht die seit 30 Jahren aktive Bürgerbewegung die Atomchaoten, als die sie so oft bezeichnet wurden, sind,
({6})
sondern offensichtlich die Betreiber der AKWs und einige, die das in der Politik unterstützen.
Ich danke.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika
Brunkhorst für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, werden die Einsetzung des Gorleben-Ausschusses
bekommen, und die FDP wird sehr sachgerecht, ambitioniert und konstruktiv darin mitarbeiten; das können wir
Ihnen zusagen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition aber auch um Wahrhaftigkeit sowie darum, diesen
Untersuchungsausschuss nicht als politisches Instrument
zu verbiegen
({0})
und bei den Bürgern und Bürgerinnen keine Angst zu
schüren. Denn Gorleben ist nicht festgelegt, sondern die
Erkundung ist weiterhin offen.
({1})
Der gesamte Prozess wird öffentlich und transparent
gestaltet. Bundesumweltminister Norbert Röttgen und
der niedersächsische Umweltminister Sander haben in
dieser Woche bekundet, dass sie eine Einbindung der
Bürgerinnen und Bürger - wenn auch nicht nach Ihrem
Maßstab - in Form eines Begleitkreises wollen, wie er
sich bei der Asse durchaus bewährt hat.
In der Sache erheben sie den Vorwurf, es habe eine
rein politische Vorfestlegung auf den Standort Gorleben
gegeben. Ich bin mir sicher, dass der Untersuchungsausschuss zu anderen Ergebnissen kommen wird und dass
das Ganze hinterher wirklich entkräftet werden kann.
Allein im Rahmen des niedersächsischen Auswahlverfahrens sind damals 140 Salzstöcke erkundet worden.
Auch in den 70er-Jahren gab es eine Beteiligung der Öffentlichkeit. Es gab einmal die Gorleben-Kommission,
und es gab im Jahre 1979 das erwähnte Gorleben-Hearing.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner?
Ja, bitte.
Frau Brunkhorst, Sie sprachen eben richtig an, dass seinerzeit 140 Salzstöcke erkundet und nach einer Punktetabelle bewertet wurden. Aber Ihnen ist auch bekannt,
dass Gorleben, selbst wenn man diese etwas zweifelhafte Punktetabelle zugrunde legt, nicht unter den empfohlenen Salzstöcken war. Wie stehen Sie dazu?
Dazu will ich jetzt gar keine Bewertung abgeben,
Frau Menzner. Wir werden das im Untersuchungsausschuss im Detail erörtern, und dann werde auch ich
meine Bewertung dazu abgeben. Im Jahre 1977 gab es
aber unter der SPD-Regierung Schmidt eine vorläufige
Zustimmung zu dem Standort Gorleben.
Frau Kollegin Brunkhorst, Herr Kollege Kelber
möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.
Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir nicht schon jetzt
in den Untersuchungsausschuss eintreten.
({0})
Sie können es wohl gar nicht abwarten. Lassen Sie uns
doch erst einmal den Untersuchungsausschuss einsetzen.
Dann gehen wir in die Details.
({1})
- Ja, vielleicht auch das.
Sie haben in der Begründung des Antrags auf Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses zu Recht geschrieben, dass wir eine Lösung zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle brauchen. Das stimmt. Ich muss an
dieser Stelle einfach einmal sagen, dass wir in dieser
Frage seit zehn Jahren Stillstand zu verzeichnen haben,
obwohl in dieser Zeit die SPD und eine Zeit lang auch
die Grünen an der Regierung beteiligt waren. Weder unter Umweltminister Trittin noch unter Umweltminister
Gabriel waren in dieser Frage irgendwelche Fortschritte
zu verzeichnen. Da wundere ich mich dann schon.
Ich möchte auf Folgendes zurückkommen: Umweltminister Trittin - ich konnte ihn im Umweltausschuss
kennenlernen; er hat damals den AK End einberufen hat den Auftrag vergeben, ein Ein-Endlager-Konzept zu
entwickeln. Die Empfehlungen lagen auf dem Tisch. Der
AK-End-Bericht verstaubt irgendwo in den Regalen des
BMU. So geht es nicht weiter. Wir müssen jetzt endlich
einmal vorankommen, auch im Hinblick darauf, dass wir
den kommenden Generationen solch eine Bürde einfach
nicht aufhalsen können.
In Anlage 4 des sogenannten Atomkonsenses steht
- auch darauf möchte ich hier verweisen -, dass die bisher gewonnenen geologischen Befunde nicht gegen die
Eignung des Salzstockes Gorleben sprechen. Das haben
der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der
damalige Bundesumweltminister Trittin unterzeichnet.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Sie
grenzen Ihren Untersuchungsauftrag auf die Umstände
der Kabinettsentscheidung von 1983 ein. Ich möchte darauf hinweisen - das müssen die Bürger ebenfalls wissen -, dass bereits in den 1970er-Jahren gewisse Prozesse der Endlagersuche abgelaufen sind. Ich habe das
schon gesagt: Es gab Hearings usw. Das ist ja nicht mit
der Kabinettsentscheidung 1983 losgegangen.
Ich möchte hier noch eine Erklärung abgeben: Mir
persönlich und der FDP liegt am Herzen, dass wir endlich die Frage beantworten, wie es mit der Suche nach
einem geeigneten Endlagerstandort weitergehen soll.
Dass sich diese Frage heute immer noch stellt, dass wir
von Ihnen die Frage Wie soll ein Endlager aussehen,
das den internationalen Standards von Wissenschaft und
Technik entspricht? gestellt bekommen, dass es so gekommen ist, dafür tragen Sie doch selbst seit langem die
Verantwortung. Wenn wir das Moratorium von zehn Jahren nicht gehabt hätten, dann wären wir mit der Beantwortung dieser Frage wahrscheinlich schon viel weiter.
Selbst Experten, die eigentlich eher auf Ihrer Seite stehen, sagen: Das Moratorium hat nichts gebracht außer
Zeitvergeudung.
({2})
Damit muss jetzt Schluss sein. Deswegen sehen wir diesem Untersuchungsausschuss durchaus erwartungsvoll
entgegen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Kelber.
Frau Kollegin Brunkhorst, Sie haben die Aussage gemacht, dass 1973 die Regierung unter dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt eine Festlegung auf Gorleben
getroffen habe. Mir ist übrigens bekannt, dass Helmut
Schmidt pro Atomenergie eingestellt war und dass
meine Partei diese Haltung erst in meinem Eintrittsjahr
vor 25 Jahren abgelegt hat.
Ist Ihnen bekannt, erstens, dass die Festlegung auf
Gorleben als einzigen Standort erst unter der Landesregierung Albrecht, also nach dem Jahr 1976, erfolgte
und damit 1973 nicht stattgefunden haben kann - wir
stellen Ihnen diese Dokumente gerne zur Verfügung -,
und, zweitens, dass es zahlreiche Briefe, Vermerke und
Weisungen der Regierung Schmidt von 1977 bis 1981
- wir haben damals gemeinsam mit Ihrer Partei regiert an die Landesregierung gibt, sich nicht auf Gorleben als
Standort festzulegen, und dass diese Festlegung erst
1983 unter der Regierung Kohl passiert ist? Diese Dokumente stellen wir natürlich auch dem Untersuchungsausschuss zur Verfügung.
({0})
Zur Erwiderung Frau Brunkhorst.
Herr Kelber, das sind natürlich alles Dinge, die ich
kenne.
({0})
Sie selbst machen einen Schnitt und sagen: Der Untersuchungsauftrag soll bei den Umständen der Kabinettsentscheidung von 1983 ansetzen. Gleichzeitig wollen
Sie Vorgänge vor dieser Zeit heranziehen. Wenn das,
was vorher geschehen ist, so bedeutend ist, dann erweitern Sie doch den Untersuchungsauftrag!
({1})
- Sie wissen doch sehr genau, Herr Kelber, dass in der
Regierungszeit Schmidt in den 1970er-Jahren eine ganz
andere Auffassung bestanden hat, dass Herr Schmidt angesichts der Ölkrise eigentlich 50 Atomkraftwerke bauen
wollte.
({2})
- Nein, ich habe von einer vorläufigen Entscheidung gesprochen.
({3})
- Nein, es war 1977.
({4})
- Es ist so, dass die damalige Regierung die Vorauswahl
für den Standort Gorleben akzeptiert hat, und zwar am
5. Juli 1977. Darüber gibt es auch einen Vermerk. Den
kann ich Ihnen auch gerne zur Verfügung stellen.
Herr Kelber, bleiben Sie ganz ruhig, bleiben Sie ganz
sinnig! Wir werden ja noch viel Freude miteinander haben. Dann werden wir das alles detailgenau aufarbeiten.
Wir fahren in der Debatte nun fort. Das Wort hat die
Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Frau Brunkhorst, manche lernen Gott sei Dank im Laufe
der Jahrzehnte dazu. Kompliment! Andere tun das nicht.
Der von uns beantragte Untersuchungsauftrag geht vom
Jahr 1983 aus, als in der Tat eine fatale Lenkungsentscheidung getroffen wurde. Das heißt aber nicht, dass
wir uns nur diese Entscheidung vom Juli 1983 anschauen. Wir schauen sehr wohl in die Zeit davor und
auch in die Zeit danach.
({0})
- Lesen Sie sich die im heute vorgelegten Antrag enthaltenen Fragen einfach einmal durch! Dann werden Sie
feststellen, dass sie auch die Jahre 1997/1998 mit einbeziehen und durchaus auch die Zeit danach.
Meine Damen und Herren, Gorleben ist nicht der Ort
für gute Nachrichten. Ich will noch einmal auf die neueste
Nachricht eingehen - sie hat hier ja schon eine Rolle gespielt -: Gorleben braucht einen neuen Rahmenbetriebsplan, denn der alte von 1983 läuft im September aus. Es
gibt drei Möglichkeiten, wie man nun verfahren kann:
Erstens. Man kann nach Atomrecht weiterverfahren.
Zweitens. Man kann einen Rahmenbetriebsplan nach
dem novellierten Bergrecht aufstellen. Seit 20 Jahren ist
dabei nämlich eine Öffentlichkeitsbeteiligung möglich
bzw. bei einer UVP auch vorgesehen.
Oder man kann drittens, wenn man es so möchte, die
Geltungsdauer des alten Rahmenbetriebsplans verlängern. Genau das ist die Idee, die der neuen Bundesregierung eingefallen ist: Wir verlängern die Geltungsdauer
des alten Rahmenbetriebsplans, und statt der eigentlich
vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung wird eine Begleitgruppe eingesetzt - wie bei der Asse.
({1})
- Was das mit dem Untersuchungsausschuss zu tun hat,
kann ich Ihnen sagen: Das würde der schlechten Historie
von Gorleben noch eins obendrauf setzen.
({2})
Atomrecht sollten Sie anwenden und nicht seit
20 Jahren außer Kraft gesetztes Bergrecht. Frau
Flachsbarth sagt, Sie rechnen bereits mit einer Klage.
Warum handeln Sie dann so? Warum wenden Sie ein
Verfahren an, bei dem Sie selbst schon jetzt damit rechnen, dass dagegen geklagt werden wird?
({3})
Wählen Sie doch ein Verfahren, bei dem die Öffentlichkeit eingebunden wird.
Ich habe übrigens aufgrund meiner Erfahrung des
Vorgehens bei der Asse durchaus noch eine Frage in diesem Zusammenhang zu stellen. Wenn die Öffentlichkeitsbeteiligung tatsächlich in Form einer Begleitgruppe
stattfinden soll, wird dann Herr Hennenhöfer wieder die
Empfehlungen aussprechen, welche Informationen diese
Begleitgruppe bekommt und welche nicht? Warum immer wieder diese Intransparenz? Warum immer wieder
diese Angst vor der Öffentlichkeit, wenn es um die Gefahren der Atomkraft geht?
({4})
Mit Fehlentscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so eine Sache. Manchmal kann man sie revidieren. Bei der Asse geht es nicht mehr. Da kann man in
einer katastrophalen Situation nur noch die beste unter
schlechten Möglichkeiten wählen und mit immensem
Aufwand und viel Steuergeld versuchen, so viel Sicherheit wie möglich für die Bevölkerung zu generieren.
Wir wissen nicht, ob uns Gorleben in Jahrzehnten
oder Jahrhunderten ein ähnliches Desaster bescheren
könnte wie die Asse. Aber der Verdacht liegt nahe,
({5})
dass der Standort Gorleben ähnlich leichtfertig ausgewählt wurde wie das Endlager Asse.
({6})
Der Verdacht liegt nahe, dass Gorleben mehr aufgrund
politischer Eignung denn geologischer Eignung als einziger Standort den Sprung in das Erkundungsverfahren
schaffte. Die vielen geologischen Defizite, angefangen
von der Gorlebener Rinne bis zum Kalisalz, lassen nun
wirklich nicht plausibel erscheinen, dass ausgerechnet
dieser Standort der bestgeeignete für die Endlagerung
hochradioaktiven Mülls in ganz Deutschland sein soll.
({7})
Der Verdacht der politischen Einflussnahme wiegt
schwer. Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von den Regierungsfraktionen, erwarte ich, dass Sie diesen Untersuchungsausschuss begrüßen. Sie müssen doch
ein Interesse daran haben, die ungeheuerlichen Vorwürfe
der politischen Manipulation entscheidender Gutachten
aus der Welt zu räumen, wenn Sie Gorleben in Betrieb
nehmen wollen. Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass
die Vorwürfe nicht aus der Welt zu räumen sind, und sie
in diesem Untersuchungsausschuss tatsächlich bestätigt
werden, dann können Sie doch nicht wirklich ernsthaft
erwägen, der Bevölkerung Gorleben als Endlager zuzumuten.
({8})
Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass wir bei hochradioaktivem Müll von einer Langzeitsicherheit von
1 Million Jahre reden. Im Vergleich dazu ist ein Moratorium von zehn Jahren übrigens relativ klein. Wir leben
heute, im Jahr 2010, in einer Kultur, die wenig bis nichts
mit der Kultur des Jahres null unserer Zeitrechnung in
unseren Breiten zu tun hat. Von damals bis heute sind
gerade einmal 0,2 Prozent des Zeitraums vergangen, für
den wir den Atommüll sicher vor der Biosphäre abschließen müssen. Angesichts solcher Zahlen sollten wir
uns bei der Frage eines geeigneten Endlagerstandortes
keine Fehler und keine Leichtfertigkeit erlauben.
({9})
Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam Ja zur Aufklärung dubioser Vorgänge um die Auswahl des Endlagerstandortes Gorleben zu sagen. Die Aufklärung bestätigt
entweder Ihre Sicht der Dinge oder unsere. Aber die
Menschen müssen wissen, woran sie sind.
({10})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Wenn
Sie wirklich an das glauben würden, was Sie als skandalöse Vorgänge gegeißelt haben, wenn Sie wirklich glauben würden, dass Sie das, was Sigmar Gabriel als einen
genauso großen Skandal wie die Parteispendenaffäre bezeichnet hat, im Untersuchungsausschuss beweisen
könnten, dann würden Sie die Einsetzung des Untersuchungsausschusses doch ganz anders aufziehen. Dann
würde ich das morgens um 9 Uhr machen, nach dem
Motto: Kernkraft zur Kernzeit, dann, wenn die Kameras an sind und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
da ist. Stattdessen reden wir jetzt in der Abendsonne darüber, dann, wenn schon alle Redaktionsstuben geschlossen sind.
({0})
Das zeigt doch Ihr mangelndes Zutrauen zu dem Erfolg
dieses Untersuchungsausschusses in der Sache selber.
({1})
Herr Kelber, ich frage mich natürlich: Wo ist eigentlich Herr Gabriel?
({2})
Der hat uns das doch alles eingebrockt. Herr Gabriel hat
wenige Tage vor der Bundestagswahl ein Gutachten der
Physikalisch-Technischen Bundesanstalt aufgefunden
und hat daraufhin eine Wahlkampfattacke geritten. Tatsächlich hatte die taz schon am 18. April 2009 über den
gesamten Sachverhalt berichtet. Die Bundestagsfraktion
der Grünen hatte eine Kleine Anfrage zu diesem Sachverhalt eingebracht. Diese ist am 14. Juni 2009 vom
Bundesumweltministerium beantwortet worden. Spätestens seit dem 14. Juni hatte Herr Gabriel volle Kenntnis.
({3})
Er hat diese Angelegenheit mal eben für die heiße Wahlkampfphase zurückgelegt. Nur um diese Blamage nicht
offenzulegen, fordern Sie diesen Untersuchungsausschuss.
({4})
In Wahrheit ist hier nichts anderes passiert, als dass Sie
im Wahlkampf mit den Ängsten der Menschen gespielt
haben. Das versuchen Sie mit der Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses fortzusetzen.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann?
Herzlich gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Grindel. - Sie haben gerade als Argument angeführt, dass die späte Uhrzeit der
Befassung mit diesem Thema hier im Plenum deutlich
macht, dass die Grünen und auch die anderen Antragsteller kein Interesse daran haben, dieses Thema wirklich zu verfolgen. Dem Kürschner - das ist das Parlamentshandbuch - habe ich entnommen, dass dies Ihre
dritte Legislaturperiode im Deutschen Bundestag ist.
Deshalb frage ich mich, ob Sie immer noch nicht wissen,
wie eine Tagesordnung zustande kommt. Ich kann Ihnen
sagen, dass wir versucht haben, diesen Tagesordnungspunkt auf einen früheren Zeitpunkt zu setzen. Wir hätten
ihn gerne heute Morgen um neun diskutiert.
Ich würde Sie gerne fragen, ob Ihnen nicht klar ist
bzw. ob Sie in der Fraktion nicht darüber informiert worden sind, dass CDU/CSU und FDP darauf bestanden haben, dass dieser so wichtige Tagesordnungspunkt zu
Gorleben heute Abend diskutiert wird.
({0})
Frau Kollegin Haßelmann, soweit ich weiß, wird in
den Geschäftsführerrunden festgelegt, ob und wann die
Debatten stattfinden. Natürlich legt nicht nur eine Fraktion oder die Mehrheit fest, wann welcher Tagesordnungspunkt stattfindet; vielmehr hat jeder einen Zugriff.
({0})
Wenn Ihnen das so wichtig ist, Frau Haßelmann, dann
frage ich mich angesichts der Forderung nach einem
Untersuchungsausschuss, die es unmittelbar nach der
Attacke von Gabriel im Bundestagswahlkampf gegeben
hat - wo Vertreter Ihrer Fraktion, insbesondere Frau
Künast, feststellten: Das sind ungeheuerliche Vorgänge,
wir müssen sofort oder aber spätestens unmittelbar nach
der Wahl mit einem Untersuchungsausschuss beginnen -:
Warum kommen Sie nach sechs Monaten mit diesem
Untersuchungsausschuss? Wenn Ihnen das so wichtig ist
und wenn Sie tatsächlich daran glauben würden, dass
wir es mit einem ernsthaften Skandal zu tun haben, dann
hätten Sie es doch viel schneller umgesetzt.
({1})
- Herzlich gerne. Den Zwischenruf hätten Sie besser
nicht gemacht; denn das ist genau das, was Herr Gabriel
angesprochen hat. Herr Gabriel hat einen konkreten Vorgang, ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, skandalisiert.
({2})
Darauf hat die Kanzlerin im Wahlkampf angekündigt:
Wir gründen unmittelbar eine Arbeitsgruppe, analysieren die Aktenlage und versuchen herauszufinden, ob die
Vorwürfe berechtigt sind. - Das dauerte Herrn Gabriel
zu lange, weil er seinen Punkt noch vor der Wahl machen wollte. Daraufhin hat er selber einen Bericht vorgelegt und am 24. September 2009 eine schöne Pressemitteilung herausgegeben.
({3})
In der hat er darauf hingewiesen - ich zitiere -:
Es geht nicht um die Aufarbeitung der jahrzehntelangen Gorleben-Geschichte, sondern um einen
präzisen Vorgang aus dem Jahr 1983.
Ich frage mich: Warum machen Sie es mit Ihrem Einsetzungsantrag genau anders herum? Warum untersuchen
wir nicht frei nach Gabriel einen präzisen Vorgang aus
dem Jahr 1983? Warum sollen wir die jahrzehntelange
Gorleben-Geschichte untersuchen? Ich sage es Ihnen:
Ihnen geht es nicht um Aufklärung. Ihnen geht es um die
Diskreditierung des Endlagers in Gorleben und damit
um die Delegitimierung der Kernkraft insgesamt. Das
wollen Sie mit diesem Untersuchungsausschuss erreichen. Damit werden Sie keinen Erfolg haben.
({4})
- Herr Kelber, in Wahrheit ergibt sich aus den Quellen,
die uns schon jetzt zugänglich sind,
({5})
dass es mit dem vermeintlichen Skandal nicht so weit
her sein kann; denn die frühere rot-grüne Bundesregierung hat in der Anlage 4 zum sogenannten Ausstiegsvertrag mit den Energieversorgungsunternehmen selbst erklärt - ich zitiere -:
Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes Gebirge und damit die Barrierefunktion des Salzes
wurden positiv bestätigt. Somit stehen die bisher
gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben nicht
entgegen.
Das war der Originalton Rot-Grün im Jahre 2000.
({6})
Wie kann man da behaupten, die Kohl-Regierung
habe 1983 Gutachter zu falschen Aussagen über die Geeignetheit des Salzstockes Gorleben bewogen? Sie haben aus rein wahlkampftaktischen Gründen versucht,
das Thema Gorleben zu skandalisieren. Das soll nun mit
anderen Mitteln im Untersuchungsausschuss fortgesetzt
werden.
({7})
Herr Kelber, das ist kein guter politischer Stil.
({8})
Sie verschweigen auch, dass die eigentlichen Zeugen
der Anklage sich gerade nicht von Rot-Grün vereinnahmen lassen wollen. Der Abteilungsleiter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Helmut Röthemeyer,
der für das angeblich verfälschte Gutachten verantwort2438
lich war, hat bereits am 17. September 2009 im Stern
klipp und klar erklärt - Zitat -:
Wir hatten dem Endlager Gorleben grundsätzlich
Eignungshöffigkeit zugeschrieben, was bedeutet,
dass wir Gorleben als Endlager grundsätzlich für
geeignet hielten. Insofern kann ich überhaupt nicht
nachvollziehen, wieso ich heute als Gorleben-Gegner gelten soll.
({9})
Der Spiegel zitierte Herrn Röthemeyer schon am
14. September mit den Worten:
Wenn Gorleben nicht Endlager wird, wäre das für
mich eine große Enttäuschung.
Das sind die Worte des Mannes, dem Beamte der KohlRegierung laut Gabriel angeblich ins Handwerk gepfuscht haben.
({10})
Der ehemalige Chef der Physikalisch-Technischen
Bundesanstalt, Herr Kind, hat vor dem Asse-Untersuchungsausschuss des niedersächsischen Landtages inzwischen ausgesagt, das 1983 erstellte Gutachten sei in
seiner wissenschaftlichen Aussage nicht verändert und
keineswegs in Richtung Gorleben umgeschrieben worden. Klar ist: Herr Gabriel hat seine Autorität als Umweltminister missbraucht, um seine Autorität als SPDWahlkämpfer ein bisschen aufzupolieren. Das ist der
Sachverhalt, und das werden wir Ihnen im Untersuchungsausschuss nachweisen.
({11})
Herr Kelber, es ist auch so, dass Vertreter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt am 20. Juni 1984 im
Innenausschuss des Bundestages erklärt haben, dass sie
überhaupt nicht aufgefordert waren, bezüglich der Frage
eines zweiten Standortes eine Stellungnahme abzugeben,
weil dies eine Frage der Politik und der Finanzen sei,
dass es vielmehr ausschließlich um die Eignungshöffigkeit des Standortes Gorleben und um die Frage ging, ob
man dort in die untertägige Erkundung einsteigen solle.
Dazu hat man sich klar geäußert. Es ist mehrfach zurückgewiesen worden, dass hier eine Beeinflussung
stattgefunden hat.
Sie können zwar zu Recht - das nur am Rande - über
die Regierung Kohl reden, aber ich will darauf hinweisen: Die Vorgänge ereigneten sich im Mai 1983. Wir hatten einen Regierungswechsel im Oktober 1982 und eine
Bundestagswahl im März 1983. Die Beamten, die bei
der Besprechung in Hannover, um die es ging, dabei waren, waren alle schon unter der Regierung Schmidt beschäftigt.
({12})
Es gibt keine einzige Quelle, mit der Sie nachweisen
können, dass irgendein Politiker der neuen Regierung
Kohl mit diesem Sachverhalt überhaupt befasst war, um
das einmal ganz klar festzuhalten.
({13})
Die Frage, ob man Gorleben zuerst einmal zu Ende
erkundet, bevor man einen weiteren Standort untersucht,
ist auch in den Reihen der Sozialdemokraten ja nicht unumstritten. Peter Struck hat im April 2001 den Vorschlag
gemacht, Standorte in Bayern und Baden-Württemberg
zu erkunden.
({14})
Ich kann Ihnen dazu vortragen, was Herr Hoderlein, der
damalige Vorsitzende der SPD in Bayern, dazu gesagt
hat:
Zuerst muss festgestellt werden, ob Gorleben geeignet ist oder nicht.
Wesentlich schärfer reagierte Strucks Kollege Franz
Maget in der Welt am Sonntag:
Das ist leichtfertiges, einfältiges Gerede, das man
besser unterlassen sollte, sonst braucht Struck noch
selbst ein Endlager.
({15})
Weiter sagte Franz Maget:
Noch sei nicht geklärt, ob der Salzstock in Gorleben für ein Endlager überhaupt geeignet sei.
Dann sagte er:
Solange man das nicht weiß, sollte man auch keine
anderen Bundesländer ins Spiel bringen. Wenn
Struck Baden-Württemberg und Bayern nennt, hat
das gleich einen parteipolitischen Touch.
Wo Herr Maget recht hat, hat er recht.
({16})
Sie wissen ganz genau, dass die politische Entscheidung, die untertägige Erkundung in Gorleben fortzusetzen und nicht eine weitere an einem zweiten Standort zu
beginnen, politisch motiviert war, Frau Kotting-Uhl.
Man wollte in der Bevölkerung nicht den Eindruck erwecken, dass man als Bundesregierung davon ausgeht,
dass Gorleben nicht geeignet ist, und man hat vor dem
Hintergrund der vielen Auseinandersetzungen im Wendland auch keinen Sinn darin gesehen, bevor die Erkundung in Gorleben abgeschlossen ist, an einem zweiten
Standort ähnliche Auseinandersetzungen heraufzubeschwören. Ich habe dafür volles Verständnis.
Ich freue mich auf die Arbeit im Untersuchungsausschuss. Ich sage noch einmal: Aus den bisher öffentlich
zugänglichen Quellen - einige von Ihnen wissen, dass
ich mich im Visa-Untersuchungsausschuss mit der Quellenlage und der Recherche von Quellen sehr intensiv beschäftigt habe ({17})
geht ein irgendwie geartetes Fehlverhalten nicht hervor.
Ich weiß, dass dieser Untersuchungsausschuss auch in
den Reihen der SPD sehr umstritten ist. Es gab viele, die
abgeraten haben, das zu machen.
({18})
Am Ende hat Herr Gabriel sich durchgesetzt, weil er vor
der Wahl diesen Untersuchungsausschuss gefordert hat.
Er wurde nicht hängen gelassen. Es wäre ja eine ziemliche Blamage, wenn es ihn nach der Wahl nicht geben
würde.
({19})
Ich sage Ihnen: Ich habe große Zweifel, dass wir,
wenn wir spätabends im Untersuchungsausschuss sitzen,
die Besuchertribüne schon lange leer sein wird und die
Pförtner und vielleicht auch wir gegen die Müdigkeit ankämpfen, Neues oder gar Skandalöses über Gorleben herausfinden werden. Aber dass Herr Gabriel im Wahlkampf ein unglaublicher Dampfplauderer war, werden
wir dann in den Akten haben. Insofern ist die Sache etwas wert.
Herzlichen Dank.
({20})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Grindel, es ist ja bekannt, dass Sie einen Hang zur Polemik haben. Wir kennen auch Ihre Neigung, Sachverhalte
zu vereinfachen. Nicht anders ist es zu erklären, dass Sie
hier Zitate aus Zusammenhängen reißen.
({0})
Darin - das muss ich sagen - liegt der Vorteil dieses Untersuchungsausschusses. Sie werden in einem Untersuchungsausschuss nicht damit durchkommen, polemische
Plattheiten von sich zu geben, sondern Sie werden die
Akten studieren müssen.
({1})
Wir werden die Akten studieren und die Sachverhalte
aufklären. Dann haben die Bürgerinnen und Bürger die
Möglichkeit, im Detail zu erfahren, wie die damalige
Lenkungsentscheidung zustande gekommen ist.
({2})
Ich möchte eines aufgreifen, das ich bemerkenswert
fand. Sie beginnen schon jetzt, uns mitzuteilen, dass Sie
damals offenbar selbst gar nicht richtig regiert haben,
obwohl Sie gewählt waren. Sie sagen, die Beamten und
die Beamtinnen seien es gewesen, die damals die Entscheidungen getroffen haben.
({3})
Das würde ich als erstes Rückzugsgefecht werten. Es ist
in diesem Zusammenhang beschämend, wenn man die
Beamten vorschickt, statt selbst politische Verantwortung zu übernehmen.
({4})
Schauen wir einmal einige Jahrzehnte zurück. Im Jahr
({5})
hieß es zum Thema Atommüll - ich darf mit Erlaubnis
der Präsidentin zitieren -:
Wenn man das gut versiegelt und verschließt und in
ein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können,
dass man damit dieses Problem gelöst hat.
So dachte damals Carl Friedrich von Weizsäcker, und
mit ihm - das muss man zugeben - dachten 1969 durchaus viele so. Aber wir haben heute das Jahr 2010. Im
Jahr 1983 waren wir hinsichtlich der wissenschaftlichen
Erkenntnisse auch schon wesentlich weiter. Ich wundere
mich, dass diese Koalition offenbar immer noch genauso
blauäugig wie 1969 mit dem Thema Atommüll und seiner sicheren Endlagerung umgeht.
({6})
Anders kann man nicht erklären, dass Sie nach wie
vor keine neue atomrechtliche Genehmigung anstreben,
sondern auch in Gorleben die Rahmenbetriebsplanung
einfach wie bisher fortführen wollen, ungeachtet der
Fakten und auch, Frau Kollegin Flachsbarth, ungeachtet
der ethischen Verpflichtung, von der Sie gesprochen haben. Es wundert mich, dass Sie selbst sich bei dem
Thema der genaueren Untersuchungen und der Frage,
wie Entscheidungen für ein Endlager zustande kommen,
so zurückhalten wollen. Denn einerseits betonen Sie, die
ethische Verpflichtung für die sichere Endlagerung hätten Sie sich vorgenommen und sogar in Ihrem Koalitionsvertrag werde das festgehalten. Andererseits sorgen
Sie dafür, dass jedes Jahr, mit jeder Laufzeitverlängerung, die Sie beschließen, 450 Tonnen mehr an strahlen2440
dem Atommüll in eine Endlagerung kommen, die wir bis
heute nicht gelöst haben.
({7})
Bei diesen Punkten muss ich sagen, dass ich nicht
verstehe, dass Sie selbst kein Interesse daran haben, dass
das Thema Endlager Gorleben so untersucht wird, dass
nicht einmal ein Hauch eines Verdachts hängen bleibt,
dass diese Entscheidung nicht sachgerecht und wissenschaftlich fundiert, sondern möglicherweise politisch erfolgt ist.
({8})
Herr Kollege Grindel, wir können gerne tagsüber tagen; wenn es lange dauert, auch gerne noch abends. Ich
wünsche mir aber, dass wir uns diesem Thema mit der
notwendigen Ernsthaftigkeit zuwenden
({9})
und uns die Sachverhalte anschauen. Schon heute ist im
Internet einiges zu diesem Thema zu finden, auch vonseiten der Regierung. Es gibt einen Bericht, in dem man
Erstaunliches nachlesen kann. Offenbar bestand im Mai
1983 Konsens darüber, einen Zwischenbericht zu Gorleben vorzulegen. Außerdem bestand Konsens darüber,
dass es notwendig und sinnvoll ist, zusätzliche Lagerstandorte zu suchen und zu erkunden. Interessanterweise
befasste sich das Bundeskabinett schon einen Monat
später mit einer Vorlage, in der darauf hingewiesen
wurde, dass es im Hinblick auf die Außenwirkung problematisch sei und Zweifel am Standort Gorleben schüren könnte, wenn man zusätzliche Standorte untersucht.
({10})
Welche Anhaltspunkte braucht man noch, wenn schon
das Kabinett sagt: Wir interessieren uns gar nicht dafür,
wie die Fakten sind, und untersuchen erst gar keine anderen Standorte, weil wir Angst haben, dass die intern
getroffene Entscheidung angezweifelt werden könnte?
Das kann nicht Sinn von Regierungspolitik und vernünftiger Lagerstandortsuche sein, die den ethischen Grundsätzen entspricht, die man bei einem solch gefährlichen
Stoff einhalten muss.
({11})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich würde mich freuen, Herr Kollege Grindel, wenn
Sie den Untersuchungsauftrag ernst nähmen, wenn wir
in einer sachlichen Atmosphäre diskutierten und wenn
Sie aufhörten, polemisch zu denunzieren.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war
damals zwar erst in der zehnten Klasse, aber ich erinnere
mich noch sehr gut, wie zwischen dem Jahr 1977, als
von der damaligen Bundesregierung die Vorauswahl bestätigt wurde,
({0})
und dem Jahr 1982 der deutsche Bundeskanzler hieß. Er
hieß Helmut Schmidt und war von der SPD. Auch der
Forschungsminister, der in diesen fünf Jahren im Amt
war, gehörte der SPD an.
({1})
Die SPD sollte sich fragen, ob sie sich durch die Art und
Weise, wie sie hier argumentiert, nicht von ihrer historischen Verantwortung verabschiedet. Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung, die aus der Beteiligung
an der sozialliberalen Koalition resultiert. Die SPD tut es
leider nicht.
({2})
Verantwortung war für SPD und Grüne auch in den
letzten zehn Jahren ein Fremdwort. Ihre Umweltpolitik
war, was die Endlagerfrage betrifft, organisierte Verantwortungslosigkeit. Das muss man deutlich aussprechen.
({3})
Sie haben zehn Jahre lang die Hände in den Schoß gelegt. Sie haben zehn Jahre lang nichts getan. Warum? Sie
haben nichts getan, weil Sie sich erstens nicht mit Ihrer
Klientel anlegen wollten und weil es Ihnen zweitens in
den Kram passt, wenn die Endlagerfrage nicht gelöst
wird. Dann würde Ihnen nämlich ein Argument gegen
die Kernenergie abhanden kommen.
({4})
Außerdem würde Ihnen ein Argument abhandenkommen, warum man die Politik denunzieren kann. Es ist Ihr
politisches Interesse, dafür zu sorgen, dass die EndlagerMichael Kauch
frage nicht gelöst wird. Das werden wir Ihnen allerdings
nicht durchgehen lassen.
({5})
Herr Miersch sagte ganz klar, auch wir sollten während des Untersuchungsausschusses die Hände in den
Schoß legen. Das entlarvt Ihre Strategie. Ihnen geht es
darum, Sand ins Getriebe zu streuen. Wir werden diesen
Sand aber nicht ins Getriebe kommen lassen, sondern
unsere Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört beispielsweise, mit dem Peer-Review zu beginnen, um
nicht noch mehr Jahre verstreichen zu lassen. Es ist
keine verantwortungsvolle Politik, den strahlenden Müll
über Jahrzehnte in oberirdischen Zwischenlagern an den
Kernkraftwerken stehen zu lassen, wie Sie es in den letzten zehn Jahren gemacht haben.
({6})
Man muss sich auch fragen, ob man nicht einmal einen Untersuchungsgegenstand Gabriel in diesem Haus
einführen sollte.
({7})
Was hat eigentlich Herr Gabriel gewusst? Er war vier
Jahre lang im Amt und hat drei Jahre lang gesagt, wir
müssten mit einer alternativen Standortsuche beginnen.
Im Hinblick auf diese Standortsuche glaube ich Herrn
Gabriel nicht, dass er drei Jahre lang nicht in die Akten
geschaut hat, aber drei Wochen vor der Bundestagswahl
plötzlich interessante Dinge hervorkommen.
({8})
Entweder hat Herr Gabriel drei Jahre lang geschlafen,
oder Herr Gabriel hat das Wissen, das er hatte, unterdrückt und so seine Amtspflichten verletzt. Auch dies
sollte der Deutsche Bundestag einmal diskutieren und
untersuchen.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/888 ({0}) an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013
- Drucksache 16/13601 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch damit
sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir
so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die
noch Gespräche führen wollen, dies vor dem Saal zu tun,
damit wir uns voll auf die Rede des Parlamentarischen
Staatssekretärs Steffen Kampeter konzentrieren können.
({1})
Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({0})
Anlässlich der Einbringung des Haushaltsplanentwurfes
2010 hat der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
hier im Deutschen Bundestag von diesem Pult aus dargelegt,
({1})
dass die Konjunkturlage noch unübersichtlich sei, dass
der wirtschaftliche Erholungsprozess anfällig für Rückschläge sei, dass uns deswegen gar nichts anderes übrig
bleibe, als bis auf Weiteres auf Sicht zu fahren, und dass
wir diesen Haushalt brauchen und diese hohe Neuverschuldung in Kauf nehmen müssen, um die konjunkturelle Erholung abzusichern.
({2})
Heute, zwei Monate später, erweist sich die damalige
Einschätzung aus dem Bundesfinanzministerium weiterhin als richtig; denn die deutsche Wirtschaft hat im vierten Quartal 2009 im Vergleich zum Vorquartal eine
Wachstumspause eingelegt. Die Deutsche Bundesbank
sieht - dies ist bei aller Vorsicht eine gute Nachricht die Hauptursache für das Stocken der konjunkturellen
Erholung vor allem in temporären, also vorübergehenden Faktoren begründet. Dazu zählen in erster Linie das
Auslaufen steuerlicher Fördermaßnahmen, aber auch die
gegen Ende vergangenen Jahres einsetzenden ungünstigen Witterungsbedingungen,
({3})
die sich negativ auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirken. Während der private Konsum im
Schlussquartal des vergangenen Jahres einen deutlichen
Dämpfer erhalten hat, konnten die deutschen Unternehmen ihr Auslandsgeschäft gerade mit den südostasiatischen Schwellenländern, aber auch mit den OPEC-Ländern deutlich ausbauen. Der deutsche Außenhandel hat
im vierten Quartal um rund 3 Prozent zugelegt. Das ist
eine gute Nachricht.
({4})
Diese Beschreibung der Konjunktur belegt im Übrigen,
warum das, was die Vertreter der Opposition gleich fordern werden, nämlich die Vorlage einer aus dem letzten
Jahr stammenden Finanzplanung, weder rechtlich geboten noch sachlich richtig ist.
Wir haben unser deutliches Bekenntnis sowohl zum
europäischen Stabilitätspakt als auch zu den Stabilisierungsmaßnahmen im G-20-Verbund im Januar hier erläutert. Wir laufen in diesen Stunden in die Zielgerade
der Beratung des Haushaltes 2010 ein. Schon jetzt ist erkennbar, dass die Nettokreditaufnahme im laufenden
Jahr deutlich niedriger sein wird, als im Regierungsentwurf steht, aber auch deutlich niedriger als im letzten
Regierungsentwurf der Großen Koalition.
({5})
Außerdem ist deutlich erkennbar, dass die strukturelle
Verbesserung bei der Nettokreditaufnahme nicht auf der
Einnahmeseite, sondern durch die Absenkung von Ausgaben in allen Einzeletats wird erreicht werden können.
Die Beratungen des Haushaltsplans 2010 machen
auch deutlich, dass wir diese staatliche Gestaltungsaufgabe mit einem sinkenden Personalbestand bei den Bundesministerien erfüllen wollen.
({6})
Wir tragen damit der Notwendigkeit Rechnung, dass,
wer will, dass gespart wird, zuvörderst bei sich selbst
sparen muss.
Der Etat 2010 wird ein guter Einstieg in das Regime
der Schuldenbremse,
({7})
das uns ab dem Jahre 2011 begleiten wird. Eines ist doch
klar: Die Konsolidierungsanstrengungen müssen ab dem
nächsten Etat erheblich gesteigert werden. Die neue
Schuldenregel verlangt von uns, dass wir das strukturelle
Defizit im Bundeshaushalt in den nächsten Jahren in
gleichmäßigen Schritten abbauen.
({8})
Das ist eine Konsolidierungsaufgabe, die bedeutet, dass
man jedes Jahr gegenüber dem Vorjahr 10 Milliarden
Euro einsparen muss.
Zugleich gilt es, die weiteren politischen Reformpläne sowohl im Bereich der Steuer- und Abgabenpolitik
als auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme engagiert, sachlich und vernünftig fortzuführen. Das ist
eine enorme Gestaltungsaufgabe. Wir werden uns dabei
an die goldenen Regeln unseres Koalitionsvertrages halten,
({9})
in dem eine Staatsreform mit strikter Ausgabendisziplin
und einer Überprüfung aller staatlichen Leistungen bei
Qualität in der Aufgabenerfüllung vorgesehen ist. - Kollege Solms hat an der Formulierung dieser goldenen Regeln mitgewirkt.
({10})
Wenn sich, was nationaler wie internationaler Annahme entspricht, die Erholungstendenzen verstärken
und die Krise in diesem Jahr zu Ende geht, dann werden
wir die Neuverschuldung ab 2011 im Rahmen der Schuldenbremse des Grundgesetzes ohne Zweifel erfolgreich
zurückführen können. Das wird ein schwieriger Balanceakt und eine Bewährungsprobe, nicht nur für die Finanzpolitik, sondern für alle Politikbereiche.
({11})
Konsolidierung lässt sich nämlich nicht auf den Haushaltsausschuss beschränken. Konsolidierung fängt beim
Einzelplan 01 an und hört beim Einzelplan 60 auf und
betrifft alle Damen und Herren, die Mitglieder dieses
Hohen Hauses sind.
({12})
Dieser Konsolidierungsaufgabe stellen wir uns. Mit
Geschäftsordnungsmätzchen, wie sie Bündnis 90/Die
Grünen heute vorgeführt haben, zeigt die Opposition,
dass sie zu Recht in der Opposition ist, während diejenigen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, nicht ins
Zisterzienserkloster flüchten,
({13})
sondern im Haushaltsausschuss an den notwendigen
Aufgaben arbeiten. Die Bundesregierung wird Sie dabei
- unterstützen.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Staatssekretär, der Kollege Kuhn hätte noch eine
Frage gehabt. Aber Ihre Redezeit ist auch abgelaufen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs für
die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege
Kampeter, Steffen, wenn du in der Opposition gewesen
wärst und ein Staatssekretär eine solche Rede gehalten
hätte, du hättest gebrüllt vor Lachen.
({0})
Immerhin hast du selber leicht geschmunzelt. Du weißt
natürlich, dass das alles nicht ganz so ist, wie du es dargestellt hast.
Was haben wir vorliegen? Uns liegt der Finanzplan
der Großen Koalition vor; also muss das schon einmal
viel mit Qualität zu tun haben. Allerdings muss man sich
fragen: Warum liegt kein neuer Finanzplan vor? Was ist
ein Finanzplan? Ein Finanzplan ist ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm für eine Wahlperiode und
beinhaltet - der Kollege Kampeter hat das eben angedeutet - all die schönen Dinge, die Sie machen wollen.
Wenn der Finanzplan ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm ist, dann fragt man sich, warum es Ihnen
nicht gelingen will, aus dem eben so gelobten Koalitionsvertrag einen Finanzplan zu machen. Die Frage ist
ein bisschen theoretisch, weil jeder Bürger in diesem
Land die Antwort kennt.
({1})
- Steffen, willkommen unter den Abgeordneten. ({2})
Wenn man sich das genau anschaut, dann sieht man:
Hier liegt kein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm vor, sondern nur ein Koalitionsvertrag.
Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Warum ist das
so? Die Antwort kennt jeder Bürger in Deutschland.
Diese Koalition ist sich in fast gar nichts einig. Darin
sind sie sich aber einig.
({3})
Wenn man das weiß, dann wird die Sache relativ einfach. Das heißt, wir haben hier keinen Finanzplan vorliegen, weil die CDU nach der Wahl aus dem Finanzministerium heraus den Versuch unternommen hat,
({4})
die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag gemeinsam
beschlossen wurden, zu boykottieren und schlechtzumachen. Die CDU/CSU hat es in zwei Monaten geschafft,
die FDP mit ihrer angekündigten Steuersenkung sozusagen durchs Land zu jagen, lächerlich zu machen und
bloßzustellen. Ich muss sagen: Das ist eine Leistung, die
zwar nicht zu einer Koalition gehört, aber überall angekommen ist.
Ich glaube, dass sich die CDU/CSU damit keinen Gefallen getan hat. Die FDP hat sich zwei Monate lang
angeschaut, wie sie der Lächerlichkeit preisgegeben
worden ist, und dann hat sie zurückgeschlagen. Der Vizekanzler hat sich wieder in einen Parteivorsitzenden
verwandelt und eine sogenannte Sozialstaatsdebatte vom
Zaun gebrochen, und zwar nicht, weil ihn der Sozialstaat
ernsthaft interessieren würde.
({5})
- Ganz ruhig bleiben. Nur getroffene Hunde bellen. In
der Ruhe liegt die Kraft, Kollegen. Zuhören, lernen und
verstehen! Danach können Sie antworten. Sie haben
nämlich noch eigene Redezeit.
({6})
Die FDP, die sich von ihrem Koalitionspartner CDU/
CSU gebeutelt, geschlagen und getriezt fühlte, hat also
eine Sozialstaatsdebatte angestoßen. Ich glaube nicht,
dass es Ihnen ernsthaft um die Beantwortung der Fragen
geht; denn es gibt nur relativ wenige Antworten. Die Sozialstaatsdebatte wurde geführt, um die CDU/CSU vorzuführen; denn inhaltlich ist da mit der CDU/CSU nur
relativ wenig zu machen.
Welche Möglichkeiten im Rahmen einer Sozialstaatsdebatte gäbe es? Auf der einen Seite könnte man
Hartz IV senken. Das macht aber keiner mit. Auf der anderen Seite gäbe es Mindestlöhne und höhere Tariflöhne.
Auch das ist schwierig. Daneben gibt es kaum noch Varianten. Also führt man die Sozialstaatsdebatte weiter.
Man kommt nicht zur Einigung. Die FDP schafft es aber,
diese Regierung und diese Kanzlerin vorzuführen und
am Ende dafür zu sorgen, dass sich Frau Merkel distanziert - im Duktus, aber nicht inhaltlich. Wir haben also
das Problem, dass wir eine Regierung haben, die eine
Sachstandsbeschreibung, aber keine Lösung abgeliefert
hat.
Wenn Mängel beklagt werden, erwartet man, dass
hier ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, über den man
diskutieren kann. Aber dazu gehört, dass man sich auf
etwas einigt. Diese Einigung findet in der Koalition
nicht statt, und deswegen werden wir schlecht regiert.
Wir warten alle die Wahl in Nordrhein-Westfalen ab.
({7})
Große Entscheidungen, seien sie richtig oder falsch,
werden verschoben. In diesem Land herrscht Stillstand.
Bundesbankpräsident Weber hat gesagt: Tiefe Einschnitte bei den Staatsfinanzen sind unausweichlich. Der
Präsident des Bundesrechnungshofes, Herr Engels, hat
Ähnliches gesagt. Zurzeit finden Haushaltsausschusssitzungen und die Bereinigungssitzung statt. Die Koalition
streicht im Bereich der Verteidigung Pi mal Daumen
250 Millionen Euro.
({8})
Alle Abgeordneten der Opposition sind überrascht, weil
es überhaupt kein Berichterstattergespräch, keine vorherige Information und keine inhaltliche Diskussion gegeben hat,
({9})
was natürlich dazu führt, dass sich der Minister nicht in
der Lage sah, diese Kürzung mit einer Einschätzung zu
versehen.
({10})
Er war ratlos.
Man kann das natürlich tun. Das Problem aber ist,
dass man dem Sparbemühen der Haushälter jede Wirkung nimmt, wenn man fachlich Unsinn macht.
({11})
Zum Beispiel werden im Einzelplan 12 im Bereich des
kombinierten Verkehrs über 60 Millionen Euro gestrichen. Ein gutes und richtiges Vorgehen findet nicht statt.
({12})
Wir haben also das Problem, ({13})
- Herr Fricke, Sie sind doch gleich dran. Ganz ruhig
bleiben! - dass Sie kein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm vorlegen. Sie haben das Problem, dass
Sie sich in den großen Fragen nicht einigen können. Sie
haben in Ihrem Koalitionsvertrag wilde Versprechungen
gemacht.
({14})
Was soll eine Steuersenkung kosten? Die einen sagen:
20 Milliarden Euro. Andere sagen, es werde ein bisschen
mehr oder ein bisschen weniger sein. Nur wird es nicht
zu dieser Steuersenkung kommen. Herr Kampeter, Sie
sagen, dass man hier in den einzelnen Etats insgesamt
10 Milliarden Euro pro Jahr sparen muss.
({15})
Dann muss man natürlich auch sagen, wo man die
20 Milliarden Euro für die Steuersenkung einsparen will.
({16})
Des Weiteren gibt es das Problem, dass Sie sich hierhin stellen und eine Kopfpauschale fordern. Darüber
wird gerade in diesem Land diskutiert. Wir Sozialdemokraten haben 2005 schon mit der CDU darüber diskutiert. Inzwischen hat die CDU eine geänderte Meinung;
die FDP hat sie aufgenommen. Die CDU ist jetzt gegen
ihre eigene Meinung.
({17})
Die Sachlage ist also folgende: Die Diskussion in diesem
Land zeigt, dass man am Ende staatliche Zuschüsse
braucht, um die Kopfpauschale umzusetzen. Jetzt wird
gefragt, wie viel das kosten soll. Der Bundesgesundheitsminister sagt: 10 Milliarden Euro per annum. Das
ist ungefähr die Summe, die Sie sowieso streichen müssen. Sie müssen also 10 Milliarden Euro draufpacken,
zusätzlich zu den Kosten für die Steuerreform und zu
den 10 Milliarden Euro, die Sie darüber hinaus einsparen
müssen. Dann sind wir schon bei 40 Milliarden Euro, die
Sie jährlich einsparen müssen. Das wird eine fröhliche
Veranstaltung. Jetzt kommt aber die Antwort des Bundesfinanzministeriums,
({18})
die Einführung der Kopfpauschale koste nicht 10, nicht 20,
sondern 40 Milliarden Euro jährlich. Diese 40 Milliarden Euro müssen eingespart werden.
Unter dem Strich heißt das: Diese Koalition ist sich in
wesentlichen Punkten nicht einig. Sie hat zwar einen
Koalitionsvertrag, schafft es aber nicht, diesen Koalitionsvertrag in ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm, in einen Finanzplan, zu überführen. Das ist nicht
nur schändlich, sondern behindert die Entwicklung unseres Landes,
({19})
weil die Wirtschaft und die Menschen nicht wissen, woran sie sind, weil man nicht weiß, wie es in diesem Land
weitergehen soll.
Jetzt haben Sie die Mehrheit. Nutzen Sie sie! Wir
werden in der Sache hart kritisieren; aber dazu müssen
Sie sich erst einmal einigen. Darauf warten wir. Glück
auf!
({20})
Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDPFraktion.
({0})
Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kahrs, es wäre schön gewesen, wenn Sie auch zur Sache geredet hätten und gesagt hätten, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht um
den Finanzplan und um die Frage, ob man einen neuen
Finanzplan vorlegen muss, wenn es schon einen alten
gibt. Im ersten Augenblick könnte man sagen: Formal
spricht vieles dafür.
({0})
- Kollege Bonde, ich würde jetzt vorsichtig sein.
({1})
Kollege Kahrs, Sie sagen, dass diese Regierung, dass
jede Regierung einen solchen Finanzplan haben müsse.
({2})
Sie meinen, ein neuer Plan müsse her, weil Neuwahlen
stattgefunden haben. Würden Sie das, wenn Sie an der
Regierung wären, so machen?
({3})
- Sie würden es so machen; das möchte ich für das Protokoll festhalten. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, jetzt darf ich Ihnen sagen: Diese beiden
Parteien, einstmals an der Regierung, damals hier in weit
größerer Zahl vertreten - vor allem die SPD -, haben im
Jahre 2003, als sie nach der gerade noch gewonnenen
Wahl 2002 wieder an der Regierung waren, die Möglichkeit gehabt, einen neuen Finanzplan vorzulegen.
({4})
- Die Rahmendaten hatten sich damals in vielen Bereichen geändert. Ich darf an Schröder und die Agenda
2010 erinnern. Haben Sie damals einen neuen Finanzplan vorgelegt? Nein.
({5})
- Sie meinen, wenn es die gleiche Koalition ist, muss
man das nicht machen? Müssen wir dann einen halben
Finanzplan vorlegen, weil einer der Koalitionspartner an
der Regierung geblieben ist?
({6})
Entschuldigung, auf der einen Seite ist es zwar formal
in Ordnung, wie Sie mit dem Recht umgehen; aber auf
der anderen Seite sollte jemand, der sich so verhalten
hat, vorsichtig sein, wenn er etwas fordert, das er selbst
nicht für richtig gehalten hat.
({7})
Ich kann dem Kollegen Kampeter nur zustimmen: Sie
sollten einmal ins Zisterzienserkloster gehen, lesen, lernen und, wie ich finde, vielleicht auch ein bisschen beten, dass all das Unheil, das Sie hier provozieren, irgendwie an Ihnen vorbeigeht.
({8})
Nun zur Sache selbst: Wir wollen einen möglichst
präzisen Finanzplan. Gibt es einen präzisen Finanzplan?
Jetzt sagen Sie, der Finanzplan von Herrn Steinbrück sei
präzise gewesen. Haben Sie sich einmal angeschaut, wie
oft im Finanzplan von globalen Minderausgaben die
Rede ist und welche Höhe sie einnehmen?
({9})
Er ist nicht präzise und kann dies auch nicht sein, weil
wir bei der Gestaltung des Finanzplans immer versuchen, uns ein Bild von der Zukunft zu machen. Unser
Bild von der Zukunft bedeutet - darin sind wir uns doch
alle einig -: Wir halten die Verfassung ein. Das heißt,
wir halten den Stabilitätspakt ein. Es heißt auch, dass wir
sparen müssen.
Der Kollege Kahrs hat kurz aus dem Haushaltsausschuss berichtet. Sie haben festgestellt, wie schlimm es
ist, dass wir sparen. Für Sie ist es schlimm. 200 Millionen Euro im Verteidigungsbereich einzusparen ist etwas,
dem Sie nicht zustimmen können. Aber dumm oder unverantwortlich kann das nicht sein;
({10})
denn selbst Grüne und Linke haben dem zugestimmt.
({11})
Deswegen sage ich in Richtung SPD: Sie sind überrascht
davon, dass die Koalition - ich bin froh, wie das mit dem
Kollegen Barthle und den Haushältern funktioniert - das
Sparen gemeinsam angeht. Sie sind völlig platt. Sie sind
überrascht. Sie lehnen jeden Sparvorschlag ab. Die Grünen verhalten sich zwar kritisch, aber konstruktiv. Die
Linken fahren ihre Linie. Aber Sie sagen einfach nur:
nicht sparen! Das zeigt doch, worum es Ihnen eigentlich
geht. Es geht Ihnen allein um eine Politik nach dem
Motto Die anderen sparen nicht, und wir wollen das beweisen. Es ist genau umgekehrt: Sie wollen nicht sparen, und wir werden es beweisen.
({12})
Wäre denn ein Finanzplan, den wir heute aufstellen
würden, über das Jahr 2010 hinaus präzise zu machen,
wenn Sie alleine in der Regierung wären? So, wie die
gegenwärtige wirtschaftliche Situation aussieht, befinden wir uns zurzeit am entscheidenden Dreh- und Angelpunkt, ob wir aus der Krise herauskommen. Es geht
nicht mehr um die Frage, ob es weiter hinuntergeht. Wir
sind jetzt an der Stelle angelangt, an der sich in unserem
Finanzsystem, Steuersystem, Haushaltssystem und Sozialsystem in einer alternden Gesellschaft die Frage
stellt, wie wir wieder hochkommen. Wir wissen genau,
dass das, was wir heute noch für richtig halten, möglicherweise in einem Vierteljahr schon anders ist.
({13})
Ich wünsche mir in der Frage nach dem weiteren Vorgehen im Laufe des Halbjahrs einen neuen Finanzplan
und eine neue Steuerschätzung. Das erwarte ich vom
Finanzministerium. Alles geht den Weg, den es immer
gegangen ist, wie es zu Zeiten von Rot-Grün der Fall
war, wie wir für das Jahr 2003 gehört haben, und wie es
bei der Steuerschätzung war. Zuverlässigkeit, Klarheit
und vor allen Dingen Berechenbarkeit - das zeichnet uns
aus.
({14})
Das mag Ihnen nicht passen. Es mag Sie überraschen.
Sie können versuchen, irgendwelche Streitinterpretationen aus der Sesamstraße zu bringen. Es wird Ihnen nicht
gelingen.
Ich will kurz sagen, wo wir als FDP und unser Koalitionspartner in Zukunft noch Imponderabilien sehen.
({15})
Sie wissen genauso wenig wie wir, wie sich die Spekulationsversuche, die sich gegenwärtig am Finanzmarkt
darstellen, auswirken werden. Wir alle hoffen, dass die
Griechen es schaffen, sich selbst aus dem Sumpf herauszuziehen, in den sie sich begeben haben. Wir alle hoffen,
dass wir keine weiteren größeren Schlaglöcher finden,
aber wir wissen es derzeit noch nicht.
({16})
Ich sage Ihnen klar und deutlich: Wir werden genau
beobachten, was kommt. Wir werden weiterhin den Weg
beschreiten, der im Koalitionsvertrag vereinbart worden
ist.
({17})
Sie mögen zwar sagen, dass das nicht geht. Sie haben
aber auch bestritten, dass wir es schaffen, die Steuern zu
senken. Wir haben damit angefangen. Sie haben bestritten, dass wir es schaffen, die Ausgaben und die Neuverschuldung zu reduzieren. Wir sind dabei. Wir werden
auch beim Finanzplan ordentlich und zuverlässig vorgehen.
({18})
Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Schuldenbremse: Wir als FDP werden uns - das sage ich besonders an die SPD gewandt - genau ansehen, wie die
Schuldenbremse bei Ihnen ausgefallen wäre und wie
Ihre Anträge, Ihre Nichtbereitschaft zum Sparen und der
fehlende Wille, bestimmte Dinge anzugehen, zustande
gekommen sind.
({19})
Wenn fiktive Vorschläge kommen, wie sie schon zu hören waren, alte Ausgabenreste zu streichen, und Sie dann
meinen, Sie hätten gespart, oder ähnliche Tricks, dann
werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen.
({20})
- Ja, warten wir es ab. Ich habe - damit komme ich zum
Schluss - heute schon den ganzen Tag mit den Kollegen
im Haushaltsausschuss erlebt, wie sich die SPD bisher
dem Sparen verweigert, während die Koalition den Kurs
des Sparens verfolgt und nicht nur einen Finanzplan,
sondern auch einen politischen Plan dafür hat. Den werden Sie vier Jahre vor Augen haben.
({21})
Ich freue mich weiterhin darauf.
Herzlichen Dank.
({22})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
Dr. Gesine Lötzsch das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich frage mich seit Beginn dieser Debatte, ob
unsere Zuschauer auf den Zuschauerrängen überhaupt
verstehen, worüber hier diskutiert wird.
({0})
Daher noch einmal: Das Thema ist die Finanzplanung
des Bundes 2009 bis 2013. Der Kollege Staatssekretär
Kampeter hat alles Mögliche getan, um das, worüber wir
eigentlich reden sollten, herumzureden.
({1})
Er hat zwar über den Haushalt, aber nicht über die Finanzplanung gesprochen.
Nun ist es so, dass dies wirklich eine ziemlich absurde
Debatte ist; denn im Herbst haben, wie wir alle wissen,
Wahlen stattgefunden. Seit den Wahlen gibt es eine neue
Koalition. Diese neue Koalition hat erklärt, dass sie alles
anders machen wolle. Sie hat aber versäumt, einen neuen
Finanzplan vorzulegen. Nun haben wir sowohl vom Kollegen Kampeter als auch vom Kollegen Fricke von der
FDP noch einmal die Ausreden und fadenscheinigen Argumente gehört. Sie erklären, dass sie erst einmal die
Steuerschätzungen abwarten wollen. Ich halte das für
Arbeitsverweigerung und für unehrliche Politik.
({2})
Wir alle wissen doch, dass Sie gebannt auf einen Termin starren, nämlich auf einen Termin im Mai. Dann findet die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen statt.
({3})
Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland. Nicht zu Unrecht können, glaube ich, alle davon ausgehen, dass die schwarz-gelbe Koalition dort abgewählt wird, da sie mit Sponsoringaffären das
Vertrauen in die Politik in hohem Maße beschädigt hat.
({4})
Ich finde, Sie sollten wenigstens so ehrlich sein und zugeben, dass Sie sich nicht trauen, der Bevölkerung in
diesem Land vor dem Wahltermin die Wahrheit über die
Richtung Ihrer Politik zu sagen.
({5})
Die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen
haben es in der Hand, zu entscheiden, ob die schwarzgelbe Koalition abgemahnt wird. Ich finde, eine Abmahnung ist überfällig.
({6})
- Darin stimme ich Ihnen zu, Kollege Kuhn. Eine Abmahnung reicht nicht. Die Abmahnung muss die Abwahl
sein.
({7})
Darin sollten wir uns einig sein.
Wenn diese Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht
abgewählt wird, macht die Bundesregierung weiter wie
bisher: Klientelpolitik, Steuersenkungen für Großunternehmen, Großspender und Sponsoren bedienen sowie
reihenweise Parteifreunde in den Ministerien unterbringen. So erleben wir es seit langer Zeit. Wir haben festgestellt, dass insbesondere die FDP dabei besonders aktiv
ist. Wir brauchen uns nur anschauen, wen alles der Kollege Niebel in seinem Ministerium, das die FDP eigentlich abwickeln wollte, untergebracht hat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Fricke?
Ja, sehr gerne.
Frau Kollegin Lötzsch, würden Sie mir bestätigen,
dass die Steuerschätzung im Mai vor der Landtagswahl
kommt?
Lieber Kollege Fricke, erstens weiß ich, wann die
Steuerschätzung kommt. Zweitens können wir gerne
wetten, dass Sie den Finanzplan vor der Wahl nicht vorlegen werden und sich weiter verstecken.
({0})
Sie haben über die Schuldenbremse gesprochen.
({1})
- Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Fricke. Dann kann ich
Ihnen das erklären.
({2})
Da Sie sitzen bleiben, kann ich nur sagen: Das ist feige.
Aber das sind wir von der FDP gewohnt. Ich habe aber
noch Redezeit und kann Ihnen das erklären.
({3})
Sie sagen, Sie könnten keine Finanzplanung machen,
weil Sie die Ergebnisse der Steuerschätzung noch nicht
hätten. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, dass die
Vorgaben der Schuldenbremse gelten müssen. Diese
sieht vor, dass pro Jahr 10 Milliarden Euro im Haushalt
nicht gespart, wie es immer irreführend heißt, sondern
gestrichen werden sollen. Sie können 10 Milliarden Euro
aber nicht streichen, indem Sie auf Bleistiftanspitzer
oder Ärmelschoner in den Bundesministerien verzichten.
Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Kampeter, es
ist keine vernünftige Politik, in allen Ressorts zu sparen,
ohne eine Schwerpunktsetzung zu formulieren. Wir wollen, dass im Verteidigungsbereich gespart wird, und
zwar deutlich. Wir wollen keine unsinnigen Rüstungsprojekte. Wir werden uns mit aller Kraft dagegen wenden, dass Sie Ihren Plan, auf dem Rücken der Ärmsten in
diesem Land zu sparen, umsetzen können. Wir brauchen
endlich eine vernünftige Politik, eine andere Wirtschafts- und Steuerpolitik. Wir müssen die Verursacher
der Finanzkrise zur Verantwortung ziehen
({4})
und endlich Schluss mit dem Niedriglohnsektor, Hartz IV
und lächerlich niedrigen Steuersätzen für Konzerne machen. Außerdem müssen wir, um dieses Land voranzubringen, endlich die Agenda 2010 abwickeln. Dann ist
wieder eine solide Finanzpolitik möglich.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
jetzige Tagesordnungspunkt ist ein Novum in der deutschen Haushaltsgeschichte; denn zeitgleich zur Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, also in dem
Moment, in dem der Haushalt endgültig aufgestellt wird,
bringt die Regierung - last minute - einen Finanzplan in
die Haushaltsberatungen ein. Jetzt hat die Koalition hier
erstaunlich viel darum herumgeredet. Immer wenn sie
darum herumredet, lohnt es sich, genau hinzuschauen.
({0})
Sie sind nach § 9 des Stabilitätsgesetzes verpflichtet,
der Haushaltswirtschaft eine fünfjährige Finanzplanung
zugrunde zu legen, in der - Zitat -:
Umfang und Zusammensetzung der voraussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in
ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen
Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens darzustellen
sind. Nach § 50 des Haushaltsgrundsätzegesetzes sind
Sie verpflichtet, den Finanzplan spätestens im Zusammenhang mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes vorzulegen. Das, was heute passiert, ist schlicht rechtswidrige
Haushaltspolitik dieser Koalition.
({1})
Sie entziehen sich der Aufgabe, mit einem Finanzplan
klar darzustellen, was Sie in den nächsten Jahren vorhaben, mit welchen volkswirtschaftlichen Eckdaten Sie als
schwarz-gelbe Koalition rechnen und wie Sie dem berechtigten Interesse der Bevölkerung nach einer Vorausschau in der Situation der Rekordverschuldung entsprechen wollen. Dazu sind Sie aber von Gesetz wegen
verpflichtet. Dieses Gesetz ignorieren Sie, seit Sie zu
Beginn Ihrer Amtszeit einen Haushaltsentwurf vorgelegt
haben, dem keine Finanzplanung zugrunde lag.
({2})
Sie haben in dieser rechtlichen Auseinandersetzung
immer behauptet, Sie könnten den alten Finanzplan von
Herrn Steinbrück aus dem Sommer 2009 weiter verwenden. Ich sage Ihnen einmal, was in diesem alten Finanzplan steht. Darin steht eine Wachstumserwartung von
0,5 Prozent für das Jahr 2010. Sie passen gerade die
Wachstumserwartung auf 1,4 Prozent an. Hat das etwas
miteinander zu tun? Nein, das hat es nicht.
({3})
Im Finanzplan 2009, den Sie nun einbringen, rechnen
Sie überhaupt nicht mit einem Zuschuss in Höhe von
über 10 Milliarden Euro für die Bundesagentur für Arbeit. Dieser Betrag lässt sich dort nicht finden. Was hat
das mit Wahrheit und Klarheit sowie einer ehrlichen Ansage zu tun, die die Bürgerinnen und Bürger brauchen?
({4})
Kommen wir zur Steuerseite. Ihr alter Finanzplan kennt
Ihr Wachstumstrullalagesetz, Ihre Geschenke an Hotelbesitzer und die 10 Milliarden Euro, die Sie als Koalition bereits verbraten haben, nicht.
({5})
Was hat das mit Wahrheit und Klarheit, was hat das mit
einer ehrlichen Haushaltspolitik zu tun?
Wenn man sich den Haushaltsplan anschaut, den Sie
verabschieden, dann sieht man, dass es reihenweise Programmtitel gibt. Da ist das, was Sie an Geld in der Verpflichtungsermächtigung für 2011 zuweisen, höher als
der Baransatz Ihres Finanzplans für das Jahr 2011. Der
Finanzplan, den Sie heute einbringen, hat so viel mit der
Realität zu tun wie Hertha BSC mit der Spitze der Fußball-Bundesliga. Es ist Pfusch, was Sie hier vorgelegt
haben, und Sie wissen, dass es Pfusch ist.
({6})
Eines setzt dem Ganzen die Krone auf: Sie haben nicht
einmal daran gedacht, dass Sie einen Finanzplan brauchen. Sie haben bis Ende letzter Woche nicht einmal gemerkt, dass Sie keinen im Haushaltsverfahren haben.
Deshalb müssen Sie jetzt eine solche peinliche Veranstaltung aufführen und Reden wie aus einem Zisterzienserkloster halten. Was Sie machen, ist nichts anderes als
Pfusch. Sie beherrschen Ihr Handwerkszeug nicht. Eine
Räuberbande geht verantwortungsvoller mit dem Geld
der Bürgerinnen und Bürger um.
({7})
Deshalb sage ich Ihnen: Stampfen Sie diesen Unfug ein!
Das haben die Menschen nicht verdient.
({8})
Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Nach diesem Auftritt des Kollegen
Bonde, dessen Kompetenz als Haushaltspolitiker ich
sehr schätze,
({0})
kann ich nur sagen: Diese Debatte ist wirklich kabarettreif; denn was hier versucht wird, ist nichts anderes, als
dem Finanzminister Wolfgang Schäuble ein Versäumnis
unterzujubeln und damit Kritik an ihm zu üben. Über
dieses formale Versäumnis kann man sehr wohl streitig
diskutieren. Das werde ich gleich noch tun.
({1})
Ich kann nur sagen: Die Tatsache, dass den Grünen
nichts Besseres einfällt, um am Finanzminister Kritik zu
üben, zeigt, wie die Grünen aufgestellt sind. So etwas
tropft am Finanzminister relativ unbeschadet ab.
({2})
Worum geht es denn? Es war wunderschön, vorhin zu
erleben, dass die Kolleginnen und Kollegen von der SPD
begeistert mitgeklatscht haben, als der Kollege Bonde
von den Grünen im Zusammenhang mit dem Finanzplan
2009 bis 2013 von Pfusch geredet hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der Finanzplan des Finanzministers Peer Steinbrück, SPD.
({3})
Das zeigt die Qualität dieser Debatte, die uns die Grünen
aufgedrängt haben.
({4})
Tatsächlich gibt es - nun sind wir bei dem von dem
Kollegen Bonde angesprochenen Gesetz - ein Gesetz
zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der
Wirtschaft vom 8. Juni 1967.
({5})
Dieses Gesetz sieht Folgendes vor:
Der Finanzplan ist vom Bundesministerium der Finanzen aufzustellen und zu begründen. Er wird von
der Bundesregierung beschlossen und Bundestag
und Bundesrat vorgelegt.
Weiter heißt es:
Der Finanzplan ist jährlich der Entwicklung anzupassen und fortzuführen.
Peer Steinbrück hatte einen Finanzplan 2009 bis 2013
aufgestellt, der im Kabinett verabschiedet und dem Parlament übergeben wurde. Dieser Finanzplan ist tatsächlich überholt. Der Finanzminister Wolfgang Schäuble
hat in der Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, an
dieser Stelle klipp und klar gesagt, er sehe es als seine
Verantwortung an, im Jahre 2010 einen neuen Finanzplan gemeinsam mit dem Bundeshaushalt 2011 vorzulegen. Denn der Finanzplan ist, wie gesagt, nur jährlich
fortzuschreiben. Wie Sie alle wissen, werden wir im Jahr
2010 zwei Haushalte beraten, nämlich nicht nur den für
2010, sondern auch den für 2011. Deshalb können Sie
beruhigt darauf warten, bis der Finanzminister zu gegebener Zeit den Finanzplan anpassen wird, und zwar auf
der Grundlage korrekter Daten und Fakten, die aus der
Steuerschätzung resultieren, deren Ergebnisse wir noch
vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bekommen werden.
Das ist aus meiner Sicht die richtige und verantwortungsbewusste Vorgehensweise des Finanzministers. Er
wird die deutsche Öffentlichkeit nicht mit einem schnell
zusammengeschusterten Zahlenwerk überraschen, sondern mit korrekten, verlässlichen und eindeutigen Zahlen aufwarten. Das ist unser Bestreben.
Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kuhn?
Immer gerne, Herr Kollege Kuhn.
Herr Kollege Kuhn, bitte.
Herr Kollege, ich habe eine Verständnisfrage. In der
Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, haben wir
uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Auch ich
hatte das Vergnügen, in dieser Debatte zu reden. Das Argument des Finanzministers war, er wolle jetzt keinen
neuen Finanzplan einbringen, weil aufgrund der fehlenden Steuerschätzung die Faktenlage noch nicht eindeutig
zu beurteilen sei. Wir haben dagegen argumentiert; das
alles ist bekannt.
Unter der Voraussetzung, dass das stimmt, was er damals gesagt hat, möchte ich gerne wissen, warum er
heute einen alten Finanzplan einbringt, der in wichtigen
Positionen, zum Beispiel beim Zuschuss für die BA, um
10 Milliarden Euro von dem abweicht, was Herr
Steinbrück im letzten Jahr vorgelegt hat. Herr Bonde hat
in diesem Zusammenhang noch weitere Punkte genannt.
Zuerst sagt man, man könne jetzt keine Finanzplanung machen. Dann passiert erst einmal gar nichts; wochenlang hört man nichts über dieses Thema. Aber am
Tage der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses,
der finalen Sitzung im Zuge der Haushaltsberatungen,
wird plötzlich eine alte, schon nicht mehr gültige Finanzplanung vorgelegt.
Ich will die Frage noch ergänzen; Herr Fricke von der
FDP hat diesen Punkt vorhin angesprochen. Im Jahr
2003 war die Lage anders. Damals hat man keinen neuen
Finanzplan eingebracht,
({0})
weil die wesentlichen Eckdaten sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Ausgaben der alten Finanzplanung
entsprochen haben. Das ist der Unterschied zu damals.
({1})
Wie erklären Sie also das, was Herr Schäuble vor wenigen Wochen gesagt hat und was jetzt hektisch von der
Regierung und von Herrn Kampeter vertreten wird? Jeder, der Herrn Kampeter persönlich kennt, weiß, dass er
mit heißen Füßen in den Socken dastand, als er hier etwas ganz anderes erzählt hat.
({2})
Herr Kollege Kuhn, wir wollen zuerst eines festhalten: Im Gesetz steht, dass ein jährlich anzupassender Finanzplan vorzulegen ist. Es steht aber nicht im Gesetz,
dass er vorzulegen ist, wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Darüber steht überhaupt nichts im
Gesetz. Vielmehr haben Sie, die Grünen, diese Debatte
mit dem Argument angestoßen, es gebe einen formalen
Verstoß. Dieser formale Verstoß kann sich nie und nimmer auf eine Änderung der Rahmendaten beziehen.
Tatsächlich haben sich die Rahmendaten geändert.
Wir haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen
Koalition erreicht,
({0})
dass die Arbeitslosigkeit deutlich weniger angewachsen
ist, als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir
haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen Koalition erreicht,
({1})
dass die Steuereinnahmen weniger eingebrochen sind,
als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir haben
erreicht, dass es wieder ein ordentliches Wirtschaftswachstum gibt. Deshalb sind die Rahmendaten besser.
Aber von den Rahmendaten steht in dem Gesetz überhaupt nichts.
Wenn Sie sich auf die Änderungen der Rahmendaten
als Begründung dafür berufen, dass ein Finanzplan eingebracht werden muss, dann täuschen Sie sich über die
Gesetzeslage; da müssen Sie noch einmal nachschauen.
Deshalb kann ich Ihnen nur sagen, dass Ihre formale Begründung an den Haaren herbeigezogen ist. Der Finanzminister hat klipp und klar gesagt, dass er seiner Pflicht
nachkommt.
({2})
- Ich antworte Ihnen noch. - Danke. - Er wird den Finanzplan dann vorlegen, wenn er gesicherte Daten als
Grundlage hat; das geschieht jährlich. Dieser Pflicht
wird er nachkommen; da können Sie ganz beruhigt sein.
Herzlichen Dank für die Zwischenfrage.
Der Kollege Kuhn will Ihnen noch einmal die Chance
auf weitere Ausführungen geben.
Wunderbar! Ich genieße meine Redezeit.
Ich will das wirklich sachlich klären. Im Gesetz steht,
welchen Sinn eine Finanzplanung hat. Sie soll Aufschluss über die wesentlichen Elemente von Einnahmen
und Ausgaben geben. Wenn diese sich durch Ihren Haushaltsentwurf wesentlich ändern, müssen sie doch dem
Gesetz zufolge in der Lage sein, einen neuen Finanzplan
einzubringen. Wenn sich nichts ändert, dann gilt die Einjahresregel, von der Sie gesprochen haben. Wenn sich
aber im ersten Jahr der Finanzplanung Wesentliches ändert, dann ist die Fortschreibung für die folgenden vier
Jahre obsolet, weil sich alles anders darstellt und verzerrt. Deswegen hätten Sie den alten Finanzplan nicht
einbringen dürfen. Das ist doch ganz logisch.
({0})
Sie haben richtig aus dem Gesetz zitiert. Da steht zur
fünfjährigen Finanzplanung:
In ihr sind Umfang und Zusammensetzung der voraussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen
Leistungsvermögens darzustellen
Das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen kann der
Finanzminister dann abschätzen, wenn er wieder fundierte Informationen über die Entwicklung der Steuereinnahmen hat. Diese Datenlage steht uns in wenigen
Wochen zur Verfügung. Dann werden sich die Beamten
des Finanzministeriums daranmachen, den Finanzplan
fortzuschreiben, und zwar auf gesicherter Datenbasis.
Alles andere wäre ein Beschäftigungsprogramm ohne
Hand und Fuß für zahllose Beamte. So etwas lehnen wir
ab.
({0})
Es muss noch gesagt werden, dass das Parlament den
jetzigen Finanzplan gar nicht beraten muss. Es muss ihn
nur zur Kenntnis nehmen.
({1})
- Natürlich muss er vorgelegt werden. Aber er muss
nicht beraten, sondern nur zur Kenntnisnahme vorgelegt
werden. Das ist alles, was das Gesetz vorschreibt.
Ich halte daher diese Debatte für an den Haaren herbeigezogen. Sie dient nur dem Zweck, den Finanzminister an einer Stelle zu kritisieren, an der man ihn überhaupt nicht kritisieren kann, und - das kam in der Rede
der Kollegin Lötzsch ganz klar zum Ausdruck - einen
Zusammenhang mit der Landtagswahl in NordrheinWestfalen zu konstruieren, der überhaupt nicht besteht;
denn wir stellen Finanzpläne nicht in Abhängigkeit von
anstehenden Terminen für Landtagswahlen auf. Das ist
eine Vermutung, die weit hergeholt ist; ich weise sie klar
zurück. Wir stellen Finanzpläne nach richtiger Datenlage
und sorgfältiger Prüfung so auf, dass sie der tatsächlich
eingetretenen Entwicklung entsprechen und eine korrekte Perspektive für die Zukunft darstellen.
Eines muss doch klar sein: Der Finanzplan, den die
Bundesregierung aufstellt und den der Finanzminister
hier vorlegt, dient nicht nur der Unterrichtung des Parlaments, sondern auch der Öffentlichkeit. Er hat eine Wirkung auf zahlreiche Bereiche in unserer Wirtschaft. Deshalb muss dieser Finanzplan ordentlich fortgeschrieben
werden, und zwar jährlich.
({2})
Das tun wir. Warten Sie ab! Gedulden Sie sich! Es wird
Ihnen nicht gelingen, uns dazu zu bewegen, diesen Finanzplan hopplahopp und holterdiepolter vorzulegen;
vielmehr werden wir ihn sorgfältig aufstellen. So machen wir das.
Herzlichen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/13601 an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur
Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen
- Drucksache 17/880 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass wir auch in dieser Woche Gelegenheit
haben, über das so wichtige Thema der Grundsicherung
zu debattieren. Schade, dass heute wieder nicht allzu
viele anwesend sind.
({0})
Leider hat Herr Minister Westerwelle seine Haltung
gegenüber den Arbeitslosengeld-II-Beziehern nicht revidiert; auch hat er sich bei den Langzeitarbeitslosen für
die Unterstellung spätrömischer Dekadenz nicht entschuldigt. Das ist bedauerlich, wirft aber ein bezeichnendes Licht auf Herrn Minister Westerwelle und seine FDP.
Beide vertreten definitiv nicht die Interessen der langzeitarbeitslosen Menschen.
({1})
Genauso sieht es mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung aus. Wo sind ihre Lösungsvorschläge?
Auch hier gilt: Außer Thesen nichts gewesen. Aber
keine Sorge: Wir werden Sie nicht im Regen stehen lassen und geben Ihnen deshalb mit unserem Antrag Orientierung.
({2})
Bereits unter Schwarz-Rot in der letzten Legislaturperiode hat die SPD richtige Schritte im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils bei den Regelsätzen erwirkt:
Wir haben durch eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Bedarfe von Kindern genauer erfasst. Mit dem Schulbedarfspaket von
100 Euro pro Kind und Schuljahr haben wir die Teilhabe
an Bildung für Kinder im Sozialgeldbezug verbessert.
Das haben die obersten Richter auch anerkannt.
({3})
- Das haben sie anerkannt. - Sie verlangen aber bis Ende
des Jahres eine ganz neue verfassungsfeste Auswertungsmethodik, die auch die Bedarfe von Kindern eigenständig erfasst - keine leichte Aufgabe. Das Ministerium
allein wird mit dieser Aufgabe überfordert sein. Deshalb,
meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen,
nehmen Sie sich den Sachverstand von Wissenschaftlern
und Sozialverbänden bei der Entwicklung dieser neuen
Auswertungsmethode für die Regelsätze zur Hilfe. Wir
fordern die Einsetzung einer Kommission, die Grünen
übrigens auch.
({4})
Um die Regelsätze besser an Preissteigerungsraten
anzupassen, schlagen wir eine Verkürzung der Zeiträume zwischen den Einkommens- und Verbrauchsstichproben vor. Fünf Jahre sind entschieden zu lang. Es
sollte außerdem die jährlich durchgeführte Laufende
Wirtschaftsrechnung des Statistischen Bundesamtes als
ergänzende Datengrundlage einbezogen werden. Damit
die Regelsätze nicht unter das Existenzminimum rutschen, ist es notwendig, eine Einkommensuntergrenze
bei der Erhebung der Daten für die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe festzulegen.
Die Regelsätze sind das eine. Die obersten Richter
fordern außerdem eine Berücksichtigung individueller
Sonderbedarfe, und dies ab sofort. Ich habe es in der
letzten Debatte schon gesagt, und ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal: Ihre Vier-Punkte-Liste, die Sie
über die Agenturen an die Argen verschickt haben, ist in
keiner Weise ausreichend. Fummeln Sie nicht alleine an
einer Regelung für Härtefälle herum! Beziehen Sie uns
Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker und die Experten
aus Vereinen und Verbänden ein! Auch hier brauchen
wir eine Expertenkommission.
Wenn man über Grundsicherung spricht, darf man das
Thema Armut nicht ausklammern. Wir fordern deshalb
eine umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung. Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlte Jobs sind das größte
Armutsrisiko. Wir fordern deshalb eine Abkehr von
Niedriglohnbeschäftigung.
({5})
Sie ist ökonomisch kontraproduktiv und haushaltspolitisch fatal. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse
sind eben keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Das
hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gezeigt.
Schlimm ist auch die Geschlechterdiskriminierung,
die gerade im Niedriglohnsektor passiert. Rund zwei
Drittel der Betroffenen sind Frauen, die hier zu miesen
Löhnen und unter schlechten Bedingungen arbeiten. Das
müssen wir ändern.
({6})
Frau Ministerin von der Leyen hat erklärt, dass sie sich
für Frauen und insbesondere für Alleinerziehende starkmachen will. Tun Sie das endlich! Rund 650 000 Alleinerziehende erhalten Arbeitslosengeld II oder aufstockende Leistungen, weil sie langzeitarbeitslos sind oder
zu wenig verdienen, um davon leben zu können.
Auch hier weisen wir Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der CDU/CSU und FDP, mit unserem Antrag
den Weg.
({7})
Bauen Sie die Betreuungsangebote weiter aus! Wir haben in unserer Regierungszeit gute Vorarbeit geleistet.
Führen Sie endlich einen flächendeckenden Mindestlohn
ein! Das hilft auch den Frauen. Setzen Sie eine unabhängige Kommission ein, die Kriterien für die richtige Höhe
des Mindestlohns entwickelt!
({8})
Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Urteil eine gerechtere Verteilung von Bildungschancen.
Wenn man an der Regierung ist, reicht es nicht, nur über
Bildungsgerechtigkeit zu reden. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsfraktionen, das haben Sie
alle lauthals getan. Jetzt wollen wir endlich Taten sehen.
({9})
Noch haben Sie die politischen Mehrheiten, um durchzusetzen, dass es in Deutschland endlich vernünftige
Strukturen für frühe Förderung, Bildung und Ausbildung
gibt. Auch hier haben wir während der Zeit unserer Regierungsverantwortung zum Beispiel mit dem Ausbau
von Ganztagsschulen, Krippen und Kitas die richtigen
Pflöcke eingeschlagen. Wir fordern eine nationale Bildungsinitiative, um endlich zu verbindlichen Vereinbarungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu
kommen, die dafür sorgen, dass allen Kindern gute und
faire Bildungs- und Entwicklungschancen geboten werden.
Damit Länder und Kommunen die Infrastruktur hierfür schaffen können, benötigen sie natürlich Finanzmittel. Was aber machen Sie? Sie stärken die Kommunen
nicht. Nein, im Gegenteil: Sie schmälern durch Ihr
Wachstumsbeschleunigungsgesetz deren Finanzkraft. Es
ist die Schuld von Schwarz-Gelb, dass die Kommunen
jetzt am Hungertuch nagen.
({10})
Sie verhindern dadurch nicht nur Wachstum. Sie verschlechtern darüber hinaus massiv die Bildungs- und
Entwicklungschancen unserer Kinder.
({11})
In meinem wunderschönen, aber leider auch sehr armen
Schleswig-Holstein zwingen Sie sogar Ihre schwarz-gelben
Parteifreunde durch Ihre kurzsichtige und klientelbehaftete Politik dazu, das gerade erst durchgesetzte beitragsfreie Kita-Jahr wieder infrage zu stellen. Rückwärtsgewandter kann Politik gar nicht sein.
({12})
Helfen Sie den Familien und helfen Sie den Kommunen! Wir fordern zur Tätigung der so notwendigen Investitionen für Familien und Kinder einen Rettungsschirm für die Kommunen in Höhe von 4 Milliarden
Euro für die nächsten zwei Jahre.
Verzichten Sie auf die gesetzliche Umsetzung des Betreuungsgeldes, und stecken Sie diese Mittel konsequent
in Investitionen zur Förderung der frühkindlichen Bildung. Damit und nicht mit Ihrem Betreuungsgeld helfen
Sie den Kindern und Familien. Herdprämien vergrößern
Bildungsungerechtigkeiten. Kostenfreie Kitas und Ganztagsbetreuung an Schulen sind hingegen der richtige
Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion
hat ein weitreichendes Konzept vorgelegt. Folgen Sie
unseren Vorschlägen, Regelsätze rechtssicher zu bemessen und für gute Arbeit und gegen Armut zu kämpfen.
({13})
Das Wort hat nun Carsten Linnemann für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir sprechen heute Abend über das wichtige Urteil aus Karlsruhe. Als ich mir den Antrag der SPD-Fraktion gestern
- ich glaube, gestern ist er erst eingetroffen - durchgelesen habe, Frau Hiller-Ohm, musste ich zunächst einmal
feststellen, dass wir in der Analyse des Urteils, also in
dem, was Sie auf den ersten beiden Seiten schreiben, eigentlich im Grundsatz keine unterschiedliche Meinung
haben. Das sollte man in diesem Hause einfach einmal
ansprechen. Bei den Konsequenzen gibt es allerdings
Unterschiede; darüber werden wir im Ausschuss reden
müssen. Aber, wie gesagt, in der Analyse gibt es keine
unterschiedliche Meinung.
Dazu zählen zwei Kernpunkte:
Erstens. Das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, der EVS, ist nicht als verfassungswidrig eingestuft worden.
Zweitens. Es wurde - Frau Hiller-Ohm, das haben Sie
richtig gesagt ({0})
die fehlende Ermittlung der Bedarfe von Kindern kritisiert. Hier kann es nicht einfach eine pauschale Ableitung geben. Dafür brauchen wir ein transparentes System, ein System, das nachvollziehbar und sachgerecht
ist. Dabei müssen wir das Thema Bildung mit einfließen
lassen.
Das ist der Sachstand. Jetzt müssen wir schauen, dass
wir uns die Schablone vornehmen und an dieser Schablone arbeiten. Im Herbst liegen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor. Die Schablone müssen wir im
Sinne des Urteils aus Karlsruhe neu justieren und dann
mit den Zahlen füllen.
({1})
Was man schon heute sagen muss und sagen kann, ist,
dass für unsere Fraktion die Frage im Mittelpunkt steht:
Wie gehen wir mit den bedürftigen Kindern um? Die bedürftigen Kinder stehen ganz klar im Vordergrund. Mittlerweile sind es, schlimm genug, knapp 2 Millionen Kinder, die von den Regelsätzen des SGB II leben. Das ist
die Frage, die im Vordergrund steht: Wir müssen die
Kinder aus dem SGB-II-Bezug herausholen. Es gibt immer noch Familien, die von Generation zu Generation
von der Sozialhilfe leben. Auch diese Kinder müssen wir
herausholen. Sie brauchen eine Perspektive. Ich bin froh,
dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat - der Präsident hat dies übrigens am Wochenende noch einmal
eindrucksvoll in der Welt am Sonntag dargestellt -,
({2})
dass es nicht nur um Geldleistungen geht, sondern auch
um Sachleistungen und/oder Dienstleistungen.
Die jungen Menschen brauchen eine Perspektive, um
Eigenverantwortung zu übernehmen. Diese Eigenverantwortung ist nichts anderes als das Prinzip der Subsidiarität, eingebettet in die soziale Marktwirtschaft. Die
Marktwirtschaft, gepaart mit dem Sozialstaat, ist trotz aller Krise noch intakt. Das sehen wir beispielsweise bezogen auf die Arbeitslosenquote. Schauen wir uns diese
einmal im Vergleich zum Ausland an: Spanien hat im
Moment eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent; bei den
jungen Menschen liegt sie bei 40 Prozent. Zum Glück
liegt die Arbeitslosenquote bei uns weit unter der 10-Prozent-Marke. Für den Fall, dass Sie sagen, die Arbeitslosenquote könne man manipulieren, nehmen Sie die
Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.
Diese Zahl kann man nicht manipulieren. Auch diese
Zahl ist Gott sei Dank noch einigermaßen stabil. Wir alle
müssen hoffen, dass dies auch so bleibt.
({3})
Mit diesem Datenmaterial im Rücken sollte es für uns
Verpflichtung sein - vielleicht auch Ansporn -, uns jetzt
auf den Weg zu machen, um dieses Urteil umzusetzen.
Wir sollten dies zügig tun,
({4})
weil das Ganze noch in diesem Jahr über die Bühne gehen muss, aber auch mit der nötigen Sorgfalt.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In den vergangenen Wochen sind unerträglich
diffamierende Debatten auf dem Rücken von Millionen
Menschen in diesem Land geführt worden. Menschen,
die Ausgrenzung von der Gesellschaft durch Erwerbslosigkeit am eigenen Leib erleben, wurden an den Pranger
gestellt, und das nur, um davon abzulenken, dass Millionen anderer Menschen von Löhnen leben müssen, für
die die Erfinder dieser Hetzkampagne nicht einmal den
Laptop aufklappen würden. Hier werden die Ärmsten
der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt: diejenigen,
die von Sozialleistungen leben müssen, und diejenigen,
die so geringe Löhne haben, dass diese nur knapp über
den Sozialleistungen liegen.
Nun kommt mit dem Antrag der SPD endlich erneut
ein Vorschlag von der Opposition, in dem versucht wird,
den Stammtischparolen der Regierung etwas Sachlichkeit entgegenzusetzen. Der Antrag leistet in weiten Teilen das, was ich mir von einer Arbeitsministerin oder
von der Bundeskanzlerin selbst wünschen würde. Doch
diese setzen entweder auf ihre bewährte Ankündigungsmethodik, oder sie hüllen sich lieber ganz in Schweigen.
Viele der im SPD-Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen unterstütze ich. Besonders begrüßenswert finde ich
die Darstellung, dass sich das Lohnabstandsgebot nicht
an der Höhe der Sozialleistungen, sondern an der Höhe
der Löhne bemessen soll.
({0})
Einen gesetzlichen Mindestlohn fordert die Linke bekanntermaßen schon seit langem.
Anderes in dem Antrag bleibt etwas verschwommen
und unzureichend formuliert. Ich frage mich beispielsweise, was die SPD mit der vorgeschlagenen Wahlfreiheit zwischen Kinderzuschlag und ALG-II-Bezug für
Familien mit geringem Einkommen meint; denn nur,
wenn der Kinderzuschlag und das Wohngeld als vor2454
rangige Leistungen so ausgestaltet werden, dass die Familien dadurch mehr haben, liegt wirklich Wahlfreiheit
vor. Wenn es aber wie jetzt in vielen Fällen dazu führt,
dass der Kinderzuschlag sogar noch geringer ausfällt als
der ALG-II-Bezug, dann ist das nicht Wahlfreiheit, sondern Erpressung mit einem menschenentwürdigenden
Grundsicherungsmodell.
({1})
Die Linke hat schon diverse Male Anträge für eine sozialere Ausgestaltung des Kinderzuschlages vorgelegt.
Dass die SPD die Berechnung der Regelsätze und
auch die sogenannte Härtefallregelung nicht allein in die
Hände der Bundesregierung legen will, kann ich nachvollziehen. Der Vorstoß, dies durch eine Expertenkommission zu unterstützen, kommt einer Forderung der
Linken nahe. Fraglich bleibt für mich allerdings, warum
Sie eine Gruppe von Experten, die dort mitwirken sollen,
außen vor lassen: die Vertreter der Menschen, die am
stärksten davon betroffen sind und um deren Bedarfe es
geht, nämlich die Vertreter von Erwerbsloseninitiativen.
({2})
Vielleicht liegt es daran, dass diese Sie daran erinnern
könnten, dass die verkorkste Arbeitsmarktreform von
Rot-Grün erfunden und von Schwarz-Gelb im Bundesrat
noch verschärft wurde.
({3})
Alles, was das Bundesverfassungsgericht der Regierung am 9. Februar ins Hausaufgabenheft geschrieben
hat, ist ihnen prophezeit worden, nicht nur von uns, sondern von vielen Sachverständigen und Initiativen. Einen
Punkt möchte ich besonders hervorheben: Es geht um
die Debatte über die Frage von Gutscheinen bzw. Sachleistungen, die durch die Bundesarbeitsministerin angestoßen wurde. Um diese Frage ging es auch in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Hier
war aber die Rede von gebührenfreiem Schulessen,
Lernmittelfreiheit und beitragsfreien Ganztagsbildungsangeboten und nicht davon, die Kinder von ALG-II-Beziehern durch Gutscheine zu Kunden zu machen, um dadurch die Privatisierung dieser Angebote noch weiter
voranzutreiben. Ich bitte Sie, Lösungen zu finden, die
die Teilhabe aller Kinder an Bildung in ihrer ganzen
Breite sichern, und nicht eine Verstärkung für den privatgewerblichen Markt zu organisieren.
({4})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Existenzminimum von Menschen ist keine Verhandlungsmasse. Das Gericht hat genau festgelegt, was ein
Mensch braucht, um Mensch zu sein. Er braucht eben
mehr als die Sicherung seiner physischen Existenz. Er
hat ein Recht auf Teilhabe. Lassen Sie uns also in diesem
Haus nach politischen Lösungen für die Teilhabe aller
Menschen am gesellschaftlichen Leben suchen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Titel Ihres
Antrages hat es in sich.
(Angelika Krüger-Leißner ({0}): Der ist nicht
schlecht, ne?
Er lautet: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen
von Armut bekämpfen. Entschuldigung, beim Lesen
habe ich mir die Frage gestellt, welche Aussage sich eigentlich hinter dem Gedankenstrich verbirgt.
({1})
Welchen Zusammenhang lassen Sie durch die Verwendung eines Gedankenstrichs unausgesprochen? Welchen
Zusammenhang zwischen Hartz-IV-Regelsätzen, Urteil
des Bundesverfassungsgerichts und Armut möchten Sie
durch die Verwendung eines Gedankenstrichs vielleicht
kaschieren?
({2})
Vielleicht meinen Sie es ja so: Indem Sie das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, bekämpfen
Sie Armut. Das würde aber bedeuten, dass Sie meinen,
dass durch die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in unserem Land Armut bekämpft wird.
({3})
Da das Bundesverfassungsgericht Ihre Politik, Ihre
Hartz-IV-Gesetze kritisiert hat, frage ich Sie: Soll ich Ihren Antrag so verstehen, dass man Armut in diesem
Land dadurch bekämpft, dass man Ihre Hartz-IV-Politik
aus dem Jahr 2005 verändert?
({4})
Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass Sie sich
damit nicht nur von Ihren eigenen Überzeugungen lösen,
sondern sich zugleich in die Nähe Ihrer heftigsten Kritiker begeben, in die Nähe der Kolleginnen und Kollegen
der Linken, die immer betonen, dass Hartz IV Armut per
Gesetz sei. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, Sie sollten sich entscheiden:
({5})
Ist Hartz IV mit allem, was damit zusammenhängt, ein
Gesetz gewesen, das Armut verhindern sollte und soll,
oder ist das Hartz-IV-Gesetz ein Gesetz, das Armut bewirkt?
Wir von der FDP sind mit Ihnen einig, dass von Ihnen
im Jahr 2005 manches in Gesetzesform gegossen wurde,
das im Sinne der betroffenen Menschen dringend reformiert gehörte, das gerechter und fairer ausgestaltet werden sollte.
({6})
Wenn ich Ihren Antrag aber lese, stelle ich fest - das
muss ich Ihnen sagen -, dass Sie an der ganz falschen
Stelle ansetzen, nämlich an vielen Punkten, die das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht beanstandet hat.
Jetzt wollen Sie unter anderem dort Veränderungen vornehmen, wo Ihnen das Bundesverfassungsgericht im
Grunde attestiert hat: Gut gemacht.
Zum Beispiel kritisieren Sie das bestehende System
der Regelsatzbemessung anhand der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe. Statt nur alle fünf Jahre soll die
Stichprobe nun alle drei Jahre erfolgen. Dass Sie das im
Jahr 2005 noch nicht so gesehen haben, will ich gar nicht
kritisieren.
({7})
Dass Sie, namentlich der SPD-Bundesarbeits- und Sozialminister Olaf Scholz, es aber auch in den letzten vier
Jahren nicht so gesehen haben, macht Ihre Forderung
zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehr glaubwürdig.
({8})
- Es wurde von Ihrem Bundesarbeitsminister blockiert.
Das habe ich mir von den Kollegen schon erläutern lassen.
Das mit dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar dieses Jahres in Beziehung zu setzen, ist nicht sehr glaubwürdig; denn gerade diesen
Punkt hat das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht
kritisiert. Seien Sie doch froh, dass Sie offensichtlich
auch etwas richtig gemacht haben.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daher
stellen wir uns schützend vor Sie, Ihre Geschichte und
Ihre kleinen Erfolge und werden Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({10})
Es gibt eine ganze Reihe anderer Gründe, Ihren Antrag abzulehnen. In Ihrem Antrag fordern Sie zum Beispiel einen gesetzlichen Mindestlohn.
({11})
Über die Höhe schweigen Sie sich in diesem Antrag
zwar aus, aber wir wissen ja, was Ihnen vorschwebt:
7,50 Euro in der Stunde. Das macht in einer 38-StundenWoche summa summarum 1 140 Euro im Monat. Da
höre ich schon die Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei rufen: Das ist Armut per Gesetz; das müssen mindestens 10 Euro die Stunde sein.
({12})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
werden schnell in Versuchung geraten, den Sirenenklängen der Linken zu erliegen, und nach einer gewissen
Schamfrist ihren eigenen Mindestlohn als zu niedrig deklarieren. Davor möchten wir von der FDP Sie bewahren.
({13})
Wir werden Ihren Antrag ablehnen und eine seriöse,
transparente Politik im Sinne und zum Wohl der Betroffenen machen, und zwar ganz im Sinne des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes.
({14})
Darauf können Sie sich verlassen. Sie werden gut regiert. Wir machen das schon.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist interessant, wie Sie in letzter Zeit versuchen, ehemalige Regierungsparteien zu Geiseln der Vergangenheit zu machen.
({0})
Aber wir werden uns nicht davon abbringen lassen, dazuzulernen - ganz im Gegensatz zu Ihnen -, Folgen unseres Handelns zu beobachten und die notwendigen
Schlussfolgerungen zu ziehen.
({1})
- Auch ich bedauere es, dass die Fraktion der SPD es
noch nicht in der letzten Legislatur getan hat. Wenn sie,
dies nun tut,
({2})
dann erkennen wir das durchaus an. Der vorgelegte Antrag der SPD ist in weiten Teilen übereinstimmend mit
dem, was die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits
heute vor einer Woche vorgelegt und seit mehreren Jahren sehr sorgfältig entwickelt hat.
({3})
Die Frage ist, ob im Verlauf der letzten Woche, seit
der Regelsatzdebatte, gewisse Lerneffekte zu beobachten sind. Bei Ihnen von den Regierungsparteien ist dies
ganz offensichtlich leider nicht der Fall. Wenn ich zum
Beispiel vom Kollegen Linnemann höre, dass Sie jetzt
erst einmal wieder die Zahlen abwarten wollen und dann
erst die Methodik, die Schablone, wie Sie das nennen,
entwickeln wollen, dann habe ich die Befürchtung, dass
Sie den Fehler wiederholen werden, der zum Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes geführt hat. Auch da hat
man erst die Zahlen genommen, dann einen fiskalischen
Zielwert angegeben und daraufhin die Regelsätze berechnet. Entwickeln Sie doch zuerst die Methodik, wie
Sie eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auswerten wollen, und warten wir die Zahlen ab; denn dann
kann das Ergebnis auch nicht manipuliert werden.
({4})
Ich sage Ihnen: Im Verlauf der letzten Woche sind
noch einige interessante Erkenntnisse zu den von Ihnen
gern diskutierten Fragen des Lohnabstandsgebots und
der Arbeitsanreize hinzugekommen.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Lindner von der FDP-Fraktion?
Ja, gerne.
Herr Kollege, Sie sprachen gerade von den Lerneffekten, die bei Ihnen eingetreten sind. Stimmen Sie mir zu,
dass diese Lerneffekte sowohl bei Ihnen als auch bei der
SPD immer nur dann eingetreten sind, wenn Sie aus der
Regierung ausgeschieden sind?
Keineswegs. Ich will ein Beispiel nennen. Als wir das
Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hier im Bundestag im Sommer 2003 verabschiedet
haben, stand darin der Satz, dass zumutbare Arbeit sich
an den Tariflöhnen oder, wenn es keine Tarife gibt, an
den ortsüblichen Löhnen orientieren soll, weil wir das
Entstehen eines Niedriglohnsektors verhindern wollten.
Das heißt, vieles, was wir jetzt in den Anträgen zum
Mindestlohn fordern, haben wir im Prinzip bereits damals in diesem Gesetz verankern wollen.
({0})
- Bleiben Sie bitte stehen; ich bin mit meiner Antwort
noch nicht fertig. - Es ist so, dass der Bundesrat mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP unsere damaligen
Einsichten wieder gekippt und beispielsweise diesen
Satz gestrichen hat.
({1})
Natürlich greifen wir dann in der Opposition wieder auf,
was Sie damals zerstört haben.
({2})
Es ist so, dass wir - ich fahre mit meiner Rede fort neue Erkenntnisse zum Lohnabstandsgebot haben. Der
Paritätische Wohlfahrtsverband hat dank Fleißarbeit eine
ganze Reihe von Berechnungen, Lohnabstandsbeispiele,
vorgelegt, wo sehr deutlich wird, dass diejenigen, die arbeiten, letztlich mehr im Portemonnaie haben. Das
wurde jetzt sogar durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bestätigt, das auf eine Kleine Anfrage
der Linken geantwortet hat: Wer arbeitet, werde immer
mehr Mittel zur Verfügung haben als ein Nichterwerbstätiger. Das sollten wir in unsere Debatte einbeziehen.
Den Punkt Arbeitsanreize sollte man sich einmal
sorgfältiger anschauen. Als zum Beispiel vor etwa zwei
Wochen die Berliner Stadtreinigung gegen Ende des
Winters endlich erkannt hatte, das eisverkrustete Berlin
müsse jetzt vom Eis befreit werden, wurden 650 Arbeitslose angefordert - es haben sich Tausende gemeldet.
({3})
Innerhalb einer halben Stunde war die Hotline der Agentur für Arbeit überlastet, weil sie den Ansturm der Arbeitsuchenden nicht bewältigen konnte. Das heißt, dass
die Realität bei den Arbeitsanreizen ganz anderes aussieht, als insbesondere Sie von der FDP ständig behaupten.
({4})
Angesichts dessen frage ich mich, wie man immer wieder von einer konsequenten Anwendung von Sanktionen
als vordringlichem Mittel reden kann.
({5})
Geht es nicht vielmehr darum, diesen Tausenden, die
selbst bei bescheidenen Hinzuverdienstmöglichkeiten
einfach mal wieder gebraucht werden wollen, vernünftige Angebote zu bieten?
({6})
Erst heute hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA ebenfalls in einer Studie bestätigt,
dass sich Hartz-IV-Beziehende um Arbeit bemühen und
es vielmehr an maßgeschneiderten Fortbildungsangeboten und an fallbezogener Ausrichtung der Hilfegewährung mangelt.
({7})
Das heißt, es mangelt an einer vernünftigen materiellen
und inhaltlichen Hinterlegung der Förderpolitik.
({8})
Ich sage Ihnen: Auch das Problem des sogenannten
Lohnabstands bekommen wir selbst bei erhöhten Regelsätzen sehr gut in den Griff, wenn wir eine Progression
bei den Sozialabgaben und einen Mindestlohn einführen,
wie Bündnis 90/Die Grünen es vorschlägt. Dadurch
schaffen wir Anreize und mobilisieren Wachstumspotenziale und menschliche Potenziale, die Sie zu ersticken
drohen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Mechthild Heil für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße, dass eine breite öffentliche Diskussion darüber geführt wird, welche sozialen Leistungen, aber auch welche steuerlichen Leistungen wir alle
zu erbringen bereit sind. Vor allem begrüße ich, dass sich
diese Diskussion - wenn auch sehr langsam - erkennbar
versachlicht, zumindest in der Öffentlichkeit.
In der Vergangenheit sind Emotionen hochgekocht,
Randerscheinungen bestimmten die Diskussion, Fakten
spielten so gut wie keine Rolle mehr. Ich finde es unverantwortlich, dass einige, insbesondere von der Linken,
auch heute in diesem Hause den Versuch unternehmen,
Misstrauen zu säen und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen.
({0})
Das ist mit der Union nicht zu machen.
({1})
Als große Volkspartei tragen wir Sorge dafür, dass
alle Menschen, egal welcher Schicht, einen Platz in dieser Gesellschaft haben. Niemand soll an den Rand gedrückt, niemand übervorteilt werden. Es ist auch keine
Zeit für Neiddiskussionen.
({2})
Die Zeiten sind schwierig genug.
({3})
CDU und CSU tragen das C in ihren Namen. Auch
ich bin, wie manch anderer in diesem Hause, Christ. Wir
wissen: Unsere christliche Überzeugung ist uns Verpflichtung und Antrieb.
({4})
CDU und CSU werden deshalb mit Tatkraft, Leidenschaft und Klugheit für eine Gesellschaftsordnung
kämpfen, in der Leistung gefördert wird, in der Schwache beschützt werden und in der Verantwortungslosigkeit geahndet wird.
({5})
Leistungsgerechtigkeit und soziale Verantwortung gehören für uns von der Union untrennbar zusammen. Ein
populistischer Wettbewerb nach dem Motto: Wer ist näher dran an den Hartz-IV-Empfängern? oder: Wer verspricht die größeren Geschenke? ist mit uns nicht zu
machen.
({6})
Wir stellen uns den Aufgaben, die vor uns liegen: Wie
bekommt man die Menschen, Eltern und Kinder, aus der
Abhängigkeit vom Staat? Was müssen wir tun, um die
Wirtschaft so zu stärken, dass neue, gute Arbeitsplätze
geschaffen werden? An dieser Stelle seien nur die Stichworte Wachstum und Haushaltskonsolidierung genannt.
Was müssen wir für die Kinder aus Hartz-IV-Familien
tun, damit sie nicht in die Spirale der Abhängigkeit vom
Staat geraten? Hier sei nur das Stichwort Bildungschancen genannt.
In der Analyse sind wir uns mit der SPD größtenteils
einig. Verglichen mit den Anträgen von den Grünen und
den Linken, die uns in der letzten Sitzungswoche vorgelegen haben, ist der jetzt von der SPD eingebrachte Antrag wirklich eine Wohltat. Die Analyse ist okay. Was die
Konsequenzen, die wir ziehen, betrifft, unterscheiden
wir uns allerdings erheblich von Ihnen. Deshalb stimmen wir dem Antrag der SPD heute nicht zu.
Sie fordern zum Beispiel, die Mehrbedarfe nach dem
SGB XII entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ändern, und zwar ähnlich wie im
SGB II. In § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
sind abweichende Mehrbedarfe allerdings bereits geregelt. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten:
Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn
im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder
- jetzt kommt die entscheidende Aussage unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem
durchschnittlichen Bedarf abweicht.
Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Gesetz also schon längst verankert.
({7})
Eine Gesetzesänderung brauchen wir an dieser Stelle
nicht. Die Forderung der SPD geht ins Leere.
Zu Ihrem Maßnahmenkatalog gegen die Niedriglohnbeschäftigung haben wir heute von dieser Stelle aus
schon einiges gehört. Die von Ihnen immer wieder geforderten gesetzlichen Mindestlöhne sind keine Lösung.
Wir sind uns einig, dass Arbeitnehmer einen auskömmlichen Lohn für ihre Arbeit erhalten sollen. Aber ich sage:
Dieser Lohn sollte nicht vom Staat diktiert werden. Wir
werden jedenfalls die Tarifautonomie in unserem Land
nicht kippen.
({8})
Sie fordern des Weiteren, die Koalition solle sich erst
gar nicht damit auseinandersetzen, sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu erhöhen oder zu dynamisieren,
({9})
weil Sie davon ausgehen, dass Vollzeitjobs in mehrere
Minijobs aufgesplittet wurden. Ich weiß wirklich nicht,
woher Sie diese Erkenntnis haben. Meine Informationen
sind völlig andere:
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen Sie mal Ihre Informationsbasis
überprüfen!
Die Bundesagentur für Arbeit hat dieses angeblich weit
verbreitete Phänomen untersucht und festgestellt, dass es
dieses Phänomen nicht gibt. Die Betriebe, die Vollzeitarbeitsplätze gestrichen haben, haben auch Minijobs abgebaut.
({10})
Die Betriebe, die mehr Minijobber eingestellt haben, haben gleichzeitig mehr Vollzeitarbeitsplätze geschaffen.
({11})
Es gibt also keinen eindeutigen Beleg für Ihre Behauptung, dass allein die Zulassung von Minijobs die Umwandlung von Vollzeitstellen in Minijobs gefördert hat.
Deshalb sollten Sie Ihren Widerstand gegen die Minijobs aufgeben.
({12})
Ein Weiteres kommt hinzu, was heute allerdings
leicht in Vergessenheit geraten ist: Wie Auswertungen
des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln auf Basis der
sozioökonomischen Erhebungen zeigen, ist die Zufriedenheit von Menschen mit Niedriglohnarbeit größer als
die Zufriedenheit von Menschen in Arbeitslosigkeit - im
Grunde eine Binsenweisheit.
({13})
Arbeit an sich ist eben auch ein Wert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen Sie mit uns dafür, dass
Leistungsstarke sagen können: Ich helfe denen, die zu
schwach sind, sich selber zu helfen, und dass Leistungsempfänger sagen können: Ich tue, was mir möglich ist, um auf eigenen Beinen stehen zu können. Ein
solches Klima wünsche ich mir für Deutschland, weil
wir nur im Miteinander aller gesellschaftlichen Gruppen
die Chance haben, die Probleme zu bewältigen. Es liegt
an uns.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/880 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Axel Troost, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Finanziellen Verbraucherschutz stärken - Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren
- Drucksache 17/887 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Rechtsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Caren Lay für
die Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die meisten Menschen, die ihr mühsam erspartes Geld zur Bank bringen, wollen ihr Geld sicher anleCaren Lay
gen. Mit den Lehman-Zertifikaten, um nur ein Beispiel
zu nennen, wurden Risiken jedoch verschwiegen, und
das Geld von Kleinanlegern wurde in windigen Geschäften verwettet. Die Pleite der Lehman-Bank ist nun anderthalb Jahre her. Seitdem hat die Bundesregierung
keine wesentlichen Schritte unternommen, um Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten besser zu schützen.
Zwar gibt es zum Beispiel die Protokolle von Beratungsgesprächen. Sie dienen aber - dies hat eine Studie
der Verbraucherzentrale NRW erst in der vergangenen
Woche bewiesen - eher dem Schutz der Unternehmen
als dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher.
Ministerin Aigner setzt hier auf Produktinformationsblätter. Wir als Linke sagen ganz eindeutig: Mit diesem
Beipackzettel alleine ist es nicht getan,
({0})
schon gar nicht, wenn dieser Beipackzettel nicht einheitlich, wohl aber unverbindlich ist.
Untaugliche Finanzprodukte gehören überhaupt nicht
auf den Markt.
({1})
Deshalb fordern wir als Linke einen europäischen Finanz-TÜV. Er ist längst überfällig, damit hochriskante
Produkte erst gar nicht zugelassen werden.
({2})
Für die Produkte, die dann auf dem Markt sind, wollen
wir wir eine klare Kennzeichnung haben.
Verbraucherschutz greift aber zu kurz, wenn er die
Verantwortung allein bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ablädt. Die Realität ist doch: Die Finanzmärkte sind schnelllebig, und die Verbraucherinnen und
Verbraucher sind häufig überfordert und einem undurchsichtigen Dschungel von Produkten ausgeliefert. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Die Finanzmärkte
müssen reguliert werden, nicht zuletzt im Interesse der
Verbraucherinnen und Verbraucher.
({3})
Wir wollen den Verbraucherschutz institutionell und
organisatorisch stärken. Auch Deutschland braucht endlich eine Verbraucherbehörde.
({4})
Es kann doch nicht sein, dass wir in Deutschland eine Finanzaufsicht haben, diese beim Ausüben ihrer Aufsicht
aber nicht auf die Interessen der Verbraucherinnen und
Verbraucher achten muss. Auch der Verbraucherschutz
- Sie wissen, dass das seit langem gefordert wird - muss
eine Aufgabe der Finanzaufsicht werden.
({5})
Die Linke fordert mit diesem Antrag einiges mehr:
Wir wollen die demokratische Vertretung der Verbraucherinteressen stärken. Wir wollen die Verbraucherzentralen in ihrer Marktwächterfunktion unterstützen. Sie
sollen beispielsweise ein Recht auf Sammelklage erhalten und einen Verbraucherbeirat einrichten können.
Ein aus unserer Sicht wichtiger Punkt, den ich noch
ansprechen möchte, ist, dass die Verbraucherinnen und
Verbraucher unabhängige Beratung brauchen. Solange
Finanzberater für den Verkauf von Wertpapieren Provisionen erhalten, kann von unabhängiger Beratung keine
Rede sein.
({6})
Das BMELV beziffert den Schaden, der Verbraucherinnen und Verbrauchern durch schlechte Anlageberatung
entsteht, auf 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr. Deswegen wollen wir die Provisionsberatung überwinden und
stattdessen eine Honorarberatung einführen, und wir
wollen unabhängige Beratung durch die Verbraucherzentralen stärken.
Die Linke hat die Debatte zur Verbesserung des Anlegerschutzes heute eröffnet. Wir haben die Initiative ergriffen, um die Ersparnisse der Menschen vor wilden
Spekulationen zu schützen.
Ich habe die Pläne von Verbraucherschutzministerin
Aigner als viel zu zaghaft kritisiert; aber sie sind immerhin ein Versuch.
Womit sich allerdings Herr Schäuble die Federführung bei diesem Thema verdient hat, bleibt mir schleierhaft; denn bislang hat er sich bei der Verbesserung des
finanziellen Verbraucherschutzes durch keinerlei Aktivitäten hervorgetan. Kaum lag unser Antrag vorgestern auf
dem Tisch, hat auch er einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anlegerschutzes angekündigt. Sie sehen also:
Die Linke wirkt.
({7})
Kolleginnen und Kollegen, es wird Zeit, dass wir den
Verbraucherschutz endlich ernst nehmen. Wir bitten daher um Überweisung an den Verbraucherschutzausschuss.
Vielen Dank.
({8})
Frau Kollegin Lay, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
Wünsche!
({0})
- Stimmt nicht? Das ist mir extra aufgeschrieben worden. Dann haben Sie die Freude, eine zweite Gratulation
erlebt zu haben.
({1})
Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSUFraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
dem Antrag der Linken sind durchaus einige Sätze, die
ich unterschreiben würde. Diesen Antrag durchzieht
aber der Gedanke: Wir brauchen in Deutschland eine
neue Behörde, eine neue Verbraucherschutzbehörde, und
wenn wir diese Behörde haben, geht es allen besser.
Wir brauchen keine neue Behörde. Wenn wir den
Verbraucherschutz verbessern wollen, brauchen wir
Transparenz in den Märkten, brauchen wir Wettbewerb,
brauchen wir Haftung und brauchen wir mehr Verantwortlichkeit in den Finanzmärkten.
({0})
Minister Schäuble hat gestern deutlich gemacht, dass
er bis zum Sommer ein Gesetz zum Schutz der Privatanleger vorlegen wird. Damit erfüllen wir ein Stück unseres Koalitionsvertrages. Wir haben deutlich gemacht,
dass es in Deutschland keinen Finanzmarkt, kein Finanzprodukt und keinen Finanzakteur mehr geben soll, der
nicht reguliert und kontrolliert wird. Wir erfüllen unseren Koalitionsvertrag.
({1})
Es ist kein Geheimnis, dass es einen Unterschied im
Wissen um Finanzprodukte zwischen Anbietern und
Nachfragern, den Verbrauchern, gibt. Das hat sich gerade in der Finanzkrise gezeigt.
Es gibt zahlreiche Kleinanleger, es gibt zahlreiche
Anleger, die sicherheitsorientiert sind. Viele wollen für
ihre Altersvorsorge sparen. Sie haben ein Anrecht auf
Schutz und darauf, dass sie nur Produkte bekommen, die
auch ihren Wünschen entsprechen.
({2})
Deshalb sollten wir uns, wenn wir an die Lösung denken, nur drei Jahre zurückversetzen, in die Zeit, als die
EU-Versicherungsvermittler-Richtlinie umgesetzt wurde.
Für die Verbraucher ist es wichtig, zu wissen, wer ihnen im Gespräch gegenübersteht. Ist der Verkäufer der
Angestellte einer Versicherungsgesellschaft oder einer
Bank, ist es ein Mehrfachagent, ist es ein Makler, oder
ist es ein Berater, der auf Honorarbasis berät? Das ist mit
das Wichtigste, was der Verbraucher zuerst einmal wissen muss.
Er muss auch wissen, welche Qualifikation der auf
der anderen Seite hat, und er muss wissen, ob er registriert ist und ob er eine Haftpflichtversicherung besitzt,
ob ihm eine Versicherungsgesellschaft also eine Haftpflichtversicherung angeboten hat, damit er überhaupt
Risiken eingehen kann.
({3})
Das alles sind die ersten und wichtigsten Informationen für den Verbraucher.
({4})
Das Zweite, was der Verbraucher wissen muss, ist,
was ihm angeboten wird und was das eigentlich für ein
Produkt ist. Deswegen unterstützen wir Ministerin
Aigner auch darin, grundsätzlich für jedes Produkt ein
Produktinformationsblatt aufzulegen. Es gehört zur Verantwortung gegenüber dem einzelnen Verbraucher, dass
diese Dinge bei allen wesentlichen Schritten haftungssicher angeboten werden.
Ich halte es auch für richtig, dass nicht nur im Versicherungsbereich, sondern grundsätzlich auf dem gesamten Finanzmarkt eine Dokumentationspflicht besteht,
das heißt, jedes Gespräch muss entsprechend dokumentiert werden.
Sie haben das Thema Finanz-TÜV angesprochen. Im
vergangenen Jahr gab es ja eine größere Anhörung zu
dem Thema insgesamt. Die BaFin als Aufsichtsbehörde
- wir brauchen eine Aufsichtsbehörde in diesem Bereich - hat deutlich gemacht, dass sie sich nicht imstande
sieht, einzelne Produkte zu bewerten. Wir haben einen
Finanzmarkt mit Hunderttausenden von Anbietern bzw.
Vermittlern. Deswegen werden wir die Aufgabe, jedes
einzelne Produkt im Markt zu kontrollieren, niemals auf
eine Verbraucherschutzbehörde auslagern können.
Sie sagen: Wir verstehen das alles nicht und machen
das ganz einfach. Wir bieten drei Produkte an, wie früher
in der DDR: zum Beispiel eine Lebensversicherung, die
man mit 18 Jahren abschließt, sodass man nach 14 Jahren so viel auf dem Sparbuch hat, dass man sich einen
Trabi kaufen kann. Das wollen wir in der Bundesrepublik Deutschland so nicht haben.
({5})
Aber in diesen Produktinformationsblättern muss
auch deutlich beschrieben werden, welches Produkt das
ist und ob dieses Produkt beispielsweise der Einlagensicherung unterliegt. Auch das war bei den Lehman-Produkten ein Problem. Es hat auch Anlagen bei Kaupthing
gegeben. Wichtig ist, dass die Deutschen, die sicherheitsorientiert anlegen, wissen, dass es der deutschen
Einlagensicherung unterliegt.
Ich halte es auch für ganz natürlich, dass bei den Finanzprodukten festgehalten wird, wie hoch der Kostenanteil bei dem Produkt ist, beispielsweise der Vertriebsanteil und die Verwaltungskostenquote. Der Einzelne
muss wissen, was von seiner Anlage in die Investition
fließt.
({6})
Wir sollten aber auch keine falsche Sicherheit darstellen. Wir alle kennen das - gerade die Leute aus dem Finanzbereich -: Es gibt die Entschädigungseinrichtung
für Wertpapierhandelsunternehmen. Nach wie vor sind
hier Produkte mit einer Garantie für eine Einlage von bis
zu 20 000 Euro verkauft worden. Es ist ein Schaden von
200 Millionen Euro entstanden. Bis heute gibt es hier
keine Regelung, weil die Entschädigungseinrichtung
überhaupt nicht in der Lage ist, den Schaden zu begleichen.
Sie haben davon gesprochen, dass Provisionen grundsätzlich abgeschafft werden müssen. Betrachten Sie einmal den Markt der betrieblichen Altersversorgung. Hier
laufen alle Systeme parallel. Wenn Sie zu einem mittleren Betrieb gehen, dann sehen Sie zum Beispiel: Er hat
Berater, die auf Honorarbasis arbeiten. Es gibt auch
Makler, die auf Courtagebasis arbeiten, für die also laufend Provisionen pro Vermittlung gezahlt werden, und es
gibt Abschlussprovisionen bei Versicherungsgesellschaften. Hier gibt es einen fairen Wettbewerb, der völlig unabhängig von der Vergütung ist.
Sie werden in gewissen Marktsegmenten auch überhaupt nicht auf die Provisionsvermittlung verzichten
können. Versuchen Sie einmal, einen geschlossenen
Fonds von 100 Millionen Euro in einem halben Jahr auf
Honorarbasis zu platzieren.
Es gibt im Versicherungssektor in Deutschland 170 Berater, aber mehrere Hunderttausend Vermittler. Glauben
Sie doch nicht, dass Sie über diesen Weg den gesamten
Finanzmarkt entsprechend gestalten können.
({7})
Verbraucherzentralen sind wichtige Informationszentren, aber wir erwarten, dass die gleichen Qualitätsanforderungen auch an die Verbraucherzentralen gestellt werden. Auch sie müssen sich einer Prüfung unterwerfen,
wenn sie im Markt beraten.
({8})
Wir sollten natürlich auch den grauen Kapitalmarkt
einbeziehen; das ist zwingend notwendig. Die Anhörung
im letzten Jahr hat aber gezeigt, dass wir am grauen Kapitalmarkt Ungleiches nicht gleich behandeln sollten. In
Deutschland gibt es am grauen Kapitalmarkt Hedgefonds, aber auch geschlossene Fonds - ein deutsches
Spezifikum -, beispielsweise im Bereich der Immobilien
oder der Windkraftanlagen. Es ist wichtig, dass diese geschlossenen Fonds nicht kaputtgemacht werden.
Derzeit liegt uns der Entwurf der europäischen
AIFM-Richtlinie vor. Hier wird alles in einen Topf geworfen. Bei der Sachverständigenanhörung wurde gesagt: Macht nicht die geschlossenen Fonds in Deutschland kaputt! Die haben mit der AIFM-Richtlinie nichts
zu tun.
({9})
Im Grunde ist es für die Anleger wichtig, dass sie bei der
Anlage Sicherheit haben. Die BaFin hat deutlich gemacht, dass sie nicht in der Lage ist, die Kontrolle
durchzuführen. Seriöse Anbieter sind aber heute in der
Lage, durch ein Wirtschaftsprüfergutachten die Plausibilität der Anlage darzustellen. Deswegen fordern wir beispielsweise ein IDW-Gutachten für entsprechende Anlagen.
Herr Kollege!
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Im Grunde gilt vor allem eines: Wir brauchen Transparenz an den Märkten; der Einzelne muss wissen, wer
ihm was anbietet und warum. Wir müssen im Sinne des
Verbrauchers das unseriöse Geschäft vom sauberen Geschäft des ordentlichen Kaufmanns unterscheiden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren hier heute über die Auswirkungen der
Finanzmarktkrise, und zwar unter dem besonderen Gesichtspunkt des Anlegerschutzes. In diesem Zusammenhang berücksichtigen wir insbesondere die Verbraucherinteressen.
({0})
Das ist der Zusammenhang, über den wir heute reden.
Wir diskutieren aber nicht zum ersten Mal über die
Frage der Auswirkungen der Finanzmarktkrise. Es ist
das vierte, fünfte oder sechste Mal, dass wir in unterschiedlichen Variationen an dieses Thema herangehen.
Das ist richtig und gut.
Heute stehe ich hier und muss sagen: Ich habe den
Eindruck, dass die Vielzahl der Diskussionen und die
Positionierungen, die wir hier vorgenommen haben, erstmals so etwas wie einen Erfolg zeigen;
({1})
scheinbar hat es Früchte getragen. Ich beziehe mich darauf, dass in den letzten Tagen, gestern und vorgestern,
Finanzminister Schäuble in der Tat - es ist schon angesprochen worden - einen Vorschlag vorgelegt hat. Zum
ersten Mal hat die Bundesregierung einen Vorschlag, ein
paar Ideen auf den Tisch gelegt.
({2})
Das ist schon einmal ein Schritt nach vorne. Man kann
hier, glaube ich, für alle Oppositionsfraktionen sagen:
Das ist ein Erfolg der Oppositionsarbeit. Wir von der
SPD waren hier vorne dran.
({3})
Jetzt liest man gute Sachen über den Vorschlag von
Herrn Minister Schäuble: Verbot von Leerverkäufen und
Ähnliches. Das freut mich besonders. Wenn ich nämlich
die Koalitionsfraktionen und den Staatssekretär im Finanzministerium anschaue, muss ich an die Sitzung des
Finanzausschusses gestern Morgen denken, in der man
noch beim Thema des Verbots von Leerverkäufen gezögert und sich seitens der Koalitionsfraktionen sehr kritisch geäußert hat. Da ist offensichtlich einiges passiert.
({4})
Der Minister scheint ein Machtwort gesprochen zu haben; da kann man sich freuen.
({5})
- Kollege Poß ruft es richtigerweise herein: Man darf
sich fragen, ob sich Herr Schäuble am Ende durchsetzen
wird oder ob es wie beim Ankauf der CDs mit den Daten
zu Steuerbetrügern sein wird, dass hinterher Herr Kauder
und die Fraktion kommen und so etwas unterbinden wollen.
({6})
Ich bin gespannt, wie weit der Minister wirklich kommt.
Ich darf an dieser Stelle auch sagen - wir müssen das
so diskutieren -, dass bei diesen Vorschlägen nicht nur
die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ein Problem
sein werden, sondern parallel - ({7})
- Das fragt man sich. Er hört gar nicht zu, damit er sich
hinterher nicht auf irgendetwas beziehen muss. - Dieses
Mal hat die FDP wieder parallel einen Vorschlag gemacht, dieses Mal in Form von Herrn Brüderle: Parallel
zu den Vorschlägen von Herrn Schäuble hat er eigene
Vorstellungen vorgelegt.
({8})
Handelsblatt Online hat das sofort richtig eingeordnet:
Brüderle will in Schäubles Ressort wildern.
Das ist die Wahrheit.
({9})
Jetzt müssten Sie kommen und entsprechend der Sprachregelung des Finanzministeriums sagen: Nein, nein, das
ist nur ein Stück Ideenwettbewerb.
({10})
Das ist kein Ideenwettbewerb; das ist das Tollhaus Bundesregierung, das wir immer wieder erleben. Die eine
Hand weiß nicht, was die andere Hand will.
({11})
- Da muss man sich keinen Mut machen, Kollege
Michelbach. Die Angelegenheit ist traurig, weil es auch
inhaltliche Dissonanzen und Differenzen gibt. Herr
Schäuble - ich habe es schon gesagt - schlägt ein Verbot
von Leerverkäufen vor.
({12})
Was macht Bundeswirtschaftsminister Brüderle? Er redet auch über die Frage der Leerverkäufe,
({13})
thematisiert mangelnde Transparenz, ruft nach der EU
und fordert eine Ausweitung der EU-Meldepflicht.
Wir wissen um die Situation bei den Leerverkäufen.
({14})
Darüber muss man nicht reden; man muss das Verbot angehen.
({15})
Ich habe die Sorge, mit diesem Wirtschaftsminister und
der FDP bleibt das Zockerkasino geöffnet. In dieser
Bundesregierung geht es weiter jeder gegen jeden.
({16})
- Es geht um ungedeckte Leerverkäufe. Ich konnte nicht
entnehmen, dass Minister Brüderle nicht auch diese ungedeckten Leerverkäufe mit seinen Vorschlägen meint.
Vielleicht wird uns gleich der Kollege von der FDP aufklären können, wenn er schon darüber informiert ist. Ich
bin gespannt, was sich dort entwickelt.
({17})
Es geht hier um ein Thema, bei dem wir in der Tat
keine Zeit haben. Damit kommen wir zum nächsten
Punkt. Bundesfinanzminister Schäuble kündigt Vorschläge an, die er im Sommer in einer Kabinettsvorlage
vorlegen will. Ich finde, das ist zu spät. Es dauert zu
lange, bis das kommt. Es ist zwar typisch, dass Sie die
Wahl in Nordrhein-Westfalen abwarten, aber das muss
nicht sein.
({18})
Meines Erachtens muss man Druck machen. Es sind
aber nicht nur der Bundeswirtschaftsminister und der
Bundesfinanzminister, die sich hierzu äußern, sondern
auch - das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner
schon gesagt - Ministerin Aigner. Sie ist die Dritte im
Bunde dieser Chaosregierung, wo jeder das sagt, was
ihm gerade einfällt.
({19})
- Das ist nicht falsch. Frau Aigner tut mir allerdings in
der Tat leid; denn sie arbeitet seit fast einem Jahr an dieDr. Carsten Sieling
sem Thema und versucht, Vorschläge zu machen. Sie
macht eine Verbraucherkonferenz nach der anderen, aber
es kommt nichts dabei heraus. Es kommt nichts Vernünftiges auf den Tisch, sondern es werden nur Vorschläge
zu Produktinformationsblättern und Ähnlichem gemacht, die mit fachlichen Fehlern versehen sind - man
denke nur an die Berichterstattung der letzten Tage - und
von den Banken nicht übernommen werden. Nur zwei
Institute, die Deutsche Bank und ING-DiBa, haben das
aufgegriffen. Das ist nichts als heiße Luft.
({20})
Frau Staatssekretärin, legen Sie einen Gesetzentwurf
vor, statt nur Tagungen zu machen und Konzepte zu erstellen. Wir brauchen eine Reihe von Maßnahmen, die
wir wirksam umsetzen können.
Zum Antrag der Linken hat Kollege Flosbach gesagt,
er könne mehreres darin unterschreiben. Dem kann ich
mich anschließen. Der Antrag enthält viele Punkte, die,
glaube ich, in der jetzigen Debatte allgemeingültig sind.
In dem Antrag ist ein Katalog von Maßnahmen, wie sie
die Verbraucherverbände richtigerweise fordern, zusammengeschrieben worden. Darin finden sich viele richtige
Punkte.
Ich glaube aber, es wird jetzt darauf ankommen, dass
wir uns auf die wirklich wichtigen und zentralen Dinge
konzentrieren. Das sind aus meiner Sicht vier Punkte,
die man beachten muss.
Wir brauchen erstens eine klare Regulierung in den
entsprechenden Bereichen. Dazu liegen, wie gesagt, entsprechende Vorschläge vor. Der graue Kapitalmarkt
muss eingeschränkt werden. Wir brauchen klare Beratungsprotokolle. Die Finanzaufsicht muss verbessert
werden.
({21})
Dazu muss ich übrigens sagen, Kollege Flosbach:
Schauen Sie sich an, was Minister Schäuble vorgelegt
hat! Sie haben gesagt, die BaFin komme dafür nicht infrage. Der Minister hat ausweislich der Berichterstattung
über den Vorschlag durchaus verschiedene Verstärkungen durch die Finanzaufsicht bzw. die BaFin formuliert.
Das geht ziemlich ins Detail.
({22})
Es sollen sogar die Anlageberater durch die BaFin kontrolliert werden.
({23})
Machen Sie sich erst einmal klug, was im Ministerium angedacht wird, und bringen Sie es mit dem zusammen, was Sie hier sagen. Das ist an dieser Stelle notwendig.
({24})
Wir haben also eine Reihe von klaren Regulierungspunkten.
Zweitens muss es dazu kommen, dass die Anlageprodukte, die auf den Markt kommen, zertifiziert werden
müssen, damit Produkte gegebenenfalls verboten werden können.
Drittens muss die Honorarberatung gestärkt werden.
({25})
Wir müssen davon wegkommen, dass nur auf Provisionen geschielt wird und die wirkliche Information des
Verbrauchers nicht wirklich im Vordergrund steht.
Viertens müssen die Verbraucherzentralen in ihrer
Marktwächterfunktion gestärkt werden.
({26})
In diesem Punkt erwarten wir von der Bundesregierung
einiges, damit wir eine vernünftige Vertretung im Anlegerschutz bekommen.
Ich glaube, wenn die Regierung in diese Richtung
handelt, kann daraus etwas werden. Machen Sie das, und
machen Sie es zügig.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({27})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Erik Schweickert
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sieling, Sie haben um Aufklärung gebeten. Ich wusste gar nicht, dass
es so einfach ist, die SPD aufzuklären. In dem Antrag
geht es um Verbraucherschutz. Wer erst in der Nachspielzeit dazu kommt, der hat ihn nicht richtig gelesen.
({0})
Gehen wir einmal darauf ein. Kollegin Lay, Sie haben
vorhin behauptet, in Bezug auf die Regulierung der
Finanzmärkte seien von der Bundesregierung keine
durchgreifenden Schritte unternommen worden. Ich
muss darauf hinweisen: Das entspricht nicht der Realität.
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Verbraucherschutz in der christlich-liberalen Koalition sehr wohl
eine Vorreiterrolle spielt, und zwar die Vorreiterrolle, die
der Verbraucherschutz in den letzten elf Jahren nicht innehatte.
({1})
Wir waren es, die bereits Anfang 2007 gefordert haben, die Zersplitterung der europäischen Bankenaufsicht
zu beenden.
({2})
- Ja, so ist es. - Die Wahrheit tut manchmal weh, auch
der SPD. Wir haben durchgesetzt, dass wir die einheitliche Finanzaufsicht jetzt in Deutschland umsetzen werden. Die Zersplitterung, die zu dem Chaos geführt hat,
wird also jetzt von uns beseitigt, nicht von Ihnen, die Sie
immer so tun, als ob Sie in den letzten Jahren nicht an
der Regierung gewesen seien.
({3})
Im Antrag steht außerdem, dass wir einheitliche Risikoklassen wollen. Ich muss sagen: In diesem Punkt ist
der Antrag gut. Das gilt für alle Punkte, die Sie von der
FDP abgeschrieben haben. Wir fordern das nämlich
schon länger.
({4})
Von daher muss ich sagen: Schauen wir uns doch einmal
an, was Sie tun. Was Sie vergessen, ist: Für uns ist Verbraucherschutz ein Bürgerrecht. Die FDP ist die Bürgerrechtspartei in Deutschland, und deswegen setzen wir
uns dafür ein.
({5})
- Jeden Tag? Ich merke es jede Stunde, Frau Tackmann.
Ich gestehe, dass auch in dieser Bundesregierung
noch nicht alles paletti ist.
({6})
Ich weiß, dass wir noch etwas tun müssen. Aber wir haben in vier Monaten mehr getan, als Sie in elf Jahren jemals hinbekommen haben.
({7})
Es geht um einen effizienten Verbraucherschutz. Das
heißt, wir wollen nicht mehr Auflagen und nur Beweispflichten einführen, die den Verbrauchern nichts bringen. Ich möchte keine 20-seitigen Protokolle haben, in
denen sich die Banken dann absichern.
({8})
Ich habe lieber ein Blatt, eine Seite im Sinne des Verbrauchers. Das ist besser als viel Bürokratie, die von der
einen Seite gefordert wird.
({9})
Beipackzettel sind effizient, wenn wir branchenweit
einheitliche Risikoklassen haben. Dann haben wir Vergleichbarkeit und Transparenz. Das macht dann auch
eine gesetzliche Regelung überflüssig. Lassen Sie uns
nun einen Schritt nach vorne machen, um in diesem Bereich etwas zu erreichen.
({10})
- Hören Sie bitte zu, Herr Sieling. Ich sage auch - das
meine ich vollkommen ernst -: Ich glaube, die Banken
haben immer noch nicht verstanden, was sie vielen Verbrauchern und dem Steuerzahler angetan haben.
({11})
Bei vielen ist diese Erkenntnis noch nicht reif. Das heißt,
wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Banken den
Verbraucher nicht zum Spielball machen und dass sich
so ein Desaster wie mit den Lehman-Zertifikaten nicht
wiederholt.
({12})
Wir brauchen gute Regelungen. Zu guten Regelungen
gehört aber auch, dass wir schlechte Beratung nicht zulassen dürfen. Es kann doch nicht sein, dass ich zum Backen von Brötchen einen Meisterbrief brauche, für den
Vertrieb von Finanzprodukten ist das aber vollkommen
egal. Aus diesem Grund sagen wir: Qualifikation, Registrierung und Berufshaftpflicht für die Branche sind ein
Baustein, den wir für mehr Verbraucherschutz einbringen wollen.
({13})
Wir werden die Ausweitung des Verbraucherinformationsgesetzes auf den Bereich der Finanzaufsicht unterstützen.
Zum Antrag der Linken sage ich Ihnen aber: Sie begehen einen Denkfehler, und zwar einen gravierenden.
Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
Wenn Sie nämlich eine Verlängerung der Verjährungsfristen für Falschberatung auf 30 Jahre fordern, dann
frage ich mich, welche Maßstäbe Sie für Falschberatung
ansetzen. Wer kann denn die Dividende einer Aktie oder
den Kurs einer Anleihe in 30 Jahren voraussagen? Das
geht nicht.
({14})
Das können Sie vielleicht für Altersvorsorgemodelle
machen. Es wäre kontraproduktiv, dem Verbraucher vorzugaukeln, dass er 30 Jahre Sicherheit hat.
({15})
Besonders problematisch ist, dass Sie das Ganze mit der
Beweislastumkehr koppeln. Was würde denn dann passieren? Die Banken würden alle ihre Finanzprodukte in
die höchste Risikoklasse einordnen. Das müssen sie,
wenn sie ordentlich wirtschaften wollen, weil sie keine
30 Jahre vorausschauen können. Aus diesem Grund ist
die Kombination dieser beiden Maßnahmen absolut unrealistisch. Damit tun Sie dem Verbraucherschutz nichts
Gutes.
Unsere Vorschläge gehen weiter. Wir wollen transparente und verständliche Produktinformationen, einheitliche Beipackzettel und Informationen für den Verbraucher über Provisionen. Gleichzeitig wollen wir mehr
Wettbewerb zwischen den Ratingagenturen. Ein doppeltes Rating sollte dazu führen, dass man unabhängig von
nur einer Ratingagentur wird. Das sind unsere Punkte,
um im Verbraucherschutz voranzukommen. Nach unserem Modell soll der Verbraucher frei entscheiden, wie er
sein Geld anlegt. Nicht der Staat sollte vorgeben, welches Produkt gut oder schlecht ist. Wir wollen diese Angebotsvielfalt, und dafür werden wir uns auch einsetzen.
({16})
Wir wollen keine Bevormundung, wie Sie es wollen,
sondern wir wollen Transparenz. Wir wollen keine
Schaufensterpolitik, wie sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommt, sondern effizienten Verbraucherschutz,
der die Verbraucher in die Lage versetzt, ihre Anlageentscheidung auf der Basis umfassender Informationen zu
treffen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, es gibt keinen Zweifel in diesem Haus, dass
beim Thema Anlegerschutz Handlungsbedarf besteht.
Da genügt ein Blick in die Presse der letzten Wochen:
Bankentest der Stiftung Warentest, Verbraucherzentrale
NRW stellt den Banken ein mieses Zeugnis beim Beratungsprotokoll aus. Die aktuelle Wirtschaftswoche titelt:
Legt die Banken an die Kette! Wir alle kennen die
volkswirtschaftlichen Schäden, die Falschberatung und
spektakuläre Pleiten wie die von Lehman, Göttinger
Gruppe oder Phönix ausgelöst haben. Diese Debatte ist
also überfällig, und bei allen Zweifeln, die man an einzelnen Forderungen im Antrag der Linken haben kann
- ich nenne den Produkt-TÜV oder die Verbraucherschutzbehörde -, benennen sie doch die richtigen Probleme: unregulierter grauer Kapitalmarkt, Provisionssystem, Verkaufsdruck, mangelnde Regulierung bei
bestimmten Produkten. Das heißt, die Themen sind benannt, aber wie so oft von der Opposition und nicht von
den Fraktionen, die hier im Haus die Mehrheit haben,
oder gar von der Regierung.
({0})
Die Regierung zieht es vor, mit dem Gesetzgeber über
Pressemitteilungen zu kommunizieren. Das kann ich gut
verstehen; denn Pressemitteilungen müssen nicht durch
das Kabinett und nicht durch den Koalitionsausschuss.
({1})
Sie wollen uns mit Überschriften abspeisen, wohingegen
die Bürger und auch die betroffene Branche Konzepte
erwarten. Ich bin sehr gespannt auf den Ideenwettbewerb, den Herr Brüderle, Herr Schäuble und vielleicht
auch Frau Aigner angekündigt haben. Ich glaube allerdings, dass Ideenwettbewerb eher ein Euphemismus für
schwarz-gelben Dauerstreit und Reformverweigerung
ist.
({2})
Sie sprechen von Ideen. Normalerweise sind Ideen etwas Neues. Aber die Ideen, die uns Herr Schäuble in der
Presse mitgeteilt hat, sind eigentlich schon lange auf
dem Ideenmarkt. 2008 hat die grüne Fraktion auf Initiative meines Kollegen Gerhard Schick eine strengere Regulierung des grauen Kapitalmarkts gefordert. Abgelehnt von FDP, CDU/CSU und SPD.
({3})
Schon 2007 haben wir in den Debatten zur MiFID eine
stärkere Regulierung der geschlossenen Fonds gefordert.
Abgelehnt von eben diesen drei Fraktionen. Das finden
wir sehr schade. Ich glaube, wenn man vom Ideenwettbewerb spricht, dann sollte man sich auch ehrlich machen und sagen, welche Initiativen in dieser Richtung
man in der Vergangenheit abgelehnt hat. Ich finde, die
Bundesregierung muss jetzt zeigen, ob sie mehr als gute
Pressearbeit kann. Sie müssen zeigen, ob Sie die Konflikte mit der Branche beim Thema Provisionen, beim
Thema Beweislastumkehr und beim Thema Kostentransparenz aushalten. Die Frage ist doch: Was geben Institute wie die Commerzbank, die wir mit Steuermilliarden
und mit Kapitalhilfegarantien gestützt haben, eigentlich
der Gesellschaft zurück? Ich bin sehr gespannt, wie Sie
im Ideenwettbewerb zwischen Union und FDP über das
Thema Abgabe diskutieren werden.
({4})
Wenn Frau Aigner große Ankündigungen zum Thema
finanzieller Verbraucherschutz macht, dann frage ich
mich, warum man im Haushaltsentwurf diese großen Initiativen mit der Lupe suchen muss.
({5})
Wenn man so viel Verbraucherschutz machen will, dann
müsste sich das im Haushalt wiederfinden.
({6})
Beim Thema Regulierung ist eine nüchterne Debatte
angebracht. Im Antrag der Linken wird sehr sachlich
analysiert. Die Union ist leider nicht so sachlich. Herr
Altmaier von der CDU/CSU spricht davon, dass wir den
kollektiven Rinderwahnsinn im Bankensektor beenden
wollen. Wenn Sie glauben, dass man Rinderwahnsinn
mit Pressemitteilungen beenden kann, dann ist die Regierungsbank für Schwarz-Gelb der falsche Sitzplatz.
Ich bedanke mich.
({7})
Das Wort hat nun Lucia Puttrich für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eines feststellen: Es gibt einen
wesentlichen Unterschied zwischen der Opposition und
der Regierung. Die Opposition redet, die Regierung handelt.
({0})
Der heutige Antrag der Linken ist betitelt mit Finanziellen Verbraucherschutz stärken - Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren. Das klingt erst einmal sehr
vielversprechend, enttäuscht ist man dann aber umso
mehr. Einzelne Forderungen Ihres Antrags, werte Kolleginnen und Kollegen, sind durchaus diskussionswürdig.
Aber in der Gesamtheit regulieren Sie nicht, sondern Sie
strangulieren.
({1})
Deutlich wird jedenfalls, dass sich unser Bild des Verbrauchers von Ihrem erheblich unterscheidet.
({2})
Wir setzen auf die Stärkung des Verbrauchers. Dabei
steht der gut informierte und zu selbstbestimmtem Handeln befähigte und mündige Verbraucher im Zentrum
unserer Politik. Sie hingegen neigen dazu, eine Vollkaskomentalität aufzubauen.
({3})
Eine Anlage mit hoher Rendite birgt häufig ein hohes
Risiko. Die Entscheidung, ob ein Verbraucher dieses Risiko eingehen will, trifft letztendlich er selbst.
({4})
Deshalb gilt: Der beste Schutz vor Fehlanlagen ist Information. Was man nicht versteht, das sollte man auch
nicht kaufen.
({5})
Vollkommen unhaltbar ist Ihre Behauptung, dass die
Bundesregierung bis heute keine durchgreifenden Schritte
zur Ordnung der Finanzmärkte unternommen habe. Ich
darf Sie hier allein an die Finanzmarktstabilisierungsgesetze erinnern. Genauso wenig ist es zutreffend, dass
keine bessere Regulierung für Verbraucherinnen und Verbraucher stattgefunden habe. Ich kann nur sagen: Sie haben hier offensichtlich eine sehr selektive Wahrnehmung.
Die Dokumentations- und Informationspflichten wurden verbessert
({6})
und die Verjährungsfristen verlängert.
({7})
Gerade das Beratungsprotokoll, das seit Anfang dieses
Jahres Pflicht ist, stärkt den Verbraucher, da sich damit
Fehler in der Beratung konkret nachweisen lassen. Wenn
Kunden erklären, risikoarm anlegen zu wollen, kann am
Ende der Beratung nicht der Abschluss einer hochriskanten Anlageform stehen. Einige Banken haben dieses Beratungsprotokoll als Chance und als Wettbewerbsvorteil
begriffen.
Leider gibt es - darauf sind Sie eingegangen - auch
Missbräuche. Bei der telefonischen Anlageberatung
wurden die gesetzlichen Vorgaben umgangen, indem Berater zwei Anrufe tätigten. Beim ersten Telefonat gab der
Berater Empfehlungen, beim zweiten Telefonat kam es
dann zur Order. In anderen Fällen ließen sich die Berater
durch Unterschrift des Kunden von der Haftung freistellen. Diese Entwicklung, die auch Gegenstand der Untersuchung der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen war, werden wir im Auge behalten. Wir werden
Missbräuche nicht tolerieren und gegebenenfalls darauf
reagieren.
({8})
Eine weitere Verbesserung ist das Produktinformationsblatt, das den Verbraucher über die entscheidenden
Merkmale eines Finanzproduktes informiert: Kosten, Risiken, Laufzeit, Funktionsweise und Renditen. Der Bundesverband deutscher Banken hat mit der Vorstellung eines einheitlichen Informationsblattes einen wichtigen
Schritt getan.
({9})
Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und
Raiffeisenbanken zog am vergangenen Freitag mit der
Ankündigung nach, im Frühjahr ebenfalls ein standardisiertes Produktinformationsblatt anzubieten.
({10})
- Regen Sie sich doch nicht auf, sondern hören Sie einfach einmal bis zum Ende zu! - Zu Recht mahnt Bundesministerin Aigner jedoch ein bundesweit einheitliches Produktinformationsblatt an. Ein Flickenteppich
nutzt niemandem, weder dem Kunden noch dem Berater.
({11})
Deshalb werden wir auch genau beobachten, was sich
da tut. Wenn die Banken nicht mitziehen, müssen wir
notfalls gesetzlich regeln.
({12})
Wir sind uns doch alle einig, dass wir die Finanzaufsicht
verbessern müssen. Dafür haben wir konkrete Vorschläge.
({13})
Der Verbraucherschutz muss als Aufsichtsziel gesetzlich
verankert werden.
({14})
Verbraucherverbände und das Bundesverbraucherschutzministerium sollen in die Gremien bei der Finanzaufsicht einbezogen werden. Verbraucherverbände sollen
die Möglichkeit eines Beschwerdeverfahrens bekommen,
mit dem die Finanzaufsicht in konkreten Fällen zum
schnellen Einschreiten aufgefordert werden kann. Das
hilft Verbrauchern sofort und effektiv. Sammelklagen
hingegen lehnen wir ab. Diese eröffnen in erster Linie einen lukrativen Markt für Anwaltskanzleien.
({15})
Die Finanzaufsicht muss die Möglichkeit haben, vor
unseriösen Produkten und Anbietern zu warnen. Im Lebensmittelsektor ist dies gängige Praxis. Dies muss auch
für den Finanzsektor gelten und im Wertpapierhandelsgesetz entsprechend geregelt werden. Ein EU-FinanzTÜV für alle Finanzprodukte, wie die Linken ihn fordern, ist vollkommen unrealistisch.
({16})
Eine seriöse Bewertung von circa 800 000 Finanzprodukten - davon sind circa 350 000 Zertifikate - allein
auf dem deutschen Markt ist überhaupt nicht zu leisten.
Hinzu kommt, dass Bewertungen von heute aufgrund
sich verändernder wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen schon morgen falsch sein können.
Stichproben hingegen sind selbstverständlich sinnvoll.
Wichtig ist für uns außerdem, dass freie Finanzvermittler ihre Qualifikation künftig nachweisen, sich registrieren lassen und eine Haftpflichtversicherung abschließen müssen.
({17})
Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zum
grauen Kapitalmarkt sagen. Der graue Kapitalmarkt darf
keine Grauzone sein. Deshalb begrüßen wir, dass Finanzminister Schäuble im April einen Gesetzentwurf
vorlegen wird, der sich konkret mit der Verschärfung der
Anforderungen an die Beratung und Vermittlung beim
Vertrieb von Produkten des grauen Kapitalmarkts befasst.
({18})
Beratungsprotokolle werden dann auch dort Pflicht. Die
Regelung für Wertpapiere war ein guter Anfang, reicht
aber nicht aus. Wir begrüßen, dass in dem Gesetzentwurf
auch mehr Transparenz bei Provisionen vorgesehen ist.
Ich komme zum Ende. Der Antrag der Linken ist
nichts Neues. Er wirkt wie ein Sammelsurium oder ein
Versandhauskatalog mit allen Forderungen, die bisher
zum finanziellen Verbraucherschutz gestellt wurden.
({19})
So viele Regeln wie möglich und so wenig Eigenverantwortung wie nötig - das scheint dabei die Devise zu
sein. Damit helfen Sie den Verbrauchern nicht, sondern
damit entmündigen Sie sie.
({20})
Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag der Linken? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linken und Grünen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also
Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für
diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltung? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
ELENA aussetzen und Datenübermittlung
strikt begrenzen
- Drucksache 17/658 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Konstantin von Notz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Seit dem 1. Januar 2010 werden mit dem sogenannten elektronischen Entgeltnachweis, kurz: ELENA,
die Daten von über 30 Millionen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern zentral gespeichert und verwaltet.
Wir sprechen hier heute Abend über den Antrag meiner
Fraktion, ELENA umgehend auszusetzen und ganz
grundlegend zu überarbeiten. Das ist auch zwingend notwendig;
({0})
denn in der vorliegenden Form ist ELENA zu bürokratisch und intransparent und erhebt zu viele Daten ohne
ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Das Fazit:
ELENA ist - auch in der Fastenzeit - zu datenhungrig und
muss ordentlich abspecken.
Es stimmt: ELENA selbst gingen rot-grüne Überlegungen zur sogenannten Jobkarte voraus. Ziel war es,
Bürokratieabbau und Verwaltungsvereinfachung zu erlangen. Aber man kann eben auch gute Ideen schlecht
umsetzen. Genau so ist es mit diesem Gesetz: ELENA
ist gut gemeint, aber schlecht gemacht.
({1})
Dass das so ist, werden Sie alle, die hier zu dieser späten
Abendstunde sitzen, selbst erfahren; denn es kommen
viele kritische Briefe und Beschwerden von Bürgerinnen
und Bürgern, von kleinen und mittleren Betrieben. Es
besteht eine große Unsicherheit bei Arbeitnehmern, aber
auch bei Arbeitgebern.
Zugleich hat die sogenannte ELENA-Petition, die die
sofortige Aufhebung fordert, 27 500 Zeichnerinnen und
Zeichner gefunden. Diese teilen ihre Sorge bezüglich
dieses Datenmonsters mit Datenschützern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die alle sofortige
Nachbesserungen fordern.
Die Grundprobleme sind trotz einiger kleiner kosmetischer Überarbeitungen im Dezember, also kurz vor Inkrafttreten von ELENA, nicht gelöst:
Daten von Millionen von Menschen werden anlasslos
erhoben. Ob und wie all die erhobenen Daten jemals
Verwendung finden, ist im Einzelfall völlig offen.
ELENA ist intransparent. Im Gesetz selbst ist nicht
eindeutig festgelegt, was nach den Grundsätzen der
Zweckbindung, der Erforderlichkeit und der Datensparsamkeit gespeichert werden darf. Das allein ist ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und ist deswegen inakzeptabel.
({2})
Nach den vielen Skandalen mit Beschäftigtendaten in
der jüngsten Vergangenheit steht es uns wirklich gut an,
bei dieser zentralen Datensammlung kritisch innezuhalten, das Gesetz zurückzunehmen, ELENA zurückzuholen und das große Missbrauchspotenzial, das bei dieser
zentralen Datenspeicherung gegeben ist, zu beseitigen.
Wir fordern deswegen eine Stärkung des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Es ist erforderlich, dass
sich die Betroffenen jederzeit über die Daten über sie,
die weitergegeben werden, informieren können. Gegen
falsche oder negative Informationen, die weitergegeben
werden, müssen sich die Betroffenen rechtlich effektiv
zur Wehr setzen können. Außerdem brauchen wir eine
konkrete Einschätzung der Kosten, die durch ELENA
entstehen. Auch dort bestehen große Verunsicherungen.
ELENA erfüllt all diese Anforderungen heute nicht, und
deswegen brauchen wir die umgehende Aussetzung.
({3})
Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen folgenden Gedanken mitgeben - das jüngste Bundesverfassungsgerichtsurteil hat sich zur anlasslosen Datenspeicherung geäußert; ich darf Ihnen diese zwei Sätze noch vorlesen -:
Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer
vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt voraus, dass diese
eine Ausnahme bleibt.
Durch eine vorsorgliche
Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen
- wie ELENA auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.
Sie hören also, meine Damen und Herren: Für anlasslose Datenerhebungen sind die Spielräume sehr eng, zu
eng für ein so unausgegorenes Gesetz.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat nun Kai Wegner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Dr. Notz, wir beraten heute in der Tat einen Antrag Ihrer
Fraktion zum sogenannten ELENA-Verfahren. Ich bin
sehr froh, dass Sie diesen Antrag gestellt haben, weil ich
die nächsten Minuten nutzen möchte, Fakten darzulegen
und auch auf einige Kritikpunkte, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, einzugehen.
Bürokratie kostet Zeit, und Bürokratie kostet Geld. Es
kostet Zeit und Geld für die Bürgerinnen und Bürger,
aber es kostet auch Zeit für die Unternehmerinnen und
Unternehmer und natürlich auch für die öffentliche Verwaltung selbst. Wir wissen alle: Unnötige Formalien
bremsen jegliche wirtschaftliche Betätigung.
({0})
Deshalb wird die christlich-liberale Bundesregierung
Bürokratie abbauen und die Bürokratiekosten deutlich
senken. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg bleibt
auch weiterhin die Einführung des elektronischen Entgeltnachweises, kurz: ELENA. Das Gesetz über das Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises ist und
bleibt ein wichtiger Meilenstein zum Abbau bestehender
Bürokratie und ist gleichzeitig ein deutliches Signal für
ein Mehr an Innovationen.
Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen in unserem
Land Anspruch darauf haben, dass staatliche Aufgaben
in hoher Qualität, serviceorientiert und effizient erfüllt
werden. Daher müssen wir sukzessive bestehende Innovationspotenziale für eine bessere Verwaltung nutzen.
Genau das, meine Damen und Herren, ist das Anliegen
von ELENA.
Rund 3 Millionen Arbeitgeber stellen Jahr für Jahr
etwa 60 Millionen Bescheinigungen in Papierform aus.
Diese Nachweise benötigen die Beschäftigten, um gegenüber öffentlichen Stellen die Voraussetzungen für
den Bezug einer bestimmten Leistung nachweisen zu
können. Zwischen der elektronischen Personalverwaltung des Arbeitgebers und der elektronischen Sachbearbeitung in den Behörden klafft eine Riesenlücke, die
weiterhin durch den traditionellen Informationsträger
Papier überbrückt wird. Dieser Medienbruch wird durch
das ELENA-Verfahren beseitigt. Mit dem ELENAVerfahren werden die heute schon in Papierform notwendigen Bescheinigungen der Arbeitgeber für die Beantragung von Sozialleistungen durch elektronische
Meldungen an die Deutsche Rentenversicherung Bund
ersetzt.
Mit der erstmaligen Meldung der Beschäftigtendaten
durch die Arbeitgeber, die mit dem 1. Januar dieses Jahres begann, werden zunächst nur Daten elektronisch erhoben und eingepflegt. Ab 2012 sollen dann insgesamt
fünf Bescheinigungen, die für die Beantragung von drei
Sozialleistungen, nämlich Elterngeld, Wohngeld und
Arbeitslosengeld I, erforderlich sind, elektronisch ersetzt
werden. Das hat zur Folge, dass Anträge auf Sozialleistungen zukünftig wesentlich einfacher und schneller bearbeitet werden können, und das, meine sehr verehrten
Damen und Herren, ist unser Ziel.
Die Ermittlungen des Normenkontrollrats haben ergeben, dass alleine durch das papiergebundene Verfahren
für die Beantragung und Berechnung der circa 6,5 Millionen Arbeitsbescheinigungen, die allein für das
Arbeitslosengeld I erforderlich sind, der Wirtschaft jährlich Bürokratiekosten in Höhe von rund 100 Millionen
Euro entstehen. Insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind durch das Ausstellen dieser
Papierbescheinigungen überproportional belastet. Es ist
mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden,
und oftmals muss darüber hinaus die Unterstützung von
Steuerbüros in Anspruch genommen werden.
Insgesamt hat sich bei der Bürokratiekostenmessung
gezeigt, dass der Abruf von vorhandenen Daten in der
Praxis wenig Aufwand verursacht. Wenn aber Daten in
den Betrieben nicht vorliegen und extra gesammelt, aufbereitet oder umformatiert werden müssen, dann entsteht
in den Betrieben unter Umständen ein sehr großer Aufwand.
Herr Dr. Notz, angesichts genau dieser Beschwerden
von kleinen und mittelständischen Unternehmen werden
wir seitens der Koalition und seitens der Regierung bzw.
des Bundeswirtschaftsministeriums in Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Überlegungen anstellen, ob Maßnahmen ergriffen werden sollen, die auf die besonderen Belange von kleinen
und mittelständischen Unternehmen eingehen. Das begrüße ich ausdrücklich; denn gerade kleine und mittelständische Unternehmen müssen entlastet werden.
Aber, wohlgemerkt, mithilfe von ELENA kann ein
kostenintensiver Medienbruch überwunden werden.
Denn für die fünf Bescheinigungsarten, die in das
ELENA-Verfahren einbezogen werden, ergibt sich nach
Schätzungen des Normenkontrollrates eine Entlastung
für die Unternehmen von rund 85 Millionen Euro. Diese
Zahl ist eigentlich klar vom Normenkontrollrat ermittelt.
Ich weiß nicht, warum sie infrage gestellt wird.
Neben dem Wegfall von Archivierungspflichten für
Arbeitgeber profitieren auch Behörden sowie Bürgerinnen und Bürger von dem ELENA-Gesetz. Die Bürger
profitieren durch eine schnellere und diskretere Abwicklung von Sozialleistungsverfahren ohne unnötige
Wartezeiten. Die Behörden können Anträge durchgängig
elektronisch effizient bearbeiten und dadurch Übertragungsfehler vermeiden. Ein gut gemachter elektronischer Entgeltnachweis kann also einen Beitrag zur Entbürokratisierung leisten, Bürokratiekosten senken,
Verwaltungsverfahren vereinfachen und so allen Beteiligten nutzen. Darüber sind wir uns mit dem Antragsteller einig; denn genau das schreiben Sie in Ihrem Antrag.
Mir ist durchaus bewusst, dass es infolge zahlreicher
Fälle von Datenmissbrauch zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung in Bezug auf das Speichern von
Daten gekommen ist. Deshalb möchte ich heute ausdrücklich betonen, dass das ELENA-Verfahren die
höchsten Datensicherheitsstandards erfüllt. Das gilt sowohl für die Verschlüsselung der Daten als auch für die
Möglichkeit des Abrufs; denn für das ELENA-Verfahren
gelten die Bestimmungen zum Sozialdatenschutz des
SGB X und weitere im Gesetz festgelegte Schutzrechte.
Die Daten in der zentralen Speicherstelle werden nach
der Übermittlung durch den Arbeitgeber sofort überprüft, zweifach verschlüsselt und erst danach gespeichert. Eine Entschlüsselung ist nur im Rahmen eines
konkreten, durch den Bürger legitimierten Abrufs möglich. Ein direkter Zugriff auf die Datenbank ist weder für
interne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch für Außenstehende möglich, da die Speicherung der Daten und
deren Verschlüsselung in unterschiedlichen Verantwortlichkeiten liegen.
Ab 2012 können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst mit einer Signaturkarte die Erlaubnis erteilen, ob ihre Daten abgerufen werden können oder
nicht. Ohne diese Zustimmung können die Daten nicht
übertragen und auch nicht eingesehen werden. Auch
eine Verwendung der Daten zu anderen Zwecken ist gesetzlich geregelt und damit komplett ausgeschlossen.
Gerade vor diesem datenschutzrechtlichen Hintergrund halte ich ELENA für absolut gerechtfertigt. Aber
nichtsdestotrotz nehme ich die Kritik an der Datenerfassung sehr ernst. Ja, es hat Kritik gegeben; auch ich habe
Briefe bekommen. Das ist letztlich auch der Anlass für
Ihren Antrag. Es hat Kritik bei der Frage gegeben, ob
spezifische Daten erhoben werden sollen oder nicht, beispielsweise hinsichtlich einer Streikteilnahme. Dass wir
diese Anmerkungen seitens verschiedenster Akteure
sehr ernst nehmen, sehen Sie daran, dass das Verfahren
in drei Punkten sehr konkret geändert wird:
Erstens. Am 15. Dezember letzten Jahres wurde auf
der Sitzung des Beirates für ELENA beschlossen, dass
die Datengrundsätze überprüft werden. Die Bundesregierung hat dem Wunsch des Beirats entsprochen, dass
die allgemeine Erhebung von Daten über eine Streikteilnahme nicht mehr stattfindet. Es werden nur die Fehlzeiten abgefragt und unter dem pauschalen Begriff allgemeine Fehlzeit zusammengefasst. Ein weiterer Vorteil
des ELENA-Verfahrens ist darin zu sehen, dass der Arbeitgeber zukünftig keine Kenntnis darüber erlangt, ob
sein Arbeitnehmer einen Antrag auf Sozialleistungen
stellt oder nicht.
Zweitens. Gerade der Aspekt der Datenerhebung ist
ein sehr sensibles Gebiet. Obwohl es ausschließlich Daten sind, die schon heute in Papierform erfasst werden,
soll der ELENA-Beirat noch einmal alle zu erhebenden
Daten auf ihre zwingende Notwendigkeit hin überprüfen. Ich bin der Meinung, dass nur das absolute Minimum, nur die wirklich unerlässlichen Daten, erhoben
werden sollten.
Drittens. Bei der Entwicklung der Datengrundsätze
wurde die Arbeitnehmervertretung nicht von Anfang an
mit einbezogen und angehört. Ich halte es aber für wichtig, dass den Arbeitnehmervertretern ein Anhörungsrecht eingeräumt wird. Deshalb werden wir im SGB IV
der Arbeitnehmervertretung ein gesetzlich verbrieftes
Anhörungsrecht einräumen, wenn über den Inhalt der zu
erhebenden Daten entschieden wird. Das schafft Transparenz und Vertrauen, welches wir für diesen dringend
notwendigen Schritt hin zu einer entbürokratisierten und
damit modernen, zukunftsfähigen und serviceorientierten Verwaltung brauchen.
Ich würde mir wünschen, dass sich auch die Opposition in diesem Haus konstruktiv an der weiteren Entwicklung beteiligt. Sie haben es ja schon angemahnt. Es
ist durchaus eine Idee der rot-grünen Bundesregierung
gewesen. Sie haben es aber in sieben Jahren nicht hinbekommen, das umzusetzen. Die Große Koalition hat es
angepackt. Die christlich-liberale Koalition wird es jetzt
optimal umsetzen. Denn es bleibt dabei: Das ELENAVerfahren revolutioniert die Art und Weise, wie wir in
unserem Land Verwaltung organisieren. Deshalb freue
ich mich auf den Diskussionsprozess und die Weiterentwicklung des Verfahrens. Ich wünsche mir eine konstruktive Diskussion.
({1})
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Doris Barnett für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schon erstaunlich: Vor knapp acht Jahren - es wurde
schon darauf hingewiesen - haben wir während der rotgrünen Regierungszeit den Grundstein für ELENA gelegt; damals hieß sie allerdings noch Jobcard. Wir wollten Arbeitsabläufe vereinfachen und haben uns, wie ich
finde, behutsam auf den Weg gemacht. In Projektphasen
haben wir einzelne Schritte der Datenerfassung und -verarbeitung für Verdienst- und Arbeitsbescheinigungen getestet, Fehler eliminiert und das Verfahren optimiert, bis
wir uns sicher waren, wie wir das Verfahren endgültig
gestalten wollen. Ziel war und ist nach wie vor, Bürokratie abzubauen und Kosten einzusparen, aber auch,
dass der Arbeitnehmer schneller zu seinen Leistungen
kommt.
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man ein gutes Gesetz immer noch besser machen kann. Aber wir
alle wissen: Warten wir darauf, bis ein Gesetz absolut
perfekt ist, dann warten wir auf den Sankt Nimmerleinstag. Aber nach acht Jahren war letztes Jahr der Zeitpunkt
gekommen, um das Gesetz in Kraft treten zu lassen. Ihren Optimierungsbemühungen blicken wir nun gespannt
entgegen.
Dennoch verlangen jetzt die Grünen, das ELENAVerfahren 40 Tage nach dem Start auszusetzen. Vor dem
Start von ELENA war bekannt geworden, dass in dem
vom Arbeitgeber auszufüllenden Erfassungsbogen neben bisher üblichen Angaben auch Zeiten angegeben
werden sollten, in denen gestreikt oder ausgesperrt
wurde. Das war neu und so nicht vorgesehen. Wir Abgeordnete hatten das seinerzeit weder bei der Jobcard noch
bei ELENA auch nur angedacht. Deshalb wurden diese
Datensätze bereits am 15. Dezember letzten Jahres vom
Arbeitskreis ELENA zu Recht aus dem Verfahren entfernt. Ich halte deshalb fest: Die Angabe von Streik- und
Aussperrungstagen ist nicht mehr vorgesehen und wird
auch ab dem Start von ELENA nicht mehr erhoben.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es das Verfahren,
anlasslose Daten für längere Zeit zu speichern, auch bei
anderen Verfahren in der Sozialversicherung gibt. In dieser Hinsicht ist ELENA nicht einzigartig.
({0})
Die Grünen haben zwar in ihrer Begründung nochmals
ausdrücklich auf die Speicherung der Streikdaten hingewiesen; aber das ist aufgrund der Tatsache, dass der Antrag erst am 9. Februar gestellt wurde, populistisch und
baut einen Popanz auf.
({1})
So wird verlangt, dass der Beschäftigte auf Wunsch mitgeteilt bekommt, welche Informationen der Betrieb an
die zentrale Speicherstelle übermittelt.
({2})
Andersherum gesagt: Die Grünen unterstellen, dass die
Beschäftigten im Dunkeln gelassen werden. Ein Blick
ins Gesetz hätte aber genügt, um festzustellen, dass ein
solcher Anspruch längst besteht und garantiert ist, nämlich in § 103 SGB IV. Jeder Teilnehmer des ELENAVerfahrens hat selbstverständlich Anspruch, Auskunft
über die über ihn gespeicherten Daten zu erhalten. Vielleicht würde auch ein Blick auf die vom Arbeitgeber regelmäßig ausgestellte Gehaltsbescheinigung reichen;
denn dort wird darauf hingewiesen, dass die in der Gehaltsabrechnung angegebenen Daten an die zentrale
Speicherstelle weitergegeben werden.
({3})
Es trifft zu, dass der Arbeitgeber nach dem bisherigen
Papierverfahren erst zu dem Zeitpunkt eine Arbeitsbescheinigung ausstellt, die für einen Wohnberechtigungsschein, für Wohngeld, Arbeitslosengeld usw. benötigt
wird, wenn der Arbeitnehmer zu ihm kommt und einen
solchen Entgeltnachweis verlangt. Für ELENA sind monatlich vom Arbeitgeber weiterzuleitende Daten vorgesehen, die zum großen Teil identisch sind mit denen, die
auch an die Sozialversicherungsträger gehen. Das regelt
unter anderem der § 97 SGB IV. Aufgrund der gespeicherten Daten benötigt der Arbeitnehmer zukünftig nicht
mehr den Gang zum Arbeitgeber, wenn er eine Arbeitsbescheinigung braucht. Er muss also keine Gründe mehr
angeben, wofür er die Bescheinigung braucht, weil er direkt zur entsprechenden Stelle gehen kann und dort nach
dem Vieraugenprinzip die Bescheinigung erstellt wird.
Im Sinne der Wahrung des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung ist das ein großer Fortschritt.
Auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses
braucht der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin nicht
mehr als Bittsteller aufzutreten und für eine Entgeltbescheinigung anzustehen. Das heißt aber nicht, dass keine
Angaben mehr zum Kündigungsgrund zu machen sind.
Eine Kündigung aus in der Person liegenden Gründen ist
regelmäßig wertend. Sie war und bleibt Grundlage für
mögliche Sperrzeiten, die von der Arbeitsagentur verhängt werden. Insoweit kann auf diese Daten gar nicht
verzichtet werden, außer man will zukünftig ganz auf
Sperrzeiten verzichten. Als so weitgehend habe ich den
Antrag der Grünen dann aber doch nicht verstanden.
Nun fordern Sie allerdings noch, nach Ablauf eines
Jahres die tatsächlich angefallenen Kosten von ELENA
zu evaluieren, und zwar mit dem Ziel, kleine und mittelständische Betriebe vor einer unverhältnismäßigen
Belastung zu bewahren. Abgesehen davon, dass die
Evaluierung nach zwei Jahren sowieso vorgesehen ist
und sich die Einsparwirkung für die Unternehmen erst
ab 2012 zeigt, wenn die Datenbank aufgebaut und einsatzbereit ist
({4})
und deshalb keine Papierbescheinigungen mehr ausgestellt werden können, könnte man im ersten Augenblick
meinen, dass diese Forderung nützlich ist. Aber der Augenblick verfliegt, und man weiß, dass seit 2006, also
jetzt im fünften Jahr, alle Betriebe verpflichtet sind, den
Sozialversicherungen die Daten ihrer Beschäftigten
elektronisch zu melden.
Bis zum Beginn dieses Jahres haben die Krankenkassen bei schätzungsweise 1 500 kleinen Betrieben von
den über 3 Millionen in unserem Land, die die Daten
zum Teil über ihre Steuerberater oder ihre Lohnsteuerbüros weitergeleitet haben, die Weiterleitung in Papierform
contra legem zugelassen. Mit dieser Ausnahme ist jetzt
allerdings Schluss. Mit dem Beginn von ELENA, die
Teil der sv.net-Datenmaske ist, müssen jetzt alle Betriebe elektronisch weiterleiten. Wer glaubt, sich unter
Hinweis auf Kosten und Arbeitsbelastung im Zusammenhang mit der Erfassung der ELENA-Daten weiterhin
auch der elektronischen Erfassung der Daten für Krankenkassen und Rentenversicherungen entziehen zu können, wird recht schnell merken, dass es dafür kein
Verständnis mehr gibt. Ausnahmen ziehen weitere Ausnahmen und immer auch Kosten nach sich. Deshalb Vorsicht bei Ausnahmen!
Ich frage an dieser Stelle die Grünen, ob sie allen
Ernstes Klientelpolitik für 1 500 Betriebe betreiben wollen, da das doch eigentlich eine FDP-Spielwiese ist.
({5})
Die Betriebe bzw. deren Steuerberater und Lohnsteuerbüros bekommen das Meldeprogramm für die Daten
kostenlos vom sv.net zur Verfügung gestellt. In diesem
kostenlosen Meldeprogramm für die Sozialversicherungen ist auch der Datensatz für ELENA enthalten. Hier
hat die Ersterfassung der Daten zu erfolgen. Das ist zwar
immer mühsam, aber wir erfinden das Rad doch nicht
ständig neu.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung zum Schluss noch einen wichtigen Hinweis geben.
Dort wurde festgestellt, welche Instrumente zur Gewährleistung der Datensicherheit gegeben sein sollten. Das
sind: getrennte Speicherung, asymmetrische Verschlüsselung, Vieraugenprinzip verbunden mit einem fort2472
schrittlichen Verfahren zur Authentifizierung für den
Zugang zu den Schlüsseln und revisionssichere Protokollierung von Zugriff und Löschung. Alle diese Vorgaben beachtet ELENA. Sie ist also auf der Höhe der Zeit
und deshalb ein Vorbild für andere Verfahren. Aus diesem Gunde darf ELENA nicht ausgebremst werden. Das
Verfahren ist anzuwenden, nicht zuletzt im Interesse der
Beschäftigten. Deshalb lehnen wir den Antrag der Grünen ab.
({6})
Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Bögel für die
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Im Griechischen bedeutet Helena: die Strahlende, die Leuchtende. Man könnte meinen, der Name
ELENA sei davon abgeleitet; doch weit gefehlt. ELENA
bedeutet elektronischer Entgeltnachweis, was die Sache
entmystifiziert. Dennoch, Helena war eine maßgebliche
und nicht unbedingt positiv besetzte Figur in der Geschichte des Trojanischen Krieges. Was könnte das für
ELENA bedeuten? Licht und Schatten zugleich? Eines
ist klar: ELENA, die erst vor knapp zwei Monaten auf
den Laufsteg geschickt wurde, kann noch nicht jeden
Schritt richtig machen und alle Zuschauer und Beteiligten im Lande restlos entzücken.
({0})
Die Bundesregierung verfolgt mit dem Verfahren das
Ziel, die Kosten der Unternehmen für Bürokratie deutlich zu senken. Bis Ende 2011 sollen sie eine Entlastung
um 25 Prozent erfahren.
({1})
Das ist ein hehres Ziel, und ELENA, um im Bild zu bleiben, soll eine Lichtgestalt dieses Vorhabens werden.
Seit dem 1. Januar 2010, seit Inkrafttreten der ersten
Stufe des Gesetzes, sind die Arbeitgeber verpflichtet, die
Entgeltdaten ihrer Beschäftigten monatlich in Form eines elektronischen Datensatzes zu übermitteln. Ziel ist
es, die Arbeitgeber nachhaltig von der Ausstellung der
unterschiedlichen Bescheinigungen in Papierform zu
entlasten. Im ersten Schritt gilt das für die Leistungsabrechnungen bei Arbeitslosen-, Wohn- und Elterngeld.
Ab 2015 ist eine vollständige Abdeckung aller Arbeitgeberbescheinigungen geplant. ELENA soll die Beantragung und Bewilligung von Sozialleistungen und das Bescheinigungswesen vereinfachen und beschleunigen.
Seit zwei Monaten sind 600 000 Arbeitgebersendungen
gezählt worden, von denen bereits 85 Prozent verarbeitet
wurden. So viel zur Lichtgestalt ELENA.
Deutliche Kritik in der Öffentlichkeit wurde im Hinblick auf den Umfang des Datensatzes und die Belastung
für kleine und mittelständische Unternehmen geäußert.
({2})
Hier möchte ich ansetzen. Die Kritik an ELENA, die in
dem vorliegenden Antrag der Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen vorgebracht wird, geht im Wesentlichen in
die gleiche Richtung: Datenschutz und Belastung der
kleinen und mittelständischen Unternehmen. Der Datenschutz ist ein hochsensibles Thema. Gerade meine Partei
hat immer ein besonderes Augenmerk darauf.
({3})
Daher möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass auf das Drängen der FDP die zuständige
Bundesministerin den Umfang der zu erhebenden Daten
zwischenzeitlich korrigiert hat.
({4})
Meine Fraktion hat sich gegenüber der Bundesregierung
auch dafür stark gemacht, die Erforderlichkeit der erhobenen Daten weiterhin strengstens zu prüfen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang deutlich
darauf hinweisen, dass wir mit der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes zur Vorratsdatenspeicherung sehr zufrieden sind.
({5})
Ich möchte sagen: Ein sozialistischer Unrechtsstaat wie
die DDR mit einer Partei wie der SED hätte über die
Möglichkeiten, wie sie heute gegeben sind, sicherlich
frohlockt. Speicherungen von intimsten Daten, ja sogar
Geruchsproben waren, wie wir wissen, an der Tagesordnung. Sozialismus macht eben nicht nur arm, sondern
auch unfrei. Dieses Kapitel haben wir, Gott sei Dank, für
unser Land abgeschlossen.
({6})
Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Seien
Sie sicher: Meine Fraktion wird sich vehement gegen
jedwede Freiheitsbeschränkung auflehnen.
({7})
Genau daher sehe ich es als eine Selbstverständlichkeit
an, dass der Arbeitnehmer ein vollständiges Recht auf
Selbstauskunft hat. Technische Schwierigkeiten, die dies
zurzeit noch verhindern, gilt es sofort zu überwinden.
({8})
Als Beauftragte für den Mittelstand im Wirtschaftsausschuss möchte ich den Fokus neben dem Thema Datenschutz vor allem auf die Reaktionen der kleinen und
mittelständischen Unternehmen lenken. Erst gestern
habe ich mit einem münsterländischen Unternehmer teClaudia Bögel
lefoniert und ihn nach seinen Erfahrungen mit ELENA
gefragt. Seine Erfahrungen mit ELENA waren eher düster als lichterfüllt.
({9})
Die mittelständischen Unternehmen bilden das Rückgrat der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres
Landes. Wir dürfen sie nicht durch ELENA belasten. Im
Gegenteil, in meinen Augen muss alles darangesetzt
werden, kleine und mittelständische Betriebe von Bürokratie zu entlasten.
({10})
Die bürokratischen Hürden für die mittelständischen Unternehmen haben in den vergangenen elf Jahren monströse Formen angenommen. Unser Staat ächzt unter unnötiger Bürokratie, die dazu geführt hat, dass der Mittelstand immer weiter schrumpft. Das muss sich ändern.
({11})
Ein Schüler hat bereits vor einigen Jahren in einem
Schulaufsatz mit unfreiwilligem Humor geschrieben:
Zuerst hatten wir das Matriarchat, dann hatten wir das
Patriarchat, und heute haben wir das Sekretariat.
({12})
Leider hat er recht behalten.
Deshalb werden wir Maßnahmen ergreifen, ELENA
hübsch schlank werden zu lassen, damit sie auch für einen kleinen und mittleren Betrieb die richtige Figur abgibt. Mit dem ELENA-Verfahrensgesetz sind wir auf
dem richtigen Weg. Wir haben erste Reparaturen vorgenommen und werden damit zu einer echten Entbürokratisierung beitragen.
Lassen Sie uns ELENA weiter aufhübschen, damit sie
zur begehrten Lichtgestalt Helena wird. So können alle
Beteiligten zum Schluss rufen: Heureka!
Danke.
({13})
Frau Kollegin Bögel, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr
herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel
Erfolg.
({0})
Nun hat die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich beginne mit einem historischen Exkurs. Als geistiger
Vater von ELENA gilt ein gewisser Peter Hartz; Sie wissen, das nahm kein rühmliches Ende. Dann wurde
ELENA ein Ziehkind von Kanzler Gerhard Schröder;
auch das war für dieses Vorhaben kein gutes Omen. Später erhielt Interimsminister Michel Glos, CSU, eine
zweifelhafte Auszeichnung für ELENA, nämlich den
Big-Brother-Award. Kurzum, mit ELENA ist kein Staat
zu machen. Wir sollten die Chance nutzen und ELENA
endlich in den Ruhestand schicken.
({0})
ELENA ist ein elektronisches System, mit dem persönliche Daten unbekannter Menge von zig Millionen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zentral und auf
Vorrat erfasst werden sollen. Ähnlichkeiten mit der Vorratsdatenspeicherung sind nicht zufällig. Das Bundesverfassungsgericht hat am 2. März 2010 geurteilt: Unbestimmte Vorratsspeicherungen sind verfassungswidrig.
Die Linke hält die ausufernde Speicherung von Arbeitnehmerdaten für verfassungswidrig. Ich muss ehrlich gestehen: Ich wünsche ELENA lieber einen schnellen Abgesang im Bundestag als einen üblen Nachruf in
Karlsruhe. Viel zu oft musste dort in letzter Zeit repariert
werden.
({1})
Es stimmt - man sieht es an der langen Geschichte -:
ELENA führte lange ein Schattendasein, bis offenbar
wurde, dass nicht nur Gehalts- und Steuerdaten zentral
gespeichert werden sollen, sondern auch Daten über
Krankheiten, Streikteilnahmen, Kündigungen und anderes mehr. Das war vor drei Monaten. Die Empörung
schwoll an, und flugs schwor die Regierung Besserung.
Ich habe nachgefragt. Ich wollte wissen: Welche Daten werden denn nun wirklich erhoben und zentral gespeichert? Vor 14 Tagen erhielt ich eine schriftliche Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und
Soziales. Der Verfasser dieser Antwort ist jetzt leider
hier nicht anwesend. Die Antwort ist nichtssagend und
eine Missachtung des Bundestages. Außerdem ist sie
eine Irreführung der Bevölkerung. Wie die Bundesregierung mit ELENA und dem Nachbesserungsbedarf umgeht, den sie angeblich selbst erkannt hat, spricht Bände.
Nun hat heute die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
beantragt, das Vorhaben ELENA auszusetzen und die
vorgesehene Datenübermittlung strikt zu begrenzen.
Dem wird die Fraktion Die Linke zustimmen. Aber unsere Forderung geht weiter. Wir wollen ein Moratorium
für alle elektronischen Großprojekte, die datenschutzrelevant sind.
({2})
Wir wollen, dass die Bundesregierung auf den Boden
des Grundgesetzes zurückkehrt. Ein solches Moratorium
müsste ELENA betreffen, ebenso das SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten, auch die elektronische Gesundheitskarte und die Passagierdaten, die auf
Nimmerwiedersehen in die USA verschwinden.
({3})
Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch
eine Rechnung: ELENA soll einen finanziellen Nutzen
von netto 85 Millionen Euro erbringen. Dafür sollen Daten von 40 Millionen Bürgerinnen und Bürgern erfasst
und auf Vorrat gespeichert werden: Daten, die sich
fortan jedweder Kontrolle der Beschäftigten entziehen,
Daten, die, einmal angehäuft, große Begehrlichkeiten
wecken werden, Daten, die laut Grundgesetz einen besonderen Schutz genießen. Für lumpige 2 Euro Gewinn
je Datensatz sollen also verbriefte Bürgerrechte von Millionen Bürgerinnen und Bürgern aufs Spiel gesetzt werden. Wir sehen: ELENA ist ein Stiefkind des Schicksals.
Lassen wir es doch endlich ruhen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/658 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen beim Innenausschuss.
Zunächst stimmen wir deshalb über den Überwei-
sungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab,
Federführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen
Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthal-
tungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist damit abge-
lehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Fe-
derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Wer ist für diesen Vorschlag? - Wer ist dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist dieser Überweisungsvor-
schlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 15 a
bis 15 c:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Europa 2020 - Strategie für ein nachhaltiges
Europa
Gleichklang von sozialer, ökologischer und
wirtschaftlicher Entwicklung
- Drucksache 17/882 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen
- Drucksache 17/902 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Marieluise Beck ({2}), Volker Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU 2020 - Für ein ökologisches und soziales
Europa
- Drucksache 17/898 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erteile
ich das Wort der Kollegin Dr. Eva Högl für die SPDFraktion.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Zu sehr später Stunde diskutieren wir heute Abend über
die Zukunft Europas.
({0})
- Es ist nie zu spät, aber es wäre auch schön, wenn man
dieses Thema zu einer früheren Stunde behandeln
könnte; es wäre es jedenfalls wert.
Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geht
es jetzt um die zentralen Inhalte, um die zentrale Strategie, die Europa in den nächsten zehn Jahren verfolgen
wird. Vor zehn Jahren haben wir uns mit der LissabonStrategie vorgenommen, Europa zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Heute steckt Europa in einer
Wirtschafts- und Finanzkrise, und wir müssen leider feststellen, dass wir die Ziele der Lissabon-Strategie nicht in
vollem Umfang erreicht haben.
Dies hat viele verschiedene Ursachen. Ich nenne drei,
die ich für wesentlich halte:
Erstens. Die Lissabon-Strategie war viel zu unverbindlich. Die Mitgliedstaaten haben sich zwar auf Ziele
verständigt; sie haben aber diese Ziele nicht konsequent
verfolgt. Die jeweilige Politik, die sie betrieben haben
- die einen haben Steuern gesenkt, die anderen haben
Steuern erhöht -, haben sie am Ende mit der LissabonStrategie gerechtfertigt, ohne ein einheitliches Konzept
zu haben.
Zweitens müssen wir feststellen, dass die LissabonStrategie viel zu schwer verständlich und zu umständlich
war und auch aus den Berichtspflichten nicht wirklich
etwas folgte.
Das Dritte, was ich für wesentlich halte - deswegen
hoffe ich, dass möglichst viele diese Debatte verfolgen -,
ist: Auch die Einbeziehung der Öffentlichkeit ist uns
nicht gelungen. Weder waren die Parlamente einbezogen
noch die interessierte Öffentlichkeit noch Wirtschaftsverbände, Sozialpartner oder Zivilgesellschaft.
Wir müssen aus diesen Fehlern lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen fordern wir als SPD
eine neue, eine intelligente Strategie für ein nachhaltiges
und soziales Europa.
({1})
Diese Strategie muss zweierlei leisten: Sie muss helfen,
die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwinden, vor allem aber muss sie Perspektiven für Europa
2020 aufzeigen, und sie muss Antworten geben auf die
Herausforderungen, vor denen wir stehen. Die SPD hat
mit ihrem umfassenden Antrag ein gutes Konzept vorgelegt. Es ist der SPD zu verdanken, dass wir heute Abend
hier - hoffentlich engagiert - über Europas Zukunft diskutieren.
({2})
Was macht die schwarz-gelbe Bundesregierung? Die
schwarz-gelbe Bundesregierung kümmert sich nicht um
das Thema Europa. Sie war von Anfang an nicht engagiert und hat keine eigenen Vorstellungen in die Debatte
eingebracht. Sie reagiert nur. Wenn andere Vorschläge
machen - etwa die Kommission gestern oder vorher die
spanische Ratspräsidentschaft -, werden diese Vorschläge - das können wir beobachten - von der Bundesregierung ablehnt. Es wird immer nur reagiert. Ich
komme zum Ergebnis: Die Bundesregierung hat weder
eine Vision noch eine Strategie. Sie zeigt kein Engagement und keine Verantwortung für Europa.
({3})
Die Bundesregierung verspielt damit - das müssen wir
an dieser Stelle deutlich kritisieren - die einmalige
Chance, dass Deutschland als größter Mitgliedstaat der
Europäischen Union die Entwicklung mitbestimmt.
Wir dagegen legen einen umfassenden Vorschlag mit
einer ganzheitlichen Strategie vor. Ich will ein paar
Punkte herauspicken: Wir wollen zurückkehren zu einem Gleichklang aus wirtschaftlicher Entwicklung,
Wachstum, Beschäftigungspolitik, sozialem Fortschritt
und verantwortungsvoller Umweltpolitik.
Deshalb sagen wir: Eine einseitige Wachstumsstrategie mit einem überkommenen Wachstumsbegriff wird
der Zukunft Europas nicht gerecht. Das ist im Übrigen
ein Punkt, den ich an dem Papier, das die Kommission
vorgelegt hat, kritisiere: dass jetzt nur noch von Wachstum die Rede ist.
Wir wollen eine einheitliche Strategie, das heißt, wir
wollen alle politischen Prozesse verbinden. Wir fordern
auch eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik
mit der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie der
Umweltpolitik.
({4})
Wenn wir hören, dass schon der Vorschlag der Kommission, die Berichte parallel vorzulegen, von der Bundesregierung abgelehnt wird, können wir nur sagen: Das ist
sehr bedauerlich.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung des Sozialen. Wir fordern, dass der Wirtschaftsunion endlich
eine Sozialunion, die diesen Namen verdient, an die
Seite gestellt wird. Bei einer Sozialunion geht es nicht
nur darum, dass Menschen in Beschäftigung kommen.
Wir müssen auch darüber diskutieren, in was für eine
Beschäftigung sie kommen. Es geht um die Qualität der
Arbeitsplätze. Auch das fehlt in dem Papier der Kommission.
Die größte Sorge der Menschen in ganz Europa ist,
dass sie von ihrer Arbeit zunehmend nicht leben können.
Deswegen brauchen wir klare Ziele für Mindestlöhne,
für Entgeltgleichheit von Männern und Frauen, und wir
brauchen klare Ziele bei der Armutsbekämpfung.
({5})
2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Deswegen begrüße ich
es, dass die Kommission vorschlägt, 20 Millionen Menschen aus der Armutsgefährdung herauszuholen, und die
Mitgliedstaaten auffordert, sich gemeinsam dieses Ziel
zu setzen. Es reicht aber nicht, nur diese Erklärung abzugeben. Wir brauchen zur Bekämpfung der Armut konkrete Politik, klare Vorgaben und Maßnahmen.
Ich will an dieser Stelle auch sagen: Es ist unerträglich, wenn Hilfebedürftige beschimpft werden und über
die Dekadenz des antiken Roms schwadroniert wird.
Was wir brauchen, sind mehr Taten in Brüssel, vor allen
Dingen aber mehr Taten in Berlin und eine konsequente
Politik zur Bekämpfung der Armut.
({6})
Eine Bemerkung zur Außendimension. Wenn wir
über die Lissabon-Strategie und über die Nachfolgestrategie EU 2020 diskutieren, diskutieren wir auch darüber,
wie sich Europa in seinen Außenbeziehungen darstellt,
wie wir in der Welt agieren. Das halte ich für einen entscheidenden Punkt. Wir wollen Vorbild sein; aber wir
müssen diesem Anspruch auch gerecht werden.
Deshalb ist es sehr wichtig - wir haben das in unseren
Antrag auch hineingeschrieben -, dass wir uns dem fairen Welthandel verpflichten und vor allen Dingen die soziale Dimension der Globalisierung nicht aus den Augen
verlieren.
Ich will noch ein paar abschließende Bemerkungen
zur sogenannten Governance machen. Ich habe am Anfang gesagt: Die Lissabon-Strategie war auch deshalb
nicht erfolgreich, weil die darin enthaltenen Verfahren
nicht gut waren. - Aus diesen Fehlern müssen wir jetzt
lernen.
Wir brauchen wenige Ziele und kein Wolkenkuckucksheim, also keine Ziele, die nicht erreichbar sind,
sondern realistische Ziele, aber wir brauchen vor allen
Dingen auch - ich habe das eben schon angesprochen mehr Verbindlichkeit in den Zielen. Ich habe es sehr begrüßt, dass die spanische Präsidentschaft gleich zu Beginn des Jahres gesagt hat, dass es ein ganz entscheidender Punkt sein wird, wie verbindlich sich die
Mitgliedstaaten auf Ziele verständigen.
Wir diskutieren hier im Deutschen Bundestag. Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Wir müssen die
Parlamente ernst nehmen. Ich finde es nicht gut, dass
wir, bevor die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat
reist und dort die deutsche Position vertritt, keine Gelegenheit haben, hier im Deutschen Bundestag über die
Position zu diskutieren, die dort vertreten wird. Dadurch
wird das Parlament missachtet.
({7})
Deswegen sollten wir uns darauf verständigen, die Parlamente ernst zu nehmen und auch zu stärken.
Wir haben gute Chancen, eine neue Strategie auf den
Weg zu bringen. Wir haben eine engagierte spanische
Ratspräsidentschaft, und wir haben sogar gute Grundlagen durch die Kommission, auch wenn ich den Vorschlag im Detail kritisiere.
Die SPD zeigt mit ihrem Antrag den Weg auf, wie es
gehen kann, und macht gute Vorschläge. Die Bundesregierung behindert und beteiligt uns nicht. Deswegen
sage ich: Nehmen Sie den Antrag der SPD an, nehmen
Sie das zur Richtschnur für unsere Politik in Europa!
Frau Merkel, nehmen Sie den Deutschen Bundestag
ernster und nehmen Sie Europa ernst!
Herzlichen Dank.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Johann Wadephul das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es besteht in der Tat Anlass, den Oppositionsfraktionen sehr herzlich dafür zu danken, dass wir, einen
Tag nachdem sich die Kommission geäußert hat, Gelegenheit haben, über die Strategie EU 2020 hier im Plenum des Deutschen Bundestages miteinander zu diskutieren.
Nach den vorliegenden Anträgen und auch nach Ihren
Einlassungen, Frau Kollegin Högl, gibt es jedoch keinen
Anlass, über das, was die Opposition vorschlägt, hier positiv zu diskutieren.
Ich stelle erstens fest, dass es durchaus bisher schon
die Gelegenheit gegeben hat, mit der Bundesregierung
über ihre Meinung zu EU 2020 zu sprechen.
({0})
Der Herr Staatssekretär Hintze ist im Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union gewesen. Bemerkenswert ist Ihre Schweigsamkeit dort gewesen. Sie
haben nur wenige Fragen gestellt.
({1})
Sie haben sich an der Diskussion im Ausschuss nicht beteiligt. Sich trotzdem hier im Plenum hinzustellen und zu
sagen, es gebe keine Gelegenheit, mit der Bundesregierung zu reden, ist schlichtweg unlauter; das muss ich zurückweisen.
({2})
Zweitens. Dass Sie sich hier hinstellen und nun der
christlich-liberalen Bundesregierung vorwerfen, dass sie
auf europäischer Ebene zu wenige Impulse gegeben hat,
finde ich in der Tat bemerkenswert.
Die Europäische Union hat nun wirklich gerade unter
der Achsenpolitik Gerhard Schröders zu leiden gehabt.
Die Europäische Union wäre nicht da, wo sie jetzt ist,
wenn Helmut Kohl die Europäische Union und den europäischen Gedanken in den 80er-Jahren, in einer Phase
der Lethargie, nicht wieder nach vorne gebracht hätte,
wenn er nicht den Euro gemeinsam mit Theo Waigel gegen viele Widerstände von links durchgesetzt hätte und
wenn Angela Merkel nicht diejenige gewesen wäre, die
durch viele Gespräche auf europäischer Ebene dafür gesorgt hat, dass der Lissabon-Vertrag letzten Endes Wirklichkeit geworden ist.
({3})
Der Motor Europas sitzt also hier in der Koalition,
und die christlich-liberale Regierung setzt ihre Europapolitik jetzt ganz im Sinne von Helmut Kohl fort. Dessen
sollten Sie sich besinnen.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäfer?
Ja, gerne.
Herr Kollege Dr. Wadephul, sind Sie mit mir bei all
dem, was uns als Demokraten verbindet, der Meinung
({0})
- hören Sie erst einmal zu -, dass die einzige Achse in
der Politik des 20. Jahrhunderts die Achse Rom-BerlinTokio war, Dr. Johann Wadephul ({1}):
Na ja.
- dass es die zentrale Absicht der Achse gewesen ist,
Krieg zu führen, und dass insbesondere die Zusammenarbeit von Gerhard Schröder mit dem französischen Präsidenten dazu geführt hat, dass sich die Europäische
Union weitestgehend nicht an diesem illegalen Irakkrieg
beteiligt hat?
({0})
Herr Kollege Schäfer, der zweite Teil Ihrer Frage
zeigt mir, dass Sie es richtig verstanden haben: Es gehört
zu den Grundprinzipien deutscher Politik nach dem
Zweiten Weltkrieg, ein ausgezeichnetes Verhältnis zu
Frankreich zu haben. Das ist auch Politik der jetzigen
Regierung. Es war allerdings ein zentraler europapolitischer Fehler der Regierung Schröder, die europäische
Politik unter Vernachlässigung kleiner Partner nur auf
diesen einen großen Partner zu verengen.
({0})
Ich halte an dieser Kritik fest.
Es war Balsam für die Seelen vieler kleinerer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Außenminister Guido Westerwelle gleich zu Beginn nicht nur Polen,
sondern auch die Niederlande besucht hat und somit ein
Zeichen für die kleinen Länder gesetzt hat. Deutschland
ist gut beraten, kleinere Staaten mit einzubeziehen und
nicht auf jene Art Politik zu machen, wie es Gerhard
Schröder fälschlicherweise getan hat.
({1})
Herr Kollege Schäfer, ich würde gerne auf das Thema
unserer Diskussion zurückkommen. In der Tat ist es
vollkommen richtig, dass wir anfangen müssen, eine kritische Analyse und Auswertung der Lissabon-Strategie
vorzunehmen; da sind wir uns einig. Dennoch bin ich
der Meinung, dass wir nicht über der Strategie und all
dem, was gemacht wurde, den Stab brechen sollten.
Natürlich sind viele Ziele, die man sich gesetzt hat,
nicht erreicht worden, etwa in Bezug auf die Beschäftigungsquote, die Steigerung der Investitionen und das
Wirtschaftswachstum. Daraus sollten wir aber die richtigen Lehren ziehen. Wenn wir auf der Welt Einfluss haben und unsere Bürgerinnen und Bürger weiterhin für
die europäische Idee begeistern wollen, sollten wir
durchaus daran festhalten, Europa zu einer Region des
Wohlstandes, der maximalen Beschäftigung und der Vermeidung von Armut zu machen, in der es optimale Bildung für alle unabhängig von der Herkunft gibt. Das
sind im Kern richtige Ziele, die nicht ganz erreicht wurden. Wir sollten diesen Weg weitergehen.
({2})
Ich möchte zu dem, was Sie jetzt hier vorschlagen,
konkret sagen: Wenn wir feststellen, dass wir zu euphorisch waren, muss man die Anstrengungen in der Tat maximieren und sehen, was man mehr tun kann. Frau Kollegin Högl, es hilft nur nichts, sich jetzt - wenn ich Sie
richtig verstanden habe - noch höhere Ziele zu setzen
({3})
und noch detaillierter aufzuschreiben, was man machen
will. So steht beispielsweise im Barroso-Papier, dass
man die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen
von 69 auf 75 Prozent steigern will usw. Ich glaube, man
sollte sich hier nicht zu sehr auf Zahlen fixieren und
nicht meinen, dass man hier mit arithmetischer Exaktheit
vorgehen kann. Vielmehr müssen wir lernen, dass zu euphorische und detaillierte Ziele nicht geholfen haben; am
Ende bringen sie mehr Frust als Belebung in die Debatte.
({4})
Auch aus Sicht meiner Fraktion bleibt richtig, dass
wir im Bildungsbereich vorangehen. Hier geht die Bundesregierung voran: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat
die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen und zum
Glück alle Länder dazu überreden können, mitzuwirken.
({5})
Es ist eine zentrale Frage für den Wohlstand in Europa,
dass wir im Bildungsbereich alle Schätze heben, die unser Land bietet. Deswegen müssen wir hier eindeutig vorangehen.
Ein zweiter, etwas neuerer Schwerpunkt: Energie und
Klimawandel. Ich glaube, nach der Kopenhagener Konferenz hat jeder gemerkt, dass hier auch innerhalb Europas einige Anstrengungen nötig sind. Bundesumweltminister Norbert Röttgen ist hier gemeinsam mit der
gesamten Bundesregierung Schrittmacher; Europa ist
hier Schrittmacher in der Welt. Wir müssen beim Thema
Klimaschutz vorangehen; das muss auch unsere Energiepolitik in Deutschland bestimmen. Der Weg ist richtig;
wir sollten ihn weitergehen.
({6})
In anderen Bereichen müssen wir lernen und nicht
glauben, dass allein wir in Deutschland immer die richtigen Rezepte haben.
Wenn Sie etwas verengend meinen, die gesamte deutsche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müsse in ganz Europa übernommen werden, dann ist das, glaube ich, der
falsche Ansatz. Nicht alles, was wir machen, ist das Optimum; auch andere haben Modelle, die richtig sind. Das
Flexicurity-Konzept, das aus dem skandinavischen
Raum kommt und von der Europäischen Union übernommen wurde und sowohl Sicherheit als auch Flexibilität am Arbeitsmarkt bedeutet, ist ein Modell, das Zukunft hat. Dieses Konzept sollten wir auch in
Deutschland offener miteinander diskutieren. Dafür sollten Sie vielleicht einigen ideologischen Ballast abwerfen. Hier ist mehr Flexibilität im Denken verankert als in
dem, was seit 20 oder 30 Jahren in Ihrem Parteiprogramm steht. Es bringt optimale Beschäftigungschancen
für die Menschen. Ich glaube, das ist der entscheidende
Punkt.
({7})
Wenn wir über die Anträge diskutieren, muss man
auch in aller Kürze auf das eingehen, was die Linkspartei vorgelegt hat. Den Eindruck zu erwecken, als wäre
gerade Europa im Vergleich zu Asien, zu den Zuständen
auf dem indischen Subkontinent oder in China, oder
auch zu den USA sozusagen ein Kontinent der sozialen
Ausgrenzung, ist geradezu ungeheuerlich. Mehr soziale
Rechte als in Europa gibt es eigentlich nirgendwo.
Wenn Sie mit Ihrem Antrag beabsichtigen, dass man
nur noch dann weiterverhandeln kann, wenn man Ihre
Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnimmt,
dann zeigt das, dass Sie Europa letztlich lähmen wollen.
Sie sind immer noch nicht in Europa angekommen.
Das ist eine traurige Bilanz, die wir heute ziehen. Ich
hoffe, dass das Haus insgesamt das anders sieht, und
freue mich noch auf zahlreiche Diskussionen zum Konzept Europa 2020.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, wir können feststellen - das haben auch die
Vorredner mehr oder weniger bestätigt -, dass die Lissabon-Strategie gescheitert ist. Vom wettbewerbsfähigsten
Wirtschaftsraum können wir, glaube ich, nicht reden.
Das Ziel von 3 Prozent Wachstum, das ursprünglich verfolgt wurde, wurde nur in zwei von den zehn Jahren
knapp erreicht. 2009 schrumpfte die Wirtschaft um
4 Prozent, wie wir wissen.
Die Beschäftigungsquote ist zwar um 4 Prozentpunkte gestiegen, die Arbeitslosigkeit liegt aber bei
9,5 Prozent, und - das ist das Traurige daran - die Qualität der Arbeitsplätze lässt sich an der stetigen Zunahme
der Zahl der Armutslöhner ablesen. Bereits vor der Krise
waren es 8 Prozent der Erwerbstätigen in Europa.
Ein größerer sozialer Zusammenhalt - das hat sogar
der Kollege von der Union gesagt - ist, glaube ich, nicht
vorhanden. Wenn Sie Europa als Vorreiter bezeichnen,
dann sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass 80 Millionen
Menschen in Europa und damit fast 20 Prozent von Armut bedroht sind. Das muss bekämpft werden, aber
nicht, indem man darauf verweist, dass es in anderen
Kontinenten der Welt noch schlimmer ist.
Die soziale Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Bei den Themen Bildung, Forschung und Entwicklung müssen wir feststellen, dass die
Investitionen in dem Bereich weit hinter Japan und den
USA liegen. Auch hier sind die Ziele deutlich verfehlt
worden.
Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist aber
nicht die Wirtschafts- und Finanzkrise, wie es manche
darstellen wollen. Schon zuvor hatte die EU miserable
Beschäftigungszahlen und hohe Armutsrisiken.
Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist
auch nicht, dass die Lissabon-Strategie nicht umgesetzt
oder ambitioniert genug erarbeitet wurde, wie die Kommission und auch Sie nicht müde werden, zu behaupten.
Ursache für die völlige Verfehlung der Ziele ist, dass die
Strategie umgesetzt wurde.
Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert und die Sozialsysteme, wie man so schön sagt, modernisiert, in
Deutschland unter dem schönen Namen Agenda 2010
und Hartz IV. Das war die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie.
Insofern ist das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben,
liebe Frau Högl, vielleicht auch ein bisschen Vergangenheitsbewältigung. Denn dass wir in Europa diese Ziele
verfehlt haben, war auch dem geschuldet, dass man in
Deutschland Vorreiter für Sozialabbau, Dumpinglöhne
und Steuerdumping auf breiter Flur war. Sie haben damit
in Europa ein schlechtes Zeichen gesetzt. Denn das, was
Sie heute selbst darlegen, ist Ergebnis Ihrer eigenen
Politik unter Rot-Grün oder danach unter Schwarz-Rot.
({0})
Gemeinsam mit einem weiteren Kernstück der Strategie, der Liberalisierung der Finanzmärkte, hat dies wesentlich dazu beigetragen, den Boden für die schwerste
Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren zu bereiten. Hier muss man noch einmal deutlich sagen: Europa und Deutschland sind nicht Opfer der Finanzkrise,
sondern aufgrund ihrer Politik Mitverursacher der Finanzkrise.
Eine Strategie, mit der man genau das Gegenteil dessen erreicht hat, was man sich davon versprochen hat,
muss grundlegend überarbeitet werden. Eigentlich brauchen wir jetzt keine Neuauflage Europa 2020, sondern
mehr Zeit, um zu analysieren. Auch die Vorredner haben
deutlich gemacht, dass man diesen Weg nicht weitergehen kann. Denn steigende Wettbewerbsfähigkeit führt
nicht automatisch zu Nachhaltigkeit, sozialem Fortschritt und guter Arbeit.
Im Gegenteil, oftmals werden genau diese auf dem
Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert. Das Gleiche
gilt für das Wachstumsziel. Wachstum, das auf Lohndumping und Sozialabbau beruht, verschlechtert die Lebensqualität der Mehrheit der Menschen und verringert
den sozialen Zusammenhalt in der Europäischen Union.
Diese Dimensionen sind nicht gleichrangig. Dies ist
schon in der Konstruktion der EU, in deren Zentrum der
Binnenmarkt steht, so angelegt.
Jetzt zu dem Thema, das Sie bereits angesprochen haben: zur sozialen Fortschrittsklausel. Der Europäische
Gerichtshof hat deutlich gemacht, dass Binnenmarktfreiheiten höher zu bewerten sind als soziale Grundrechte.
Für einen Ausgleich kann man nur sorgen, wenn man bei
den Vertragsveränderungen auch über den sozialen Fortschritt diskutiert. Genau darauf zielt unser Antrag. Wenn
es um den EU-Beitritt von Island geht, muss dieser Aspekt in den Verhandlungen thematisiert werden. Ansonsten wird dieses Ziel nie erreichbar sein.
({1})
Zum Schluss. Ich denke, ein soziales Europa ist nicht
mit den Zielen vereinbar, für die alle anderen vier Fraktionen in diesem Hause im letzten Jahrzehnt leider standen. Sie sind Mitverursacher des Europas, das wir heute
haben, das immer mehr auseinanderfällt und das große
Probleme hat. Deshalb kann ich den anderen vier Fraktionen in den weiteren Debatten nur zurufen: Europa ist
kein Selbstbedienungsladen für die Wirtschaft. Ein Europa für die Menschen gelingt nur gemeinsam.
Vielen Dank.
({2})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin
Gabriele Molitor.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
spät, aber nicht zu spät, als dass man nicht noch wach
genug sein könnte, um Sie, Frau Dr. Högl, zu fragen, wo
Sie von der SPD mit Ihrem Außenminister eigentlich die
letzten elf Jahre gewesen sind. Sie hätten alle Möglichkeiten gehabt, die Europapolitik auf die Erfolgsspur zu
führen.
({0})
Ich möchte einen Aspekt in die Diskussion einbringen, der mir bei der Zeitungslektüre aufgefallen ist:
Wenn Europa gegenüber den Vereinigten Staaten und
China eine globale Kraft werden will, dann muss es aufhören, sich wie eine Sammlung von reichen einzelnen
Staaten zu verhalten, und beginnen, für seine Ziele zu
kämpfen. - Mit diesem Satz beginnt ein Artikel der
Märzausgabe des Time Magazine. Ich fand diesen Satz
sehr interessant, weil er die bei uns geführte Europadebatte aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachtet.
Im März 2000 steckten sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat in Lissabon das Ziel,
die Europäische Union bis zum Jahr 2010 durch umfangreiche Reformen zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu
machen. Die Lissabon-Strategie bildet seither den Rahmen für die Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Umweltpolitik der Europäischen Union. Die ursprüngliche Strategie nahm jedoch im Laufe der Zeit eine so komplexe
Struktur an, dass sie nur in einigen Bereichen zum Erfolg führte. Auch die Wirtschaftskrise hat die LissabonStrategie beeinflusst. Es fehlten die notwendigen Instrumente, um die Krise von Anfang an bekämpfen zu können. Besonders krisenverschärfend wirkte sich die mangelnde Aufsicht der Finanzmärkte auf EU-Ebene aus. In
diesem Bereich wurden die Hausaufgaben bis heute
nicht gemacht.
({1})
Die Gründe für dieses enttäuschende Ergebnis sind
offensichtlich. Es gab auf EU-Ebene zu viele Einzelziele, und die unterschiedlichen Ausgangspositionen der
Mitgliedstaaten wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Mit den heute von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Anträgen zur neuen Wachstumsstrategie Europa 2020 laufen wir Gefahr, genau denselben Fehler
zu wiederholen. Die hier aufgestellten Forderungen sind
zu umfangreich, zu wenig zielgenau. Es ist falsch, die
neue Agenda mit Regelungs- und Reformansprüchen für
jeden denkbaren Bereich zu überfrachten. Auch der Ruf
nach Füllhörnern mit sozialen Wohltaten und Forderungen nach einer sozialen Fortschrittsklausel würden die
Zukunftsschancen der Europäischen Union schmälern.
({2})
Der Grundsatz der Balance zwischen Erwirtschaften und
Verteilen gilt nicht nur im Inland, sondern auch auf europäischer Ebene.
Vielmehr müssen wir der neuen Strategie die richtigen Prioritäten geben. Als Lehre aus der Wirtschaftskrise müssen die EU-Mitglieder noch intensiver zusammenarbeiten und Mechanismen entwickeln, die zeigen,
dass jeder Krise auch Chancen zur Veränderung innewohnen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, neue
Wachstumsquellen zu erschließen, um krisenbedingte
Arbeitsplatzverluste wettzumachen. Wissensbasiertes
Wachstum, die aktive Teilhabe an integrativen Gesellschaften und Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige und vernetzte Wirtschaft müssen im Vordergrund
stehen. Hinzu kommt die Förderung internationaler Kooperationen mit fairen und geregelten internationalen
Handels- und Finanzsystemen. All diese neuen Maßnahmen müssen sowohl zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen als auch leistungsfähige Arbeitsmärkte gewährleisten. Wir müssen uns die Globalisierung und die
wechselseitige Abhängigkeit zunutze machen. Kein Mitgliedstaat allein kann hier erfolgreich sein.
Die EU-Kommission hat gestern ihr Konzept für eine
Nachfolgestrategie der Lissabon-Strategie vorgestellt. Das
Arbeitspapier enthält ehrgeizige Formulierungen zur
Ausgestaltung einer nachhaltigen europäischen Marktwirtschaft. Wir Liberale begrüßen diese Überlegungen.
Allerdings fehlt auch diesem Papier die notwendige Fokussierung auf wichtige Kernbereiche. Damit läuft das
Konzept Gefahr, ähnlich wie die Lissabon-Strategie zuvor, zu viel auf einmal zu wollen und am Ende mit leeren
Händen dazustehen.
Im Einklang mit der Arbeits- und Sozialministerkonferenz warne ich die Kommission davor, erneut Versuche zu unternehmen, die arbeitsrechtlichen Vorschriften
der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen
Gegebenheiten und im Hinblick auf die Wahrung der
Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit darf es hier keine
Vereinheitlichung geben.
({3})
Stattdessen sollte sich die Kommission auf die Förderung von nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung
konzentrieren. So haben wir es in der Koalitionsvereinbarung festgehalten. Das hat die Arbeits- und Sozialministerkonferenz bekräftigt. So wird es auch von vielen
anderen Mitgliedstaaten gesehen. Wir können die in dem
Entwurf formulierten Ziele nur dann unterstützen, wenn
sie die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen
gewährleisten; denn nur mit wettbewerbsfähigen und erfolgreichen Unternehmen können wir das Niveau unserer Beschäftigungs- und Sozialmodelle aufrechterhalten. Die globalisierte Wirtschaft verdeutlicht uns jeden
Tag aufs Neue, dass wir nur durch ständige Weiterentwicklung Wachstum und Wohlstand erreichen können.
Ein Arbeitsplatz ist nun einmal der beste Schutz gegen Armut und Ausgrenzung. Zusätzlich brauchen wir
moderne und finanzierbare Sozialsysteme, die krisenfest
sind und der Alterung der europäischen Bevölkerung
Rechnung tragen. Dabei muss klar sein, dass ein Sozialstaat, der Armut bekämpfen will, auch das Prinzip des
Forderns und Förderns berücksichtigen muss. Es muss
uns um die Qualität und nicht um die Benennung möglichst vieler Themengebiete gehen. Nur auf diese Weise
wird Europa eine wichtige Rolle in der globalisierten
Welt des 21. Jahrhunderts spielen.
Vielen Dank.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich
das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
muss in meiner kurzen Redezeit eines klarstellen: Es gibt
einen grundlegenden Unterschied zwischen den Fraktionen der FDP und der CDU/CSU und zwischen uns. Sie
wollen gar kein soziales Europa.
({0})
Es steht im Koalitionsvertrag ausdrücklich, dass Sie kein
soziales Europa wollen. Da helfen auch Schönwetterreden nicht. Sie, Frau Molitor, sprechen davon, dass wir
eine engere Zusammenarbeit brauchen. Das finde ich
gut.
Wir hatten in der letzten Woche eine tolle Ausschusssitzung. In dieser Sitzung habe ich das Auswärtige Amt
gefragt, ob die Handschrift der Bundesregierung in der
Mitteilung der Kommission zu erkennen ist. Der kompetente Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hat daraufhin
gesagt, er könne beim besten Willen nicht wissen, was in
der Kommissionsmitteilung enthalten sei. Zwei Tage
später und noch vor der Veröffentlichung erfahren wir
von einem Brief, den die Bundeskanzlerin Merkel an
Barroso geschrieben hat, in dem sie davon spricht, die
engere Koordinierung, die vorhin Frau Molitor angesprochen hat, gehe nicht und sei mit ihr nicht abgesprochen gewesen. Da frage ich mich wirklich, ob Sie das,
was Sie uns hier erzählen, selber glauben.
({1})
Mit Blick auf die Strategie EU 2020 - ich verweise
da auf unseren Antrag - müssen wir das Versprechen für
ein sozialeres Europa tatsächlich ernst nehmen und dürfen nicht mit leeren Worthülsen reagieren. Die Grundrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden,
indem beispielsweise das Grundrecht auf Freizügigkeit
für einen einfachen Arbeitnehmer plötzlich durch irgendeine Sozialklausel beschränkt werden soll. Es darf
auch keine Einschränkungen bei den anderen Grundrechten aus der Grundrechtscharta geben. Wir brauchen
tatsächlich konkrete Aussagen und konkrete Handlungen, die wir und auch die SPD beschrieben haben.
({2})
Wenn wir wissen wollen, was die Handschrift der
Bundesregierung ist, dann schauen wir doch einmal in
die Zeitung, wie Frau Molitor es getan hat. Es wird von
Madame No gesprochen. Die Financial Times
Deutschland schreibt, es bestehe die Gefahr, dass
Deutschland die Debatte erstickt. Das ist der Eindruck,
der von der Bundesregierung nach Europa transportiert
wird. Sie haben nur eine Handschrift: Sie dementieren,
Sie diskutieren nicht, sondern Sie ducken sich weg. Am
Ende versuchen Sie nur noch, zu verhindern, und sagen:
Ich finde das doof. - Das ist kein europäischer Stil, wie
er sich gehört. Sie bringen sich nicht proaktiv ein.
({3})
Wir führen seit einigen Monaten die Debatte über dieses Vorhaben der EU. Es gab dazu auch eine Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums. Ich muss sagen,
eine solche dünne Stellungnahme habe ich selten gelesen. Die Stellungnahme des Bundesrates hatte deutlich
mehr Inhalt.
Die Konsultationsfrist wurde von Ihnen verschnarcht.
Auf unsere Bitte, diese Frist etwas großzügiger zu gestalten und sich dafür bei Herrn Barroso einzusetzen, damit die Parlamente beteiligt werden können, hat Frau
Merkel antworten lassen, das verstehe sie schon, aber es
gehe leider nicht. Jetzt heißt es plötzlich, was die Kommission vorschlägt, gehe nicht, weil man die nationalen
Parlamente einbinden müsse. Entscheiden Sie sich einmal! Sie wollen doch nur verhindern, dass endlich nach
vorne gegangen wird.
Wir sagen nicht, dass uns das, was die Kommission
aufschreibt, genug ist. Natürlich muss man Nachhaltigkeit viel genauer definieren. Natürlich muss Artenvielfalt viel ausführlicher besprochen werden. Natürlich
muss das soziale Europa konkreter ausgestaltet werden.
Natürlich müssen Sie energischer an Themen wie Klimaschutz und erneuerbare Energien herangehen. Aber
eines kann ich Ihnen sagen: Wer sich in Europa nicht
proaktiv mit Gestaltungswillen einbringt, sondern nur
mit bösen Briefen, der agiert nicht im Sinne einer stärkeren Integration und im Sinne einer Lösung der Probleme,
die wir jetzt haben. Er agiert letztendlich nicht europäisch.
({4})
Ich kann ja verstehen, dass sich die Bundesregierung
im Rat manchmal wie auf einer Insel fühlt. Aber wer bei
der derzeitigen Debatte gleichzeitig sagt, man solle die
Berichte zur EU 2020 und zum Stabilitätspakt nicht gemeinsam - im Sinne von zeitgleich - evaluieren, der hat
nicht die grundlegenden Lehren aus der Krise von Griechenland gezogen.
Die EU-2020-Strategie wird wesentliche Weichenstellungen vornehmen. Sie ist dabei noch nicht so konkret, dass man sie nicht weiter gestalten könnte. Ich habe
leider nicht die Hoffnung, dass Sie sie positiv gestalten
werden. Ihnen bleibt nur ein Ausweg: Nehmen Sie den
Antrag der Grünen und meinetwegen auch den Antrag
der SPD an.
Herzlichen Dank.
({5})
Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Als neu gewählter Abgeordneter sehe ich
viele politische Entscheidungen noch stark mit den Augen der Bürgerinnen und Bürger. Und das ist gut so.
({0})
Mit diesen Augen habe ich gestern die von der Kommission beschlossene Mitteilung zur neuen Wachstumsstrategie Europa 2020 gelesen. Diese neue Strategie
soll die gescheiterte Lissabon-Strategie aus dem Jahre
2002 ablösen. Sie war damals von Rot-Grün verhandelt
worden, als Rot-Grün noch Regierungsverantwortung in
Deutschland trug. Herr Sarrazin, ich glaube, ein Grüner
war damals Außenminister.
({1})
Damals hieß es: Wir wollen innerhalb der nächsten
zehn Jahre zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden.
Das war ein hochgestecktes und ehrgeiziges Ziel, bei
dem sich viele Menschen gefragt haben, ob und wie das
zu erreichen ist.
Was ist eigentlich die Kernaufgabe der Europäischen
Union, und was soll die Europäische Union leisten? Wir alle, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten verhindern, dass wir uns in Europa noch einmal solche realitätsfernen Ziele setzen. Europa muss
bürgernäher werden; das ist das Hauptziel in den nächsten Jahren.
({2})
Das erreichen wir jedoch nicht mit Zielen, die fernab
jeder Realität sind. Damit machen wir uns unglaubwürdig und erweisen dem europäischen Gedanken einen Bärendienst. Lassen Sie mich kurz in drei Punkten erläutern, was ich von der Europäischen Union erwarte.
Erstens. Konzentration auf Kernziele. Die Europäische Union soll sich auf ihre Kernziele konzentrieren.
Sie soll das machen, was wir nicht mindestens genauso
gut oder gar besser in den Mitgliedstaaten erreichen können. Hierzu gehört, vernünftige Rahmenbedingungen für
wirtschaftliches Wachstum in der gesamten Europäischen Union zu schaffen und internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen.
({3})
Das heißt aber auch, dass wir keine Sozialpolitik aus
Brüssel wollen und brauchen, wie die Damen und Herren von der Opposition sie gerne sehen würden.
({4})
Zweitens. Bürgernähe und Glaubwürdigkeit. Bei der
Erreichung dieser Ziele müssen wir darauf achten, dass
wir nicht an den Bürgerinnen und Bürgern vorbei entscheiden. Unsere Ziele müssen nachvollziehbar und
realistisch sein, und die Mehrheit der Menschen muss
sich damit identifizieren können. Häufig können sie das
nicht. Ich kann daher auch den Europaverdruss gut verstehen. Die Menschen haben es satt, sich von der Europäischen Union ihre Lebensführung vorschreiben zu las2482
sen. Das fängt beim Glühbirnenverbot an und hört bei
der Festlegung des Salzgehaltes auf der Brezen oder im
Brot auf.
({5})
Wir können Europa nur weiterentwickeln, wenn wir die
Menschen mitnehmen.
Drittens. Bessere Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und mehr Geschlossenheit. Wir brauchen in Europa
eine bessere Abstimmung der Institutionen mit den Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission kocht noch
viel zu häufig ihr eigenes Süppchen, ohne Rücksicht auf
die Interessen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die Europäische Kommission kein gewähltes Gremium, sondern ein
Beamtenapparat ist.
({6})
Wir wollen eine leistungsfähige und selbstbewusste
Europäische Union, die mit einer Stimme spricht und
entschlossen für die Sicherung von Frieden, Freiheit und
Wohlstand eintritt. Nur durch ein einiges Europa können
wir unsere Werte und Interessen erfolgreich in der Welt
vertreten.
Werden mit dem Kommissionsvorschlag zur Strategie
2020 die Erwartungen erfüllt? - Wenn ich mir das Papier
der EU-Kommission von gestern ansehe, kommen mir
erhebliche Zweifel, ob meine und unsere Erwartungen
erfüllt werden und ob die Kommission ihre Lehren aus
der gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen hat. Zwar
sehe ich auch gute Ansätze. Das gilt vor allem für die
Akzente, die die Kommission mit der Strategie 2020 setzen möchte. Eine wissens- und innovationsbasierte, eine
nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft, die die
natürlichen Ressourcen schont, sowie eine hohe Beschäftigungsquote und sozialer Zusammenhalt: Dies alles sind Punkte, die ich selbstverständlich teile und mit
mir sicherlich auch viele andere Menschen in unserem
Land.
Problematisch wird es allerdings bei den konkret beschriebenen Zielen. Die Kommission nennt sechs Kernziele, die bis 2020 erreicht sein sollen, und sie verbindet
diese Kernziele mit konkreten Zahlen.
Erstens. Die Erhöhung der Beschäftigungsquote auf
75 Prozent. Die Beschäftigungsquote für die 20- bis 64-Jährigen soll bis 2020 auf 75 Prozent steigen. Dieses Ziel ist
- wenn auch mit anderen Zahlen - bereits aus der Lissabon-Strategie bekannt.
Angesichts der aktuellen Beschäftigungsquote von
69 Prozent kann man mit diesen Zielen durchaus leben.
Ich will dennoch betonen, dass der Einfluss der Politik
auf die Erreichung dieses Ziels begrenzt ist. Nicht die
Politik schafft Arbeitsplätze, sondern die Wirtschaft.
({7})
Wir können lediglich die Rahmenbedingungen setzen.
Zweitens: 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für
Forschung und Entwicklung. Die Regierungen sollen
2020 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung
investieren. Dieses Ziel ist ebenfalls nicht neu. Auch hier
hat der Staat nur begrenzten Einfluss. Zudem möchte ich
darauf hinweisen, dass seit der gleichlautenden Vorgabe
der Lissabon-Strategie vor zehn Jahren die Investitionen
in Forschung und Entwicklung der 27 Mitgliedstaaten
nicht einmal gestiegen, sondern sogar leicht zurückgegangen sind. Zum Vergleich: 1,86 Prozent waren es im
Jahr 2001, 1,85 Prozent im Jahr 2007. Vor diesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, wie realistisch es ist,
in weiteren zehn Jahren eine Steigerung auf 3 Prozent zu
schaffen.
Drittens: Umsetzung der 20-20-20-Umweltziele. Im
Interesse des Klimaschutzes und der Schonung der natürlichen Ressourcen sollen die Klima- und Energieziele
bis 2020 erreicht werden, das heißt 20 Prozent CO2-Reduzierung, ausgehend vom Niveau 1990; Steigerung des
Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent; Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent. Diese Ziele
sind nicht neu. Damit übernimmt die EU weltweit eine
Vorreiterrolle, und deshalb sollten wir als Deutsche auch
hinter diesen Zielen stehen. Dies gilt erst recht vor dem
Hintergrund, dass unsere eigenen Ziele sogar höher angesetzt sind und wir diese Ziele auch erreichen wollen
und auch erreichen werden.
Viertens: Bildung, konkret: Erhöhung der Hochschulabsolventenquote. Im Bereich der Bildung ist vorgesehen, die Schulabbrecherquote von derzeit 15 Prozent auf
10 Prozent zu reduzieren. Außerdem sollen 40 Prozent
der 30- bis 34-Jährigen im Jahr 2020 ein abgeschlossenes Hochschulstudium haben. Hierzu kann ich nur sagen: Wer so etwas beschließt, hat keine Ahnung vom
deutschen Bildungssystem.
({8})
Zum einen ist Bildung in Deutschland Ländersache. Das
heißt, Brüssel kann und darf nicht über die Köpfe der
Länder hinweg entscheiden.
({9})
- Jawohl.
({10})
Zum anderen - dies ist noch viel wichtiger -: Diese
Zielvorgabe lässt eine große Errungenschaft Deutschlands vollkommen außer Betracht - unser duales Bildungssystem. Wir brauchen in Deutschland nicht nur
Hochschulabsolventen, sondern vor allem qualifizierte
Facharbeiter. Es kann nicht sein, dass wir mehr Architekturstudenten als Maurerlehrlinge haben. Eine solche
Zielvorgabe wird unsere Zustimmung sicherlich nicht
erhalten.
Fünftens: Armutsreduzierung. Letztes Kernziel der
Kommission ist, dass 20 Millionen Menschen, die zurzeit unterhalb der Armutsgrenze leben, aus der Armut
befreit werden.
({11})
Ich frage mich, wer die Erreichung dieses sozialistischen
Zieles steuern will. Die Armutsgrenze orientiert sich am
Durchschnittseinkommen der Europäischen Union, und
die verschiebt sich bekanntlich hin und wieder. Kaufen
zum Beispiel europäische Fußballklubs wieder ein paar
teure brasilianische Spieler, so steigt das Durchschnittseinkommen in der Europäischen Union, und schon fallen
wieder ein paar Menschen unter die Armutsgrenze, obwohl sich ihr Einkommen nicht verändert. Umgekehrt
kann das Ziel schon dadurch erreicht werden, dass die
Einkommen oberhalb des EU-Durchschnittswertes sinken. Damit sinkt auch der Gesamtdurchschnitt. Die Situation der in der Armut lebenden Menschen hat sich damit nicht verbessert.
Sechstens. Europa braucht - das ist das wichtigste
Ziel - einen Bürokratieabbau. Das ist vor allem für unsere Wirtschaft wichtig.
({12})
Lassen Sie mich abschließend noch auf den einen
oder anderen Aspekt der Mitteilung der EU-Kommission
eingehen, der mir persönlich sehr am Herzen liegt. Die
Europäische Kommission ist in dieser Mitteilung der
Versuchung erlegen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt
aufzuweichen. Dieser Pakt ist eine Errungenschaft
Deutschlands für die gesamte Europäische Union. Die
unbedingte Einhaltung der Stabilitätskriterien verdanken
wir unserem ehemaligen Finanzminister Dr. Theo
Waigel, Mitglied der Regierung von Helmut Kohl. Er
hat damit ein maßgebendes Instrument für eine starke
D-Mark auf den Euro übertragen. Damit sind wir gut gefahren, und das werden wir in Europa trotz aller Krisen
auch weiter tun. Die EU-Kommission will nun ihre wirtschaftspolitischen Ziele mit den Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verknüpfen, wie dies von
verschiedenen Akteuren der Europäischen Union schon
seit langem mehr oder weniger offen gefordert wird.
Hiergegen lege ich ein klares Veto ein.
({13})
Ich habe mich daher gefreut, dass unsere Bundeskanzlerin gegenüber dem Kommissionspräsidenten bereits klar
zum Ausdruck gebracht hat, dass sie hierzu keine Zustimmung geben wird.
Herr Kollege, ich muss jetzt wirklich auf die Redezeit
achten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen,
es besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf.
({0})
Den Anträgen der Fraktionen der SPD, der Grünen
und der Linken kann ich nicht zustimmen. Sich so zu
verhalten, empfehle ich auch den Mitgliedern unserer
Koalitionsfraktionen, vor allem vor dem Hintergrund,
dass ich nicht will, dass in Brüssel Sozialpolitik gemacht
wird.
({1})
Das wollen wir alle nicht und brauchen wir vor allem
nicht. Der Regierung kann ich für die Verhandlungen in
Brüssel nur auf den Weg geben: keine überstürzten Beschlüsse, keine unrealistischen Ziele und keine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.
Ich habe jetzt ein bisschen überzogen, aber es ist ja
die letzte Rede.
({2})
Ich sage einen herzlichen Dank und wünsche einen
angenehmen Abend.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen, dass ich
nicht immer so großzügig bei der Bemessung der Redezeit bin.
({0})
Kollege Holmeier hat seine erste Rede hier gehalten, und
es ist gleichzeitig die letzte Rede in der heutigen Debatte.
({1})
Deshalb bitte ich, die Großzügigkeit einfach so zu akzeptieren und nicht davon auszugehen, dass sich dieses
häufig wiederholt.
Ihnen, lieber Kollege Holmeier, darf ich also herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere
Arbeit.
({2})
Nun schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/882, 17/902 und 17/898 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt noch zu einigen Abstimmungen,
die wir, denke ich, zügig über die Bühne bringen kön-
nen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Zunächst rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und
16 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gunkel, Lothar Binding ({3}),
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen
der Europäischen Union mit Kolumbien und
Peru verankern
- Drucksache 17/883 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
({6}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gemeinsame menschenrechtliche Positionie-
rung der EU gegenüber den Ländern Latein-
amerikas und der Karibik einfordern
- Drucksachen 17/157, 17/925, 17/936 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Frieser
Christoph Strässer
Annette Groth
Tom Koenigs
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Es handelt
sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Michael Frieser, Frank Heinrich, Wolfgang Gunkel,
Pascal Kober, Heike Hänsel und Tom Koenigs.1)
Wir kommen nun zu den Überweisungen:
Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über-
weisung der Vorlage auf Drucksache 17/883 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 16 b. Hier geht es um die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung - das sind die Drucksachen
17/925 und 17/936 -, den Antrag auf Drucksache 17/157
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
1) Anlage 2
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Europäisches Jahr gegen Armut und soziale
Ausgrenzung ernst nehmen
- Drucksache 17/889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es ist in der Tagesordnung schon ausgewiesen, dass
die Reden zu Protokoll gegeben werden, und zwar die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Mechthild Heil,
Dr. Johann Wadephul, Gabriele Hiller-Ohm, Pascal
Kober, Heidrun Dittrich und Markus Kurth.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke eignet sich in keinster Weise, dem wichtigen Thema Armutsbekämpfung in Deutschland sinnvolle Impulse zu
geben!
Es kann keine Rede davon sein, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen die Herausforderung der Armutsbekämpfung in Deutschland ignorieren.
Im Gegenteil: Im Mittelpunkt der Politik der christlich-liberalen Bundesregierung stehen zwei wesentlichen Chancen, das Armutsrisiko in Deutschland zu senken. Wir wollen Arbeitsplätze für möglichst viele
Menschen schaffen, dafür brauchen wir Wachstum, und
wir wollen Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Zukunft mit eigenem Einkommen führen, dazu brauchen
wir Bildung und gute Kinderbetreuung.
Der erneut von der Linken geforderte gesetzliche
Mindestlohn eignet sich hingegen nicht, Armut in
Deutschland zu bekämpfen!
Es ist nicht staatliche Aufgabe, in einem Markt die
Preise zu diktieren, auch nicht den Preis für Arbeit. Wir
wollen die Tarifautonomie stärken. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich auf einen tariflichen Mindestlohn für ihre Branche einigen, wenn sie dies für geboten
halten.
Ich unterstreiche nochmals, was schon im Koalitionsvertrag steht: Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab. Die Rechtsprechung zum Verbot
sittenwidriger Löhne soll gesetzlich festgeschrieben
werden, um Lohndumping zu verhindern. Damit werden
wir auch wirksam gegen soziale Verwerfungen in einzelnen Branchen vorgehen. Ein gesetzlicher Mindestlohn
kann dazu führen, dass Arbeitsplätze für weniger qualifizierte Menschen wegfallen und dass die für viele MenMechthild Heil
schen wichtigen Zuverdienstmöglichkeiten, etwa im Bereich der geringfügigen Beschäftigungen, ebenfalls
zurückgehen. Die Folge wären mehr Menschen im Bezug von ALG II, die aufgrund geringerer Qualifikationen wenig Chancen hätten, in den Arbeitsmarkt zurückzugelangen. Wir, die CDU/CSU, sprechen uns für ein
Mindesteinkommen mit einer Kombination aus fairen
Löhnen und ergänzenden staatlichen Leistungen aus.
Dazu gehört auch eine moderne und leistungsfördernde
Steuerpolitik. Diese Richtung werden wir konsequent
weiterverfolgen.
Über die von Ihnen auch jetzt wieder geforderte generelle Anhebung der Regelsätze im Bereich des ALG II
haben wir zuletzt ausgiebig diskutiert. Wir werden die
Auflagen des Bundesverfassungsgerichts sehr sorgfältig
umsetzen und damit die Schwächen in diesem Teil der
rot-grünen Agenda 2010 beseitigen. Ein Abstandsgebot zwischen Lohneinkommen und sozialen Transferleistungen ist unabdingbar, um Menschen den Anreiz zu geben, eine Arbeit aufzunehmen. Ein Aufgeben dieser
Grundrichtung durch die von Ihnen geforderte nachhaltige Erhöhung der Regelsätze würde aber zwangsläufig
dazu führen, dass wir die Anreize zur Aufnahme von
Arbeit kappen. Die Frage, wie ein solches System zu
finanzieren wäre, bleibt Ihrerseits wie immer unbeantwortet.
Wir tragen auch Sorge für die Menschen in Deutschland, die Tag für Tag arbeiten gehen, Steuern zahlen und
sich damit bereit erklären, dass große Teile dessen, was
sie an den Staat abführen, dazu verwendet werden, um in
unserem Land eine soziale Balance zu erhalten und den
Schwächeren zu helfen. Die Akzeptanz unserer sozialstaatlichen Ordnung hängt maßgeblich davon ab, dass
die allermeisten das Gefühl haben, es geht gerecht zu
und eigene Anstrengung lohnt sich. Reich wird keiner
durch Hartz IV. Ja. Hartz IV darf in Deutschland aber
auch nicht zum Stigma werden, egal welche Art von
Leistung fließt.
Es ist wenig hilfreich, wenn in diesem Zusammenhang der Antrag der Fraktion Die Linke von Armutsregelsätzen spricht. Damit stigmatisieren Sie diejenigen,
die im ALG-II-Bezug sind. Sie suggerieren, der Staat
würde Menschen durch die Transferleistung in Armut
halten. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne diese Leistungen würde sich der Sozialstaat ein Armutszeugnis ausstellen. Denn richtig ist, dass der weitaus größte Teil des
Bundeshaushalts dazu genutzt wird, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und deren Funktionsfähigkeit zu erhalten. Die immensen Summen, zum Beispiel
für das ALG II, das Kindergeld und die Zuschüsse zur
Rentenversicherung zeigen, dass wir das Steuergeld der
Bürger sozial verteilen, um den Schwächeren in der Gesellschaft zu helfen.
Die Bundesregierung geht das Europäische Jahr gegen Armut und Ausgrenzung 2010 sehr zielgerichtet
an. Das mit der Umsetzung des Europäischen Jahres beauftragte Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat
drei Themenschwerpunkte entwickelt:
- Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern.
- Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfsbedürftigkeit
überwinden.
- Integration statt Ausgrenzung - Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen.
Das ist Ergebnis eines langfristig angelegten Dialogund Abstimmungsprozesses mit allen Akteuren, die sich
in Deutschland sozial engagieren, darunter Kirchen, Sozialverbände und Selbsthilfeorganisationen. Im Beirat
zur Umsetzung des Aktionsjahres sind rund 20 Verbände
und Institutionen vertreten. Deutschlandweit erhalten
40 sogenannte Leuchtturmprojekte Förderungen der EU
im Rahmen des Europäischen Jahres. Es sind angesichts
der mehr als 842 Projektanträge leider viel zu wenige,
die wir damit fördern können. Es gibt über 800 Anträge
von verschiedensten Trägern wie Wohlfahrtsverbänden,
Kirchen und Stiftungen, mit einem breiten Spektrum von
Ansätzen und Zielgruppen: Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund oder
Behinderungen und andere mehr. Diese hohe Zahl der
Anträge zeigt, dass das gesellschaftliche Bewusstsein,
etwas gegen Armut und für Chancengerechtigkeit zu tun,
in unserem Land stark verankert ist.
In meinem Heimatbundesland Rheinland-Pfalz wird
zwar nur ein Projekt gefördert, ich halte es aber für
beispielhaft für die guten und sinnvollen Initiativen. Der
Caritasverband für die Region Rhein-HunsrückNahe e.V. betreibt die Tafel Rhein-Hunsrück und machte
immer wieder die Erfahrung, dass sie den von Armut
und Ausgrenzung betroffenen Tafel-Kunden und -Kundinnen bei ihren Problemen nicht angemessen helfen
konnten. Das bezuschusste Projekt der Caritas in Kooperation mit der Tafel will nun Abhilfe schaffen. Vor
Ort bei den Essensausgaben sollen für die Kunden und
Kundinnen offene Sprechstunden zur Problemklärung
abgehalten werden. Zugleich werden die Mitarbeiter
und Mitarbeiterinnen der Tafel in Beratung geschult,
damit sie die Betroffenen in wirtschaftlichen, gesundheitlichen oder sozialen Fragen und bei Zugängen zum
Hilfesystem besser unterstützen können. Zusätzlich zur
Beratung werden den Tafel-Kunden und -Kundinnen
kleinere Qualifizierungsmaßnahmen in Finanzen, Ernährung usw. angeboten, damit sie sich im Alltag besser
zurechtfinden.
Armut und soziale Ausgrenzung gehen uns alle an.
Lassen Sie mich an zwei Punkten nochmals konkretisieren, was wir tun können. Es ist erwiesen, die Erwerbsarbeit der Eltern verringert das Armutsrisiko der Kinder
nachhaltig. In Haushalten ohne erwerbstätigen Elternteil liegt die Armutsrisikoquote von Kindern bei 48 Prozent; sie sinkt bei einem in Vollzeit erwerbstätigen Elternteil auf 8, bei zwei in Vollzeit erwerbstätigen
Elternteilen auf 4 Prozent. Unsere Bemühungen müssen
also vor allem darauf gerichtet sein, Eltern in Arbeit zu
bringen und sie für die Aufgaben der heutigen Berufswelt fit zu machen. Besonders armutsgefährdet in
Deutschland sind Alleinerziehende, die zu 36 Prozent
armutsgefährdet sind. Daher ist auch vor diesem Hintergrund der weitere Ausbau der Kinderbetreuung - übrigens auch für Schulkinder - von immenser Bedeutung,
damit alleinerziehende Eltern ihre Kinder verlässlich
Zu Protokoll gegebene Reden
betreut wissen und beruhigt einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Wir werden unseren Weg konsequent weitergehen!
Ich kann mich den Ausführungen meiner Kollegin
Heil zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
voll und ganz anschließen: Ihr Antrag leistet überhaupt
keinen Beitrag zu einer ernsthaften Diskussion über die
wirklichen Probleme von Menschen, die tagtäglich spüren, dass sie an Grenzen stoßen, sei es die Alleinerziehende, die nur deswegen von staatlicher Hilfe leben
muss, weil es an ihrem Ort keine Kitaplätze gibt, oder
der Junge aus einer Migrantenfamilie, der aufgrund
mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache in der
Schule nicht mitkommt. Mit ideologischen Leerfloskeln
und Polemik wie Armutsregelsätze sowie Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach
unten tragen Sie selbst dazu bei, Menschen in unserer
Gesellschaft zu stigmatisieren und ihnen einen Stempel
aufzudrücken, den sie nicht verdient haben. Sie helfen ihnen damit nicht, sondern verstärken ihre ohnehin schon
schwierige Lage. Vieles aus Ihrem Antrag ist nicht neu,
sondern findet sich in Ihrem Bundestagswahlprogramm
wieder. Als Antwort auf die großen Herausforderungen
bei der Armutsbekämpfung findet man dort lediglich:
Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes von 10 Euro, Kündigungsschutz ausweiten
und Hartz IV abschaffen, privaten Bankensektor verstaatlichen, Aufbau eines öffentlichen Beschäftigungssektors.
Hierzu möchte ich folgende Bemerkungen machen:
Erstens: Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, der über dem markträumenden Gleichgewichtslohn liegt, nimmt gerade niedrig qualifizierten inländischen Arbeitskräften jegliche Beschäftigungschancen,
weil er zu höheren Lohnkosten und damit letztlich zu
Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland führt. Das hat
bereits der Wissenschaftliche Dienst im September 2005
deutlich gemacht.
Zweitens: Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag,
mit Ausnahme Ihrer Fraktion, halten die Grundsätze von
Hartz IV, nämlich die Zusammenführung der bisherigen
Arbeitslosen- und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu
einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitssuchende
für richtig. Insbesondere die Langzeitarbeitslosen haben
dadurch Zugang zu einer Reihe von wirkungsvollen Arbeitsmarktinstrumenten und Hilfen erhalten. Auch der
Grundsatz von Fordern und Fördern ist richtig und
wird weder vom Bündnis 90/Die Grünen noch von den
Sozialdemokraten bestritten.
Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen möchte ich Ihnen sagen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Berechnungsmethode selbst und ebenso wenig die Höhe
der Leistungen gerügt hat, sondern das Berechnungsverfahren. Vor diesem Hintergrund eine Erhöhung des
Regelsatzes für Erwachsene auf 500 Euro zu fordern, ist
eine unehrliche und gefährliche Debatte.
Drittens: Wenn Sie davon reden, dass Armut und soziale Ausgrenzung Resultate der Agenda 2010 und der
Lissabon-Strategie sind, sollten Sie nicht öffentlich erklären, dass Bolivien, ein Land mit extremer Armut und
großen sozialen Problemen, für eine Alternative zum
neoliberalen Kapitalismus stehe, ein Land, bei dem
etwa 10 Prozent der Bevölkerung über 40 Prozent des
Gesamteinkommens verfügen.
Viertens: Chancengleichheit bedeutet nicht Umverteilung, wie man das bei der Linken immer wieder hört.
Es ist schwierig, etwas aufzubauen, ein Haus, ein Vermögen, ein funktionierendes Bildungssystem. Aber es ist
verhältnismäßig einfach, anderen etwas wegzunehmen
und nichts Neues aufzubauen, zumindest solange noch
etwas da ist. Zum Glück ist der Sozialismus, den Sie weiter fortführen wollen, passé.
Das Europäische Jahr 2010 steht unter dem Motto
Mit neuem Mut. In Deutschland hat hierfür das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Gesamtkoordination. Für dieses Jahr wurden bereits unter unserem
SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz insgesamt 40 Projekte
in Deutschland, die mit rund 1,4 Millionen Euro gefördert werden, auf den Weg gebracht. Thematische
Schwerpunkte liegen dabei in folgenden Bereichen: Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern, Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden, Integration statt Ausgrenzung Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen.
Zur Armutsbekämpfung müssen alle Politikfelder eng
zusammenarbeiten. Leider fehlt diese Vernetzung oft.
Die jetzt geförderten Projekte bieten gute Möglichkeiten, gemeinsam noch effektiver gegen Armut zu arbeiten.
Armutsbekämpfung ist wichtig. Leider verhält sich die
schwarz-gelbe Bundesregierung dabei viel zu passiv.
Wenn sie hier die gleiche Leidenschaft an den Tag legen
würde wie bei der Entlastung von Besserverdienenden,
hätten deutlich mehr Menschen die Chance auf einen
annehmbaren Lebensstandard! Stattdessen geht die
Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter
auseinander. Schwarz-Gelb hat mit der verfehlten und
unsozialen Klientelpolitik bereits nach nicht einmal
150 Tagen Regierungszeit erheblich dazu beigetragen.
Diese kurze Zeit hat auch ausgereicht, um das soziale
Klima in Deutschland zu vergiften. Verantwortlich dafür
ist die FDP, maßgeblich durch die Äußerungen des
Bundesaußenministers und des Berliner Abgeordneten
Martin Lindner.
Jeder siebte Deutsche lebte 2008 unterhalb der Armutsschwelle - das bedeutet, dass man weniger als
60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung
hat. Im Vergleich zu 1998 hat sich die Zahl um rund ein
Drittel erhöht. Überdurchschnittlich sind Alleinerziehende betroffen. Hier waren es rund 40 Prozent. Aber
auch viele Menschen, die von der Grundsicherung leben, sind von Armut bedroht. Deshalb müssen wir über
die Bemessungsgrundlage von Regelsätzen sprechen.
Und natürlich müssen wir auch endlich eigenständige
bedarfsgerechte und rechtssichere Regelsätze für ErZu Protokoll gegebene Reden
wachsene und besonders für Kinder auf den Weg bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat das zu Recht angemahnt. Die Oppositionsfraktionen haben sich mit
Anträgen dazu positioniert. Von der Regierung gibt es
aber nur peinliche Stille! Der Sozialstaat muss gestärkt
und nicht abgebaut werden. Deswegen ist es wichtig, soziale Leistungen weiterzuentwickeln und zu verbessern.
Wer keine oder schlechte Arbeit hat, ist arm dran!
Wir brauchen deshalb gute Jobs und faire Arbeitsbedingungen in Deutschland. CDU, CSU und FDP subventionieren lieber Lohndumping mit aufstockendem Arbeitslosengeld II als Quasi-Kombilohn auf Kosten der
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Nur mit einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn kann es
gelingen, dass Menschen, die eine Vollzeitstelle haben,
auch ein existenzsicherndes Arbeitsentgelt erhalten. Wer
arbeitet, muss davon leben können! Die Ergebnisse in
Deutschland sind leider ernüchternd. 5,1 Millionen
Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von unter
8 Euro. 20 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben Lohnuntergrenzen, die in westeuropäischen Staaten wie Frankreich, Irland, den Niederlanden oder Belgien bei über
8,40 Euro pro Stunde liegen.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ebenfalls
ein wichtiger Aspekt, gerade für die rund 650 000 Alleinerziehenden, die arbeitslos sind oder in ihrem Job zu
wenig verdienen und deshalb auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Eine für Eltern gebührenfreie bedarfsdeckende Kinderbetreuung ist dabei die wichtigste
Maßnahme, nicht nur, weil jedes Kind wichtig ist und
Entwicklungschancen so verbessert werden, sondern
weil es Alleinerziehenden erst ermöglicht, mit Arbeit aus
der Armutsgefährdung herauszukommen. Die SPD hat
sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass ab dem Jahr 2013
jedes Kind ab einem Jahr einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz bekommt.
Armut, mangelnde Teilhabe und ein versperrter Zugang zu Bildung hängen eng miteinander zusammen.
Besonders Kinder aus armen Familien müssen gut, diskriminierungsfrei und nicht stigmatisierend unterstützt
werden. Deswegen fordern wir Gebührenfreiheit von der
Kita bis zur Uni. Deswegen haben wir das Schulbedarfspaket auf den Weg gebracht. Und deshalb fordern wir,
die Bedarfe für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe
bei den Regelsätzen gerecht abzubilden.
Gute Bildung und Berufsausbildung bringen die besten
Voraussetzungen, um Armut bei der heranwachsenden Generation zu vermeiden. Wenn es um Armutsbekämpfung
geht, sind diese Punkte für die SPD wesentlich. In unseren
Anträgen zur Gleichstellung und zu den Konsequenzen
aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den
Regelsätzen haben wir uns heute im Bundestag positioniert. Der jetzt vorliegende Antrag der Fraktion Die
Linke zum Europäischen Jahr macht in vielen Punkten
perspektivisch einen richtigen - wenn auch sehr abstrakten - Aufschlag. Leider fehlen in dem Forderungskatalog der Linken viele Punkte, die für eine wirksame
Armutsbekämpfungsstrategie notwendig wären. Der Antrag der Linken greift deswegen aus Sicht der SPDFraktion zu kurz. Aber ich freue mich, dass die Fraktion
Die Linke die europäische Ebene als wichtiges Handlungsfeld erkannt hat - immerhin hatte die Linkspartei
noch vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Lissabon geklagt. Und mit der Verankerung sozialer Komponenten und des sozialen Fortschritts in
Europa rennen Sie bei uns offene Türen ein. Die SPD hat
dazu Anfang Mai 2009 zusammen mit dem DGB ein gemeinsames Positionspapier für sozialen Fortschritt in
Europa verabschiedet, das deutliche Maßstäbe setzt und
sozialen Grundrechten einen absoluten Vorrang einräumt. Daran müssen wir weiter arbeiten - wir laden
alle Fraktionen dazu ein, den Weg mit uns gemeinsam zu
gehen, auch nach dem Ablauf des Europäischen Jahres
2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
Die christlich-liberale Koalition bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag klar zum verstärkten Einsatz gegen Armut in Deutschland. Nichts anderes beinhalten
die Maßnahmen, die wir dort gemeinsam beschlossen
haben. Nichts anderes ist es, wenn wir die Instrumente
zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt verbessern wollen.
Nichts anderes ist es, wenn wir die Hinzuverdienstgrenzen verbessern wollen. Nichts anderes ist es, wenn wir
das Schonvermögen im Sozialgesetzbuch II morgen von
250 auf 750 Euro verdreifachen werden. Vor allem aber
setzen wir auf Bildung als langfristige Investition zur
Vermeidung von Armut.
Deshalb trifft der Vorwurf, dass diese Regierungskoalition sich des Problems der Armut in Deutschland
nicht annehmen würde, schlichtweg nicht zu. Wir sind
es, die jetzt Regelungen, die die rot-grüne Bundesregierung bewusst getroffen hat, zum Beispiel die Regelungen
im SGB II, im Sinne der Betroffenen verbessern und gerechter ausgestalten.
Wir nehmen uns der Menschen, die in Armut leben,
an. Auch und gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Bildungspolitik haben wir konkrete Punkte
vereinbart. Durch Steuerentlastungen haben wir wirtschaftliches Wachstum gefördert und werden das auch
so fortsetzen. Dies führt auch dazu, dass mehr Menschen
in Arbeit bleiben können und darüber hinaus in Arbeit
kommen und nicht mehr von Sozialleistungen des Staates abhängig sind.
Noch immer gilt, dass gute Bildungspolitik die beste
Sozialpolitik ist. Gute Bildungspolitik schafft die Voraussetzungen dafür, dass Menschen in Freiheit selbstbestimmt leben können. Daher haben wir uns als christlich-liberale Koalition klar und deutlich zur verstärkten
Förderung in der Bildungspolitik ausgesprochen. So
werden wir neben der Einführung von leistungsabhängigen Stipendien auch die Kinderbetreuung weiter ausbauen. Das sind Maßnahmen, die die Armut von morgen
verhindern. Auch das gehört für uns Liberale zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
Was die Linke in ihrem Antrag aber unter anderem als
Maßnahmen gegen Armut vorschlägt, ist vollkommen
kontraproduktiv. Zudem verdrehen Sie, wie so oft, Tatsachen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 9. Februar zu den Regelsätzen im SGB II werden
Zu Protokoll gegebene Reden
wir nun zügig, aber auch gründlich die vorgeschriebene
Überarbeitung vornehmen. Wir werden uns dabei an
den Maßgaben des Urteils orientieren und den Regelsatz
sachgerecht, transparent und somit nachvollziehbar ermitteln. Da uns zum jetzigen Zeitpunkt die Einkommensund Verbrauchsstichprobe noch nicht vorliegt und daher
noch keine Bewertung vorgenommen werden kann, sind
Aussagen über die künftige Höhe der Regelsätze verfrüht und populistisch.
In einer Sache haben Sie in Ihrem Antrag recht, wenn
Sie feststellen, dass sich die Bundesregierung gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, und dies aus
guten Gründen. Zum einen führt ein gesetzlicher Mindestlohn zum Verlust von Arbeitsplätzen. Besonders im
Bereich der Jugendarbeitslosigkeit lässt sich dies an
Beispielen aus dem europäischen Ausland deutlich belegen. Wir setzen daher auf ein Mindesteinkommen, das
den Menschen ein menschenwürdiges Auskommen ermöglicht. Zum anderen sorgen auch die in der politischen Diskussion genannten Höhen von Mindestlöhnen
nicht für ein Auskommen ohne staatliche Unterstützung.
Damit ist ein Mindestlohn kein Instrument, um Menschen aus der staatlichen Unterstützung herauszuhelfen.
Der Antrag der Linken liefert keinerlei tragfähige
Konzepte. Wenn Sie unter anderem fordern, dass eine
soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk
eingesetzt werden soll, kann ich Ihnen sagen, dass diese
Diskussion im Rahmen der Erarbeitung und der Beschlussverfassung ausgiebigst diskutiert wurde - und zu
Recht keine Mehrheit fand.
Abschließend kann ich Ihnen noch aufzeigen, wie sich
diese Regierung schon jetzt konkret am Europäischen
Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung beteiligt.
Am 25. Februar hat Bundesministerin von der Leyen im
Rahmen einer Festveranstaltung das Europäische Jahr
gegen Armut und soziale Ausgrenzung eröffnet. Die EU
und das Ministerium fördern dabei gezielt 40 Sozialprojekte mit insgesamt 1,5 Millionen Euro. Auch vor diesem
Hintergrund lässt sich die Behauptung der Linken, dass
sich die Bundesregierung des Themas nicht annimmt,
nicht aufrechterhalten.
Wir haben uns des Problems der Armut angenommen
und beteiligen uns angemessen am Europäischen Jahr
gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
Das Sozialprodukt der Europäischen Union umfasst
12,4 Billionen Euro und ein Pro-Kopf-Einkommen von
23 600 Euro. Damit ist die EU der größte Wirtschaftsraum der Welt. Angesichts dieser Zahlen sollte Armut eigentlich der Vergangenheit angehören. Aber statt zu verschwinden, wächst die Armut in der EU stetig an - der
Graben zwischen Arm und Reich wird immer tiefer.
Nach offiziellen Angaben müssen 80 Millionen Europäer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohnes ihres Heimatlandes auskommen. 17 Prozent der
Europäerinnen und Europäer sind damit von Armut direkt betroffen. Jeder zehnte EU-Bürger hat nicht das
Geld, um wenigstens jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch
oder eine gute vegetarische Mahlzeit zu essen.
Auch in Deutschland ist seit dem Jahr 2000 die Zahl
der Menschen, die in Armut leben müssen, von 8 auf
12 Millionen dramatisch angestiegen. Menschen, die
unterhalb der Armutsgrenze leben, werden sechzehnmal
häufiger krank, ihre Lebenserwartung liegt vier Jahre
unterhalb des Durchschnitts. Wer arm ist, findet schwieriger eine Arbeit oder eine Wohnung und hat weniger
Zugang zu Bildungsmöglichkeiten.
Rund 30 Prozent der Armen in Deutschland sind
Alleinerziehende, circa 80 Prozent von ihnen sind alleinerziehende Mütter. Frauen sind von der Armut besonders bedroht, sie verdienen durchschnittlich 30 Prozent
weniger und besitzen nur 82 Prozent des ausgabefähigen Einkommens gegenüber dem der Männer. Das Risiko, in Armut zu geraten, ist vor allem für ältere Frauen
besonders hoch, da die Sozialschutzsysteme in der EU
häufig auf dem Grundsatz einer ununterbrochenen bezahlten Erwerbstätigkeit beruhen, welche Frauen häufig
nicht haben.
Auch Kinder sind zunehmend von Armut betroffen. In
den EU-Mitgliedstaaten leben 20 Prozent der Minderjährigen unterhalb der Armutsgrenze. Während die
wachsende Kinderarmut auf die schlechte Einkommenssituation der Haushalte zurückzuführen ist, zeigt die
ebenfalls steigende Altersarmut, dass die europäischen
Rentensicherungssysteme nicht mehr armutsfest sind.
19 Prozent der über 65-Jährigen sind von Armut akut
gefährdet.
Selbst wer Arbeit hat, ist vor Armut nicht mehr sicher! Ein Großteil der Menschen, die unterhalb der
Armutsgrenze leben müssen, sind Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Rund 25 Prozent aller abhängig Beschäftigten arbeiten in Deutschland mittlerweile im
Niedriglohnsektor - Tendenz steigend. Nirgendwo in
Europa liegt die Quote höher. In Großbritannien beträgt
der Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten
21,7 Prozent, in den Niederlanden 17,6 Prozent, in Frankreich 11,1 Prozent und in Dänemark sogar nur 8,5 Prozent.
Besonders erschreckend: die hohe Zahl derjenigen,
die sich mit absoluten Billigjobs zu Stundenlöhnen von
unter fünf Euro begnügen müssen. Das sind in Deutschland inzwischen fast zwei Millionen Arbeitnehmer,
knapp ein Drittel der 6,5 Millionen Beschäftigten im
Niedriglohnsektor. In den meisten anderen Ländern, so
auch im liberalen Großbritannien, sind solche Löhne
gesetzlich verboten. Selbst die USA haben wir im Bereich des Niedriglohnsektors überholt. Wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Armen als Folge der
Wirtschafts- und Finanzkrise weiter zunimmt.
Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen! Die Europäische Kommission
hat das Jahr 2010 zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ausgerufen. In den vom
Europäischen Parlament und vom Rat beschlossenen
Zielen des Europäischen Jahres gegen Armut wird eine
Gesellschaft eingefordert, in der es keine Armut mehr
gibt, in der eine gerechte Verteilung ermöglicht wird und
in der niemand ausgegrenzt wird. Eine Gesellschaft
ohne Armut ist keineswegs unrealistisch und utopisch,
Zu Protokoll gegebene Reden
denn die Armut existiert neben einem immer größer werdenden gesellschaftlichen Reichtum, der schon lange ein
Ausmaß angenommen hat, dass er die Armut für immer
verbannen könnte.
Ein wirkliches Handlungsprogramm der Bundesregierung gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist jedoch nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil: In jüngster
Zeit überbieten sich die Regierungsparteien mit politischen Vorstößen, die das Sozialmodell der Republik
grundlegend in Frage stellen. Die Formulierung im Nationalen Strategiepapier des Bundesarbeits- und Sozialministeriums zur Umsetzung des Jahres gegen Armut,
dass trotz der vielfältigen politischen Maßnahmen die
Armut gewachsen sei, ist an Zynismus kaum noch zu
überbieten. Realität ist doch, dass wegen und nicht
trotz der Umsetzung der neoliberalen Lissabon-Strategie und der Agenda 2010 die Armut rasant gestiegen
ist. Die Lissabon-Strategie und deren Entsprechung in
der Bundesrepublik, die Agenda 2010, haben mit der
Schaffung und Förderung des Niedriglohnsektors und
von ungesicherten Arbeitsverhältnissen maßgeblich zum
Anstieg von Armut beigetragen.
Hartnäckig hält sich daher der Eindruck auch bei
zahlreichen sozialen Initiativen und Verbänden, dass das
Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung
von der Bundesregierung dazu benutzt werden soll, die
noch verbliebenen, tatsächlich unzureichenden sozialen
Sicherungssysteme als ausreichend zu loben. Pressemitteilungen des Ministeriums und auch das Nationale
Strategiepapier bestärken die Vermutung noch, dass es
sich bei dem Europäischen Jahr 2010 lediglich um eine
werbewirksame PR-Aktion für die Politik der Bundesregierung handelt.
Zahllos sind die im Europäischen Jahr 2010 geplanten Projekte, die lediglich auf die Bewusstseinsmachung
für Armutsrisiken abzielen. Zu diesem Zweck sollen laut
Nationalem Strategiepapier beauftragte PR-Agenturen
sicherstellen, dass regelmäßig über gute Beispiele der
Umsetzung sozialer Integration und Armutsprävention
berichtet wird. Werbe- und PR-Agenturen dürften so
die Hauptnutznießer des Europäischen Jahres 2010
sein, denn diese Arbeit will ja entlohnt sein. Wir haben
jedoch kein Erkenntnisdefizit, sondern ein politisches
Handlungsdefizit. Angesichts der sozialen Probleme in
unserem Land sollte die Bundesregierung nicht Werbeagenturen, sondern Taten sprechen lassen.
Der DGB hat nun die Zusammenarbeit mit dem Bundesarbeits- und Sozialministerium ({0}) zum Europäischen Jahr 2010 aufgekündigt. Die stellvertretende
DGB-Bundesvorsitzende Annelie Buntenbach kritisiert
in scharfen Tönen das Verfahren bei der Auswahl der zu
fördernden Projekte. Gesetzliche Aufgaben wie Sprachförderung von Kindern, werden nicht finanziell abgesichert, sondern als befristete finanziell ungesicherte Projekte gewährt. Auch die Debatte im Anschluss an das
Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010
zur Verfassungswidrigkeit der Hartz-IV-Regelleistungen
lässt an einem angemessenen Problembewusstsein der
Bundesregierung ernsthaft zweifeln. Mit den Äußerungen des Bundesaußenministers Westerwelle, dass sich
Arbeit wieder lohnen solle, spielt er die Erwerbslosen
und die Erwerbstätigen gegeneinander aus. Damit lenkt
er von den eigentlichen Verantwortlichen für die soziale
Schieflage ab. Der Hintergrund ist, dass Teile der
aktuellen Bundesregierung offen darüber nachdenken,
die Regelleistungen noch weiter zu kürzen. Ich meine:
Nicht die Hartz-IV-Regelsätze sind zu hoch, sondern die
Löhne sind zu niedrig! Der von Westerwelle bemühte
Vergleich mit der spätrömischen Dekadenz ist nicht
nur historisch vollkommen verfehlt, sondern verdeutlicht auf eine menschenverachtende Weise den Realitätsverlust des Vizekanzlers und Außenministers.
Ein monatlicher Regelsatz von 359 Euro für Erwachsene ist menschenunwürdig! Er ermöglicht weder eine
Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben
noch eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Wie
soll zum Beispiel ein Erwerbsloser mit 11,27 Euro im
Monat für den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich mobil sein und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? In
Berlin oder Hannover kann man mit diesem Betrag circa
fünf Mal die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Auch
die Medien, angefangen bei der Zeit bis zur Bild,
reihen sich ein in die von Westerwelle initiierte Missbrauchsdebatte und mischen ordentlich mit bei der
Konstruktion von Sozialneid und Sündenböcken. Gegen
alle Fakten konnten wir in Bild und auch in der
Zeit lesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund
dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und damit mitverantwortlich für die leeren öffentlichen Kassen seien.
Tatsächlich sind die Staatskassen leer, weil sich Unternehmen und Vermögende immer weiter aus der Finanzierung der öffentlichen Ausgaben zurückziehen konnten. Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bemüht
sogar das alte rassistische Bild von der Einwanderung
in die Sozialsysteme. Dabei war die Einwanderungsbilanz in der Bundesrepublik nie schlechter als heute.
Inzwischen verlassen fast ebenso viele Menschen das
Land, wie neue einwandern. Solche hetzerischen Äußerungen kennen wir sonst nur von Rechtsextremen. Damit
wird das gesellschaftliche Klima ins Unerträgliche verschlechtert.
Dieser Spaltung der Bevölkerung tritt die Linke entschlossen entgegen. Wenn wir die Ziele des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung
ernst nehmen, dann brauchen wir einen radikalen Politikwechsel für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Es
geht darum, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, in
denen Armut ausgeschlossen bleibt.
Um Armut nachhaltig zu bekämpfen und um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, benötigen wir
jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und
die Fortentwicklung der Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen, in denen das Solidarprinzip gestärkt
wird und zu deren Finanzierung hohe und höchste Einkommen angemessen herangezogen werden. Wir fordern
die Abschaffung von 1-Euro-Jobs sowie die Einschränkung von Leih- und Zeitarbeit. Hartz IV soll durch eine
bedarfsorientierte soziale Mindestsicherung ersetzt werden, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und sanktionsfrei ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten
und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finanzielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste,
was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur
gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozialen Defizite
bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der
Verteilungsgerechtigkeit, ist verkürzt. Gesellschaftliche
Teilhabe in Armut reicht nicht aus. Denn heute ist das
Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch
nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie.
Wer die Armut bekämpfen will, kommt an einer Umverteilung von Vermögen und Arbeit nicht vorbei. Ein
wirksames Mittel, der wachsenden Arbeitslosigkeit entgegenzusteuern, ist die Verkürzung der wöchentlichen
Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Senkung
des Renteneintrittsalters.
Wir kommen nicht darum herum, das Tabu zu brechen: Der Staat braucht neue, wesentliche Einnahmen:
Kapitalgewinne, Kapitaltransaktionen, große Vermögen
und Einkommen, von denen es noch nie so viel gab wie
heute, müssen höher oder überhaupt erst besteuert werden. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition ist dazu
aber offenbar, genau wie ihre Vorgänger, nicht bereit.
Deswegen fordert die Linke eine stärkere Beteiligung
der wirtschaftlich Leistungsfähigen an den Kosten des
Gemeinwesens. Wir fordern die Anhebung des Spitzensatzes in der Einkommensteuer auf 53 Prozent, eine höhere Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer als Millionärssteuer. Jahrelang wurde mit
staatlicher Unterstützung von unten nach oben umverteilt. Dieser Trend muss nun umgekehrt werden!
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein ernst gemeintes Strategiepapier gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorzulegen, das den Kampf gegen Armut und
soziale Ausgrenzung als politische Priorität versteht. Es
müssen verbindliche Ziele zur Reduktion von Armut und
sozialer Ausgrenzung mit einem konkreten Zeithorizont
festgelegt werden. Die Erreichung der jeweiligen Ziele
muss durch ein konkretes Handlungsprogramm abgesichert werden, das mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet wird!
Auf EU-Ebene ist das Thema Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ebenfalls zu einem Schwerpunkt zu machen. Wir fordern die
Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass eine
soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufgenommen wird. Dies bedeutet, dass soziale Grundrechte im Konfliktfall Vorrang haben müssen gegenüber
der sogenannten Niederlassungsfreiheit des Kapitals,
der Dienstleistungsfreiheit und der Freiheit des Kapitalverkehrs - denn es ist diese neoliberale Politik der
Profitmaximierung, die uns in die wirtschaftliche Krise
geführt hat. Insbesondere fordert die Linke, die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, das Streikrecht der Gewerkschaften und das Recht der Mitgliedstaaten zum
Erlass von Tariftreuegesetzen anzuerkennen und in der
Praxis abzusichern. Wir fordern zudem die Staats- und
Regierungschefs der EU sowie die Europäische Kommission in Brüssel eindringlich auf, sofort Regelungen
zu erlassen, mit denen alle Mitgliedstaaten wirksam gegen Lohndumping vorgehen können.
Die Linke will das Europäische Jahr gegen Armut
und soziale Ausgrenzung gemeinsam mit Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und mit sozialen Bewegungen dazu nutzen, über gesellschaftliche Ursachen von
Armut und alternative Lösungsansätze zu diskutieren.
Neue Ansätze der sozialen und demokratischen Teilhabe
müssen entwickelt werden. Die Linke ruft auf, den globalen Aktionstag gegen Armut am 17. Oktober 2010 mit
den vielfältig geplanten Protesten wie den Europäischen
Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Armut und der
Weltfrauenkonferenz zu verbinden.
Dass die Linke hier und heute einen Antrag zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung stellt, das kann ich schon verstehen. Denn wenn
ich mir anschaue, was diese Bundesregierung im Bereich Armutsbekämpfung abliefert, dann ist das schon
ein Trauerspiel. Sie nimmt ja noch nicht einmal zur
Kenntnis, welche Ausmaße Armut und soziale Ausgrenzung haben. Sie hat ja einen Außenminister in ihren Reihen, der die Armut gar nicht sieht, einen Außenminister,
der meint, Hartz-IV-Empfänger lebten in spätrömischer
Dekadenz. Wenn das so wäre, dann fehlten mir die
Worte für das, was uns unser Vortragsreisender
Guido Westerwelle da bietet. 7 000 Euro für ein paar
warme Worte, das wäre eine Steigerung von Dekadenz,
für die es gar keine Worte mehr gibt. Mir wird angst und
bange, wenn ich daran denke, dass Deutschlands wohl
teuerste Plaudertasche uns in der Welt als ranghöchster
Diplomat repräsentieren soll.
Andere Mitglieder der Bundesregierung sind offenbar nur noch damit beschäftigt, die Scherben zusammenzukehren, die der oberste Repräsentant des Lobbyistenvereins der Besserverdienenden, der eigentlich LdB
statt FDP heißen müsste, zusammenzukehren.
Anders ist das, was uns Frau von der Leyen als in
Deutschland für die Durchführung des Europäischen
Jahres zuständige Ministerin nun vorsetzt, nicht zu erklären.
Nach der nationalen Strategie für das Europäische
Jahr sollen lediglich 1,24 Millionen von 2,25 Millionen
Euro tatsächlich in die Förderung konkreter Projekte
gehen, die etwas mit Armut und sozialer Ausgrenzung zu
tun haben. Der Rest fließt in die Öffentlichkeitsarbeit.
Im besten Falle erfahren wir also das, was wir sowieso
wissen, wenn wir mit offenen Augen durch die Straßen
gehen, nämlich dass es überall in Deutschland Armut
und soziale Ausgrenzung gibt. Auf jeden Fall profitieren
aber die Werbeagenturen. Ob das im Sinne von Armut
betroffener Menschen ist, kann man getrost bezweifeln.
Interessant ist aber schon, zu erfahren, an welche Werbeagenturen welche Summen fließen. Genau das habe
ich die Bundesregierung in der Kleinen Anfrage auf
Drucksache 17/833 gefragt. Ich bin gespannt. Mich interessiert ehrlich gesagt auch sehr, warum die Bundesregierung nur 40 Projekte fördert, wenn sich doch 842 beworben haben und ursprünglich 50 bis 70 Projekte
gefördert werden sollten. Ich hoffe, es lag nicht daran,
dass diese Projekte auch die Ursachen von Armut und
Zu Protokoll gegebene Reden
sozialer Ausgrenzung thematisiert hätten, Sachverhalte,
die bei der Auswahl von Projekten Wie knapp bei Kasse Wir kommen klar und Arm ist nicht, wer wenig hat
sowie Arbeitsgelegenheit im Fokus keine Rolle spielen, deren Erörterung aber gewinnbringend wäre. Aber
möglicherweise kann die Bundesregierung mir diese
Frage ja ebenfalls beantworten, denn auch sie ist Teil
meiner Kleinen Anfrage zur Sache. Gleiches gilt für die
Frage, warum den Mitgliedern des Programmbeirats
von den 842 Projektanträgen, die eingereicht wurden,
nur 70 präsentiert wurden.
Wenn ich mir diesen Antrag der Fraktion Die Linke
so anschaue, dann muss ich sagen, mir ist das viel zu unkonkret. Ich weiß bei vielem einfach gar nicht genau,
was sich dahinter verbirgt, eine soziale Fortschrittsklausel zum Beispiel oder die Definition verbindlicher
Ziele im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung
mit Zeithorizont und deren Unterfütterung mit einem
Handlungsprogramm. Dieses Hohe Haus hat doch die
Aufgabe, Ziele festzulegen, die die Bundesregierung
dann auf nationaler Ebene erfüllen muss. Gegebenenfalls muss das Ganze in einen europäischen Prozess einfließen. Das, was Sie uns hier präsentieren, halte ich dafür ehrlich gesagt für zu dünn. Ich will aber anerkennen,
dass mir die guten Absichten dahinter nicht verborgen
geblieben sind. Deshalb empfehle ich eine Enthaltung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/889 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kinderlärm - Kein Grund zur Klage
- Drucksache 17/881 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hier ist in der Tagesordnung ausgewiesen, dass
die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael
Paul, Dorothee Bär, Hans-Joachim Hacker, Judith
Skudelny, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius1) zu
Protokoll gegeben werden.
Kindern gute Entwicklungschancen geben - das ist
sicherlich eine der bedeutendsten Aufgaben einer Ge-
sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder spielen dürfen. Da-
her ist es auch sinnvoll, an den Lärm von spielenden
Kindern einen anderen Maßstab anzulegen als an den
1) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu
einem späteren Zeitpunkt abgedruckt.
Lärm aus einer Industrieanlage. Niemand kann ernsthaft gegen dieses Ziel sein, und auch wir sind es nicht.
Das haben die Fraktionen des letzten Bundestages im
Übrigen auch schon übereinstimmend bekräftigt.
Falsch ist es aber, dort schwarz-weiß zu malen, wo
eine bunte Palette an unterschiedlichen Interessen besteht. Und an dieser Stelle zeigt der Antrag der SPDFraktion zum Kinderlärm Schwächen. Die Kolleginnen
und Kollegen von der SPD haben es sich ja auch einfach
gemacht und den Bundesratsantrag von RheinlandPfalz abgeschrieben. Nur der letzte Punkt ist hinzugefügt.
Selbstverständlich hat die Entfaltung der Kinder als
wesentlicher Faktor für die Zukunft unseres Landes einen besonders zu berücksichtigenden Stellenwert. Aber
das ändert nichts daran, dass der von Kindern erzeugte
Lärm - und in diesem Punkt ist offensichtlich auch die
SPD-Fraktion keiner anderen Meinung - auch als Lärm
bezeichnet werden muss. Und ebenso selbstverständlich
ist, dass auch Kinderlärm in der Umgebung seiner Entstehung als Lärm wahrgenommen wird.
Daher ist es schon denklogisch der falsche Weg - wie
durch den SPD-Antrag geschehen - Kinderlärm generell nicht mehr als Lärm bezeichnen zu wollen. Den zu
berücksichtigenden Interessen, also der besonderen
Stellung der Kinder einerseits und dem Ruhebedürfnis
der in der Umgebung lebenden Menschen andererseits,
kann doch nicht durch eine solch starre Regelung begegnet werden. Das würde, basierend auf den Bevölkerungszahlen des Jahres 2008, bedeuten, dass die Interessen von 11,13 Millionen Kindern im Alter zwischen
0 und 15 Jahren ohne jede Ausnahme über die Interessen der übrigen 70,8 Millionen Bürger in Deutschland
gestellt würden. Das kann schon deshalb nicht richtig
sein, weil auch die Kranken und die Menschen, die auf
Lärm empfindlich reagieren, schützenswert sind. Daher
kann hier nur ein Ansatz gewählt werden, der zwar die
besondere Bedeutung der Entwicklung von Kindern und
Jugendlichen für die Zukunft unseres Landes angemessen berücksichtigt, nicht aber die Rechte der übrigen
Bevölkerung ausschließt.
Ein solcher Ansatz muss auch berücksichtigen, dass
sich, gerade im Fall von Lärmemissionen, eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbeeinträchtigung
verbietet. Die Störungsintensität hängt vielmehr
entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der
Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher
zwingend notwendig, dass auch in Zukunft Einzelfallüberprüfungen möglich sind. Das ist im Übrigen auch
ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einen Rechtsweg vorzuhalten. Natürlich muss bei dieser Abwägung den besonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung getragen werden, dass für den von
ihnen erzeugten Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird. Die große Zahl von Gerichtsurteilen, in denen den Interessen der Kinder der Vorrang gegeben
wird, zeigt, dass dies auch bisher die gängige Praxis ist.
Bei den weiteren Beratungen müssen wir daher eine
Lösung finden, die nicht nur rechtsstaatskonform ist,
sondern auch Einzelfallentscheidungen zulässt, klare
Vorgaben für die Verwaltung enthält, um einen Vollzug
der rechtlichen Regelungen zu ermöglichen, und den Interessen der spielenden Kinder Rechnung trägt. Ich
freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen.
Alleine der Begriff, über den wir heute hier diskutieren, ist ein Widerspruch in sich: Kinder-Lärm! Das unterstellt, dass Lärm entsteht, wenn Kinder spielen,
toben, lachen, schreien, weinen, Bälle kicken. Wenn Kinder spielen, tun sie das mit lautstarker Begleitung, teilen
sich einander mit - das ist der Sinn der Sache; wenn sie
weinen, hört man das gut, wenn sie sich freuen, lachen
sie fröhlich. Dass diese vitalen Lebensäußerungen von
Kindern, ihr unüberhörbares Sich-in-der-Gemeinschafteinander-Mitteilen und Aneinander-Messen als Lärm
empfunden werden und an den zulässigen Werten für
Gewerbelärm gemessen werden kann, sagt viel über unsere Gesellschaft aus: Wir sind kinderentwöhnt! Die Geburtenzahl geht zurück, die Menschen werden immer älter und leben oft ohne eigene Kinder und Enkel. Viele
kennen es nicht mehr, Kinder um sich zu haben, mit Kindern zusammen in einem Haus zu wohnen oder einen
Kinderspielplatz oder eine Kita in unmittelbarer Nachbarschaft zu haben. Viele Menschen wohnen am liebsten
in einer kinderlosen Umgebung, viele Vermieter privilegieren Mieter ohne Kinder. So kommt es, dass viele von
uns sich an eine Welt ohne Kinder gewöhnt haben, ohne
zu merken, wie arm wir dadurch werden.
Kinder sind leider keine Selbstverständlichkeit mehr.
Sie werden nicht mehr als Bereicherung empfunden,
sondern als Störenfriede. Daher kommt es immer wieder
zu Klagen von Anwohnern gegen Kindertageseinrichtungen oder auch gegen erteilte Baugenehmigungen, in
Einzelfällen sogar zur Schließung dieser Einrichtungen,
besonders dann, wenn diese in Wohngebieten liegen. Die
Gerichtsentscheidungen geben weniger Anlass zur Richterschelte, sondern werden durch die Bestimmungen im
Wohnungseigentums- und Mietrecht, im öffentlichen
Baurecht und im Immissionsschutzrecht selbst veranlasst.
Das wollen wir ändern! Denn Kinder sind ein Segen
für ihre Eltern und auch für die Gesellschaft, in der sie
leben. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft!
Union und FDP haben daher im Koalitionsvertrag vereinbart, dass Spielen, Toben, Lachen und Weinen von
Kindern kein Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen mehr sein dürfen. Wir haben versprochen, die
Gesetzeslage entsprechend zu ändern.
Dennoch werden wir dem vorliegenden Antrag nicht
zustimmen, weil es sich um eine hochkomplexe Materie
handelt, die nicht einfach zu lösen ist: Beteiligt sind
mehrere Bundesministerien und auch Länder und Kommunen: Das Bundesministerium für Verkehr, Bau, und
Stadtentwicklung ist zuständig für das Baugesetzbuch,
das Bundesumweltministerium für das Immissionsschutzrecht und das Bundesjustizministerium für die Regelungen des zivilen Nachbarschutzrechts. In der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegt der Schutz von
verhaltensbezogenem Lärm. Dazu gehört das Rufen,
Toben und laute Lachen der Kinder. Die kommunale
Ebene ist für das Bauplanungsrecht zuständig. So wichtig und richtig das Anliegen auch ist: Es darf keinen gut
gemeinten Schnellschuss geben, sondern nur eine gut
durchdachte Lösung.
Dabei sind wir uns sicherlich einig, dass wir mit
rechtlichen Regelungen allein das Grundproblem nicht
lösen können. Wir müssen neue Wege suchen, wie unsere
Gesellschaft kinderfreundlicher werden kann. Doch
durch eine Gesetzesänderung können wir als Gesetzgeber ein Signal senden: Eine kinderfreundliche Gesellschaft sind wir nur dann, wenn Kinder überall willkommen sind, wenn sie sich frei entfalten können und ihr
Rufen und Lachen nicht als Lärm, sondern als Zukunftsmusik gesehen wird.
Eine Gesetzesänderung in diesem Sinne bedeutet natürlich keinen Anspruch auf Rücksichtslosigkeit - weder
für die Planer von Kinderspielplätzen und von Bolzplätzen noch für die Eltern und Erzieherinnen und Erzieher
in der Kita. Es muss gelingen, die berechtigten Wünsche
und Bedürfnisse auch der Anlieger und Mitbewohner
mit denen der Kinder in Einklang zu bringen. Gegenseitige Rücksichtnahme ist das Gebot allen gemeinschaftlichen Miteinanders, denn Rücksichtnahme ist keine Einbahnstraße. Wir brauchen ein Klima der Toleranz, in
dem Jung und Alt, Kinderlose und Familien mit Kindern
gemeinsam zusammenleben können. So wie Anwohner
und Mitbewohner offenbar wieder neu lernen müssen,
Kinder als selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswirklichkeit und zugleich die Lebenswirklichkeit von
Kindern selbst zu akzeptieren ebenso wie den unveränderlichen Umstand, dass Kinder nun einmal laut sein
können, so sollten Eltern und Erzieher das Ruhebedürfnis anderer im Blick behalten und dafür Sorge tragen,
dass die Freude über die Nachbarschaft der Kinder erhalten bleibt.
Deutschland soll und will ein familienfreundliches
Land sein. Wer ein Herz für Kinder hat, der soll sich an
ihnen erfreuen können. Aber leider - nicht jeder denkt
so. Wenn Kinder toben, wenn Kinder laut rufen, dann
sorgt das gelegentlich auch für Ärger. Nachbarn fühlen
sich gestört und erheben Klagen, zum Beispiel gegen
Kindertageseinrichtungen. Wenn wir in einem familienfreundlichen Land leben wollen, dann müssen wir auch
in diesem Punkt Toleranz üben. Auch wenn mein kleiner
Sohn Alexander zu mir ins Büro kommt, tollt er herum.
Das ist ganz natürlich, das gehört zum Leben - deshalb
würde ich ihn nicht aus dem Büro schicken. Das muss
auch für Kindertageseinrichtungen in Wohngebieten
gelten. Kinder gehören in unser Leben, Kindereinrichtungen in unser Wohnumfeld.
Wiederholt gab es in der Vergangenheit Klagen gegen
den Betrieb von Kindereinrichtungen oder gegen erteilte
Baugenehmigungen. In einigen Fällen führte dies sogar
zu Schließungen von Einrichtungen. Wo sollen unsere
Kinder künftig spielen - in Stadtrandgebieten, in besonders ausgewiesenen Zonen? Die Kinder gehören zu uns,
und sie gehören damit auch in Wohngebiete. Dass dies
Zu Protokoll gegebene Reden
auch rechtlich abgesichert ist, wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion mit unserem Antrag erreichen. In der
vergangenen Legislaturperiode hatte der Bundestag bereits einen entsprechenden Antrag der Großen Koalition
beschlossen. Wir haben bewusst noch vor der Sommerpause 2009 in diesem Hohen Hause einen entsprechenden Beschluss gefasst. Dem müssen jetzt konkrete Taten
folgen. Kinderlärm darf rechtlich nicht mehr mit hupenden Autos oder dröhnenden Maschinen in Fabriken
gleichgesetzt werden.
Noch im November letzten Jahres behaupteten hochrangige Koalitionspolitiker unter Bezugnahme auf den
Koalitionsvertrag, schon in wenigen Wochen würden gesetzliche Regeln auf den Weg gebracht, die es ermöglichen, die bauplanungsrechtlichen Voraussetzungen für
Kindereinrichtungen zu verbessern. Darauf warten wir
bis heute - aus Wochen wurden nun schon Monate, bei
dem Tempo der Bundesregierung können Jahre vergehen, bis ein Gesetzentwurf vorgelegt wird. Im Januar
2010 fragte ich die Bundesregierung, wann die Koalition beabsichtigt, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Auch hier Fehlanzeige. Statt eines Gesetzentwurfes
in wenigen Wochen wird eine Änderung irgendwann in
dieser Legislaturperiode in Aussicht gestellt. Ich frage
mich, warum seit dem letzten Beschluss des Bundestages
zu diesem Thema inzwischen ein Dreivierteljahr nichts
getan wurde und wir immer noch auf dem Stand vom
Sommer 2009 sind.
Wir zeigen der Bundesregierung deshalb mit unserem
Antrag einen konkreten Weg auf. Erstens soll das Bundes-Immissionsschutzgesetz ergänzt werden, um klarzustellen, dass Kinderlärm in der Regel keine schädliche
Umwelteinwirkung ist. Kinderlärm muss in Wohngebieten toleriert werden. Zweitens wollen wir eine Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Auch dort soll festgelegt werden, dass Kinderlärm keine schädliche
Umwelteinwirkung darstellt. Und drittens verlangen
wir, die Baunutzungsverordnung so zu ändern, dass Kindertageseinrichtungen in Wohngebieten generell für zulässig erklärt werden. In einem weiteren Punkt regen wir
an, zu prüfen, wie durch präventiv wirkende Maßnahmen im Bereich der Städteplanung Klagen gegen Kinderlärm vermieden werden können.
Wir wollen Kinder und Kindereinrichtungen nicht
hinter meterhohen Lärmschutzwänden verstecken oder
in Randlagen drängen. Der Gesetzgeber ist gefordert,
endlich Klarheit zu schaffen, damit die Vorstellungen
von frühzeitiger Förderung der Kinder umgesetzt werden und die natürlichen Lebensäußerungen der Kinder
Rechtsschutz bekommen.
Dass es gangbare Wege gibt, zeigt das Land Berlin.
Hier wurde vor kurzem das Landes-Immissionsschutzgesetz geändert und Kindern ausdrücklich Schutz eingeräumt. Jedoch reichen landesspezifische Regelungen in
Teilbereichen nicht. Wir brauchen bundeseinheitliche
Normen, damit Rechtsklarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden. Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion unterbreitet dazu konkrete Vorschläge. Wir werden
den Antrag im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und den mitberatenden Ausschüssen debattieren. Ich bitte Sie im Sinne unserer Kinder und im Interesse einer modernen Familienpolitik um Unterstützung
und Zustimmung. Es gibt keinen Grund, die Frage weiter aufzuschieben. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam zu
einer Lösung kommen und beweisen, dass wir ein Herz
für Kinder haben.
Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass die SPD nicht
nur dem FDP-Parteiprogramm folgen kann, sondern
auch Forderungen stellt, die im Koalitionsvertrag bereits vereinbart wurden. Ein wenig traurig stimmt mich
dagegen, dass die SPD sich dabei nicht mehr Mühe
macht, als den Bundesratsantrag des Landes RheinlandPfalz vom 16. November 2009 zu übernehmen. Morgen,
am 5. März, wird der rheinland-pfälzische Antrag im
Plenum des Bundesrates abgestimmt. Die zuständigen
Ausschüsse haben zum Teil Änderungen empfohlen.
Nun zum SPD-Antrag:
Erstens. Der Antrag fordert in einer Ergänzung des
§ 3 Abs. 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes die
Klarstellung, dass Kinderlärm in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung im Sinne dieses Gesetzes darstellt.
Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob Kindergeräusche nie und in keinem denkbaren aktuellen und
künftigen Fall als Lärm einer Anlage - denn nur für
diese gilt das Bundes-Immissionsschutzgesetz - gewertet werden können. Bei genereller und pauschaler Herausnahme wäre eine Abwägung mit anderen Belangen
nicht mehr möglich, da die soziale Adäquanz der kindlichen Geräusche die Annahme von Lärm ausschließen
würde - eine aus meiner Sicht zu weitreichende Änderung.
Zweitens. Der Antrag fordert weiter eine Klarstellung
im Bürgerlichen Gesetzbuch in dem Sinne, dass Kinderlärm keine wesentliche Beeinträchtigung des Eigentums
oder der Mietsache mehr ist.
Das ist eine sehr umfassende Klarstellung. Die Frage
ist: Wollen wir, dass jeglicher Kinderlärm im häuslichen
Bereich von Dritten hinzunehmen ist? Damit würde das
nächtliche Schreien eines Säuglings dem nächtlichen
Lärm eines randalierenden Fünfjährigen gleichgestellt.
Auf das Verhalten des Säuglings haben Eltern keinen
Einfluss - dieser ist damit automatisch sozial adäquat.
Im Falle des Fünfjährigen können die Eltern durch Erziehung darauf hinwirken, dass nächtlicher Lärm vermieden wird. Daher sehe ich Kinderlärm durchaus differenziert. Was wäre denn die Folge einer solch
weitreichenden Regelung? Wenn wir Kinderlärm rechtlich unantastbar machen, könnten Nachbarn und andere
Anwohner nicht mehr rechtlich gegen diesen vorgehen.
Infolgedessen würden Vermieter aus Gründen der Vorsicht nicht mehr oder weniger an Familien vermieten.
Der Schutz, den wir eigentlich Familien mit Kindern gewähren wollen, würde sich durch eine solche Regelung
ins Gegenteil verkehren.
Drittens. Es wird die Änderung der Baunutzungsverordnung - BauNVO - gefordert.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass Kindergärten in Wohngebiete gehören, ist und
war nie strittig. Kommunalpolitiker aller Parteien wissen das seit Jahren. Die FDP hatte diese Forderung in
die Koalitionsvereinbarung eingebracht und wird darauf achten, dass das federführende Bundesministerium
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Punkt bei
der Änderung der BauNVO zügig umsetzt. Der Antrag
enthält hier also keine neuen Erkenntnisse oder gar
originelle Forderungen.
Natürlich ist es auch unser Anliegen, dass unsere
Kinder genügenden Freiraum haben, sich geistig und
körperlich optimal zu entwickeln. Man muss einen Ausgleich finden, der allen Interessen im privaten Bereich
gerecht wird. Das grundsätzliche Problem in unserer
heutigen Gesellschaft ist doch, dass es an ausreichender
Akzeptanz und Toleranz für Kinder fehlt. Kinderfreundlichkeit wird zwar gepredigt. Dennoch häufen sich Beschwerden über Kinderlärm. Die heutige Toleranz für
Kinder reicht leider nur so weit, wie der Lärm spielender Kinder einen selbst nicht stört.
Kinderlärm soll möglich sein, solange er sozialadäquat ist. Die Grenze der sozialen Adäquanz wird
aber von Person zu Person anders wahrgenommen. Was
der eine erst gar nicht als Störung wahrnimmt, übersteigt beim anderen die Schmerzgrenze. Dies gilt umso
mehr, als wir in einer immer älter werdenden Gesellschaft leben. Ältere Menschen haben mehr Bedürfnis
nach Ruhe und Rückzug. Dieser demografische Wandel
stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir müssen neben den Bedürfnissen der Kinder auch auf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaft eingehen. Wir
müssen also im Sinne der Generationengerechtigkeit
eine Lösung finden. Wir wollen, dass unsere Kinder in
einer kinderfreundlichen Gesellschaft aufwachsen. Dabei müssen wir verhindern, dass wir die Ablehnung gegenüber Kindern bestärken. Stattdessen müssen wir vielmehr versuchen, die Gesellschaft zu harmonisieren und
damit den Freiraum schaffen, den Kinder für eine gesunde Entwicklung benötigen.
Viertens. In diesem Sinne begrüßen wir einen Prüfauftrag, der zum Ziel hat, städtebaulich Konfliktzonen
aufzuzeigen. Im Wege sinnvoller Maßnahmen sollten
diese Konfliktzonen entschärft werden, damit künftig
keine Klagen wegen kindlichen Lärms mehr eingereicht
werden.
Fakt ist: Wir müssen Kinder schützen. Wir dürfen sie
aber nicht über alle anderen Generationen hinweg privilegieren. Denn dadurch würden wir vielmehr eine steigende Ablehnung gegenüber Kindern hervorrufen. Und
das will keiner. Deutschland muss insgesamt familienfreundlicher werden. Deswegen ist es uns wichtig, eine
bundeseinheitliche Regelung zu treffen.
Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, über das Lachen und Lärmen spielender Kinder hier so zu befinden
wie über das krank machende Getöse einer Stadtautobahn oder den penetranten Gestank einer undichten
Kläranlage. Wir reden hier im Deutschen Bundestag
über unsere Kinder und Enkel im Zusammenhang mit
Bauordnungs- und Immissionsschutzrecht, in Kriterien
wie anlagebezogenem oder verhaltensbezogenem
Lärm, in technischen Normen und juristischen Kategorien! Da kann ich nur hoffen, dass die das nicht mitbekommen und eines nicht allzu fernen Tages - hier auf
unseren Plätzen sitzend - in gleicher Weise, wie wir das
jetzt tun, über alte, gebrechliche oder Menschen mit Behinderungen debattieren, feilschen und über sie hinweg
entscheiden. Schon aus Selbstschutzgründen bin ich dafür, Kinderrechte lieber jetzt als später in die Verfassung
- pardon - ins Grundgesetz zu schreiben.
Immerhin ist es ja löblich und durchaus anerkennenswert, dass die Antragsteller nun dem Beispiel der rotroten brandenburgischen Koalition folgen und auch auf
Bundesebene längst überfällige Regelungen auf den
Weg bringen wollen, die wenigstens die rechtlichen
Grundlagen dafür schaffen, dass man Kinder nicht einfach wegklagen kann. Wir unterstützen das ausdrücklich, wollen aber - das werden Sie nicht anders von uns
erwarten - an der einen Stelle weniger, dafür an anderer
Stelle deutlich mehr. Was wir nicht wollen, ist eine gesetzliche Regelung, die lediglich als Reaktion auf anhängige Gerichtsverfahren zeitweilig eine Lücke
schließt und andere, ebenfalls reformbedürftige Gesetzesteile unberücksichtigt lässt, bis neue Klagen wiederum dazu zwingen, neue Anpassungen auf den Weg zu
bringen. Was wir deutlich mehr und sehr viel gründlicher wollen, ist eine Novellierung des Bauordnungsund auch des Immissionsschutzrechtes, das den gegenwärtigen und den künftigen Herausforderungen einer
menschenfreundlichen Stadtentwicklung nicht hinterherläuft oder sie gar ignoriert und konterkariert, sondern sie aktiv und vorausschauend mitgestaltet. Dazu
gehört zum Beispiel, Bauordnungsrecht nicht reaktiv
und selektiv - wie im vorliegenden Fall - anzupassen,
sondern aus der Prognose der Bedürfnisse künftiger Generationen demokratisch neuzugestalten; absehbare,
wissenschaftlich gestützte ökonomische, ökologische
und demografische Entwicklungen und Tendenzen zur
Grundlage von Gesetzgebungsprozessen zu machen und
offensichtliche städtebauliche Missstände und Fehlentwicklungen auch mit Mitteln des Bau- und des Immissionsschutzrechtes beheben zu helfen.
Das alles und sicher noch einiges mehr wird notwendig sein, um der voranschreitenden und sich verstetigenden Tendenz der Segregation in unseren Städten entgegenzuwirken, um Integration und Solidarisierung von
Kindern und Erwachsenen unterschiedlicher sozialer,
ethnischer und religiöser Herkunft und Prägung zu fördern, um den Forderungen und materiellen Voraussetzungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen
im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht
zu werden.
Wir werden, das sei Ihnen, meine Damen und Herren,
versprochen, in diesem Sinne initiativ werden. Fürs
Erste allerdings wollen wir uns mit dem, was hier vorliegt, bescheiden und das als einen Schritt in die richtige
Richtung - nicht mehr und nicht weniger - unterstützen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/881 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 19:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für eine Verstetigung der Kommunalfinanzen - Die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickeln
- Drucksache 17/783 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden von den Kolleginnen und Kollegen Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Dr. Birgit
Reinemund, Katrin Kunert und Britta Haßelmann zu
Protokoll gegeben werden.
Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit,
und dazu gehört zu Beginn eine Darstellung der finanziellen Situation von Bund, Ländern und Kommunen. Zu
dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke
möchte ich daher eingangs gerne noch einmal vor
Augen führen, wie sich die finanzielle Situation von
Bund, Ländern und Kommunen im Augenblick darstellt.
Der öffentliche Schuldenstand beläuft sich aktuell auf
insgesamt 1,68 Billionen Euro. Hiervon entfallen
62 Prozent auf den Bund. Er ist also bereits mit über
1 000 Milliarden verschuldet. Auf die Länder entfallen
32 Prozent der Schulden und auf die Kommunen 6 Prozent. Der Bund muss alleine in diesem Jahr neue Schulden in Höhe von 85,8 Milliarden Euro aufnehmen. Ich
möchte Sie einfach der Fairness halber darauf hinweisen: Dem Bund geht es finanziell sehr viel schlechter als
Ländern und Kommunen!
In den Jahren 2006 bis 2008 übrigens wuchsen die
Einnahmen der Gemeinden aus der Gewerbesteuer steil
an, und zwar bis auf 34,3 Milliarden Euro. Für die Kommunen war es das beste Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik. In diesen guten Jahren haben viele Städte
und Gemeinden die Gelegenheit genutzt, Schulden abzubauen und Rücklagen zu bilden. Unter der rot-grünen
Vorgängerregierung war daran nicht zu denken.
Die derzeitige prekäre Situation der Haushaltslage
des Bundes, der Länder wie auch der Gemeindefinanzen
ist unmittelbar eine Folge der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise. Der Bund aber trägt die Hauptlasten
für alle seit Ausbruch der Krise in Angriff genommenen
Programme zur Stützung und Förderung der Konjunktur. In der Großen Koalition haben wir bereits erste
Maßnahmen ergriffen, um das Wachstum zu stärken und
insbesondere den Kommunen unter die Arme zu greifen.
Schon im Rahmen der Unternehmensteuerreform haben
wir die Gewerbesteuereinnahmen auf gesündere Beine
gestellt, indem wir die Hinzurechnung von Miet- und
Pachtzinsen beschlossen und damit eine gleichmäßigere
Einnahmensituation hergestellt haben.
Mit dem Konjunkturpaket I haben wir strukturschwache Kommunen über KfW-Zinszuschüsse von 300 Millionen Euro unterstützt. Kommunen in besonders schwieriger Haushaltslage wird über den Investitionspakt BundLänder-Gemeinden eine klimagerechte Modernisierung
von Gebäuden der sozialen Infrastruktur wie Schulen,
Kindergärten und Turnhallen ermöglicht. Hier wurde
der Bundesanteil für die Jahre 2009 bis 2011 um jeweils
300 Millionen Euro erhöht.
Im Konjunkturpaket II haben wir für zusätzliche Investitionen von Ländern und Gemeinden Bundesmittel in
Höhe von 10 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.
65 Prozent davon sind für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur reserviert. Hierzu gehören zum Beispiel
Investitionen zur energetischen Sanierung von Schulen,
Hochschulen sowie kommunalen oder gemeinnützigen
Einrichtungen der Weiterbildung, Investitionen in Einrichtungen der frühkindlichen Infrastruktur wie Kindertagesstätten oder in die Forschung. Dies verbessert die
Bildungsinfrastruktur vor Ort erheblich und legt den
Grundstein für die Wachstumspotenziale von morgen.
Diese Aufträge tragen nicht nur zum Erhalt lokaler Arbeitsplätze und zum Gewerbesteueraufkommen bei, sondern führen darüber hinaus in den kommenden Jahren
aufgrund niedrigerer Betriebskosten zu Einsparungen in
den kommunalen Haushalten. Ebenso werden weitere
Investitionen in Krankenhäuser ermöglicht wie auch in
moderne Breitbandnetze, um auch ländliche Kommunen
an die Kommunikation der Zukunft anzubinden.
Der Bund investiert zusätzlich weitere 4 Milliarden
Euro in die Infrastruktur wie Bundesverkehrswege und
Bauten. Auch hiervon profitieren die Kommunen über
eine verbesserte Infrastruktur nachhaltig. Mit den Ländern und Kommunen hat der Bund darüber hinaus ein
Gesamtpaket zum bedarfsgerechten Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren beschlossen. Ab 2014 sollen bundesweit 750 000 Plätze in der
Kindertagesbetreuung zur Verfügung stehen. Dafür
stellt der Bund 4 Milliarden Euro bereit. Ab 2014 beteiligt sich der Bund auch weiterhin mit 770 Millionen
Euro jährlich an diesen Kosten, die ganz vorrangig kommunale Aufgaben und Kosten wären. Abgesehen von den
Bundesverkehrswegen sind dies alles Aufgaben, für die
der Bund nach unserem Grundgesetz finanziell nicht zuständig ist, die er aber trotzdem finanziert, weil er die
Kommunen um diese Kosten entlasten will.
Schon die Eingangsbehauptung zu Ihrem Antrag
stimmt einfach nicht: Mit dem Bürgerentlastungsgesetz
sowie dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir
Familien massiv entlastet und dafür gesorgt, dass Arbeitnehmer am Ende des Monats über mehr Netto vom
Brutto verfügen können. Vor allem den Mittelstand ha2496
ben wir dadurch entlastet, dass wir die 2008 eingeführten Hinzurechnungen bei Mieten und Pachten von
65 Prozent auf 50 Prozent abgesenkt haben. Diese Senkung führt bei der Gewerbesteuer zu geringfügigen Mindereinnahmen von 0,3 Prozent. Am Ende dieses Prozesses profitieren die Kommunen über einen vermehrten
privaten Konsum und unzählige gesicherte Arbeitsplätze
und damit ein erhöhtes Gewerbesteueraufkommen beträchtlich.
Aber nun im Einzelnen zu Ihrem Antrag:
In allen Debatten geißeln Sie uns mit der Behauptung, wir wollten die Gewerbesteuer abschaffen. Das
wollen wir aber nur dann, wenn wir gemeinsam mit den
Kommunen eine bessere Einnahmequelle, die nicht so
konjunkturabhängig wie die Gewerbesteuer ist, finden.
Die Linke fordert, die Gewerbesteuer in eine allgemeine
Gemeindewirtschaftsteuer umzuwandeln. Nach ihren
Plänen sollen der Bemessungsgrundlage alle Schuldzinsen hinzugerechnet werden. Außerdem sollen die Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und
Lizenzgebühren in voller Höhe bei der Ermittlung der
Steuerbasis berücksichtigt werden. Ich kann Ihnen ganz
genau sagen, wohin Ihre Pläne führen würden, werte
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion. Sie
würden den Mittelstand, der die tragende Säule unserer
sozialen Marktwirtschaft darstellt und ein Garant für
stabile Arbeitsplätze ist, mit einer solchen maßlosen
Ausweitung der Substanzbesteuerung völlig ausbluten
lassen. Ihr Antrag ist ein Schuss vor den Bug des kleinen
Einzelhändlers an der Ecke. Die Folge ist eine Verringerung des Gewerbesteueraufkommens aufgrund vermehrter Pleiten - keine Erhöhung!
Der Antrag sieht außerdem vor, die Gewerbesteuerumlage an den Bund sofort und an die Länder schrittweise bis 2015 abzuschaffen. Lassen Sie mich vorweg
vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, wie es zu einer Gewerbesteuerumlage überhaupt kommen konnte.
Die Umlage war Teil der 1970 durchgeführten Gemeindefinanzreform. Zentral war hier die Einrichtung eines
Steueraustausches zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Die Gemeinden wurden an dem Aufkommen der
Einkommensteuer beteiligt, Bund und Länder erhielten
einen Anteil am Gewerbesteueraufkommen. Dies geschah nicht zuletzt auf Wunsch der Kommunen, weil die
Gewerbesteuer Konjunkturschwankungen eher unterliegt als die Einkommensteuer.
Ich frage ganz direkt: Warum beantragt die Fraktion
Die Linke nicht gleich die Abschaffung dieser Vereinbarung? Aus folgendem Grund: Die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würde zu einer weiteren Verschärfung der bereits bestehenden Ungleichgewichte
zwischen den einzelnen kommunalen Verbänden führen.
Die Städte Coburg und Frankfurt am Main beispielsweise hatten im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro Einwohner von 2 668 Euro bzw. 2 473 Euro.
Weimar und Delmenhorst hatten mit 191 Euro und
192 Euro nicht einmal ein Zehntel dessen zur Verfügung.
Eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würde
aber dazu führen, dass Kommunen, die eine geringe
Wirtschaftskraft, wie die beiden letztgenannten, besitzen, nicht von der Abschaffung einer solchen Umlage
profitieren. Denjenigen Kommunen und Städten, die relativ hohe Gewerbesteuereinnahmen erzielen und entsprechend auch eine höhere Umlage leisten, würden wir
bei Abschaffung der Umlage diesen hohen Anteil wieder
zurückgeben. Diejenigen, die nur geringe Einnahmen
aus der Gewerbesteuer haben, hätten bei Umsetzung Ihres Antrags aber überhaupt keinen Vorteil. Mit anderen
Worten: Diejenigen Kommunen, die es am wenigsten nötig haben, würden, wenn es nach der Fraktion Die Linke
ginge, am meisten profitieren. Klamme Gemeinden dagegen hätten nichts von dem Vorschlag.
Es kommt aber noch Folgendes hinzu: Wenn Sie die
Gewerbesteuerumlage an den Bund sofort und an die
Länder schrittweise abschaffen wollen, müssen Sie auch
erklären, wie Sie dieses Vorhaben gegenfinanzieren wollen. In der heutigen Bereinigungssitzung zum Haushalt
2010 haben Sie ja Gelegenheit, diesen Antrag nachzureichen.
Da ist dann erstmals Licht am Ende des Tunnels Ihres
Antrags: bei einer Gemeindewirtschaftsteuer. Unserer
Verantwortung für unsere Städte und Kommunen sind
wir uns absolut bewusst. Genau zu diesem Zweck ist die
heute erstmals zusammengetretene Regierungskommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung unter
der Leitung von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble ins
Leben gerufen worden. Wir versuchen stets, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Bundes
wie auch der Kommunen zu finden. Deshalb liegt auch
seit Jahren ein Vier-Säulen-Modell zur Neuordnung des
Gemeindesteuersystems auf dem Tisch, das bereits 2006
aufkommensneutral hätte eingeführt werden können. Im
Rahmen der Debatte sollte zum Beispiel auch die Reform der Grundsteuer auf die Frage hin überprüft werden, ob sie als eine Säule des Ersatzes der Gewerbesteuer in Betracht kommt. All dies werden wir mit den
kommunalen Vertretern sehr intensiv besprechen.
Es kann aber nicht nur darum gehen, zusätzliche
Steuereinnahmen zu generieren und damit Bürgerinnen
und Bürger zusätzlich zu belasten, sondern wir werden
auch sehr intensiv auf der Ausgabenseite nachprüfen
müssen, ob wir alle bisherigen Aufgaben tatsächlich
noch brauchen, ob wir über eine Veränderung von Standards ein hohes Niveau halten können und ob es durch
Effizienzsteigerungen nicht zu verminderten Ausgaben
kommen kann.
Darüber hinaus werden wir uns selbstverständlich im
Vermittlungsausschuss noch einmal sehr intensiv mit
den Kosten der Unterkunft befassen. Dabei dürfen die
Kommunen allerdings nicht vergessen, dass sie sich im
Jahre 2006 an der Schaffung einer Berechnungsgrundlage, die sich an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften
orientiert, beteiligt haben.
Keine Lösung ist jedenfalls Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, in dem Sie
fordern, zur Hilfe einer staatlichen Ebene, die finanzielle Sorgen hat, eine andere staatliche Ebene in eine
weitere Schuldenaufnahme zu zwingen oder Bürgerinnen und Bürger zusätzlich zu belasten. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Generationengerechtigkeit, dass wir
Zu Protokoll gegebene Reden
die gegen Ihre Stimmen beschlossene Schuldenregelung
jetzt auch einhalten. Die Menschen in unserem Land haben ein Recht darauf, dass die heute beginnende Kommission gute Lösungen sowohl für die Kommunen als
auch für den Bund findet. Wir sind bereit, diesen Weg
mitzugehen.
Den Kommunen geht es schlecht. Überall wird vor
Ort angesichts der desolaten Finanzsituation über die
Schließung von Theatern, Bädern und Stadtteilbibliotheken gesprochen. Aus einem positiven Finanzierungssaldo von 7,6 Milliarden Euro im Jahr 2008 ist ein Minus von 4,5 Milliarden Euro im Jahr 2009 geworden. Im
Jahr 2010 rechnen die kommunalen Spitzenverbände
mit einer Unterdeckung von 12 Milliarden Euro. Die Löcher in den kommunalen Haushalten vergrößern sich
durch Gesetze von Schwarz-Gelb um weitere 2 bis 3 Milliarden Euro.
Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
das eher ein Schuldenbeschleunigungsgesetz ist, hat unmittelbare Ausfälle von 1,6 Milliarden Euro zur Folge.
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass
die Länder einen Teil ihrer eigenen Steuerausfälle an die
Kommunen weiterreichen werden. Seriöse Schätzungen
gehen dabei von mindestens einer halben Milliarde Euro
aus.
Morgen möchte die schwarz-gelbe Koalition ein
weiteres Kommunalbelastungsgesetz verabschieden.
Es kommt unter dem eher harmlos klingenden Namen
Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften daher.
Doch es enthält von der Koalition nachgeschobene Regelungen zur Funktionsverlagerung und zu Leasing und
Factoring, die sich zur Zeitbombe für die Kommunen
entwickeln werden. Ausfälle für die Kommunalfinanzen
von 650 Millionen Euro müssen bei Regelungen zur
Funktionsverlagerung und ein knapp dreistelliger Millionenbetrag bei Leasing und Factoring erwartet werden. Das ist unvertretbar in der aktuellen Situation, in
der sich krisen- und konjunkturell bedingt viele Kommunen in finanzieller Schieflage befinden. Die angemessene Reaktion wäre, auf die angesprochenen Gesetze zu
verzichten, die Einnahmesituation der Kommunen zu
verbessern und über Wege der Entlastung bei den Sozialausgaben, die sich der 40-Milliarden-Euro-Marke
annähern, nachzudenken.
Dass die heute vom BMF erstmalig eingeladene Gemeindefinanzkommission richtige Antworten liefern
wird, darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Ziel soll
ja offenbar sein, die Gewerbesteuer abzuschaffen und
durch untaugliche Instrumente der Gegenfinanzierung
zu ersetzen. Die Folgen der angedachten Änderung: weg
von der Gewerbesteuer, hin zu Zuschlagsrechten bei
Einkommen- und Körperschaftsteuer bedeuten: erlahmendes Interesse der Kommunen an der Ansiedlung von
Unternehmen. Wollen wir das? Verlagerung der Steuerbelastung von der Wirtschaft hin zu Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern. Wollen wir das? Verschärfung der
Stadt-Umland-Problematik. Wollen wir das? Nein, das
kann niemand ernsthaft wollen, der es gut mit Städten
und Gemeinden meint.
Umso merkwürdiger mutet an, dass auch die Linke in
ihrem Antrag vom Ersatz der Gewerbesteuer spricht.
Ersatz ist der falsche Weg. Weiterentwicklung und Stabilisierung der Gewerbesteuer sind der richtige Weg, hin
zu dem, was wir im Jahr 2003 als Ergebnis der Gemeindefinanzreformkommission unter Hans Eichel das
Kommunalmodell genannt haben. Dazu gehört die
Einbeziehung aller Finanzierungsformen in die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer und die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht. Die
Umsetzung des Kommunalmodells ist bedauerlicherweise damals am schwarz-gelb dominierten Bundesrat
gescheitert.
Mit der Unternehmensteuerreform 2008 waren wir
auf einem guten Weg. Schwarz-Gelb verlässt jetzt diesen
Pfad der Tugend wieder und kehrt zur Einrichtung neuer
Steuerschlupflöcher zurück, mit katastrophalen Folgen
für die Kommunalhaushalte.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aber auch in
anderen Punkten unklar. Bedeutet die geforderte Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, dass auch auf die
Anteile an der Einkommensteuer seitens der Kommunen
verzichtet werden soll? Immerhin gewährleistet die Umlage seit 1969, als die Kommunen in Höhe von 15 Prozent am Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt wurden, einen gewissen Ausgleich für die Verluste von Bund
und Ländern. Hätten Bund und Länder bei Wegfall der
Umlage überhaupt noch ein Interesse an der Gewerbesteuer? Die kommunalen Spitzenverbände haben jedenfalls im Gegensatz zur Linken die Gefahr erkannt und
plädieren deshalb für eine Absenkung und nicht für die
Abschaffung.
Der Antrag der Fraktion Die Linke wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Er ist unpräzise formuliert
und in sich nicht konsistent. Deshalb findet er nicht die
Zustimmung der SPD-Fraktion.
Einer Feststellung im Antrag der Fraktion Die Linke
kann ich vorbehaltlos zustimmen: Viele Städte, Gemeinden und Landkreise befinden sich in einer dramatischen
Haushaltslage. Da haben Sie völlig recht. Nur: Sie ziehen die falschen Schlüsse daraus! In typischer Manier
linker Ideologie sehen Sie die einzige Lösung in zusätzlichem Abkassieren von Steuerzahlern - hier Unternehmern und Freiberuflern, indem Sie einfach die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer verbreitern
und weitere Berufsgruppen gewerbesteuerpflichtig stellen. Das bedeutet für viele Unternehmen schlicht eine
Steuererhöhung - und dies mitten in der schwersten
Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Damit werfen Sie
lediglich frisches Geld in ein unzuverlässiges System
und entziehen so den Betrieben Kapital, welches diese
dringend für Investitionen benötigen, die letztlich auch
den Kommunen zugute kämen.
Die im Grundgesetz Art. 18 Abs. 2 gesicherte kommunale Selbstverwaltung müssen wir auf eine stabile, verZu Protokoll gegebene Reden
lässliche finanzielle Grundlage stellen. In der Krise hat
sich erneut gezeigt, dass die extrem konjunkturabhängige Gewerbesteuer dazu nicht geeignet ist. Zur
Verdeutlichung: in Deutschland schwankte das Gewerbesteueraufkommen im Zeitraum von 1999 bis 2008 zwischen 27,06 Milliarden Euro und 41,037 Milliarden
Euro mit einem Einbruch auf 23,49 Milliarden Euro im
Jahr 2002. 2009 erlebten wir einen Konjunktureinbruch
von 5 Prozent. Der Deutsche Städtetag schätzt gleichzeitig einen Rückgang bei der Gewerbesteuer 2009 von
durchschnittlich 18,3 Prozent brutto, 17,4 Prozent netto,
wobei die einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich betroffen sind - mit teilweise über 40 Prozent Gewerbesteuermindereinnahmen zum Beispiel in der VW-Stadt
Wolfsburg. Diese Zahlen sind eineindeutig, die Schwankungsbreite ist enorm und unkalkulierbar für die Kommunen.
Neben den konjunkturbedingten Steuermindereinnahmen ist eine der Hauptursachen für die Finanznot der
Kommunen auf der Ausgabenseite zu suchen. In den letzten Jahren wurden ihnen - vor allem unter Rot-Grün zunehmend Aufgaben vom Bund übertragen, ohne ausreichende Kostenübernahme zu gewährleisten. Kosten
für die Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern, Eingliederungshilfe, Grundsicherung im Alter und das Tagesbetreuungsausbaugesetz verursachen enorme Kosten für
die Kommunen. Wir brauchen eine stärkere Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips auf der Ausgabenseite,
damit wieder gilt: Wer bestellt, bezahlt.
Angesichts dieser Tatsache sollten wir uns über eine
grundsätzliche Strukturreform der kommunalen Steuereinnahmen Gedanken machen, anstatt ein marodes, labiles System weiter aufzublähen. Das Herumdoktern an
einem kranken System bringt den Kommunen keine Linderung. Ich begrüße daher, dass die Gemeindefinanzreform jetzt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das
erste Treffen der Kommission aus Bund, Ländern und
kommunalen Spitzenverbänden am heutigen 4. März
2010 ist ein erster wichtiger Schritt. Dabei erwarte ich,
dass alle Beteiligten vorurteilsfrei, ergebnisoffen und
zielorientiert in die Diskussion eintreten.
Ich erinnere daran, dass die FDP seit Jahren fordert,
die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der
Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die
Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen, mit eigenem Hebesatzrecht für die Kommunen. Dieses
Hebesatzrecht schafft echten Wettbewerb zwischen den
Gemeinden und Transparenz und Entscheidungsfreiheit
für Bürgerinnen und Bürger. Es sorgt so für Kostenbewusstsein und eine effiziente Mittelverwendung. Mittels
eines Zuschlags auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer werden alle Bürger und Unternehmen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung
ihrer Gemeinde beteiligt. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer sind weniger konjunkturabhängig und schwankungsanfällig. So ist die Umsatzsteuer im Gegensatz zu allen anderen Steuerarten selbst
im Krisenjahr 2009 sogar leicht gestiegen. Hätten Sie
früher auf die FDP gehört, sähe es heute bei den Gemeindefinanzen anders aus.
Nicht zu vergessen: Grundlage jeder Steuereinnahme
ist wirtschaftlicher Erfolg, sind Arbeitsplätze und
Wachstum. Wir haben mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz einen ersten Schritt unternommen, um die
Konjunktur zu stärken. Jede verhinderte Insolvenz, jeder
erhaltene Arbeitsplatz kommt direkt auch den Kommunen zugute und spült Steuern in die leeren Kassen. Das
vergessen unsere Kritiker oft. In diese Richtung muss es
weiter gehen. Erwirtschaften statt abkassieren und umverteilen ist die Devise!
Heute konstituiert sich die Regierungskommission
zur Zukunft der Kommunalfinanzen. Damit wird die
längst überfällige Diskussion zu den Kommunalfinanzen
eröffnet. Die Linke erwartet, dass die Kommission nicht
hinter verschlossenen Türen tagt, sondern dass eine
breite öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommunalfinanzen zugelassen wird. Alle relevanten Akteure
müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren und sich in den Diskussionsprozess einbringen zu
können. Alle Ideen, Vorschläge aus möglichst vielen
Kommunen, Verbänden und Gewerkschaften müssen
Eingang finden. Denn diese Frage ist für Städte, Gemeinden und Landkreise existenziell. Schließlich steht
die Zukunft der Kommunen auf dem Spiel. Existenziell
für die Kommunen ist in diesem Zusammenhang auch
die Frage der Verstetigung und Verbreiterung der
Gewerbesteuer, mithin ihre Entwicklung hin zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer. Insofern hat die Linke heute
ganz bewusst ihren Antrag eingebracht.
Die Haushaltssituation vieler Gemeinden hat sich gerade in jüngster Zeit dermaßen verschlechtert, dass
diese vielerorts kaum noch handlungsfähig sind. Für das
laufende Jahr rechnet der Deutsche Städtetag mit einem
Rekorddefizit in Höhe von insgesamt 12 Milliarden
Euro, das nach Schätzungen von Bund, Ländern und Gemeinden bis zum Jahr 2013 auf deutlich über 40 Milliarden Euro ansteigen wird.
Unstreitig dürfte sein, dass die Kommunen in der Regel unverschuldet in diese prekäre Lage geraten sind.
Die Kommunen vollziehen schon seit Jahren gezwungenermaßen Entscheidungen des Landes-, des Bundesund des europäischen Gesetzgebers, die einerseits zu
höheren Ausgaben und andererseits zu sinkenden Einnahmen führen. Fehlentscheidungen der Bundesregierung unter Rot-Schwarz und Schwarz-Gelb haben dazu
geführt, dass die Sozialausgaben explodieren. Die Kosten hierfür tragen zu einem großen Teil die Kommunen.
Gleichzeitig zieht sich der Bund immer mehr aus der Finanzierung der Sozialleistungen zurück. So hat beispielsweise der Bundestagsbeschluss zur Bundesbeteiligung zu einem Anstieg der bundesweiten kommunalen
Belastungen mit Unterkunftskosten in Höhe von
11 Milliarden Euro geführt, was einer Steigerung von
27 Prozent seit Einführung von Hartz IV entspricht. So
weit zur Ausgabenseite.
Zur Einnahmenseite: Sowohl unter Rot-Schwarz als
auch unter Schwarz-Gelb hat die Bundesregierung Gesetzesvorhaben zur Steuerentlastung auf den Weg geZu Protokoll gegebene Reden
bracht, die gerade die kommunalen Steuereinnahmen
empfindlich treffen. Allein im Zeitraum von November
2008 bis zum Sommer 2009 wurden im Bundestag mit
den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP Gesetze angenommen, die bis zum Jahr 2013 für die Kommunen zu
einer Belastung in Höhe von 19 Milliarden Euro führen.
Einnahmeausfälle und Ausgabensteigerungen, dieser
Spagat ist auf Dauer nicht zu verkraften und es droht bereits jetzt vielen Gemeinden der finanzielle Kollaps. Dieser Entwicklung kann und darf der Gesetzgeber nicht
weiter tatenlos zusehen. Die grundgesetzlich garantierte
kommunale Selbstverwaltung, die durch verschiedene
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes in ihrem Gehalt immer wieder bekräftigt und erweitert
wurde, darf nicht weiter ausgehöhlt werden.
Zu den strukturellen Finanzproblemen kommen jetzt
als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise noch enorme
Einbrüche bei den Einnahmen aus der Gewerbesteuer
hinzu. Im Durchschnitt sind diese Einnahmen im Jahr
2009 um 17,4 Prozent zurückgegangen, wobei in vielen
Städten deutlich dramatischere Verluste in Höhe von
zum Teil mehr als 40 Prozent zu verzeichnen waren. Insgesamt mussten die Kommunen im Jahr 2009 Steuermindereinnahmen in Höhe von 7,1 Milliarden Euro verkraften.
Der Rückgang der Gewerbesteuer ist aber für die
Linke im Unterschied zur FDP keinesfalls ein Grund,
die Abschaffung der Gewerbesteuer zu fordern. Im Gegenteil, unserer Auffassung nach sind die massiven
Gewerbesteuereinbrüche darauf zurückzuführen, dass
diese Steuer in der Vergangenheit nur unzureichend stabilisiert wurde. Wir möchten in diesem Zusammenhang
auch an das von der Bundeskanzlerin im Mai 2009 auf
dem Städtetag in Bochum abgegebene Versprechen erinnern, wonach an der Gewerbesteuer nicht gerüttelt werden soll.
Wir als Fraktion Die Linke schlagen zur Herbeiführung der notwendigen Verstetigung der Kommunalfinanzen vor, die bestehende Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. So sollen
zukünftig alle unternehmerisch Tätigen in die Steuer
einbezogen werden. Die Last der bisherigen Gewerbesteuer soll auf mehr Schultern verteilt werden. Zudem
soll eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, die
auch vom Städtetag sowie vom Städte- und Gemeindebund gefordert wird, dazu beitragen, die derzeitige Einnahmesituation der Gemeinden zu verstetigen, das heißt
sie konjunkturunabhängig zu gestalten.
Selbstverständlich ist uns klar, dass eine derartige
Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen an dieser
Stelle für kleinere Unternehmen und Existenzgründer
eine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstellen kann. Unser Antrag sieht daher entsprechende Freibeträge vor, die im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage
sogar zu einer Steuererleichterung führen und damit entsprechend mehr Kaufkraft generieren.
Zur Schließung von bisher bestehenden Steuerschlupflöchern und zur damit verbundenen Herstellung
von mehr Steuergerechtigkeit soll für die von uns vorgeschlagene Gemeindewirtschaftsteuer die Bemessungsgrundlage im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage verbreitert werden, indem alle Schuldzinsen hinzugerechnet
und die Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten,
Leasingraten und die Lizenzgebühren in voller Höhe bei
der Ermittlung der Steuerbasis Berücksichtigung finden.
Wir möchten mit dieser Maßnahme jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass in Zukunft nicht
mehr die Möglichkeit bestehen soll, tatsächliche Verluste steuerlich geltend zu machen. Wir möchten durch
eine Pflicht zur zeitnahen Geltendmachung von Gewinnen und Verlusten in der jeweiligen Entstehungsphase
sicherstellen, dass vorhandene Gewinne nicht im Nachhinein kleingerechnet werden, und so dieses mögliche
Steuerschlupfloch schließen. Im Ergebnis würde auch
hierdurch ein Plus an Steuergerechtigkeit geschaffen
werden.
Gerade in der Krise müssen wir sicherstellen, dass
die Gemeinden über die finanziellen Mittel verfügen, die
Aufgaben der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und
Bürger in guter Qualität zu erfüllen.
Die Linke schlägt in ihrem Antrag eine Umwandlung
der Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer
vor. Dabei sollen auch freie Berufe mit in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen werden und die gewinnunabhängigen Elemente voll hinzugezogen werden. Dazu
kann ich nur sagen: Bravo! Für eine solche Lösung werben wir Grüne schon seit 2003.
Wenn heute nur rund ein Drittel aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen Gewerbesteuer zahlen, dann
ist das nicht gerecht. Leider lassen Sie, sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen von den Linken, zentrale Erkenntnisse der schon im Jahre 2002 eingesetzten Gemeindefinanzkommission unter den Tisch fallen. Wir
Grüne wollen in unserem Konzept der kommunalen
Wirtschaftssteuer - wie Sie - die gewinnunabhängigen
Elemente stärken und die freien Berufe einbeziehen. Wir
folgen jedoch dem Vorschlag der Kommission und wollen nicht nur die Steuerlast auf mehrere Schultern verteilen, sondern auch zugleich die Steuern senken.
Wir Grüne wollen es auch vermeiden, Unternehmen
durch die Einbeziehung gewinnunabhängiger Elemente
in der Substanz zu besteuern. Ich bin mir nicht sicher, ob
Ihre Fraktion dies im Blick hat. So fehlt in Ihrem Antrag
ein zentraler Punkt: Sie müssen Unternehmen die Verrechnung von Verlusten ermöglichen und so die Steuer
für wirtschaftlich schwierige Zeiten flexibler gestalten.
Außerdem müssen Sie deutlich machen, in welchem
Ausmaß Sie Freiberufler und Personenunternehmen mit
der Gewerbesteuer belasten wollen. Wir Grüne wollen
die volle Anrechnung auf die Einkommensteuer, sodass
die freien Berufe unter dem Strich nicht mehr belastet
werden, wohl aber ihren Beitrag für die kommunale
Infrastruktur leisten müssen, da die Gewerbesteuer in
erster Linie den Kommunen zufließt. Leider ist Ihr im
Grundsatz richtiger Antrag an den entscheidenden Stellen zu unausgewogen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Während die Linke zu kurz springt, sind die Forderungen von Union und FDP, die Sie in der heute konstituierten Gemeindefinanzkommission prüfen lassen
wollen, geradezu abenteuerlich. Ihr Ansatz, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch Umsatzsteueranteile
und Hebesätze auf die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer zu ersetzen, ist schon 2003 in der Gemeindefinanzkommission aus guten Gründen verworfen
worden. Die Kommunen brauchen jetzt Entscheidungen,
die ihre strukturelle Unterfinanzierung durch Bund und
Länder substanziell verbessern. Statt Entscheidungen zu
treffen, vertagen Sie die Problemlösung in eine Kommission, die schon heute zum Scheitern verurteilt ist. Sie
schicken die Kommunen auf die Reservebank, um in aller Seelenruhe weiter Steuersenkungen zu beschließen,
die den Kommunen weitere Milliarden an Einnahmen
entziehen. Wohin bei Ihnen die Reise geht, haben Sie bereits im Dezember - kurz nach Regierungsantritt - deutlich gemacht: Durch die Kürzung des Bundesanteils an
den Kosten der Unterkunft für ALG-II-Beziehende und
das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben Sie den
Kommunen mal eben 3,5 Milliarden Euro entzogen. Es
macht mich sprachlos, wenn Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, bereits in
der morgigen Sitzung des Bundestages einen Beschluss
zur Unternehmensbesteuerung auf den Weg bringen
wollen, der den Kommunen weitere 650 Millionen Euro
jährlich entzieht. Das ist schon verwegen, einen Tag
nach der konstituierenden Sitzung der Gemeindefinanzkommission, unverdrossen weiter den Kommunen das
Wasser abzugraben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP,
seien Sie ehrlich: Verraten Sie den Bürgerinnen und
Bürgern, wer künftig die 35 Milliarden Euro für die Gewerbesteuer aufbringen muss. Treffen wird es vor allem
die Bürgerinnen und Bürger in den Städten über erhöhte
Einkommensteuersätze oder sogar die Verbraucherinnen und Verbraucher über höhere Umsatzsteuerpunkte.
Seien Sie ehrlich und legen Sie offen, was es bedeutet,
die Gewerbesteuer abzuschaffen! Nur für die Unternehmen gehen Sie mit den Steuern runter. Für die Bürgerinnen und Bürger gehen die Steuern rauf. Das ist Ihre
Botschaft nach fünf Monaten schwarz-gelbem Regierungschaos.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/783 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch damit sind Sie
einverstanden, wie ich sehe. - Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich danke Ihnen, dass Sie so lange ausgehalten haben,
und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. März 2010, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und
schließe die Sitzung.