Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/4/2010

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. - Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich zu dieser Plenarsitzung verbunden mit der Hoffnung, dass sie nicht ganz so turbulent verläuft wie eine der letzten. Ich habe einige Mitteilungen zu machen bzw. einige Wahlen durchzuführen, bevor wir in die Tagesordnung eintreten. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt anstelle der ehemaligen Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn die Kollegin Cornelia Behm als neues stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur vor. Sind Sie damit einverstanden? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin Cornelia Behm hiermit zum stellvertretenden Mitglied dieses Stiftungsrates gewählt. Die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion Die Linke die Kollegin Heidrun Dittrich vor. Darf ich auch hierzu Ihr Einvernehmen feststellen? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Kollegin Dittrich zur Schriftführerin gewählt. Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Notwendigkeit einer einheitlichen Praxis beim Kauf von Steuer-CDs ({0}) ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien und die Glaubwürdigkeit der Politik ZP 3 Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013 - Drucksache 16/13601 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({1}) Dabei soll wie immer in solchen Fällen von der Frist für den Beginn der Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der bisher zur Beratung vorgesehene Tagesordnungspunkt 9 kann ohne Debatte abgeschlossen werden. Hierdurch rücken die beiden nachfolgenden Tagesordnungspunkte der Koalitionsfraktionen entsprechend vor. Ich mache auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Der in der 24. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) zur Mitberatung überwiesen werden. Die Überweisung an den Ausschuss für Kultur und Medien ({3}) soll entfallen. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes zur Verordnung ({4}) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über Ratingagenturen ({5}) - Drucksache 17/716 überwiesen: Finanzausschuss ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Der in der 25. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Rechtsausschuss ({7}) zur Mitberatung überwiesen werden. Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan Korte, Klaus Ernst, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Datenschutz für Beschäftigte stärken - Drucksache 17/779 überwiesen: Innenausschuss ({8}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Auch hierzu erhebt sich kein Einwand oder Wider- spruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nadine Müller ({9}), Elisabeth Winkelmeier-Becker, Dorothee Bär, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Nicole Bracht-Bendt, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk und der Fraktion der FDP Internationaler Frauentag - Gleichstellung national und international durchsetzen - Drucksache 17/901 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christel Humme, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Mit gesetzlichen Regelungen die Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben umgehend durchsetzen - Drucksache 17/821 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({10}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Möhring, Dr. Barbara Höll, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern wirksam durchsetzen - Drucksache 17/891 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Lazar, Ekin Deligöz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Quote für Aufsichtsratsgremien börsennotierter Unternehmen einführen - Drucksache 17/797 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({12}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft - Drucksache 16/10500 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Dr. Kristina Schröder. ({14})

Dr. Kristina Köhler (Minister:in)

Politiker ID: 11003569

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vier Anträge zur Gleichstellungspolitik stehen heute auf der Tagesordnung. Kein einziger dieser Anträge fordert die Abschaffung des Weltfrauentages; denn zu lang ist die Liste der Themen, die an diesem Tag unsere Aufmerksamkeit verdienen. Ich möchte daher meine erste gleichstellungspolitische Rede als Ministerin für ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Chancengerechtigkeit von Frauen und Männern in der beruflichen Entwicklung nutzen. Meine These ist, dass Strukturen und Kulturen in der Arbeitswelt nicht nur Frauen benachteiligen, sondern zu einer Benachteiligung von Menschen, von Männern und Frauen, führen, wenn sie Fürsorgeaufgaben in der Familie übernehmen. Deshalb sehe ich mich hier sowohl als Familienministerin als auch als Gleichstellungsministerin in der Pflicht. Wir kritisieren zu Recht, dass Frauen immer noch deutlich weniger verdienen als Männer. Wir kritisieren zu Recht, dass auf höheren Hierarchieebenen, in Führungspositionen, insbesondere in Vorständen und Aufsichtsräten, sehr wenige Frauen vertreten sind. Aber warum reden wir so wenig über die kulturellen und strukturellen Ursachen in der Arbeitswelt, die diesen Beobachtungen zugrunde liegen? Ich glaube nicht, dass Gehaltsunterschiede und die fehlende Präsenz von Frauen in den Führungsetagen immer noch das Ergebnis bewusster, schenkelklopfender Diskriminierung sind. Vielmehr glaube ich, dass wir es mit kulturellen und strukturellen Ursachen zu tun haben. Ich denke dabei zum Beispiel an ein Erlebnis, das ich vor zwei Wochen im Zug hatte. Vor mir saß eine Frau Mitte dreißig mit Notebook, Handy und Tochter. Die Kleine plapperte: „Mein Zimmer ist das schönste, aber dein Zimmer und Papas Zimmer sind auch schön.“ Da fragte die Mutter: „Mein Zimmer? Papas Zimmer?“ Die Kleine antwortete: „Die Küche und das Büro.“ Da musste ich natürlich erst einmal grinsen, aber in dieser kindlichen Wahrnehmung wird, glaube ich, eines deutlich: Berufstätige Männer nehmen oft zwei, drei Karrierestufen auf einmal, während berufstätige Frauen meist zwei, drei Jobs auf einmal machen, nämlich Beruf, Kindererziehung und Haushalt. Das hat wenig mit individuellen Denk- und Verhaltensmustern zu tun. Wenn Paare sich freiwillig für dieses Modell entscheiden, dann ist das ihre Privatsache. Aber in vielen Fällen ist es nicht so. Viele Paare heute wünschen sich eine gleichberechtigte Partnerschaft. In den Führungsetagen vieler Unternehmen gibt es eine strukturell familienfeindliche Kultur, die diese häusliche Arbeitsteilung zementiert. Ich glaube, dass genau das das Problem ist. Diese Arbeitskultur ist von einer Leistungselite geprägt, die sich deshalb so kompromisslos ihrer Karriere widmen kann, weil sie die Zuständigkeit für Kinder und Küche weitgehend outgesourct hat. Dazu lasse ich gern einen Mann zu Wort kommen. Ich zitiere aus einem Artikel über Managerehen, der schon vor einiger Zeit in der Wirtschaftswoche erschienen ist. Der moderne Manager sei ein familienferner Lebensnomade … Ich zitiere weiter: Seine Firma verlangt den ganzen Mann, rund um die Uhr und rund um den Globus, dafür wird er schließlich bezahlt, und nicht nur er, auch seine Frau und seine Kinder stehen auf der Gehaltsliste der Firma, als entfernte Angestellte gewissermaßen, weil auch sie ihr Leben dem Job unterordnen, ganz klar … Ich glaube, die Luft für Frauen in den Führungspositionen ist auch deshalb so dünn, weil sie keine familienfernen Lebensnomaden sein wollen. ({0}) Dies wird aber in vielen Unternehmen unausgesprochen erwartet, und auch die Arbeitszeit in vielen Führungspositionen lässt es überhaupt nicht anders zu. Das meine ich mit den Kulturen und Strukturen, die ich als die Ursache für die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt genannt habe. Solange Frauen kinderlos bleiben und sich für den klassisch kompromisslosen männlichen Lebenslauf entscheiden, ist das kein so großes Problem. Da gibt es zwar die typischen Vorurteile, die jede erfolgreiche Frau kennt, aber das machen Frauen oft durch einen besonderen Arbeitseinsatz wieder wett. Sobald Frauen aber Mütter werden und sich Zeit für Verantwortung nehmen wollen, bezahlen sie dafür mit Gehaltseinbußen und eingeschränkten beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten. ({1}) Sie sind es, die länger im Beruf aussetzen. Sie sind es, die in Teilzeit zurückkehren. Sie sind es, die den Familienalltag managen. Das ist - das betone ich noch einmal völlig in Ordnung, solange sich Paare dafür entscheiden. Ungerecht ist es, wenn die äußeren Bedingungen ihnen keine andere Wahl lassen. ({2}) Von fairen Chancen für Frauen in der Arbeitswelt kann keine Rede sein, solange familiäre Aufgaben dort als Handicap gelten. Dies gilt übrigens genauso für Männer, die bereit sind, mehr familiäre Verantwortung zu übernehmen. Denn auch sie disqualifizieren sich häufig für höhere Aufgaben in einer von familienfernen Lebensnomaden geprägten Welt, in der sich Kulturen und Strukturen nur sehr langsam verändern. Was aber bedeutet es für unsere Gesellschaft, wenn Zeit für Verantwortung in der Familie so massiv mit beruflichen Entwicklungschancen bezahlt werden muss? Diese Frage halte ich für entscheidend. Denn ich verstehe meine Arbeit als Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nicht nur als Arbeit für diese Zielgruppen, sondern auch als Gesellschaftspolitik mit einem zentralen Ziel: mit dem Ziel, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu unterstützen und zu fördern. Unter diesen Leitgedanken sollten wir auch unsere Gleichstellungspolitik stellen, und unter dieser Prämisse sollten wir auch die Forderung nach gesetzlichen Quotenregelungen beurteilen. ({3}) Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag klar zum gemeinsamen Ziel bekannt, den Anteil von Frauen in Führungspositionen zu erhöhen. ({4}) Dabei kann man mit der Brechstange vorgehen und gleichstellungspolitische Ziele gesetzlich vorschreiben, etwa in Form von gesetzlichen Quoten für alle Bereiche, in denen Frauen fehlen. Das wirkt dann wie Kortison: Die Symptome verschwinden, aber die Ursachen bleiben. ({5}) Man kann aber auch versuchen, die Ursachen ungleicher Chancen in der beruflichen Entwicklung zu bekämpfen. Das ist eine langfristige Strategie, und sie fordert ein ganzes Bündel unterschiedlicher Maßnahmen: Maßnahmen, die Denk- und Verhaltensmuster ändern, wie zum Beispiel die Vätermonate oder eine Gleichstellungspolitik, die gezielt auch Jungen und Männer in den Blick nimmt, Maßnahmen, die Zeit für Verantwortung in die Arbeitswelt integrieren, wie zum Beispiel das Teilelterngeld oder unser wichtiges Vorhaben einer Familienpflegezeit, und nicht zuletzt auch Maßnahmen, die die Dominanz von Männern ab einer gewissen Hierarchiestufe transparent machen und Diskussionen darüber anstoßen. ({6}) Hier setzt unser Stufenplan an. Was wir brauchen, sind Veränderungen, die wir am besten mit Unterstützung der Unternehmen und nicht im Kampf gegen die Unternehmen erreichen. ({7}) Deshalb halte ich eine Quotenregelung nicht für die gleichstellungspolitische Offenbarung. Das gilt insbesondere im operativen Bereich, im Management und bei Vorständen; da wäre eine Quotenregelung schon verfassungsrechtlich problematisch. Für Aufsichtsräte allerdings schließe ich eine Mindestanteilsregelung als Ultima Ratio nicht aus. Denn ich bin überzeugt, als Damoklesschwert kann eine gesetzliche Mindestanteilsregelung für Aufsichtsräte notwendige Veränderungsprozesse in Gang setzen. ({8}) Als Brechstange benutzt, würde sie aber nur die Zahlen verändern. Vielleicht brauchen wir aber weder das eine noch das andere. Denn Unternehmen können es sich gar nicht mehr leisten, in den Führungsetagen auf die Kompetenz von Frauen zu verzichten. ({9}) So viel Selbstbewusstsein sollten wir haben, nicht nur am Weltfrauentag. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Zugegeben, ich habe Ihre erste gleichstellungspolitische Rede mit Spannung erwartet, Frau Schröder. Was ich in dieser Rede gehört habe, sind aber weder für eine junge Ministerin neue Impulse, noch sind es in irgendeiner Weise konkrete Lösungen im Hinblick auf die berechtigte Kritik, die Sie vorgetragen haben. Ganz im Gegenteil, Sie machen nach wie vor den Fehler, Familienpolitik und Gleichstellungspolitik gleichzusetzen. Ich glaube, das ist total falsch. ({0}) Familienpolitik und Gleichstellungspolitik gehören eigenständig nebeneinander. Das ist der richtige Weg. Wir behandeln heute nicht nur die Anträge der Fraktionen, sondern auch die Dritte Bilanz der Vereinbarung zwischen der Wirtschaft und der Bundesregierung zur Förderung der Chancengleichheit aus dem Jahre 2008. Frau Schröder, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich diese Bilanz einmal angeschaut und sich damit beschäftigt hätten, was in den zurückliegenden neun Jahren seit 2001 eigentlich passiert ist. Man muss sagen, dass gleichstellungspolitisch über Freiwilligkeit gar nichts erreicht worden ist, noch nicht einmal im Schneckentempo. Alle Appelle, die wir an die Wirtschaft gerichtet haben, sind verpufft. Freiwilligkeit hat überhaupt nichts gebracht. ({1}) Frau Schröder, schauen wir doch einmal hin, wo wir heute nach neun Jahren stehen: In der Bilanz 2008 ist konstatiert worden - das haben Sie auch schon gesagt -, dass Frauen bei gleicher Arbeit 22 Prozent weniger als Männer verdienten; heute beträgt die Lohnlücke 23 Prozent. In Westdeutschland sind wir - so sagt das Statistische Bundesamt - bei 25 Prozent angelangt. Mit vier anderen Ländern in Europa haben wir die rote Laterne; wir sind das Schlusslicht. Wollen Sie das etwa hinnehmen? Wie wollen Sie - das habe ich Ihrer Rede überhaupt nicht entnommen - eigentlich den negativen Trend durchbrechen, der sich hier ergeben hat? Brauchen wir dafür nicht gesetzliche Regelungen anstelle von Freiwilligkeit? Brauchen wir nicht endlich ein Entgeltgleichheitsgesetz? ({2}) Frauen in Führungspositionen sind immer noch mit der Lupe zu suchen. Der Frauenanteil in Aufsichtsräten liegt heute bei 4 Prozent. Da, wo die Unternehmen mitbestimmt sind, wo die Gewerkschaften aktiv sind, gibt es 11 Prozent Frauen in Aufsichtsräten. Wie sieht es bei den Vorständen aus? Lediglich eine einzige Frau hat es geschafft, in den Vorstand eines der DAX-30-Unternehmen zu kommen. Wie wollen Sie diesen Trend brechen? Wir müssen uns doch die Frage stellen, was zu tun ist. Hier rate ich Ihnen ganz eindeutig, Frau Schröder, einmal über den Tellerrand zu gucken. Schauen Sie über die Grenzen hinweg, aber nicht nur nach Norwegen, wo es schon Erfolge gibt. Schauen Sie einmal auf Ihre konservativen Kolleginnen und Kollegen in Belgien, die gerade eine Quote für die Aufsichtsräte einführen wollen. Eine Quote von 40 Prozent für Aufsichtsräte ist der richtige Weg. Das wollen wir ebenso wie die belgischen Freunde, die ebenfalls erkannt haben, dass Freiwilligkeit nichts bringt. ({3}) Ich will jedoch - wie das diese Beispiele vielleicht vermuten lassen - nicht nur Negatives sagen. Positiv ist, dass wir eine Frauenerwerbsquote von 66 Prozent erreicht haben. Dies ist mehr, als uns das Lissabon-Ziel vorschreibt. Aber schauen wir einmal genauer hin, wie es mit dem Arbeitsvolumen aussieht: Das Arbeitsvolumen ist konstant geblieben, was bedeutet, dass heute in Deutschland nur 37 Prozent der erwerbstätigen Frauen einen Vollzeitjob haben. Hätten Sie in die Bilanz hineingeschaut, hätten Sie gesehen, dass seinerzeit immerhin noch 45 Prozent der Frauen in Vollzeit beschäftigt waren. Das heißt, wir haben auch da einen negativen Trend. Die überwiegende Mehrheit der Frauen ist teilzeitbeschäftigt; dies gilt sowohl für sozialversicherungspflichtige Jobs als auch für Minijobs. Von denen, die allein in Minijobs sind, sind wiederum zwei Drittel Frauen. Darum sage ich Ihnen, Frau Schröder: Schauen Sie genau hin, wie es den Frauen in der Bundesrepublik geht. Teilzeitarbeit und Niedriglohnsektor sind vor allen Dingen weiblich. Damit bauen wir eine Falle auf, die darin besteht, dass niedriger Lohn zugleich eine niedrige Rente für die Zukunft bedeutet. Dies können wir den Frauen nicht zumuten. ({4}) Darum kündige ich Ihnen jetzt schon einmal an, Frau Schröder, dass wir ganz genau hinschauen werden, wie Sie die Elternzeit gestalten. Bauen Sie das Risiko für eine Falle aus oder nicht? Ihr Vorschlag für zwei Jahre Pflegezeit, der heute überall herumgeistert, stellt doch angesichts unserer Arbeitsmarktstrukturen ebenfalls eine Falle für Frauen dar. ({5}) Welche Frau kann es sich denn heute leisten, über mehrere Jahre auf Einkommen zu verzichten? Schauen Sie einmal hin, wie die Arbeitswelt wirklich aussieht. Meine lieben Kollegen, liebe Kolleginnen, wir haben in unserem Antrag ganz konkrete Lösungen aufgezeigt, die ich bei Ihnen vermisse. Wir können nur sagen: Der gesetzliche Mindestlohn ist genau das richtige Instrument, um Frauen im Niedriglohnsektor zu helfen. Natürlich wollen wir auch den Anteil der Vollzeitbeschäftigung erhöhen und die Einkommenssituation der Frauen verbessern. Dies geht natürlich nur im Einklang mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf; das ist richtig. Wir brauchen einen Ausbau der Betreuung für unter Dreijährige und wollen an dem Rechtsanspruch auf diese Betreuung festhalten. Auch hier gebe ich Ihnen eines mit auf den Weg, Frau Schröder: Nehmen Sie all Ihre Kraft zusammen und verhindern Sie in Zukunft weitere Steuersenkungen. Wir brauchen hier die Unterstützung für die Kommunen, die die Betreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige schaffen müssen. Alles andere wäre ein gleichstellungspolitischer Rückschritt. ({6}) Zum Abschluss. Frau Schröder, ich will nicht verhehlen, dass Sie auch Positives tun. Wir hören von der Initiative „Perspektive Wiedereinstieg“, wir hören von einem dreijährigen Projekt zur Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft. Sie haben heute - was auch immer das sein mag - einen Stufenplan angekündigt. Dabei setzen Sie allerdings wiederum auf Freiwilligkeit. Damit führen Sie die Frauen an der Nase herum. ({7}) Sie suggerieren mit diesen Projekten, dass Sie etwas tun. Die Wahrheit ist jedoch: An den Verhältnissen ändern Sie überhaupt nichts. ({8}) Wir brauchen keine gleichstellungspolitischen Strohfeuer, Frau Schröder. Wir brauchen konkrete Maßnahmen, die die Frauen ernst nehmen, Maßnahmen, wie wir sie mit unserem Antrag vorgeschlagen haben: einen gesetzlichen Mindestlohn, ein Entgeltgleichheitsgesetz, eine Frauenquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte. Das ist eine Politik, die die Forderungen der Frauen nach mehr Gleichstellung tatsächlich ernst nimmt. Herzlichen Dank. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Bracht-Bendt für die FDP-Fraktion. ({0})

Nicole Bracht-Bendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004016, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nie zuvor waren Frauen so gut ausgebildet wie heute; das bestätigt eine soeben veröffentlichte Studie des Berliner Senats. Der Gender Datenreport Berlin 2009 zeigt allerdings auch, dass sich der Bildungserfolg von Frauen noch nicht auszahlt: Rund 40 Prozent der 35- bis 45-jährigen Männer haben ein monatliches Nettoeinkommen von über 1 500 Euro. Bei den Frauen sind es nur 32 Prozent. Mit steigendem Alter wird diese Kluft noch größer. Frauen gehören weit öfter als Männer zu den Geringverdienern, aber nur selten zu den Spitzenverdienern. Teilzeitarbeit ist weiblich; daran hat auch das Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz, mit dem die Große Koalition mehr Männer für Teilzeitarbeit motivieren wollte, nichts geändert. 32 Prozent der weiblichen Beschäftigten arbeiten Teilzeit, ein Drittel davon, weil sie keine Kinderbetreuung für den ganzen Tag bekommen. Alleinerziehende Frauen beziehen statistisch betrachtet am häufigsten Arbeitslosengeld II. Diese Fakten machen deutlich, warum wir auch im Jahre 2010 den Internationalen Frauentag zum Anlass nehmen sollten, offene Fragen anzusprechen. Die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion haben heute einen Antrag eingebracht. In diesem Antrag weisen wir darauf hin, dass sich der Anteil der Frauen, die für das Familieneinkommen sorgen, in den letzten 15 Jahren von rund 6 Prozent auf fast 10 Prozent erhöht hat, im Osten sogar von 10 Prozent auf 13 Prozent. Die Frage der Frauenerwerbstätigkeit wird für den Alltag der Familien immer wichtiger. Dennoch müssen wir feststellen: Obwohl in Deutschland heute fast 60 Prozent der Hochschulabsolventen Frauen sind, lag laut Statistischem Bundesamt der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern 2008 weiterhin bei 23 Prozent. Deutschland liegt damit im europäischen Vergleich auf einem der letzten Plätze. Es gibt viele Ursachen für Lohnunterschiede: Erstens. Viele junge Mädchen entscheiden sich noch immer für traditionell als weiblich geltende Berufe. Viele dieser Berufe sind eine Einbahnstraße, weil es so gut wie keine Aufstiegsmöglichkeiten gibt. Zweitens. Wenn sich Frauen der Familie zuliebe für mehrere Jahre aus dem Beruf ausklinken, haben sie später häufig schlechte Karten; denn da sie weniger Berufserfahrung haben, verdienen sie weniger als männliche Kollegen. Drittens. Es gibt Probleme bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Diese Probleme sind oft der Grund, warum Frauen Teilzeit arbeiten. Meine Damen und Herren, weniger Geld ist das eine. Dass Frauen in leitenden Positionen nach wie vor deutlich unterrepräsentiert sind, ist das andere. In der Privatwirtschaft beträgt der Anteil von Frauen in Führungspositionen rund 27 Prozent, im öffentlichen Dienst 23 Prozent. Ein Beispiel: Mittlerweile sind mehr als 50 Prozent derer, die in Zeitungsredaktionen arbeiten, Journalistinnen. Je weiter es in der Hierarchie nach oben geht, umso dünner wird die Luft: Chefredakteurinnen machen gerade einmal 1 Prozent aus. Hinzu kommt, dass in Deutschland Frauen, die Karriere machen, überdurchschnittlich oft kinderlos sind. Dies gilt bekanntlich nicht nur für den Medienbereich. Warum machen Frauen häufig einen Rückzieher, wenn Vorstandsposten und leitende Funktionen ausgeschrieben werden? Wenn die Kindertagesstätte um fünf schließt, ist für Alleinerziehende eine Tätigkeit, die häufig mit Überstunden verbunden ist, nicht machbar. Von Wahlfreiheit kann erst die Rede sein, wenn das Infrastrukturangebot bei der Kinderbetreuung stimmt. ({0}) Fehlende flexible Öffnungszeiten von Kindergärten sind aber nicht das einzige Motiv dafür, dass Frauen oft keine Führungsaufgabe anstreben. Frauen fehlt es auch an Selbstbewusstsein. Frauen gründen selten Netzwerke. Seilschaften sind für sie etwas Unanständiges, während sie für Männer als klarer Karrierevorteil selbstverständlich sind. Ich rate allen Frauen, mehr Eigen-PR zu leisten und offensiv für sich einzutreten - auch bei Gehaltsverhandlungen. Wenn wir über Gleichstellungspolitik reden, dann denke ich nicht nur an Frauen in der obersten Etage. Wir müssen auch über die Situation von Frauen reden, die nur ein geringes Gehalt bekommen und später wenig Rente zu erwarten haben. Verheiratete Frauen, die auf das Familieneinkommen des Ehemanns angewiesen waren, haben meistens wenig für das Alter vorgesorgt. Altersarmut wird in einigen Jahren weiblich sein. Die Gleichstellungspolitik muss zum Ziel haben, soziale Risiken in den Lebensläufen zu erkennen. Wir brauchen familien-, gleichstellungs- und kinderfreundliche Lebensund Arbeitsbedingungen. ({1}) Ich möchte noch einmal den Begriff Wahlfreiheit aufgreifen; denn ob Mütter oder Väter berufstätig sind und in welchem Umfang, können sie erst dann wirklich frei entscheiden, wenn die Kinderbetreuung funktioniert. Hier ist auch weiterhin die Politik gefordert. Aber auch die Unternehmen sind in der Pflicht. Wir brauchen familienfreundliche Arbeitszeitmodelle; denn das wollen auch junge Väter. Viele von ihnen wollen nicht nur Feierabendpapis sein. Diese Entwicklung ist erfreulich. ({2}) Lassen Sie mich an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Die Zeit der Lila-Latzhosen-Frauenpolitik ist vorbei. ({3}) Heute muss es darum gehen, das umzusetzen, worüber wir jahrelang diskutiert haben. Frauen sind auch hier in der Pflicht. Wir müssen eigenverantwortlich und selbstverständlich für unsere Rechte eintreten. Am Internationalen Frauentag sollte es nicht ausschließlich um die Belange der Frauen gehen. Gleichberechtigung von Frauen und Männern muss in allen gesellschaftlichen Bereichen selbstverständlich sein. ({4}) Lassen Sie uns gemeinsam die Weichen dafür stellen, damit Benachteiligungen in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, in der Politik und in der Gesellschaft endlich ausgeräumt werden. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Cornelia Möhring von der Fraktion Die Linke ist die nächste Rednerin. ({0})

Cornelia Möhring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004111, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich befürchte, wir führen hier eigentlich eine völlig überflüssige und auch verlogene Debatte, und ich glaube, die meisten von uns wissen das auch. Mit dem Thema dieser Diskussion tun CDU, CSU und FDP so, als wollten sie mit ihrer Politik tatsächlich ernsthafte Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen und Männern erreichen. ({0}) In Wirklichkeit interessiert sie die Gleichstellung aber nur dann, wenn es für die Wirtschaft nützlich ist und nichts kostet. ({1}) Die Lage der Betroffenen ist in ihrem Denken völlig außen vor. Schon das Gleichstellungsverständnis der Koalitionsfraktionen ist selektiv und kritikwürdig. Sie beschränken Gleichstellung auf Chancengleichheit bei der Teilhabe. Dabei hat schon das Bundesverfassungsgericht vor Jahren festgestellt, dass Gleichstellung Teilhabe und Antidiskriminierung sowie ein Leben frei von Rollenstereotypen beinhalten muss. ({2}) Davon ist die Bundesregierung mit ihrer Gleichstellungspolitik Lichtjahre entfernt. ({3}) Meine Damen und Herren, in vier Tagen begehen wir den Internationalen Frauentag. In den 99 Jahren seines Bestehens haben Frauen weltweit viele Fortschritte erreicht. Dennoch müssen sie auch heute noch um ihre demokratischen Rechte, für Frieden, für gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit und um ihre Teilhabe an der Gesellschaft kämpfen - auch in der Bundesrepublik. So mussten die Verkäuferinnen bei Hertie und Quelle im letzten Jahr erfahren, dass formale Gleichberechtigung nicht automatisch auch reale Gleichbehandlung bedeutet. Für die Rettung kriminell agierender Banken hat die Bundesregierung 2009 einen riesigen Schutzschirm aus Hunderten Milliarden Euro aufgespannt. Für die Verkäuferinnen hatten Sie nicht einmal ein Cocktailschirmchen übrig. Dieses Jahr ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Auch vor diesem Hintergrund ist es dringlich, endlich verpflichtende Maßnahmen zur Beseitigung der Entgeltungleichheit zwischen Frauen und Männern festzulegen. ({4}) 2010 sollte der Unterschied in der Bezahlung von Frauen- und Männerarbeit in der BRD eigentlich nur noch 15 Prozent betragen. So hatte es die Bundesregierung 2008 beschlossen. Das wäre zwar immer noch kein Ruhmesblatt für die Politik, aber doch eine deutliche Verbesserung. Die Realität sieht aber anders aus: In den unteren und mittleren Gehaltsgruppen erhalten Frauen konstant immer noch 22 bis 23 Prozent, in den höheren Gehaltsgruppen sogar 27 Prozent weniger Lohn als Männer, allen Appellen der Bundesregierungen an die Wirtschaft zu freiwilligen Selbstverpflichtungen, allen Aktionstagen und Förderprogrammen zum Trotz. Die Gründe für die Entgeltungleichheit sind vielfältig; aber alle sind politisch beeinflussbar, wenn ein entsprechender Wille dazu vorhanden wäre. ({5}) Der Bundesregierung fehlt aber der Wille. Sie verschärft die Lohndiskriminierung weiter, statt zu ihrer Bekämpfung beizutragen. Sie weiten den Niedriglohnsektor aus, in dem überproportional viele Frauen beschäftigt sind. Internationale Erfahrungen zeigen uns, dass eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Entgeltungleichheit die Einführung flächendeckender gesetzlicher Mindestlöhne beinhalten muss. ({6}) Die Linke fordert das seit Jahren: Wir wollen, dass spätestens 2013 jede Frau und jeder Mann für jede Stunde Erwerbsarbeit mindestens 10 Euro erhält. ({7}) Die Bundesregierung setzt auch in dieser Wahlperiode auf freiwillige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft. Das bedeutet erneuten Stillstand statt mehr Frauen in den Chefetagen. ({8}) Besonders in den großen Konzernen haben Frauen so gut wie keine Chance, in höhere Hierarchieebenen aufzusteigen. Die wenigen, die es dorthin schaffen, erwartet eine herbe Enttäuschung: Sie erhalten für gleiche Arbeit weniger Gehalt, weniger Sonderzahlungen und Boni. All das weiß die Bundesregierung, lehnt aber trotzdem eine verbindliche Festlegung von Quoten für die Privatwirtschaft ab. Da muss wirklich die Frage erlaubt sein, wie ernst Sie es mit der beruflichen Gleichstellung von Frauen meinen. ({9}) Heute liegt Ihnen ein Antrag meiner Fraktion zur wirksamen Durchsetzung der Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern vor. Danach sollen Arbeitgeber und Tarifparteien vom Gesetzgeber zur Herstellung der Entgeltgleichheit bei Wahrung der Tarifautonomie verpflichtet werden. Die Bundesregierung lehnt eine solche Verpflichtung ab. Diese Haltung negiert die Verantwortung der Politik gemäß Art. 3 Grundgesetz für den Schutz von Frauen vor Diskriminierung und für die Beseitigung aller bestehenden Benachteiligungen. Der uns vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen listet fast alle Defizite auf, die zur Verbesserung der Lage von Frauen in der Bundesrepublik zu beseitigen wären; aber er enthält für keines der Defizite eine Lösungsstrategie. Daher lehnt meine Fraktion den Antrag ab. Stattdessen fordert die Linke: Schluss mit den Minijobs, her mit einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 10 Euro bis 2013! ({10}) Schluss mit den zarten Bitten an die Unternehmen, her mit einem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft! ({11}) Schluss mit Prüfaufträgen und Evaluierungsverfahren, her mit einem Gesetz, das gleiche Löhne für gleiche und gleichwertige Arbeit garantiert! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Möhring, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion der Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Internationale Frauentag ist der Tag, an dem wir eine Bilanz ziehen müssen: Wie steht es im Jahr 2010 um die Gleichstellung der Geschlechter? Frau Ministerin, leider hat mir Ihre Rede bei dieser Frage nicht wirklich viel Hoffnung gegeben. ({0}) Sie haben uns hier eine Analyse geliefert; Sie haben versucht, irgendwie die Verhältnisse zu erklären. Sie müssen aber schlicht und einfach die Fakten anerkennen, dass hier in Deutschland von Gleichberechtigung überhaupt keine Rede sein kann ({1}) und wir überhaupt nicht davon reden können, dass Gleichstellung tatsächlich stattfindet. Dazu gibt es bekanntermaßen jede Menge Zahlen und Fakten. Ihre Analyse bringt uns also nicht weiter. Nehmen Sie es einfach zur Kenntnis! ({2}) Ein paar Beispiele: Frauen verdienen bei uns immer noch deutlich weniger als Männer. Dies unterstreicht auch der europäische Vergleich. Wenn es um Führungsposten geht, bleiben Männer hierzulande lieber unter sich; sie haben ungern Frauen mit dabei. Das ist Fakt. Nach wie vor sind es vor allem Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt sind. Armut in Deutschland hat vor allem ein weibliches Gesicht. Das ist Fakt. Frauen sind immer noch diejenigen, die die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf alleine lösen müssen, auch wenn Sie noch so viel über Männerpolitik reden. Das ist Fakt. Ich könnte diese Aufzählung immer weiter fortsetzen. Spitze ist Deutschland auch im europäischen Vergleich nur in einem einzigen Punkt: in der Eheförderung. ({3}) Insbesondere durch das Ehegattensplitting halten wir weiter an einer Ideologie fest, die lautet: Frauen sollen am besten zu Hause bleiben und dem Arbeitsmarkt fernbleiben. Das ist eine Ideologie. Sie haben noch keine einzige Antwort darauf geliefert, wie wir diese Ideologie in unserem Land überwinden können. ({4}) Damit komme ich zu der Kernfrage. Die Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt ist und bleibt die Kernfrage des neuen Feminismus. Jetzt höre ich aber von der Ministerin und von Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion wie Frau Bär, dass Sie Feminismus als einen Kampfbegriff sehen und sich gerne davon distanzieren. ({5}) Ich halte das für einen Fehler. Der Feminismus ist für mich bzw. für uns junge Frauen das Ergebnis einer Frauenrechtsbewegung. Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass wir heute diese Debatte führen können. ({6}) Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass junge Frauen, dass unsere Generation aufrecht und selbstbewusst durchs Leben gehen kann. Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass meine Tochter auch das Büro, also Frauen im Beruf, für selbstverständlich hält statt für irgendetwas, das in weiter Ferne liegt. Diesem Feminismus haben wir es zu verdanken, dass wir über Gleichstellung und gleiche Chancen von Männern und Frauen reden. Von diesem Feminismus sollten Sie sich nicht distanzieren. Vielmehr sollten Sie sich ihm verpflichtet fühlen. Das ist Ihre Aufgabe. ({7}) Was aber macht die Regierung? Sie machen Frauenpolitik zu einer Prüfaufgabe. Sie reden. Sie wollen eintreten. Sie wollen werben. Sie wollen ankündigen. Sie wollen prüfen, ob Sie prüfen, dass Sie prüfen. ({8}) Das reicht doch nicht. Sie müssen schon ein bisschen mehr machen. Eines machen Sie: Sie halten an einem alten Gesellschaftsvertrag fest und machen aus einem kleinen Unterschied einen großen, und darauf sind Sie auch noch stolz. Das ist Ihr Fehler. ({9}) Es liegt viel im Argen. Wir Grünen haben in der letzten und in dieser Wahlperiode jede Menge Vorschläge gemacht: Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft, Mindestlohn - davon würden vor allem Frauen profitieren - und die eigenständige Existenzsicherung von Frauen. In diesem Zusammenhang muss ich leider der SPD sagen: Sie hätten dem allen zustimmen können. Sie hätten mutiger sein können. Sie hätten das alles mitmachen können. Wo waren Sie in den letzten Jahren? ({10}) Es ist schön, dass Sie das jetzt endlich auch erkannt haben, aber es wäre besser gewesen, Sie hätten es früher erkannt. Dann wäre das jetzt nämlich alles per Gesetz geregelt. ({11}) Wir wollen, dass jede und jeder so leben kann, wie sie oder er es möchte, aber nicht auf Kosten des anderen Geschlechts. Eine echte Gleichberechtigung fordert beiden Seiten etwas ab. Sie propagieren Jungenpolitik bzw. Männerpolitik. Ich erziehe einen Sohn und eine Tochter. Ja, ich will, dass mein Sohn Chancen im Leben und die bestmögliche Förderung hat. Ich will aber auch, dass meine Tochter die gleichen Chancen und Rechte hat, und zwar nicht nur, indem ihr Bruder sich für sie einsetzt, sondern weil es in diesem Land selbstverständlich ist, dass sie die gleichen Rechte hat. Das sollten wir durchsetzen, statt nur darüber zu reden. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Deligöz, ich erlaube mir den Hinweis, dass mindestens bei der großzügigen Bemessung der Redezeit der amtierende Präsident Kolleginnen mindestens gleichberechtigt behandelt. ({0}) Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bei unseren Parlamentarischen Geschäftsführern, Herrn Altmaier, Herrn Müller und Herrn van Essen, bedanken, dass unsere beiden Koalitionspartner die Wichtigkeit dieses Themas auch dadurch erkennen lassen und zum Ausdruck bringen, ({0}) dass wir es heute seit 9 Uhr in der Kernzeit behandeln. ({1}) Das zeigt doch ganz deutlich, dass für uns Frauenpolitik kein Gedöns ist, wie das bei anderen Fraktionen der Fall ist, sondern dass wir Frauenpolitik ernst nehmen. ({2}) Ich finde es beeindruckend, welche Beißreflexe ausgelöst werden. Ganz ehrlich, meine lieben Kolleginnen von den Grünen und der SPD, Sie glauben doch nicht, dass Sie etwas für die Frauen in diesem Land erreichen können, wenn Sie eine Kollegin hier so behandeln. ({3}) - Frau Künast, immer die Lauteste zu sein, bringt nichts, wenn man keine Ergebnisse vorweisen kann. Da Sie sich angeblich so für Frauen und lila Latzhosen einsetzen, wie Sie vorhin betont haben ({4}) - das hat sie gesagt; Sie hätten die Zwischenrufe hören sollen -, hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich in den sieben Jahren von Rot-Grün auch für die Frauen eingesetzt hätten. Es tut mir leid, aber das haben Sie nicht getan. ({5}) Ich habe mich vor 17 Jahren mit Begeisterung in mein politisches Ehrenamt gestürzt und hätte jemandem, der mir damals gesagt hätte, dass wir im Jahr 2010 eine Debatte wie die heutige führen würden, nicht geglaubt. Leider Gottes müssen wir eine solche Debatte führen, weil in diesem Land nicht alles so ist, wie wir uns das vorstellen. Dass Frauenpolitik eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht nur ein Frauenthema ist, lässt nur die CDU/CSU-Fraktion erkennen; denn wir sind die einzige Fraktion, die später auch einem Mann das Wort geben wird. ({6}) Unter Zeugen hat unser Fraktionsvorsitzender vorhin gesagt, dass er in dieser Debatte zu Wort kommen möchte. Das ist hiermit notiert und wird ihm auch gewährt. Ich bitte Sie, sich nun dem Thema angemessen zu verhalten und vielleicht auch denjenigen zuzuhören, die am Rednerpult stehen. ({7}) Eine Studie der Hertie School of Governance belegt, dass nur 27 Prozent der Führungskräfte in der Privatwirtschaft Frauen sind. Wir dürfen aber nicht nur mit dem Finger auf die Privatwirtschaft zeigen; denn im öffentlichen Dienst ist diese Quote mit 23 Prozent noch schlechter. Wenn wir uns andere EU-Länder ansehen, müssen wir feststellen, dass wir in Deutschland mit dem Anteil von Frauen in Führungsetagen nur im unteren Mittelfeld liegen. In einigen Ländern gibt es gesetzliche Maßnahmen zur Gleichstellung - darüber haben wir schon im Ausschuss gesprochen -, beispielsweise in Norwegen und den Niederlanden. Leider gilt im Jahr 2010 noch immer, dass es der beruflichen Entwicklung junger Frauen schadet, wenn sie in der Familiengründungszeit zu lange aussetzen oder in Teilzeit arbeiten. Wir haben in der letzten Legislaturperiode begonnen, gegenzusteuern. Wir von der Union haben Zukunftspolitik gemacht. Zukunftspolitik ist natürlich nichts anderes als Familienpolitik. Wir haben einige Maßnahmen in die Wege geleitet, zum Beispiel den quantitativen und qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung in diesem Land. Wir haben des Weiteren das Elterngeld eingeführt und für eine bessere steuerliche Absetzbarkeit der Betreuungskosten gesorgt. Wir leisten dadurch einen wichtigen Beitrag für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. ({8}) Es ist nicht nachvollziehbar, dass gut ausgebildeten, hochmotivierten Frauen nicht in gleichem Maße Verantwortung übertragen wird wie Männern. Für mich ist es daher nicht nachvollziehbar, dass Frauen erst dann geholt werden, wenn es gar nicht mehr anders geht. Vielmehr müssen schon im Vorfeld Schritte gemacht werden. Man darf nicht so lange warten, bis es nicht mehr genügend Männer gibt. Auch mir war zunächst nicht die Möglichkeit gegeben, in meiner Pfarrgemeinde zu ministrieren. Erst ein paar Jahre später, als es nicht mehr genügend Jungen gab, wurden die Mädels herangezogen. Mir ist wichtig, dass die Privatwirtschaft erkennt, dass sie nun die Möglichkeit hat, Frauen zu beschäftigen, weil dann effizienter und wirtschaftlicher gearbeitet wird, Stichwort „Fachkräftemangel“. Wir haben - das hat die Ministerin bereits angesprochen - im Koalitionsvertrag einen Stufenplan zur Erhöhung des Anteils von Frauen in Vorständen und Führungspositionen vorgesehen. Wir setzen uns mit der Vereinbarung der Bundesregierung mit der Privatwirtschaft für mehr Gleichberechtigung ein. Aber auch das möchte ich an der Stelle sagen - wenn sich weiterhin nichts tut, dann werden wir zusätzlich konkrete Maßnahmen beschließen müssen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön, Frau Kollegin Sager, Sie haben Gelegenheit zu einer Zwischenfrage.

Krista Sager (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003622, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Bär, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass Sie einfach erfolgreich gewartet haben, bis keine männlichen Messdiener mehr zur Verfügung standen und Sie dann an der Reihe waren. Dürfen wir das so verstehen, dass wir einfach so lange warten sollen, bis keine Männer mehr in die Aufsichtsräte wollen und wir endlich an der Reihe sind? ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es tut mir leid, dass Sie es einfach nicht kapiert haben. ({0}) Mehr kann man dazu leider nicht sagen, Frau Sager. Aber ein Blick in das Protokoll wird Ihnen vielleicht ermöglichen, das zu begreifen, was ich hier mitgeteilt habe. ({1}) Wir sollten uns hier eher damit beschäftigen, herauszufinden, wo die Ursachen liegen. In den Unternehmen gibt es immer noch eine übertriebene Anwesenheitskultur. Natürlich muss man das anprangern. Jeder von uns weiß, dass alleine die Anwesenheit im Plenum keinen Abgeordneten zu einem guten Parlamentarier macht. Dasselbe muss auch für die Privatwirtschaft gelten. Es darf nicht sein, dass diejenigen, die abends die Letzten sind und das Licht ausmachen, befördert werden. Frauen können sich oft nicht leisten, bis abends in Diskussionsrunden zu sitzen. Frauen wollen effizient arbeiten und Ergebnisse liefern. Wir wollen ein weiteres wichtiges Thema bearbeiten, nämlich den Unterschied im Lohn. Heute wurde schon mehrfach von verschiedenen Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen angesprochen, dass Frauen weniger als Männer verdienen. Das stimmt nicht. ({2}) Frauen verdienen genauso viel wie Männer, aber sie bekommen weniger. Das ist der große Unterschied. ({3}) Deswegen wollen wir die Bedingungen dafür schaffen, dass diese Lohnlücke geschlossen wird; denn 40 Prozent Lohnlücke kann man nicht nur damit erklären, dass Frauen niedrig bezahlte Berufe wählen und familienbedingte Erwerbsunterbrechungen haben. Beispielsweise gibt es bei Berufsanfängerinnen immer noch einen Unterschied von 18,7 Prozent zum Lohn der Berufsanfänger. Der lässt sich dadurch nicht erklären. Ein letztes Wort an die Kolleginnen von der SPD, die die ganze Zeit mehr mit sich selbst als mit der Sache beschäftigt sind. Sie sollten vielleicht einmal in Ihrer eigenen Partei dafür sorgen, dass erstens diese Themen nicht wie Gedöns behandelt werden - das habe ich vorhin angesprochen - und zweitens auch Ihre männlichen Kollegen mit Frauen in der Politik anders umgehen. Wenn Ihr ehemaliger Parteivorsitzender Herr Beck sagt, er wolle im Wahlkampf in Rheinland-Pfalz Frau Klöckner wie einen Mann behandeln, nämlich fair und sachlich, dann heißt das im Umkehrschluss, dass er sonst mit Frauen anders umgeht. Das empfinde ich als viel skandalöser als alles andere. Vielen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Eigentlich könnten wir jedes Jahr am Internationalen Frauentag die Reden vom Jahr davor hervornehmen. Es hat sich seit 99 Jahren leider immer noch nichts geändert. Es geht immer noch um die gleichen Themen. Was mich bei dieser Debatte - das muss ich ganz offen sagen - nach 30 Jahren Frauenpolitik und Gleichstellungspolitik wirklich aufregt, ist, welches Verständnis zumindest Teile des Hauses vom Thema Gleichstellungspolitik haben. ({0}) Es geht hier nicht um die Frage, ob Gleichstellung gewährt wird, sondern es geht um Rechte. Wir haben ein Grundgesetz mit dem Art. 3. Viele Frauen haben damals gekämpft, dass er in das Grundgesetz hineinkommt. ({1}) Viele Frauen von der eben viel gescholtenen Lila-Latzhosen-Generation haben in ihrer Zeit für eine Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Gleichstellung gekämpft. Ich finde, es steht uns überhaupt nicht an, diese Frauengeneration in irgendeine Ecke zu stellen; denn ohne diese Frauengeneration wären viele von uns heute nicht da, wo sie heute sind. ({2}) Die Frage ist: Welches Verständnis von Gleichstellungspolitik haben wir? In dem Antrag der Koalitionsfraktionen steht - ich zitiere -: Gleichstellungspolitik muss gezielt die Unterschiede in den Lebensverläufen von Frauen und Männern berücksichtigen und bei der Familiengründung oder in der Phase des Wiedereinstiegs ins Erwerbsleben zielgenaue Hilfe anbieten. Das unterscheidet uns: Wir wollen uns mit diesen Verhältnissen nicht abfinden. Wir wollen die Verhältnisse ändern, nicht die Auswirkungen beklagen, aber dann etwas darüberstülpen, um das Ganze zu kaschieren. ({3}) Frau Schröder, es stimmt auch nicht, dass nur Eltern, sprich Mütter, benachteiligt sind. Sie sind stärker benachteiligt; das ist richtig. Aber auch Frauen ohne Kinder, ob sie nun gewollt oder ungewollt kinderlos sind, werden benachteiligt. Sie kommen nicht in Führungspositionen hinein. Gut, schenkelklopfend ist die Diskriminierung wahrlich nicht mehr, aber es gibt diskriminierende Strukturen in unserer Gesellschaft. Diese Barrieren gilt es zu überwinden. Das ist die gläserne Decke, gegen die Frauen noch immer stoßen und die sie daran hindert, in Führungspositionen hineinzukommen. ({4}) Diese Frauenministerin hält nach drei Monaten ihre erste gleichstellungspolitische Rede und hat nichts anderes als einen Antrag der Koalitionsfraktionen anzubieten, in dem es um die Unterstützung bei Gehaltsverhandlungen geht. Equal Pay, gleiche Bezahlung, ist doch keine Frage der Unterstützung bei Gehaltsverhandlungen. Gleiche Bezahlung für gleiche bzw. gleichwertige Arbeit ist ein Recht. Es ist kein Kavaliersdelikt, wenn dagegen verstoßen wird. ({5}) Das ist Diskriminierung, ob jetzt schenkelklopfend oder nicht, aber es ist und bleibt eine Diskriminierung, nichts anderes. Dagegen muss man vorgehen. Länder, in denen es entsprechende gesetzliche Maßnahmen gibt, stehen auf dem Gender-Index besser als wir da. Dort sind mehr Frauen in Führungspositionen. Es gibt bessere Einrichtungen zur Kinderbetreuung und bessere Möglichkeiten zur Vereinbarung von Familie und Beruf. Das Gender-Pay-Gap, also der Unterschied in der Bezahlung von Männern und Frauen, ist in solchen Ländern nicht so groß wie bei uns. Darin, über diese Fragen zu diskutieren, sind wir spitze. Aber wenn es darum geht, Art. 3 des Grundgesetzes mit Leben zu füllen, dann sind wir ganz hinten, insbesondere mit dieser Regierung. Ich befürchte, dass es in den nächsten vier Jahren zu einem Stillstand in der Gleichstellungspolitik kommen wird, weil Sie nicht bereit sind, endlich entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wir haben jetzt seit über zehn Jahren freiwillige Vereinbarungen, die nichts gebracht haben. Es wird die Frauen keinen Millimeter weiterbringen, noch einmal vier Jahre und danach noch weitere vier Jahre auf freiwillige Vereinbarungen zu setzen. Was wir brauchen, sind verbindliche Regelungen, die bewirken, dass die Barrieren abgebaut werden, beispielsweise auch die Barrieren in unserem Einkommensteuerrecht, das das Zuhausebleiben befördert und nicht unbedingt den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Beruf. ({6}) Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich darf Ihnen einen letzten Rat mit auf den Weg geben. Sie haben vernünftigerweise das Betreuungsgeld in Ihrem Antrag schon gar nicht mehr erwähnt. Beerdigen Sie diese Idee. Das Betreuungsgeld ist ein Baustein für mehr Ungleichheit statt zu mehr Gleichheit. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort hat nun die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. ({0})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Ferner, Sie haben gerade beklagt, dass wir jedes Jahr den Internationalen Frauentag begehen und immer wieder darüber reden, sich aber Jahr für Jahr nichts ändere. Ich glaube, in den letzten elf Jahren haben Sie regiert. Sie hätten etwas tun können. Warum stehen Sie jetzt hier und beklagen die Situation, die Sie elf Jahre lang hätten ändern können? ({0}) Für mich verhält es sich mit dem Internationalen Frauentag wie mit vielen Gedenktagen: ({1}) Es ist wichtig und richtig, dass wir diese Gedenktage begehen und an diesen Tagen über die Verhältnisse sprechen und diskutieren. Aber wir sollten eben nicht nur an diesem einen Tag darüber reden, sondern wir müssen 365 Tage im Jahr darüber reden, diskutieren, aber auch Lösungen finden. Diese Koalitionsfraktionen bieten Lösungen an, und zwar im Gegensatz zu Ihnen, die Sie die letzten elf Jahre nur Maßnahmen verkündet, aber nichts davon durchgesetzt haben. ({2}) Im Koalitionsvertrag haben wir einige Maßnahmen festgehalten, wie zum Beispiel einen Rahmenplan zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen in den verschiedenen Phasen des Lebensverlaufs, die Weiterführung der Bundesinitiative „Gleichstellung von Frauen in der Wirtschaft“, Maßnahmen zur Förderung eines leichteren Wiedereinstiegs in das Berufsleben und die Überwindung der Entgeltungleichheit durch das Lohntestverfahren Logib-D. ({3}) Wichtig ist mir ganz persönlich aber auch die Erweiterung des Blickwinkels in der Gleichstellungspolitik auf Jungen und Männer. Ich möchte an diesem Tag betonen - weil es da auch bestimmte Befürchtungen gibt -, dass wir durch die Einbeziehung von Jungen und Männern in unsere Gleichstellungspolitik nicht die Wichtigkeit der weiteren Mädchen- und Frauenförderung vergessen dürfen. Das will auch diese Koalition nicht. Wir wollen nur den Blickwinkel erweitern, weil er in den letzten Jahren verengt war. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt darüber sprechen, dass Jungen die Bildungsverlierer sind und öfter schlechtere Startchancen haben, aber dann irgendwann weiter Karriere machen und die Nachteile ausgleichen, weil die Frauen viel von der Erziehungszeit übernehmen. Aber es muss auch Ziel sein - und es ist das Ziel dieser Regierung -, Jungen die gleichen Startchancen zu geben und einen neuen Blick auf Jungen- und Männerpolitik zu werfen. ({4}) Wir müssen Stereotypen überwinden. Es ist beispielsweise nach wie vor so, dass sich fast ausschließlich Frauen in Erzieherberufen wiederfinden und Männer umgekehrt meist technische oder handwerkliche Berufe ergreifen. Diese traditionell weiblichen oder traditionell männlichen Berufe bringen aber auch Probleme mit sich, wie beispielsweise den Mangel an Männern in Erzieherberufen. Es ist wichtig, dass wir daran etwas ändern, denn auch Jungen brauchen Vorbilder, und zwar auch männliche. Deswegen brauchen wir mehr Männer in Erzieherberufen. Es muss gestattet sein, auch das in der Debatte zum Internationalen Frauentag zu sagen. ({5}) Wir wollen deswegen Initiativen fortführen und erweitern, zum Beispiel neben dem Girls’ Day auch einen Boys’ Day ins Leben rufen und die Initiative „Neue Wege für Jungs“ fortführen, weil wir wissen, dass Jungen, die beispielsweise im Rahmen von Schnupperpraktika Einblick in traditionell weibliche Berufe bekommen haben, sich auch selbst eine Berufstätigkeit in diesen Bereichen vorstellen können. Für alle gilt: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein ganz wichtiger Schritt für die Gleichstellung im Leben. Aber - das ist schon gesagt worden - auch Männer wollen Familienzeit erleben können. Der Ausbau der Betreuung muss deshalb oberste Priorität haben, und zwar qualitativ wie quantitativ. Betreuung erschöpft sich im Übrigen nicht in der Betreuung von unter Dreijährigen, sondern bezieht sich auf die gesamte kindliche Lebensphase. Deswegen müssen wir zusammen mit den Ländern Lösungen finden, die eine qualitativ gute Betreuung und bei Trägervielfalt eine flexible Betreuung ermöglichen. ({6}) Vereinbarkeit von Beruf und Familie erfordert aber auch familiengerechte Arbeitszeiten. Wir brauchen eine Arbeitswelt, die auf Familien Rücksicht nimmt. Dies gilt nicht nur für die Betreuung von Kindern, sondern - diese Debatte ist gestern angestoßen worden - natürlich auch für die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Der gesamte Pflegebereich ist noch sehr weiblich geprägt. Wir müssen diese Debatte anstoßen und Chancen eröffnen, die die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf sowohl für Frauen als auch für Männer ermöglichen. ({7}) Gestern hat eine Kollegin von den Linken im Hessischen Landtag, Frau Schott, gefordert, den Internationalen Frauentag in Hessen, aber auch nur in Hessen zum Feiertag zu machen. Wir müssen den Internationalen Frauentag zum Anlass nehmen, um die bestehenden Probleme ins Bewusstsein zu rufen, sie anzugehen und Lösungen für sie zu finden - und zwar über Hessen hinaus. Vielen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Katja Kipping ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Katja Kipping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003786, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 8. März findet zum 99. Mal der Internationale Frauentag statt. Anlässlich dieses Ereignisses sollten wir festhalten, dass die Frauenbewegung in den letzten 100 Jahren einiges erkämpft hat. ({0}) Es ist falsch, die Geschichte der Frauenbewegung als eine Geschichte des Scheiterns zu beschreiben. Nichtsdestotrotz gibt es immer noch sehr viel, was wir verändern müssen und was wir auch erkämpfen müssen, bis wir von wirklicher Geschlechtergerechtigkeit reden können. Nur einige wenige Beispiele: Zwei Drittel aller Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz bekommen, sind Frauen, und das bei gleichen bis besseren Schulabschlüssen. Dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge gehen zwei Drittel aller Mütter mit einem Kind unter drei Jahren keinerlei Arbeit nach. Damit jetzt keine Missverständnisse aufkommen: Ich finde nicht, dass man junge Frauen unbedingt zu den Segnungen der Erwerbsarbeit zwingen muss. Meine Kritik setzt dann an, wenn ein Mangel an Kitaplätzen, ein Mangel an guter Arbeit oder aber Rollenklischees Frauen dazu zwingen, auf Erwerbsarbeit zu verzichten. ({1}) Immer noch wird ein Großteil der Hausarbeit der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes zufolge von den Frauen erledigt; 80 Prozent der Putzarbeit tragen die Frauen weg. Wenn man diese Zahl nennt, hört man im politischen Raum, besonders gern von Männern: Was hat denn die Politik damit zu tun? Das muss innerhalb der Familien geregelt werden. - Mit diesem Einwand macht man es sich zu einfach. Solange wir Regelungen wie das Ehegattensplitting haben, die natürlich befördern, dass einer in der Familie der Haupternährer ist und ein anderer maximal der Hinzuverdiener - es darf dreimal geraten werden, wer der Hauptverdiener ist -, so lange zementieren wir alte, überkommene Rollenmodelle. Das Ehegattensplitting gehört abgeschafft. Die Idee des Haupternährers ist ein alter Zopf, der im 21. Jahrhundert endlich abgeschnitten gehört. ({2}) In dem Antrag der FDP und der CDU/CSU werden zu Recht wichtige Probleme, wie die Entgeltgerechtigkeit, festgestellt - so weit, so gut. Doch was schlagen Sie dann vor? Zum Beispiel, dass der Übergang von Minijobs, also prekärer Arbeit, in sozialversicherungspflichtige Arbeit erleichtert wird. Damit erwecken Sie geradezu den Eindruck, als ob der Minijob das Tor zu guter Arbeit wäre. In der Realität ist das Gegenteil der Fall: Minijob bedeutet Sackgasse Prekarität, und Minijobs bedeuten Minirenten. Somit ist Altersarmut vorprogrammiert. Die Erwerbsarbeit von Frauen wird zunehmend prekär, das heißt unsicherer und schlecht bezahlt. Gegen diese Prekarisierung regt sich nun Widerstand. Nicht nur die Reinigungskräfte, nicht nur die Beschäftigten bei Schlecker wehren sich vehement gegen Lohndumping. Bei all diesen Kämpfen gegen die Prekarisierung von Erwerbsarbeit geht es nicht nur um reine Abwehrkämpfe. Nicht nur für mich sind die Kämpfe gegen diese Prekarisierung verbunden mit einem Aufbruch in die Vier-in-einem-Perspektive. Das wäre eine Vision, die für Männer wie Frauen gleichermaßen mehr Lebensqualität bedeuten würde. Danach besteht eine Woche aus den folgenden vier gleichberechtigten Tätigkeiten: ein Viertel Erwerbsarbeit, ein Viertel Haus- und Familienarbeit, ein Viertel politisches, gesellschaftliches Engagement und ein Viertel Arbeit an sich selber. Für diese wichtige Vision gibt es Reformschritte, die uns dahin führen können. Dazu gehören für die Linke die Einführung des Mindestlohnes, die Abschaffung des Ehegattensplittings und die Einführung von wirklich verbindlichen Vorgaben für die Wirtschaft. Wer immer noch glaubt, allein Appelle an die Freiwilligkeit der Wirtschaft können hier etwas verändern, dem kann ich nur sagen: Ihr Warten auf die freiwilligen Leistungen der Wirtschaft kann ganz schnell zum Warten auf Godot werden, und der kam bekanntlich nie. ({3}) Ich habe am Anfang über die bisher erkämpften Fortschritte gesprochen. Ich will noch einmal sagen: Alle bisherigen Fortschritte mussten erkämpft werden. Das Patriarchat hat noch nie den Frauen ihre Rechte auf dem Silbertablett serviert. Insofern möchte ich uns einfach ermuntern: Wenn es um die Rechte von Frauen geht, wenn es um Geschlechtergerechtigkeit geht, bleiben wir kämpferisch! Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Monika Lazar ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Frauen sind mehr wert.“ Dieses Credo haben sich mehrere europäische Länder auf die Fahnen geschrieben. In Norwegen müssen seit 2006 mindestens 40 Prozent der Sitze in den Aufsichtsräten börsennotierter Unternehmen von Frauen besetzt sein. Sanktionen bis hin zum Börsenentzug sind dabei vorgesehen. Auch in den Niederlanden gibt es eine Quotenregelung. In Belgien und in Österreich wird diese diskutiert, und in Frankreich hat eine entsprechende Initiative die erste parlamentarische Hürde genommen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung nimmt sich an diesen Ländern kein Beispiel, obwohl sie nicht zu den politisch weit links stehenden gehören. Die Führungspositionen in der deutschen Privatwirtschaft sind nach wie vor fest in Männerhand. Das gilt auch für die Aufsichtsräte. In den 200 größten deutschen Unternehmen liegt der Frauenanteil bei unter 10 Prozent. Den größten Teil hiervon stellen dann auch noch die Arbeitnehmervertretungen. Die Vereinbarung von 2001 zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Arbeitgeberverbänden ist de facto gescheitert. Hiermit sollte die Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft gefördert werden. Passiert ist leider nichts. Das müssen wir wirklich schmerzhaft zur Kenntnis nehmen. Aber daraus lernen wir: Es ist Zeit für verbindliche Regelungen nach einem festen Zeitplan. Frau Ministerin Schröder hat ja von der Quote als Brechstange gesprochen. Wenn wir das Wort schon gebrauchen wollen, kann ich nur sagen: Manch einer merkt es vielleicht nicht ohne Brechstange. Wahrscheinlich ist jetzt die Zeit der Brechstange da. ({0}) Doch Union und FDP setzen weiterhin auf ein lahmes Pferd und halten unbeirrt an freiwilligen Selbstverpflichtungen fest. Der vorgesehene Stufenplan ist unverbindlich, beinhaltet keine festen Zeitvorgaben und sieht vor allem auch keine Sanktionen vor. Das ist nur Säbelrasseln mit stumpfen Waffen. Das spiegelt sich auch im Antrag der Koalition zu diesem Tagesordnungspunkt wider. Der Forderungsteil ist wachsweich und beinhaltet keine konkreten Maßnahmen. Für einen Antrag einer Regierungskoalition ist das wirklich peinlich; denn Sie sind doch jetzt an der Regierung und könnten das umsetzen, statt Prüfaufträge zu erteilen. ({1}) Bündnis 90/Die Grünen fordern dagegen eine generelle Änderung des Aktiengesetzes. Wir wollen eine umfassende Modernisierung der Unternehmensführung und -kontrolle. Frauen sollen zu mindestens 40 Prozent in den Aufsichtsräten vertreten sein. Ziel ist eine paritätische Besetzung. Ähnliches fordert auch die SPD. Es ist allerdings wirklich traurig - das wurde ja vorhin auch schon angesprochen -, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in den Jahren, als Sie an der Regierung waren - Sie waren ja noch mehr Jahre als wir an der Regierung -, nichts davon umgesetzt haben. ({2}) - Das gebe ich natürlich zurück. Es gab jemanden, der hieß Schröder, war männlich und hat sich in der Frauenund Gleichstellungspolitik nicht mit Ruhm bekleckert. ({3}) Der Antrag der Linksfraktion spiegelt leider nur allgemeine Forderungen wider. Es ist richtig, Mindestlöhne und auch Verbesserungen bei den Minijobs, also in den unteren Bereichen, zu fordern. Da sind wir uns einig, auch wenn gewisse Differenzen bleiben. Allerdings habe ich in Ihrem Antrag Forderungen nach Veränderungen auch in den Führungsetagen vermisst. So etwas hätte ich mir gewünscht. ({4}) - Dann machen Sie den anderen Antrag. Darauf warten wir. ({5}) Ich denke, wir müssen neben Absicherung in den unteren Etagen auch dafür sorgen, dass sich etwas in den Führungsetagen ändert. Diese müssen endlich weiblicher werden. ({6}) Die Diskriminierung von Frauen hat viele Verliererinnen und Verlierer. Sie schadet den Unternehmen, der Wirtschaft und unserer Demokratie. In einer Pressemitteilung des Deutschen Juristinnenbundes wurde das auf den Punkt gebracht. Darin heißt es, dass die Performance von Unternehmen, die Diversity leben, um vieles besser ist. Daher liegt die Erhöhung des Frauenanteils unmittelbar im Unternehmensinteresse. Wir sollten es nicht länger hinnehmen, dass Bildungsinvestitionen vergeudet werden, dass auf kreative Potenziale verzichtet wird und die Chancen auf eine neue Dynamik im Arbeitsmarkt verschlafen werden. Zum Schluss noch ein kleiner Hinweis auf den Lohnunterschied, der, wie ja schon angesprochen wurde, bundesweit 23 Prozent beträgt. In Ostdeutschland ist dieser Unterschied geringer. Ein Grund ist unter anderem, dass Männer dort weniger verdienen. Mir fallen auch bundesweit einige Männer in Führungspositionen ein, die weniger verdient hätten. Vielleicht ist das ja auch ein Weg. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält der Kollege Philipp Mißfelder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei unserer eigenen Fraktion, bei den Kolleginnen und Kollegen aus der AG Familie, Senioren, Frauen und Jugend, besonders bedanken, ({0}) dass ich als einziger Mann in dieser Debatte sprechen darf. ({1}) Auch das zeigt, wie wichtig uns dieses Thema ist. Mein Kollege Gauweiler gab mir gerade noch mit auf den Weg - ich glaube, das macht den Kontrast zu unserer Politik sehr deutlich -, ({2}) an die engagierten „Feministen“ Schröder und Fischer zu erinnern. Sie haben gerade Gerhard Schröder erwähnt; aber Joschka Fischer stand ihm, glaube ich, in nichts nach. ({3}) Aufgrund der Bandbreite, in der wir in unserer Fraktion den Internationalen Frauentag sehen, möchten wir deutlich machen, dass es uns nicht nur darum geht, dass wir heute über die Mängel diskutieren, die sicherlich auch in unserer Gesellschaft vorhanden sind. Ich sage nicht, dass all das, was Sie angesprochen haben, unberechtigt ist. Aber ich glaube, dass es an einem solchen Tag - bei einer Debatte zur Kernzeit ist es besonders wichtig, dass wir breit darüber diskutieren - auch wichtig ist, den internationalen Aspekt - als außenpolitischer Sprecher bin ich froh darüber, dass ich sprechen darf ({4}) in die Debatte hineinzubringen. Ich glaube, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen Emanzipation, der Verwirklichung von Frauenrechten und der Implementierung des Friedens in der Gesellschaft gibt. Das ist der Grund dafür, warum es heute nicht nur um die Frauenpolitik weltweit geht, sondern auch um die Friedenspolitik. ({5}) Meine Damen und Herren, ich stimme Frau Kipping zu, wenn sie sagt, dass von der Frauenbewegung in den vergangenen 100 Jahren sehr viel erkämpft worden ist. Man sollte sich einmal vor Augen führen: Wenn Clara Zetkin vor fast genau 100 Jahren auf der Internationalen Frauenkonferenz in Kopenhagen die Einführung eines Frauentages gefordert hat, dann hat sie das nicht getan, um einen Frauentag als Institution, als Selbstzweck zu schaffen, sondern hat damit auch konkrete politische Forderungen und deren Umsetzung verbunden. Dank der Frauenbewegung und dank der Emanzipation in Deutschland sind auf diesem Gebiet über Jahrzehnte hin Erfolge zu verzeichnen. Deshalb möchte ich allen Frauen, die sich hierfür engagiert haben, herzlich danken. ({6}) Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu sehen, wo Deutschland international Verantwortung trägt, wo wir uns mit dem wichtigen Anliegen der Emanzipation, der Gleichstellung einbringen können. Die UNO hat sich vor zehn Jahren mit der Resolution 1325 besonders für die Frauenrechte eingesetzt. Unsere Kollegin Müller, die kürzlich mit unserem UN-Botschafter Wittig gesprochen hat, hat mich gerade darauf hingewiesen, dass Deutschland zurzeit versucht, in der UNO an dieser Stelle neue Impulse zu setzen, indem unser Botschafter dort eine besondere Arbeitsgruppe leiten wird. Ich sage ganz klar, dass sich unsere Außenpolitik auch an Werten orientieren muss. Ein ganz wichtiger Wert ist die Verwirklichung der Rechte von Frauen und Mädchen. Wenn es darum geht, in der Welt internationale Verantwortung zu zeigen, dann ist das für uns ein ganz wichtiger Punkt. ({7}) Dieser Weg ist bei weitem noch nicht zu Ende. Aber ich möchte auch auf die Erfolge hinweisen, die erreicht worden sind. Ich nenne das Beispiel Afghanistan. Bevor die Taliban 1996 in Kabul einmarschiert sind und danach den Besuch der Universität verboten haben, gab es knapp 10 000 Studenten, davon 40 Prozent Frauen. Während der Herrschaft der Taliban gab es in Afghanistan keine einzige Frau an den Universitäten. Wenn wir uns anschauen, was sich in dieser Gesellschaft heute verändert hat, dann sehen wir - das ist ein ganz wichtiger Punkt -, dass zu einer Friedenspolitik und zum Aufbau einer Zivilgesellschaft selbstverständlich gehört, dass Frauen Zugang zu Universitäten und zu Schulen überhaupt bekommen. Deshalb ist es richtig, auch in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass von heute 34 000 Studierenden in Afghanistan 7 000 Frauen sind. Das ist noch zu wenig; das kann noch mehr werden. Aber wir sind dort auf einem guten Weg. ({8}) Im Auswärtigen Dienst der afghanischen Regierung befinden sich Frauen, zum Beispiel die Geschäftsträgerin der afghanischen Botschaft, Frau Neda, hier in Berlin. Ich habe sie in der großen Afghanistan-Debatte vor einigen Wochen schon erwähnt. Ich möchte auf andere Beispiele zu sprechen kommen. In fast allen großen Konflikten auf der Welt sind Frauen und Kinder die Hauptopfer von Auseinandersetzungen. Auch in unserem Antrag ist davon die Rede. Nach UN-Angaben sind 75 Prozent der Opfer in Krisengebieten Frauen und Kinder. Gerade vor diesem Hintergrund möchte ich das große Engagement von mutigen Frauen herausheben. Es sind sehr häufig Frauen, die sich für ihr eigenes Geschlecht sehr stark einsetzen, und dies unter sehr schwierigen Bedingungen. Ich rede von Kudakwashe Chitsike aus Simbabwe. Sie ist Anwältin und engagiert sich für eine Menschenrechtsorganisation. Sie unterstützt vor allem die Aufarbeitung der Untaten von Robert Mugabe, der schätzungsweise 2 000 Frauen - es waren insgesamt viel mehr - gezielt für ihre Tätigkeit in der Opposition zur Rechenschaft gezogen hat, und zwar auf brutalste Art und Weise: Sie wurden geprügelt oder brutal vergewaltigt. Ich bin der Meinung, dass es an einem solchen Tag zu einer solchen Debatte gehört, dass wir neben Aufsichtsratsposten, Managergehältern und anderem auch darüber reden, dass andernorts die Verhältnisse, in denen Frauen leben, wesentlich schlechter sind. Deswegen wollen wir von hier aus dazu aufrufen, dass diejenigen, die eine Verbesserung der Situation von Frauen verhindern, wie zum Beispiel Robert Mugabe, für ihr Fehlverhalten und ihre schlimmen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. ({9}) Frau Chitsike hat ein Internetvideo produziert, das ich Ihnen empfehle. Sie können es überall im Internet finden. Es heißt „Hear Us“. Dort schildern vier Frauen auf sehr bewegende Art und Weise ihre schlimmen Erlebnisse in diesem schrecklichen Konflikt. Ich sehe, dass meine Redezeit leider schon vorbei ist, aber ich möchte ein weiteres Beispiel nennen. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Da müssen Sie sich aber sehr beeilen, Herr Kollege Mißfelder.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Iran gehen mutige Frauen gegen das Regime von Ahmadinedschad auf die Straße und werden dafür brutalst zusammengeschlagen. Deshalb denke ich, dass es wichtig ist, am heutigen Tag darauf hinzuweisen, dass es in allen Krisenherden der Welt fast immer Frauen sind, die als Erste mit den schlimmen Auswirkungen zu leben haben. Deshalb möchte ich allen Frauen dieser Welt, die an ihre Freiheit glauben und dafür kämpfen, für den Mut, den sie aufbringen, danken. Herzlichen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Gabriele Hiller-Ohm ist die nächste Rednerin für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Mann macht noch keine Gleichstellung. ({0}) Ich freue mich, dass sich auch in der CDU Männer vom Thema Gleichstellung angesprochen fühlen. Das sollte sich dann aber auch im politischen Handeln, in den richtigen Konzepten niederschlagen. Da sieht es bei Ihnen leider zappenduster aus, wie Sie auch heute wieder unter Beweis gestellt haben. ({1}) Der Equal Pay Day zeigt es schonungslos: Knapp drei Monate länger, nämlich bis zum 26. März 2010, müssten Frauen in Deutschland arbeiten, um das gleiche Einkommen zu erhalten, das Männer 2009 im Schnitt verdient haben. Selbst bei gleicher Arbeit haben Frauen oft weniger in der Lohntüte als ihre männlichen Kollegen, und das bei ausgezeichneten Bildungsabschlüssen. „Schluss damit!“, sagte deshalb die damalige rot-grüne Bundesregierung und setzte sich mit Vertretern der Wirtschaft zusammen, um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden. Im ersten Schritt wurde eine freiwillige Vereinbarung zur Durchsetzung gleicher Chancen für Männer und Frauen beschlossen. Leider ging diese in die Hose. Wir haben gelernt: Freiwilligkeit hat ihre Grenzen. Aus dieser Erfahrung heraus hatte Olaf Scholz im vergangenen Jahr als Arbeitsminister einen Gesetzentwurf zur Verwirklichung von Entgeltgleichheit vorgelegt. Lohndiskriminierung würde damit aufgedeckt, und gleiche Löhne wären rechtlich durchsetzbar. Die Arbeitgeber könnten sagen: In meinem Betrieb werden Frauen anständig bezahlt. - Leider, werte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, haben Sie diese dringend notwendige Initiative eiskalt ausgebremst. ({2}) Sie schreiben nun in Ihrem Antrag, den Sie gemeinsam mit der FDP vorlegen: Wir wollen auf die Beseitigung der Entgeltungleichheit hinwirken. Um Himmels willen, dann wirken Sie doch endlich! ({3}) Sie sind doch an der Regierung. Haben Sie das noch nicht begriffen? Wo bleibt Ihr Gesetzentwurf? Der von Olaf Scholz liegt übrigens noch im Ministerium in einer Schublade. ({4}) Eine Verbesserung der Situation der Frauen können wir auch durch entsprechende Richtlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge durchsetzen. Warum - so frage ich Sie - vergeben wir öffentliche Aufträge nicht nur an Unternehmen, die Frauen und Männer gleich entlohnen? Wir fordern dies in unserem Antrag. Niedriglöhne sind viel zu oft Frauenlöhne. Zwei Drittel der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland hängen in mies bezahlten Jobs fest, davon arbeiten 60 Prozent in Teilzeit oder Minijobs. Hier zeigt sich ganz deutlich: Wir brauchen dringend einen gesetzlichen Mindestlohn und eine Begrenzung der Minijobs. ({5}) Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Das haben wir aus der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gelernt. Dumpinglöhne und unfaire Arbeitsbedingungen finden wir auch im Bereich der Leiharbeit. Als wir hier im Plenum über die XXL-Sauerei bei Schlecker diskutiert haben, war die Arbeitsministerin von der Leyen sehr betroffen und hat Änderungen zugesagt. Wo, so frage ich, bleiben die Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten in der Leiharbeitsbranche? ({6}) Nicht einmal einen Branchenmindestlohn setzen Sie durch. Außer Thesen nichts gewesen! ({7}) Wir fordern: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Stopfen Sie endlich die Löcher im Gesetz! ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP, durch die Verweigerung eines gesetzlichen Mindestlohns bringen Sie viele Menschen in Armut. Für den, der heute von Niedriglöhnen leben oder sogar mit Arbeitslosengeld II aufstocken muss, ist Armut im Alter vorprogrammiert. Sie, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, wollen allen Ernstes die Altersarmut, die vor allem Frauen droht, mit Informations- und Beratungsangeboten bekämpfen. Das ist ja geradezu lächerlich. Realitätsferner geht es ja wohl nicht. ({9}) Ihr Verhalten und die Äußerungen von Minister Westerwelle bestätigen: Das größte Armutsrisiko in Deutschland ist Ihre Regierung. ({10}) Man muss keine Prophetin sein: Das Betreuungsgeld der CSU führt keineswegs zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ({11}) sondern geradewegs in die Sackgasse. Ich hoffe, die neue Familienministerin Schröder, die auch Ministerin für Frauen ist, hat die Kraft, sich gegen die unsägliche Herdprämie der CSU durchzusetzen. Wir brauchen dieses Geld dringend für gute Betreuungs- und Bildungsangebote; ({12}) denn trotz großer Anstrengungen unter sozialdemokratischer Regierung ist es nicht gelungen, die Betreuungssituation in Deutschland so zu gestalten, dass Eltern arbeiten gehen können, während ihre Kinder gut versorgt sind und gefördert werden. Diese wichtige Grundlage für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist immer wieder am Widerstand der schwarz-gelb regierten Bundesländer gescheitert. ({13}) Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, nutzen Sie die Mehrheiten und die Zeit, die Ihnen noch bleibt, und machen Sie Druck auf Ihre Ministerpräsidenten im Bundesrat, damit wir auch hier einen Schritt vorankommen! ({14})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben uns die Situation der Frauen in Deutschland heute unter sehr vielen verschiedenen Aspekten vor Augen geführt. In den Anträgen wird dazu einiges ausgeführt. Ich bin Philipp Mißfelder sehr dankbar dafür, dass er den internationalen Aspekt und den Zusammenhang zwischen Emanzipation und Frieden schaffenden Maßnahmen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen plastisch dargestellt hat. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Zusammenhang. Das musste hier gerade aus Anlass des Internationalen Frauentages einmal gesagt werden. ({0}) Nun ist Philipp nicht der Erste, der diesen Gedanken formuliert hat. Dazu gibt es auch eine Resolution der Vereinten Nationen, die Resolution 1325. In ihr wird ein besserer Schutz von Frauen gefordert, gerade in kriegerischen Auseinandersetzungen bzw. in Zeiten politischer Umstürze, in denen Gewalt gegen Frauen ganz bewusst als strategisches Mittel eingesetzt wird. Das müssen wir ächten. In dieser Resolution wird dazu aufgefordert, die Täter konsequent zur Verantwortung zu ziehen. In ihr wird aber auch aufgezeigt, dass Frauen einen unverzichtbaren konstruktiven Anteil leisten können und müssen, wenn es darum geht, eine bessere zivile Gesellschaft aufzubauen. Das ist genau das, was Ziel unseres Einsatzes ist. Diese Resolution wird in diesem Jahr zehn Jahre alt. Allein das ist Anlass genug, an diese Resolution zu erinnern. Ein noch besserer Anlass aber ist ihre Aktualität. Wir sind dabei, das Afghanistan-Konzept neu auszurichten. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, diese Resolution in unser Afghanistan-Konzept einzubringen und ihre Forderungen dort ganz konkret umzusetzen. ({1}) Wir sind aber auch aufgerufen, zu überlegen, was die Situation von Frauen und Mädchen in unserem Land konkret verbessern kann. Wir müssen die Mädchen hier noch besser vor Gewalt schützen. Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung sind ganz wichtige Themen. Beides sind massive Menschenrechtsverletzungen. Wir müssen klarmachen, dass wir das nicht tolerieren. ({2}) Das ist kriminelles Unrecht; das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis auf andere Traditionen rechtfertigen. Das muss strafrechtlich und auch ausländerrechtlich geahndet werden. Wir haben den besseren Schutz vor Zwangsverheiratung und vor allem einen besseren Opferschutz im Koalitionsvertrag vorgesehen. Für beides, Genitalverstümmelung und Zwangsverheiratung, liegen bereits Gesetzentwürfe vor, die den Bundesrat passiert haben. Sie werden demnächst bei uns auf der Agenda stehen. Wir werden uns sehr genau ansehen, ob wir da Verbesserungen erzielen können. ({3}) Nicht zuletzt - auch das möchte ich erwähnen - sieht der Koalitionsvertrag eine Verbesserung der Situation für die Opfer von Menschenhandel vor; dies betrifft in der Mehrzahl Frauen. Es ist an der Zeit, dass das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels endlich auch bei uns ratifiziert wird. ({4}) Wir hoffen, dass das Vertragsgesetz in Kürze vorgelegt wird. ({5}) Wir haben in Deutschland auch die im wahrsten Sinne des Wortes hausgemachte Gewalt. 37 Prozent der Frauen haben in einer Studie des Frauenministeriums angegeben, dass sie selbst schon mit körperlicher Gewalt konfrontiert gewesen sind. Dies ging durch alle soziologischen Gruppen und Schichten, ob bildungsnah oder bildungsfern. Für diese Frauen gibt es durchaus ein differenziertes Hilfsangebot. Wir haben bereits über die Frauenhäuser gesprochen. Dazu gibt es das Gewaltschutzgesetz, auf dessen Grundlage die Polizei und die Gerichte helfen. Es gibt die Sozialgesetze und das private Unterhaltsrecht. Aber diese Hilfen wirken nur, wenn man sie kennt, verfügbar und erreichbar hat. In Bedrohungssituationen kann man nicht lange nach der richtigen Adresse suchen. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir eine einheitliche Notrufnummer einrichten. Das würde Frauen in akuten Notsituationen helfen, in denen sie nicht lange herumtelefonieren oder suchen können, sondern ein konkretes Angebot vorhanden sein muss. ({6}) Wir begrüßen es außerdem, dass die spanische Ratspräsidentschaft das Thema häusliche Gewalt auf die Agenda gesetzt hat. Wir werden an einer europäischen Schutzanordnung arbeiten, und wir werden dies zum Anlass nehmen, bei uns in der Praxis noch einmal ganz konkret zu fragen, ob alle Rechte für die Behörden und die Eingreifmöglichkeiten vorhanden sind, um bei drohender Gefahr das zu tun, was nötig ist, um Opfern auch im häuslichen Bereich zu helfen. ({7}) - Und der Frauenhausbericht; auf den warten auch wir mit Spannung. Ich möchte noch einmal auf die ungenutzten Möglichkeiten und Potenziale zurückkommen. Mir geht es dabei zum einen um die Chancen für Frauen, um Gerechtigkeit für Frauen, zum anderen aber auch darum, ob die Wirtschaft alle Potenziale nutzt oder Potenziale ungenutzt liegen lässt. Wir sehen die Unterschiede bei den Entgelten, die ungleiche Beteiligung in Bezug auf einflussreiche Positionen in der Wirtschaft und die schlecht abgesicherten Mini- und Midijobs. Die Analyse teilen wir; die objektiven Zahlen sind vorhanden. In der Bewertung gibt es Parallelen, aber auch Unterschiede. Ich bin mir sicher, dass wir deutlich mehr Frauen im Management unserer Unternehmen, gerade auch in den Vorständen und Aufsichtsräten, brauchen, ({8}) um gerechte Chancen für Frauen zu sichern, aber auch als Chance für die Wirtschaft. Denn internationale Studien zeigen, dass Unternehmen, die mehr Frauen in den Aufsichtsräten haben, besser wirtschaften; sie kommen besser durch diese Krise. Diese Chance wollen wir allen Unternehmen gönnen. ({9}) Der fast völlige Ausschluss von Frauen auf dieser Ebene betrifft doch gerade die Unternehmen, deren kollektive Fehlentscheidungen die Finanz- und Wirtschaftskrise maßgeblich mit ausgelöst haben. Da sollte man einmal die Frage nach Ursache und Wirkung stellen. Ich denke, dass die jetzt nötigen Umstrukturierungen eine gute Gelegenheit bieten, mehr Frauen in diese Positionen zu bringen. Die freiwillige Vereinbarung aus dem Jahr 2001 hat in der Tat nichts gebracht. ({10}) Beispiele aus dem zivilisierten europäischen Ausland zeigen, dass es auch im abendländischen Kulturkreis möglich ist, über andere Wege nachzudenken, und dass Quoten nicht den Untergang des Abendlandes bedeuten. ({11}) Wir haben in unserem Koalitionsvertrag eine erste Stufe beschrieben. ({12}) Es muss klar sein, dass dieser ersten Stufe weitere Stufen folgen werden. Bei uns steht die Quote nicht im Mittelpunkt. Aber es ist ganz klar, dass wir hier zu verbindlichen Zielvorgaben und zu verbindlichen Maßnahmen kommen müssen. Es dürfen nicht wieder neun Jahre vergehen, bevor wir die nächste Bilanz ziehen und uns anschauen, ob unsere Maßnahmen etwas gebracht haben. ({13}) Differenziert sehen wir die Teilzeitarbeit. Sie entspricht in der Tat dem Wunsch vieler Frauen und auch mancher Männer, die sie in Anspruch nehmen. Diese Wahlfreiheit erkennen wir ausdrücklich an. Wir sind nicht erst zufrieden, wenn alle Eltern, auch die kleiner Kinder, sofort wieder Vollzeit arbeiten. ({14}) Wir wollen nicht, dass man sich rechtfertigen muss, wenn man sich entscheidet, einen wesentlichen Teil des Tages der Familie zu widmen. ({15}) Das kann verschiedene Gründe haben. Es kann pädagogische Gründe haben, es kann um Zeit für Pflege gehen, es kann aber auch schlichtweg um ein Stück Lebensqualität gehen, für das man die Nachteile, die damit verbunden sind, bewusst in Kauf nimmt. Wir müssen zweierlei tun: Erstens müssen wir darauf achten, dass diese Entscheidung wirklich freiwillig getroffen wird. Da, wo es um strukturelle Nachteile geht, die keine andere Wahl lassen, ist die Wahlfreiheit nicht gewährleistet. Wir sind sicherlich alle der Meinung, dass hier die Rahmenbedingungen verbessert werden müssen. Zweitens müssen wir die unberechtigten Nachteile, die sich aus Teilzeitarbeit ergeben, abbauen. Teilzeitarbeit darf keinen Knick in der Karriere bedeuten. Man muss auch dann noch Karrierechancen haben, wenn man sich nach einer Phase der Teilzeitarbeit wieder voll in den Beruf stürzen will. Kritisch sehen wir allerdings die Zahl von Frauen in Mini- und Midijobs.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin!

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sehr bald zum Schluss. ({0}) Sie können eine Brückenfunktion haben; dann haben sie ihre Berechtigung. Wenn wir aber ernsthaft über eine Ausweitung und Dynamisierung von Minijobs diskutieren wollen, müssen wir zum Prüfkriterium machen, ob sie für Frauen wirklich eine Brückenfunktion haben oder ob sie nicht doch eine Sackgasse sind. ({1}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Druck- sache 17/901 mit dem Titel „Internationaler Frauentag - Gleichstellung national und international durchsetzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag mit der Mehr- heit der Stimmen des Hauses angenommen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 3 b bis 3 e. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/821, 17/891, 17/797 und 16/10500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 17/797 soll feder- führend beim Rechtsausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen - Drucksache 17/879 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({0}) Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz Kuhn, Birgitt Bender, Markus Kurth, weiterer Präsident Dr. Norbert Lammert Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Keine Zusatzbeiträge für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II - Drucksache 17/674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Lauterbach für die SPD-Fraktion. ({2})

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Gesundheitspolitik der Regierungskoalition ist zurzeit eine sehenswerte Mischung aus Stillstand in der Sache und heftigem, hektischem Streit - jeder gegen jeden - zu beobachten. Der Streit ist so würzig, dass man als Oppositionspartei kaum zu Wort kommt. Auch ich habe es in diesen Tagen daher nicht leicht. ({0}) Kein noch so hässlicher Vorwurf gegen die Regierung würde nicht auch von der Regierung selbst gegen die eigenen Kollegen öffentlich vorgetragen. So wirft Minister Söder Minister Rösler völlig zu Recht vor, dass er umgehend Vorschläge zur Kostensenkung machen soll, statt überflüssige Kommissionen mit in der Sache nicht kompetenten Kabinettskollegen zu organisieren. In der Berliner Zeitung stellt er fest, dass der Pharmagipfel von Herrn Rösler keine Ergebnisse gebracht hat. Nun ja, man muss schon völlig neu im Geschäft sein, um zu glauben, dass ausgerechnet die Pharmaindustrie mit Sparvorschlägen ins Ministerium spaziert. ({1}) Das ist uns in zehn Jahren nicht passiert - und ich sage Ihnen: Das wäre mir in Erinnerung geblieben. ({2}) - Wir haben die Pharmaindustrie immer gemieden. Auch hat Herr Söder natürlich recht, genauso wie sein Chef Seehofer, dass die Kopfpauschale, die die FDP einführen will, unsozial, ungerecht und unbezahlbar ist. ({3}) Selbst 75 Prozent der FPD-Wähler sind gegen diese aberwitzige Idee. Aber der Minister hält stur an dem Vorschlag fest. Mit Blick auf die NRW-Wahl kann ich nur sagen: Weiter so, Herr Rösler! Sie sind unser bester Wahlkämpfer, neben Ministerpräsident Rüttgers, und für Sie müssen wir wenigstens nicht bezahlen. Wir bekommen Sie gratis; wir müssen nicht 6 000 Euro auf den Tisch legen. ({4}) Angst vor dem Wähler kann man Ihnen, Herr Rösler, nicht zum Vorwurf machen. Wenn die Regierung die Oppositionsarbeit so wirkungsvoll leistet, dann müssen wir als Opposition die Regierungsarbeit übernehmen ({5}) - wir kommen Ihnen zu Hilfe, ja - und konkrete Vorschläge zur Lösung der immer stärker drängenden Probleme bringen. Heute will die SPD einen Vorschlag für die Finanzierung des Gesundheitssystems einbringen. Er ist das Gegenteil dessen, Herr Zöller, was Teile der Union und die FDP planen. Union und FDP haben sich zumindest in einem Punkt geeinigt - das ist die einzige Einigung, die ich sehen kann -: Sie wollen, dass die Arbeitgeber bei der Finanzierung des Gesundheitssystems entlastet werden. Das bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass die Arbeitnehmer zusätzlich belastet werden sollen, denn nur so kann es ja gehen. ({6}) Aber weshalb sollen die zusätzlichen Kosten im Gesundheitssystem gerade in der heutigen Zeit von den Arbeitnehmern und nicht von den Arbeitgebern bezahlt werden? Weshalb sollen wir ausgerechnet in der heutigen Zeit die Arbeitgeber entlasten? Welchen Sinn macht das? Das will doch niemand. Weshalb sollen Ausbeuterfirmen wie Schlecker und andere ausgerechnet bei den Gesundheitskosten entlastet werden, und dies zulasten der Bürger, Herr Singhammer? Das ist auch für die CSU eine untragbare Position. Sie wollen nicht den Bürger entlasten, sondern die Arbeitgeber, und dies zulasten der Arbeitnehmer. Damit ist die Kritik von Herrn Seehofer und Herrn Söder in diesem Punkt ohne Wenn und Aber berechtigt und richtig. ({7}) Herr Westerwelle, wenn Sie wirklich wollen, dass sich die Arbeit für den Geringverdiener wieder lohnt, dann setzen Sie die Pläne zur Kopfpauschale aus, ({8}) wodurch Reiche entlastet und Geringverdiener belastet würden, und hetzen Sie nicht die Geringverdiener gegen die Arbeitslosen auf. Fangen Sie bei der eigenen Gesundheitsreform, die Sie vorhaben, an; denn das ist die Reform, die die Geringverdiener am stärksten belasten wird! ({9}) Herr Lanfermann, die FDP beschimpft den Staat als teuren Schwächling, aber treibt gleichzeitig 20 Millionen Leute als Bittsteller für einen Sozialausgleich zum selben Staat, den sie bisher nicht nötig hatten. ({10}) Sehen Sie diesen Widerspruch nicht, ({11}) oder wollen Sie den Bürger verschaukeln? ({12}) Wir brauchen eine einfache, unbürokratische und gerechte Finanzierung des Gesundheitssystems. Kurzfristig schlägt die SPD daher vor, den Beitrag wieder paritätisch zu erheben - ohne kleine Kopfpauschalen, ohne Sonderbeiträge -, sodass sich auch die Arbeitgeber wieder zur Hälfte beteiligen. ({13}) Wenn die Löhne sinken oder stagnieren, ist es nicht gerecht, die steigenden Gesundheitskosten, wie Sie, meine Kollegen von der Union und von der FDP, es für richtig halten, allein dem Arbeitnehmer aufzubürden. Sie wollen keine Mindestlöhne, akzeptieren aber höhere Gesundheitskosten für die Geringverdiener. Wir als SPD wollen genau das Gegenteil. ({14}) Sie werden jetzt höhnen - ich höre es schon -, die SPD verabschiede sich von alten Positionen. ({15}) Wissen Sie was? Damit haben Sie zum Teil sogar recht. Wir sind es dem Bürger schuldig als SPD. Wir sind ein lernfähiges System. ({16}) Sie wissen genau wie ich, dass die kleinen Kopfpauschalen, die Zusatzprämien, der SPD von der CDU/CSU aufs Auge gedrückt worden sind. ({17}) - Das ist die Wahrheit; stellen Sie sich doch nicht dumm! - Nur aus diesem Grunde, Herr Rösler, haben Sie bisher noch nichts unternommen, um diese kleinen Prämien abzuwenden. Seit fünf Monaten ist Stillstand im Ministerium. Selbst Ihnen wohlgesonnene Journalisten fangen an, sich zu wundern. Nichts passiert, um die Zusatzprämien abzuwenden. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lauterbach, Sie denken bitte auch an die Zeit.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Mit jedem Tag wachsen die Sorgen der Bürger, und das Defizit steigt. Zu einer langfristig gerechten Gesundheitsversorgung mit guter Qualität für alle, ohne Zweiklassenmedizin, ohne immer mehr Bürokratie, ohne Sozialausgleich auf Pump, ohne Bittstellerei beim Staat, führt nur die von Ihnen gehasste, aber von 80 Prozent der Bürger gewollte Bürgerversicherung. ({0}) Darin haben weder Ihre kleinen noch Ihre großen Kopfpauschalen Platz. ({1}) Lassen Sie mich schließen mit der Ankündigung, dass die SPD Sie in den nächsten Wochen mit konkreten Gesetzentwürfen zur Senkung der Arzneimittelkosten unterstützen wird. ({2}) Von der Regierungskoalition erwarten wir diesbezüglich genauso wenig wie Herr Söder, nämlich nichts. Sie werden nach der Niederlage in Nordrhein-Westfalen im Bundesrat ohnedies auf unsere Hilfe und Zuarbeit angewiesen sein. ({3}) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Max Straubinger ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon bedeutsam, dass sich bei der Einbringung des SPD-Antrags der gesundheitspolitische Sprecher der SPD zuerst beklagt hat, dass er nicht mehr wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit. ({0}) Das zeigt, worum es letztendlich geht: Es geht um Wahlkampf. Die gesamte Rede war davon durchtränkt. Nur, Herr Kollege Lauterbach, wenn Sie vom Bezahlen reden: Ich glaube, Sie sind einer der bestbezahlten Gesundheitspolitiker in diesem Plenum. Ihre Vorträge mögen zwar umsonst sein; aber es gibt sie nicht umsonst. ({1}) - Die Lenkung aus dem Rhön-Klinikum-Konzern direkt spricht Bände, Herr Kollege Lauterbach. - Das nur zu dem, was Sie hier vorhin ausgeführt haben. Schön ist, dass ich nicht feststellen kann, dass die ehemalige Bundesgesundheitsministerin bei dieser Debatte anwesend ist. ({2}) Ich kann das verstehen; denn dieser Antrag der SPD ist eine knallharte Abrechnung mit der Gesundheitspolitik von Ulla Schmidt. ({3}) Hier wird alles, was unter Rot-Grün und in der Großen Koalition beschlossen worden ist, zur Disposition gestellt und letztendlich eine rückwärtsgewandte Politik eingeleitet. ({4}) Es ist bemerkenswert, dass von der SPD fünf Monate, nachdem sie die Regierungsämter verloren hat, Vorschläge kommen, die von Bismarck kommen könnten. Auf einmal soll der Zusatzbeitrag von 0,9 Prozentpunkten, den Rot-Grün eingeführt hat, wieder abgeschafft werden. Ich möchte zu bedenken geben, dass es für die Einführung dieses Zusatzbeitrages gute Gründe gab. Zudem liefern Sie natürlich keinen Vorschlag, wie dies finanziert werden soll. Das Schönste ist, dass Sie den kassenindividuellen Zusatzbeitrag, das Lieblingskind der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin, ebenfalls abschaffen wollen. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat hier im Plenum ständig darauf hingewiesen, ({5}) dass gerade dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag Ausdruck des Wettbewerbs zwischen gut geführten Krankenkassen und angeblich weniger gut geführten Krankenkassen ist. ({6}) Das zeigt sehr deutlich: Die SPD schlägt hier vor, dass es keinen Wettbewerb mehr zwischen den gesetzlichen Krankenkassen geben darf. In Ihrem Antrag wird natürlich reflexartig wieder einmal die PKV gegeißelt. ({7}) - Nein, Frau Kollegin Ferner, das stört mich überhaupt nicht. Ich frage mich nur, ob Sie bei diesem Vorschlag tatsächlich richtig nachgedacht haben. ({8}) - Ich habe den Eindruck, dass Sie das nicht getan haben. Ich habe in Ihrem Antrag gelesen, dass Sie einen Finanzausgleich entsprechend der Morbidität einführen wollen. Die Ausgabenentwicklung, in der sich die Morbidität letztendlich widergespiegelt, war bei der privaten Krankenversicherung in der Vergangenheit doppelt so hoch wie bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Ich weiß nicht, ob ein solcher Finanzausgleich in Ihrem eigenen Sinne ist, verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD. ({9}) Dies wird noch dadurch untermauert, dass gerade bei der privaten Krankenversicherung eine Überalterung des Versichertenbestandes festzustellen ist. Deshalb kann bei der Pflegeversicherung mittlerweile festgestellt werden, dass die Zahl der Einstufungen in die Pflegestufe II bei den Versicherten in der PKV prozentual gesehen höher ist als bei den gesetzlich Krankenversicherten. Unterstützen Sie also mit die gute PKV! Das wäre ehrenwert. Ich habe aber den Eindruck, Sie haben eigentlich etwas anderes im Sinn. Schön ist auch, dass die Bundesregierung in diesem Antrag aufgefordert wird, ein eigenes Konzept der Bürgerversicherung vorzulegen. ({10}) Die Erarbeitung eines Konzepts der Bürgerversicherung überlassen wir Ihnen. ({11}) Hiermit haben Sie in der Vergangenheit nicht unbedingt die besten Erfahrungen gemacht. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Leute darauf freuen, wenn sie auf Zinseinnahmen, auf Mieteinnahmen und auf weitere außerordentliche Einkünfte Beiträge zahlen dürfen. Das ist Ihre Angelegenheit; das sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern auch im nordrhein-westfälischen Wahlkampf darlegen. Ich stelle fest: Das ist eine Politik, die rückwärtsgewandt ist und mit der die Herausforderungen der Zukunft in keiner Weise bewältigt werden.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heil?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann dem Herrn Kollegen Heil den Wunsch nicht verwehren.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Hubertus Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003142, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber geschätzter Herr Kollege Straubinger, ich habe nur eine Frage: Hat Herr Söder mit seiner Kritik an der Kopfpauschale, die Ihre Regierungskoalition plant, recht oder nicht? Ja oder nein?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Regierung plant keine Kopfpauschale in diesem Sinne. Wir sagen sehr deutlich - ich komme später noch darauf; aber ich bin dankbar, dass Sie dies hier ansprechen -: Wir haben eine Regierungskommission eingesetzt. Dies steht auch im Koalitionsvertrag. ({0}) Diese Regierungskommission wird sich mit den zukünftigen Herausforderungen bei der Finanzierung eines gerechten und auf Solidarität beruhenden Gesundheitssystems auseinandersetzen. Im Gegensatz zu manchen, die sich aus der Landespolitik dazu äußern, ist die CSULandesgruppe bereit, ({1}) dies offensiv zu begleiten. ({2}) Herr Kollege Heil, für die Gesamtpartei CSU gilt: Die CSU stand der Kopfpauschale in der Vergangenheit und steht ihr auch in der Zukunft sehr kritisch gegenüber ganz einfach. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kollege Straubinger, auch Kollegin Hendricks würde gern eine Frage stellen.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Straubinger, kann es sein, dass die Regierungskommission eingesetzt worden ist, damit wenigstens ein Teil der Regierung schon einmal den Anschein von Arbeit erweckt? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Hendricks, Sie beklagen tagtäglich in Ihren Debattenbeiträgen, dass die Regierung zu schnell arbeitet, ({0}) zum Beispiel als wir mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland gestärkt haben, was letztendlich die Grundlage dafür ist, dass in unserem Land Arbeitsplätze entstehen. Arbeitsplätze sind die beste Grundlage für die Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. ({1}) Es ist mit entscheidend, dass die Wirtschaft wieder Kraft gewinnt, damit mehr Arbeitsplätze entstehen und damit viele Beitragszahler die gesetzlichen Sicherungssysteme, also die Renten-, die Kranken-, die Pflege- und die Arbeitslosenversicherung, tragen. Das ist das Primat der Politik dieser Großen Koalition -, ({2}) - dieser christlich-liberalen Koalition. Dafür legen wir die Grundlagen. ({3}) Diese Bundesregierung hat kurzfristig reagiert - wir werden es morgen im Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz und nächste Woche im Bundeshaushalt festlegen -: Wir stehen den Versicherten mit einem Aufwuchs der Steuerzuschüsse um 3,9 Milliarden Euro bei. ({4}) - Frau Kollegin Ferner, wir machen es nicht wie in Zeiten von Rot-Grün. Damals hieß es: Rauchen für die Gesundheit. Die Steuer auf Tabakerzeugnisse wurde angehoben; und schon ein Jahr später wurde von der gleichen, der rot-grünen Bundesregierung der Bundeszuschuss für die gesetzlichen Krankenversicherungen gekürzt. ({5}) Wir sind für eine beständige und nachhaltige Finanzierung unseres Krankenversicherungssystems. - Frau Kollegin Bender hätte eine Zwischenfrage.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ja, ich glaube es. Ich lasse sie aber nicht zu; denn nach Ablauf der Redezeit kann ich nicht zur Verlängerung derselben Zusatzfragen zulassen. Ich sage dies, obwohl ich um die Großzügigkeit der Kollegen weiß, gerade in solchen Fällen Zusatzfragen besonders gerne zuzulassen. Also: Ein schöner Schlusssatz krönt die Übung. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese christlich-liberale Regierung ist angetreten, eine der demografischen Entwicklung angepasste, generationengerechte und solidarische Finanzierung des Krankenversicherungssystems in der Zukunft zu gewährleisten, mit Bundesminister Rösler an der Spitze und mit tatkräftiger Begleitung der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Harald Weinberg für die Fraktion Die Linke. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Straubinger hat natürlich in einem Punkt recht; an einer Stelle war uns die Regierung in der Tat zu schnell: bei der Entlastung der Hotels. ({0}) Der Antrag der SPD hat mich zugegebenerweise etwas verwirrt. Früher galt die SPD als Partei, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt. Dann kam Schröder und ab 2003 seine Agendapolitik. Diese Wende hat die Positionen der SPD verwechselbar mit denen der Union und der FDP gemacht. Jetzt will die SPD Teile dessen, was sie mit der Agendapolitik eingeführt hat, wieder abschaffen. ({1}) Aufgrund der Agenda 2010 mussten sich die Krankenversicherten mit Leistungskürzungen, höheren Zuzahlungen und der Einführung der Praxisgebühr abfinden. Die regierenden Parteien, SPD und Grüne, einigten sich mit der Union auf das größte Kürzungsprogramm in der Geschichte der Krankenversicherung. Zu dieser Politik gehörte auch die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten der Beschäftigten durch den Sonderbeitrag von 0,9 Prozentpunkten. Die Linke war damals die einzige Partei, die diese Sozialkürzung kritisiert und nach der Einführung immer wieder ihre Abschaffung gefordert hat. ({2}) 2007 legten SPD und Union mit dem Gesundheitsfonds gemeinsam den Grundstein für die Zusatzbeiträge. Das gleiche simple Konzept, die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten der Beschäftigten, war die Richtschnur der Politik, bis im letzten Jahr das Konjunkturpaket II auf der Tagesordnung stand. Da gab es auf einmal Geld zu verteilen. Die Linke hat damals die Abschaffung des Sonderbeitrags als Änderungsantrag auf die Tagesordnung gesetzt. ({3}) Als dann auch noch der CSU-Wirtschaftsminister die Abschaffung des Sonderbeitrags forderte, kippte die Stimmung in der SPD, und plötzlich forderten SPD-Vertreterinnen und -Vertreter öffentlich die Abschaffung. Aber wie ging die Abstimmung aus? SPD, Grüne, CDU/ CSU und FDP lehnten in trauter Einigkeit die Abschaffung des Sonderbeitrags im Rahmen des Konjunkturprogramms ab. Dabei wäre das ein sinnvoller Konjunkturimpuls gewesen. ({4}) Nun liegt ein Antrag der SPD vor, in dem gefordert wird, nicht nur den Sonderbeitrag abzuschaffen, sondern auch die Zusatzbeiträge. Ich freue mich über diesen Wandel, hätte mich aber noch mehr gefreut, wenn die SPD diese Position schon vertreten hätte, als sie noch etwas zu sagen hatte. ({5}) Noch mehr hätte es mich gefreut, wenn sie diese Regelungen, die sie jetzt wieder abschaffen will, erst gar nicht eingeführt hätte. ({6}) Ganz so weit sind die Grünen noch nicht; aber sie fordern immerhin in ihrem Antrag die Abschaffung der Zusatzbeiträge für Hartz-IV-Betroffene, weil Zusatzbeiträge die Versicherten einseitig belasten. Das ist völlig richtig, aber zu kurz gesprungen: Warum denken die Grünen diesen Gedanken nicht zu Ende und fordern die Abschaffung der Zusatzbeiträge für alle ({7}) sowie die Abschaffung des Sonderbeitrags und damit die Wiederherstellung des Grundsatzes, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich die Beiträge halbe-halbe teilen? Ich bin aber zuversichtlich, dass dieser Lernprozess noch nicht abgeschlossen ist, und freue mich, dass sich sowohl SPD als auch die Grünen unseren Positionen Schritt für Schritt annähern. Bei der FDP und der Mehrheit der Union jedoch ist kein Lernprozess zu verzeichnen. Immer noch laufen Rösler und sein Gefolge der Idee der Kopfpauschale wie Lemminge hinterher. ({8}) Wenn Sie die Augen aufmachten, dann sähen Sie, dass dieser Weg direkt in den Abgrund führt. Die Kopfpauschale ist unsozial, weil sie eine direkte Umverteilung von unten nach oben ist. Sie ist nicht finanzierbar, weil ein sozialer Ausgleich dieser Umverteilung jedes Jahr bis zu 40 Milliarden Euro kosten würde. Es ist klar, dass Sie immer wieder versuchen, diese Fakten wegzuwischen und zu beschwichtigen. Minister Rösler, als junger Tiger dieser Bundesregierung gestartet und inzwischen auf bestem Wege, als Flokati zu landen, ({9}) erwähnt mittlerweile in jedem Interview, dass alles nur schrittweise eingeführt werden soll und deswegen gar nicht so schlimm würde. Aber egal, ob Sie die Kopfpauschale sofort oder schrittweise in einer Salamitaktik einführen wollen: Im Endergebnis bleibt sie unsozial und unfinanzierbar. ({10}) Im Gegensatz zur FDP versteht die große Mehrheit der Bevölkerung dies und will deshalb keine Kopfpauschale. Sogar über 70 Prozent der FDP-Anhänger lehnen sie ab. Diesen FDP-Anhängern kann man eigentlich nur raten, bei den nächsten Wahlen diejenigen zu wählen, die ihre Interessen tatsächlich vertreten. Ein weiterer Trick von Minister Rösler ist, die Verantwortung für sein aktuelles Nichthandeln der Vorgängerregierung und ihrem Gesundheitsfonds in die Schuhe zu schieben. Um die Kopfpauschale scheibchenweise einzuführen, sind ihm die Zusatzbeiträge sogar sehr willkommen. Rösler gibt zwar vor, mit den Versicherten mitzuleiden, wenn jetzt eine Kasse nach der anderen Zusatzbeiträge einführen muss. ({11}) Es läge jedoch in seiner Macht, diese Zusatzbeiträge zu verhindern. Er müsste nur die Vorschläge der Linken zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme aufgreifen, die morgen hier debattiert werden. ({12}) Der FDP-Minister zieht es aber vor, sich einfach zurückzulehnen und zuzuschauen, wie durch die Zusatzbeiträge sein Herzenswunsch teilweise zur harten Realität wird: Zusatzbeiträge sind nichts anderes als kleine Kopfpauschalen. Rösler hat schon vor gut drei Wochen im Weser-Kurier durchblicken lassen, dass er den Ausbau der Zusatzbeiträge für eine Möglichkeit hält, die Kopfpauschale ohne großen gesetzgeberischen Aufwand einzuführen. Genau deswegen müssen die Zusatzbeiträge weg. ({13}) Um eine weitere Nebelbombe zu werfen, ruft die Bundesregierung nun fast unisono nach dem Kartellamt, das die Krankenkassen kontrollieren soll, wenn sie Zusatzbeiträge einführen. Das ist populär, bringt aber überhaupt nichts. Die Krankenkassen sind schließlich keine gewinnorientierten Unternehmen, sondern ein Teil des Sozialstaates. Hier darf das Kartellamt überhaupt keine Befugnisse haben; es hat tatsächlich auch nur wenige Befugnisse. Die gesetzliche Krankenkasse auf eine Ebene mit Kaffeeröstereien oder Energiekonzernen zu stellen, ist skandalös. ({14}) Genauso gut könnte man fordern, dass sich das Kartellamt mal um die Preisabsprachen bei den Gesprächsterminen mit CDU-Ministerpräsidenten kümmern soll. ({15}) Hier wird nämlich tatsächlich ein Monopol zum Schaden der Demokratie ausgenutzt. Zurück zur Kopfpauschale und zu den Zusatzbeiträgen. Nun wurde eine Regierungskommission zur Kopfpauschale einberufen, deren alleiniger Zweck es ist, die Öffentlichkeit zu täuschen. Diese Kommission kann nichts Neues mehr herausfinden. Seit vielen Jahren wird nonstop öffentlich über die Kopfpauschale debattiert. Egal welche Modelle im Detail ersonnen wurden, immer sehen diese Modelle vor, dass die Geringverdienenden draufzahlen, damit die Wohlhabenden weniger in die Krankenkassen zahlen. Das wollen die Menschen nicht. Der ganze Terminplan dieser Verschleierungskommission ist darauf aus, die Wählerinnen und Wähler bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen über die wahren Absichten der Regierung im Unklaren zu lassen; ({16}) denn diese Wahl ist auch eine Abstimmung über die Kopfpauschale. Wenn Schwarz-Gelb in NordrheinWestfalen keine Mehrheit bekommt, hat Schwarz-Gelb auch im Bundesrat die Mehrheit verloren. Dann kann die Kopfpauschale nicht durchgesetzt werden. ({17}) Wer also mit seiner Stimme die Kopfpauschale verhindern will, darf in Nordrhein-Westfalen nicht CDU oder FDP wählen. ({18}) - Die kann man in Nordrhein-Westfalen zum Glück nicht wählen. ({19}) Zum Schluss ein Ausflug in die Geschichte. Kopfpauschalen waren noch nie beliebt. Als 1380 der englische König Richard II. Krieg gegen Frankreich führte, ging ihm das Geld aus. Er schuf eine Kopfsteuer und verlangte von jedem, egal ob armer Bauer oder wohlhabender Händler, den gleichen Betrag. ({20}) Ergebnis war die Peasants’ Revolt, ein gewaltsamer Aufstand der Bauern, die sich dies nicht bieten lassen wollten. Aber auch aus der jüngeren Vergangenheit gibt es ein Beispiel, wieder aus England. Ende der 80er-Jahre ersetzte Margaret Thatcher eine vermögensabhängige Steuer durch eine Kopfsteuer. Millionenfach weigerten sich die Menschen, diese Steuer zu zahlen. Es gab gewalttätige Proteste. Die „eiserne Lady“ musste zurücktreten und ihr Nachfolger John Major die Kopfsteuer wieder abschaffen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nicht so, dass Sie, Herr Rösler, mein Wunschminister sind. Wenn Sie aber länger im Amt bleiben wollen, ist Ihnen dringend zu raten, auf solche Kopfpauschalenabenteuer zu verzichten und endlich auch gegen die kleine Variante der Kopfpauschale, die Zusatzbeiträge, vorzugehen. Vielen Dank. ({21})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Ulrike Flach für die Fraktion der FDP. ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Weinberg, das trifft auf Sie genauso wie auf Herrn Lauterbach zu: Wenn Sie hier von der Kopfpauschale reden, verschwenden Sie Ihre Redezeit. Diese Regierung plant keine Kopfpauschale. ({0}) Ich kann Ihnen genau sagen, warum wir sie nicht wollen. Sie ist eben nicht sozial ausgeglichen ({1}) und erfüllt nicht die Grundvoraussetzungen, die nach unserer Meinung für eine Gesundheitsreform gelten sollten. Wir wollen eine einkommensunabhängige Gesundheitsprämie plus Sozialausgleich. ({2}) Das kann man nicht oft genug sagen. ({3}) Lieber Herr Lauterbach, ich war heute optimistisch hierhergekommen und hatte gedacht, dass Sie das getan haben, was Sie uns versprochen haben, nämlich einen durchgerechneten Antrag zu Ihrer Bürgerversicherung vorzulegen. ({4}) Nun sagen Sie einfach: Wir wollen eine Bürgerversicherung. - Ein bisschen mehr Ehrgeiz von Ihrer Seite hätte ich mir gewünscht. ({5}) Sie tun in Ihrem vorliegenden Antrag so, als hätten in den letzten elf Jahren nicht Sie, sondern wir regiert. Die Zusatzbeiträge sind aber nicht das Ergebnis einer von Ihnen behaupteten Untätigkeit des Ministers Rösler, sondern das Ergebnis der Tätigkeit von Ulla Schmidt. ({6}) So einfach ist das. ({7}) Es ist Ihr Gesetz. Es ist Ihr Gesundheitsfonds. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Flach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oppermann?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber natürlich.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Flach, Sie reden hier für die FDP-Bundestagsfraktion. Können Sie uns mal erklären, warum Bundesgesundheitsminister Rösler in dieser Debatte nicht das Wort ergreift? Hat er uns in dieser Diskussion nichts zu sagen, oder müssen Sie ihn verstecken? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Oppermann, ich kenne und schätze Sie seit vielen Jahren als konstruktiven Gegner. Aber mich hier zur Nanny von Herrn Rösler zu machen, ist sicherlich völlig neben der Kappe. ({0}) Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass unsere Fraktion schon Leute hat, die reden können. Herr Lanfermann und ich machen das heute. ({1}) Es spricht heute auch nicht Ihr Fraktionsvorsitzender. Es hätte mich gefreut, wenn wir Herrn Steinmeier dazu gehört hätten. ({2}) Unabhängig davon darf ich Ihnen mit großer Freude berichten, dass in der nächsten Haushaltswoche selbstverständlich Herr Rösler sprechen wird. Freuen Sie sich darauf! ({3}) Also, es ist Ihr Gesetz, es ist Ihr Gesundheitsfonds, und es sind natürlich auch Ihre Zusatzbeiträge. ({4}) Sie haben die Möglichkeit für die Krankenkassen geschaffen, 8 Euro mehr zu nehmen, eine Regelung, die Sie mit einer Überforderungsklausel versehen haben. Lieber Herr Lauterbach, wir beide sind doch lange genug im Geschäft. Wenn Sie mit der Regelung so unzufrieden waren, warum haben Sie die Koalition nicht verlassen? ({5}) Wer etwas als unsozial empfindet und das nicht will, hätte das tun sollen. Das hätte ich von Ihnen erwartet. Dann wäre das, was Sie uns jetzt erzählen, ehrlich. ({6}) Ich habe gestern in alten Protokollen des Gesundheitsausschusses nachgeschaut. Darin preisen Sie den Gesundheitsfonds, den Sie jetzt angreifen, ({7}) weil er die Solidarität und den Wettbewerb zum Wohle des Patienten stärke. ({8}) Jetzt frage ich mich: Was ist denn daraus geworden? Haben Sie das vergessen? Sie sind damals mit diesem Gesetz zum Wohle des Patienten auf den Markt gegangen, und heute versuchen Sie, dem Patienten klarzumachen, dass das alles nicht mehr wahr sei. Das ist politische Amnesie, Vergesslichkeit in hohem Grade. Etwas anderes ist das nicht. ({9}) Das Gleiche gilt übrigens für die Entkoppelung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Sie sind damals zusammen mit den Grünen den ersten Schritt gegangen. Sie haben jetzt also eine Kampagne gestartet, die sich gegen alles richtet, was Sie uns in den letzten elf Jahren auf den Tisch gelegt haben. ({10}) Eigentlich müsste die Kampagne „Nein zu den Auswirkungen der SPD-Gesundheitspolitik!“ heißen; dann wäre sie nämlich ehrlich. ({11}) Sie kritisieren uns in diesen Tagen in Ihrer Kampagne und auch in Ihrem Antrag für angebliche Geschenke für die Ärzte. Jetzt frage ich mich: Wer hat denn die besonderen Arzthonorarsteigerungen des letzten Jahres zu verantworten? Doch nicht die FDP oder Herr Rösler. ({12}) Sie sagen, die Ärztinnen und Ärzte würden von der Bundesregierung besonders verwöhnt. In den letzten Jahren seien ihre Honorare überdurchschnittlich gestiegen, und zwar von 2004 bis 2008 um 12,7 Prozent. Das ist ein Zitat aus Ihrer Kampagne. Das war Ihr Werk, es waren Ihre Ausgabensteigerungen, ({13}) und es waren Ihre fehlgeschlagenen Versuche einer gleichzeitigen Kostendämpfung. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Flach, der Kollege Lauterbach würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber natürlich.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Flach, Sie kritisieren, dass wir in der letzten Legislaturperiode die Arzthonorare, also auch die Honorare für Fachärzte und Hausärzte, angehoben haben. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie diese Anhebung für falsch halten und daher die Arzthonorare wieder kürzen wollen? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Lauterbach, ich kritisiere nicht, dass Sie dafür gesorgt haben, dass auch Ärzte in diesem Lande das bekommen, was sie verdienen, und zwar leistungsgerecht und ordentlich. ({0}) Ich kritisiere aber Sie, lieber Herr Lauterbach, weil Sie so tun, als ob Sie das nicht selbst auf den Weg gebracht hätten. ({1}) Sie versuchen, uns etwas in die Schuhe zu schieben, was zu der Zeit geschah, als wir noch auf den Oppositionsbänken saßen. Das nenne ich - noch einmal - politische Vergesslichkeit. ({2}) Jetzt kommen Sie mit einem Gegenmodell, von dem ich gehofft hätte, dass wir heute ordentlich darüber reden können: die Bürgerversicherung. Sie sollten den Leuten auch sagen, dass der Großmutter, die für ihren Enkel ein Sparkonto angelegt hat und deren Zinseinkünfte dann für die Finanzierung der Kassen herangezogen werden, eine zusätzliche Belastung ins Haus steht. ({3}) Sie sollten das auch der Familie sagen, die in ihrem Hause eine Einliegerwohnung vermietet und deren Mieteinnahmen mitberechnet werden. All dies verschweigen Sie den Leuten. Sie tun mit Ihrer Kampagne so, als ob in diesem Land nur Menschen lebten, die sich an nichts mehr erinnern können. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Flach, möchten Sie noch eine letzte Zwischenfrage des Kollegen Weinberg von der Linksfraktion zulassen? ({0})

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber sicher, Herr Weinberg. ({0})

Harald Weinberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004186, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Reden Sie doch nicht dauernd dazwischen. ({0}) Frau Kollegin Flach, meine Frage lautet ganz simpel: Haben Sie schon einmal von Freibeträgen im Zusammenhang mit Zins- und Kapitaleinkünften gehört?

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Weinberg, selbstverständlich habe ich von Freibeträgen gehört, aber ehrlich gesagt können wir heute über Freibeträge überhaupt nicht reden, weil Herr Lauterbach sein Versprechen nicht gehalten hat. Läge uns ein durchgerechnetes Modell vor, dann könnten wir über Freibeträge reden. Wir tun das gerne. Aber jetzt sind wir noch nicht so weit. Insofern sind wir beide in dieser Frage unwissend, weil Herr Lauterbach uns unwissend gelassen hat. ({0}) Meine lieben Kollegen, wir haben in diesen Tagen eine Kommission eingesetzt, die dazu beitragen wird, dass wir dieses Gesundheitssystem auf wirklich stabile finanzielle Füße stellen werden. ({1}) Wir werden es demografiefest machen. Wir werden in den nächsten Tagen die Ausgabenseite angehen. Sie können sicher sein, dass wir am Ende dieser vier Jahre eine Gesundheitsreform auf den Weg gebracht haben, mit der zumindest die eine Seite dieses Hauses und die Menschen in diesem Lande äußerst zufrieden sein werden. Das ist das Wichtigste. ({2}) Das wird nicht einfach werden. Aber wie hat Philipp Rösler das so schön formuliert? Dann hätten auch Sie es machen können. ({3})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die nächste Rednerin ist Biggi Bender für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was ist eigentlich mit der CSU los? ({0}) Ist das wichtig? Ja, Herr Kollege Zöller, es ist wichtig, was mit der CSU los ist, wenn einem der Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens am Herzen liegt. ({1}) Der Kollege Straubinger hat vorhin vorgeführt, dass in der CSU etliche ein schlechtes Gedächtnis haben. Sie haben uns vorgehalten, den Steuerzuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung gekürzt zu haben. Es ist genau umgekehrt: Rot-Grün hat ihn aufwachsend eingeführt. Es war die erste Amtshandlung der Großen Koalition, Herr Straubinger, mit der dieser Steuerzuschuss auch mit Ihrer Stimme wieder heruntergesetzt wurde. ({2}) Genauso ist es mit dem Koalitionsvertrag. Da hat Herr Seehofer einen Vertrag unterschrieben, in dem die Rede von „einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen“ ist, also von Kopfpauschalen, ({3}) die man langfristig in das bestehende Ausgleichssystem überführen wolle. Herr Lanfermann, eigentlich sollten Sie sich mit der CSU direkt streiten. Jetzt weiß Herr Seehofer nichts mehr davon. Seehofer und Söder ziehen zu Felde und sagen: Die Kommission muss erst gar nicht arbeiten, die ist mit ihrer Arbeit ganz schnell fertig. ({4}) Daraufhin keilt der Landesgruppenvorsitzende zurück. Das wiederum garantiert dem Herrn Söder das nächste Interview. ({5}) Das alles hat einen hohen Unterhaltungswert. Man könnte geneigt sein zu sagen: Ist doch schön, wenn die CSU das Geschäft der Opposition gleich mit besorgt. Dann sind wir entlastet. ({6}) Ich fürchte nur, Herr Kollege Zöller, es ist eben nicht so. Dieser Widerstand ist inszeniert. ({7}) So wie zu jedem Komödienstadl eine ordentliche Wirtshausschlägerei gehört, so ist auch diese Auseinandersetzung nichts anderes als Theaterdonner. Schauen wir uns mal an, worin Sie sich einig sind. Sie sind sich doch völlig einig - das stellt überhaupt niemand infrage -, dass Sie den Arbeitgeberbeitrag einfrieren wollen. Jetzt gucken wir einmal auf die Kostensteigerungen der letzten Jahre in der gesetzlichen Krankenversicherung zurück. In den letzten 20 Jahren sind die Beiträge in der GKV um 2,5 Prozentpunkte gestiegen. Das würde für einen durchschnittlich verdienenden Menschen, der das in dieser Zeit alleine ohne den Arbeitgeberanteil tragen müsste, bedeuten, dass er heute 30 Euro mehr im Monat zahlen müsste. Für einen Menschen, der nahe an der Beitragsbemessungsgrenze verdient, wären das 45 Euro mehr im Monat. Sie glauben doch wohl nicht, dass in den nächsten Jahren angesichts der demografischen Entwicklung und des medizinischen Fortschritts die Gesundheitskosten nicht mehr ansteigen werden. Also bedeutet das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages, dass das die Versicherten teuer zu stehen kommt. Diese werden einseitig belastet. Dagegen haben die Bayern nicht das Geringste einzuwenden. ({8}) Hier geht es doch nur darum, dass sich die CSU als das inszeniert, was sie eigentlich ist, nämlich eine bayerische Regionalpartei mit bayerischen Sonderinteressen. Da geht es nämlich um das, was Herr Söder „regionale Differenzierungsmöglichkeiten“ nennt. Auf Deutsch: Es soll mehr Geld nach Bayern kommen, damit die CSU ihre teuren Wahlversprechen gegenüber der bayerischen Ärzteschaft finanzieren kann. ({9}) Das ist doch der Casus knacktus. Das ist gar keine gute Nachricht. ({10}) Spätestens seit der Kollege Kauder sich für die CDU an die Seite des Bundesgesundheitsministers gestellt hat, wissen wir doch, dass Sie im Grundsatz bereit sind, dieses Kopfpauschalenmodell einzuführen. ({11}) - Schließlich, Herr Kollege Spahn, steht das auch im Grundsatzprogramm der CDU aus dem Dezember 2007. Da heißt es, die einkommensabhängigen Beiträge sollen durch Prämienelemente ({12}) ergänzt werden und diese sind dann so bald wie möglich durch ein Prämienmodell zu ersetzen. ({13}) Es ist also folgendermaßen: Erstens sind CDU und FDP sich darin einig, die Kopfpauschale einzuführen. ({14}) Verhandeln werden sie über das Reformtempo; das ist ihre Intention. ({15}) Zweitens. Wer darauf hofft, dass die CSU die Kopfpauschale verhindert, wird bitter enttäuscht sein. Denn ihr geht es nur darum, die Klientel im eigenen Bundesland zu bedienen. Drittens. Wer die Kopfpauschale nicht will - und die Grünen wollen sie nicht -, ({16}) der darf hinsichtlich der Zusatzbeiträge nicht schweigen. Denn die Zusatzbeiträge sind der Türöffner für dieses Prämiensystem. ({17}) Es gibt doch zu denken, dass es bereits Forderungen aus der CDU gibt, die Belastungsgrenze von 1 Prozent bei den Zusatzbeiträgen an- oder gleich aufzuheben. Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass die SPD neuerdings auch gegen Zusatzbeiträge ist. Sie wird allerdings ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem haben, denn immerhin ist das entsprechende Gesetz von der Großen Koalition verabschiedet worden. Zusatzbeiträge sind für alle Versicherten eine Belastung, und zwar eine einseitige. Deswegen lehnen wir sie ab. Aber es gibt eine Gruppe von Menschen, für die diese Zusatzbeiträge nicht nur eine Belastung, sondern bereits heute eine soziale Bedrohung sind. Ich rede von den Hartz-IV-Empfängern. Sie müssen die Zusatzbeiträge aufgrund der Gesetzeslage nämlich aus eigener Tasche bezahlen. Gerade erst gab es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der der Politik ins Stammbuch geschrieben wurde, dass aus dem Grundsatz der Achtung der Menschenwürde ein Recht auf Existenzsicherung folgt und dass zwar ein monatlicher Festbetrag ausgewiesen werden kann, aber unabweisbare zusätzliche Bedarfe auch zusätzlich finanziert werden müssen. ({18}) Die einzige Alternative zur Zahlung eines Zusatzbeitrages ist für einen Menschen, der ALG II bezieht, Krankenkassenhopping, ({19}) und zwar so lange, bis es keine Kasse mehr gibt, die einen Zusatzbeitrag erhebt. Das war bisher in allen Antworten auf unsere parlamentarischen Initiativen die Empfehlung der letzten wie der jetzigen Regierung. Meine Damen und Herren, das darf doch wohl nicht wahr sein! ({20}) Wir wollen, dass der Zusatzbeitrag, solange es ihn gibt, genauso behandelt wird wie der Krankenkassenbeitrag selbst, der ja von den Jobcentern übernommen wird. Wir wollen ALG-II-Empfänger nicht zwingen, die Krankenkasse in einem Hase-und-Igel-Spiel ständig zu wechseln. Wenn man den Presseberichten der letzten Tage glauben darf, dann soll es jetzt eine Liste von Ausnahmen geben, in denen das Jobcenter den Zusatzbeitrag vielleicht doch übernimmt, zum Beispiel wenn jemand schon eine Zahnbehandlung beantragt hat oder dergleichen. ({21}) Es geht jedoch gerade nicht darum, dass Menschen, die von Hartz IV leben, Einzelverhandlungen mit dem Amt führen müssen, sondern es geht um eine generelle Regelung, nach der diese Zusatzbeiträge übernommen werden. ({22}) Da sollten Sie wirklich in sich gehen. Anders lässt sich das ohnehin nicht halten. Ich verspreche Ihnen für die Grünen, dass wir gegen die Zusatzbeiträge als Türöffner für das Prämiensystem ({23}) kämpfen werden. Bei uns ist das kein Theaterdonner, Herr Zöller! ({24})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Unionsfraktion spricht jetzt der Kollege Jens Spahn. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss noch einmal in Erinnerung rufen, worüber wir hier eigentlich debattieren. Es geht um einen Antrag insbesondere der SPD-Fraktion, der, Herr Kollege Oppermann, es nicht wert ist, dass der Minister dazu spricht, ({0}) denn die Substanz Ihres Antrags ist mehr als überschaubar. ({1}) Die eigentliche Aussage Ihres Antrages ist, dass Sie sich von elf Jahren Regierungspolitik verabschieden und mit der Arbeit der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt abrechnen, ({2}) als schämten Sie sich dessen, was wir auch zum Teil gemeinsam beschlossen haben. Sie fallen zurück auf den Stand von vor 1998, in den Populismus, den Sie in den 80er- und 90er-Jahren an den Tag gelegt haben. Das bringt Sie vielleicht näher zu den Linken; aber das bringt Sie nicht näher zur Regierungsbeteiligung in diesem Land, und das ist auch richtig so. ({3}) Sie wollen zurücknehmen, dass der Arbeitnehmer einen Beitrag von 0,9 Prozent allein tragen muss. ({4}) Das ist im Übrigen etwas, was unter der rot-grünen Bundesregierung in diesem Land eingeführt worden ist. Ich darf einmal zitieren, was Frau Ministerin Schmidt 2003 gesagt hat - ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich Ministerin Schmidt gleich mehrfach in einer Rede zitiere; aber es scheint nötig zu sein, um Sie an das zu erinnern, was auch Sie einmal für richtig gehalten haben -: „Ziel ist es, die Lohnnebenkosten zu senken. Die Alternative wäre gewesen, die Zuzahlungen weiter zu erhöhen. Wer die Lohnzusatzkosten senken will, um die Rahmenbedingungen für Wachstum und Arbeitsplätze zu verbessern, muss die paritätisch finanzierten Ausgaben verringern.“ Das sagte Ulla Schmidt 2003. Was gilt denn nun? Das, was die ehemalige Gesundheitsministerin gesagt hat, oder das, was Karl Lauterbach heute erzählt? Diese Frage müssen Sie uns einmal beantworten, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. ({5}) Ich möchte ein zweites Thema behandeln - es ist gerade schon angesprochen worden -: Sie wollen den Gesundheitsfonds wieder abschaffen. Wir haben gemeinsam für den Gesundheitsfonds gekämpft und ihn auch durchgesetzt. ({6}) - Natürlich. Lesen Sie einmal genau, was in Ihrem Antrag steht. - Wir haben gesagt: Das, was sich mit der Einführung des Gesundheitsfonds ändert, ist, dass sich die Einnahmen der Krankenkassen nicht mehr nach der Einkommensstruktur ihrer Versicherten richten, sondern nach der Risiko-, also der Krankheitsstruktur ihrer Versicherten. ({7}) Das haben wir gemeinsam mit der Einführung des Gesundheitsfonds beschlossen. Das stellen Sie jetzt wieder infrage. ({8}) Ich möchte gerne einmal hören, wie Sie das insbesondere den chronisch Kranken in diesem Land erklären wollen. ({9}) - Ich habe Ihren Antrag sehr genau gelesen, Frau Kollegin Ferner. Ich komme auf einen dritten Punkt zu sprechen - er ist ebenfalls schon angesprochen worden -: Sie wollen die Zusatzbeiträge wieder abschaffen, die wir - ich muss es noch einmal sagen; ich kann es gar nicht oft genug wiederholen - gemeinsam in der Großen Koalition beschlossen haben. ({10}) - Stellen Sie Ihr Lichtlein doch nicht so sehr unter den Scheffel, als wenn Sie in der Großen Koalition irgendetwas hätten machen müssen. Sie haben oft genug den Bockigen gespielt und Dinge nicht mitgemacht. ({11}) Da muss man die Frage stellen, warum Sie an dieser Stelle mitgemacht haben. Sie haben bei diesen Zusatzbeiträgen zugestimmt. Wenn man das tut, dann vertritt man das auch gemeinsam politisch nach außen. Das ist zumindest mein Verständnis von politischer Rechtschaffenheit an dieser Stelle. ({12}) Stichwort „Zusatzbeitrag von 8 Euro“. Schauen wir einmal, wie es früher war: Jemand mit einem Bruttoeinkommen von 1 000 Euro musste früher bis zu 32 Euro im Monat mehr als andere zahlen; denn es gab Krankenkassen mit einem Beitragssatz von 13,5 Prozent und andere mit einem Beitragssatz von 16,7 Prozent. Bei einem Bruttoeinkommen von 3 000 Euro konnte der Unterschied bis zu 96 Euro im Monat betragen. Es hat niemanden in diesem Land, im Übrigen auch nicht die Grünen, gestört, dass man bei der AOK Berlin im Monat viel mehr zahlen musste, als man bei anderen Kassen zahlen musste. Dennoch rufen Sie heute bei einem Unterschied von 8 Euro den Untergang des Abendlandes aus. In der politischen Debatte so vorzugehen, ist nicht besonders redlich. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Spahn, der Kollege Kuhn würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Spahn, ich möchte etwas zu Ihrer argumentativen Figur fragen. Es geht darum, dass Sie darauf verweisen, eine Fraktion habe früher etwas mitgetragen, was sie heute kritisiert. Wir zum Beispiel kritisieren, dass Arbeitnehmer für 0,9 Prozent des Krankenkassenbeitrags allein aufkommen müssen. Halten Sie es eigentlich für unmöglich, dass Fraktionen zu etwas, was sie früher in einer Koalition mitgetragen haben - in diesem Fall geht es um ein Vorgehen aus dem Jahr 2003, also um etwas, was sieben Jahre zurückliegt -, nach reiflicher Überlegung sagen: Das wollen wir nicht weiter mittragen, weil wir aus bestimmten Gründen eine andere Konzeption besser finden. Ich persönlich finde, dass Lernprozesse in der Politik das Einzige sind, was Politik wirklich erträglich macht. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden immer Politik nach dem Muster machen: Alles, was man mitgetragen hat, muss man ewig mittragen. Wir sagen zum Beispiel, dass dieser Beitrag von 0,9 Prozent nicht richtig ist, weil er ein Schritt in Richtung Auflösung der Parität ist. Dazu hatten wir eine lange Diskussion, und mittlerweile sind wir auf Grundlage eines breiter angelegten Gesundheitskonzepts zu einer anderen Auffassung gekommen. Wenn alle Reden hier mit Ihrer Technik gehalten werden, dann wird ein ziemlich simples Spiel gespielt, weil jeder bei jedem irgendetwas findet, was er früher anders gesehen hat. Sollte das unser Niveau sein, oder wollen wir doch mehr um die Sache ringen?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Kuhn, wenn es denn um einen Lernprozess im Sinne von positiver Erfahrung, die dann zu neuen Entscheidungen und gegebenenfalls zur Revidierung von Entscheidungen führte, ginge, dann könnte man Ihnen sicherlich zustimmen. Aber ich habe auch in Ihrem Beitrag keine Begründung gehört, warum die 0,9-Prozent-Regelung zurückgenommen werden sollte. Sie müssen sich doch damit auseinandersetzen, warum die Aussagen von Ulla Schmidt zum Schaffen und Sichern von Arbeitsplätzen, die ich vorhin zitiert habe, heute nicht mehr gelten sollen. Ich habe noch nicht einen Satz in dieser Debatte dazu gehört, warum die Begründung von damals heute nicht mehr gelten soll. ({0}) Bei den Forderungen der Kollegen von der SPD handelt es sich nicht um einen Lernprozess, sondern damit geben sie ihrer Sehnsucht nach der guten alten Oppositionszeit in den 80er-Jahren mit der entsprechenden Rhetorik Ausdruck. Es handelt sich um den Versuch, über populistische Politik vielleicht etwas mehr Prozentpunkte als bei der letzten Bundestagswahl zu erreichen. Das ist doch der einzige Grund für die Debatte, die wir an dieser Stelle führen. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Spahn, jetzt gäbe es eine Zwischenfrage von Herrn Lauterbach.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Prof. Dr. Karl Lauterbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003797, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Spahn, leuchtet Ihnen denn das Argument nicht ein, dass wir es deswegen, weil die Löhne verfallen - Sie tun ja nichts zur Einführung von Mindestlöhnen -, für falsch halten, ausgerechnet die Arbeitgeber von den steigenden Belastungen durch die Gesundheitskosten auszunehmen? Das ist doch eine Begründung. Die Situation ist doch anders als 2003, als es die Finanzkrise noch nicht gab ({0}) und die Löhne noch höher waren. Damals brauchten wir im Gegensatz zu heute, wo Sie das blockieren, keine Mindestlöhne. Das müssen Sie doch zumindest als Argument verstehen, auch wenn Sie es nicht nachvollziehen oder mittragen. ({1})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zum Ersten ist zu sagen: Dieses Argument hört man in dieser Debatte zum ersten Mal. In Ihrem Antrag findet es sich nicht. ({0}) Sie sollten vielleicht einmal ein wenig über die Inhalte Ihrer Anträge diskutieren. Zum Zweiten bleibe ich dabei - das ist unsere politische Auffassung -, dass das, was 2003 richtig war, ({1}) gerade jetzt in Zeiten der Krise richtig ist, nämlich die Begrenzung von Lohnnebenkosten. Wenn diese die Arbeit in Deutschland noch teurer machen, befördert das im Zweifel die Flucht in die Schwarzarbeit. Somit ist dieses Vorgehen in der Krise noch viel richtiger, als es 2003 war. Auch um diese Frage geht es an dieser Stelle. ({2}) Wir haben zudem im Zusammenhang mit den Zusatzbeiträgen immer gesagt - auch hier möchte ich noch einmal ein Zitat bringen -: Deshalb können sich die Versicherten entscheiden, ob ihnen ihre Kasse einen Zusatzbeitrag wert ist oder ob sie in eine andere Kasse wechseln, in der sie keinen Zusatzbeitrag zahlen müssen. So funktioniert das. Ich glaube, das ist notwendig, damit von den Versicherten Druck auf die Kassen ausgeübt wird, vernünftig mit den Geldern umzugehen. Zitat von Ulla Schmidt in diesem schönen Hause bei der Debatte um die Einführung von Zusatzbeiträgen! Auch mit diesem Argument müssen Sie sich inhaltlich auseinandersetzen, statt die Uhr einfach nur zurückzudrehen. Jetzt gibt es nämlich eine bessere Preistransparenz für die Versicherten. Die Versicherten müssen nicht mehr wie ehedem per Dreisatz mühsam errechnen, welche unterschiedlichen Kostenstrukturen sich in den Beitragssätzen der Krankenkassen verstecken, was man dann im Zweifel in der Lohnabrechnung gar nicht immer ganz nachvollziehen konnte. Das war alles sehr unübersichtlich. Heute gibt es dadurch, dass ein fester Eurobetrag erhoben wird, ein ganz anderes Preissignal. Ich als Versicherter kann ganz individuell entscheiden, ob mir meine Krankenkasse diesen Zusatzbeitrag wert ist oder nicht. Auch das war damals unsere gemeinsame Begründung dafür, die Möglichkeit zur Erhebung von Zusatzbeiträgen einzuführen. Ich halte sie inhaltlich nach wie vor für vollkommen richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Wir haben im Übrigen gesagt, dass es uns nicht um eine Kopfpauschale geht, wie die Kollegin Flach schon deutlich gemacht hat, auch wenn Sie diesen Kampfbegriff immer weiter munter verwenden. ({4}) Darum geht es uns nicht. ({5}) Uns geht es um die Weiterentwicklung des heutigen Systems, und zwar nicht um einen Totalumbau, sondern um einen schrittweisen Umbau: Evolution statt Revolution. ({6}) Sie haben recht: Wir haben gesagt, die 1-Prozent-Regel, wie sie heute gilt, funktioniert nicht. Warum funktioniert sie nicht? Weil heute, wenn der Versicherte mehr als 1 Prozent seines Einkommens als Zusatzbeitrag zahlen müsste, die Zahlung einfach gekappt wird, die Kasse aber die Differenz zwischen dem Betrag, der eigentlich gezahlt werden müsste, und dem auf 1 Prozent des EinJens Spahn kommens begrenzten Betrag nicht bekommt. Diese Differenz fehlt der Kasse einfach. Es findet kein Ausgleich statt. Genau dieses Problem wollen wir über einen sozialen Ausgleich aus Steuermitteln lösen. Diesen würden im Übrigen all die, die nicht in der GKV versichert sind, mitfinanzieren, und auch all diejenigen, deren Beitrag aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze gekappt ist, würden dieses anteilig mitfinanzieren. Deswegen sagen wir, es ist gerechter, die Zusatzbeiträge weiterzuentwickeln und noch mehr Elemente einkommensunabhängiger Prämien in der gesetzlichen Krankenversicherung einzuführen, aber, und das sagt jeder in dieser Koalition, Schritt für Schritt. Deswegen sollten Sie alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, egal wo Sie in Deutschland ansässig sind, damit aufhören, etwas anderes zu behaupten. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Spahn, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Bender?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Spahn, ich habe Sie so verstanden, dass Sie an den Zusatzbeiträgen festhalten, aber die 1-prozentige Überforderungsklausel abschaffen und stattdessen einen Sozialausgleich einführen wollen. Bedeutet das dann, dass in Zukunft jeder, der den Bescheid von der Krankenkasse bekommt, dass ein Zusatzbeitrag erhoben wird, anschließend zum Amt gehen und dort einen Sozialausgleich beantragen soll, und halten Sie das für ein bürokratiearmes Verfahren?

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Bender, hätten Sie mir die Chance gegeben, meine Rede fortzusetzen, wäre ich auf diesen Punkt zu sprechen gekommen. Wir wissen natürlich um die Herausforderungen, die sich aus dem, wie ich finde, wunderbaren theoretischen Konzept in der praktischen Umsetzung noch ergeben. Da ist zum einen die Frage der Haushaltsmittel: Wie viele Euro stehen tatsächlich zur Verfügung, um diesen sozialen Ausgleich herzustellen? Die Antwort darauf wird unter anderem die Größe der Schritte bemessen müssen. Zum anderen sprechen Sie die noch grundsätzlicher zu lösende Frage an, wie wir den sozialen Ausgleich so organisieren, dass es nicht zu millionenfachen zusätzlichen Einkommensprüfungen für die Betroffenen kommt. Genau damit wird sich die Regierungskommission in den nächsten Wochen und Monaten in aller Ruhe beschäftigen. ({0}) Wie wäre es denn, wenn wir die erst einmal arbeiten lassen und wir hier dann alle gemeinsam über die Ergebnisse der Regierungskommission debattieren ({1}) und wenn wir nicht jede Woche mit irgendwelchen Showanträgen die gleichen Debatten führen? ({2}) Im Übrigen will ich darauf hinweisen, welches Ziel hinter unserem Konzept steckt. Es ist kein Fetisch irgendeiner Fraktion oder irgendeiner Partei, ({3}) über einkommensunabhängige Prämien zu reden. Dahinter steckt ja auch eine Idee, nämlich die, dass wir die Entwicklung der steigenden Gesundheitskosten - dazu wird es in einer älter werdenden Gesellschaft und aufgrund des medizinisch-technischen Fortschritts automatisch kommen; bei der Steigerung der Arzneimittelausgaben geht es ja nicht um Hustensaft, sondern in aller Regel um Krebsmedikation und andere Medikamente, die mit hohen Innovationskosten verbunden sind - nicht immer eins zu eins zulasten der Arbeitskosten in Deutschland ausgleichen und dadurch Arbeit in Deutschland teurer machen. Die eigentliche Frage, um die es geht, ist, wie einerseits die Dynamik, nämlich steigende Ausgaben, möglich gemacht wird, ohne andererseits gleichzeitig die Arbeitskosten in Deutschland zu belasten. Ich finde, es ist es inhaltlich und jenseits von Überschriften wert, darum zu ringen, was die richtige Lösung sein kann. An diese Arbeit sollten wir uns alle gemeinsam machen. ({4}) Im Übrigen reicht es nicht, einfach zu sagen: Wir wollen zurück und all das abschaffen, was wir gemeinsam - in welcher Konstellation auch immer - irgendwann einmal beschlossen haben. ({5}) Sie müssen vielmehr eine Frage beantworten: Am 1. Januar 2011 werden wir wahrscheinlich ein Defizit von 11 Milliarden Euro in der gesetzlichen Krankenversicherung haben, Tendenz steigend. ({6}) 2020 wird es 15 Prozent mehr Rentner in Deutschland und 20 Prozent weniger Beitragszahler geben. ({7}) Die demografische Entwicklung wird dazu führen, dass der Beitragssatz, wenn wir nichts tun, in Richtung 20 bzw. 25 Prozent geht. Derjenige, der nichts tut und alles zurückdrehen will, muss zumindest die Frage beantworten, wie er mit diesen Herausforderungen klarkommen will. Der Kollege Lauterbach - Frau Kollegin Flach hat schon darauf hingewiesen - hat im Dezember letzten Jahres, glaube ich, angekündigt, die SPD werde das durchgerechnete Konzept zur Bürgerversicherung, auf das wir seit Jahren warten, ({8}) bald präsentieren. Wir hatten eigentlich gehofft, dass es Bestandteil der heutigen Debatte wird; denn Sie werden ein paar Fragen beantworten müssen: Wo soll denn dann die Beitragsbemessungsgrenze liegen? ({9}) Sollen Zinsen, Kapitaleinkünfte, Mieten berücksichtigt werden und, wenn ja, wie? Sie werden vor allem den Facharbeitern und den Angestellten in diesem Land erklären müssen, warum es wieder sie sind, die alles bezahlen sollen, und warum die Kosten allein auf deren Schultern abgeladen werden und warum nicht, etwa über das Steuersystem, insbesondere die ganz starken Schultern in diesem Land, ({10}) deren Einkommen über der Beitragsbemessungsgrenze und der Versicherungspflichtgrenze liegt, mit einbezogen werden. ({11}) Sie wissen ganz genau, warum Sie hier keine Zahlen vorlegen. Dann würden die Menschen nämlich merken, was Sie eigentlich vorhaben und dass es für viele in diesem Land teurer wird. ({12}) So bleibt es am Ende dabei: Sie präsentieren auch heute keine konkreten Zahlen. Sie bleiben bei Überschriften. Es ist eine Showveranstaltung, wie wir sie schon in den letzten Sitzungswochen - diese Debatte erfolgt ja inzwischen wöchentlich - erlebt haben. ({13}) Es wurde bereits angekündigt, auch in den nächsten Sitzungswochen ähnliche Debatten führen zu wollen. Mit jeder Woche heißer Luft ({14}) helfen wir den Menschen in diesem Land nicht weiter. Wir wollen in der Regierungskommission gemeinsam an der Umsetzung der gerade beschriebenen Ziele arbeiten. Ob Sie es glauben oder nicht: Wir jedenfalls gehen weiterhin frohen Mutes an die Arbeit. Danke schön. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Edgar Franke für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Edgar Franke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004033, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesminister Rösler, als Person sind Sie nicht nur im Ausschuss, sondern auch hier im Bundestag sehr sympathisch aufgetreten. ({0}) Aber Ihre Politik, Herr Minister, ist alles andere als sympathisch. Ihre Politik geht in die völlig falsche Richtung, weil sie nur eine Klientel bedient, nämlich Ihre Wähler. ({1}) Dem Antrag, den die SPD heute vorlegt, könnten Sie eigentlich - wenn ich Frau Flach richtig verstanden habe - zumindest in Teilen zustimmen; denn ob man es Kopfpauschale - das ist, glaube ich, kein Kampfbegriff ({2}) oder Gesundheitsprämie nennt: ({3}) Kopfpauschalen bzw. Gesundheitsprämien haben immer einen Sozialausgleich. Aber der Zusatzbeitrag von 8 Euro hat diesen Sozialausgleich nicht. Insofern ist es nur konsequent, diesen Zusatzbeitrag abzuschaffen. Aber das werden Sie nicht machen, Herr Rösler. Sie versuchen vielmehr, die Kosten der Arbeitgeber zu minimieren. Sie versuchen, die private Versicherungswirtschaft zu begünstigen. Sie wollen vor allen Dingen die Besserverdienenden finanziell entlasten. Dafür haben wir aber kein Geld. Am Dienstag habe ich mit Herrn Rürup, der als Erfinder der Kopfpauschale gilt, diskutiert. Er hat mir gesagt: Man kann nicht die Gesundheitsprämie einführen und gleichzeitig die Steuern senken. Das Konzept wird nicht aufgehen. ({4}) Herr Rösler, Ihre Politik führt in eine Dreiklassenmedizin. Es wird die Holzklasse für Arme geben. Eine gute Versorgung wird es nur für diejenigen geben, die sich einen privaten Aufschlag finanziell leisten können. Für Reiche wird es eine Luxusklasse geben. Das kann keine Politik für die Mehrheit der Menschen sein. ({5}) Wir haben - Herr Spahn hat es angedeutet - durch medizinischen Fortschritt und durch eine älter werdende Gesellschaft steigende Kosten. Diese Kosten müssen wir gerecht verteilen. Herr Spahn, es ist richtig, dass 2006 die Zusatzbeiträge eingeführt worden sind. Die Zusatzbeiträge sind aber nur auf Druck von CDU/CSU eingeführt worden; das muss man klar sehen. ({6}) Sie haben damals gesagt: Den Gesundheitsfonds gibt es nur, wenn Zusatzbeiträge eingeführt werden. Das ist die Wahrheit. ({7}) Sie brauchen sich also nicht darüber aufzuregen. Zu dem, was wir eben diskutiert haben und wozu Herr Kuhn auch noch einmal nachgefragt hat: Wir haben vor der Finanz- und Wirtschaftskrise beschlossen, einen Sonderbeitrag in Höhe von 0,9 Prozent des Einkommens zu erheben. Momentan befinden wir uns wirtschaftlich in einer ganz anderen Situation. Wenn sich die SPD dafür ausspricht, zur paritätisch finanzierten Krankenversicherung zurückzukehren, weil wirtschaftlich gesehen andere Bedingungen herrschen, dann muss man das zur Kenntnis nehmen. Wir brauchen keine Kopfpauschale. Vielmehr brauchen wir eine solidarische Politik und eine solidarische Krankenversicherung. Eine solidarische Krankenversicherung ist das, was die Bevölkerung will. Es gibt eine aktuelle Umfrage von Infratest. Darin steht, dass über 70 Prozent der Befragten an einer solidarischen Krankenversicherung festhalten. Über 70 Prozent sagen: Wir brauchen eine paritätisch finanzierte Krankenversicherung. ({8}) Das ist eine ganze Menge. Das sind auch Wähler. In Nordrhein-Westfalen werden Sie sehen, dass sie Wahlen entscheiden können. ({9}) Wir brauchen eine funktionierende Krankenversicherung. Wir brauchen eine moderne Krankenversicherung. Eine moderne Krankenversicherung ist die Bürgerversicherung. Helmut Schmidt hat gesagt: Ein Sozialstaat ist eine Kulturleistung. - Solidarität gehört zum Sozialstaat dazu. Wenn sich gerade die Gutverdienenden dem Solidaritätsgedanken entziehen können, dann ist das nicht richtig. Welche Situation haben wir momentan in der Krankenversicherung? Momentan ist es so, dass die wirtschaftlich Leistungsstärksten und die im Durchschnitt Gesündesten privat versichert sind und sich somit dem Solidarprinzip entziehen. ({10}) Die Bürgerversicherung hat zwei Vorteile. Erstens. Die Einnahmebasis wird verbreitert, weil auch die Gutverdienenden in diese Versicherung einzahlen. Dadurch haben wir mehr Geld im System. Zweitens haben wir mehr Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, weil alle Krankenkassen unter gleichen Bedingungen miteinander konkurrieren. Es kann ja nicht sein, dass die eine Krankenkasse die chronisch Kranken und die Schlechtverdienenden hat, während eine andere Krankenkasse die Gutverdienenden hat und deswegen ganz andere Tarife anbieten kann. Das ist kein gerechter Wettbewerb. Deswegen brauchen wir echten Wettbewerb. Sie von der FDP sind doch immer für Wettbewerb. Insofern müssten auch Sie, Herr Rösler, eigentlich für die Bürgerversicherung sein. ({11}) Dann hätte man ein System, das sozial gerecht wäre; dann hätte man ein System, das die Wettbewerbsfähigkeit steigern würde; dann hätte man ein System, das die Einnahmesituation der Krankenkassen stabilisieren würde. Die Probleme bei der Finanzierung eines modernen Krankenversicherungssystems können nicht mit Zusatzbeiträgen, Kopfpauschalen oder Gesundheitsprämien, wie Sie das bezeichnet haben, gelöst werden. Es gibt nur eine Lösung für die dringenden Probleme. Diese Lösung heißt: Bürgerversicherung. Ich danke Ihnen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Franke, das war Ihre erste Rede hier im Deutschen Bundestag. Dazu gratulieren wir Ihnen recht herzlich und wünschen alles Gute für Ihre Arbeit. ({0}) Jetzt hat der Kollege Heinz Lanfermann für die FDPFraktion das Wort. ({1})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Lauterbach hat aus guten Gründen kaum über den eigenen Antrag gesprochen. Das ist schon allein deshalb verständlich, weil er sich zu der Behauptung verstiegen hat, die Opposition müsse jetzt schon die Arbeit der Regierung mitmachen. Tatsächlich ist es umgekehrt. In dem Antrag steht lapidar in einem Satz, man solle bitte einsehen, dass eine Bürgerversicherung das Richtige sei. Es wird aber überhaupt nicht erklärt, was darunter zu verstehen ist. ({0}) Ganz zum Schluss heißt es dann: „… fordert die Bundesregierung … auf, bis Ende 2010 ein Konzept zur Einführung einer … Bürgerversicherung vorzulegen.“ Also soll doch wohl eher die Regierung die Arbeit der SPD machen. Herr Kollege Lauterbach, ich gebe zu, dass Ihre Fraktion sehr geschrumpft ist, aber trotzdem muss man in der Opposition selber arbeiten - als Sprecher werden Sie das noch merken -, wenn man hier Konzepte vorlegen will. ({1}) Sie haben versprochen, hier ein durchgerechnetes Modell vorzulegen. Das sollte die Mutter aller Anträge werden, was die Gesundheitspolitik angeht. In Wirklichkeit haben Sie hier heute ein äußerst dürftiges, schmales Papier vorgelegt, aus dem nur hervorgeht, dass Sie sehr vergesslich sind. Den Namen „Ulla Schmidt“ erwähnen Sie schon gar nicht mehr. Dann haben Sie gesagt, die Pharmaindustrie sei völlig unnachgiebig gewesen, mit ihr sei überhaupt nicht zu reden gewesen, elf Jahre lang hätten Sie das sozusagen ertragen. Aber gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Antrag - es ist bemerkenswert, dass gleich der erste Satz mit einer Unwahrheit beginnt -: Seit seinem Amtsantritt … hat der Bundesgesundheitsminister … keinerlei Initiativen ergriffen, … Effizienzreserven … zu nutzen und insbesondere die überproportional steigenden Arzneimittelausgaben zu begrenzen. ({2}) Zur Lektüre habe ich Ihnen Überschriften aus der Presse der letzten Wochen mitgebracht, ({3}) aus denen hervorgeht, was der Minister gefordert hat und mit wem er gesprochen hat. Das waren die Krankenkassenvertreter. Das waren die Pharmaverbände. Wenn Ihnen die eine Überschrift „Pharmakonzerne lenken ein“ aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nicht gefällt, haben Sie vielleicht mehr Spaß an der Süddeutschen Zeitung: „Pharmalobby bietet Hilfe an“. ({4}) Lassen Sie sich vom Minister doch einmal informieren. Er ist in den Gesprächen mit der Pharmaindustrie nach drei Monaten weiter als Frau Schmidt nach neun Jahren. Das ist die Wahrheit. ({5}) Meine Damen und Herren, um mit diesem Hirngespinst gleich aufzuräumen: Es gibt keine Kopfpauschale. Niemand will eine Kopfpauschale. ({6}) Das ist ein unsinniger Begriff. Der Kollege Weinberg hat uns dankenswerterweise ein paar historische Beispiele genannt. Das, was man irgendwann einmal als sogenannte Kopfsteuer - darum ging es - in England gewollt hat, war, dass jeder Bürger unabhängig von seinen wirtschaftlichen Verhältnissen genau den gleichen Betrag an den Staat abführen muss. Indem Sie diesen Begriff verwenden, versuchen Sie, die einkommensunabhängige Prämie zu diskreditieren. ({7}) Diese Prämie ist nicht eine Prämie, ({8}) sondern ein System, in dem ein Teil des Arbeitnehmerbeitrages in einem ersten Schritt in eine einkommensunabhängige Prämie überführt wird, die jede einzelne Krankenkasse kalkulieren und festsetzen kann. Abhängig von ihren Bedingungen, von dem, was sie in Verträgen erwirtschaftet, je nachdem, wie wirtschaftlich und unbürokratisch sie arbeitet usw., setzt jede Krankenkasse einen anderen Betrag fest. Das ist das Erste, das zeigt, dass nicht alle den gleichen Betrag zahlen. Zweitens behaupten Sie - das sind Halbwahrheiten, mit denen Sie die Öffentlichkeit täuschen, insbesondere jetzt bei Ihrer Kampagne, bei der Sie Unterschriften gegen den Weltuntergang sammeln -, jeder zahle den gleichen Betrag, ({9}) und verschweigen, dass ein Großteil am Ende - darauf kommt es doch wohl an ({10}) einen Sozialausgleich bekommt. Dieser Sozialausgleich macht es für den Einzelnen - auch die Sekretärin und die Verkäuferin, die Sie immer wieder anführen - billiger als für den von Ihnen zitierten Manager, ({11}) der diesen Teilbeitrag zahlt und nichts erstattet bekommt. Auch wenn Sie diese einfache Subtraktion nicht hinbekommen, sollten Sie zumindest nicht die Öffentlichkeit darüber täuschen. ({12}) Deswegen sage ich Ihnen noch einmal: Der Begriff „Kopfpauschale“ ist ein Hirngespinst und dient nur der Täuschung der Öffentlichkeit. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Hendricks würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lanfermann, wollen Sie mit mir vielleicht einmal die Anzahl der Worte zählen, die Sie gerade gebraucht haben, um zu begründen, dass die Kopfpauschale keine Kopfpauschale sei?

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich empfehle Ihnen, das Protokoll zu lesen. Dann haben Sie es ganz genau, sogar per Wortzählung am Computer; das macht es einfacher. Ich könnte es einfacher erklären, aber da Sie es immer so kompliziert darstellen, ({0}) wollte ich den Kollegen die Möglichkeit geben, alle Aspekte kennenzulernen. Ich hoffe, das ist mir gelungen, und wir werden unsachliche Argumente wie das, alle müssten den gleichen Betrag zahlen, in Zukunft nicht mehr hören. Ich lade Sie jedenfalls ein, einmal über die Sache selbst zu diskutieren und eigene Modelle vorzulegen. ({1}) Im Übrigen haben Sie auch nicht gemerkt, dass es eine seltsame Argumentation ist, wenn Sie hier gegen Ihre eigene frühere Politik gerichtet kritisieren, die Beiträge seien nicht paritätisch. Soweit wir wissen, soll bei Ihrer Bürgerversicherung die Bemessungsgrundlage verbreitert werden, nicht nur bezüglich der Personen, sondern auch bezüglich der Einkommen. Die Zinsen aus Bausparverträgen, das, was die Oma für die Enkel anlegt, die Mieteinnahmen und anderes werden dazugerechnet. ({2}) Sie sagen, dadurch sinke der Beitrag, das sei ganz toll. Ja, dann sinkt aber auch der Arbeitgeberbeitrag, und dann entlasten Sie die Arbeitgeber. Vielleicht möchten Sie einmal mit denen darüber diskutieren; die freuen sich darüber. ({3}) Wir laden Sie zu einer fairen und sachlichen Diskussion ein. Eines muss klar sein: Die Zusatzbeiträge, die Sie eingeführt haben und die, weil sie keinen Sozialausgleich haben, ({4}) unsozialer sind als das, was wir vorhaben, dürfen Sie nicht mit einer einkommensunabhängigen Prämie verwechseln. Um es mit einem Satz zu erläutern: Die einkommensunabhängige Prämie ersetzt zu einem Teil den jetzigen Arbeitnehmerbeitrag, der prozentual vom Lohn erhoben wird, während dagegen der Zusatzbeitrag, wie der Name unschlagbar klar sagt, zusätzlich zu dem vollen einkommensabhängigen prozentualen Beitrag erhoben wird. Ich hoffe, dass zumindest dieser eine Satz bei Ihnen auf Verständnis getroffen ist. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

An der Reihe ist jetzt der Kollege Lothar Riebsamen für die CDU/CSU-Fraktion.

Lothar Riebsamen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004135, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die vorliegenden Anträge eindampft, dann bleibt übrig: Hartz IV erhöhen, ({0}) Schuld für die Finanzierungslücke der GKV bei der Regierung suchen ({1}) und Sündenbock suchen für die Probleme der paritätischen Finanzierung, die es schon seit vielen Jahren gibt. Aber eigentlich geht es im Wesentlichen darum, in den nächsten Wochen und Monaten, solange die Regierungskommission tagt, destruktive, schrille Begleitmusik zu machen. Das wird nicht funktionieren, und das wird auch die Regierungskommission nicht beeindrucken. ({2}) Zu der Frage: Wer hat die paritätische Finanzierung aufgegeben? Dazu wurde schon einiges gesagt. Während der rot-grünen Regierung im Jahr 2003 wurden die Lasten um 0,9 Prozent einseitig verschoben, ({3}) es wurde die Praxisgebühr eingeführt und anderes mehr, und während der Großen Koalition wurde der Arbeitgeberbeitrag bei 7 Prozent eingefroren - alles unter einer SPD-Ministerin. Die CDU/CSU hat dem zugestimmt, weil diese Maßnahmen im Kern richtig waren und sind. Wir halten Kurs. Sie aber distanzieren sich von Ihren eigenen Entscheidungen, die Sie selbst einmal als notwendig erachtet haben, ausgerechnet in der jetzigen Krise, in der es mehr denn je darum geht, Arbeitsplätze zu sichern und international wettbewerbsfähig zu bleiben. ({4}) Was die Finanzsituation der GKV betrifft, kann man vieles behaupten; es gibt in der Tat sehr viele Baustellen. Aber zu behaupten, die Finanzierungslücke sei von der Regierung verursacht, das ist schlicht absurd. Ursache der Finanzierungslücke ist die Kostenentwicklung. ({5}) Die Kosten steigen viel stärker als die Lohnsumme. Dieses Delta schließen wir mit 11,8 Milliarden Euro; das ist so viel wie noch nie. Wir verursachen keine Lücken, sondern wir schließen sie, und das mit großen Anstrengungen. Fakt ist, dass die Beiträge im Jahr 2003 noch ausgereicht haben, um die GKV zu finanzieren. 2004 wurden zu Recht die versicherungsfremden Leistungen übernommen. 2008 waren wir bei 2,5 Milliarden Euro, 2009 bei 7,2 Milliarden Euro, und nun sind wir bei 11,8 Milliarden Euro. Sie haben offensichtlich vergessen, wer diese Steigerungen mit zu verantworten hat. Das waren nämlich unsere gemeinsamen Entscheidungen. Ich erinnere daran: Die Krankenhäuser - Stichwort „Pflegedienste“ - haben 3 Milliarden Euro mehr bekommen, und der ambulante Bereich, also die niedergelassenen Ärzte, in etwa die gleiche Summe. Eines ist klar: Es kann so nicht weitergehen. ({6}) Aber anstatt den Menschen die Wahrheit, die sie ohnehin schon kennen, zu sagen, streuen Sie ihnen weiter Sand in die Augen. Das ist falsch. ({7}) Im Antrag der Grünen werden die Zusatzbeiträge als unsozial bezeichnet. Der Zusatzbeitrag von 8 Euro wäre doppelt so hoch - er würde 16 Euro betragen -, hätten wir nicht über die 11,8 Milliarden Euro hinaus einen Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bzw. für die Geringverdiener in Höhe von 3,9 Milliarden Euro gespannt, ({8}) um die krisenbedingten Ausfälle auszugleichen. ({9}) Ich sage Ihnen, was unsozial ist: Mit knappen Ressourcen unwirtschaftlich umzugehen, das ist unsozial. ({10}) Das Gesundheitswesen unseres Landes, das nach wie vor eines der besten der Welt ist, durch ein stures Weiterso! an die Wand zu fahren, das wäre unsozial. So weit lassen wir es nicht kommen, meine Damen und Herren. ({11}) Wir brauchen in diesem System in der Tat mehr Transparenz und mehr Wettbewerb; die Zusatzbeiträge machen dies deutlich. Die ALG-II-Empfänger sind in der gleichen Situation wie alle anderen. Sie können und müssen die Kasse wechseln, und in Härtefällen wird der Zusatzbeitrag vom Staat übernommen. Ausgehend von einem Monatseinkommen in Höhe von 800 Euro sind 8 Euro 1 Prozent. Das liegt im Rahmen der üblichen Preissteigerungen. Wer fragt denn, gerade in diesen Tagen, da die Benzinkosten steigen, danach, wie viel die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund der Steigerung der Energiekosten bzw. der Fahrtkosten mehr ausgeben müssen, wenn sie 20, 30 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz fahren? Es wäre gegenüber denen, die keine Sozialleistungen bekommen, nicht gerecht, wenn wir diese 8 Euro übernehmen würden. Aber das interessiert Sie nicht. Die christlich-liberale Koalition wird einen Vorschlag machen. Die Regierungskommission unter der Leitung von Minister Rösler wird dafür sorgen, dass mit den Beiträgen zukünftig effizient umgegangen wird und dass sie bezahlbar bleiben. Es wird dem medizinischen und dem demografischen Fortschritt Rechnung getragen. Das ist unser Ziel. Dieses Ziel werden wir auch erreichen, mit oder ohne Begleitmusik. Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Riebsamen, das war Ihre erste Rede heute hier im Deutschen Bundestag. Alles Gute für Sie und auf gute Zusammenarbeit! ({0}) Jetzt hat Elke Ferner das Wort für die SPD-Fraktion. ({1})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Das, was eben teilweise geboten worden ist, insbesondere an Rechenkünsten, kann man wirklich nur als Milchbubenrechnung bezeichnen. Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. ({0}) Der Kollege eben sagte, wir hätten 11,8 Milliarden Euro zusätzlich im System; zusätzlich kämen 3,9 Milliarden Euro hinzu. Von den 11,8 Milliarden Euro sind aber 6,2 Milliarden Euro gar nicht zusätzlich im System. Vielmehr ersetzen sie Beiträge in Höhe von 0,6 Beitragssatzpunkten, um die abgesenkt worden ist. Insofern sollte man nicht nur die Höhe, die Quantität, sondern auch die Qualität heranziehen. Der zweite Punkt: Die Kopfpauschale bleibt eine Kopfpauschale. Der Ausdruck mag Ihnen nicht gefallen, aber es verhält sich so. ({1}) Wenn Sie den gleichen Beitrag pro Versichertem nehmen, dann heißt das, der Chef zahlt zumindest für den einen Teil so viel wie seine Sekretärin. ({2}) Dann bedeutet das, dass die Sekretärin, weil sie gerade so über der Grenze für den Sozialausgleich liegt, aber keine Steuern zahlt, den gleichen Betrag zahlt, während ihr Chef nicht nur weniger Krankenkassenbeitrag zahlt als vorher, sondern auch noch, wenn Sie die Steuern reduzieren, weniger Steuern zahlt und zusätzlich durch die steuerliche Absetzbarkeit des Beitrages stärker entlastet wird, weil er einen höheren Grenzsteuersatz als seine Sekretärin hat. ({3}) Wer jetzt behauptet, dies sei gerechter, der kann entweder nicht rechnen oder ({4}) hat ein höchst merkwürdiges Verständnis von Gerechtigkeit. ({5}) - Natürlich, Herr Lanfermann. Dafür müssen Sie aber zusätzlich mehr Steuermittel in die Hand nehmen, um einen sogenannten Sozialausgleich überhaupt finanzieren zu können. Wir reden immerhin über die Kleinigkeit von fast 10 Milliarden Euro, wie man so hört. Da muss man auch sagen, woher das Geld kommen soll. ({6}) Wenn Sie jetzt beabsichtigen, eine zusätzliche Steuer einzuführen, um das zu finanzieren, dann sagen Sie das doch. ({7}) Sie aber setzen eine Kommission ein, die keine ist. Für das, was früher eine Ministerin gemacht hat, muss jetzt gleich ein halbes Kabinett herhalten. Weiter wird versucht, das, was wirklich Sache ist, das, was die Leute erwartet, wenn Sie Ihr Kopfpauschalenkonzept umsetzen, bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai zu verschweigen. Das ist keine verantwortliche Politik, sondern Wegducken vor den Problemen. ({8}) Ich sage Ihnen eines, Herr Rösler: Sie sind hier nicht Chefarzt in der Schwarzwaldklinik, sondern Sie sind Bundesgesundheitsminister. ({9}) Der dritte Punkt betrifft das Thema Zusatzbeiträge. Die Zusatzbeiträge sind nach dem Gesetz möglich. Aber wenn man nicht bereit ist, bei den Ausgaben schnell zu handeln, ({10}) und gleichzeitig nicht dafür sorgt, dass die Einnahmen die Ausgaben zu 100 Prozent decken, dann sind die Zusatzbeiträge zwangsläufig. Derjenige, der jetzt handeln könnte - das ist der Bundesgesundheitsminister -, hat in den viereinhalb Monaten seiner Amtszeit nichts, aber auch überhaupt nichts dazu getan, die Ausgaben zu begrenzen. ({11}) Wer sich auch nur ein kleines bisschen im System auskennt, weiß, dass Ausgabenbegrenzungen bei den Arzneimitteln nicht mit dem Umlegen eines Schalters zu erreichen sind, sondern dass es Monate, teilweise Jahre dauert, bis ergriffene Maßnahmen sich tatsächlich in geringeren Kosten ausdrücken. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ferner, Herr Lanfermann würde gern Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage bereichern.

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Ferner, nachdem Sie gerade hier die Vermutung geäußert hatten, den Bürgern werde irgendetwas vor der Landtagswahl nicht bekannt, darf ich Sie fragen: Sind Sie denn bereit, nachdem Sie hier diesen Antrag vorgelegt haben, in dem nur der eine Satz steht, Sie wollten eine solidarische Bürgerversicherung, uns einmal rechtzeitig vor der Wahl am 9. Mai in NordrheinWestfalen im Einzelnen zu erklären, wie die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage aussehen soll? Welche Elemente außer dem Prozentsatz vom Lohn der Arbeitnehmer sollen, um diese Bürgerversicherung zu finanzieren, von allen Bürgern erhoben werden? Was ist insbesondere mit Einkommen aus Zinsen oder Mieten?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Lanfermann, da Sie nicht erst seit gestern im Gesundheitswesen unterwegs sind, dürfte Ihnen das Konzept der SPD zur Bürgerversicherung bekannt sein. ({0}) Es gibt dazu eine Veröffentlichung des SPD-Parteivorstandes, und zwar aus dem Jahr 2005, wenn ich mich richtig erinnere. ({1}) - Mit Zahlen, werter Herr Spahn. ({2}) - Wir reden jetzt über das Jahr 2005. Erstens soll für sonstige Einkünfte zunächst einmal ein Freibetrag gelten, nämlich unten. Der Sparerfreibetrag, der damals gegolten hat, war schon recht hoch. Bei den jetzigen Zinssätzen muss man schon ordentlich Vermögen haben, um Zinsen zu generieren, mit denen man über die Freibeträge kommt, sprich: dass man überhaupt etwas zahlen muss. Wenn Sie sich richtig erinnern - ich weiß nicht, ob Sie das können, Herr Lanfermann -, werden Sie mir recht geben, dass das Thema Mieteinkünfte in unserem Konzept keine Rolle gespielt hat. ({3}) Das Thema Mieteinnahmen hat in der Diskussion eine Rolle gespielt, im endgültigen Konzept und in dem Beschluss dazu aber nicht mehr. ({4}) Jetzt wollen wir einmal sehen, was es bedeutet, wenn Sie Ihr Konzept durchsetzen. ({5}) Ihr Konzept heißt: Der Arbeitgeberbeitrag wird dauerhaft festgeschrieben. Das heißt, die Arbeitgeber sollen auch in Zukunft nicht mehr als 7 Prozent zahlen. ({6}) - Sie müssen schon mir überlassen, wie ich auf Ihre Frage antworte, Herr Lanfermann. So viel Freiheit würde ich von einem Liberalen doch erwarten. ({7}) Der zweite Punkt. Sie wollen, dass alle zusätzlichen Kosten - Kosten, die durch die Demografie bedingt sind, aber auch Kosten, die durch Nichtstun dieser Regierung bedingt sind - allein auf die Versicherten abgewälzt werden. Das wird dazu führen, dass die Kopfpauschale jedes Jahr steigt und dass der Bedarf an Steuerzuschüssen größer wird. Vor allen Dingen wird die Anzahl derer, die auf einen Sozialausgleich angewiesen sind, steigen. Als wir uns damals das niederländische Modell angeschaut haben, haben wir hochgerechnet, wie viel Steuermittel man bräuchte, um dieses Modell auf eine Bevölkerung von 82 Millionen auszudehnen. Das ist nicht zu finanzieren. Selbst die Kollegen und Kolleginnen von der Union haben angesichts der Zahlen Fracksausen bekommen. ({8}) Genauso wenig ist Ihre Kopfpauschale finanzierbar, Herr Rösler. ({9}) - Es ist keine andere Ausgangslage. Jetzt möchte ich noch etwas zu den Zusatzbeiträgen sagen. Sie werden in keinem Protokoll eine Rede von mir zur Gesundheitspolitik finden, in der ich erklärt hätte: Zusatzbeiträge sind klasse.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Ferner, möchten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Spahn zulassen?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Ferner, ich habe eine ganz einfache Frage - sie lässt sich mit einem Satz beantworten, und der braucht nicht einmal ein Verb -: Wann werden Sie das vom Kollegen Lauterbach - er ist, wenn mich nicht alles täuscht, gesundheitspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion, spricht also für Ihre Fraktion - angekündigte, durchgerechnete Konzept für eine Bürgerversicherung vorlegen? Wenn Sie sich nicht auf ein Datum einigen können: Wird das vor oder nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sein?

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden unser Konzept vorlegen, wann wir das für richtig halten. ({0}) Auf alle Fälle werden wir ein Konzept vorlegen, das gerecht finanziert ist, das solidarisch finanziert ist, wo die starken Schultern mehr tragen als die schwachen und wo vor allen Dingen die Arbeitgeber nicht aus der Verantwortung entlassen werden. ({1}) Wir werden kein Modell für eine Kopfpauschale vorlegen, sondern ein Modell für eine Bürgerversicherung. Das Modell, das wir vorlegen, ({2}) wird durchgerechnet sein. ({3}) Ich möchte noch ein Wort zum Sozialausgleich und zu den Zusatzbeiträgen sagen. Die Zusatzbeiträge sind auf Druck der Union in das Gesetz aufgenommen worden. Hier wurde eben eine Falschaussage gemacht. Mit keinem Wort stellen wir im Antrag den Verteilungsmechanismus des Gesundheitsfonds infrage - nirgendwo. Falsch gelaufen ist damals allerdings - das haben uns sowohl Professor Fiedler, der von uns benannt worden ist, als auch Professor Rürup, der von der Union benannt worden ist, übereinstimmend gesagt -, dass der Sozialausgleich, der für den Zusatzbeitrag auch noch erforderlich ist, von der Union verweigert wurde. Wo das hinführt, wenn die Union Gesundheitspolitik macht - insbesondere die CSU -, möchte ich Ihnen gerne einmal an folgendem Beispiel abschließend darlegen: Die Eingeweihten werden sich an die sogenannte Bayern-Klausel erinnern, die der Herr Stoiber durchgesetzt hat. Sie hat dazu geführt, dass Bayerns Kassen vorab 324 Millionen Euro aus dem Gesundheitsfonds bekommen haben, weil ja angeblich so groß umverteilt wird. Man hat nun festgestellt, dass es gar keine Umverteilung gab. Das Geld müsste jetzt zurückgezahlt werden. Die Kassen haben das aber schon ausgegeben. Warum haben sie das ausgegeben? Ich will einmal zitieren: Was meinen Sie, was los gewesen wäre, wenn wir denen - den Ärzten - gesagt hätten, wir müssten 90 Millionen Euro auf die hohe Kante legen? - Das heißt: Sie betreiben Klientelpolitik. Es ist wieder einmal bewiesen. Genau so eine Klientelpolitik ist Ihre Kopfpauschale, die hoffentlich niemals kommen wird. Eines ist aber schon jetzt sicher: Einer wird bei dem Thema auf alle Fälle umfallen müssen, entweder die FDP, die CDU/CSU-Fraktion, Herr Seehofer oder wer auch immer. Ohne Umfaller wird es das Ding nicht geben. Schönen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Erwin Rüddel hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Erwin Rüddel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004139, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Gesundheitsminister gehört bekanntlich nicht meiner Fraktion an, aber ich will es dennoch eingangs sagen: Es befremdet mich, wie die SPD hier im Haus in Versammlungen, Veranstaltungen, Verlautbarungen mit dem Minister umgeht. ({0}) Man kann es nicht häufig genug sagen: Herr Minister Rösler hat den Gesundheitsfonds und damit die Zusatzbeiträge nicht beschlossen. Das waren Sie zusammen mit uns und unter Federführung der zuständigen Ministerin. Sind die damaligen Ziele - mehr Wettbewerb, mehr Transparenz, mehr Anreize zum sparsamen Wirtschaften und zur Begrenzung der Arbeitskosten - nichts mehr wert, nur weil Sie jetzt in der Opposition sind? Warum stehen Sie nicht zu dem, was Sie in der Großen Koalition beschlossen haben, ({1}) statt andere Leute für die Folgen dessen zu attackieren, was ohne Sie niemals Gesetz geworden wäre? ({2}) Stattdessen legen Sie heute einen Antrag vor, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass Sie damit die Realitäten, wie die demografische Entwicklung, die Folgen des medizinischen Fortschritts und die Lebensfähigkeit der Betriebe, souverän außen vor lassen. Warum wollen Sie die Arbeitskosten denn schon wieder in die Höhe treiben? Außerdem: Unternehmen, die mehr Sozialabgaben zahlen, zahlen weniger Steuern. Warum versuchen Sie seit Wochen, die im Koalitionsvertrag vorgesehene Gesundheitsreform geradezu zu dämonisieren, als ob Union und FDP nichts Besseres zu tun hätten, als die Bürgerinnen und Bürger leichtfertig mit überflüssigen Lasten zu beschweren? ({3}) Ich will es Ihnen sagen: Sie tun das, weil Sie jede rationale Diskussion über die zukünftige Finanzierung der Gesundheitspolitik verhindern wollen und weil Sie dieses sensible Thema benutzen, um die Menschen zu verunsichern und ihnen Angst zu machen. ({4}) Lassen Sie die Bundesregierung und ihre Regierungskommission doch arbeiten! ({5}) Wir werden sehen, dass ordentliche Ergebnisse herauskommen. Wer sagt Ihnen denn, dass die Kommission nicht zu Ergebnissen kommt, ({6}) die für Geringverdiener und sozial Benachteiligte sogar günstiger ausfallen als die gegenwärtige Rechtslage? Tun Sie nicht so, als ob Sie ein Patentrezept hätten! Ihre sogenannte solidarische Bürgerversicherung ist doch in erster Linie eine Wortgirlande, ein Paradebeispiel für die verbalen Wattebäusche, mit denen Sie den Menschen auch auf anderen Feldern eine Wohlfühlwelt vorgaukeln, ({7}) in der im Zweifel immer die anderen für die von Ihnen versprochenen Wohltaten aufkommen müssen. ({8}) Dabei enthält Ihr Konzept in Wahrheit eine ganze Reihe schwerwiegender Pferdefüße, von denen ich nur einige aufzählen will: Ihr Konzept treibt die Arbeitskosten in die Höhe, verschärft die demografischen Probleme, verhindert Transparenz und Wettbewerb, verhindert damit Strukturreformen und verschüttet Einsparpotenziale, schreibt Mängel des vorhandenen Systems fort, weil einkommensschwächere Versicherte den Krankenversicherungsschutz einkommensstärkerer beitragsfrei versicherter Ehepartner mitbezahlen müssen. ({9}) Was soll eigentlich aus der bisherigen Quersubventionierung der GKV durch die Privatversicherten werden, wenn Sie - das entspricht offenbar Ihrer Wunschvorstellung - die Privaten endlich kleingekriegt haben? Sollen die Milliarden, die jetzt aufgrund höherer Abrechnungssätze in der ambulanten Behandlung und bei Wahlleistungen im Krankenhaus aufgebraucht werden können, also die Beiträge, ohne die viele Praxen gar nicht existieren könnten, auf die Abrechnungssätze der gesetzlichen Kassen aufgeschlagen werden? Nein, so einfach ist die Sache nicht. Lassen Sie die Kommission in Ruhe arbeiten und hören Sie auf, die Menschen zu verunsichern! ({10}) Ich sage das auch mit Blick auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Was den Antrag der grünen Fraktion zu den Zusatzbeiträgen angeht, so bin ich im Übrigen sicher, dass die Bundesregierung und die Bundesagentur für Arbeit hier vernünftige und sozialverträgliche Lösungen finden. Wir werden uns jedenfalls von niemandem in unserer sozialen Verantwortung für die Versicherten übertreffen lassen. ({11}) Wir stehen auch künftig für ein Gesundheitssystem ein, in dem alle Bürgerinnen und Bürger Anspruch darauf haben, auf der Höhe des medizinischen Fortschritts versorgt zu werden, unabhängig von ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihrem Einkommen und ihrem gesundheitlichen Risiko, und zwar ohne dabei finanziell überfordert zu werden. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen auf den Drucksachen 17/879 und 17/674 an die Aus- schüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung vorge- sehen sind. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 g: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än- derungsurkunden vom 24. November 2006 zur Konstitution und zur Konvention der Interna- tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember - Drucksache 17/760 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksache 17/800 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Klaus Barthel, Lothar Binding ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zukunft für Haiti - Nachhaltigen Wiederaufbau unterstützen - Drucksache 17/885 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages durch atomare Abrüstung stärken - Drucksache 17/886 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kinderspielzeug - Risiko für kleine Verbraucher - Drucksache 17/656 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({5}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Federführung strittig Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt f) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die größten Emissionsreduktionspotentiale in Schwellenund Entwicklungsländern und Sektoren - Drucksache 16/13771 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung g) Unterrichtung durch die Bundesregierung Achtzehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Absatz 2 - Drucksache 17/485 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({7}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Wir kommen zunächst zu einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist. Tagesordnungspunkt 25 e: Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Kinderspielzeug - Risiko für kleine Verbraucher“ auf Drucksache 17/656 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Überweisung ist damit bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen und SPD abgelehnt; die übrigen Fraktionen haben sich dagegen entschieden. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie - abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die Linke angenommen; SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Wir kommen jetzt zu den unstrittigen Überweisungen. Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 d sowie 25 f bis 25 g: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 26 a bis 26 j sowie dem Tagesordnungspunkt 9. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 26 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 40 zu Petitionen - Drucksache 17/801 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 40 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses so angenommen. Tagesordnungspunkt 26 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9}) Sammelübersicht 41 zu Petitionen - Drucksache 17/802 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 41 ist wiederum mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 26 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 42 zu Petitionen - Drucksache 17/803 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 42 ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 26 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 43 zu Petitionen - Drucksache 17/804 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 43 ist angenommen bei Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP, SPD und Linkspartei. Dagegen hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Es gab keine Enthaltungen. Tagesordnungspunkt 26 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 44 zu Petitionen - Drucksache 17/805 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 44 ist angenommen bei Zustimmung durch die Fraktionen der CDU/CSU, FDP, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Die Fraktion der Linken hat dagegen gestimmt. Tagesordnungspunkt 26 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 45 zu Petitionen - Drucksache 17/806 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 45 ist angenommen. Dafür haben gestimmt CDU/CSU, FDP und SPD. Dagegen haben gestimmt die Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Es gab keine Enthaltungen. Tagesordnungspunkt 26 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 46 zu Petitionen - Drucksache 17/807 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 46 ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und die Linke und Gegenstimmen durch Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Enthaltungen gab es keine. Tagesordnungspunkt 26 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 47 zu Petitionen - Drucksache 17/808 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 47 ist angenommen. Dafür haben gestimmt die Koalitionsfraktionen und die Linke. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 26 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 48 zu Petitionen - Drucksache 17/809 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 48 ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen. Tagesordnungspunkt 26 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 49 zu Petitionen - Drucksache 17/810 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 49 ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dagegen haben gestimmt die Fraktion von SPD und Bündnis 90/ Die Grünen. Die Fraktion Die Linke hat sich enthalten. Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des DirektzahlungenVerpflichtungengesetzes - Drucksache 17/758 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({18}) - Drucksache 17/924 Berichterstattung: Abgeordnete Johannes Röring Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Kirsten Tackmann Cornelia Behm Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/924, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/758 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen des gesamten Hauses. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen will, möge sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmverhältnis wie vorher angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Spenden- und Sponsoring-Praxis von Parteien und die Glaubwürdigkeit der Politik Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Ulrich Maurer für die Fraktion Die Linke. ({19})

Ulrich Maurer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003805, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die bisher bekannt gewordenen Fakten werfen, die diese Debatte notwendig machen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass hohe Repräsentanten unseres Staates, leibhaftige Ministerpräsidenten, zumindest stundenweise angemietet werden können. Nichts anderes ist das, was wir gehört haben. Der eine Ministerpräsident hat mittlerweile erklärt, er sei gegen seinen Willen vermietet worden. Bei dem anderen hat der Vermieter erklärt, er habe nicht den Ministerpräsidenten vermietet, sondern den Landesvorsitzenden. Zufälligerweise handelt es sich dabei um dieselbe Person. Der eine Vermieter ist wegen der bevorstehenden Wahl entlassen worden. Der andere ist noch im Amt, vermutlich weil in Sachsen keine Wahlen bevorstehen. Fühlen Sie sich eigentlich in der CDU/CSU für Ihre Zweigniederlassungen beispielsweise in Dresden noch zuständig, oder wollen Sie stillschweigend weiterhin tolerieren, was dort abläuft? Ich sage Ihnen eines: Es ist doch klar, dass die Herren Mieter diese Personen nicht wegen ihrer Unterhaltsamkeit und Kurzweiligkeit stundenweise anmieten, sondern deshalb, weil sie sich davon Vorteile versprechen. ({0}) Wenn man in Deutschland einen Ministerpräsidenten - und sei es nur auf Stundenbasis - mieten kann, weil man sich davon Vorteile verspricht, dann untergräbt das das Vertrauen der Bevölkerung - man muss leider sagen: das Restvertrauen - in die Demokratie. ({1}) Wir lernen derzeit an der Saar, dass man sogar ganze Regierungen zusammenkaufen kann. ({2}) Wir lernen mittlerweile auch den Marktwert der Grünen an der Saar kennen. Der beläuft sich nach den heutigen Aussagen von Herrn Ulrich auf 38 000 Euro plus X. ({3}) Dabei hat er seine persönlichen Apanagen, die er vom sogenannten Paten von der Saar bezogen hat, noch nicht mitgezählt. Wie weit sind wir eigentlich gekommen, wenn sich ein einziger Unternehmer durch Parteispenden und Bezahlung von Parteifunktionären Regierungen zusammenkaufen kann? ({4}) Für die Grünen gilt natürlich dasselbe, was ich über die CDU in Sachsen gesagt habe. Sie begleiten alles, was dort abläuft, mit Stillschweigen. Das ist ein unvorstellbarer Vorgang. Fühlen Sie sich für Ihren saarländischen Landesverband unzuständig? Tolerieren Sie das durch Schweigen, oder was hat man davon eigentlich zu halten? Wir kennen seit längerem auch den Marktwert des Kollegen Westerwelle, jedenfalls vor seiner Amtszeit als Außenminister. ({5}) Der Kern der Debatte ist, liebe Kolleginnen und Kollegen von FDP und CDU/CSU: Wir haben heute schon einen so breiten Graben zwischen den Wählenden und den Gewählten. Wenn Sie nicht kapieren wollen, dass das Prinzip der Demokratie darauf basiert, dass die Wählerinnen und Wähler darauf bauen können, dass ihre Stimme über die Geschicke des Staates entscheidet und nicht die Höhe eines ausgestellten Schecks und nicht ein in Aussicht gestellter Vorstands- oder Aufsichtsratsposten, ({6}) und wenn das Vertrauen weiter zerstört wird, dann werden ganz andere Leute die Oberhand gewinnen, nämlich die von rechts außen, die Rattenfänger, die es schon seit jeher in dieser Republik gibt. Sie machen sich mit dem Sumpf, den Sie hier anrichten, an der deutschen Demokratie schuldig. ({7}) Zurück zu diesem sogenannten Sponsoring. Man fragt sich, warum eigentlich die Staatsanwaltschaften nicht tätig werden; denn es handelt sich um Vorteilsannahmen, die an Personen geknüpft sind. Diese Frage stellt sich, und ich stelle sie in diesem Plenum. Das verwundert mich übrigens genauso wie die Einstellung von fünf Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Herrn Ostermann an der Saar. Aber lassen wir das einmal außen vor. Ich will es nur erwähnt haben. Es gibt ein ganz schlichtes Ergebnis dieser Debatte, das ich Ihnen nahelege - das ist das Mindeste -: Raffen Sie sich dazu auf, dieses sogenannte Parteiensponsoring durch das Parteiengesetz zu verbieten! ({8}) Ich entnehme der heutigen Zeitung, dass das schon die Zustimmung des SPD-Vorsitzenden Gabriel findet. Insofern sind wir der Wahrheitsfindung wieder etwas näher. Ich hoffe, dass auch Sie von der FDP, auch wenn es Sie möglicherweise schwer trifft, sich zu diesen Verlusten für Ihre Parteikasse zum Wohle des Staatsganzen bekennen können. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ingo Wellenreuther hat das Wort für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Ingo Wellenreuther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003658, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Allein der Titel dieser Aktuellen Stunde zeigt, dass es Ihnen von den Linken weder um eine seriöse Aufklärung der Sachverhalte in NordrheinWestfalen oder in Sachsen geht noch um eine ernsthafte Diskussion über das Parteienrecht, das sich in den letzten Jahren sehr gut bewährt hat, weil es Transparenz geschaffen hat. Ihnen geht es um etwas ganz anderes: Sie wollen die Parteienfinanzierung in Deutschland diskreditieren, Sie wollen Spender verunsichern, und Sie wollen sich mit einer gezielten politischen Skandalisierung Vorteile im Landtagswahlkampf verschaffen und den politischen Gegner verunglimpfen. ({0}) Dass es Ihnen nicht um die Aufklärung geht, ergibt sich auch daraus, dass Sie die Prüfung der Sachverhalte durch die Bundestagsverwaltung, die im Gange ist, nicht abwarten können. Ich sage Ihnen ganz offen: Es ist unerträglich, dass Sie wieder einmal bei den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland bewusst den Eindruck erwecken, man könne in unserem Land politische Entscheidungen kaufen. Sie wissen genau: Das ist abwegig und trifft nicht zu. Es ist selbstverständlich, dass ein Ministerpräsident nicht vermietet werden kann. Das widerspricht dem öffentlichen Amt, das er innehat. Die Kanzlerin hat dazu bereits das Entsprechende gesagt. Mit der Käuflichkeit politischer Entscheidungen hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. ({1}) Was Sie treiben, ist schäbig und schadet in hohem Maße unserer Demokratie und der Politik im Gesamten. Vor allem weiß die Staatsanwaltschaft in Deutschland ganz genau, ob und wann sie tätig wird, und bedarf dazu keiner anmaßenden Aufforderung von Ihnen, Herr Maurer. Die konkreten Fälle werfen aber die grundsätzliche Frage auf, wie mit Parteienfinanzierung und insbesondere mit Parteiensponsoring rechtlich umzugehen ist. Sie wissen, dass die Parteien nach dem Grundgesetz den Auftrag, aber auch den Anspruch haben, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Um das tun zu können, haben sie einen berechtigten Finanzierungsbedarf. Wir haben uns in Deutschland ganz bewusst gegen eine rein staatliche Alimentierung entschieden und die gesellschaftliche Verankerung als Wesenselement politischer Parteien definiert. ({2}) Im Wesentlichen wird dieser Bedarf durch Mitgliedsbeiträge, durch staatliche Zuwendungen und durch Spenden gedeckt. ({3}) - Hören Sie zu, dann verstehen Sie es vielleicht. ({4}) Im Gegenzug ergibt sich die grundgesetzliche Verpflichtung, dass die Parteien über die Herkunft und über die Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft ablegen. Das ist im Parteiengesetz geregelt und auch gut so. Wir wissen, dass Spenden über 10 000 Euro im Rechenschaftsbericht angegeben und Spenden über 50 000 Euro dem Bundestagspräsidenten gemeldet werden müssen, der sie unverzüglich im Internet veröffentlicht. Diese Transparenz hat sich bei den Parteispenden ausdrücklich bewährt. ({5}) Jetzt stellt sich die Frage, wie es sich beim Sponsoring verhält. Im Parteiengesetz gibt es dafür keine ausdrückliche Regelung. Nach dem sogenannten Sponsoringerlass des Bundesfinanzministeriums aus dem Jahr 1998 handelt es sich dabei um eine Gewährung von Geld durch Unternehmen zur Förderung unter anderem von Parteien, mit der regelmäßig auch eigene unternehmensbezogene Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit verbunden sind. Die Gegenleistung der Partei besteht in der Zurverfügungstellung von Werbemöglichkeiten zugunsten des Sponsors, aber gerade nicht in der Gewährung eines politischen Vorteils. ({6}) Deshalb ist der Vorwurf der Käuflichkeit geradezu abwegig. Solche Geldzuflüsse müssen bereits jetzt nach dem Parteiengesetz als Einnahmen aus Veranstaltungen angegeben werden, allerdings nicht gesondert und nicht unter dem Stichwort Sponsoring. ({7}) Um es noch einmal zu sagen: Der Leistungsaustausch beim Sponsoring ist der entscheidende Unterschied zur Spende, für die es keine Gegenleistung gibt. So eindeutig Parteispenden zulässig und erwünscht sind, so wenig ist Sponsoring in dem genannten Sinne unzulässig oder anrüchig. ({8}) In beiden Fällen, Herr Poß, geht es um eine wünschenswerte Unterstützung einer Partei, wobei im Falle des Sponsorings dem Unterstützenden noch die Möglichkeit zur Werbung und zur Öffentlichkeitsarbeit gegeben wird. ({9}) - Auch das kann er. Wenn Sie betriebswirtschaftliche Kenntnisse hätten, wüssten Sie, warum. - Um es klar zu sagen: Sponsoring ist eine zulässige Form der Finanzierung politischer Veranstaltungen, wie zum Beispiel bei Parteitagen oder Kongressen, bei denen es in der Regel um die Vermietung von Standflächen mit der Gelegenheit zum politischen Meinungsaustausch geht. Das ist gängige Praxis bei allen Parteien. Wenn trotz der Rechtmäßigkeit des Sponsorings der Eindruck entsteht, dass Sponsoringmaßnahmen in einer rechtlichen Grauzone liegen, so könnte es förderlich sein, Sponsoring klarer im Parteiengesetz zu verankern, um es noch transparenter zu machen. Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben kein Problem mit der Transparenz. ({10}) Transparenz ist bei politischen Entscheidungen unverzichtbar. Aber dass Sie damit große Probleme haben, hat gerade das Verwaltungsgericht in Berlin im Januar festgestellt. Ausgerechnet die Linke hat gegen das Transparenzgebot des Parteiengesetzes verstoßen, indem sie eine Spende in Höhe von 146 000 Euro im Landtagswahlkampf Rheinland-Pfalz in ihrem Rechenschaftsbericht nicht angegeben hat. ({11}) In dieser Aktuellen Stunde wollten Sie die Glaubwürdigkeit der Politik durch Spenden und Sponsoring infrage stellen. Das Beispiel, das ich gerade genannt habe, zeigt aber, dass Sie die Einzigen sind, die mit der Glaubwürdigkeit ein Problem haben und selbst nicht glaubwürdig sind. Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion der SPD hat die Kollegin Gabriele Fograscher das Wort. ({0})

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Schon seit einigen Wochen steht die Finanzierung von Parteien im Fokus der Öffentlichkeit. Dabei geht es um ganz unterschiedliche Sachverhalte. Der eine Sachverhalt war die fragwürdige Millionenspende des Mövenpick-Besitzers an FDP und CSU, die in zeitlicher Nähe zu der Entscheidung stand, den Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen zu senken. Darüber haben wir bereits diskutiert. Wir haben dazu Vorschläge unterbreitet, mit denen mehr Transparenz ermöglicht würde, zum Beispiel die Begrenzung der Höhe von Parteispenden, die unverzügliche Veröffentlichung großer Spenden durch den Bundestagspräsidenten und das Verbot von Verbandsspenden. Leider lehnen Sie diese Vorschläge ab und verweisen auf das geltende Parteiengesetz. Dass diese Spenden ein Geschmäckle haben, sehen Sie bis heute nicht ein. Heute geht es aber um einen anderen Sachverhalt, nämlich um das sogenannte Sponsoring. Dass sich Unternehmen auf Parteitagen oder Parteiveranstaltungen gegen eine Standmiete präsentieren oder Sachspenden leisten, ist ein öffentlicher und transparenter Vorgang. Wenn Einnahmen erzielt werden, werden diese entsprechend im Rechenschaftsbericht der Parteien als Einnahmen aus Veranstaltungen ausgewiesen und selbstverständlich auch versteuert. Bei der SPD machen diese Einnahmen unter 1 Prozent der Gesamteinnahmen aus. ({0}) Selbstverständlich und nicht anrüchig ist es, wenn die Organisatoren oder Verantwortlichen einen Rundgang machen und sich bei den Sponsoren für ihr Engagement bedanken. ({1}) Anders aber verhält es sich, wenn der Vertrag über einen Werbestand auf einer Parteiveranstaltung mit einem Gesprächstermin mit dem Ministerpräsidenten oder mit anderen Amtsträgern verknüpft wird ({2}) und dafür auch noch zusätzlich Geld verlangt wird. Ein solcher Vertrag ist eben kein Sponsoring mehr. Die öffentlich gewordenen Vorgänge um die Ministerpräsidenten Rüttgers und Tillich sind kein Sponsoring mehr. Gelder für Gesprächstermine sind Zweckspenden, die schon heute im Parteiengesetz verboten sind. Ich will aus dem Gesetz zitieren. In § 25 Abs. 2 des Parteiengesetzes heißt es: Von der Befugnis der Parteien, Spenden anzunehmen, ausgeschlossen sind: Und dort steht unter Nr. 7: Spenden, die der Partei erkennbar in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten wirtschaftlichen oder politischen Vorteils gewährt werden; ({3}) Daneben ist es Amtsträgern sowieso verboten, Geld für Gespräche zu verlangen oder anzunehmen. Eine solche Praxis ist von vornherein sittenwidrig und hat mit Sponsoring nichts zu tun. ({4}) Dass das alles nicht in Ordnung ist, sagt auch Rüttgers und feuert seinen Generalsekretär, will aber als Parteivorsitzender nichts von der Rent-a-Rüttgers-Praxis gewusst haben. ({5}) Entweder hat Rüttgers diese besonderen vertraglichen Regelungen gebilligt und die bezahlten Termine absolviert, oder er hat keinen Überblick darüber, was in seiner Partei geschieht, um die Finanzen aufzubessern. Beides ist nicht akzeptabel. ({6}) Nun fordert also der Bundestagspräsident, der bekanntlich CDU-Mitglied ist und aus NRW stammt, Änderungen im Parteiengesetz, da es sich - das haben Sie gerade dargestellt - nach Meinung der CDU um einen ungeregelten Bereich handelt. Nein, es ist nichts ungeregelt. Die Handlungsweise der CDU ist bereits verboten. ({7}) Weil es sich bei diesen Sachverhalten um verbotene Zweckspenden handelt, fordern wir den Bundestagspräsidenten auf, Strafzahlungen gegen die CDU zu verhängen, ({8}) und zwar unverzüglich und nicht erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen. Darüber hinaus ist zu prüfen, ob es sich nicht um Vorteilsnahme handelt. ({9}) Wählerinnen und Wähler haben das Recht, vor der Wahl zu erfahren, wie diese Praxis zu bewerten ist. Was sollen wir Ihrer Meinung nach eigentlich ins Parteiengesetz schreiben? Vielleicht: „Gespräche mit Ministerpräsidenten sind manchmal umsonst, aber auf jeden Fall kostenlos“? Das ist doch absurd. Immer wenn Sie bei unsauberen Praktiken erwischt werden, rufen Sie lautstark nach Gesetzesänderungen, statt den Rechtsbruch zuzugeben und die Praxis abzustellen. ({10}) Glaubwürdig und verantwortungsvoll ist es, wenn Sie sich an die Gesetze, die Sie ja selbst mit beschlossen haben, auch halten. In einer Demokratie muss jeder Zugang zu Amts- und Mandatsträgern haben können. Ein solches Gespräch darf nicht denjenigen vorbehalten sein, die dafür bezahlen können. Parteien haben nach Art. 21 Grundgesetz eine besondere Stellung im Staat. Daraus ergibt sich auch eine besondere Verantwortung, und dieser, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, werden Sie nicht gerecht. Danke schön. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Marco Buschmann ist der nächste Redner für die Fraktion der FDP. ({0})

Dr. Marco Buschmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004023, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über die Finanzierung der politischen Parteien. ({0}) Das Thema begleitet die politische Öffentlichkeit schon seit Jahrzehnten, und die Ursache dieser permanenten Diskussionen liegt im Wesen der Parteien. ({1}) Sie sind Zwitter des Staatslebens, und das macht den Umgang mit ihnen bisweilen komplex. Die Parteien stehen zwischen den beiden Sphären, die das liberale Staatsverständnis prägen, nämlich zwischen Staat und Gesellschaft. Als Transmissionsriemen transportieren sie den gesellschaftlichen Diskurs in die Sphäre des Staates hinein. ({2}) Das Wesen der Parteien als Mittler zwischen Staat und Gesellschaft gebietet es, dass sie auf keinen Fall vollständig staatlich finanziert werden dürfen. Vielmehr soll durch das Angewiesensein auf Mitgliedsbeiträge, aber auch auf Zuwendungen wie Spenden die Anbindung an die Sphäre der Gesellschaft durch die Finanzverfassung der Parteien stipuliert werden. Das heißt ganz konkret: Spenden einzuwerben ist nichts Ehrenrühriges. Wer etwas anderes behauptet, steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. ({3}) Natürlich darf es nicht dazu kommen, dass durch Zuwendungen gesellschaftliche Finanzkraft in staatspolitische Macht umgewandelt wird. Natürlich darf niemand den Eindruck erwecken, dass man Repräsentanten unseres Staates oder eines Bundesstaates kaufen oder mieten könnte. ({4}) Das ist gar keine Frage. Aber um dieser Gefahr vorzubeugen, setzt das Grundgesetz auf finanzielle Transparenz. Art. 21 Abs. 1 Satz 3 Grundgesetz setzt klar auf transparente Rechenschaft der politischen Parteien. Diesem Gebot kommt jedenfalls meine Partei stets und mit großer Sorgfalt bei allen Sachverhalten, die immer wieder ins Feld geführt werden, nach. ({5}) Was das verfassungsrechtliche Gebot der finanziellen Transparenz angeht, sind die Oppositionsfraktionen dieses Hauses bestimmt nicht dazu berufen, irgendjemandem Nachhilfe zu erteilen. ({6}) Ich frage die Kollegen von der SPD: Warum hat denn der SPD-eigene Vorwärts-Verlag bis heute immer noch nicht aufgeklärt, wie viel für die Vermarktung von Peer Steinbrück kassiert wurde? ({7}) Wie viel ist denn geflossen, als auf der Höhe der Finanzkrise über milliardenschwere Programme entschieden worden ist? Warum hat denn Ihr Parteivorsitzender Sigmar Gabriel die Zahlungen des VW-Konzerns an die CoNeS GmbH verantwortet? Warum sollte dieses Geld dahin fließen? Es handelt sich um eine Gesellschaft ohne Anschrift im Telefonbuch oder im Internet. Es ging doch nur darum, den gesellschaftsrechtlichen Schleier einer GmbH über den Geldfluss zu legen, sodass die Spur nicht direkt zu ihm führt. ({8}) Die geringste Glaubwürdigkeit, was Transparenz angeht, besitzen nun wahrlich die Linken, also die Initiatoren dieser Aktuellen Stunde. ({9}) Eigentlich müsste man in dieser Debatte nur das Stichwort „Operation Putnik“ nennen; mehr müsste man nicht sagen. Es ist eigentlich zu unappetitlich für dieses Haus, was Sie da zu verantworten haben. Aber weil dieser Vorgang noch nicht transparent genug ist, ({10}) erlaube ich mir, ein paar Worte darüber zu verlieren. Ihre Partei, verehrte Kolleginnen und Kollegen, hat erwiesenermaßen dreistellige Millionenbeträge aus dem SEDAltvermögen auf Schwarzgeldkonten zu schaffen versucht. ({11}) Dazu wurden Altschulden der Moskauer Firma Putnik mit falschen Belegen vorgetäuscht und Schwarzkonten eingerichtet. ({12}) Nicht nur wegen dieser, sondern auch wegen vieler weiterer Transaktionen kam die unabhängige Untersuchungskommission des Deutschen Bundestages in ihrem Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass Ihre Partei - Zitat - „eine Strategie der Vermögensverschleierung“ verfolgt habe. ({13}) Weil Herr Maurer die strafrechtliche Verfolgung angesprochen hat, möchte ich ihn gerne auf Folgendes hinweisen: Im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Aufarbeitung dieser Vorgänge haben Gregor Gysi und Lothar Bisky die Aussage verweigert, wahrscheinlich aus der Sorge, sich selbst zu belasten. ({14}) So viel zur strafrechtlichen Aufklärung. ({15}) Wer so mit dem verfassungsrechtlichen Gebot der finanziellen Transparenz umgeht, der besitzt keinerlei Glaubwürdigkeit, um hier über irgendjemanden Ankläger oder Richter zu sein. ({16}) - Hören Sie gut zu! - Zur Glaubwürdigkeit gehört immer auch, sich an die eigene Nase zu fassen, und die ist bei Ihnen länger als bei Pinocchio. ({17}) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat das Wort der Kollege Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da haben Sie ja schön die Backen aufgeblasen, Herr Buschmann. ({0}) Können Sie mir eigentlich sagen, wie sehr die FDP in NRW noch an den Möllemann-Strafzahlungen zu tragen hat? ({1}) Wer so austeilt, der sollte klarstellen, wie sehr die eigene Landespartei unter dieser Bürde heute noch leidet, auch unter der Bürde der mangelnden Glaubwürdigkeit in diesen Debatten. ({2}) Das politische Versagen damals bestand nicht einfach nur darin, dass ein ganzer Landesvorstand zu falsch verbuchten Spenden geschwiegen hat, sondern es bestand vor allen Dingen in der politischen Substanz dessen, was Herr Möllemann mit diesen ergaunerten Mitteln im Wahlkampf gegen den Zentralrat der Juden und gegen Israel gemacht hat. ({3}) Volker Beck ({4}) Auch daran darf man in dieser Debatte noch einmal erinnern. Die parlamentarische Demokratie in unserem Land ist gegenwärtig in keiner guten Situation: Mövenpick-Spenden, Ministerpräsidenten-Flatrates bei Herrn Rüttgers, Staatskanzlei-Sparabo bei Herrn Tillich. Bei den Bürgerinnen und Bürgern entsteht der Eindruck - ich will gar nicht behaupten, dass es so ist; aber wir müssen uns mit diesem Problem ernsthaft auseinandersetzen -, dass Politik in diesem Land käuflich ist, ({5}) dass man die entscheidenden Gesprächstermine bekommt, wenn man Geld auf den Tisch legt. Zumindest Letzteres ist in der Tat Gegenstand von Vereinbarungen der CDU Sachsen und der CDU Nordrhein-Westfalen mit Sponsoren gewesen. ({6}) Um Schaden von uns allen abzuwenden, von Ihrer Partei wie von der Legitimität aller politischen Parteien hier im Deutschen Bundestag, ist es dringend erforderlich, dass diese Vorgänge unverzüglich von der Bundestagsverwaltung aufgeklärt werden und die entsprechenden Sanktionen ergehen. ({7}) - Ach, Sie bestreiten, dass es so war? ({8}) Warum ist denn Herr Wüst zurückgetreten? Weil nichts war? Bei Ihnen tritt man offensichtlich zurück, obwohl nichts vorgefallen ist. ({9}) Es ist ja so gewesen: Sie haben Sponsorenverträge gemacht, die mit der Möglichkeit eines Gesprächstermins beim Ministerpräsidenten verbunden waren. ({10}) Wer diese Möglichkeit wahrnehmen wollte, musste etwas mehr zahlen, ({11}) als wenn er nur einen Stand auf der Messe gebucht hätte. Das ist eindeutig kein Gegenstand von Sponsoring. Es handelt sich auch nicht um eine Werbemaßnahme, ({12}) sondern es handelt sich um die Ermöglichung von politischem Einfluss auf einen Amtsträger, in diesem Fall den Ministerpräsidenten. Nach dem Parteiengesetz - das hat die Kollegin vorhin zu Recht zitiert; das ist da klipp und klar geregelt handelt es sich um eine Spende, die der Partei erkennbar in Erwartung oder als Gegenleistung eines bestimmten, in dem Fall politischen, Vorteils vermutlich gewährt worden ist. ({13}) Deshalb ist es eine unzulässige Spende. Sie ist nach dem Parteiengesetz sanktioniert. ({14}) Ich erwarte vom Bundestagspräsidenten, auch wenn er Ihrer Partei angehört, auch wenn er aus NordrheinWestfalen kommt, ({15}) dass die entsprechenden Verfahren bis spätestens Mitte April abgeschlossen sind. Die Wählerinnen und Wähler haben einen Anspruch darauf, vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zu erfahren, wie diese Dinge nach dem Parteiengesetz zu bewerten sind. ({16}) Ich bin sicher, dass der Bundestagspräsident - so kenne ich ihn - so unabhängig sein wird und dafür sorgen wird, dass die Verwaltung zügig arbeitet und das zu einem Abschluss bringt. Meine Damen und Herren, wir haben hier schon vor einigen Wochen über einen Antrag unserer Fraktion zur Reform des Parteiengesetzes diskutiert, damals aus Anlass der Mövenpick-Spenden an die FDP und der damit zusammenhängenden Mehrwertsteuersenkung. Ich denke, wir sollten jetzt schleunigst im Innenausschuss eine Anhörung machen und dabei auch über die Probleme des Sponsorings reden. Es gibt nämlich eine Unwucht im Parteiengesetz: Wir haben zwar auf der einen Seite relativ klar reguliert, was an Spenden möglich ist. Wir meinen, man sollte die Spendenhöhe auf 100 000 Euro pro Spender und pro Jahr begrenzen. Das ist eine klare Grenze. Das führt niemanden, auch nicht die Schwächsten von uns hier im Hause, in Versuchung, durch Spenden politisch beeinflusst zu werden. Wir dürfen aber nicht zulassen, dass auf der anderen Seite über das Sponsoring all das umgangen werden kann, was wir für Spenden minutiös im Parteiengesetz geregelt haben. ({17}) Wir brauchen beim Sponsoring die gleiche Transparenz. Wir müssen auch darüber reden, ob man es begrenzen soll, und über die Frage diskutieren, ob es weiterhin Volker Beck ({18}) steuerlich in vollem Umfang absetzbar sein soll. Wenn es dabei wie heute um Beträge unbegrenzter Größenordnung gehen kann, dann läuft die Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit, die es im Spendenbereich gibt, faktisch ins Leere; denn Unternehmen und andere wirtschaftliche Subjekte können diese Begrenzung durch entsprechend hohes Sponsoring, das faktisch steuerlich begünstigt ist, kompensieren. Das ist eine Unwucht. Das ist vom Gesetzgeber so auch nicht gewollt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Deshalb lassen Sie uns unverzüglich an dieses Thema herangehen. Ich glaube, es trägt erheblich zur Legitimität der Parteien und der parlamentarischen Demokratie bei, wenn wir dafür sorgen, dass hier absolute Transparenz herrscht. Transparenz ist immer noch die beste Korruptionsprophylaxe und die beste Prophylaxe vor Beschädigungen der Legitimität der parlamentarischen Demokratie. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Thomas Strobl ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Beck, das war weniger ein Beitrag zur parlamentarischen Demokratie als mehr ein Beitrag zum nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf. Deswegen möchte ich wieder zur Sache zurückkommen. ({0}) „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, so heißt es in Art. 21 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Ich glaube, wir sind mit dieser Parteiendemokratie in den über 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland gut gefahren, ({1}) auch wenn die Feinde der Demokratie, etwa die extremistische Linke, keine Gelegenheit auslassen, dieses demokratische System verächtlich zu machen. ({2}) Jedenfalls läuft es dort, wo es diesen Wettbewerb der Parteien nicht gibt, nicht besser. Klar ist auch: Parteien brauchen, um ihre Aufgaben zu erfüllen, finanzielle Mittel. Dafür gibt es Staatszuschüsse, aber aus gutem Grund nicht nur staatliches Geld, weil wir keine Staatsparteien wollen. Parteien finanzieren sich auch über Mitgliedsbeiträge, Spenden und sonstige Einnahmen wie etwa über das Sponsoring. Als ich im Jahr 2005 Generalsekretär der badenwürttembergischen CDU geworden bin, habe ich Wert darauf gelegt, dass wir die Praxis des Sponsorings auch mit der Bundestagsverwaltung, die sozusagen kraft Amtes für die Parteienfinanzierung zuständig ist, abklären lassen, und habe im November 2005 die Auskunft bekommen, dass Sponsoring nach umfangreicher Abstimmung mit der Bundestagsverwaltung abgesichert, also rechtlich nicht zu beanstanden ist. Das ist zunächst einmal der Sachverhalt. Nun gab es in den letzten Tagen eine aufgeregte Debatte. Frau Künast von den Grünen redet von einem Angriff auf die Demokratie. ({3}) Aus den Reihen der SPD ist zu hören: Es stinkt zum Himmel. Politische Korruption! Politische Prostitution! ({4}) Herr Gabriel möchte die Immunität von Kollegen aufheben und die Staatsanwaltschaften einschalten. Keine verbale Kraftmeierei ist also zu schade, um in NordrheinWestfalen beim Wahlkampf ein paar läppische Punkte zu machen. ({5}) - Verehrte Kollegen von den Grünen, sehr gerne sage ich Ihnen etwas zur Sache. Zunächst möchte ich Ihnen zurufen: Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Das kann schiefgehen. ({6}) Zum Sponsoring beim Bündnis 90/Die Grünen. Daniel Holefleisch, der Vorstandsreferent der Grünen für Unternehmenskontakte/Fundraising, schreibt auf seiner Kontaktseite im Internet - nachzulesen beim Business Network XING -: Ich suche … Sponsoren für Parteitage und andere Parteiveranstaltungen. ({7}) So weit, so gut. Und weiter: Ich biete direkten Zugang zu Gesprächspartnern in Parteispitze und Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN … ({8}) Thomas Strobl ({9}) „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, heißt es in der Bergpredigt, Kollege Winkler. ({10}) Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, auch Ihnen wäre zu empfehlen, sich etwas sachlicher und ruhiger zu verhalten. Die SPD in Sachsen schreibt für jedermann nachlesbar: Unser Angebot an Sie: Als Sponsor der SPD Sachsen möchten wir Ihnen die Gelegenheit geben, in direkter und gezielter Weise mit Ihrer Ziel- und Kundengruppe in Kontakt zu treten. Machen Sie auf sich aufmerksam! Leistungen und Sponsormöglichkeiten im Überblick: Und dann heißt es unter einem der vielen Punkte: Vermittlung exklusiver Gesprächspartner auf Veranstaltungen ({11}) Die Beteiligung für Sie als Sponsor richten wir ganz individuell nach Ihren Wünschen aus. ({12}) Gustav Heinemann war Mitglied der SPD. Er hat gesagt: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, vergisst meist, dass drei Finger derselben Hand auf ihn selber zeigen. ({13}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ob und welche Regeln wir brauchen, lassen Sie uns das sine ira et studio miteinander besprechen. Aber lassen Sie uns keinen billigen Jakob für den Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen daraus machen, ({14}) sondern folgen wir dem Rat des Bundestagspräsidenten, mit zeitlichem Abstand ganz nüchtern miteinander zu schauen, ob wir gesetzgeberischen Änderungsbedarf haben und welche gegebenenfalls neuen Regeln wir brauchen. Danke fürs Zuhören. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Michael Groschek spricht jetzt für die SPD-Fraktion. ({0})

Michael Groschek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004044, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie hätten es wohl gern, meine Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, dass wir mit Ihnen durch den Nebel stapfen. Wir lassen aber weder einen Eintopf kochen, noch gestatten wir den Blockparteierben, mit dem Finger auf die Linke zu zeigen und von den eigenen Versäumnissen abzulenken. ({0}) Von Ihnen war kein Wort zur Sache zu hören. Worum geht es? Es geht darum, dass die Menschen draußen im Lande den Eindruck haben, es sei politischer Winterschlussverkauf in Dresden, Düsseldorf und Berlin, und zwar durch Sie verursacht. ({1}) Zunächst der Ratenkauf bei der Mövenpickerei und dann der Mietkauf von Politikern und Staatsämtern bei der CDU in Nordrhein-Westfalen. Immerhin ist der Landesvorsitzende der Stellvertreter von Frau Merkel. Dazu ist von Ihnen kein Wort zu hören. ({2}) Ich finde, man muss deutlich machen, welches System hinter all dem steckt. Die geistig-moralische Haltung bei dem Verkauf von Politik und Ämtern ist, dass der Staat als Beute begriffen wird. Sie wollen den Staat zur Beute machen. ({3}) Sie verwechseln den Besitz politischer Macht auf Zeit, legitimiert durch Wahlen, mit dem Recht auf Missbrauch politischer Macht. Das ist der große Unterschied. ({4}) Ihre Denke ist: Willkommen im Klub. ({5}) Man kennt sich, man gönnt sich etwas; uns kann keiner, wir können alles. Das ist der Geist, durch den aus bloßer Klientelpolitik knallharte Günstlingswirtschaft wird. Darüber wollen wir jetzt im Einzelnen sprechen. ({6}) Willkommen im Klub - „Platin-Club“, so nannte das die CDU in Nordhrein-Westfalen. Damit war systematische Abzocke gemeint. Pakete wurden geschnürt. Das Dabeisein bei Veranstaltungen gab es schon für 16 000 Euro. ({7}) Oder man konnte de luxe den „Platin-Club“ buchen. Dort gab es für 4 000 Euro den Oppositionsführer und für 6 000 Euro den Ministerpräsidenten, das Schoßsitzen bei Dr. Rüttgers und die erste Reihe bei Fernsehauftritten. Diese Haltung verurteilen wir, weil das nach Politikerkauf riecht. Das sagen wir ganz deutlich. ({8}) Sie müssten nicht das Grundgesetz zitieren - das ist keine Rezitierstunde -, ({9}) sondern Sie müssten gemeinsam mit uns anerkennen, dass immer gewiss sein muss, dass der Wert der Politik in einer Demokratie keinen Preis hat. Der Wert von Politik darf keinen Preis haben. ({10}) Das ist der Punkt. Deshalb haben Sie die politische Kultur ins Abseits geschoben und durch politische Dekadenz ersetzt. In diesem Zusammenhang ist Dekadenz der richtige Begriff. ({11}) - Herr Strobl, ich habe das Gefühl, dass Sie sonst nicht zuhören. Sie haben nämlich einen Baden-Württemberger vergessen, dessen Person höchstspannend ist. Er spielt immer wieder - nach dem Motto „Willkommen im Klub“ eine unrühmliche juristische Rolle. Es ist der hochgeschätzte Professor Lenz, einer der Ihren. Den kennen wir schon aus der Kohl’schen Spendensumpfpraxis. ({12}) Schon damals hat er versucht, den Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mundtot zu machen. Er hat sich bei jeder gerichtlichen Auseinandersetzung eine Niederlage abgeholt. Heute ist ausgerechnet dieser Professor Lenz der angebliche Kronzeuge und Gutachter dafür, dass die Vorgänge in der CDU in Nordrhein-Westfalen nicht zu beanstanden sind. Ein Freibrief dieses Mannes ist das beste Vorverurteilungsinstrument, das man sich nur vorstellen kann. So sieht es doch aus. ({13}) Zu einem anderen Thema: Aus den Opfern Täter machen, mit diesem System versuchen Sie, durchzukommen. Das war in Nordrhein-Westfalen wieder zu besichtigen. Nach der Videoüberwachungsaffäre wurde nicht etwa untersucht, wer in der Arbeitsteilung Staatskanzlei/ Parteizentrale CDU dafür verantwortlich ist, ({14}) sondern das Landeskriminalamt wurde dafür missbraucht, die Gewissensnöte des Informanten zu kriminalisieren. Das war Ihr Ansatz. Auch aktuell geht es nicht darum, dass Sie per Selbstanzeige bekennen, beim Mietkauf von Dr. Rüttgers gefehlt zu haben. Im Gegenteil: Sie erstatten Anzeige gegen die Aufklärer und versuchen, die Staatsanwaltschaft zu missbrauchen. ({15}) - Herr Strobl, Sie werden mich nicht mundtot machen. Die Perspektive ist, dass Sie einen Überschwappeffekt organisieren wollen, nach dem Motto: Wenn die Staatsanwaltschaft ermittelt, muss etwas schiefgelaufen sein. ({16}) Diejenigen, die sich dann noch trauen, einen Skandal auch einen Skandal zu nennen, sollen kriminalisiert und weichgekocht werden. Auch das werden wir nicht mit uns machen lassen. ({17}) Eine letzte Anmerkung: Dr. Rüttgers verfährt als Chef des Rüttgers-Klubs nach dem Prinzip „Er duckt sich, er drückt sich, er opfert die Lämmer und schweigt“. Das ist eines Ministerpräsidenten, eines Landes- und stellvertretenden Bundesvorsitzenden unwürdig. ({18}) Wir erwarten, dass er sich stellt und aufklärt und dass er nicht andere vorschiebt, die die Suppe auslöffeln sollen. Das ist der Maßstab für einen Ministerpräsidenten. Auch Bundestagspräsident Lammert ist in besonderer Weise gefordert. Er hat mit Blick auf die NRW-CDUPraxis gesagt: „Selten dämlich.“ Das ist richtig, aber das reicht nicht als Beurteilung. Warum? Gerade er, der oft Gast und Teilnehmer dieser dubiosen Verkaufsveranstaltungen war, müsste das größte Interesse an schnellstmöglicher Aufklärung haben. Deshalb appellieren wir an die Politiker- und Parlamentarierehre von Norbert Lammert: Sorgen Sie dafür, dass schnellstmöglich aufgeklärt wird. Die Dunkelmänner in Düsseldorf müssen enttarnt werden. Das ist das Gebot der Stunde. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Stefan Ruppert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Meine Kolleginnen und Kollegen von der SPD, welch gesteigertes Interesse Sie an einer sachlichen Argumentation haben, zeigt schon die Auswahl Ihrer Redner. Sie stellen den Generalsekretär der im Wahlkampf befindlichen SPD NRW hier auf, der mit großer Lautstärke fleißig auf die an den Vorgängen der vergangenen Wochen Beteiligten einhackt, ohne eine einzige sachliche Äußerung zu dem Thema zu machen, die uns in der Sache irgendwie weiterbringen könnte. ({0}) Uns ist eine sachliche Diskussion wichtig - manch heuchlerisches Wort ist hier schon gefallen -, die dazu führen könnte, dass wir die Transparenz als oberstes Gebot der Parteienfinanzierung weiter stärken. Eine sachliche Diskussion ist notwendig und nicht solch billige und kleine Münze im Vorfeld von Wahlen, die uns am Ende alle in unserer demokratischen Legitimation beschädigen wird. ({1}) Warum warten Sie denn nicht ab, was Herr Lammert zu dem Vorgang sagt? Er hat eine Prüfung angekündigt. Frau Merkel hat sich ebenfalls geäußert. Am Ende dieser Prüfung wird ein ganz sachliches Ergebnis stehen. Dieses Vertrauen habe ich. Dann können wir uns darüber unterhalten, was wir damit machen. ({2}) Wir als FDP würden gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen, aber, wie gesagt, in einer anderen Tonlage. Eine so aufgeheizte Atmosphäre erschwert das. Was Sie machen wollen, ist, pure Symbolpolitik an die Stelle von sachlichen Lösungen zu setzen. ({3}) Die Parteienfinanzierung in Deutschland ist im internationalen Vergleich rigide. Wir wollen - das hat Herr Buschmann richtigerweise gesagt - keine Staatsparteien, sondern die klassischen, gesellschaftlich getragenen Parteien als Mittler von politischer Willensbildung aus der Mitte der Gesellschaft. ({4}) Nur durch solche Parteien - das möchte ich Ihnen noch einmal sagen - sind breite Bevölkerungskreise hier vertreten. Sie schaffen es, die Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft herzustellen. Wenn wir uns nun fragen, wie wir mit Sponsoring umgehen wollen, dann müssen wir auch einmal klarstellen: Das steht heute schon in jedem Rechenschaftsbericht einer Partei. Tun Sie bitte nicht so, als ob wir die Dinge nicht aufführen würden. Das macht jeder: die Grünen, die SPD, die Linken, die FDP und die CDU genauso. ({5}) Wie gesagt: Es ist völlig richtig, dass man Staatsamt und Parteienfinanzierung nicht vermischen darf. Wenn wir schon genauer fragen, dann würden wir hier gerne auch noch einige andere Fragen stellen wollen, etwa, wie es mit den Einnahmen aus den Medienimperien der SPD aussieht. ({6}) Was kosten denn Anzeigen in der WAZ? Wer schaltet sie? Welche politischen Unterstützer werden so indirekt, anstelle von Mieten und Ständen auf Parteitagen, an der Parteienfinanzierung beteiligt? Es ist doch so: Sie erzielen aus den Unternehmensbeteiligungen mehr Einnahmen als die FDP an Spenden. ({7}) Ich habe Herrn Hunzinger und den damaligen Schatzmeister der Grünen gefragt, warum Joschka Fischer damals nicht 20 000 Mark annahm. Herr Hunzinger sagte: 19 999 Mark sollten es sein, damit es unterhalb der Grenze ist. Der Schatzmeister der Grünen hat das indirekt bestätigt. Hören Sie also auf, im Glashaus sitzend mit Steinen auf andere zu werfen. ({8}) - Seien Sie beruhigt, Sie waren in dieser Frage gar nicht angesprochen; bei Ihnen war ich vorhin. Es wäre aber auch interessant zu wissen, wie etwa die Abwrackprämie mit Parteispenden von Automobilkonzernen an Sie zusammenhängt. Diese Punkte werfen Sie uns immer vor, stehen aber bei Ihnen genauso im Raum. Wenn der Pulverdampf etwas verraucht ist, sollten wir zur sachlichen Diskussion zurückkommen. ({9}) Am Ende meiner Rede noch etwas zu den Linken. Herr Buschmann hat zum SED-Parteivermögen schon das Nötige gesagt. ({10}) Sie legen solch eine Intransparenz an den Tag, dass Sie sich ja noch nicht einmal trauen, ein Programm aufzuschreiben. ({11}) Wer soll für diesen Irrsinn spenden, von dem keiner etwas Genaues weiß? Alle denken, dass die Maske fällt, wenn man ein Programm aufschreibt. ({12}) Ein Letztes. Wer, wie am Freitag letzter Woche, den kalkulierten Rechtsbruch hier im Parlament plant - Frau Enkelmann, Sie haben gesagt: Ja, wir wissen, das dürfen wir nicht, aber manchmal muss man eben zu anderen Mitteln greifen -, ({13}) der sollte etwas stiller sein, wenn es um Fragen von Moral im Umgang von Parteien und Fraktionen untereinander geht. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak von der Fraktion Die Linke. ({0})

Halina Wawzyniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004185, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als ich vor einem halben Jahr in den Bundestag gewählt wurde, hätte ich nicht gedacht, dass ich hier so häufig reden muss, ({0}) und das nur, weil ältere Herren zu blöd sind, mit Geld umzugehen. ({1}) Herr Wellenreuther, man sollte vielleicht etwas mehr lesen als Überschriften. Ich verstehe ja, dass Sie ein Problem mit der Gründung der neuen Linken haben. ({2}) Das, was Sie angesprochen haben, war eine Unterstützung des Wahlkampfes der WASG, weil die Linke nicht angetreten ist. Dies war im Rechenschaftsbericht der WASG nicht aufgeschrieben worden. Machen Sie daraus keinen Skandal. ({3}) Nun will ich aber nicht - ich bin ja ein freundlicher Mensch - mit gleicher Münze zurückzahlen. Deswegen will ich der in Verruf geratenen CDU jetzt nicht voller Misstrauen unterstellen, sie setze das Sponsoring zur Umgehung des Parteiengesetzes absichtsvoll ein. Niemals. Es wäre ja absurd, anzunehmen, dass ausgerechnet Sie so handeln würden wie Kohl, Koch und Kanther. ({4}) Das würde im Übrigen auch die FDP nicht zulassen, die mit Sicherheit gelernt hat aus Lambsdorff, Möllemann und Rexrodt. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es hat ja schon postpubertäre Züge, wie Sie hier auf die Linke reagieren. ({6}) Ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt - das wüssten Sie, würden Sie zuhören -, was mit dem SED-Vermögen geschehen ist. Ich nenne zwei Daten: 31. August 1991, sämtliche Konten gesperrt; 18. Juli 1995, Vergleich mit der Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien. ({7}) Was unser Programm angeht, da zweifle ich an Ihren Lesefähigkeiten; denn wir haben eines. Im Übrigen hat ziviler Ungehorsam diesem Parlament noch nie geschadet. ({8}) Nun kommen wir noch einmal zum Sponsoring. Dieses ist im Parteiengesetz mit seinen Publikationspflichten tatsächlich nicht vollständig geregelt. Dennoch sind die Leistungen des Sponsors steuerlich absetzbar und für ihn aufgrund der Werbewirksamkeit durchaus attraktiv. „Sponsoring ist“, so hat Professor Martin Morlok formuliert, „eine praktisch bedeutsame Form der Parteienfinanzierung“. Es ist aus Sicht der CDU eine durchaus zauberhafte Variante, ihre politisch fragwürdigen Machenschaften zu betreiben, ohne die in Verruf geratenen Parteispenden zu nutzen. Im Übrigen ist es mir völlig wurscht, ob die Ministerpräsidenten von NRW und Sachsen, Rüttgers und Tillich, käuflich und daher als Landesväter nicht tragbar sind oder ob sie nicht wissen, was ihre Partei hinter ihrem Rücken veranstaltet. Am Ende gilt nur eines - der Bundestagspräsident hat recht -: Es ist selten dämlich. ({9}) Diese Art der Parteienfinanzierung ist nur ein Teil des Puzzles aus Geld, Macht und Politik. Abgeordnetenbestechung und Lobbyismus, Sponsoringleistungen an die Bundestagsverwaltung, die Entsendung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern großer Unternehmen und Verbände in die Ministerien - das alles macht das Puzzle komplett. Es ist genau dieses Puzzle, das zu Parteienverdrossenheit, Politikverdrossenheit und letztendlich zu Demokratieverdrossenheit führt. ({10}) Die Menschen haben nämlich das Gefühl: Nicht die Abgabe der Stimme bei der Wahl ist entscheidend. Vielmehr ist es so: Wer Geld hat, kommt an die Mächtigen in Politik und Staat heran und kauft sich die entsprechenden politischen Entscheidungen einfach. ({11}) Der Gedanke der Repräsentation in unserem politischen System wird damit ad absurdum geführt. Aber Sie stellen sich hierhin und beklagen ernsthaft, dass die Leute nicht mehr zur Wahl gehen. Meinen Sie denn im Ernst, die lassen sich von Ihnen an der Nase herumführen? Für wie dumm halten Sie die Menschen eigentlich? ({12}) Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf eingebracht, mit dem der Tatbestand der Abgeordnetenbestechung an das internationale Niveau angeglichen werden sollte. ({13}) Abgelehnt! Die Linke hat in der letzten Legislaturperiode einen Antrag eingebracht, um ein Lobbyistenregister einzuführen. ({14}) Abgelehnt! Wenn Sie das, was Sie sagen, ernst meinen, dann stimmen Sie diesem Gesetzentwurf bzw. Antrag, die wir erneut einbringen werden, einfach zu. ({15}) Meine Damen und Herren, Repräsentation bedeutet nicht nur Stellvertretung, sondern auch das Sichtbarmachen von Unsichtbarem, also Transparenz. Wir brauchen ein System der öffentlichen Finanzierung mit vollständiger Transparenz. Wir brauchen eine Kontrollinstanz, die durch gesetzliche Sanktionsmöglichkeiten gestützt wird. Transparenz verlangt auch eine systematische Berichterstattung und Rechnungsprüfung. Kontrolle erfordert eine starke Instanz, ausgestattet mit ausreichenden gesetzlichen Vollmachten, um zu überwachen und gegebenenfalls auch einen Staatsanwalt einschalten zu können. Wenn wir das alles machen, dann sind wir einen Schritt weiter. Alles, was dahinter zurückbleibt, führt weiterhin zu Politikverdrossenheit und damit auch zu einer geringeren Wahlbeteiligung. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer, den ich bitte, erst dann ans Podium zu kommen, wenn er aufgerufen ist. - Bitte schön, Sie haben das Wort.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte nur etwas Zeit sparen. ({0}) Ich glaube, es ist durchaus sachgerecht, darauf zu achten, dass unsere Debatten, auch wenn sie dadurch qualitativ teilweise vielleicht nicht sehr hochwertig sind, zügig durchgeführt werden. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es wäre zunächst einmal ratsam, in dieser Angelegenheit die politische Dimension von der rechtlichen Dimension zu trennen. Was die politische Dimension anbelangt, möchte ich gar nicht verhehlen, dass die Schreiben der CDU-Landesgeschäftsstellen in NordrheinWestfalen und Sachsen, um die es geht, durchaus unglücklich formuliert sind. ({1}) Allerdings möchte ich auch deutlich zum Ausdruck bringen, dass man sich gerade angesichts der heutigen Debatte des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es Ihnen von den Oppositionsfraktionen nicht darum geht, moralischen Grundsätzen in der Politik zum Durchbruch zu verhelfen ({2}) oder die politische Kultur in Deutschland zu verbessern, sondern dass es Ihnen in heuchlerischer und pharisäischer Art und Weise ({3}) um genau das Gegenteil geht. ({4}) Sie haben das Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die politische Klasse in Deutschland insgesamt korrupt, bestechlich und käuflich ist. ({5}) Damit erweisen Sie der politischen Kultur in Deutschland einen Bärendienst. ({6}) Indem Sie vom Mieten eines Ministerpräsidenten und von korrupten Politikern sprechen, versuchen Sie genau Stephan Mayer ({7}) das Gegenteil dessen, was, wie ich glaube, das Ziel in diesem Hause sein sollte. Wir sollten nämlich versuchen, den Eindruck zu vermeiden, wir seien wirklich käuflich. ({8}) Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Die meisten Abgeordneten - ich kann dies zumindest für die Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion bestätigen nehmen sich tagein, tagaus in kleinteiliger und teilweise mühevoller Arbeit der Sorgen und Nöten der Bevölkerung an. Sie nehmen an Veranstaltungen teil, ob hier in Berlin oder in ihrem Wahlkreis, ({9}) hören sich die Nöte an, ({10}) seien es die Nöte der Bürgerinnen und Bürger, seien es die Nöte der Wirtschaft, ({11}) und all das - um auch das zum Ausdruck zu bringen ohne Geld von den Bürgern zu nehmen. ({12}) Wir werden ordentlich bezahlt; über unsere Bezahlung dürfen wir uns nicht beschweren. Diese kleinteilige, mühevolle und sehr redselige Arbeit vieler Politiker auf Bundes- und Landesebene wird durch die pauschale Kritik, die Sie zum Ausdruck bringen, eindeutig diskreditiert. ({13}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, den CDULandesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen und Sachsen, dem Kollegen Rüttgers und dem Kollegen Tillich, ist hoher Respekt zu zollen, ({14}) und zwar dafür, dass sie umgehend und unverzüglich gehandelt, die Angebote des Sponsorings sofort zurückgenommen und diese Vorgehensweise eingestellt haben. ({15}) Ich stelle auch in aller Deutlichkeit fest: Weder Ministerpräsident Rüttgers noch Ministerpräsident Tillich ist käuflich. ({16}) Ebenso ist aus dieser Rücknahme der Sponsoringangebote kein wie auch immer geartetes Schuldeingeständnis zu konstruieren. Es wäre, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch rundweg naiv, anzunehmen, dass große politische Weichenstellungen, dass politische Grundentscheidungen durch ein kurzes Gespräch mit dem Ministerpräsidenten an einem Stand eines Parteitages oder am Rande einer Parteiveranstaltung beeinflusst würden. ({17}) Ich möchte aber insbesondere noch auf die rechtliche Dimension dieser Angelegenheit eingehen. Der Bundestagspräsident prüft jetzt, ob ein Verstoß gegen das Parteiengesetz vorliegt. Die dafür nötige Zeit sollte er sich meines Erachtens auch nehmen. Ich weise auch, lieber Herr Maurer, in aller Deutlichkeit darauf hin: Hier geht Qualität ganz klar vor Eilbedürftigkeit. ({18}) Es ist vollkommen verfehlt, anzunehmen, es ginge hier darum, die Zeit bis zur Nordrhein-Westfalen-Wahl am 9. Mai abzuwarten. Wir setzen hier auf Qualität, auf eine sorgfältige und intensive Prüfung. ({19}) Am Ende dieser Prüfung werden wir mit Sicherheit auch in diesem Haus darüber zu debattieren haben, ob es notwendig ist, das Parteiengesetz zu novellieren. Vor einem warne ich in aller Offenheit, nämlich vor falschem Aktionismus in der Form, jetzt vorschnell etwa das Parteiengesetz novellieren zu wollen und die Regelungen der Parteienfinanzierung, die sich aus meiner Sicht in den letzten Jahren wirklich bewährt haben, über Bord werfen und diese auf neue Beine stellen zu wollen. Wir sind in den letzten 60 Jahren gut damit gefahren, dass wir in Deutschland keine staatsfinanzierten Parteien hatten, und ich möchte dies beileibe auch nicht. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, das gab es ja leider in der DDR, dass alle Parteien am Tropf des Staates hingen. ({20}) Stephan Mayer ({21}) Ich möchte nicht, dass die Parteien am Tropf des Staates hängen. Es ist wichtig - auch das Bundesverfassungsgericht hat in vielen Entscheidungen darauf hingewiesen -, dass es eine Staatsfreiheit der Parteien gibt, dass die Parteien, indem sie sich um Spenden und Unterstützung bemühen müssen, sich natürlich auch attraktiv gestalten und das Band zwischen sich und der Bevölkerung erhalten müssen. ({22}) Der Erhalt dieses Bandes ist ganz entscheidend, und deswegen warne ich in aller Deutlichkeit davor, jetzt aufgrund dieses Sachverhalts, der bisher in keiner Weise als irgendwie rechtswidrig deklariert wurde, ({23}) die Regelungen unserer Parteienfinanzierung komplett über Bord werfen zu wollen. ({24}) Deswegen sollten wir die Überprüfung durch den Bundestagspräsidenten in aller Ruhe abwarten und dann, wenn wieder Sachlichkeit und Nüchternheit eingekehrt sind, die Angelegenheit bei Lichte betrachten, ({25}) wenn sich der gesamte Rauch verzogen hat. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({26})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Burkhard Lischka von der SPD-Fraktion. ({0})

Burkhard Lischka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004099, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, wenn ich Sie heute hier so von „redseliger Arbeit“ und „Transparenz“ reden höre, dann kommen Sie mir so vor wie der Verein „Gib Gummi“, der sich auf einmal für Tempo-30-Zonen einsetzt, nur weil es den Vereinsvorsitzenden aus der Kurve getragen hat. ({0}) Sie haben hier einen Haufen Nebelkerzen gezündet. Ich sage einmal als Neuling hier im Deutschen Bundestag: In diesen fünf Monaten habe ich wirklich vieles lernen müssen: über Hotellobbyisten, über Mövenpick-Spenden, ({1}) über Geld, das manchmal eben doch gewaltig zum Himmel stinkt. Vieles davon hat sich mittlerweile auch in den Köpfen der Bevölkerung festgesetzt, so etwa der Vorwurf der schamlosen Klientelpolitik. Viele Bürgerinnen und Bürger meinen seit den Mövenpick-Spenden tatsächlich, dass Politik in diesem Land käuflich ist. Das ist ein fataler Eindruck; er schadet unserer Demokratie. Aber dafür trägt Schwarz-Gelb die Verantwortung. ({2}) Das, was wir seit den Mövenpick-Spenden erlebt haben, ist noch nicht genug gewesen. Wir haben außerdem erlebt, dass sehr viel mehr zwischen Himmel und Erde bzw. zwischen Ruhr und Elbe zum Himmel stinkt: Ministerpräsidenten werden durch ihre Parteiapparate zum Geldanschaffen geschickt - Rent a Rüttgers, Politik am Wühltisch -, und das alles interessanterweise auch noch zu Ost-West-Regelsätzen: In Sachsen kostet ein Schwätzchen mit dem Ministerpräsidenten 4 000 Euro, während Sie im reicheren Nordrhein-Westfalen mindestens 6 000 Euro berappen müssen. Rüttgers und Tillich sind begehrte Mietobjekte und nur im Nebenberuf Ministerpräsident, denken viele Menschen in diesem Land inzwischen. ({3}) Das muss bei all den Nebelkerzen, die heute gezündet wurden, deutlich als das benannt werden, was es ist: Das ist politisch katastrophal, das ist moralisch verwerflich, und das ist ein Verstoß gegen das Parteiengesetz. Es ist deshalb schlicht und einfach illegal. ({4}) Eines hat Schwarz-Gelb in den ersten Monaten dieser Bundesregierung geschafft: Das Thema Parteienfinanzierung hat wieder Hochkonjunktur wie zum Ende der Kohl-Ära mit schwarzen Kassen und dem bösen Begriff der gekauften Republik. Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes da nahtlos anschließen, wo Sie Ende der 90er-Jahre aufgehört haben? Das wäre eine ganz seltsame Kontinuität. ({5}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Es ist nichts Anrüchiges dabei, wenn jemand einer Partei etwas spendet. Das tun viele Menschen erfreulicherweise, und das ist vollkommen in Ordnung. Es wäre falsch, wie der Kollege Maurer das gefordert hat, Sponsoring generell zu verdammen. Wer das tut, verfehlt den Kern des Themas. Es ist überhaupt nichts dagegen zu sagen, wenn der heimische Bäckermeister zum Sommerfest der Linken oder der CDU oder der SPD Brötchen mitbringt oder Grillkohle sponsert. Mit dem Täuschen und Tricksen, damit muss Schluss sein. ({6}) Und es muss Schluss sein mit Kopplungsgeschäften, die nach dem Motto laufen: Zahl was, dann leiht dir der gewählte Ministerpräsident sein Ohr. Solche Kopplungsgeschäfte sollte man in der Politik nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen. ({7}) Es geht um nicht weniger als um die Grundregeln der Demokratie: dass jeder Bürger, unabhängig von Status oder Geldbeutel, die gleiche Chance auf Einfluss und Mitsprache hat; dass der gewählte Landesvater auch dem sein Ohr leiht, der nicht mit einem dicken Bündel Geldscheine kommt. Gespräche gegen Geld sind nur der Anfang. Wer Geld zahlt, erwartet eine Gegenleistung. Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, ich glaube, Sie haben noch nicht verstanden, dass es in einer Demokratie keine Grauzone zwischen Geldzuwendung und Einflussnahme geben darf; dass gewählte Ministerpräsidenten ihre Zeit nicht verscherbeln und damit den Eindruck erwecken dürfen, dass Politik in diesem Land käuflich wäre. ({8}) Ich habe den Eindruck, dass nach fünf Monaten Schwarz-Gelb die politischen Sitten wieder einmal verlottern, zumindest an Rhein, Ruhr und Elbe. Das werden wir Sozialdemokraten Ihnen nicht durchgehen lassen. ({9}) Wir begrüßen nachdrücklich, dass der Bundestagspräsident in diesen Vorgängen ermitteln will. Ich sage aber: Er muss schnell ermitteln, er darf das nicht auf die Zeit nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen verschieben. ({10}) Dieses Thema darf man nicht auf die lange Bank schieben. ({11}) Dadurch würde man die Politikverdrossenheit vergrößern. Irgendwann werden die Bürger uns dann sagen, dass wir den Bundesadler besser durch eine Möwe ersetzen - das wäre der Anfang vom Ende. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde hat der Kollege Helmut Brandt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass uns heute diese Debatte beschert wird, folgt einem gewissen System - insbesondere der Linken, im Augenblick aber wohl der gesamten Opposition -, nämlich dem System, Sachverhalte zu skandalisieren. Anders als es der Titel dieser Aktuellen Stunde suggeriert, wird die Glaubwürdigkeit der Politik durch solch eine Handhabung gerade nicht gefördert. Das Gegenteil ist der Fall. ({0}) Ich persönlich - ich denke, die meisten Redner haben diese Auffassung bestätigt - halte die Spenden- und Sponsoringpraxis der Parteien generell für angemessen. Sie ist erforderlich, und sie entspricht im Übrigen den Vorschriften des Parteiengesetzes. ({1}) Nach § 24 Abs. 4 - Herr Ströbele, Sie schütteln den Kopf; es ist dennoch so - müssen Spenden von Personen und Firmen ausgewiesen und Einnahmen aus Veranstaltungen im Rechenschaftsbericht dargestellt werden. ({2}) Nichts wird verschleiert. Es gibt auch nichts zu verschleiern. Sie können gerne unsere Parteitage besuchen, ({3}) was viele Leute, auch unabhängige, gerne tun. Dann können Sie sehen, wer da als Sponsor auftritt. Die Stände sind genau zu erkennen, und sie sind im Programm auch alle benannt. Es gibt keine Heimlichtuerei oder Verschleierung. Ich gebe zu: Es gibt einen Punkt, bei dem die Grenze überschritten ist. ({4}) Das ist nämlich zweifellos dann der Fall, wenn ein Ministerpräsident oder ein Minister gegen Bezahlung sozusagen angeboten wird; das ist ganz klar. ({5}) - Herr Ströbele, Sie müssen mich zu Ende reden lassen. Das haben Sie doch auch für sich immer in Anspruch genommen. ({6}) - Das stimmt zwar auch, aber ich möchte ihm doch weiterhelfen. Ich bin ja bei der Resozialisierung. ({7}) Nachdem dieses Tun bekannt geworden ist, ist es sofort eingestellt worden. Ich muss ganz offen zugeben - das ist auch unstreitig -: Eine solche Vermischung zwischen Parteiinteressen und Regierungsämtern darf es nicht geben, wird es nicht geben und hat es auch nicht gegeben. Das ist nämlich das, was Sie suggerieren wollen. ({8}) Der Ministerpräsident hat solche Gespräche nie geführt, und ich muss Ihnen ganz offen und ehrlich sagen - ich komme ja zum Glück aus Nordrhein-Westfalen -: Ich kenne keinen Ministerpräsidenten in diesem Land wie Jürgen Rüttgers, der täglich das Gespräch mit Bürgern, Betriebsräten, Unternehmen und Verbandsvertretern sucht, um unser Land in diesen schwierigen Zeiten nach vorne zu bringen. ({9}) Wenn man über die Glaubwürdigkeit in der Politik diskutiert, was Sie ja gerne möchten, dann muss man auch die Frage stellen, ob die staatliche Parteienfinanzierung nicht generell einmal überprüft werden sollte und entsprechend geändert werden müsste. Für mich ist es unerträglich, dass vom Verfassungsschutz überwachte links- und rechtsextreme Parteien vom Staat Geld erhalten, solange sie nicht verboten werden. Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit würde es im Übrigen auch beitragen - das ist heute ja mehrfach gesagt worden; damit wende ich mich einmal an die Linke -, endlich einmal offenzulegen, was aus dem aus DDRZeiten stammenden Vermögen Ihrer Vorgängerorganisation, der SED, geworden ist. ({10}) Einmal abgesehen davon, dass bei Ihrer politischen Programmatik in einem freiheitlich-demokratischen Land wahrscheinlich kein Sponsor gefunden wird, kommen Sie aufgrund dieses Hintergrundes offensichtlich auch ohne Sponsoren gut aus. ({11}) Mein Appell an SPD und Grüne geht allerdings auch dahin, die eigene Praxis einmal zu betrachten und dann öffentlich darzulegen, wie es dort aussieht. ({12}) Herr Ströbele, zu den Grünen. Ich erinnere einmal beispielhaft an den Parteitag 2004 in Kiel, den die Deutsche Bahn kofinanziert hat, und darf an dieser Stelle einmal Ihren Bundesschatzmeister, Dietmar Strehl, zitieren. Er hat gesagt: Ich habe keine Probleme damit, so etwas mitzumachen, weil es natürlich auf solchen Parteitagen eine geniale Gelegenheit gibt. Die Leute kommen alle, und da kann man Gesprächsmöglichkeiten schaffen. Ich glaube nämlich, das ist eigentlich das Uransinnen der Politik. - Das ist der Originalton Ihres Bundesschatzmeisters. ({13}) - Sie haben sich hier ja schon oft durch Zwischenrufe bemerkbar gemacht. Ich komme jetzt auch zur SPD. Sie hat ja nun wirklich ganz erhebliche Einkünfte aus ihren Zeitungsverlagen. Eben wurde ja schon die mögliche Verknüpfung zwischen Anzeigen und Annoncen von Unternehmen und den SPD-Beteiligungen deutlich gemacht. ({14}) Ich will jetzt aber einmal auf den Vorwärts kommen, der ja bekanntlich Kamingespräche organisiert. Ehrengäste, Redner und Gesprächspartner waren die Granden der SPD. Ich darf aus einem Artikel in Spiegel Online vom 23. Februar 2010 zitieren, in dem ein regelmäßiger Teilnehmer dieser Kamingespräche zu Wort gekommen ist und gesagt hat, dass das eben keine sogenannten Kundenbindungsgespräche sind, sondern dass er das ganz anders erlebt hat: „Man wird nur eingeladen, wenn man etwas geleistet hat.“ Bevor man also mit dem Finger auf andere zeigt - das hat der Herr Kollege Strobl eben schon zu Recht gesagt -, sollte man wirklich bedenken, dass dann immer auch drei Finger auf einen selbst gerichtet sind. Lassen Sie mich am Ende dieser Aktuellen Stunde zum Schluss noch Folgendes zusammenfassend ausführen: Die Spenden- und Sponsorenpraxis der Parteien ist - ich habe es zu Beginn gesagt - wegen der Offenheit und aufgrund der Vorschriften des Parteiengesetzes nach meiner Auffassung kein Grund für eine Diskussion, sondern damit wird im Grunde genommen die Glaubwürdigkeit der Politik untermauert. Allerdings sehe ich schon Fehlentwicklungen, die auf einer Amerikanisierung der Partei- und Wahlkampffinanzierung basieren. Diese sollten wir frühzeitig erkennen und auch abstellen. Insofern mag diese Debatte doch einen Sinn gehabt haben. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Strobl hat einen Zwischenruf gemacht: Lassen Sie sich doch von dem Straftäter nicht unterbrechen! ({0}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Das entspricht nicht dem parlamentarischen Sprachgebrauch. Sie treten dort dem Kollegen persönlich zu nahe. Ich rüge diesen Zwischenruf. ({1}) Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung einer Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ - Drucksache 17/950 Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Michael Kretschmer von der CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Michael Kretschmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003572, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Enquete-Kommission soll für die Gesellschaft bedeutende Entwicklungen unabhängig vom Alltagsgeschäft beleuchten und analysieren. Deswegen ist es wichtig, dass bereits bei der Einsetzung ein breiter Konsens der politischen Parteien hier im Parlament herrscht. Das ist der Fall. Das wird für den Erfolg der Arbeit eine große Bedeutung haben. Ich freue mich sehr darüber, dass es uns von der CDU/CSU gelungen ist, mit den anderen Parteien - nicht nur mit dem Koalitionspartner - Einigkeit darüber zu erzielen, dass eine Enquete-Kommission zum Thema „Internet und digitale Gesellschaft“ notwendig ist, weil sich in unserer heutigen Zeit in der Tat sehr vieles verändert. Wir sollten zu den 17 Sachverständigen, die in Zukunft in dieser Enquete-Kommission mitarbeiten werden, einen 18. Sachverständigen gedanklich hinzunehmen: den sachverständigen Bürger. ({0}) Wir wollen bei dieser Enquete-Kommission eine breite Partizipation. Ich halte es - auch im Hinblick auf die Akzeptanz und das Ergebnis der Arbeit der Enquete-Kommission - für ganz wichtig, dass die Bürger mitgestalten können. Wir wünschen uns, dass die Bundestagsverwaltung diesen Gedanken offensiv aufgreift, dass es eine breite Diskussion in Blogs, Foren und auf andere Art und Weise geben kann, sodass die Arbeit von all jenen, die mitarbeiten wollen, im Netz verfolgt werden kann. Es ist schon ein erster Erfolg, dass wir nicht übereinander, sondern miteinander sprechen. Ich glaube, auch das ist ein wichtiges Signal für diejenigen, die sich für das Internet besonders interessieren. Wir wissen: Bereits heute sind 70 Prozent aller Internetnutzer fast jeden Tag online. Das Internet ist für den überwiegenden Teil der Gesellschaft etwas ganz Selbstverständliches geworden und findet im Alltag statt. Zugleich müssen wir uns klarmachen, dass das Netz eine Welt der verschiedenen Geschwindigkeiten ist: Natürlich gibt es eine Avantgarde der Internetnutzer; aber es gibt auch viele, die das Internet weit weniger nutzen, die es als Erleichterung des Alltagsgeschäfts sehen, beim Onlinebanking und -shopping, bei Onlinebuchungen oder -recherchen. Es gibt auch diejenigen, die sich mit klugem Hintergrund für eine Entschleunigung der Datenflut einsetzen. Allen gemeinsam ist, dass das Netz ein Teil ihres Lebens geworden ist. Deshalb müssen wir aufhören, zwischen dem wahren Leben und dem virtuellen Leben zu unterscheiden. Nein, das Internet ist ein Teil des Lebens, und das schon seit einer ganzen Weile. ({1}) Im Internet gelten auch keine anderen Gesetze. Persönlichkeitsrechte, Rechte auf Privatsphäre, Selbstbestimmung und Chancengleichheit gelten hier wie dort. Es ist eine staatliche Aufgabe, diese Rechte auch im Internet zu garantieren, zu schützen und zu fördern. Das mag im globalen Netz etwas schwieriger sein, weil die Komplexität höher ist; aber wir erwarten von dieser EnqueteKommission konkrete Anstöße, wie wir bei diesem globalen Medium mittelfristig weltweit zu gemeinsamen Standards kommen. Ich glaube, dass die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages auch international wahrnehmbar sein kann, wenn sie gute Vorschläge macht; das wünsche ich mir außerordentlich. ({2}) Wir wissen, dass Suchmaschinen immer intelligenter werden und gewaltige Sammlungen privater Daten organisieren. Auch hier brauchen wir besondere internationale Regeln für den Datenschutz. Ich wünsche mir, dass wir dies zu einem zentralen Thema der Enquete-Kommission machen. Hinzu kommt, dass jeder Mensch selbst für die Daten verantwortlich ist, die er ins Netz einstellt und anderen zur Verfügung stellt. Aus diesem Grund muss die Medienkompetenz ein großes Thema sein. Wir müssen früh und intensiv schulen, wie man mit diesem Medium umgeht. Wir können die Komplexität des Internets nicht verändern, aber wir müssen vermitteln und lehren, wie man mit dieser Komplexität umgeht, damit man sich im Internet genauso sicher bewegen kann wie auf unseren Straßen. Das muss zumindest unser Ziel sein. ({3}) Ich kann unseren Bundesinnenminister nur unterstützen, wenn er sagt - ich zitiere -: Jeder Einzelne muss die Wahl haben, wie er im Internet kommuniziert, ob er seine Identität preisgibt oder nicht. Es ist legitim und schützenswert, bestimmte Kommunikationsformen im Internet anonym oder unter einem Pseudonym zu nutzen. Das Internet ist eine große Chance für die Freiheit und die Demokratiebewegung in der Welt. Denken Sie daran, welche Bedeutung das Internet in autoritären Staaten wie dem Iran hat. Auch hier gilt es, diese Freiheit zu erhalten und zu fördern. Wir wünschen der Enquete-Kommission, dass sie intensiv arbeitet und regelmäßig Zwischenberichte verfasst und dass wir darüber auch in diesem Hause debattieren. Ich glaube, es ist notwendig, das digitale Zeitalter mit dieser Enquete-Kommission noch einmal neu zu bearbeiten und neue Antworten zu finden. Ich wünsche dabei viel Erfolg. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der SPD-Fraktion. ({0})

Lars Klingbeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dass wir heute im Bundestag die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ beschließen, zeigt, dass die netzpolitische Debatte kein Nischenthema mehr ist. Netzpolitik und die Herausforderung, die digitale Welt zu gestalten, sind mitten in der politischen Debatte angekommen. Ich habe die Hoffnung, dass mit der Einsetzung der EnqueteKommission diese Debatte auch endlich im Deutschen Bundestag ankommt. Der Grund für die Einsetzung der Enquete-Kommission ist sicherlich das persönliche Engagement einiger hier im Haus, und zwar parteiübergreifend. Der hauptsächliche Grund für diese Enquete-Kommission - auch das gehört zur Wahrheit dazu - ist allerdings, dass uns als Parlamentariern gerade im letzten Jahr vielfach verdeutlicht wurde, dass wir mit unseren Debatten nicht mehr auf der Höhe der Zeit waren, ({0}) dass sich gerade junge Menschen von dem abgewandt haben, was wir hier machen, und dass wir auch gemerkt haben, dass wir gerade die junge Generation mit vielen Entscheidungen nicht mehr erreicht haben. Wir haben diese Enquete-Kommission also vor allem denjenigen zu verdanken, die zu Zigtausenden eine Onlinepetition gegen die Netzsperren unterzeichnet haben. Wir haben sie denjenigen zu verdanken, die auf die Straße gegangen sind, um für Bürgerrechte im Netz zu kämpfen, und denjenigen, die sich jenseits der politischen Parteien engagiert haben. Lassen Sie uns das heute noch einmal deutlich betonen. ({1}) Die Politik hat Fehler gemacht. Lassen Sie mich zumindest für meine Partei sagen: Wir haben aus diesen Fehlern gelernt. Das Internet ist nicht ein Raum der Bedrohung, sondern der Chance. Auch die Aussage vom Internet als rechtsfreier Raum wird nicht durch Wiederholung richtig: Das Internet war nie ein rechtsfreier Raum, und genauso wenig darf es ein bürgerrechtsfreier Raum sein. Wir haben begriffen, dass der kompetente Umgang mit neuen Medien einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellt, und wir haben verstanden, dass sich Gesellschaft und Öffentlichkeit durch das Internet immer stärker online manifestieren und die Politik ihren Gestaltungsanspruch wahrnehmen muss. Ich betone: Netzpolitik ist keine Politik für eine diffuse Klientel, die wir Politiker gern als Community bezeichnen. Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik. Bei der Arbeit der Enquete-Kommission wird es darauf ankommen, genau das deutlich zu machen. In den vergangenen Monaten wurden von allen Parteien viele Hände in die Richtung derjenigen ausgestreckt, die sich lautstark gegen politische Fehlentscheidungen in der Netzpolitik gewehrt haben. Eine ausgestreckte Hand und ein kulturelles Bekenntnis zum Web 2.0 reichen aber noch lange nicht aus, um Vertrauen zu schaffen oder zurückzugewinnen. Ein funktionierender Twitter-Account macht noch keinen guten Netzpolitiker. Wenn die FDP-Fraktion in einer Pressemitteilung zur Einsetzung des Unterausschusses „Neue Medien“ schreibt: „Parlament unterstreicht seine Web-2.0-Kompetenz“, dann klingt das für mich eher bemüht als kompetent. Es reicht eben nicht aus, die Hand auszustrecken und ein Smartphone bedienen zu können. Es kommt darauf an, dass wir hier im Parlament substanzielle Lösungen erarbeiten. Es kommt darauf an, dass wir Rahmenbedingungen setzen, die das Leben, Arbeiten und Wirtschaften in der digitalen Gesellschaft ermöglichen. Das wird in den nächsten zwei Jahren unsere Aufgabe sein. ({2}) Die Zeit der Symbolpolitik muss vorbei sein. Natürlich werden wir kontrovers diskutieren. Natürlich wird es Widersprüche geben. Natürlich haben wir viele unterschiedliche Interessen zusammenzubringen. Klar ist schon jetzt: Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es muss aber vor allem darum gehen, dass wir als EnqueteKommission deutlich machen: Es gibt im Internet andere Logiken als in der Offlinewelt. Wir werden die Wertschöpfungsmechanismen aus der Offlinewelt nicht eins zu eins in die Onlinewelt übertragen können. Gleiches gilt für die Balance zwischen Bürger- und Freiheitsrechten. Diese neuen Logiken und neuen gesellschaftlichen Entwicklungen zu begreifen, zu erklären und umzusetzen, wird Aufgabe der Enquete-Kommission sein. Die SPD-Fraktion unterstützt den interfraktionellen Antrag zur Einrichtung der Enquete-Kommission gerade deshalb, weil alle aus unserer Sicht relevanten Themen aufgegriffen wurden. Die SPD-Fraktion hat in der Verhandlung darauf gedrängt, dass im Vergleich zum Ursprungsentwurf der gesamte Bereich der sozialen Absicherung einer digital geprägten Arbeitswelt mit auf die Agenda kommt. Es gibt wohl kaum ein Politikfeld, das sich durch Digitalisierung so verändert hat wie der Bereich der Arbeitswelt. Wir haben völlig veränderte Erwerbsbiografien und Erwerbsformen. Genau hierauf muss die Politik Antworten finden. Ich bin froh, dass es meiner Partei zusammen mit den Grünen gelungen ist, diesen Bereich in die Enquete-Kommission aufzunehmen. ({3}) Ich halte es für einen Fortschritt, dass wir in der Enquete-Kommission Themen wie Open Data oder OpenGovernment-Strategien diskutieren. Der Versuch von Barack Obama, in den USA mehr Transparenz und Offenheit in Bezug auf staatliches Wissen herzustellen, sollte auch uns beschäftigen. Seine Ansätze in den USA stehen für ein Staatsverständnis, das von Offenheit und Transparenz geprägt ist. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg auch in Deutschland gehen und dadurch mehr Offenheit und Transparenz schaffen. Ich habe einige Themenschwerpunkte skizziert und halte es für sinnvoll, dass wir in den nächsten zwei Jahren über all diese Fragen grundsätzlich diskutieren. Ich sage aber auch: Diese Enquete-Kommission darf nicht zur Ausrede werden, um drängende politische Fragestellungen auf die lange Bank zu schieben. Wir als SPD werden in den verschiedenen Ausschüssen, vor allem im Unterausschuss „Neue Medien“, die Debatten zu einer gesetzlichen Verankerung der Netzneutralität, zu Medienkompetenz, zu Grundrechtsschutz und zur Wahrung von Medienfreiheit und Medienvielfalt vorantreiben, weil der Handlungsbedarf im Hier und Jetzt besteht und wir uns nicht auf Vorschläge einer Kommission verlassen können, die erst in zwei Jahren vorliegen. Diese Enquete-Kommission darf nicht zum Ruhekissen der Regierung werden und so ermöglichen, dass drängende Sachverhalte der Netzpolitik um zwei Jahre vertagt werden. ({4}) Ohnehin erwarte ich mir von der Regierung eine stärkere Koordination ihrer netzpolitischen Arbeit. Chaos scheint der rote Faden dieser Regierung zu sein, auch in der Netzpolitik. ({5}) Von Ressort zu Ressort gibt es völlig unterschiedliche Richtungen. Auch wenn ich vielleicht die Forderungen der Internetwirtschaft nach einem Internetminister für zu hochgesteckt halte, so ist das Ansinnen hinter dieser Forderung doch berechtigt. Weil Netzpolitik Gesellschaftspolitik ist, sind unterschiedliche Ressorts, Ministerien und Staatskanzleien beteiligt. Mein Eindruck - zumindest in den letzten Wochen - war, dass all diese Akteure in völlig unterschiedliche Richtungen laufen. Es fehlt an Koordination, vor allem fehlt es aber an Konzeption. Man muss sich das einmal anschauen: Der Innenminister lädt zu einer Dialogreihe „Netzpolitik“. Die Familienministerin will ein Forum „Internet“ gründen. ({6}) Die Verbraucherschutzministerin ist damit beschäftigt, Google zu beschimpfen. Auch der regierungsinterne Streit nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung zeigt: Diese Regierung hat keine Linie in der Netzpolitik. ({7}) Wir brauchen ganzheitliche gesellschaftspolitische Ansätze, weil es uns nur dann gelingt, die Potenziale des Internets völlig auszuschöpfen. Wir alle reden von einer Konvergenz der Medien. Wir sehen aber auch, dass wir eine Konvergenz der Politik oder auch eine Konvergenz des Rechts noch nicht haben. Wenn man sich die Debatte um die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages anschaut, sieht man auch da: Wir streiten über Zuständigkeiten, erledigen aber nicht die eigentlichen Aufgaben, die uns die digitale Gesellschaft mit auf den Weg gibt. Lassen Sie mich zu meinem letzten Punkt kommen: zu den Chancen für eine demokratische und politische Partizipation. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zeiten einer hohen Politikverdrossenheit und katastrophalen Wahlbeteiligung das Internet durch diese Enquete-Kommission stärker aufstellen können, um Menschen an politischen Prozessen zu beteiligen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir durch eine intensive Nutzung des Internets für eine Revitalisierung der Demokratie sorgen können. Die ersten Ansätze, beispielsweise die Onlinepetition, hat es bereits gegeben. Ich plädiere dafür, dass wir auch im Rahmen dieser Enquete-Kommission neue Ideen ausprobieren, indem wir zum Beispiel Gesetzentwürfe und Papiere online zur Verfügung stellen und um Kommentierung bitten. Der Kollege Kretschmer hat gerade vom 18. Sachverständigen geredet. Ich plädiere ausdrücklich dafür, dass wir nicht nur die Sachverständigen und die Abgeordneten einbeziehen, sondern dass wir diese Enquete auch für die Bevölkerung öffnen und diese mitdiskutieren lassen. ({8}) Lassen Sie uns diesen Weg gehen. Lassen Sie uns unserem Auftrag gerecht werden. Lassen Sie uns die Erwartungen erfüllen, die in uns gesetzt werden. Lassen Sie uns vor allem dafür sorgen, dass diese Enquete-Kommission kein netzpolitisches Feigenblatt des Deutschen Bundestages ist. Wir haben viel zu tun. Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können. Herzlichen Dank für das Zuhören. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Höferlin von der FDP-Fraktion. ({0})

Manuel Höferlin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004057, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit der Einsetzung der EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“ schlagen wir ein neues Kapitel in der Netzpolitik auf. Als selbstständiges Gremium ist die Enquete-Kommission bewusst als Querschnittskommission ausgelegt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt; denn die Enquete-Kommission soll gerade nicht Tagespolitik machen. Sie entwickelt vielmehr langfristige Perspektiven in der Netzpolitik. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Sie ist gerade nicht dazu gedacht, tagespolitische Themen zu behandeln, sondern es handelt sich um ein langfristig angelegtes Projekt, in dem Netzpolitik in ihrer Gesamtheit behandelt wird. Die Enquete-Kommission unterscheidet sich damit grundsätzlich von den regulären Ausschüssen. Netzpolitik ist eine Querschnittsaufgabe, die in jedem Politikbereich ressortiert ist. Das politische Debakel der Vorgängerregierungen - dabei richte ich mich gerade an Ihre Seite - bei den Themen Netzsperren oder Vorratsdatenspeicherung zeigt uns, dass kein Ministerium allein die Antwort auf die Herausforderungen finden kann. Netzpolitik ist nicht nur Innenpolitik, nicht nur Rechtspolitik und nicht nur Wirtschaftspolitik, sondern eine Querschnittsaufgabe. Es ist gut, dass wir so viele kompetente Herren und Damen in den Ministerien haben, die sich dazu äußern können und wollen. ({0}) Wir werden in der Enquete-Kommission Fachpolitiker und Sachverständige aus den verschiedensten Bereichen haben. Sie werden gemeinsam die Antworten auf die Herausforderungen geben. Entscheidend ist aber auch die neue Transparenz, die wir in dieser EnqueteKommission installieren möchten. Der Deutsche Bundestag wird die Arbeit der Kommission auf einer Webseite begleiten und für Transparenz und Bürgernähe sorgen. Die einen reden, die anderen machen. Wir von der FDP-Bundestagsfraktion haben bereits eine Webseite online gestellt: open-enquete.de. Wir möchten die Community gerne einbinden, wir möchten sie befragen. Herr Kretschmer hat es schön gesagt: Der 18. Sachverständige kann bei uns teilhaben. Wir möchten deswegen auf dieser Internetpräsenz alle Interessierten zum Dialog einladen. Wir wollen die Menschen, die uns einen Input geben können, daran beteiligen. ({1}) Die Seite open-enquete.de wird von uns so begleitet, dass unsere Mitglieder in der Enquete-Kommission befragt werden können. Sie werden sich dort äußern können, und wir werden die Möglichkeit haben, Input von außen in die Enquete-Kommission aufzunehmen. Das ist genau das, was die Community von uns erwartet. Wir in der FDP-Fraktion setzen unser Web-Engagement damit konsequent weiter um. Ich freue mich sehr, dass der Deutsche Bundestag und die FDP-Fraktion mit der Netzgemeinde diesen Dialog suchen. Eines sollte uns allen klar sein: Wir müssen diesen Input und das Wissen der Community nutzen. Es handelt sich um ein kollektives Wissen und kollektive Vorschläge. Dieses Potenzial wollen wir nutzen, und dieses Potenzial müssen wir in die Arbeit integrieren. Ich freue mich außerordentlich auf die Arbeit in der Enquete-Kommission. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der Fraktion Die Linke. ({0})

Herbert Behrens (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004007, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck: Schon bevor die erste Sitzung der Enquete-Kommission stattgefunden hat, findet eine parteipolitische Profilierung statt. ({0}) Das spiegelt sich in dem Punkt wider, wie mit diesem Antrag umgegangen worden ist. Dieser Antrag wird von vier Fraktionen dieses Hauses eingebracht, nämlich von der CDU/CSU, von der SPD, von der FDP und von den Grünen. Man hat es trotz aller breiten Konsensbeschwörungen in den Einführungen, trotz der versprochenen Partizipation als Grundlage für diesen Auftrag und trotz der Zusage, die Community einzubeziehen, nicht für notwendig erachtet, auch die fünfte Fraktion hier im Hause einzubeziehen, um diesen breiten Konsens wirklich von vornherein zu demonstrieren. Einige Bemerkungen zur inhaltlichen Herangehensweise an die Enquete-Kommission. Die Linke steht in der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ an der Seite der Nutzerinnen und Nutzer. Vielleicht ist das der Grund, dass man sich uns gegenüber etwas spröde verhält. ({1}) Viele der Nutzerinnen und Nutzer werden uns zurzeit über Livestream zuhören oder unsere Beiträge über Netzpolitik.org oder auch in Twitter-Feeds nachvollziehen und verfolgen, was wir dazu zu sagen haben. Uns geht es zudem bei der Mitarbeit in dieser Kommission um ein modernes Urheberrecht, um einen verbesserten Datenschutz. Uns geht es insbesondere auch um die hier viel beschworene Transparenz, die aber offenbar nicht so alltäglich zu sein scheint. Es geht um demokratische Teilhabe im Netz. ({2}) Es ist für uns selbstverständlich, dass niemand unserer Meinung sein muss. Wir akzeptieren abweichende Einschätzungen und Positionen. Wir kämpfen aber mit der Kraft des Arguments für unsere Positionen und hören dabei auf die klugen Ratschläge aus der Netzwelt: von Profis und auch von Gelegenheitsnutzern aus dem Netz. Sie, werte Abgeordnete von CDU/CSU, SPD, FDP und den Grünen, haben die Anzahl der Sitze in der Enquete-Kommission erhöht. Alle Fraktionen haben mehr Sitze bekommen, alle, außer der Linken. ({3}) Sie verweigern sich den einfachsten demokratischen Spielregeln, so mein Eindruck. Sie wollen nicht einmal unseren Namen auf Ihrem Antrag zur Einsetzung der Kommission sehen. Das ist eine ziemlich kleinkarierte Entscheidung von Ihnen und auch keine schlaue. Es geht darum, sehr sorgfältig zu arbeiten, den Expertinnen und Experten zuzuhören, Argumente abzuwägen, bestehende Gesetze auf den Prüfstand zu stellen ({4}) und über den Tellerrand des Parlaments und über den Tellerrand der eigenen Erfahrungen zu sehen. Jeder von uns kann lernen, jeder von uns muss lernen, dass eine Politik der Ausgrenzung hier fehl am Platz ist. Das ist ein Fehlstart der Kommission. ({5}) Nehmen wir die Nutzerinnen und Nutzer einfach einmal ernst: die Onlineunternehmer; diejenigen, die Abmahnungen im Briefkasten haben; diejenigen, die nicht wissen, wie sie ihr Forum rechtssicher gestalten müssen; diejenigen, die diese Gesellschaft von einer analogen in die digitale überführen wollen; die Nerds, die Hacker, die Strategen und die vielen unbezahlten und aus Leidenschaft handelnden Netzpolitikerinnen und Netzpolitiker. Mit Letzteren sind nicht jene gemeint, die sich hier im Bundestag als solche bezeichnen, sondern das sind die wirklichen, die echten, die Betreiber und Nutzer von Blogs und Websites, die Nachrichten generieren, die Informationen über Wikileaks transparent machen, die diskutieren und sich kontroverse Debatten liefern. Die Linke begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung. Es ist ein erster kleiner Schritt auf dem Weg zu ihrer Abschaffung. Alles ständig im Netz zu überwachen, halten wir für mit dem Grundgesetz unvereinbar. Wir halten es auch für einen notwendigen Schutz der Nutzerinnen und Nutzer, dieses Abschöpfen von Daten zu verhindern. ({6}) Je stärker unser Leben digital geprägt wird, je mehr Daten gespeichert werden, desto mehr muss auch der Gesetzgeber darauf achten, die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Die Linke ist nicht nur gegen eine Aufweichung des Datenschutzes, sondern auch gegen den bestehenden Status quo der Schutzqualität. Wir brauchen mehr Datenschutz. Wir brauchen qualitativ höheren Datenschutz, und zwar einen Datenschutz, der zu der neuen Netzgeneration passt. Wir werden in der Enquete-Kommission zentrale Aspekte einer digitalen Gesellschaft bearbeiten. Dazu gehört ebendiese neue Qualität von Datenschutz, neue Formen politischer Beteiligung im Netz sowie Fragen der Zugänglichkeit von Wissen und digitalen Ressourcen. Dazu gehören insbesondere auch die Arbeitsbedingungen der im Netz Agierenden. Mit der Digitalisierung verändern sich ganze Branchen. Klassische Wirtschaftsbereiche kämpfen ums Überleben, neue entstehen. Der Linken ist es dabei besonders wichtig, die neuen Beschäftigungsverhältnisse zu reflektieren. Sittenwidrige Total-Buyout-Verträge für Journalistinnen und Journalisten zum Beispiel, neue Formen gemeinsamer Arbeit in Wikis und Clouds, soziale Standards in der Informationsgesellschaft und eine bessere kollektive Absicherung der Beschäftigten müssen auf den Tisch. In der Enquete-Kommission werden wir dieses Thema auf den Tisch legen und gründlich diskutieren wollen. ({7}) - In der Kommission kommen wir sicherlich auch dazu, den Begriff der Clouds, der Ihnen heute noch nicht bekannt ist, aufzuklären. ({8}) Die Antragsteller haben sich geweigert, in den Antrag, der heute beraten wird, den Komplex aufzunehmen, in dem es um Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen und die Verbesserung des Datenschutzes geht. Auch das ist ziemlich peinlich, meine Damen und Herren von den antragstellenden Fraktionen. Die Linke setzt sich für ein modernes Urheberrecht ein. Die Regelungen, die wir haben, taugen nicht für die digitale Welt. Es funktioniert nicht, einfach die Regelungen für analoge Medien zu übertragen und zu sagen, damit seien wir in der digitalen Welt angekommen. Das Urheberrecht ist aus dem Lot geraten, es verliert an Akzeptanz. Wir müssen uns dagegen wehren, dass das Urheberrecht zulasten der Urheber missbraucht werden kann. Wir müssen sicherstellen, dass Urheber abgesichert werden. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass die Nutzerinnen und Nutzer gesetzlich garantierte Freiheiten haben. Am Ende der Arbeit der Enquete-Kommission wird es einen Bericht mit Hunderten von Seiten geben. Die wenigsten von Ihnen werden diesen lesen. Lassen Sie uns deshalb parallel andere Kommunikationsmöglichkeiten nutzen; das ist schon angesprochen worden. Wir brauchen Transparenz, aber wir brauchen auch die Expertinnen und Experten sowie die Nutzerinnen und Nutzer. Wir wollen eine aktive Begleitung durch die Nutzerinnen und Nutzer in dieser Kommission, und zwar nicht nur als Konsumenten, sondern auch als Akteure; wir brauchen ihre Kommentare und ihre Kritik. Es geht einzig und allein darum, Antworten darauf zu finden, wie das Netz der Zukunft gestaltet werden soll, welche Leitplanken wir brauchen und welche schon heute nicht mehr taugen. Die Linke stellt die Nutzerinnen und Nutzer in den Vordergrund. Für sie gehen wir in die Kommission. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz von Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man spricht bei der Aufgabe, die wir jetzt zu bewältigen haben, nämlich der Digitalisierung, auch von der vierten Revolution. Nach der Entwicklung der Sprache, der Schrift und der Erfindung des Buchdrucks ist die Digitalisierung der vierte große gesellschaftliche Umbruch in diesem Bereich. Das sagt sich so leicht dahin, und man kann sicherlich in Nuancen von der Bewertung, ob der Digitalisierung diese Bedeutung beizumessen ist oder nicht, abweichen. Aber dass die Digitalisierung, also die Möglichkeit, digitale Inhalte in Sekundenschnelle unendlich oft und ohne Qualitätsverlust zu vervielfältigen, einen gesellschaftlichen Umbruch bewirken wird, sollte allen klar sein. Dass wir heute diese Enquete-Kommission gründen, ist Ausdruck dieser Erkenntnis. Die Digitalisierung und das Internet haben fundamentale soziologische und ökonomische Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, und zwar in praktisch allen Lebensbereichen. Die bisherige Politik in diesen Bereichen war Stückwerk; da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Wo auch immer ein Problem aufgetreten ist, hat man versucht, schnell irgendwie zu reagieren. Entsprechend unnachhaltig war leider auch die Netzpolitik dieses Hauses. Wir Grünen versprechen uns von dieser EnqueteKommission, dass dicke inhaltliche Bretter gebohrt werden. Deshalb glauben wir, dass sich heute ein Neustart in diesem Bereich vollzieht. ({0}) Netzpolitik ist kein Modethema, das in irgendwelchen Kaffeerunden bei Ministerien abgehandelt werden kann, sondern es ist eine der zentralen Arbeitsaufgaben der Politik im Jahre 2010. Deswegen ist die heutige Einsetzung der Enquete-Kommission richtig und wichtig. Wir brauchen konkrete Antworten - das ist schon vielfach angesprochen worden -, aber auch große Linien. Wir brauchen konkrete Antworten im Urheberrecht, wo sich drängende Fragen des Ausgleichs zwischen Urhebern, Verwertern und Nutzern stellen. Wie man aber zum Beispiel an der Diskussion über Computersucht feststellen kann, brauchen wir auch in anderen Bereichen große Linien. Einfache Antworten wie „Man darf nicht mehr so lange vor dem Computer sitzen“ verbieten sich, wenn man bedenkt, dass die Arbeitswelt von morgen, aber auch schon von heute sich immer stärker um das Internet und den Computer dreht. Natürlich sollen auch Kinder weniger am Computer sitzen. Sie sollen aber gleichzeitig Medienkompetenz vermittelt bekommen, und dazu gehört der Umgang mit dem Medium Computer. Noch vor kurzem hat man gefragt - Sie alle kennen diese Umfragen -: Wie viele Stunden bist du online? Wie viele Tage in der Woche verbringst du im Internet? Inzwischen ist Gesprächsthema, ob man sein Smartphone an Weihnachten auch einmal ausschalten sollte oder nicht. ({1}) Daran kann man erkennen, wie radikal und schnell diese Umbrüche sind. Die reale und die digitale Welt verweben sich; es gibt im Grunde keine Unterschiede mehr zwischen ihnen. Dieser Wirklichkeit muss die Politik in diesem Land endlich gerecht werden. ({2}) Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten: Das Internet ist eben kein rechtsfreier Raum. Es ist aber auch kein grundrechtsfreier Raum. Mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung wurde festgestellt: Die Politik hat hier zu kurz gegriffen. Wir haben über Verbote diskutiert, nicht über die Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung, über die Privatsphäre, über die Menschenwürde. Es ist eine ganz konkrete Aufgabe dieser Enquete-Kommission, sich der Verwirklichung der Grundrechte im Internet anzunehmen. ({3}) Für uns Grüne war wichtig, folgende Punkte in den Auftrag für die Enquete-Kommission hineinzuverhandeln: Die Fortentwicklung des Urheberrechts: Wer glaubt, in diesem Bereich in alten Mustern verharren zu können, der irrt; denn eine Revolution, also auch die digitale Revolution, ist immer mit Umbrüchen und Veränderungen verbunden. Diesen Herausforderungen müssen wir in der Enquete-Kommission und hier im Hohen Haus gerecht werden. Die Diskussion der Bedeutung und der Förderung freier Software und offener Standards: Gerade internationale Ansätze sind erforderlich; denn das Internet ist ein internationales Medium. Es gibt keine Landesgrenzen im Internet. Das muss die Politik begreifen, und das muss auch Grundlage dieser Enquete-Kommission und unseres Arbeitsansatzes sein. ({4}) Gleichzeitig brauchen wir Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen - auch sie müssen das Internet nutzen können - und Zugangsgerechtigkeit. Wir fordern die E-Partizipation. Dafür ist diese Kommission in der Tat ein guter Anfang. Wie wir da kommunizieren, darf keine Einbahnstraße - schicke Presseerklärungen und Berichte darüber, was die Enquete-Kommission am jeweiligen Tage verhandelt hat - sein, sondern wir müssen in diese Kommission auch hineintragen, was draußen diskutiert wird. Dazu gibt es einige interessante Ansätze, die wir hoffentlich so umsetzen werden, wie wir sie aufgeschrieben haben, also in Form von Foren und Ähnlichem. Meine Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass es gelungen ist, hier einen gemeinsamen Antrag zustande zu bringen. Ich möchte auf den Umstand eingehen, dass die Linke diesen Antrag nicht mit eingebracht hat. Ich darf für meine Fraktion sagen: Wir bedauern das. Es war Conditio sine qua non, über die Dinge zu diskutieren. Ich glaube, uns wäre kein Zacken aus der Krone gefallen, wenn wir die Linke einbezogen hätten. Gerade angesichts des Änderungsantrages, der minimale Änderungen an dem Programm für die Enquete-Kommission beinhaltet - wir werden ihm zustimmen -, sehe ich nicht, warum man dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen kann. ({5}) Ich hoffe, dass wir in der Arbeit in der Tat einen gemeinsamen Weg finden. Mit Blick auf die nächsten zwei Jahre halte ich für absolut notwendig, dass wir eine offene, progressive Diskussion über die digitale Revolution und ihre Auswirkungen führen. Wenn es nach uns Grünen geht, dann wird diese Enquete-Kommission der transparente und kreative Arbeitsspeicher des deutschen Parlaments. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen von der CDU/CSU-Fraktion.

Jens Koeppen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003789, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Internet ist das freiheitlichste und effizienteste Informations- und Kommunikationsforum der Welt und trägt maßgeblich zur Entwicklung einer globalen Gemeinschaft bei. Das ist schlicht und ergreifend der erste Satz in unserem Einbringungsantrag und auch der maßgeblichste. In der Tat, das Internet bietet eine Vielzahl von persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, informelle Selbstbestimmung und auch wirtschaftliche Betätigung. Das Netz ist nicht nur eine technische Plattform, sondern ist ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen gesellschaftlichen Lebens geworden. Wir leben mit dem Internet, wir leben im Internet, wir arbeiten damit, gestalten unsere Freizeit und unseren Alltag mit ihm. Die Bedeutung des Internets wächst rasant an und damit natürlich auch die Herausforderung für politisches Handeln. Ich nenne hier nur: Verbraucherschutz, Datenschutz, Jugendschutz, Urheberschutz. Natürlich wird ein solches Medium oftmals auch missbraucht; Internetkriminalität gibt es. Darauf müssen wir Antworten finden. Hier prallen offensichtlich zwei Welten aufeinander: die sogenannte virtuelle und die reale Welt. Wir müssen uns aber von dieser Vorstellung lösen; denn das Internet ist nicht virtuell. Es ist ganz real. Das ist unsere Gesellschaft; das sind wir. Es geht nicht um irgendeine unverstandene Technologie oder um irgendeine imaginäre Internetcommunity. ({0}) Der Zugang zu freiem Wissen und freier Information - das ist das kostbarste Gut, das wir haben. Es ist für uns teilweise schon so selbstverständlich geworden, dass wir oftmals nicht mehr in der Lage sind, es wertzuschätzen und zu verteidigen und zu schützen. Vor mir wurde ja schon angesprochen, dass zum Beispiel die Opposition im Iran ohne das Internet keine Möglichkeit hätte, auf ihre Lage aufmerksam zu machen, keine Möglichkeit hätte, die Familienmitglieder und die Freunde im Ausland zu benachrichtigen, keine Möglichkeit hätte, die Machenschaften dieser Diktatur öffentlich zu machen. Wir brauchen aber gar nicht so weit weg zu gehen. Ich bin im Osten dieser Republik aufgewachsen, und ich bin 1989 für Pressefreiheit auf die Straße gegangen. Für uns war es natürlich sehr wichtig, Zugang zu freier Information und freiem Wissen sowie, banalerweise, zu guter Musik zu erhalten. Das ging nur über grenzüberschreitende Medien wie Rundfunk und Fernsehen. Deswegen sehe ich das neue Medium Internet als eine unverzichtbare Bereicherung unserer globalen Gemeinschaft an. ({1}) Meine Damen und Herren, die digitale Welt kann man auch nicht binär nur in Null und Eins, in Schwarz und Weiß, in Falsch und Wahr auseinanderdividieren. Es ist auch kein Selbstzweck für trockene Verarbeitung von digitaler Information, sondern diese digitale Welt ist viel mehr. Sie ist bunt, sie ist vielfältig, sie ist informativ, sie ist voller Wissen und voller Unterhaltung. Unsere Aufgabe ist es nun erstens, dieses wertvolle Gut zu schützen und weiterzuentwickeln bzw. dafür zu sorgen, dass es weiterentwickelt werden kann, zweitens, Antworten auf die Herausforderungen zu finden, die dieses Medium mit sich bringt, und drittens, klare, nachvollziehbare und akzeptable Lösungen und Regeln zu finden. ({2}) Ich persönlich wünsche mir dabei mehr Technologieoffenheit, mehr Innovationsfreundlichkeit, Sachlichkeit, gute technische und rechtliche Lösungen. Das ist besser als Verteufelung und Gängelei. ({3}) In einer funktionierenden Gesellschaft - das ist ganz klar - braucht man Leitplanken. Diese Leitplanken müssen aber so ausgestaltet sein, dass man sich darin sicher und frei bewegen kann. Der Nutzer muss frei sein und sich sicher bewegen können, und zwar unabhängig von sozialer Herkunft, unabhängig von regionaler Herkunft und vor allen Dingen auch unabhängig von Fragen der Technik und von Fragen der Infrastruktur. Das Internet ist für mich ein Teil der Daseinsvorsorge. ({4}) Was haben wir als Gesetzgeber nun zu tun? Wie soll die Bestandsaufnahme ausgestaltet werden? Ich bin der Meinung, wir sollten die Enquete-Kommission nicht überfrachten. Wir können in ein, zwei oder drei Jahren nicht das lösen, was auf der Agenda steht. Wir wollen mit den Experten zusammen Denkansätze finden und aufnehmen. Wir wollen aufklären. Wir wollen informieren, und vor allen Dingen wollen wir Transparenz schaffen. Wir wollen kommunizieren, offen sein für Argumente und ohne Vorurteile und Scheuklappen vorgehen. ({5}) Wir wollen das in gelassener Ernsthaftigkeit sowie mit Offenheit und Sachverstand tun. Wenn uns das gelingt, dann haben wir am Ende etwas Gutes erreicht. Ich wünsche uns für die Enquete-Kommission alles Gute und lade alle ein, dort konstruktiv mitzuarbeiten. Vielen herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Aydan Özoğuz von der SPD-Fraktion. ({0})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich freue mich über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Es ist schon einiges dazu gesagt worden; das alles muss man nicht wiederholen. Als Familienpolitikerin möchte ich heute gleich zu Beginn unserer Arbeit den Blick auf den Bereich Kinder, Jugendliche und ihre Eltern, aber auch auf unser Bildungssystem im Umgang mit digitalen Medien richten. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Eltern von heute - wahrscheinlich sind auch einige hier - nicht von klein auf mit PC und Computerspielen groß geworden sind, Großeltern schon gar nicht. Für manche - ich weiß nicht, ob sich der eine oder andere daran erinnern wird - war durchaus schon die Einführung eines Anrufbeantworters revolutionär, und es fiel nicht wenigen schwer, sich mit diesen Apparaturen anzufreunden. Dies zur Basis, auf der wir arbeiten. Die Welt hat sich trotzdem weiterentwickelt. Heute ist es üblich, dass beispielsweise 11-Jährige über ein eigenes Profil bei schülerVZ verfügen. Computerverbot gehört zu den gängigen Erziehungsmethoden. Nach der KIM-Studie 2008 gehen inzwischen rund 60 Prozent aller 6- bis 13-Jährigen ins Internet. Über diese hohe Zahl ist schon gesprochen worden. Zwei Drittel von ihnen sind mindestens einmal pro Woche online, 17 Prozent sogar täglich. Das bedeutet aber auch - das ist mir wichtig -, dass eine nicht unwesentliche Zahl von Schülerinnen und Schülern in unserem Land keinen unmittelbaren Zugang zum Netz hat. Auch das sollte uns bei unserer Arbeit beschäftigen. ({0}) Auf eine, wie ich finde, etwas widersprüchliche Art nimmt die Schule Einfluss auf das Onlineverhalten. Die zweithäufigste Tätigkeit der regelmäßig ausgeübten Internetaktivitäten der Kinder ist die Suche nach Informationen für den Unterricht. Gleichzeitig aber schneidet Deutschland beim Einsatz digitaler Medien in den Schulen äußerst schlecht ab. Das hat eine repräsentative Umfrage der Initiative D 21 und von TNS Infratest belegt. Zurück zu den Kindern und Jugendlichen. Je älter diese werden, desto regelmäßiger und länger wird dann auch die Nutzung von Computer und Internet. Laut der JIMStudie 2009 verfügen immerhin drei Viertel der 12- bis 19-Jährigen über einen eigenen Computer oder Laptop, und mehr als die Hälfte, also 54 Prozent, kann vom eigenen Zimmer aus ins Internet gehen. Was bedeutet das aber für unsere Arbeit? Wir dürfen bei aller Kompetenz und aller Begeisterung, die wir haben, nicht vergessen, dass es viele Menschen, darunter viele Eltern, gibt und weiterhin geben wird, die über keine große Medienkompetenz verfügen - ich habe schon zu Beginn meiner Rede versucht, dies deutlich zu machen - und die zum Teil recht hilflos den eigenen Kindern gegenüberstehen. Die Nutzung findet längst nicht nur zu Hause statt, wie wir wissen. Wie können Eltern beispielsweise internetfähige Handys noch kontrollieren? Wie können sie da noch auf Gefahren hinweisen? Mit Verboten - das wurde hier angedeutet - werden wir da ganz sicher nicht weiterkommen. Unbestritten bietet das Internet viele positive Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Aber es kann nur der von der Informationsfülle des Internets profitieren, der auch die Fähigkeit hat, aus dem Angebot sinnvoll auszuwählen und verantwortungsvoll mit den eigenen Daten umzugehen. Es ist schon erschreckend, wie viele persönliche Informationen gerade Jugendliche im Internet über sich selbst preisgeben. Ein gängiges Beispiel - das werden viele von Ihnen schon kennen - ist das Vorstellungsgespräch. Es ist möglich, dass der Personalchef gegoogelt und eine Menge über den Jugendlichen im Internet gefunden hat, was er vielleicht gar nicht wissen sollte oder wissen muss. Und nicht zu vergessen: Das Internet vergisst nichts! Gefahren drohen auch von anderen Seiten, zum Beispiel beim sogenannten Grooming, also wenn sich ein erwachsener Täter in Chatrooms eine kindliche Identität gibt und getarnt Kontakt zu seinen Opfern aufnimmt, oder beim Cyber-Mobbing, das heißt, dass Einzelne im Internet ungeschützt an den Pranger gestellt werden. Ich finde es daher besonders wichtig - wie auch im Antrag formuliert wird -: Der Schutz der Persönlichkeit und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung muss auch im Netz gelten. ({1}) Das sind nur einige Aspekte. Ich habe leider nicht die Zeit, auf alles einzugehen. Aber es ist klar, dass wir auf die bestehenden Fragen schlüssige Antworten finden müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass schon die Kinder lernen, welche Konsequenzen es haben kann, Privates im Netz preiszugeben. Wir müssen dieses Bewusstsein und einen sparsamen Umgang mit den eigenen Daten fördern. Und wir müssen Eltern und Lehrer - das Wort „Lehrer“ möchte ich besonders unterstreichen - für die Gefahren sensibilisieren und die Vermittlung von Medienkompetenz bereits in Grundschulen zum Thema machen. ({2}) Alle bereits in diese Richtung steuernden Initiativen sollten von uns berücksichtigt werden; denn am Ende soll ein stringentes Gesamtkonzept stehen. Ich war mit einigen von Ihnen letzte Woche bei der Präsentation von fragFINN.de; das ist ein von der Bundesregierung gefördertes Angebot eines geschützten Surfraumes, der speziell für Kinder geschaffen wurde und in dem sich die Kinder frei im Internet bewegen können, ohne auf ungeeignete Inhalte zu stoßen. Diese Initiative hat bundesweit Schulen Kooperation und Information angeboten, aber nur in drei Bundesländern kam man auf das Angebot zurück. Drei von 16: Das ist eindeutig zu wenig. ({3}) fragFINN.de muss nicht das einzige Programm sein, aber ich finde, dass das fehlende Interesse eine gewisse Tendenz zur bislang mangelnden Sensibilität für das Thema aufzeigt. Wir brauchen kompetente Lehrerinnen und Lehrer und kompetente Eltern, dann haben wir auch kompetente Kinder und Jugendliche im Umgang mit den Medien unserer Zeit. Zum Schluss möchte ich noch an ein Schreiben erinnern, das die Minderheitenverbände Anfang des Jahres an die Fraktionsvorsitzenden richteten. Sie fordern darin die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf, bei der Einsetzung dieser Enquete-Kommission auch dem Schutz vor und der Verfolgung von Hasspropaganda im Internet Aufmerksamkeit zu schenken. Ich denke, dieser Aufforderung sollten wir unbedingt nachkommen. Ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Özoğuz, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Das Wort hat jetzt der Kollege Sebastian Blumenthal von der FDP-Fraktion. ({1})

Sebastian Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004013, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Behrens, Sie haben uns von der Regierungskoalition in einer Art und Weise angesprochen, sodass ich jetzt etwas von meinem Redeskript abweichen möchte; das mache ich aber gern. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Als ich eben gehört habe, wie Sie uns in einer losen Aneinanderreihung von Fachbegriffen Sachverhalte dargelegt haben, hatte ich, offen gestanden, nicht den Eindruck, dass sie überhaupt durchdringen, was Sie uns vortragen. Wenn wir über Medienkompetenz und Fachkompetenz sprechen, dann muss man feststellen: Das war schon einmal nicht der beste Beitrag. Uns als Koalition einen Fehlstart zu unterstellen, bevor wir begonnen haben, ist sicherlich auch nicht produktiv und tut der Sache nicht gut. Darauf können wir gerne verzichten. ({0}) Wir beraten heute über die Einsetzung einer EnqueteKommission „Internet und digitale Gesellschaft“. Wir als FDP-Fraktion haben dieses Vorhaben von Anfang an ausdrücklich unterstützt; denn wir sind der Meinung, dass diese Enquete längst überfällig ist. Sie ist deshalb überfällig, weil das Internet in der politischen Diskussion oftmals nur als Hort für illegale Inhalte oder als Hilfsmittel für kriminelle Handlungen diskreditiert wurde. Etwas mehr Sachverstand in der politischen Debatte hätte ich mir, offen gestanden, bereits in der Vergangenheit oft gewünscht. ({1}) Ich bin mir aber sicher, dass wir mit den neuen Kollegen aus allen Fraktionen, die zu uns gestoßen sind, in Zukunft einen besseren Kurs fahren können. Wichtig ist uns von der FDP eine grundsätzliche Feststellung: Es sind und bleiben Menschen, die als Nutzer in Einzelfällen kriminell oder illegal handeln, und dieser Umstand kann nicht zu einem Generalverdacht gegenüber dem Medium oder den Nutzern führen. ({2}) Die FDP möchte den Fokus und den Blickwinkel erweitern und auch darüber sprechen, welchen Nutzen das InAydan ÖzoðuzAydan Özoğuz ternet jedem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft zu bieten hat. Das bezieht sich auf den privaten Bereich genauso wie auf das berufliche Umfeld. Aus Sicht der FDP-Fraktion muss es darum gehen, die Chancen und die Potenziale des Internets in den Mittelpunkt zu stellen und die entsprechenden politischen Rahmenbedingungen zu schaffen. Auch dazu brauchen wir diese EnqueteKommission. Den vorliegenden Einsetzungsantrag brauchen wir vor allem, um sicherzustellen, dass wir uns folgenden konkreten Themen stellen: Wichtig ist, dass die Menschen sich ihrer Rechte und ihrer Verantwortung bei der Nutzung des Mediums Internet bewusst sind, aber sie müssen auch ihr Bewusstsein dafür schärfen, dass der Freiheitsgedanke dort zum Tragen kommt. ({3}) Wichtig ist ferner, dass wir im Bereich Medienkompetenz dafür Sorge tragen - da möchte ich gerne an die Ausführungen der Kollegin von der SPD anschließen -, dass die Nutzer eigenverantwortlich, bewusst und frei entscheiden können, wo sie welche Daten publizieren. Wir müssen aber auch das Bewusstsein dafür schärfen, welche Gefahren im Internet vorhanden sind, dass andere mit diesen Daten Missbrauch treiben können. An dieser Stelle stimme ich der Kollegin von der SPD völlig zu. Diesbezüglich treffen Sie die Linie der Freien Demokraten: Die Schaffung von Medienkompetenz ist eine wichtige Aufgabe, der wir uns in der Enquete-Kommission widmen möchten. Ich freue mich insofern auf die Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Enquete-Kommission. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Reinhard Brandl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004018, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Internet hat in den vergangenen 15 Jahren unsere Welt und unsere Gesellschaft verändert. Bis vor wenigen Jahren haben auch in der Politik viele eher skeptisch auf die Entwicklungen in der sogenannten virtuellen Welt geschaut. Heute ist klar: Es gibt keine Trennung mehr zwischen virtueller und realer Welt. Für fast 60 Prozent der Deutschen ist ein Leben ohne Internet nicht mehr vorstellbar. Es ist zum festen Bestandteil ihres realen Lebens geworden. Das Netz hat dabei einen grundlegenden Wandel hinter sich. Es ist gestartet als eine eher technische Informations- und Kommunikationsplattform. Heute ist es eine Lebensplattform, auf der grenzüberschreitend Menschen zusammenfinden. Im Internet, auf dieser Plattform, werden Freundschaften gepflegt und geschlossen, Interessengemeinschaften bilden und organisieren sich dort, und für Wissenschaftler und Unternehmen entstehen ganz neue Formen der Kooperation und der Wertschöpfung. Davon können alle Beteiligten profitieren. Es ist im Interesse eines starken Wissens- und Wirtschaftsstandorts Deutschland, dass wir vonseiten der Politik diese Entwicklungen unterstützen. ({0}) Die Bevölkerung will, dass wir uns dieses Themas vermehrt annehmen. Bei einer Umfrage des BITKOM haben 60 Prozent angegeben, dass die Internetpolitik in dieser Legislaturperiode ein wichtiges oder sehr wichtiges Thema sein soll. Gleichzeitig zweifelt aber eine Vielzahl der Menschen daran - 44 Prozent waren es in dieser Umfrage -, dass in der Politik der notwendige Sachverstand dafür existiert. Die Diskussionen der letzten Wochen haben gezeigt, dass der Staat seine Rolle in der Informationsgesellschaft noch nicht richtig gefunden hat. Es ist deswegen höchste Zeit, dass wir losgelöst vom Tagesgeschäft mit Experten und mit der Öffentlichkeit darüber nachdenken und diese Rolle genauer definieren. ({1}) Ich begrüße daher ausdrücklich den fraktionsübergreifenden Antrag zur Bildung dieser Enquete-Kommission. Wir werden darin natürlich auch die Debatten der letzten Wochen weiterführen. Das Internet ist ein freies Medium. Es lebt von der Freiheit. Wir wollen diese Freiheit auch bewahren. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen: Zur Freiheit gehört untrennbar ein Mindestmaß an Sicherheit. ({2}) Das Internet ist kein rechtsfreier Raum. ({3}) Der Staat muss auch in der Informationsgesellschaft Mittel und Wege haben, wirkungsvoll gegen Kriminalität vorzugehen. Das sind wir unseren Bürgerinnen und Bürgern schuldig. Dabei haben Fragen des Datenschutzes für mich oberste Priorität. Nicht der Staat, nicht ein Unternehmen, sondern der Bürger selbst ist Eigentümer seiner persönlichen Daten. ({4}) Auch im Internet gilt das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung. Wir müssen die Bürger rechtlich, technisch und bezüglich ihres Kenntnisstands in die Lage versetzen, dort dieses Recht durchzusetzen. An dieser Stelle ist nach meiner Ansicht der Unterschied zwischen offline und online, dass der Bürger online, um überhaupt teilhaben zu können, oftmals gezwungen ist, seine persönlichen Daten preiszugeben. Es gibt Bürger, die hier sehr freigiebig sind; das liegt primär in ihrer eigenen Verantwortung. Sie müssen aber auch über mögliche Konsequenzen ihres Tuns informiert werden. Auf der anderen Seite gibt es Bürger, die übervorsichtig sind und sich zum Beispiel nicht trauen, online ein Buch zu kaufen. Hier sind Staat und Wirtschaft gefordert, Vertrauen in die Sicherheit des Netzes zu schaffen. Denn nicht nur an dieser Stelle droht uns eine digitale Spaltung. Während das Internet für viele zur Lebensplattform geworden ist, sind es in der Gesamtschau nur 71 Prozent, die das Internet tatsächlich nutzen. Wir dürfen die anderen 29 Prozent nicht vergessen oder gar von gesellschaftlicher Teilhabe ausschließen. ({5}) Sie sehen: Es gibt viel zu tun. Wir werden den Auftrag des Deutschen Bundestages ernst nehmen und in den kommenden zwei Jahren mit Experten und der interessierten Öffentlichkeit intensiv daran arbeiten. Ich wende mich an dieser Stelle auch explizit an die Bürgerinnen und Bürger, die diesen Debattenbeitrag nicht live, wie die Kollegen oder die vielen Besucher hier, verfolgen, sondern ihn online über das Internet, zum Beispiel auf bundestag.de, abrufen. Dort wird in wenigen Wochen auch diese Enquete-Kommission mit einem Angebot vertreten sein. ({6}) Dort haben Sie die Möglichkeit, sich aktiv in unsere Arbeit einzubringen. Nutzen Sie auch diese Möglichkeit des Internets und der politischen Beteiligung. Wir freuen uns über jeden Beitrag. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der FDP-Fraktion. ({0})

Jimmy Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004148, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Einsetzung dieser EnqueteKommission ist ein Meilenstein für dieses Haus und für die Politik in Deutschland. Dort wird über sehr viele der gesellschaftlichen Herausforderungen auf dem Weg in die Kommunikationsgesellschaft des digitalen Zeitalters diskutiert werden. Gerade im Bereich Medienkonvergenz tritt dies besonders deutlich zutage. Medienkonvergenz ist ein eher dröges Wort für die dominierende Entwicklung in unserem Alltag. Es geht um Fragen wie: Was ist Fernsehen? Was ist Rundfunk? Was ist Telefonie? Ist YouTube ein Fernsehsender? Ist die Tagesschau eine Internetplattform? - Das gilt genauso für uns in diesem Haus; denn fast alle Kollegen sind mittlerweile im Internet aktiv. Sie sind tätig als Herausgeber und Redakteure von Texten auf der eigenen Homepage, als Reporter auf Twitter oder als Regisseure online gestellter Videos. Die Grenzen sind schon jetzt fließend, und die Entwicklung - Sie werden es ahnen ist längst nicht am Ende. Medienkonvergenz ist kein Endzustand. ({0}) Die Funktionen von heute noch getrennten Geräten wie Telefon oder Radio werden sich annähern und verschmelzen. Die Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten und der bessere Zugang zu Informationen werden auch einen positiven Einfluss auf unsere Demokratie haben. Es wird eine deutlich größere Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger am politischen Geschehen geben. Die Interaktion zwischen Politikern und Bürgern und auch zwischen Herstellern und Verbrauchern ändert sich gerade auf fundamentale Weise. Deshalb kann die Einsetzung dieser Enquete-Kommission nur ein Startschuss für die dringend notwendige politische Begleitung dieser Themen sein. ({1}) Ich freue mich ganz besonders, dass diesem Bundestag eine ganze Reihe neuer junger Abgeordneter mit Kompetenz angehört. Herr Kollege Klingbeil, Kompetenz beweist man jedenfalls nicht, indem man bei der Besetzung der Enquete-Kommission auf die Generation Münzfernsprecher setzt. Wir setzen auf Abgeordnete, die aus der Branche und der Community kommen. ({2}) Wir werden uns Gedanken machen, wie wir als Gesellschaft und als Gesetzgeber den technologischen Fortschritt und seine Auswirkungen dauerhaft beobachten und, falls erforderlich, regelnd eingreifen. Wir brauchen langfristig brauchbare Erkenntnisse und Positionen. Wir können diese Enquete-Kommission schließlich nicht in jeder Legislaturperiode neu einsetzen. Dieses Querschnittsthema verdient auch in diesem Haus seinen eigenen Platz. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Marco Wanderwitz von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Marco Wanderwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003655, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Internet ist eine Kommunikations- und Informationsplattform, die in der Geschichte der Menschheit bisher kein Vorbild kennt. Deshalb ist vieles, wie so oft bei neuen Entwicklungen, für erfreulich viele Menschen erst einmal sehr positiv. Sie gehen unvoreingenommen und positiv an die Dinge heran. Das ist, wie ich glaube, eine gute Sache. Aber neben dem Positiven und all den Potenzialen gibt es im Zusammenhang mit dieser neuen Informations- und Kommunikationsplattform auch Risiken und Gefahren. Diese will ich, wollen wir als Union nicht in den Vordergrund stellen, aber wir wollen sie auch nicht ausblenden. ({0}) Der Kollege Koeppen hat vorhin davon gesprochen, dass wir Leitplanken brauchen; das ist ein richtiges und schönes Bild. Wir brauchen ein Leitbild - ich hoffe, wir können uns möglichst einvernehmlich darauf verständigen -, und wir müssen hier und da gewisse Leitplanken setzen. Mehr oder weniger freiwillig - die Kollegin hat darauf schon hingewiesen - werden heute im Internet von vielen Leuten viele Informationen preisgegeben: beim Onlinebanking, beim Einkaufen oder wenn sie Fotos ins Netz stellen. Sie tun das manches Mal sicherlich auch, ohne zu wissen, was alles mit ihren Daten passieren kann. Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der Vermittlung von Medienkompetenz vorankommen, einerseits bei den jungen Leuten, andererseits aber natürlich auch bei denen, die nicht mit dem Internet groß geworden sind. Als Sie, Herr Kollege, gerade die „Generation Münzfernsprecher“ erwähnt haben, klang das für mich ein bisschen negativ. So war es sicherlich nicht gemeint. ({1}) Aber Spaß beiseite: Bei vielen neuen technischen Entwicklungen ging es immer darum, auch die vielen mitzunehmen, die nicht mit dem Internet groß geworden sind. Deswegen ist mir einerseits wichtig, junge Leute mit Medienkompetenz auszustatten, aber andererseits eben auch, diejenigen, die für sich bis jetzt noch nicht den richtigen Zugang gefunden haben, mit Angeboten zu versehen, damit sie den Einstieg finden und zumindest teilweise die Chancen des Internets nutzen können. ({2}) Es wurde bereits angesprochen, dass wir im Bereich Jugendmedienschutz eine ziemlich große Baustelle haben. Es gibt allerdings einige erfreuliche Entwicklungen. fragFINN ist schon genannt worden. Ich halte dies für ein tolles Projekt, auf dem man aufbauen kann und das durch die Bundesregierung entsprechend vorangetrieben wird. Aber da müssen wir eine ganze Menge mehr tun. Deshalb will ich diesen Bereich der Enquete-Kommission bei ihrer Arbeit mit auf den Weg geben. Ein Punkt, der bisher noch keine so große Rolle gespielt hat, obwohl ihn einige Kolleginnen und Kollegen angesprochen haben, ist der Schutz des geistigen Eigentums. Wir haben aufgrund vieler Debatten in diesem Hause gesehen, dass es hier durchaus eine Bandbreite an Meinungen gibt. Unsere Sicht ist bekannt. Wir sind der Meinung, dass im Bereich der neuen Medien und damit auch im Internet der Schutz des geistigen Eigentums - dort vielleicht mit anderen Mitteln - den gleichen Stellenwert haben muss wie außerhalb der neuen Medien, ({3}) weil uns ansonsten irgendwann ein Stück weit die Dynamik verlorengeht. Wenn wir das geistige Eigentum nicht schützen, dann werden diejenigen, die in diesem Bereich tätig sind, irgendwann wirtschaftlich an ihre Grenzen geraten, weil man dann von diesen Innovationen nicht leben kann. ({4}) Ein weiteres Thema, das wir in diesem Hause durchaus kontrovers diskutieren - ich will der Debatte hier nicht aus dem Wege gehen, sondern sie im Gegenteil offensiv ansprechen -, ist die Aussage, die Kollege Kretschmer vorhin traf: Im Internet gelten die gleichen Rechte. Ich will es etwas anders formulieren: Es gilt das gleiche Recht. Wir müssen uns mit der Frage beschäftigen, wie wir mit Kinderpornografie, Extremismusdarstellungen, Gewaltverherrlichung und dergleichen mehr umgehen, und hier zu ernsthaften Lösungen kommen. Bisher ist es uns noch nicht gelungen, im Internet auch nur ansatzweise einen vergleichbaren Schutz sicherzustellen wie außerhalb dieses Mediums. Das ist ein wichtiges Thema, bei dem wir meines Erachtens ein Stück weiterkommen müssen. Die Position, gegen alles zu sein, die so manch einer vertritt, ist mir jedenfalls etwas zu einfach. ({5}) Der Arbeitsauftrag an die Enquete-Kommission, wie ich ihn einmal definieren will, könnte lauten: Wie schaffen wir es, auf der einen Seite die Chancen zu nutzen, ohne übermäßig einzuschränken und zu gängeln, aber auf der anderen Seite auch die schützenswerten Rechte nicht völlig außer Acht zu lassen? ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/950 mit dem Titel „Einsetzung einer Enquete-Kommission ‚Internet und digitale Gesellschaft‘“. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Die Linke vor, über den wir zunächst abstimmen. Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/951 zu? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPDFraktion und Zustimmung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Jetzt kommen wir zum Einsetzungsantrag auf Drucksache 17/950. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dageVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms gen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abmildern - ALG I befristet auf 24 Monate verlängern - Drucksachen 17/22, 17/269 Berichterstattung: Abgeordnete Katja Mast Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Heike Brehmer von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({2})

Heike Brehmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004019, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir behandeln heute einen Antrag der Linken, in dem formuliert wird, dass der Einbruch am Arbeitsmarkt geringer ist, als befürchtet. Meine Damen und Herren von der Linken, worüber diskutieren wir dann heute? Unsere Maßnahmen zur Bewältigung der Krise haben Wirkung gezeigt. Der große Einbruch am Arbeitsmarkt, den einige Experten in düstersten Prognosen ausgemalt haben, hat bisher nicht stattgefunden. Dies belegen die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Saisonbereinigt sind die Zahlen angesichts der Krise sogar positiv zu bewerten. In Ostdeutschland liegt die Arbeitslosenquote gegenwärtig bei 13,7 Prozent. Insgesamt sind 3,6 Millionen Menschen arbeitslos. Dies ist Ausdruck einer Arbeitsmarktpolitik mit Augenmaß, an der vor allem die unionsgeführte Bundesregierung einen großen Anteil hatte und hat. ({0}) Unsere Arbeitsmarktreformen haben gewirkt. Vor der Krise nahm die Zahl der Arbeitslosen von über 5 Millionen auf knapp 3,2 Millionen ab. Im Februar 2010 sank die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern gegenüber dem Vorjahresmonat sogar um 3,5 Prozent. Das sind Erfolge, die Sie nicht wegdiskutieren können. ({1}) Diese Zahlen zeigen, dass wir in den zurückliegenden Monaten durch die Einführung der Kurzarbeiterregelung, durch die Absenkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages auf 2,8 Prozent und durch die Verlängerung der Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer für ältere Arbeitnehmer die richtigen Maßnahmen getroffen haben, um in der Krise Arbeitsplätze zu erhalten. ({2}) Ein Wort zur Kurzarbeiterregelung. Mit den Konjunkturpaketen I und II hat die unionsgeführte Bundesregierung die Weichen richtig gestellt. Daran haben Sie von der SPD mitgewirkt. ({3}) Die christlich-liberale Koalition hat im November letzten Jahres die Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld verlängert. Diese Maßnahme finanzieren wir aus dem Bundeshaushalt mit circa 1,5 bis 2 Milliarden Euro. Dadurch unterstützen wir in der Krise Arbeitnehmer und mittelständische Betriebe dort, wo Hilfe gebraucht wird. Die Bundesagentur für Arbeit hat jüngst mitgeteilt, dass gerade kleine und mittelständische Betriebe die Kurzarbeiterregelung nutzen. 15 Prozent der Unternehmen, die weniger als 20 Mitarbeiter beschäftigen, nutzen die Kurzarbeiterregelung. Die Hälfte der Betriebe, die zwischen 20 und 500 Mitarbeiter beschäftigen, nutzt die Kurzarbeiterregelung. Von den großen Unternehmen nutzt nur ein Drittel die Kurzarbeiterregelung. Die christlich-liberale Koalition wird die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Arbeitsplätze der Arbeitnehmer in den mittelständischen Unternehmen erhalten bleiben. ({4}) Eine Verlängerung der Arbeitslosengeld-I-Bezugsdauer würde die schon zu hohen Lohnnebenkosten weiter ansteigen lassen. Die Linke macht in ihrem Antrag keinen einzigen Vorschlag, wie diese Maßnahme gegenfinanziert werden soll. Eine Anhebung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages und somit die Gefährdung von Hunderttausenden sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen wären die Folge. ({5}) Im letzten Wahlkampf hat die Linke mit dem Slogan „Reichtum für alle“ geworben. ({6}) Im Gegensatz zu Ihnen müssen wir verantwortungsvoll handeln. Wir können keine leeren Versprechungen abgeben. ({7}) Mit der Verabschiedung des morgen auf der Tagesordnung stehenden Entwurfs eines SozialversicherungsStabilisierungsgesetzes werden wir Folgendes tun: Erstens. Die Beitragssätze und damit die Lohnnebenkosten werden stabilisiert. Zweitens. Die Bundesagentur erhält einen Bundeszuschuss, um ihre Mindereinnahmen auszugleichen. Drittens. Wir werden die Freibeträge für das Altersvorsorgevermögen von 250 Euro auf 750 Euro je vollendetem Lebensjahr erhöhen. Viertens. Außerdem stärken wir die private Altersvorsorge. Im Vergleich zu den Maßnahmen in anderen EU-Ländern haben unsere Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise Wirkung gezeigt. Darauf können und werden wir uns nicht ausruhen. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten sehr schnell wieder in den Arbeitsmarkt vermittelt werden. Ein Grund dafür ist die aktive Arbeitsvermittlung. Ich möchte diese Gelegenheit heute nutzen und mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BA und allen privaten Arbeitsvermittlern bedanken, welche mit großem persönlichen Einsatz tagtäglich Menschen wieder in Arbeit bringen. ({8}) Mit Blick auf die demografische Entwicklung in den nächsten Jahren können wir es uns nicht leisten, jüngere Arbeitnehmer zu Hause zu lassen. Wir brauchen dringend Fachkräfte, vor allem in technischen und naturwissenschaftlichen Berufen. Wir werden alles daransetzen und entsprechend dem Bedarf auf unserem Arbeitsmarkt verstärkt qualifizieren und ausbilden. Als nächste schwierige Aufgabe steht die Neuordnung der Jobcenter im SGB II vor uns. Dies ist eine große, wichtige und bedeutende Aufgabe. Die Betroffenen sollen ihre Leistungen ab dem 1. Januar 2011 in gewohnter Weise erhalten. ({9}) Wir lehnen den Antrag der Linken ab. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller von der SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Kurzarbeit als breitere und längere Beschäftigungsbrücke ist ein Erfolg. Ich sage das, weil das schnell in Vergessenheit gerät, und will auch daran erinnern, dass Gelb-Schwarz schlecht beraten war, sie vorschnell zurückzubauen. Und wer hat diese breite Beschäftigungsbrücke erfunden - ich frage einmal wie in der Werbung -, Frau Brehmer, die uns in Deutschland derart geholfen hat? Ich erinnere mich hier doch gerne an den ehemaligen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz. Der Wermutstropfen bei der Kurzarbeit ist natürlich, dass alle, die kurzarbeiten, Lohneinbußen hinnehmen müssen. Da ich glaube, dass es hier einige gibt, die sich in den Details nicht so gut auskennen, will ich auf eines hinweisen: Wenn wir über Kurzarbeit und Arbeitslosengeld I reden, besteht immer die Sorge, dass sich die Kurzarbeit nachteilig auf das Arbeitslosengeld auswirken könnte. Ich will daran erinnern: Für Kurzarbeiter, die Arbeitslosengeld I beziehen müssen, spielt die Höhe des Kurzarbeitergeldes keine Rolle, da das Arbeitslosengeld auf der Grundlage ihres ursprünglichen Einkommens berechnet wird. Lohneinbußen zählen hier also nicht. Das ist sehr wichtig. Ich setze mich gerne mit dem Antrag der Linken auseinander, insbesondere mit der ersten Forderung. Ich denke, wir haben morgen in der Debatte noch Gelegenheit, zu der Frage Stellung zu nehmen, wie haushaltsrelevant die zweite Forderung ist. Meine Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Sie übernehmen einen Vorschlag des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-BöcklerStiftung, greifen aus dieser klugen Analyse einen Teil heraus und machen daraus einen Antrag. Sie wollen die maximale Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einheitlich auf 24 Monate verlängern und das Ganze bis zum Jahresende 2012 befristen. Wer allerdings die kluge Analyse des Instituts gelesen hat, der weiß, dass dies in weitere Vorschläge eingebettet ist. Diese kommen in Ihrem Antrag nicht vor. Ich habe darin beispielsweise nichts zum Umbruch und zur Neuausrichtung des Arbeitsmarkts gelesen. Ein Schwerpunkt der Analyse ist: Wie sieht es mit den Branchen aus, in denen die Zukunft der Arbeit liegt? Wie sieht es mit anderen Branchen aus, in denen wir möglicherweise einen erheblichen Rückgang bei der Zahl der Arbeitsplätze zu verzeichnen haben? - Das Resultat ist - wir alle wissen das -: Wir brauchen Qualifizierung, Bildung und Weiterbildung, und zwar in den Branchen, die zukunftsträchtig sind. Dazu sagen Sie gar nichts. Sie kaprizieren sich auf die Bezugsdauer. Wenn man sich genauer mit Ihrem Vorschlag befasst, erkennt man, dass er erhebliche Ungerechtigkeiten birgt. Ich will das kurz darlegen: Am meisten profitieren jene Arbeitnehmer, die nur kurz Beiträge eingezahlt haben und damit über eine geringe Anwartschaft verfügen. Sie würden, folgte man Ihrem Antrag, sozusagen achtfach die Gewinner sein. Ältere Arbeitnehmer ab 55 aufwärts profitieren leider überhaupt nicht von Ihrem Vorschlag; denn die Bezugsdauer ist für sie bereits heute so geregelt, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern. Das halte ich nicht für ausgewogen; das kritisiere ich. In der Regel - darauf beziehen Sie sich - geht man von einer Beschäftigungsdauer von zwei Jahren aus; nur dann würde sich die Bezugsdauer verdoppeln. Ich finde den Vorschlag, den der DGB gemacht hat, viel interessanter. Dieser Vorschlag ist aus guten Gründen viel differenzierter. Demnach könnte es eine Lösung sein, ein befristetes Überbrückungsgeld zu zahlen, und zwar im Anschluss an den Bezug von Arbeitslosengeld I, für zwölf Monate und in voller Höhe des ALG I. Das käme - so der DGB - für jeden vierten oder fünften Arbeitslosengeld-I-Bezieher infrage. Ich finde den Vorschlag interessant. Er enthält auch eine gute Empfehlung für die Kostentragung: Steuerzahler und Arbeitslosenversicherung sollen die Kosten hälftig übernehmen. In Wirklichkeit geht es um ein anderes Thema - ich habe es schon angesprochen -: Wir müssen viel größeres Augenmerk auf Qualifizierung und Weiterbildung in Verbindung mit dem Bezug von Arbeitslosengeld I legen. ({0}) Da ist die Debatte in der SPD richtig; denn wir wählen anders als Sie - das muss ich leider sagen - eine größere Perspektive: Wir schauen über 2012 hinaus und schauen, wie die Arbeitswelt von morgen und übermorgen sein wird. Da gibt es eigentlich nur eine kluge Richtung: Der Schlüssel zu guter Arbeit für morgen und für alle liegt in Qualifizierung und Weiterbildung. Das ist unser Thema. Es lässt sich hervorragend mit all dem verbinden, was wir möglicherweise und klugerweise in Bezug auf das Arbeitslosengeld ändern wollen. Wir alle wissen, dass die betriebliche Weiterbildung in Deutschland ein Sorgenkind bzw. Stiefkind ist: Die Teilnehmerquote liegt bei nur 30 Prozent; das ist erbärmlich. Im europäischen Vergleich haben uns Österreich und Spanien längst überholt. Daraus folgt: Wenn wir darüber reden, wie wir uns gut aufstellen, müssen wir uns fragen, wie wir die Bereitschaft zur Weiterbildung fördern und was dabei der richtige Weg ist. Ich kann nur sagen: In dieser Hinsicht gibt es gute Unterstützung von Arbeitsmarktexperten des IAB, die auch sagen, dass wir die große Linie sehen müssen. Die SPD hat dazu eine kleine Faustregel aufgestellt. Sie heißt: zwei mal drei. Ich will sie gerne erläutern. Wir wollen für jede und jeden den bestmöglichen Einstieg in die Erwerbstätigkeit. In der Regel braucht man dafür drei Jahre. Dies soll unter bestmöglichen Rahmenbedingungen stattfinden. Wir alle wissen aber, dass Erwerbsbiografien nicht mehr so ungebrochen sind, wie das einmal war. Deshalb sind wir der festen Überzeugung: Wir brauchen im Erwerbsleben weitere drei Jahre, in denen Weiterbildung und Qualifizierung ermöglicht und gefördert werden. Das ist eine Perspektive für Männer und Frauen im Arbeitsleben. Diese Perspektive wollen wir entwickeln. ({1}) Die SPD hat in der Debatte dazu verschiedene Vorschläge entwickelt. Manche sagen: Wir wollen eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I nur dann gewähren, wenn der Bezug mit mindestens zwölf Monaten Weiterbildung verbunden wird. Ich glaube, das ist ein richtiger Einstieg; aber wenn wir ehrlich sind, reicht es nicht. Wir reden auch über Weiterbildung und Qualifizierung bereits im Job. Das heißt, es gibt viel zu tun für diejenigen, die in Arbeit sind und diese halten wollen. Es gibt viel zu tun für alle, die sich um betriebliche Weiterbildung kümmern. Das sind nicht zuletzt die Gewerkschaften, die mit vielen Tarifabschlüssen dafür gesorgt haben, dass wir den Einstieg geschafft haben. Ich weise abschließend darauf hin, dass sich auch dieses Haus darum kümmern muss; denn wir müssen feststellen, dass die Unternehmen das offenkundig nicht von alleine machen. Sie haben die SPD auf Ihrer Seite. Die gute Nachricht für alle Bezieher von Arbeitslosengeld I und II ist: Auch sie geben wir nicht auf. Auch ihnen gilt unser Angebot: Steigt ein in Qualifizierung und Weiterbildung! Das ist die Perspektive, für die wir eintreten. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Vogel von der FDP-Fraktion. ({0})

Johannes Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004179, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Sicht der FDP-Fraktion kann ich sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Wir werden Ihren Antrag aus fünf Gründen ablehnen. Der erste Grund ist, dass der Antrag von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die Arbeitslosigkeit wird weit weniger dramatisch steigen als gedacht. Das ist erst einmal eine gute Nachricht. Sie wissen so gut wie ich, dass sich der Einbruch am Arbeitsmarkt im zweiten Halbjahr 2009 stabilisiert hat und dass wir im Januar 2010 saisonbereinigt sogar einen leichten Zuwachs bei den Arbeitsplätzen hatten. Alle Prognosen geben Anlass zur Hoffnung, dass wir im Jahresmittel vielleicht sogar unter 4 Millionen Arbeitslosen bleiben werden. Aber statt sich darüber zu freuen, legen Sie veraltete Anträge vor. Ich glaube, solchen Anträgen sollten wir nicht zustimmen; wir sollten sie in die Tonne kloppen. Der Facharbeitermangel nach der Krise ist schon in Sicht. Das ist doch auch eine gute Nachricht. Ihr Hinweis auf die drohende Arbeitslosigkeit am Ende der Kurzarbeit geht insoweit ins Leere. Der zweite Grund bezieht sich auf Ihre Forderung, die Defizithaftung des Bundes wieder einzuführen. Entsprechend geringer wird auch der Finanzbedarf sein. Die von Ihnen genannten Zahlen sind längst überholt. Sie sprechen noch von einem Defizit von 55 Milliarden Euro von 2010 bis 2013. Die aktuelle Prognose geht von 41 Milliarden Euro aus. Im Übrigen muss die Finanzierbarkeit nicht über die Wiedereinführung der Defizithaftung gesichert werden; denn sie ist jederzeit gesichert. Sie wissen so gut wie ich, dass der Bund zu Liquiditätshilfen verpflichtet ist, aber eben als Darlehen. ({0}) Ich glaube, das ist eine gute Sache. Wenn Sie die Beratungen im Ausschuss verfolgt hätten, dann hätten Sie mitbekommen, dass selbst der Chef der Bundesagentur, Johannes Vogel ({1}) Herr Weise, gesagt hat, dass das Darlehen grundsätzlich die sinnvollere Lösung ist, ({2}) weil es dazu anhält, sinn- und maßvoll mit den Mitteln umzugehen. Das hat er so gesagt. In einer Jahrhundertkrise, wie wir sie gerade erlebt haben, in der durch das Kurzarbeitergeld zwangsläufig höhere Kosten auf die BA zukommen, muss man Sonderlösungen finden. Das haben wir als Regierung mit dem Sonderzuschuss getan. Darüber werden wir morgen im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz nochmals beraten. Das ist der Ausdruck dessen, dass wir in der Krise bereit sind, zu agieren. Aber der BA langfristig einen Freifahrtschein auszustellen und zu signalisieren, dass es egal ist, ob das Darlehen zurückgezahlt wird, weil der Bund für das Defizit haftet, ist ein völlig falscher Weg, der selbst von der Bundesagentur abgelehnt wird. Ein weiterer Punkt neben den falschen Voraussetzungen ist, dass wir es für besser halten, die Folgen der Krise zu verhindern, statt sie abzumildern. Ziel muss doch sein, Arbeitsplätze zu schaffen. ({3}) - Ja, Frau Pothmer, lassen Sie mich doch ausführen, was wir tun. - Sie signalisieren, dass die Arbeitslosigkeit nicht mehr so schlimm wäre, wenn wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängern. Ich halte das für ein völlig falsches Signal. Wir müssen vielmehr die bestehenden Arbeitsplätze sichern und neue schaffen, indem wir Wachstum fördern. Das ist allemal sinnvoller, als die Arbeitslosigkeit komfortabler zu gestalten. ({4}) Der dritte Grund, den Antrag abzulehnen, ist, dass er neue Ungerechtigkeiten produziert. Mit welcher Begründung wollen Sie, wenn die Arbeitslosigkeit alle Menschen gleich hart trifft, heute ein Jahr Arbeitslosengeld, morgen zwei Jahre und übermorgen wieder drei Jahre Arbeitslosengeld gewähren? Das nimmt Ihnen niemand ab. Das kann man auch niemandem vermitteln. Die Menschen würden das zu Recht als ungerecht empfinden; insofern kann man das nicht machen. Man kann niemandem vermitteln, warum jemand, wenn er zufällig in einem bestimmten Zeitkorridor arbeitslos wird, anders behandelt wird als derjenige, den dieses Schicksal davor oder danach ereilt hat. ({5}) Der vierte Grund ist, dass wir meines Erachtens die Mittel der Bundesagentur besser einsetzen müssen, ({6}) zum Beispiel für die Qualifikation. Sie haben selber ausgeführt, dass wir den Menschen Qualifikationsangebote machen sollten. Ich frage Sie: Woher wollen wir das Geld für die Qualifikation nehmen, wenn Sie den Beitrag für die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I verbraten wollen? ({7}) Dies gilt ferner für die Verbesserung der Vermittlung; denn auch das wird nicht kostenfrei gehen. Es geht schließlich auch um das Verhältnis zwischen Arbeitsvermittlern und Arbeitslosen. An der Stelle ist es ebenfalls nicht sinnvoll, das Geld für eine solche Maßnahme auszugeben. Und schließlich gilt es für einen niedrigen Beitrag. Ziel muss doch sein, den Beitrag langfristig stabil und niedrig zu halten, da das die Lohnnebenkosten unten hält und so neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Insofern atmet Ihr Antrag den völlig falschen Geist. Sie wollen nur Folgen abmildern. Sie machen sich zu wenige Gedanken darüber, wie wir aus der Krise herauskommen und langfristig Arbeitsplätze schaffen. Ich möchte darauf hinweisen, dass man, wenn man den parlamentarischen Beratungsprozess - Plenum, Ausschuss, Plenum - ernst nimmt, zur Kenntnis nehmen muss, dass der Antrag nicht nur von der Regierung, sondern auch im Ausschuss einhellig abgelehnt wurde. Alle Fraktionen außer der Ihren haben diesen Antrag abgelehnt. Ich glaube, man sollte diese große Allianz von Fachpolitikern ernst nehmen; es wird etwas dran sein. Insofern sollten Sie vielleicht darüber nachdenken, ob Ihr Antrag nicht ganz durchdacht ist. Wir von der Regierung werden richtigerweise andere Dinge unternehmen, um die Krise abzumildern und den Menschen Perspektiven zu geben. Als Erstes haben wir notwendigerweise die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes verlängert, weil es das richtige Mittel ist, um Menschen in Beschäftigung zu halten. Weiterhin setzen wir auf Wachstum, weil wir, liebe Frau Pothmer, nicht Hotels, sondern kleine und mittlere Unternehmen sowie Familien entlasten wollen. ({8}) Das ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Wachstum und auf dem Weg aus dieser Krise. ({9}) Wir wollen außerdem die Abgabenbelastung und die Steuerbelastung der Menschen niedrig halten; darüber machen wir uns Gedanken. Wir wollen die Steuern weiter senken und den Sozialstaat so ausgestalten, dass sich der Weg in den Arbeitsmarkt durch bessere Zuverdienstmöglichkeiten lohnt und dass nicht der Verbleib in der Arbeitslosigkeit befördert wird. Ich finde, Ihr Antrag ist für Ihre Verhältnisse insgesamt ungewöhnlich konsistent; das muss man sagen. Gewöhnlich ist allerdings in meinen Augen die vollkommen verfehlte Zielsetzung. Sie verschlimmern die Situation und wollen dies konsequenterweise durch die Wiedereinführung der Defizithaftung finanzieren. Der Unterschied ist: Johannes Vogel ({10}) Sie wollen die Arbeitslosigkeit verwalten. Wir wollen sie bekämpfen. Anstatt an den vermeintlichen Folgen herumzudoktern, nehmen wir die Herausforderung ernst und schaffen neue Perspektiven und neue Arbeitsplätze für die Menschen. Deshalb werden wir den Antrag ablehnen. Vielen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Sabine Zimmermann für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Vogel, welche Arbeitsplätze wollen Sie schaffen? Welche Arbeitsplätze haben Sie geschaffen? Das waren nur Arbeitsplätze im Minijobbereich und im Midijobbereich, also im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Das ist Ihr Slogan. Wir hatten beim Arbeitslosengeld I einst eine Bezugsdauer von 32 Monaten. Das ist mein erster Punkt. ({0}) Nun zu meinem zweiten Punkt. Frau Brehmer, wenn man Ihnen so zuhört, dann denkt man, die Welt sei in Ordnung. Ich muss Ihnen aber sagen, dass die Realität wesentlich anders aussieht. Sie müssen einmal in einen Betrieb gehen und sich sachkundig machen, wie es den Menschen geht. Ihr Slogan ist nicht „Reichtum für alle“, sondern „Mehr Armut in diesem Land“. Das ist bedenklich. ({1}) Was wir hier im Moment erleben, ist eine unerträgliche und verlogene Sozialhetze durch die FDP und ganz konkret durch Herrn Westerwelle. Daran sind auch Sie beteiligt, Herr Vogel. ({2}) Es werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem niedrigen Lohn gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit einem guten Tarif ausgespielt. Arbeitsplatzbesitzer werden gegen Erwerbslose aufgehetzt; das kann es einfach nicht sein. Der Grund ist aus meiner Sicht, dass Sie offensichtlich einen weiteren Sozialabbau vorbereiten. ({3}) Unser Antrag, der heute zur Abstimmung steht - ich gehe davon aus, dass Sie ihm alle zustimmen -, ({4}) geht natürlich in die andere Richtung. Wir wollen den Sozialstaat und die Arbeitslosenversicherung stärken, und das im Interesse von Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Worum geht es? Im Zuge der Wirtschaftskrise verlieren Hunderttausende ihren Job. Nicht wenige rutschen wegen fehlender Jobs nach einem Jahr vom Arbeitslosengeld I in Hartz IV. Das ist eine Politik, die Sie alle betrieben haben. Deshalb sind Sie von SPD, FDP, CDU/CSU und Grünen sich auch alle einig. Das ist bedenklich, und das werden wir als Linke verhindern. ({5}) Deshalb wollen wir die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I krisenbedingt - die Betonung liegt auf „krisenbedingt“ - von derzeit 12 Monaten auf 24 Monate verlängern. Ich nenne Ihnen ein ganz konkretes Beispiel. Ein Kollege, Metaller, 48 Jahre, aus Baden-Württemberg, arbeitete bis zum März letzten Jahres in einem Automobilzuliefererbetrieb. Die Krise hat ihn voll erwischt. Er besaß einen Arbeitsvertrag, der nur befristet war. Das Unternehmen hatte leichtes Spiel und hat ihn sofort entlassen. Die Aussichten auf einen neuen Job - das wissen Sie alle sind sehr schlecht. Bis sich die Automobilbranche wieder erholt, werden noch Monate vergehen. Das Fazit ist: Dem Kollegen droht jetzt der Absturz in Hartz IV; denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben, aber soweit sie nicht älter als 50 Jahre sind, erlischt ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach zwölf Monaten, und sie erhalten nur Arbeitslosengeld II. Genau das ist ungerecht, und dagegen wehren wir uns. ({6}) Diese Regelung ist ein Produkt Ihrer Hartz-IV-Gesetze; denn davor richtete sich die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I stärker nach der Zahl der Versicherungsjahre. Es sind keine Einzelfälle. Im letzten Jahr gingen monatlich 20 000 Menschen direkt vom Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II, und die Tendenz ist steigend. Dieser schnelle Absturz in Hartz IV verängstigt Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Unser Vorschlag ist einfach: Wir wollen die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I krisenbedingt von 12 auf 24 Monate verlängern. Machen Sie endlich eine Politik, damit die Menschen nicht ärmer werden! Nehmen Sie ihnen die Angst vor der Armut! Danke für die Aufmerksamkeit. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Brigitte Pothmer.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Brehmer, lieber Herr Vogel, die Krise auf dem Arbeitsmarkt ist entgegen dem, was Sie hier formuliert haben, noch lange nicht vorbei. ({0}) Die Arbeitslosenzahlen steigen, und sie werden in den nächsten Monaten noch weiter ansteigen. Das wahre Ausmaß der Unterbeschäftigung ist deutlich größer, als es die offiziellen Arbeitslosenzahlen vermuten lassen. In Deutschland fehlen im Moment mehr als 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. In dieser zugespitzten Situation müsste eine Regierung alles, aber auch alles tun, um vorhandene Arbeitsplätze zu sichern und die Entstehung neuer Arbeitsplätze anzuregen. ({1}) In dieser Situation müssten Sie alles, aber auch alles tun, um vor allen Dingen diejenigen bestmöglich zu unterstützen, die einen Arbeitsplatz suchen. Das heißt vor allem langfristige Qualifizierung. Was tut Ihr Außenminister, Herr Vogel? In dieser arbeitsmarktpolitisch schwierigen Situation bricht er eine Hetzkampagne gegen Arbeitslose vom Zaun. ({2}) Ich persönlich hätte eigentlich erwartet, dass die Kanzlerin wirklich mehr als eine Stilkritik äußert, dass sie sich ohne Wenn und Aber von ihrem Außenminister abgrenzt und sich vor die Geringqualifizierten und die Arbeitslosen stellt. Das hat sie nicht getan. ({3}) Ich kann daher nur sagen: Shame on you! ({4}) Was Sie in dieser Krise, die auch eine Strukturkrise ist, tun sollten, wäre, Konzepte für Innovationen und zukunftstaugliche Arbeitsplätze vorzulegen. Wir brauchten von Ihnen Konzepte für Aus- und Weiterbildung. Der letzte Tag der Krise - damit haben Sie, Herr Vogel, ausnahmsweise recht - ist der erste Tag des Fachkräftemangels. Aber, lieber Herr Vogel, wo bleiben denn Ihre Konzepte, um Fachkräfte tatsächlich vorzuhalten? ({5}) Frau Zimmermann, Sie liegen mit der Beschreibung der Arbeitslosenproblematik nicht ganz falsch. Aber Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, dass bei einer Problembeschreibung dieser Kategorie, der Sie nicht widersprechen, die einfache Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I eine richtige und angemessene Lösung ist. Die reine Verlängerung der Bezugsdauer passiver Leistungen ist keine hinreichende Antwort. Ich frage Sie: Was ändert sich qualitativ tatsächlich für einen 55-jährigen Arbeitslosen, wenn er sechs Monate länger Arbeitslosengeld I erhält? Das bringt ihn einem Arbeitsplatz keinen Millimeter näher. Was wir ihm anbieten müssen, ist Qualifizierung. Sie wissen genauso gut wie ich, wie schnell Arbeitslosigkeit dequalifiziert. ({6}) Ich finde es wirklich schade, dass Sie außer der Verlängerung der Bezugsdauer von Transferleistungen wenig anzubieten haben.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Pothmer, Frau Zimmermann möchte Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie sie zulassen?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank. - Frau Pothmer, nehmen Sie zur Kenntnis, dass wir hier nicht über die 55-Jährigen, sondern die bis 50-Jährigen reden, also die unter 50-Jährigen? Um diese Menschen geht es. Wenn jemand zum Beispiel zehn Jahre eingezahlt hat, bekommt er trotzdem nur zwölf Monate lang Arbeitslosengeld I. Uns geht es darum, dass dieser Mensch 24 Monate lang Arbeitslosengeld I beziehen kann. Ich frage Sie: Meinen Sie, dass es einem Menschen, der nach zwölf Monaten vom Arbeitslosengeld I sofort in Hartz IV abstürzt, besser geht, als wenn er 24 Monate Arbeitslosengeld I beziehen würde? Was denken Sie darüber?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Zimmermann, wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass nach Ihren Vorstellungen ein 55-Jähriger weniger lange Arbeitslosengeld I beziehen soll? Das meinen Sie doch nicht wirklich. Wir müssen dann auch dem 55-Jährigen länger Geld geben. ({0}) Frau Zimmermann, die Anstrengungen, die wir unternehmen müssen, bestehen darin, Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Die Umsetzung Ihres Vorschlages würde unglaublich viel Geld verschlingen und brächte uns einer qualitativen Lösung keinen Millimeter näher. Deswegen müssen unsere Anstrengungen in eine andere Richtung gehen, Frau Zimmermann. Das denke ich darüber. ({1}) Was ich an Ihrem Antrag übrigens auch problematisch finde, ist die Tatsache, dass die Grundsicherungsempfänger davon überhaupt nicht profitieren. Die wahre Herausforderung, der wir uns zu stellen haben, ist, Menschen nicht in Dauerarbeitslosigkeit zu entlassen. Was wir machen müssen, ist, sie für die Umsetzung neuer, innovativer Produktideen und eine ökologisch ausgerichtete Wirtschaft zu gewinnen. Ich will Ihnen sagen, worauf wir setzen. Wir Grüne setzen auf regionale und weiterbildungsorientierte Transfergesellschaften. Transfergesellschaften geben den Menschen eine finanzielle Absicherung und bieten ihnen Qualifizierung und Beschäftigung. Kurzarbeit und Transfergesellschaften sind arbeitsmarktpolitische Konzepte, die Beschäftigungsfähigkeit erhalten und wirksam vor einem Abgleiten in die Grundsicherung schützen. Die reine Ausweitung passiver Leistungen eröffnet überhaupt keine Perspektive. Das ist der Grund, warum wir Ihren Antrag ablehnen. Ich danke Ihnen. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Paul Lehrieder. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Wir haben vor einigen Wochen hier im Plenum über einen Antrag der Linkspartei zu der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beraten und diskutiert. Dieser Antrag datiert vom 10. Februar; das Urteil ist vom 9. Februar 2010. Man hatte den Eindruck: Die Tinte war noch nicht trocken, da haben Sie Ihren Antrag schon geschrieben, oder er war schon vorgefertigt. Heute ist es genau umgekehrt. Wir stimmen über einen Antrag vom 10. November 2009 ab, in welchem Sie ausführen: Der Einbruch am Arbeitsmarkt ist geringer, als befürchtet wurde. Dies ist auf die stabilisierende Wirkung des verlängerten Kurzarbeitergeldes zurückzuführen. Frau Kollegin Lösekrug-Möller hat bereits auf die Voraussetzungen dafür, die wir seinerzeit noch in der Großen Koalition schaffen konnten, hingewiesen. Nicht nur Olaf Scholz, sondern auch wir haben daran mitgewirkt. „Viele der derzeit von Kurzarbeit Betroffenen sind aktuell von Arbeitslosigkeit bedroht“, haben Sie am 10. November 2009 geschrieben. Mittlerweile dürfen wir feststellen, dass zum Glück - dafür gebührt den kleinen und mittelständischen Unternehmen ein ganz besonderes Lob - sehr viele Unternehmen das Instrument der Kurzarbeit länger und ausgiebiger nutzen, als wir es uns bei seiner Einführung vorstellen konnten. Allen Unternehmen gebührt Respekt, die uns trotz Auftragsflaute geholfen haben, das Tal nicht so tief werden zu lassen, wie es uns noch vor Jahresfrist alle Wirtschaftsinstitute prognostiziert haben. ({0}) Der eine oder andere ist vielleicht noch im Besitz alter Tageszeitungen von Januar und Februar 2009. Wenn man sich die damaligen Prognosen für die heutige Zeit anschaut, sieht man, dass uns kein einziges Institut unter 4 Millionen Arbeitslose gesehen hat. Durch die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes haben wir eine viel geringere Delle in der Wirtschaft und im Arbeitsmarkt erlitten, als wir es noch vor einem Jahr befürchtet haben. Jetzt legen Sie in Ihrer allumfassenden Weisheit einen Antrag vor, in dem Sie unter Punkt II.2 fordern, dass „die Finanzbasis der Bundesagentur für Arbeit unverzüglich und nachhaltig“ gestärkt wird. Was haben wir bei den Haushaltsberatungen denn gemacht? - Wir haben 16 Milliarden Euro nicht als Darlehen, sondern als Zuschuss gewährt; darauf hat der Kollege Kober bereits hingewiesen. Zu Ihrem Punkt II würden wir im Petitionsausschuss sagen: Abschluss, weil teilweise entsprochen wurde. Unter Punkt II.1 fordern Sie, unverzüglich „einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für alle Anspruchsberechtigten befristet bis 2012 auf 24 Monate erhöht“. Schauen wir uns doch einmal die jetzige Rechtslage an. Derzeit bekommt ein 58-Jähriger bis zu 24 Monate ALG I, wenn er 36 Monate Vorversicherungszeit in den letzten fünf Jahren hat. Für einen 58-Jährigen bringt Ihr Antrag also schon einmal gar nichts. Hinsichtlich der 50- bis 55-Jährigen haben Sie, Frau Kollegin Zimmermann, ausgeführt, dass wir ihnen die Angst vor der Armut nehmen sollen. Ich frage Sie: Ist einem 50-Jährigen die Angst vor der Armut genommen, wenn er ein Jahr länger ALG I bezieht, oder ist ihm die Angst genommen, wenn er eine Chance hat, wieder einen Job zu bekommen? Das Geld, das Sie in die Verlängerung der ALG-I-Bezugsdauer stecken wollen, müssen wir - auch darauf hat die Kollegin Lösekrug-Möller zutreffend hingewiesen - woanders wieder einsparen. Wir können den Menschen doch nicht im Gegenzug ein Stück weit die Vermittlungstätigkeit vorenthalten und statt Arbeit Arbeitslosigkeit finanzieren. Diese Entwicklung, Frau Kollegin Zimmermann, geht in die falsche Richtung. ({1}) Deshalb können, wollen und werden wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Die nächsten Monate werden zeigen, dass wir gerade die Facharbeiterqualifikation von älteren Menschen ganz anders zu betrachten haben, als es in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Wir werden froh sein, wenn auch ältere Menschen in Lohn und Brot bleiben und weiterhin zur Verfügung stehen. Für jüngere Arbeitnehmer, also diejenigen unter 50 Jahren, beträgt die Anspruchsdauer tatsächlich zwölf Monate, allerdings bereits seit Inkrafttreten des Arbeitsförderungsgesetzes - man höre und staune - am 1. Juli 1969. Ihr Antrag geht irrtümlicherweise davon aus, dass ein möglichst langer Arbeitslosengeldbezug ein Garant für sozialen Frieden ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn jemand bereits im zweiten Jahr ALG I bezieht, kann er davon ausgehen, dass er noch weniger vermittelbar ist als im ersten Jahr. Wir sind sehr froh, dass es uns gelingt, einen Großteil der ALG-I-Bezieher wieder in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu bekommen. ({2}) Auch dafür gebührt den Agenturen für Arbeit sowie den Argen, die im Bereich des ALG II dafür zuständig sind, ein ausdrückliches Wort des Dankes. Sie bemühen sich, Arbeitsplätze zu schaffen und ihrer Vermittlungsaufgabe nachzukommen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zimmermann zu?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Frau Zimmermann, bitte.

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Verehrter Herr Kollege Lehrieder, ich habe eine ganz kurze Frage: Wo, bitte schön, sind die Millionen von Arbeitsplätzen, die wir für unsere hohe Zahl von arbeitslosen Menschen brauchen?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Anders als die Linkspartei glaubt, sind Millionen von Arbeitsplätzen keineswegs staatlich zu garantieren. Sie fordern letztendlich einen öffentlichen Arbeitsmarkt, der steuerfinanziert aufgebaut werden müsste. ({0}) Wir müssen den Unternehmen die Möglichkeit geben, diese Arbeitsplätze hier zu schaffen, und zwar für alle Lohngruppen. Es geht hier eben nicht nur um den Bereich der Hochqualifizierten. Unsere Kanzlerin hat die Aussage getroffen: Die Krise bietet die Chance, aus ihr besser aufgestellt herauszukommen, als wir in sie hineingegangen sind, wenn wir die richtigen Bereiche fördern. Ich denke an Elektromobilität und die regenerativen Energien; da haben die Grünen in den letzten Jahren gut mitgewirkt. Wir haben schon die Chance, der Welt auch in Zukunft Produkte anzubieten und so wieder zu dem Exportweltmeister zu werden, der wir in den letzten Jahren waren. Ob wir das mit dem Export großkalibriger Autos erreichen werden, das mag dahingestellt sein. Natürlich müssen wir auch Arbeitsplätze schaffen. Wir haben in diesem Haushalt - das, Frau Zimmermann, haben Sie sicherlich gemerkt - den Bereich Bildung, Entwicklung und Forschung ausgeweitet, ganz einfach deshalb, weil wir, wenn wir im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben wollen, auch in Zukunft gute, unserem Lebensstandard entsprechende, hochwertige Produkte herstellen müssen, die wir weltweit exportieren können. In dieser Hinsicht müssen wir die Unternehmen unterstützen. Da können wir einiges tun. Da entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft. Unsere Ziele erreichen wir nicht mit staatlichem Dirigismus und VEBs, wie es sie früher einmal gegeben hat. ({1}) Die Arbeitslosenversicherung ist eine Risikoversicherung und keine Ansparversicherung. Das Ziel muss sein, Arbeitsplätze zu schaffen; ich habe bereits darauf hingewiesen. Die Bezugszeit des Arbeitslosengeldes sollte so kurz wie möglich sein. Der Ansatz, die Vermittlungstätigkeiten zu intensivieren, ist der bessere. Es kann nicht angehen, dass wir einfach nur den Verbleib im ALG I verlängern. Wir sollten vielmehr gemeinsam mit der Agentur für Arbeit über eine Verstärkung der Vermittlungstätigkeiten im ALG-I-Bereich versuchen, sowohl die Qualifizierten als auch die Nichtqualifizierten in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu bringen. Begleiten Sie uns auf diesem Weg, Frau Kollegin Zimmermann; dann sind wir nahe beieinander. Mit Ihrem Antrag erreichen wir nicht das, was Sie wollen. So nehmen wir den Menschen nicht die Angst vor der Armut. Herzlichen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Folgen der Krise für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abmildern - ALG I befristet auf 24 Monate verlängern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/269, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/22 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung durch die Fraktionen von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Fraktion Die Linke hat dagegengestimmt. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Grütters, Tankred Schipanski, Albert Rupprecht ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann ({1}), Dr. Peter Röhlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bologna-Prozess vollenden - Länder und Hochschulen weiter unterstützen - Drucksache 17/905 Es ist vorgesehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Thomas Rachel. ({2})

Thomas Rachel (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002754

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemeinsame Ziele, vergleichbare Strukturen in Europa, aufeinander aufbauende Hochschulabschlüsse, gemeinsame Instrumente der Qualitätssicherung, dies alParl. Staatssekretär Thomas Rachel les beschreibt den europäischen Hochschulraum. Mit dem Bologna-Prozess sind wir dieser Vision ein gutes Stück nähergekommen. ({0}) Viele junge Menschen profitieren davon. Wir sehen aber auch, dass es an vielen Stellen hakt und die Umsetzung nicht überall so problemlos verläuft, wie wir uns das erhoffen. Bei der Bologna-Jubiläumskonferenz in Budapest und Wien wird es deshalb - neben der Zufriedenheit mit bereits Erreichtem - um eine kritische Auseinandersetzung mit offenbar gewordenen Defiziten in der konkreten Umsetzung gehen müssen. Grundlage für die Bewertung werden die Ergebnisse einer unabhängigen Evaluation durch ein internationales Konsortium von Hochschulforschern sein sowie Studien der am Bologna-Prozess beteiligten Studierenden und Hochschulorganisationen. Wo stehen wir? Der überwiegende Teil der 46 Bologna-Länder hat die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Es wurden in allen Ländern gestufte Studienstrukturen eingeführt, mit einem ersten Abschluss nach drei oder vier Jahren und einem zweiten nach einem oder zwei weiteren Jahren. Hier in Deutschland wurden bereits 79 Prozent aller Studiengänge auf Bachelor und Master umgestellt. Zwischen den Staaten gibt es noch Unterschiede in der Umsetzung. Bisher hat es noch kein Land geschafft, alle Vorgaben zu erfüllen. Ich denke, eine so tiefgreifende Reform braucht auch ein wenig Zeit. Ich habe in den vielen Gesprächen in den letzten Monaten vor allem zwei Dinge gelernt: Erstens. Ich habe mit vielen Studierenden gesprochen. Dabei hat sich mein Eindruck bestätigt, dass die ganz überwiegende Mehrheit die Ziele der Bologna-Reformen unterstützt. Das zeigen auch die aktuellen Umfragen: Drei Viertel der Studierenden unterstützen die Ziele der Bologna-Reformen. ({1}) Zweitens. Die Umsetzung der Reformen kann und muss verbessert werden. Als Allererstes nenne ich die Frage der Studierbarkeit. Hier muss es Verbesserungen geben. Außerdem müssen Mobilitätshindernisse, national wie international, ausgeräumt werden. Schließlich müssen wir für eine noch breitere Akzeptanz des Bachelors sorgen. Es geht also um konkrete Maßnahmen vor Ort, an der einzelnen Hochschule, die den Studienalltag der Studierenden unmittelbar betreffen. Ich bin sehr froh, dass die Kultusministerkonferenz und die Hochschulrektorenkonferenz erste Schritte unternommen haben, um die konkreten Studienbedingungen vor Ort zu verbessern. Ich nenne die Neufassung der „Ländergemeinsamen Strukturvorgaben für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen“. Wir als Bundesregierung unterstützen diesen Veränderungsprozess. In dieser Legislaturperiode wird der Bund 12 Milliarden Euro zusätzlich für Bildung und Forschung ausgeben. Das ist einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({2}) Was ist seit 1999, seit Beginn des Bologna-Reformprozesses, geschehen? Es gibt mehr Bewegung, mehr Mobilität: Hier in Deutschland hat sich die Zahl der Studierenden, die einen Abschnitt ihres Studiums im Ausland durchführen, nahezu verdoppelt. Wir möchten, dass noch mehr Studierende einen studienbedingten Auslandsaufenthalt wahrnehmen. Deshalb wird die Bundesregierung einen Mobilitätspakt auf den Weg bringen, mit dem wir dieses Vorhaben durch Individualstipendien unterstützen, Hochschulkooperationen verstärken und JointDegree-Programme einführen. ({3}) Wir wollen aber zusätzlich gemeinsam mit den Bundesländern den Hochschulpakt um eine dritte Säule in Form eines Qualitätspakets „Lehre“ ergänzen. Weiteres Personal für die Hochschulen ist das eine; Zentren für Studium und Lehre, die neue Impulse zur Professionalisierung und Qualitätssicherung der Lehre an den Hochschulen geben sollen, sind das andere. Der Bund ist bereit, für diese dritte Säule des Hochschulpakts in den nächsten zehn Jahren 2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist ein gutes Signal an die Hochschulen in Deutschland. ({4}) Wir werden dies jetzt gemeinsam mit den Ländern besprechen und dann Verhandlungen über eine Bund-Länder-Vereinbarung aufnehmen. Bei der Nationalen Bologna-Konferenz am 17. Mai werden wir Bilanz über die Umsetzung und den Stand der eingeleiteten Korrekturen ziehen. Wir werden gemeinsam mit den Studierenden, den Hochschulen und den Ländern den weiteren Fahrplan für den BolognaProzess vereinbaren. ({5}) Wir alle spüren doch: Die deutsche Hochschullandschaft ist so in Bewegung wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Erstmalig haben wir eine Studienanfängerquote von 43 Prozent. Das ist Rekord in der deutschen Geschichte. Ich finde, das ist positiv. ({6}) Der schon von der vorherigen Bundesregierung auf den Weg gebrachte, aber jetzt von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung verstärkte Hochschulpakt zeigt sehr viel schneller Wirkung, als wir erwartet haben. Bereits über 100 000 zusätzliche Studienplätze sind geschaffen worden; das sind mehr, als für den jetzigen Zeitpunkt vorgesehen war. ({7}) Das zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass wir die Chancen der auszubildenden jungen Menschen ernst nehmen. Wir möchten, dass sie am Hochschul2404 standort Deutschland beste Ausgangsbedingungen bekommen. Wir sehen auch mit Freude, dass unsere Hochschulstandorte für Studierende aus der ganzen Welt attraktiv sind. Die Bundesrepublik Deutschland steht hinter den USA und Großbritannien an dritter Stelle hinsichtlich der Zahl ausländischer Studierender. ({8}) Nur das, was sich verändert, kann langfristig Bestand haben. Das sage ich auch denen an den Hochschulen, die sich noch schwertun, weil sich manches eben gegenüber dem, wie es in den letzten 20 bis 30 Jahren war, ändert. Aber die deutschen Hochschulen haben auch eine Chance, nämlich die Chance, sich als Teil des europäischen Hochschulraums zu verstehen. Das heißt, sie müssen die internationalen Ansprüche und Erwartungen auch erfüllen. Die Partner in anderen am Bologna-Prozess beteiligten Ländern achten darauf. Die Hochschulen müssen sicherstellen, dass die Studierenden in unserem Lande auf der Basis einer guten Lehre und unter den richtigen Studienbedingungen hervorragend ausgebildet werden. Das muss das gemeinsame Anliegen von uns allen sein. ({9}) Meine Damen und Herren, uns verbindet in der christlich-liberalen Koalition, ({10}) dass wir gemeinsam dafür arbeiten möchten, dass noch mehr junge Menschen auf dem beruflichen Sektor, aber auch in der Hochschullandschaft insgesamt qualifiziert ausgebildet werden. Deutschland braucht mehr gut ausgebildete Menschen. Gemeinsam mit den Bundesländern, den Studierenden und den Hochschulen wollen wir diesen Hochschulstandort noch attraktiver und leistungsfähiger machen. Herzlichen Dank. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege Swen Schulz das Wort für die Fraktion der SPD. ({0})

Swen Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im Hochschulbereich eine ganze Menge Probleme; das haben die Studierendenproteste gezeigt. Aber auch unser Fachgespräch zur Umsetzung des Bologna-Prozesses, das wir neulich im Ausschuss geführt haben, hat deutlich gemacht, dass wir einen erheblichen Handlungsbedarf haben. Alle Experten haben das gesagt. Und so erwarten die Bürgerinnen und Bürger, die Studierenden und die Lehrenden eine kraftvolle Initiative der Regierungskoalition. Ich habe gerade Staatssekretär Rachel zugehört. Er hat eine ganze Menge salbungsvoller Worte gesagt; aber nichts steckt dahinter. ({0}) Wenn man sich den Antrag „Bologna-Prozess vollenden“, den die Regierungskoalition vorgelegt hat, einmal durchliest, kann man nachgerade depressiv werden. ({1}) Es fängt damit an, dass Sie das Problem verharmlosen. Da wird gesagt: In Deutschland ist die Umsetzung der Bologna-Reformen weit vorangeschritten. … Wesentliche Ziele der Reform sind bereits jetzt erreicht … ({2}) Dann sprechen Sie davon, dass die Zahl der Studienabbrecher an Universitäten „von 24 auf 20 Prozent zurückgegangen“ sei. Das stimmt. Aber dass die Quote der Studienabbrecher an den Fachhochschulen im gleichen Zeitraum von 17 auf 22 Prozent gestiegen ist, das kommt bei Ihnen nicht vor. ({3}) Dann kommen Sie doch zur Kritik und schreiben: Die vergangenen Studentenproteste haben verdeutlicht, dass die Bologna-Reform an einigen Hochschulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten konnte. ({4}) Hui, ist das kritisch! Was für eine realistische Problemsicht! ({5}) Dann begrüßen Sie umfangreich unterschiedliche angebliche Aktivitäten der Bundesregierung: Der Deutsche Bundestag begrüßt … das Bekenntnis der Bundesregierung, … die Bereitschaft der Bundesregierung, … die Absicht der Bundesregierung, … - was haben wir hier noch? Noch einmal: die Absicht der Bundesregierung, … die Einladung der Bundesbildungsministerin … An einer Stelle werden Sie allerdings konkret und forsch. Sie sprechen nämlich von dem Bologna-Gespräch am 12. April 2010. Es ist dumm gelaufen: Das Gespräch ist am 17. Mai. Sogar Sie sind also von der Schlafmützigkeit Ihrer Ministerin überrascht worden. ({6}) Wenn ich mir den Katalog dessen ansehe, was Sie an der Bundesregierung begrüßen, dann stelle ich fest, dass noch fehlt, dass Sie die Ministerin dafür abfeiern, dass Swen Schulz ({7}) sie morgens ins Büro geht und dem Pförtner Guten Morgen wünscht. ({8}) Es schließen sich dann Aufforderungen vollkommen ohne Belang und - noch viel länger und ausführlicher Appelle an die Länder, die Hochschulen und die Wirtschaft, also an die Adresse von anderen, an. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, das ist ideenlos, harmlos, folgenlos. Das bringt uns nicht weiter. ({9}) Dass Ihnen das selbst ein bisschen peinlich ist, merkt man schon daran, dass Sie über diesen Antrag hier direkt abstimmen lassen wollen und ihn nicht erst, wie das normalerweise der Fall ist, in die Ausschussberatung überweisen und dann noch einmal im Plenum über ihn diskutieren lassen wollen. Das Ding soll vielmehr schnell weg in die Rundablage. Das ist keine ernsthafte parlamentarische Arbeit, sondern ein Witz. Das geht so nicht. ({10}) Es wäre aber alles nicht so schlimm, wenn Sie nicht noch die guten Anträge und die guten Initiativen von uns ablehnen würden. Das fing bei der CDU/CSU schon in der Großen Koalition an. Da haben Sie unseren Vorschlag zur Einführung eines Studienpakts blockiert. Unseren Antrag zur Förderung guter Lehre haben Sie ebenfalls abgelehnt. Nach vielen Protesten und Diskussionen kommt Bildungsministerin Schavan um die Ecke geschlichen und spricht von einem „Qualitätspakt Lehre“, für den 2 Milliarden Euro innerhalb von zehn Jahren vorgesehen sind. Aber was passiert konkret? Nichts. Im Haushaltsplan für 2010 sind im entsprechenden Titel 2 Millionen Euro vorgesehen. So viel zu den 2 Milliarden Euro. Unseren Antrag im Ausschuss, diesen Titel deutlich aufzustocken, haben Sie auch noch abgelehnt. Das ist wirklich schwach von der Regierungskoalition. ({11}) Wir wollen erreichen, dass jährlich 1 Milliarde Euro mehr in gute Lehre und in die Hochschulen investiert wird. Machen Sie das, stimmen Sie dem zu, anstatt hier so eine Wischiwaschi-Nummer abzuziehen. Herzlichen Dank. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Professor Dr. Martin Neumann. ({0})

Prof. Dr. Martin Neumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Schulz, was Sie eben geboten haben, war sehr dünn; das muss ich an dieser Stelle sagen. ({0}) Lassen Sie mich aus eigener beruflicher Erfahrung darüber reden, an welchen Punkten Sie oberflächlich über Dinge hinweggehen und Verunsicherung schüren, die im Volk vorhanden ist. Ich sage Ihnen: Wir sind auf dem richtigen Weg. Sie waren bei der Anhörung des Ausschusses dabei. Dort hat Frau Professor Wintermantel, die Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz vieles gesagt, was Sie offensichtlich nicht hören wollten. Ich werde auf einige Dinge eingehen. Sie hat unter anderem gesagt, dass wir mit dem Bologna-Prozess eine der tiefgreifendsten Reformen im deutschen Hochschulsystem seit 200 Jahren vorangebracht haben. ({1}) Bologna ist gut für Studierende. Bologna ist gut für Deutschland und auch für Europa. ({2}) - Wir werden es ordentlich machen. Sie haben elf Jahre lang Zeit gehabt, etwas zu tun. Sie haben nichts getan. Sie haben das Geld in Autos gesteckt und nicht in die Bildung. ({3}) Meine Damen und Herren, wir reden über die Qualität der Vermittlung von Wissenschaft in Lehre und Forschung. Wir sprechen auch über Qualitätsansprüche. Es gibt eine ganze Menge dazu zu sagen, wie man die Qualität an bestimmten Stellen erhöhen kann. Mit Ihren Worten verunsichern Sie wieder nur die Diskussion. Eines muss klar sein: Bologna ist und bleibt ein Prozess zur Verbesserung von Organisation und Zusammenarbeit in Forschung und Lehre in unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen. Der Antrag von Union und FDP hat deshalb die Zielstellung, den Bologna-Prozess zu qualifizieren und weiterzuentwickeln, und zwar gemeinsam mit den Ländern und den Hochschulen. Sie erwecken den Eindruck, als ob der Bund in die Autonomie der Hochschulen eingreifen will. Das wollen wir nicht. Wir wollen die Gestaltungskraft der Hochschulen fördern und begleiten. ({4}) Die Proteste der Studierenden Ende letzten Jahres haben die Notwendigkeit deutlich gemacht. Dr. Martin Neumann ({5}) Ihr Kollege Zöllmer war gestern bei einem Forum - ich war auch Gast, Sie waren nicht dort - und hat erzählt, dass er Studentenproteste beobachtet hat, bei denen im Hörsaal sieben Studierende anwesend waren. Man hat sie nicht weggetrieben, sondern man hat versucht, eine Diskussion zu führen. Reden Sie mit Ihren Kollegen. ({6}) - Ich auch. Ich bin jede Woche an der Hochschule. Ja, so ist das. Wir müssen neben den kritischen Punkten, die ich nicht unterschlagen möchte, das Positive hervorheben. Das mache ich an dieser Stelle und sage Ihnen - um die Verunsicherung abzubauen -: 80 Prozent der Studiengänge an deutschen Universitäten und Fachhochschulen sind auf Master und Bachelor umgestellt. ({7}) Die Arbeitsmarktakzeptanz der ersten Bachelorabsolventen ist überwiegend gut, die Zahl der Studienabbrüche geht seit den Bologna-Reformen signifikant zurück. ({8}) Die Verkürzung der Studienzeit auf durchschnittlich 9,6 Fachsemester ist ein guter Anfang. ({9}) Deutlich wird aber auch - das sage ich aus beruflicher Erfahrung -: Wir leiden unter der jahrelangen Unterfinanzierung des Hochschulsystems. Das ist kein Problem, das erst im Zuge des Bologna-Prozesses entstanden ist, sondern das war auch schon vorher da. ({10}) Wir haben zu geringe Investitionen in Personal- und Sachausstattung. Die Reform wurde damals von RotGrün beschlossen, aber auch schon damals nicht mit ausreichend finanziellen Mitteln ausgestattet. ({11}) Darin begründet sich eine Vielzahl von Kritikpunkten, liebe Frau Burchardt, Sie wissen es besser. Ich habe Listen von Studierendenräten bekommen, die mir das bestätigt haben. Genau das sind die Punkte, über die wir hier sprechen. Wir brauchen - das sage ich deutlich - eine bessere Lehre und mehr Personal für die Betreuung der Studierenden, ({12}) zum Beispiel Professuren mit Schwerpunkt auf Lehre usw. Die Koalition wird sich deshalb - das will ich an dieser Stelle betonen - sehr intensiv mit folgenden Aspekten beschäftigen und Lösungsansätze anbieten: ({13}) Notwendig ist eine verbesserte Studienfinanzierung. ({14}) - Darüber werden wir reden. Es gibt entsprechende Anträge. Das wissen Sie. Wir brauchen auch eine verbesserte Studienberatung. Hier gilt es - das ist ganz wichtig -, Verunsicherung abzubauen. ({15}) - Wir werden darüber reden. Lassen Sie uns das doch ganz konkret besprechen. Die HIS-Studie befasst sich auch mit dem Thema Stipendien, über das Sie gerne diskutieren. Sie haben gesehen, dass an den Hochschulen mit Studiengebühren die Zulassungszahlen und die Studienqualität steigen. Es ist wichtig, das einmal hervorzuheben. ({16}) - Ich glaube nicht, dass wir das verwechseln. Wir brauchen weniger verschulte Studienordnungen; das haben wir schon gesagt. Das ist aber eine Aufgabe der Hochschulen. Überlegenswert - das sage ich auch aus eigener Erfahrung - ist ein bundesweites Tutorenprogramm zur besseren Betreuung der Studierenden. Warum? Weil Studierende eine Anlaufstelle in der Hochschule brauchen; das muss nicht immer der Professor sein. Das kann man sicherlich gut organisieren, und das kostet vielleicht gar nicht so viel Geld. Wir brauchen eine verbesserte Mobilität. Wir erreichen dies durch eine größere Vergleichbarkeit der Studiengänge. Deshalb beziehen wir die Hochschulen ein - das kann und muss man den Hochschulen zugestehen und fordern von ihnen eine bessere Nutzung der vorhandenen Spielräume hinsichtlich der Dauer von Studiengängen usw. Wir brauchen regelmäßige Bewertungen der Qualität der Lehre und eine Veröffentlichung der Ergebnisse der Qualitätseinschätzungen. ({17}) - Wir werden das in dem Programm umsetzen; das habe ich gerade gesagt. Weil meine Redezeit zu Ende geht, sage ich: Dr. Martin Neumann ({18}) ({19}) Im Bund und in den Ländern werden wir uns um den Aufbau und die Finanzierung zusätzlicher Studienplätze kümmern. Wir werden uns um den Bologna-Qualitätsund Mobilitätspakt kümmern und die Qualität des Studiums sowie die Mobilität der Studierenden verbessern. Das nationale Stipendienprogramm hat zum Ziel - lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal sagen -, 10 Prozent der Studierenden ein Stipendium zu geben ({20}) und das BAföG zu novellieren, um letztendlich ein gesamtes Paket zur Studienfinanzierung zu haben. Meine Damen und Herren, wir stecken nicht Geld in alte Autos, sondern in mehr Bildung. ({21}) Wir machen unsere Hausaufgaben. Wir gehen fest davon aus, dass die Länder wie die Hochschulen ihren Beitrag leisten werden, damit der Bologna-Prozess ein Erfolg wird. Der Bologna-Prozess ist ein Baustein der Bildungspolitik. Die nächsten Schritte gehen wir gemeinsam mit den Verantwortlichen am 17. Mai 2010 beim Bologna-Gipfel. Ich bedanke mich. ({22})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Fraktion Die Linke hat Nicole Gohlke das Wort. ({0})

Nicole Gohlke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004041, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir diskutieren im Zusammenhang mit dem Bologna-Prozess in der Tat über den radikalen Umbau der Hochschulen. Im Zuge dieser Reform wurde natürlich auch über viele positive Ziele diskutiert, unter anderem über das schon genannte Ziel der internationalen Mobilität. Dass wir heute über Fragen der sozialen Durchlässigkeit oder über Demokratisierung diskutieren können, haben wir vor allem den Protesten der Studierenden und der Gewerkschaften zu verdanken. ({0}) Wenn man sich die Umsetzung der Bologna-Reform ansieht, muss man feststellen, dass es der Regierung, dass es Ihnen vor allem um zwei Ziele geht. Mit Ihren Worten gesagt, sind das „internationale Wettbewerbsfähigkeit“ und die sogenannte „Beschäftigungsfähigkeit“, also die Verwertbarkeit der künftigen Absolventinnen und Absolventen. Der Bologna-Prozess ist untrennbar verbunden mit der Lissabon-Strategie, in der die europäischen Regierungen ihre Absicht dargelegt haben, bis 2010 die USA und den asiatischen Raum wirtschaftlich zu übertrumpfen. Zur Lissabon-Strategie gehört auch, die Wettbewerbsfähigkeit durch niedrige Steuern zu erhöhen. Die Hochschulreform sollte also noch dazu so gut wie nichts kosten. Diese drei Ziele zusammengenommen - verbissene Elitebildung, maximale wirtschaftliche Verwertbarkeit der Absolventinnen und Absolventen sowie rigoroser Sparzwang - haben nicht nur zu Murks geführt, ({1}) die Verwirklichung dieser Ziele musste für Studierende, Forschende und Lehrende zum Albtraum werden. ({2}) Sparzwang bedeutet mehr Geld für die einen und zwangsläufig weniger Geld für die anderen. Die bevorzugte Ausstattung weniger ausgewählter Hochschulen im Zuge der Exzellenzinitiative ist mit der Deklassierung der meisten anderen Hochschulen verbunden. Es handelt sich um einen Selektionsprozess zwischen den Hochschulen. Um diesen in Gang zu bringen, wurden die Forschenden entmachtet: in den Hochschulgremien und über die Abhängigkeit von Drittmitteln. Der Wettbewerb der Hochschulen untereinander in Form von Rankings, Ausschreibungen und Akkreditierungen absorbiert inzwischen weitgehend deren Leistungsfähigkeit. Es trifft genauso die Lehre. Bachelorstudiengänge sollen große Mengen von Studierenden möglichst schnell durch voll ausgelastete Hörsäle schleusen und sind so konzipiert, dass den Studierenden genau so viel Wissen vermittelt werden soll, wie für ihre spätere Verwertbarkeit benötigt wird. Anwesenheits- und Leistungskontrollen sollen die Studierenden dabei auf Trab bringen. Ganze Wissensgebiete wurden dafür in kleine, gut abrufbare Bildungshäppchen zerlegt. ({3}) Genau deshalb bietet der Bachelor - entgegen Ihren Behauptungen - keine guten Berufschancen. Er hat nicht nur ein Imageproblem, das man mit einer Marketingkampagne beheben könnte, er ist de facto eine Bildungskürzung. Bachelorabsolventinnen und -absolventen wünschen sich etwas anderes als billige und einseitige Qualifizierung. ({4}) Solche Institutionen sind keine Hochschulen, sind keine Universitäten mehr. Für selbstbestimmtes Lernen und kritisches Reflektieren, für die Entfaltung der Persönlichkeit und für die Einbeziehung in die Forschung ist kein Platz mehr. Die Regierungen der letzten Jahre haben letztendlich daran mitgewirkt, dass der Bildungsbegriff auf wirtschaftliche Bedürfnisse verengt wurde und dass anstelle des Allgemeinwohls die Interessen von Unternehmen zum Maßstab für die Umgestaltung der Hochschule gemacht wurden. Das ist ein politischer Skandal. ({5}) Wir fordern das Recht auf eine gute wissenschaftliche Bildung für alle Studierenden, und zwar an einer Hochschule, in der sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden zugleich Forschende sind und an der die Lehrenden gesicherte Arbeitsverträge haben. Sie aber wollen viele Studierende zu einem Studienabbruch in Form eines Bachelors zwingen. ({6}) Durch amtliche Vorgaben, durch eine Quote soll vorab festgelegt werden, wie viel Prozent eines Jahrgangs als begabt genug gelten, um zum Masterstudiengang zugelassen zu werden. Einen absurderen Begabungsbegriff kann man sich nicht vorstellen. ({7}) Die Linke unterstützt die Studierenden in ihrer Forderung nach einem Recht - nicht der Pflicht - auf einen anschließenden Masterstudiengang für alle. Wir hoffen, dass wenigstens SPD und Grüne sich dieser Forderung anschließen können. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Kai Gehring hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Hochschulbereich steckt definitiv voller Baustellen; das ist in der bisherigen Debatte sehr deutlich geworden. Da helfen auch keine Schönwetterreden von Herrn Rachel und auch keine Schmalspuranträge der Koalition, wobei man ja schon fast anerkennen muss, dass Sie sich überhaupt auf einen gemeinsamen Antrag haben verständigen können. ({0}) Die Zwischenbilanz der Bologna-Reform lässt sich kurz zusammenfassen: Ziele weitgehend gut, Umsetzung vielerorts schlecht. Das muss man so deutlich sagen. Die Vision eines europäischen Hochschulraumes muss man verwirklichen, statt sich davon zu verabschieden, wie es zum Beispiel die Linke offensichtlich tut. Man muss jetzt die Probleme der Studierenden und der Hochschulen konkret lösen; das ist das Entscheidende. Ich hatte beim ersten Lesen des Antrags ein bisschen das Gefühl: Bei CDU/CSU und FDP gibt es fast einen Sinneswandel oder Lerneffekt. Sie schreiben: Die vergangenen Studentenproteste haben verdeutlicht, dass die Bologna-Reform an einigen Hochschulen noch nicht die erhoffte Wirkung entfalten konnte. Da kann ich nur sagen: Aufgewacht und mitgemacht! Sie sind ja einen kleinen Schritt weiter. Glückwunsch, dass Sie die Studierendenproteste nicht mehr runtermachen ({1}) nach dem Motto: „Das ist gestrig“ oder sie als eine Gefahr für die innere Sicherheit darstellen, wie Sie es im Parlament getan haben. Dazu kann man nur sagen: Das weckt ein bisschen Hoffnung, dass Sie nach einer mehrjährigen Phase des Schönredens vielleicht endlich in der Bologna-Realität ankommen. Dazu wird es im zehnten Bologna-Jahr höchste Zeit. ({2}) Das war mein erstes Gefühl, als ich den Antrag gelesen habe. Dann habe ich weitergelesen ({3}) und gemerkt: Das ist ein Dokument der Unverbindlichkeit und der Konzeptionslosigkeit. Sie drücken sich in Ihrem Antrag völlig um die Frage herum, wie die Bologna-Reform künftig gegenfinanziert werden soll. ({4}) Uns allen ist klar, dass die Reform unterfinanziert ist. Jetzt werden 12 Milliarden Euro für Bildung und Wissenschaft in dieser Legislatur versprochen. Dann hätten Sie mindestens 3 Milliarden Euro im Haushalt 2010 einstellen müssen. Davon sind Sie sehr weit entfernt. Sie hangeln sich von einem Schwarzer-Peter-Spiel zum nächsten Sperrvermerk, dann gibt es wieder Vorbehalte hinsichtlich des Bologna-Gipfels und des Bildungsgipfels. Man fragt sich: Was sagen eigentlich die Länder dazu? Wollen die Länder zustimmen? Gehen sie mit oder nicht? Sie schreiben in Ihrem Antrag, bei Arbeitgebern herrsche Skepsis gegenüber den neuen Bachelor-Abschlüssen. - Es ist schön, dass Sie das feststellen. Aber was ist Ihre Lösung? Was wollen Sie dagegen tun? Wie ist Ihre Strategie, das zu ändern? ({5}) Dieser Fakt ist extrem wichtig. ({6}) An einer anderen Stelle Ihres Antrags habe ich zuerst ein bisschen geschmunzelt, aber dann habe ich mich erschrocken. Sie schreiben: Wir fordern die Bundesregierung auf, die deutschen Erfahrungen mit der Umsetzung des Bologna-Prozesses auf europäischer Ebene einzubringen, um den Bologna-Prozess weiterzuentwickeln. ({7}) Das ist Kabarett. Dazu kann ich nur sagen: Bloß nicht! ({8}) Ihre Aufgabe wäre, die Best-Practice-Erfahrungen anderer Bologna-Länder zu studieren, anstatt sich mit dem, was Sie in Deutschland tun, auf europäischer Ebene zu blamieren. In Deutschland ist die Anerkennungsquote katastrophal. Nur 41 Prozent der im Ausland erworbenen Studienleistungen werden hierzulande anerkannt. Das ist ein ganz konkretes Problem der Studierenden. Die Koalition sagt dazu kein Wort und hat auch keine Lösung. Wir haben mehrfach gefordert: Prüfen Sie doch endlich, ob man eine Mobilitäts- und Anerkennungsgarantie einführen kann, ({9}) damit man die derzeitige Praxis umkehrt und sagt: Jeder, der im Ausland etwas geleistet hat, kann danach in Deutschland weiterstudieren. - Damit würde man eine große Mobilitätshürde nehmen. ({10}) Dazu, dass Universitäten mittlerweile untereinander Vereinbarungen treffen, mit dem Ziel, wechselseitig ihre Abschlüsse anzuerkennen, kann ich nur sagen: Hier wird die Bologna-Idee ad absurdum geführt. Für dieses Problem müssen Sie eine Lösung finden. ({11}) Wir wollen mehr Freiräume für die Studierenden: mehr Freiräume für Auslandsaufenthalte, Praktika, studentische Nebenjobs und für Engagement. Dabei muss man ganz konkrete Zeit- und Mobilitätsfenster im Studium einbauen und festschreiben. Außerdem muss man die vorhandene Überstrukturierung abbauen: durch Entfrachtung der Studienordnungen an den Universitäten, weniger Prüfungen und weniger Anwesenheitspflichten. Der Workload muss also runter, und die Studierbarkeit muss rauf. Das muss die Maßgabe sein, auch bei KMKVerabredungen. ({12}) Wir wollen, dass diese Studienstrukturreform endlich in eine Qualitäts- und Lehrreform mündet. Die Ankündigungen von Frau Schavan klingen ganz gut. Ich bin gespannt, welche Vorschläge sie tatsächlich auf den Tisch legt. Allein, mir fehlt der Glaube. Ich rede mir hier seit Jahren den Mund fusselig und weise immer wieder darauf hin, dass wir im Rahmen des Hochschulpakts endlich eine Qualitätsoffensive brauchen. Wenn Sie dieses Thema wirklich anpacken, kann ich nur sagen: Die Opposition hat gewirkt. ({13}) Was all die Baustellen, auf denen Sie nicht handeln, betrifft, werden wir nicht lockerlassen. Dazu gehört auch die soziale Dimension von Bologna. Die haben Sie in Ihrem Antrag nicht einmal erwähnt. Außerdem müssen Sie für eine größere Durchlässigkeit beim Übergang vom Bachelor zum Master sorgen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie dürfen diesen Übergang nicht durch Quote und Note zum Nadelöhr machen, sondern müssen Studienplätze und damit mehr Bildungschancen für die junge Generation schaffen. Vielen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Unionsfraktion spricht Tankred Schipanski. ({0})

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unser Antrag mit dem Titel „Bologna-Prozess vollenden Länder und Hochschulen weiter unterstützen“ ist ein begleitender Antrag zur internationalen Bologna-Konferenz, die in Kürze in Wien und Budapest stattfindet, und zum Bologna-Gespräch am 17. Mai dieses Jahres; das Datum wurde in unserem Antrag in der Tat noch nicht ausgetauscht. Da es sich um einen begleitenden Antrag handelt, muss man ihn auch nicht extra im Ausschuss behandeln. Zudem ist er nicht schmal. Ich habe die Freude, Ihnen jetzt in sechs Minuten zu erklären, was in diesem Antrag steht, weil Sie das anscheinend noch immer nicht verstanden haben. Unser Antrag ist eine Zwischenbilanz der BolognaReform, und zwar eine reale Zwischenbilanz, im Gegensatz zu dem, was die Kollegin von der Linkspartei ausgeführt hat. Ich weiß nicht, wo Sie studiert haben und wo Sie leben. Die Bilder, die Sie gezeichnet haben, habe ich allerdings überhaupt nicht verstanden. Das war völlig utopisch. ({0}) Unsere Zwischenbilanz, die Sie in unserem Antrag lesen können, wurde in der jüngsten EFI-Studie und in der Bologna-Studie der Universität Konstanz bestätigt. Der Grundtenor ist: Wir sind mit Bologna auf dem richtigen Weg in die Bildungsrepublik Deutschland. ({1}) Es gilt aber, in der Feinsteuerung gewisse Herausforderungen zu bewältigen. Für uns sind Bund, Länder und Kommunen Bildungspartner, genauso wie Studenten, Professoren und Hochschulleitungen Bildungspartner sind. Für Bildungspartnerschaften braucht man ein konstruktives gemeinsames Wirken. Bologna hat zu einem neuen Hochschulsystem geführt, Bologna bedeutet strukturiertes Lernen in der Hochschule. Wir wollen mit diesem Antrag den Geist von Bologna in der Gesellschaft festigen, wir wollen Verständnis wecken, an die Beteiligten appellieren, wir wollen die Botschaft von Bologna stärker vermitteln und in das Bewusstsein der Beteiligten bringen, und wir wollen in der Öffentlichkeit über unser neues Hochschulsystem richtig informieren. Die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ bescheinigt uns in der jüngsten Studie: Wir sind auf einem guten Weg. Das betrifft die Geisteswissenschaften, bei denen wir große Erfolge bezüglich der Strukturierung und der geringen Abbrecherquote haben. ({2}) Das betrifft die Verkürzung der Studienzeit, das betrifft die Akzeptanz der Abschlüsse in der Wirtschaft, und das betrifft die hohe Studierendenzahl. Aber wir haben auch Korrekturbedarf; dies bestreitet überhaupt niemand von uns. In den MINT-Fächern haben wir Nachholbedarf, und wir haben Nachholbedarf bei der Selektion. Man muss die Selektionsprozesse früher ansetzen bzw. frühere Leistungskontrollen einführen. ({3}) Die EFI-Studie, aus der ich zitiere, nennt die Kernprobleme beim Namen: „Die Lerninhalte sind im Zuge der Reform kaum verändert worden.“ Das ist ein Kritikpunkt, der im Verantwortungsbereich jeder Hochschule liegt, und zwar dort im Verantwortungsbereich der Lehrenden. ({4}) Bologna ist ein neues Hochschulsystem und umfasst neue Hochschulabschlüsse. Viele Hochschulen, speziell die Lehrenden, haben die Lehrinhalte bzw. die Stoffmengen in zu geringem Maße geändert. Auf dieses Dilemma haben uns die Studenten bei ihren Protesten zu Recht hingewiesen, nicht die zuständigen Akkreditierungsagenturen. ({5})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Schipanski, der Kollege Gehring würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen.

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann soll er das mal tun.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ganz herzlichen Dank für die Möglichkeit, nachfragen zu dürfen. Ich traute meinen Ohren nicht, als Sie gerade wohl tatsächlich formulierten: Wir müssen die Selektionsprozesse früher ansetzen. Können Sie bitte einmal erläutern, was Sie damit konkret meinen?

Tankred Schipanski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004143, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ein Zitat aus der EFI-Studie. Es geht darum, dass man checken muss, ob jemand für einen Studiengang geeignet oder nicht geeignet ist. Selbstverständlich muss man sich bemühen, dies nicht erst im sechsten Semester festzustellen, sondern nach Möglichkeit im zweiten Semester. ({0}) Meine Damen und Herren, vielleicht darf ich fortfahren: Wir erweitern unseren Hochschulpakt um eine dritte Säule, nämlich das Qualitätspaket für gute Lehre - genau, wie es im Koalitionsvertrag steht. Wir arbeiten dabei an zwei Handlungslinien, nämlich einem gemeinsamen Programm für eine bessere Betreuung für Studierende. Stichworte hierfür sind Tutoren, Mentoren, Beratung und Anerkennung guter Lehrleistungen. Zudem schaffen wir Didaktikzentren, so wie es der Wissenschaftsrat vorgeschlagen hat. Hierbei geht es um die Entwicklung von Lehrstandards und um Schulungen. Entgegen den Behauptungen, die hier aufkamen, stellt der Bund ab 2010 bis 2020 dafür 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Selbstverständlich erwartet er auch eine angemessene Beteiligung der Länder. Gespräche hierüber laufen bereits; Staatssekretär Rachel hat darauf hingewiesen. ({1}) Meine Damen und Herren, Ziel des Bologna-Prozesses ist ein gemeinsamer europäischer Hochschulrahmen; die Vergleichbarkeit der Bildungsabschlüsse wurde hier angesprochen. Somit ist es also Ziel, Mobilität zu schaffen und die Beschäftigungsfähigkeit der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Insbesondere die Studenten wollen Vergleichbarkeit der Abschlüsse, Mobilität und ein grenzüberschreitendes Ausbilden. So sagt es das Grünbuch der Europäischen Union. Daher hat die christlich-liberale Koalition im Koalitionsvertrag ein Mobilitätspaket angekündigt. Dazu zählen zwei Maßnahmen, an denen wir zurzeit arbeiten, zum einen daran, Studien- und Prüfungsleistungen konsequent anzuerkennen, und zum anderen daran, die finanzielle Ausstattung der Studenten zu verbessern, und dies mit unserem Dreiklang von BAföG-Erhöhung, nationalem Stipendiensystem und Bildungssparen. Meine Damen und Herren, unser heutiger BolognaAntrag benennt drei Handlungsfelder - hätten Sie den Antrag richtig gelesen, dann hätten Sie das auch verstanden -, drei Punkte, an denen wir Bologna erfolgreich weiterentwickeln müssen. Das sind erstens die Lehrqualität, zweitens die Mobilität und drittens die Akkreditierungen, also das Qualitätsmanagement. Gegenwärtig sind die Akkreditierungsagenturen so ausgestaltet, dass sie nur den Istzustand erfassen, aber die Universitäten nicht begleiten, nicht verbessern, nicht evaluieren. Eine ganz zentrale Forderung unsererseits in diesen Bologna-Gesprächen lautet: Wir brauchen einheitliche, bundesweite Kriterien für die Akkreditierungsagenturen, eine kontinuierliche Begleitung und ein Qualitätsmanagement an unseren Hochschulen. Abschließend darf ich feststellen: Der Bologna-Prozess ist, wie das EFI-Gutachten sagt, auf einem guten Weg. Wir setzen auf Weiterentwicklung, und zwar genau auf diesen drei Handlungsfeldern Lehrqualität, Mobilität und Qualitätsmanagement. Mit diesem Dreiklang wird die christlich-liberale Koalition den Bologna-Prozess erfolgreich weiterentwickeln. Vielen Dank. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das Wort hat Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion. ({0})

Daniela Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004079, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal: Ich freue mich, dass auch die Regierungsfraktionen auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages mit eigenen Anträgen vertreten sind, zumal bei einem solch wichtigen Thema, wie es die Umsetzung des Bologna-Prozesses zweifellos ist. Die SPD bekennt sich zu den Zielen der Bologna-Reform. Vergleichbarkeit und Mobilität in einem europäischen Hochschulraum sind und bleiben die richtigen Vorhaben. Dahinter gibt es kein Zurück. Gleichzeitig verändert diese Reform die Studienrealität der knapp 2 Millionen Studierenden in Deutschland und der Lehrkräfte an den Hochschulen ganz erheblich. Gerade weil diese Reform so tiefgreifend ist, lohnt es sich, genau hinzuschauen. Nicht zuletzt die Proteste Tausender Studierender haben deutlich gemacht, dass dies dringend nötig ist. ({0}) Die Probleme liegen auf der Hand: Neben der mangelhaften Vergleichbarkeit der Studiengänge - selbst zwischen einzelnen Bundesländern -, neben der zum Teil schlechten Umsetzung der Bologna-Reformen, neben der Überfrachtung von Studiengängen und neben Problemen bei der Lehramtsausbildung tritt eines immer wieder zutage: Die Hochschulen im ganzen Land sind unterfinanziert und können erstklassige Lehre, wie sie die Bachelor-/Master-Studiengänge benötigen, nicht leisten. Hier ist substanzielles und aktives politisches Handeln gefragt. ({1}) Was tut die schwarz-gelbe Koalition in ihrem vorliegenden Antrag? Sie lobt, sie bittet, und sie appelliert butterweich, als sei alles in bester Ordnung. Nach der Lektüre Ihres Antrages nehme ich Ihnen maximal ein klein wenig Problembewusstsein ab. Alles andere wäre nach den Studierendenprotesten der letzten Monate, die ja nicht zu übersehen waren, auch ein Wunder. Den Willen, das Mögliche zu tun, wirkliche Tatkraft erkenne ich in diesem Antrag nicht. Wo bleiben die konkreten Maßnahmen zu einer wirklich erfolgreichen Umsetzung des Bologna-Prozesses? Dabei läge das Notwendige auf der Hand - und wurde vom Wissenschaftsrat und vielen anderen auch so formuliert -: Wer die Lehre im System Bachelor/Master qualitativ verbessern will, muss der Unterfinanzierung entgegenwirken und Maßnahmen ergreifen, um die Betreuung, aber auch die Betreuungsrelation zu verbessern. ({2}) Wer will, dass mehr Menschen studieren, muss mehr Studienplätze in bester Qualität bereitstellen. Ohne ein breit angelegtes Programm wird das kaum zu bewältigen sein. Werte Koalitionäre, wenn Sie wirklich an einer signifikanten Verbesserung der Zustände interessiert sind, dann unterstützen Sie den Vorschlag der SPD-Fraktion, mit den Ländern einen Pakt für Studienqualität und gute Lehre auf den Weg zu bringen. 2 Millionen Euro im nächsten Haushalt sind wohl kaum ausreichend. ({3}) - Im Haushalt steht im Moment: 2 Millionen Euro. ({4}) Schauen Sie Ihren eigenen Haushalt noch einmal an! Wir können uns gern im Ausschuss noch einmal darüber unterhalten. Wer will, dass Menschen ohne Ansehen ihres finanziellen Hintergrunds ein Studium aufnehmen, kommt zudem nicht umhin, sich um die allgemeine Studienfinanzierung Gedanken zu machen. Die mehrfach zitierte EFI-Kommission hat in ihrem aktuellen Bericht deutlich gemacht, dass die Lieblingsinstrumente der schwarz-gelben Koalition - Stipendiensysteme und Bildungssparen vorrangig Gruppen erreichen, die bereits einen akademischen Hintergrund haben. Die SPD bleibt deshalb dabei: Wer beste Bildung für alle erreichen will, muss das BAföG ausweiten. ({5}) Daniela Kolbe ({6}) Wir fordern eine umfassende Ausweitung der Freibeträge. Wir wollen, dass mehr junge Menschen aus der Mittelschicht vom BAföG profitieren. Die 300 Millionen Euro wären beim BAföG sicherlich besser angelegt als bei Ihrem Stipendienprogramm. ({7}) Es bleibt viel zu tun in unserem Hochschulsystem. Das vernünftig anzugehen, sind wir den jungen Menschen in unserem Land schuldig. Schöne Worte und Aufforderungen wie in Ihrem Antrag werden allerdings nicht reichen. Das weiß nicht nur die Opposition, das erkennen - darauf können Sie sich verlassen - auch die Studierenden. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 17/905 mit dem Titel „Bologna-Prozess vollenden Länder und Hochschulen weiter unterstützen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag bei Zustimmung durch die Koalition und Ablehnung durch die Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz Kuhn, Brigitte Pothmer, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Mehr Netto für Geringverdienende - Drucksache 17/896 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die Grünen. ({1})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wieso fragst du eigentlich nicht mehr, was die Wählerinnen und Wähler dazu sagen? ({0}) - Das sehen wir gerade an den Umfragewerten. ({1}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Wer arbeitet, muss mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet“. Mit dieser Binsenweisheit hat FDP-Vorsitzender Westerwelle versucht, die Ärmsten gegen die Armen auszuspielen und auf billige Weisen Stimmen zu fangen. Aber noch während Herr Westerwelle versucht hat, sich als Sozialterminator zu profilieren, ({2}) haben die Leute schon einmal damit angefangen, zu fragen: Was haben der und die FDP außer Sprüchen eigentlich noch „auf der Tasche“? ({3}) Dann wurde es plötzlich doch ziemlich einsilbig; denn im Angebot war nichts anderes als ein gigantischer Niedriglohnsektor. Der eigentliche Skandal ist, dass wir einen anderen Satz nicht gehört haben: ({4}) Wer arbeitet, muss auch davon leben können. Diesen Satz haben wir von Herrn Westerwelle nicht gehört. Das ist der eigentliche Skandal. ({5}) Wir haben in Deutschland derzeitig den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. ({6}) 6,5 Millionen Menschen arbeiten im Niedriglohnsektor und 2 Millionen davon zu Löhnen von unter 5 Euro die Stunde. Allein in den ersten neun Monaten im Jahr 2009 hat der Bund 8 Milliarden Euro für Aufstocker ausgegeben. ({7}) Ich bin mir wirklich sicher, dass wir diese Steuermilliarden für etwas anderes und für etwas Besseres als für die Subventionierung von Lohndumping ausgegeben hätten. ({8}) Wir haben Ihnen mit diesem Antrag - vielleicht lesen Sie ihn einfach einmal - einen sehr passgenauen Dreischritt vorgeschlagen, mit dem man Leuten im Niedriglohnbereich und mit kleinem Einkommen tatsächlich helfen und zugleich die Anzahl der SGB-II-Bezieher deutlich absenken kann. Erstens gehört der Mindestlohn dazu. Wir werden morgen ausführlich dazu reden. Deswegen an dieser Stelle nur eines: Wenn Sie den Mindestlohn weiter blockieren und gleichzeitig an der Zuverdienstschraube drehen, dann werden Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher exorbitant erhöhen, und dann wird der Niedriglohnsektor immense Ausmaße annehmen. ({9}) Zweitens gehört dazu: Wenn Sie, wie wir es Ihnen in unserem Antrag mit unserem Progressivmodell vorschlagen, die Lohnnebenkosten im unteren Einkommensbereich radikal absenken und dann langsam, wie wir es von der Steuer her kennen und im Übrigen auch als gerecht empfinden, progressiv ansteigen lassen, dann reduzieren Sie die Zahl der SGB-II-Bezieher und der Aufstocker um ungefähr 500 000. Das liegt einfach daran, dass diese Leute dann tatsächlich mehr Netto vom Brutto in der Tasche haben. In diesem Zusammenhang können wir die Minijobs in diesem Progressivmodell aufgehen lassen. Die Minijobs haben in der Vergangenheit - das muss man an dieser Stelle deutlich sagen - zur Erosion am Arbeitsmarkt beigetragen. ({10}) Drittens. Meine Damen und Herren insbesondere von der FDP, wer Menschen in Arbeit bringen will, der muss sie fördern und unterstützen. Das gilt insbesondere für Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Wer diese Menschen in Arbeit bringen will, darf sie nicht bedrohen und nicht gegen sie hetzen, sondern muss sie qualifizieren und die Wünsche der Betroffenen respektieren. ({11}) Man muss an dieser Stelle sagen: Diese Leute sind in aller Regel sowieso motiviert. Die größte Motivation ist aber eine Arbeit, von der man leben kann. Solche Arbeit erreichen wir durch Mindestlöhne, unser Progressivmodell und gut ausgebildete Arbeitsuchende. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie uns in diesem Anliegen! Ich danke Ihnen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die Unionsfraktion spricht Dr. Matthias Zimmer. ({0})

Prof. Dr. Matthias Zimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als wir am Dienstag davon gehört haben, dass die Fraktion der Grünen einen Antrag mit dem Titel „Mehr Netto für Geringverdienende“ einbringen will - heute diskutieren wir darüber -, habe ich mich zunächst darüber gefreut; denn es ist ein wichtiges und richtiges Thema. Ich hatte lediglich ein wenig Bedenken - der Antrag lag noch nicht vor; er kam erst gestern -, dass ich nicht genügend Zeit finden könnte, die Tiefe der Gedanken und der differenzierten Vorschläge, die zu erwarten waren, ausreichend zu würdigen. ({0}) Als dann der Antrag gestern kam, hatte ich den Eindruck: Diese Befürchtung war unbegründet. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich bin sehr für Recycling; aber was Sie hier an munterem Allerlei recycelt haben und durch keinen stringenten Gedanken zusammenhalten, ist schon verblüffend. ({2}) Ich will Ihnen an einem kleinen Beispiel demonstrieren, wie wenig Mühe Sie sich gegeben haben. Sie schreiben: Wer mehr soziale Gerechtigkeit will, muss auch bereit sein, mehr Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Nach Ihrer Logik bedeutet das: Wer ganz viel Gerechtigkeit will, muss ganz viel Mittel zur Verfügung stellen; wer soziale Gerechtigkeit umfassend verwirklichen will, muss umfassend Mittel zur Verfügung stellen. Das ist Ihre Logik, ({3}) die vollkommen übersieht, dass Gerechtigkeit ein regulatives Prinzip ist, das zwischen Freiheit und Gleichheit vermittelt; es ist aber kein Ziel, das es mit noch so vielen Mitteln zu erreichen gilt. ({4}) Frau Pothmer, in Ihrem Antrag findet sich Weiteres aus der Abteilung Wiederverwertung, zum Beispiel die FDP-Schelte. Man hat hier fast schon den Eindruck, Sie seien vergnügungssüchtig: Anstatt eine vernünftige Debatte zu führen, schlagen Sie immer wieder auf die FDP ein. ({5}) Aus der Hartz-IV-Diskussion der letzten Woche ist die Forderung nach einem Regelsatz von 420 Euro übrig geblieben; das steht nicht im Antrag, aber in dessen Begründung. Ich frage mich schon: Woher kommt dieser Betrag von 420 Euro eigentlich? Das Verfassungsgericht hat uns doch aufgegeben, die Sache transparent und nachvollziehbar zu gestalten. ({6}) Davon ist bei Ihnen nichts zu sehen. Es reicht Ihnen als Begründung völlig aus, dass es die Sozialverbände gefordert haben. Das erinnert mich ein wenig an John Lockes Mahnung, andere nicht zum Vormund eigener Einfalt zu machen. Es ist doch besser - wir haben das vor -, die Regelsätze nachvollziehbar und transparent zu berechnen, anstatt sich auf den Zuruf anderer zu verlassen. ({7}) Frau Pothmer, Sie schlagen außerdem ein Sanktionsmoratorium im SGB-II-Bereich vor. Ich halte das für unsinnig. Die Linken wollen die Sanktionen ganz abschaffen. ({8}) Sie folgen der Spur der Linken und wollen die Sanktionen ebenfalls aussetzen. Ich kann das ein wenig nachvollziehen: Sanktionen und Zwang sind auch bei den Grünen unpopulär. ({9}) Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat sich der Frage angenommen, ob Sanktionen überhaupt wirken. Ich darf das Fazit zitieren: Eine Leistungskürzung erhöht die Wahrscheinlichkeit, innerhalb von acht Monaten nach der Sanktion aus dem Leistungsbezug abzugehen, um etwa 70 Prozentpunkte. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit, eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu finden, um mehr als 50 Prozentpunkte. Ein verstärkter Einsatz von Sanktionen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben würde somit zu einer effektiveren Aktivierung der Hilfebedürftigen beitragen und die Übergangsraten aus der Hilfebedürftigkeit hinaus in Beschäftigung deutlich erhöhen. Kommen wir zum Antrag selbst. Bei dem von Ihnen geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro muss man schon dankbar sein, dass Sie den Mindestlohnwettlauf von 7,50 Euro auf 8,20 Euro, 9,40 Euro und 10 Euro nicht mitmachen und an dieser Stelle etwas bescheidener sind. Wir sagen allerdings: Flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne waren falsch, sind falsch und bleiben falsch. ({10}) Im Übrigen wundert es mich, Frau Pothmer, dass die Grünen, die sonst einen etwas differenzierteren Gerechtigkeitsbegriff haben, hier einfach mit flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen arbeiten. Da bleiben selbst Sie hinter Ihren Möglichkeiten zurück. ({11}) Des Weiteren wollen Sie die Lohnnebenkosten für Geringverdienende senken. Das ist grundsätzlich eine gute Idee, Frau Pothmer. Aber ich vermisse in Ihrem Antrag, wer das bezahlen soll. Keine Aussage. Welche Konsequenzen hat das? Keine Aussage. Sie müssen den Leuten doch sagen, das geht entweder über Steuererhöhungen oder über Abgabenerhöhungen für andere. Damit belasten Sie die Leistungsträger, die wir entlasten wollen. Sie müssen auch sagen: Progressive Beitragssätze führen zu einer geringeren Rente. Das ist keine Entlastung, sondern ein Programm zur Steigerung von Altersarmut. ({12}) Auf das doppelte Problem fehlender Beitragseinnahmen für die Sozialversicherungssysteme und sinkender Ansprüche für die Leistungsempfänger geben Sie keine Antwort. Das ist im wörtlichen Sinn verantwortungslos. Da hätte ich von Ihnen mehr erwartet. Wir machen so einen Unfug nicht mit. ({13}) Die Koalition hingegen hat gehandelt. Wir haben in der letzten Legislaturperiode den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung deutlich reduziert. Das ist eine spürbare Entlastung. Außerdem werden wir morgen das Sozialversicherungs-Stabilisierungsgesetz beraten, mit dem die krisenbedingten Mindereinnahmen durch den Gesundheitsfonds und die Bundesagentur für Arbeit aufgefangen werden. Wir stabilisieren damit die Lohnnebenkosten, und wir haben etwas für die Familien getan. All das ist konkret und realitätsgerecht. Ihr Antrag ist das nicht. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Danke schön. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht Angelika KrügerLeißner.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aufgeregt und scheinheilig - manche auch ziemlich kopflos - sprechen wir dieser Tage über Hartz IV. Das Bundesverfassungsgericht hat eine Debatte darüber ausgelöst, wie viel Geld ein Mensch braucht, um ein menschenwürdiges, existenzsicherndes Leben zu führen. Es ist eine Debatte um Gerechtigkeit: um Verteilungsgerechtigkeit, Chancengerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit. Es geht dabei um Familien, Alleinerziehende und ganz besonders um Kinder, die am Rande des Existenzminimums leben. Es geht um Menschen, die dauerhaft von der Grundsicherung leben, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen und deren Weg aus dieser Situation sehr steinig ist, sodass sie ihn allein, ohne Hilfe, vielleicht niemals schaffen werden. Ich halte eine ehrliche und sachorientierte Debatte für richtig und wichtig. Manches, was wir in den letzten Wochen erlebt haben, ging allerdings daran vorbei. Wir kommen in dieser Diskussion aber nicht drum herum, auch über diejenigen zu sprechen, die zu der Gruppe der Working Poor gehören, also diejenigen Geringverdiener, die voll erwerbsfähig sind und deren Einkommen gerade so oder nur mithilfe von staatlichen Leistungen zum Leben reicht. Wir reden von der Kellnerin, der Friseurin, der Gärtnerin, der Verkäuferin, der Leiharbeiterin und der Pflegekraft. ({0}) - Heute ist ein besonderer Tag. Darum habe ich das so formuliert. Der Niedriglohnsektor hat sich seit Mitte der 90erJahre rasant ausgeweitet. Wachsende Lohnspreizung hat zu erheblichen arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Problemen geführt. Der Druck auf das Lohnniveau nahm immer mehr zu. Laut einer Studie der IAQ der Uni Essen arbeitet inzwischen jeder fünfte abhängig Beschäftigte für einen Niedriglohn. Das sind 6,5 Millionen Beschäftigte. Viele davon beziehen zusätzlich Hartz-IV-Leistungen. Es gibt 1,3 Millionen Aufstocker, also Geringverdiener, die ihr Einkommen aus der Erwerbstätigkeit mit Regelleistungen aufbessern müssen. Das kostet die BA viel Geld; zuletzt waren es 9,3 Milliarden Euro. Darum ist die Forderung in Ihrem Antrag - mehr Netto für Geringverdiener - vollkommen richtig. Die Frage ist nur, wie wir das erreichen können. Wer muss was tun? Die Verantwortung allein den Tarifpartnern zu übertragen und auf die Tarifautonomie zu vertrauen, kann nicht die Lösung sein. Die Realität zeigt: Es sind nicht die produzierenden oder exportierenden Gewerbe im industriellen Bereich, in denen Niedriglöhne gezahlt werden. Denn da sind noch kräftige Gewerkschaften, die ausreichend Organisationskraft haben. In meinem Wahlkreis gibt es zum Beispiel ein Stahlwerk, die Hennigsdorfer Elektrostahlwerke. Dank eines engagierten Betriebsrats und einer guten Geschäftsführung findet man dort keine Leiharbeit, und es werden ordentliche Löhne gezahlt. Niedriglöhne findet man im Handwerk, vor allem im Dienstleistungsgewerbe und im Einzelhandel. Betriebsräte sind dort eher die Ausnahme. Hier ist der Gesetzgeber gefragt. In den letzten Wochen haben wir über das Lohnabstandsgebot - von unserer Seite besser noch: das Lohnanstandsgebot - diskutiert. Wir haben auch darüber diskutiert, dass Leistung sich wieder lohnen muss. All das ist richtig, wenn man es richtig interpretiert, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP. Zu den Geboten unserer sozialen Marktwirtschaft zählt nach wie vor: Wer hart arbeitet, muss davon leben können. Wer Leistung bringt, muss sein Leben verbessern können. Dazu gehört ebenfalls: Niemand darf am Wegesrand zurückbleiben. Ich werde das Gefühl nicht los, dass einige in der Regierungskoalition dies aus den Augen verloren haben. Stattdessen gilt an dieser Stelle das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Eine solche Politik darf in diesem Land nicht mehrheitsfähig bleiben. Wir müssen etwas tun, damit Leistung sich lohnt und damit die Menschen, die sich anstrengen und hart arbeiten, von ihrem Lohn auch leben können. ({1}) Darum kann die Antwort nur heißen: Der gesetzliche Mindestlohn ist das wirksamste Instrument, wenn es darum geht, den Niedriglohnsektor zu bekämpfen. Niedrige Regelsätze und schärfere Sanktionen würden den Druck auf die Arbeitsuchenden noch erhöhen, schlecht bezahlte Jobs annehmen zu müssen. Tatsache ist aber: Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt diese schwarzgelbe Regierung ab. ({2}) Mit Blick auf den Koalitionsvertrag erfahren wir: Der Niedriglohnsektor soll weiter ausgebaut werden. Die schwarz-gelbe Zauberformel heißt: Erleichterung befristeter Beschäftigung und Ausweitung der Minijobs. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors ist kein wirkungsvolles Konzept zur Beschäftigungsförderung. Vor allen Dingen ist es nicht wirkungsvoll gegen Lohndumping und Armut in diesem Land. Um Brücken zu bauen, die den Hilfebedürftigen Wege aus ihrer prekären Situation weisen, brauchen wir eine umfassende Strategie. Der gesetzliche Mindestlohn ist dabei eine unabweisbare Maßnahme. In diesem Punkt sind wir uns mit den Grünen einig. Einig sind wir uns mit ihnen auch in puncto Bildung und Qualifizierung. Da müssen wir weitere Maßnahmen auf den Weg bringen. ({3}) Eingangs erwähnte ich auch die Chancengleichheit. Darauf will ich nun zurückkommen. Oberstes Ziel muss es sein, allen Kindern die gleichen Chancen auf die beste Bildung zu ermöglichen. Familienarmut darf sich nicht vererben. Langzeitarbeitslose brauchen Perspektiven. Sie brauchen Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote, um am Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen. Deswegen brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die unter anderem die individuelle Förderung und die Integration in Arbeit verbessert. Mit einer restriktiven aktiven Arbeitsmarktpolitik würden wir die Betroffenen aufgeben und alleinlassen. Das ist ein fatales Zeichen. Heute ist wieder so ein fatales, scheinheiliges Zeichen gesetzt worden. Ich weiß nicht, ob alle davon wissen. Im Haushaltsausschuss, der gerade berät, hat die FDP-Fraktion einen Antrag auf Änderung des Bundeshaushalts gestellt. Es sollen 900 Millionen Euro für die aktive Arbeitsmarktpolitik gesperrt werden. Was das vor Ort bedeutet, kann sich jeder ausdenken. Ab Herbst können keine weiteren Maßnahmen geplant werden. Den Hilfebedürftigen, die eine Antwort darauf haben wollen, wie wir ihnen helfen, kann keine Antwort gegeben werden. ({4}) - Herr Kolb, Sie können diese Scheinheiligkeit Ihres Handelns in Ihrer Rede aufklären. - Ich denke, wir dürfen dieser Regierungskoalition so etwas nicht durchgehen lassen. ({5}) Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen-Fraktion, wir stimmen in vielen Punkten überein. Wir sind uns einig beim Thema Mindestlohn, auch was die Höhe und die Festlegung durch eine Kommission betrifft. Wir sind uns einig, dass Bildung, Weiterbildung und Qualifikation Maßnahmen sind, um Armut wirkungsvoll zu bekämpfen, und wir sind uns in dem Punkt einig, dass auch die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge ein wichtiger Schritt ist. Allerdings gehen wir dabei unterschiedliche Wege. Der Weg, den Frau Pothmer mit dem Progressivmodell beschrieben hat, ist für mich die falsche Lösung. ({6}) Ich habe zu wenig Zeit, um das genau auszuführen. Sie, Frau Pothmer, bleiben nämlich beim Kombilohnmodell.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Ich sage noch einen Satz, wenn ich darf. Schauen Sie sich unser Modell an, das auch in die Richtung geht, die Sozialversicherungsbeiträge gerade im Niedriglohnbereich zu senken. Wir wollen unser Modell „Bonus für Arbeit“ - wir haben es schon einmal vorgestellt - weiterentwickeln, und wir verbinden es mit dem Mindestlohn, der ein notwendiger Bestandteil dieses Modells ist. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es lohnt sich also, gemeinsam auf diesem Weg zu streiten. ({0}) Danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Heinrich Kolb hat das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von Konrad Adenauer stammt der Satz: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern. ({0}) Die Kollegin Brigitte Pothmer hat ihn heute weiterentwickelt zu der Formel: Was kümmert mich mein Gesetz von gestern. ({1}) Denn Sie, Frau Kollegin Pothmer, haben beklagt, es gebe in Deutschland einen Niedriglohnbereich, in dem 6,5 Millionen Beschäftigte seien. Wer hat das beschlossen? Die Grünen. Sie waren es, die in der rot-grünen Ära genau dieses als Rezept für die Lösung aller Probleme erkannt haben. Sie haben bedauert und beklagt, es gebe viele Menschen, die ihre niedrigen Löhne aufstocken müssten. Wer hat denn die Aufstockungsmöglichkeit beschlossen? Es waren die Grünen während der rot-grünen Regierungszeit. Sie haben gesagt, die Einführung der Minijobs sei fatal gewesen, weil das zu einer Aushöhlung der Vollzeitstellen geführt habe. Frau Kollegin Pothmer, wer hat das denn beschlossen? Die Grünen sind es in Ihrer Regierungszeit gewesen. Sie sollten in absehbarer Zeit nicht mehr regieren, sondern erst einmal Ihre Hausaufgaben machen. Mit Antragsrecycling werden Sie, Frau Kollegin Pothmer, nicht weiterkommen. ({2}) Dabei will ich hier anerkennend feststellen: Die Überschrift und der erste Satz Ihres Antrags könnten auch von uns sein. Die Überschrift „Mehr Netto für Geringverdienende“ und den Satz „Arbeit und Leistung sollen sich lohnen, … “ kann ich voll und ganz unterstützen. So weit sind wir immerhin einer Meinung. Der Antrag fängt gut an, lässt dann aber stark nach. Zum Ende hin findet sich in Ihrem Antrag relativ wenig. Spätestens die Forderung nach einem generellen Mindestlohn macht es uns unmöglich, Ihnen zuzustimmen. Darüber brauchen wir nicht zu reden. Ich bin eigentlich auch nicht davon überzeugt, wenn ich Ihre Beiträge im Ausschuss höre, dass Sie, Frau Kollegin Pothmer, selbst daran glauben. ({3}) Ihre Ausführungen und Ihre Überlegungen dort sind viel zu differenziert, als dass Sie die absurde Idee von einem generellen Mindestlohn ernsthaft verfolgen könnten. Sie handeln nach dem Motto „doppelt gemoppelt“: Erst fordern Sie einen gesetzlichen Mindestlohn von 7,50 Euro, und dann fordern Sie darüber hinaus flächendeckend nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz Branchenmindestlöhne. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wirklich wollen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kolb, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn zu?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber gern.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kolb, ich habe die Bitte, sich nicht an uns abzuarbeiten nach dem Motto „Da haben Sie doch regiert!“. Das langweilt mich.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mich nicht.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will nur ein emotionales Feedback geben. Ich möchte Sie nach einem Punkt fragen, der mich interessiert. Ich lese in der Zeitung, das liberale Bürgergeld sei eine großartige Alternative zu den Sozialtransferleistungen. Ich möchte gerne von Ihnen erklärt haben, wie Sie sich das genau vorstellen. Da zum Beispiel Wohngeld hinzugerechnet werden soll, würde mich interessieren, wie Sie zwischen Regionen wie beispielsweise München, Heidelberg und Sachsen-Anhalt differenzieren wollen und wie das bürokratiefrei gehen soll. Sagen Sie einfach einmal, was Sie wollen, anstatt immer die anderen anzukoffern. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, wenn wir uns auf eine Verlängerung der Redezeit um 30 Minuten verständigen könnten, dann könnte ich dem Kollegen Kuhn unser Modell erklären. ({0}) Neulich hat Präsident Lammert allerdings bei einer ähnlichen Gelegenheit darauf hingewiesen, dass die Zeit für Frage und Antwort in einem angemessenen Verhältnis zur Redezeit stehen muss.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Genau das ist die Herausforderung an Sie.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es gibt Dinge, die man ausführlicher erläutern muss. Sie lassen sich nicht auf die Schlagzeile einer großen deutschen Tageszeitung reduzieren. ({0}) Herr Kuhn, ich bin aber gern bereit, ({1}) Ihnen das in einem Privatissimum zu erläutern. ({2}) - Wenn Sie wieder aufstehen würden, kann ich Ihnen aber schon jetzt kurz etwas dazu sagen. ({3}) - Wie wäre es mit einer Minute? ({4}) - Gut. Wir sind der Meinung, dass wir nicht über Mindestlöhne, sondern über ein Mindesteinkommen reden sollten. Das Bürgergeld stellt ein bedarfsgerechtes Mindesteinkommen sicher. Für jede Bedarfsgemeinschaft wird ermittelt, welche Aufwendungen zu decken sind. Dies wird mit dem Nettoeinkommen dieses Haushalts verglichen. Was nicht selbst erwirtschaftet werden kann, wird im Wege einer negativen Einkommensteuer dem einzelnen Haushalt zur Verfügung gestellt. An der Stelle, wo der Bedarf gedeckt ist, fängt die Steuerzahlung des einzelnen Bürgers bzw. des Haushalts an. Damit wird sichergestellt, dass wir ein durchgängiges Erwerbsinteresse in allen Bedarfsgemeinschaften haben. Das ist, wie ich finde, ein sehr moderner und zukunftsträchtiger Vorschlag. Nähere Einzelheiten sage ich Ihnen, wenn Sie wollen, persönlich. ({5}) Ich bin der Meinung, dass wir mit dem Thema Mindestlohn und vor allen Dingen mit der Kombination von Mindestlohn und Branchenmindestlohn, die Sie, Frau Kollegin Pothmer, vorschlagen, wirklich vorsichtig umgehen müssen. Wir werden am Ende nicht mehr Beschäftigung schaffen, wenn wir in Deutschland Mindestlöhne einführen. ({6}) Wir fragen uns bei jeder Maßnahme, die wir im Bereich der Sozialversicherung verabschieden, wie sie sich auf die sogenannten Lohnnebenkosten auswirkt und ob dadurch die Arbeit verteuert wird. Dass ausgerechnet beim Lohn selbst, also beim größten Kostenblock, diese Grundüberlegung nicht mehr gelten soll, vermag ich wirklich nicht nachzuvollziehen. Wenn, wie manche glauben, Mindestlöhne mehr Arbeit schaffen, dann frage ich Sie, wie hoch der optimale Mindestlohn ist. Sie haben sich jetzt auf 7,50 Euro Mindestlohn festgelegt. Sie hinken damit der Karawane etwas hinterher. ({7}) Der DGB wird demnächst 8,50 Euro fordern. Die Linken, Avantgarde wie immer - Kompliment, Frau Kollegin Krellmann, Herr Kollege Birkwald -, sind schon bei 10 Euro. Da sieht man genau die Gefahr einer politischen Lohnsetzung. In den letzten zwei Jahren sind Sie ziemlich flott von vormals ebenfalls 7,50 Euro auf 10 Euro, die Sie heute fordern, durchgaloppiert. Frau Präsidentin, die Kollegin Pothmer möchte eine Zwischenfrage stellen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön, Frau Pothmer.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Kolb, da Sie sich an dem Mindestlohn so festgebissen haben, befürchte ich, dass Sie Ihre gesamte Redezeit darauf verwenden, obwohl der entsprechende Tagesordnungspunkt morgen aufgerufen wird. Ich möchte daher von Ihnen zu gerne etwas zu dem Progressivmodell hören. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass der jetzige Bundesgesundheitsminister Rösler damals in Niedersachsen ein Mini-Progressivmodell nach dem Modell der Grünen vorgeschlagen hat, das beinhaltet, bis zu einem Verdienst von 1 000 Euro die Lohnnebenkosten radikal abzusenken? Mich würde einmal interessieren, ob Rösler da allein auf weiter Flur steht oder ob die FDP hier im Bund ihm da folgt.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gut, das gibt mir Gelegenheit, einige Anmerkungen zu dem Progressivmodell zu machen; das hatte ich sowieso vor. Sie haben das Modell jetzt wieder aus der Versenkung geholt. 2006 haben Sie es entwickelt, und zwischendurch hat man nicht viel davon gehört, Frau Kollegin Pothmer. Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass das Modell bei einer breiten Öffentlichkeit angekommen ist. Immerhin ist es aber offensichtlich bei einer Fachöffentlichkeit angekommen, wenn Philipp Rösler sich schon damit befasst hat. Dieses Progressivmodell ist für mich so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau der Sozialpolitik. Ich will Ihnen das auch anhand der Begründung Ihres Antrags belegen. Dort heißt es: Dieses Modell schafft eine Absicherung bei Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit und im Alter. Es erhöht das Nettoeinkommen der Geringverdiener, entlastet die Betriebe, schafft neue Arbeitsplätze und macht die Schwarzarbeit unattraktiv. Außerdem ist es anscheinend kostenlos; darüber schweigen Sie sich in Ihrem Antrag vornehm aus, Frau Kollegin Pothmer. Wenn es wirklich so einfach wäre! Aber es ist nicht so einfach. Man sieht ja an Ihrem Geeiere, Ihrem damaligen Regierungshandeln und Ihren heutigen Einlassungen, dass Sie überhaupt nicht so recht wissen, wohin Sie eigentlich wollen. Wenn man einen 400-Euro-Job sozialversicherungspflichtig macht und mit Beiträgen in Höhe von 20 Prozent belastet, wovon die Hälfte auf die Rentenversicherung entfällt, dann zahlt man einen Rentenversicherungsbeitrag von 40 Euro. Das ist ein sechstel Entgeltpunkt und entspricht mithin einer Rente von 4 Euro im Jahr. Das ist doch pervers. Das soll eine vernünftige Absicherung im Alter sein, Frau Kollegin Pothmer? Das ist doch vollkommen lebensfremd! Möglicherweise findet jemand wie Sie, der den Langzeitarbeitslosen in seiner Regierungszeit einen Rentenanspruch pro Jahr Langzeitarbeitslosigkeit von heute noch 2,09 Euro verordnet hat, es auch gut, wenn man mit eigenen Beiträgen einen Rentenanspruch von 4 Euro im Jahr erwerben kann. Eine Politik gegen Altersarmut ist das aber wirklich nicht. ({0}) - Wir haben hier eine klare Regel: Sie fragen, ich antworte. Sie finden manches nicht spannend, und ich finde manches spannend, was Sie langweilt. Damit müssen wir leben. Was kostet Ihr Progressivmodell denn jetzt wirklich? 2006 haben Sie, glaube ich, einmal etwas von 13 Milliarden Euro gesagt. ({1}) Ich finde es schon erstaunlich, wenn Sie ein Projekt in dieser Größenordnung in die Debatte werfen, obwohl Sie uns vor wenigen Wochen noch dafür beschimpft haben, dass wir Entlastungen in Höhe von 4,6 Milliarden Euro für Familien mit Kindern in das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hineingeschrieben haben, die am 1. Januar 2010 wirksam geworden sind. ({2}) Das halte ich für progressiv. Das, was Sie hier vorschlagen, ist alles andere als progressiv. Sie schreiben in Ihrem Antrag außerdem, die Rechte von Hilfsbedürftigen und ihren Angehörigen im SGB II sollten gestärkt werden. Es herrscht Einigkeit hinsichtlich der Wichtigkeit der Förderung und der Eröffnung von Bildungsangeboten. Aber man hat schon ein bisschen den Eindruck, dass Ihren Referenten am Ende des Antrags die ohnehin schon recht dünne Tinte endgültig ausgegangen ist. Sie arbeiten sich da nur noch bei verdrehter Wahrnehmung und Umdeutungen der Wirklichkeit an der FDP ab. Das ist wirklich unter Ihrem Niveau; Sie können es besser. ({3}) - Hört mir eigentlich noch jemand zu bei den Grünen? Es wäre vielleicht ganz sinnvoll, wenn Sie sich einmal mit konstruktiver Kritik an Ihrem Antrag auseinandersetzen. ({4}) Dann versteigen Sie sich sogar noch dazu, unmittelbar nach dem Karlsruher Urteil einen neuen und, wie Sie sagen, richtigen Regelsatz von 420 Euro zu nennen; die Linken waren sogar schon bei 500 Euro. Ich finde das deswegen bemerkenswert, weil Karlsruhe Ihnen - Ihnen wurde mit dem Urteil das Gesetz um die Ohren geschlagen - gesagt hat, dass man Regelsätze nicht einfach ins Blaue hinein politisch definieren darf, sondern dass es darauf ankommt, den Regelsatz Bedarf für Bedarf wertungsmäßig festzulegen. Sie drücken sich erneut darum herum. Das ist eine Missachtung des Karlsruher Gerichtes. Das finde ich wirklich empörend. Wir sollten Karlsruhe ernst nehmen und das tun, was uns vorgegeben ist, nämlich nicht prozentual irgendetwas ableiten, sondern in jedem Einzelfall sagen: Diesen Bedarf sehen wir als zur Abdeckung des physischen Existenzminimums und darüber hinaus als für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Teilhabe erforderlich an und jenen nicht.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Kolb!

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann bestimmt man einen Regelsatz; das werden wir in diesem Hause noch tun. Ich bedanke mich für die Zwischenfragen, Herr Kollege Kuhn, Frau Kollegin Pothmer. Ich bin gerne bereit, in nächster Zeit - vielleicht morgen früh - wieder Rede und Antwort zu stehen. ({0}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jutta Krellmann hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Guten Tag, Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin immer ganz begeistert, wenn ich mitbekomme, dass Herr Kolb immer ganz genau weiß, was die Linke will. Er hat das mit den 10 Euro Mindestlohn und mit der Millionärssteuer verstanden. ({0}) Herr Kolb, es macht wirklich Spaß, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. ({1}) - Wissen Sie, auch ich kann lesen. Ich bin jedes Mal hin und her gerissen, wenn ich bestimmte Sachen lese. Wir können gerne noch einmal darüber reden, aber nicht jetzt. Im Grunde muss ich leider Herrn Zimmer recht geben. ({2}) Mir ging es genauso wie Ihnen: Auch ich war völlig irritiert, als ich diesen Antrag gelesen habe, weil ich irgendwie nicht wusste, wann die Forderung nach einem Mindestlohn von 7,50 Euro erhoben worden war. Nach meiner Erinnerung hat man vor zwei Jahren über einen Mindestlohn von 7,50 Euro gesprochen. Jetzt wird hier ein Antrag auf den Tisch gelegt, in dem ein Mindestlohn von 7,50 Euro gefordert wird. Davon redet doch kein Mensch mehr. Dieser Betrag würde hinten und vorne nicht mehr genügen. ({3}) Trotzdem finde ich es löblich, dass sich die Grünen um den Ausstieg aus den Niedriglohnsubventionen bemühen. Aber ich persönlich halte das Modell, das Sie vorgelegt haben, für nicht besonders weitsichtig. Als besonders neu kann man es auch nicht bezeichnen. ({4}) Wie bisher profitieren insbesondere Arbeitgeber von den niedrigen Löhnen. Die Betroffenen müssen auch weiterhin von staatlichen Zuschüssen leben, die uns an anderen Ecken fehlen werden. Was mit dem Niedriglohn geschaffen wurde, sind neue Formen der Ausbeutung. Ich persönlich halte es für eine riesige Katastrophe, dass in einem der reichsten Länder auf dieser Erde, nämlich in Deutschland, geschaut werden muss, ob man eine Möglichkeit findet, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können. Ich finde, es ist eine Katastrophe, dass man darüber überhaupt nachdenken muss. ({5}) Dabei sind die Vorschläge der Grünen eine bunte Tengelmann-Mischung. Das Problem ist: Dadurch werden die Niedriglöhne nicht abgeschafft. Im Gegenteil: Sie werden auch noch zementiert. Es ist also dasselbe in Grün, nur irgendwie anders formuliert. Deshalb lehnt die Linke diesen Antrag ab. Mit der Einführung eines Mindestlohns von 10 Euro, wie die Linke sie fordert - Herr Kolb hat das vorhin schon einmal gesagt -, wäre Ihr ganzes Modell überflüssig und hätten die Menschen Arbeit, und zwar solche, von der sie leben könnten. ({6}) Die Rechnung ist ganz einfach: Bisher müssen 1,4 Millionen Menschen ergänzend zu ihrer Arbeit Hartz IV beantragen, um über die Runden zu kommen; sie können von den gezahlten Hungerlöhnen ihrer Arbeitgeber nicht leben. Das ist ein absoluter Skandal. ({7}) Es kostet die Steuerzahler - jetzt bitte ich Sie alle, ganz genau hinzuhören - 9,3 Milliarden Euro. Noch einmal, anders ausgedrückt: 9,3 Milliarden Euro sind 9 300 Millionen Euro. So viel muss dafür verwandt werden. ({8}) Nach dem Modell der Grünen soll die staatliche Aufstockung abgeschafft werden. Die Grünen planen dafür die Entlastung durch niedrigere Sozialabgaben. Das so erzeugte Loch in den Sozialkassen soll dann der Steuerzahler übernehmen. Der Niedriglohnsektor bliebe also erhalten, die Förderung von Dumpinglöhnen auch. „Geiz“ bliebe folglich für die Arbeitgeber „geil“, und die 6,5 Millionen betroffenen Beschäftigten würden trotz Arbeit arm bleiben. Niedriglöhne - egal wie sie bezuschusst werden schaffen keine Arbeitsplätze, wohl aber verdrängen sie gute Löhne und reguläre Beschäftigung. Sie setzen eine Lohnspirale nach unten in Gang. Das kann man auch belegen; das findet auch momentan statt. Dumpinglöhne werden mit geringeren Sozialabgaben noch belohnt. Arbeitgeber werden regelrecht dazu verleitet, die Löhne weiter zu reduzieren. Die Grünen behaupten, die Höhe der Sozialabgaben verhindere die Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese Behauptung ist alt und der Ausgangspunkt der Niedriglohnpolitik. Arbeitsplätze geschaffen hat das nicht. Die Senkung der Sozialabgaben für Geringverdiener entlastet die Unternehmer weiter in erheblichem Maße. Mehr Netto ohne mehr Brutto geht zulasten von uns allen. ({9}) Das Solidarsystem ist nicht die Melkkuh der Nation, die dazu dient, ständig sinkende Löhne auszugleichen. Weniger Sozialabgaben führen zu drastisch geringeren Einnahmen der Sozialkassen. Es besteht die Gefahr, dass das Loch in den Sozialversicherungen dann wieder als Begründung für den Abbau von Sozialleistungen herhalten muss.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Jutta Krellmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004080, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Okay. - Die Linke fordert deshalb mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen hier in Deutschland. Wir fordern einen Mindestlohn. Wir werden uns am Freitag noch einmal ganz explizit in Person meines Kollegen Klaus Ernst mit der Frage beschäftigen. ({0}) Vielen Dank. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Paul Lehrieder spricht für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mir geht es ähnlich wie dem Kollegen Kolb. In unserer christlich-liberalen Koalition passt erstens zwischen die Partner kein Blatt Papier. Zweitens denken wir in vielen Bereichen ähnlich. Ich habe mir den Antrag voller Vorfreude durchgelesen. Der Titel „Mehr Netto für Geringverdienende“ ist ja nicht schlecht. Unser bayerischer Finanzminister hat vor anderthalb Jahren gefordert: mehr Netto vom Brutto. Es hat uns auch keiner geglaubt, dass wir das ernsthaft anstreben. Wir streben es heute noch an. Mehr Netto für Geringverdienende klingt ja nun einmal nicht schlecht. Auch der Einleitungssatz „Arbeit und Leistung sollen sich lohnen“ ist konsensfähig. Ich will jetzt nicht alles wiederholen, was der Kollege ausgeführt hat. In einem anderen Punkt geht es mir allerdings ebenso wie ihm. Ich habe mir die Augen ausgeschaut; ich habe verschiedene Brillen aufgesetzt. Ich habe nirgends einen Finanzierungsvorschlag in diesem Antrag entdecken können. Vielleicht liefern Sie uns den nach, Frau Kollegin Pothmer. Dann können wir uns Gedanken über die Kosten dieses Vorschlags machen. ({0}) Ihr Progressivmodell klingt gut. Natürlich kann man sagen, wir entlasten im unteren Einkommensbereich, also die Geringverdiener - da haben wir im Übrigen mehr gemacht als die rot-grüne Koalition seinerzeit; aber darauf komme ich nachher noch zu sprechen -, aber dann müssen Sie auch sagen, wie Sie es finanzieren wollen. Durch Bundeszuschüsse? - Das wäre systemwidrig. ({1}) - Dazu, ob sich das durch Einsparungen bei den Aufstockern finanzieren lässt, findet sich überhaupt nichts in Ihrem Antrag. - Wollen Sie es etwa durch Erhöhung der Lohnzusatzkosten im oberen Bereich finanzieren, das heißt also, dass wir qualifizierte Arbeit verteuern? - Das hoffe ich nicht. ({2}) - Darüber müssen wir aber reden, Frau Pothmer. Ich finde ja die Idee grundsätzlich nicht a priori schlecht und möchte sie nicht sofort und ohne Hintergedanken zurückweisen. ({3}) - Stellen Sie mir doch eine Frage, Frau Pothmer, statt nur dazwischenzurufen. Dann hätte ich auch Zeit für eine Antwort. Meine Damen und Herren, der Antrag klingt ja nicht schlecht; aber er ist so, wie er vorliegt, absolut nicht behandelbar und nicht zustimmungsfähig. Wir werden ihn auf jeden Fall ablehnen. Das Ganze könnte zwar zu einem interessanten Debattenbeitrag werden, aber nicht in dieser unausgereiften Form. Künftig sollten Sie keinen Schnellschuss aus der Hüfte mehr machen, liebe Frau Kollegin. Wer hat denn nun die Sozialversicherungsbeiträge in den letzten Jahren gesenkt? Das war nicht Rot-Grün. Auch das muss für die Zuschauer auf der Tribüne und die Fernsehzuschauer hier einmal ausdrücklich gesagt werden. 1998 lag der Sozialversicherungsanteil immerhin bei 42,1 Prozent, heute liegt er bei sage und schreibe 38,65 Prozent. Das heißt, Sie schmücken sich mit fremden Federn. Wir - ich räume ein, dass die Kolleginnen und Kollegen von der SPD auch ein bisschen dazu beigetragen haben - haben die Sozialversicherungsbeiträge senken können. Und das ist gut so, meine Damen und Herren. Wir haben den Eingangssteuersatz vor einem guten Jahr von 15 auf 14 Prozent gesenkt. Dazu kann man sagen, dass man mehr erwartet hätte. Wir prüfen nach Vorliegen der Steuerschätzung, ob hier noch mehr Steuerentlastung möglich ist. Zur Entlastung gehört aber auch die Erhöhung des Kinderfreibetrages, den wir Anfang des Jahres immerhin von 6 000 auf 7 008 Euro erhöhen konnten. Wir prüfen auch, ob darüber hinaus im Sozialversicherungsbereich Entlastungen möglich sind. Meine Damen und Herren, der Antrag lässt nicht erkennen, wie man dem Nettofinanzierungsbedarf von 6,5 Milliarden Euro gerecht werden will. Das Bundesverfassungsgericht hat uns bestätigt, dass der Gesetzgeber bei Einführung der SGB-II-Regeln 2004 und 2005 zur Sicherung eines „menschenwürdigen Existenzminimums“ feste Regelsätze schaffen durfte. Wenn Sie jetzt, Frau Pothmer, ähnlich wie die Linke pauschal, Pi mal Daumen, einen Regelsatz von 420 Euro verlangen, dann verstoßen Sie doch, genauso wie die Linken, gegen das, was uns das Verfassungsgericht aufgegeben hat. ({4}) Schauen Sie sich doch einmal das Urteil an, Frau Krellmann. Ich habe letzte Woche Ihrem Kollegen Ernst gesagt, er solle das Urteil einmal lesen. Entweder hat er es nicht gelesen oder er hat es nicht verstanden. Bei Ihnen muss ich dasselbe vermuten. Schauen Sie sich das Urteil einmal an. Da steht, man muss ermitteln, weshalb welche Bedarfe erforderlich sind. Lassen Sie uns in den nächsten Wochen und Monaten im Ausschuss konstruktiv darauf hinarbeiten, wie man das zusammen machen kann, Frau Pothmer. Von daher ist eine Pauschale von 420 Euro leider ebenfalls nicht konsensual. Zu den Mindestlöhnen. Wir reden morgen früh ausführlich darüber. Ich habe dankenswerterweise die Möglichkeit, morgen früh zwei, drei Sätze dazu zu sagen; daher kann ich es jetzt kurz machen. Gefordert wird ein genereller Mindestlohn von 7,50 Euro. ({5}) - Klar, Sie fordern 10 Euro. In einem halben Jahr sind Sie bei 12 oder 13 Euro. ({6}) Dann hecheln Sie wieder hinterher. Dazwischen liegt der Gewerkschaftsbund mit seiner Forderung. Es ist doch ein Witz. Wir verdummen doch die Leute, wenn wir sagen, mit einem Mindestlohn von 7,50 Euro könne man eine Familie mit zwei kleinen Kindern ernähren. ({7}) - Das kann man auch mit einem Mindestlohn von 10 Euro nicht. Sie brauchen sich nicht zu echauffieren. Die jetzigen Sozialleistungen einer Familie mit zwei Kindern sind mittlerweile bei einer Größenordnung, dass der Mindestlohn für eine solche Familie bei 11,80 Euro liegen müsste. ({8}) - Dann verlangen Sie doch einen Mindestlohn von 12 Euro. Dann haben wir Sie noch mehr demaskiert. Meine Damen und Herren, wir können keine Mindestlöhne nach dem Familienstand einführen. Das ist über unser Sozialsystem geregelt; dazu werden wir morgen einiges ausführen. Deshalb sind alle drei Unterpunkte in Ihrem Antrag, zumindest jetzt, leider vollumfänglich abzuweisen. Es gebietet sich eigentlich, dass man dazu nicht noch mehr ausführt. Über den Mindestlohn wird morgen früh diskutiert. Frau Pothmer, lassen Sie uns über das Progressivmodell ohne Scheuklappen und über die Parteigrenzen hinweg nachdenken und sehen, ob es eine Lösung ist und was diese kostet. Dann können wir versuchen, Teile der FDP, die vielleicht Sympathie dafür haben, zu beatmen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/896 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. Damit sind Sie einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingbert Liebing, Marie-Luise Dött, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz: UNESCOWeltnaturerbe würdigt Schutz des Wattenmeeres - Drucksache 17/903 Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Als Erstes gebe ich das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser. ({0})

Ursula Heinen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003143

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich sehr, dass wir heute, nur einen Tag nach dem Internationalen Tag des Artenschutzes, einen Antrag debattieren, den mein Kollege Ingbert Liebing initiiert hat. Es freut mich auch, dass wir, Frau Präsidentin, zu einer solchen Zeit über ein wichtiges Naturschutzthema in diesem Haus diskutieren können und nicht wie sonst auf die späteren Uhrzeiten verwiesen werden. Erst einmal herzlichen Dank an Ingbert Liebing und alle Kolleginnen und Kollegen, die diesen Antrag zur internationalen Wattenmeerkonferenz, die Mitte März auf der Insel Sylt stattfinden wird, verfasst haben. Es waren ganz schön große Anstrengungen notwendig, um dorthin zu kommen, wo wir heute beim Thema Wattenmeer stehen, nämlich dass es - das erfüllt uns mit Stolz - geschafft wurde, UNESCO-Weltnaturerbe zu werden und dass damit das Ökosystem Wattenmeer in einer Reihe steht mit Weltnaturerben wie dem Grand Canyon, dem Amazonas-Gebiet in Brasilien oder Ähnlichem. Das ist schon eine tolle Leistung, die vor allen Dingen die Bevölkerung vor Ort mit ihren Initiativen erbracht hat. Kollege Liebing, ich kann Ihnen und den Kollegen vor Ort bestätigen: Wir, das Bundesumweltministerium, unterstützen Sie gerne dabei, weiter voranzukommen und noch mehr zu erreichen als das, was Sie schon erreicht haben; denn die Liste ist noch lang, was wir im Antrag nachlesen können. ({0}) Um es ganz klar zu sagen: Die allergrößte Bedrohung des Wattenmeeres geht vom Klimawandel aus. Die Alpen und das Wattenmeer sind die Gebiete in Deutschland, die vom Klimawandel am meisten betroffen sein werden. In der Wattenmeerregion werden wir es gleich doppelt zu spüren bekommen. Zum einen ändert sich durch die höheren Luft- und Wassertemperaturen die Zusammensetzung der Arten massiv. Das kann das Ökosystem in seiner Funktionsfähigkeit bedrohen. Zum anderen bringt der rasche Anstieg des Meeresspiegels Bedrohungen für Mensch und Natur mit sich. Die Lösung wird sicherlich nicht darin liegen, Superdeiche zu bauen; die trockenfallenden Wattflächen sind unverzichtbar. Grenzüberschreitende Aufgaben, wie sie beim Wattenmeer anfallen, können nur gemeinsam bewältigt werden. Seit über 30 Jahren besteht die deutsch-dänisch-niederländische Wattenmeerkooperation, die uns die nötigen Strukturen und Instrumente für künftige Herausforderungen gibt. Das Wattenmeer ist fast flächendeckend und umfassend in nationale, europäische und internationale Schutzgebietsnetze eingebettet. Ich habe mich heute gewundert. Es gab eine Presseerklärung des WWF, in der gefordert wird, wir in den Ministerien müssten untereinander enger zusammenarbeiten. Ich kann Ihnen versichern: Der Kollege Staatssekretär aus dem Verkehrs- und Bauministerium, Enak Ferlemann, und ich haben in den letzten Wochen zum Thema Wattenmeer und bezüglich möglicher Maßnahmen seines Ministeriums sehr intensiv konferiert und kooperiert. Wir haben ordentlich was geleistet. Deshalb spreche ich dem Herrn Staatssekretär meinen herzlichen Dank für die gute Zusammenarbeit beim Thema Wattenmeer aus. ({1}) Wir haben ein großes Interesse an der Wattenmeerkonferenz. Sehr viele internationale Besucher, die daran teilnehmen werden, möchten sich darüber informieren, wie wir das Abkommen zum Schutz des Wattenmeeres voranbringen wollen. Ich denke, dass wir einiges vorlegen werden. 2010 ist das Internationale Jahr der biologischen Vielfalt. Wir sind verpflichtet, uns mit aller Kraft dafür einzusetzen, die biologische Vielfalt in diesem Jahr noch besser in der öffentlichen Aufmerksamkeit und in der politischen Agenda zu verankern. Diese Debatte hilft uns dabei, ebenso wie die Sylter Wattenmeerkonferenz einen Beitrag dazu leisten wird. Dabei sollen die internationalen Kontakte insbesondere zu Dänemark und den Niederlanden weiter gestärkt werden. Die Zusammenarbeit mit dem Wattenmeerforum soll fortgeführt werden. Wichtige Themen auf Grundlage des bisher Erreichten sind die Entwicklung von Strategien und Projekten für die Anpassung an den Klimawandel, der Umgang mit nicht einheimischen Tier- und Pflanzenarten, die weitere Gestaltung der Nutzung des Wattenmeeres wie Fischerei, Schifffahrt, Energiegewinnung und Tourismus, der bei aller Freude über viele Besucher, gerade als Folge des Welterbestatus, so naturverträglich wie möglich gestaltet werden muss. Ich freue mich auf diese Konferenz. Ich danke meinem Kollegen Ingbert Liebing für die Arbeit vor Ort, und den Kolleginnen und Kollegen hier danke ich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Küstengebiet mit vergleichbarer ökologischer Bedeutung, Schönheit, Dynamik und Größe. Das Wattenmeer, dieser einzigartige Bereich des Lebens zwischen Land und Meer mit seinen Salzwiesen und Muschelbänken, ist ein weltweit einmaliger Lebensraum für viele bedrohte Tiere und Pflanzen sowie die Drehscheibe für Millionen von Zugvögeln wie Ringelgänsen, Eiderenten und Alpenstrandläufern. Hier leben Tausende Seevögel, darunter auch europaweit bedrohte Arten wie Brandseeschwalbe und Seeregenpfeifer sowie Schweinswale, Seehunde und Kegelrobben. Gleichzeitig werden Küste und Meer fast nirgends auf der Welt so intensiv vom Menschen geprägt wie in den Niederlanden, Deutschland und Dänemark. Doch das Wattenmeer ist nicht nur eine europäische Großlandschaft von höchster Bedeutung, sondern es ist zugleich hochgradig gefährdet. So werden über 75 Prozent der im Wattenmeer vorkommenden Biotoptypen und Biotopkomplexe zumindest als gefährdet eingestuft. Betroffen ist das Wattenmeer in dramatischer Form - das ist gerade schon angesprochen worden - vom Klimawandel, insbesondere vom Anstieg des Meeresspiegels, der diesen Raum, der sich über einen Zeitraum von mehr als 7 000 Jahren dort gebildet hat, massiv gefährdet. Neben der Bekämpfung der Ursachen des Klimawandels ist die Anpassung der Wattenmeerregion an die möglichen Auswirkungen nötig. Die Herausforderungen sind groß. Nach Aussagen des Alfred-Wegener-Instituts stehen der Region durch den Anstieg des Meeresspiegels - Zitat - „fast unglaubliche Veränderungen“ bevor. Bis Ende des Jahrhunderts könne der Meeresspiegel um bis zu 1 Meter ansteigen, erklären die Meeresforscher. Mit dem Verlust des Wattenmeeres wäre die Küste insgesamt bedroht. Vor dem Hintergrund all dieser Herausforderungen und zunehmender Gefährdungspotenziale für die Natur, zum Beispiel durch die Fischerei, den Tourismus, teilweise aber auch durch den technischen Küstenschutz, haben die drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark, die Niederlande und Deutschland koordinierte Schutzund Managementmaßnahmen ergriffen. Mit beiden Nachbarstaaten arbeitet Deutschland für den Schutz des Wattenmeeres seit vielen Jahren gut und eng zusammen. Die trilaterale, sprich: Dreiländerzusammenarbeit zum Schutz des Wattenmeeres ist eine Erfolgsgeschichte und ein Musterbeispiel für den grenzüberschreitenden Schutz der biologischen Vielfalt. Im Wattenmeer funktioniert seit Jahrzehnten, worum die Staatengemeinschaft in anderen Fragen derzeit ringt. Gemeinsam ist es möglich, den Verlust der Artenvielfalt aufzuhalten, das Gleichgewicht eines Ökosystems zu erhalten und gleichzeitig eine nachhaltige Nutzung zuzulassen und die Menschen vor Ort für den Schutz ihrer Heimat zu gewinnen, auch wenn das ein durchaus langer Weg war und ist, wie diejenigen, die an der Küste leben oder dort gelegentlich Urlaub machen, wissen. Die Überarbeitung der grundlegenden Dokumente und Strukturen der Zusammenarbeit ist notwendig geworden, weil die bisherigen Vereinbarungen fast 30 Jahre alt sind. Auf der Konferenz auf Sylt in wenigen Tagen wird es auch darum gehen, wie wir die Empfehlungen des Welterbekomitees umsetzen. Zum Glück ist das Wattenmeer nach langem Kampf seit dem 26. Juni des letzten Jahres Weltnaturerbe. Das ist eine Entscheidung, die, wie gesagt, lange bekämpft und jetzt zum Glück erkämpft wurde. ({0}) Damit wurde und wird das Wattenmeer in seiner Bedeutung gewürdigt. Es steht jetzt gleichrangig auf der UNESCO-Liste neben bedeutenden Naturschätzen wie dem Yellowstone-Nationalpark in den USA oder den Galapagosinseln im Pazifik. Die Auszeichnung bringt einen enormen Imageschub für das Wattenmeer und wird hoffentlich auch den - ich unterstreiche das - nachhaltigen Tourismus stärken. Hier zeigt sich, dass Naturschutz, Wirtschaft und Tourismus keine Gegensätze sein müssen. Die Anerkennung des Nationalparks ist aber auch eine Bestätigung für die Leitlinie, in weiten Bereichen dieses einmaligen Naturerbes Natur Natur sein zu lassen und für umfangreiche Schutzzonen einzutreten. Herr Liebing - Sie sind hier schon mehrfach gewürdigt worden -, Sie haben einen interessanten Antrag vorgelegt. Vieles von dem können wir unterschreiben. Die Zusammenarbeit zwischen den Ministerien wurde gerade gelobt. Inwieweit das Lob zutrifft, kann ich nicht sagen. Hinter diese Aussage setze ich aber zumindest ein Fragezeichen. Eine schlechte, jedenfalls keine sehr produktive Zusammenarbeit ist die zwischen Ihnen hier im Bundestag und denen, die in den Ländern Verantwortung tragen. Ich finde es geradezu skandalös, dass Sie von Schwarz-Gelb im Bundestag die Wichtigkeit des Wattenmeerschutzes beschwören, während Ihre Kollegen von Schwarz-Gelb in Schleswig-Holstein und Niedersachsen durch Beschlüsse genau das Gegenteil tun ({1}) - das wird noch zu würdigen sein - und mit der Kettensäge an die Finanzierung wichtiger Projekte gehen. So möchte Schleswig-Holstein die Zuschüsse zum Freiwilligen Ökologischen Jahr kürzen, und zwar um eine halbe Million Euro im Jahr. ({2}) Kirchen und Verbände in Schleswig-Holstein fürchten, dass von den 150 Plätzen, die für die Arbeit der Naturschutzverbände existenziell wichtig sind, nur noch 100 Plätze übrig bleiben. Das ist nicht hinnehmbar, und diese Kritik müssen wir dann hier auch formulieren. Was passiert in Niedersachsen? Das Land Niedersachsen ist dabei, die Förderung der Nationalparkhäuser trotz steigender Besucherzahlen zu kürzen, obwohl es so gern den „Naturschutz mit den Menschen“ predigt, wie nachzulesen ist. Das ist ein wirklicher Rückschlag für das Weltnaturerbe. Das darf man international eigentlich niemandem erzählen. In den letzten Jahren wurden die Mittel gekürzt, und mehr Geld für die Ausstattung der Nationalparkhäuser im Wattenmeer wird es - so ist zu hören - bis 2013 nicht geben. Offensichtlich müssen die Nationalparkhäuser selber sehen, wie sie mit den gestiegenen Anforderungen für die Informations- und Bil2424 dungsarbeit zurechtkommen, die gerade jetzt mit der Anerkennung als Weltnaturerbe auf sie zukommen. Ich jedenfalls sehe die Entwicklung der 14 Nationalparkhäuser und -zentren in Niedersachsen mit Sorge. Seit dem Antritt der schwarz-gelben Landesregierung ist die Finanzierung zurückgefahren worden. Auch für das Jahr 2010 gibt es keine Besserung. Kommen wir zu den PSSAs; ich nenne jetzt nicht den langen englischen Begriff. Das sind die Schutzzonen der Internationalen Schifffahrtsorganisation. Seit 2001 ist das Wattenmeer eine solche Schutzzone. Das ist schön; aber im Wattenmehr gibt es kaum Schiffe. Die Schiffe kann man nur sehen, wenn man abends zum Beispiel in Juist am Strand steht; man sieht sie im Dunkeln als helle Punkte am Horizont. Sie befinden sich vor der Schutzzone. In diesen Bereichen und in den Bereichen der gefährdeten Hafeneinfahrten gibt es Schiffe. Sie haben recht mit Ihrem Hinweis auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen gegenüber niederländischen Häfen, wenn man diesen Bereich ohne Weiteres in den Schutz einbeziehen würde. Deshalb wäre es notwendig, in einen konstruktiven Dialog darüber einzutreten, wie die Seeschifffahrt - in Abstimmung der Umweltschutzbehörden mit den Verkehrsbehörden - sicherer gemacht werden kann, ohne dass Wettbewerbsverzerrungen eintreten. Dies ist zum Beispiel der Wunsch bzw. die Bitte vieler Naturschutz- und Umweltschutzverbände, deren Position wir nachhaltig unterstützen. Eine solche Perspektive zeigen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Der Antrag der Koalition macht deutlich, dass es in diesem Haus eine hohe Übereinkunft bei der Einschätzung der Bedeutung des Wattenmeeres und der Zusammenarbeit der drei Länder gibt; das ist gut so. Ihr Antrag allerdings hat wenig Substanz, bringt uns zu wenig nach vorn und schont die falsche Politik Ihrer Landesregierungen. Deshalb wird sich die SPD bei der Abstimmung über den Antrag enthalten. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion hat das Wort die Kollegin Angelika Brunkhorst. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade bei uns in der Fraktion einen neuen Slogan entworfen: Würmer, Watt und Weltnaturerbe. Das klingt doch gut. Diese Debatte hört sich auch eher an wie eine große Schwärmerei für das, was hier gelungen ist. Die Aufnahme der deutsch-niederländischen Wattenmeerregion in die Liste der UNESCO-Weltnaturerbestätten stellt sie auf eine Ebene - das wurde schon gesagt - mit anderen großen Naturstätten wie dem Grand Canyon in den USA und dem Great Barrier Reef vor der Küste Australiens. Es wurde auch schon gesagt, dass wir es hier mit einem einzigartigen, außergewöhnlichen Naturraum zu tun haben, in dem es eine hohe Artenvielfalt von Vögeln, Fischen, Krebstieren und natürlich auch Robben gibt. Auf dieser Welt gibt es keine größere zusammenhängende Wattenmeerregion: 13 000 Quadratkilometer, allein 10 000 davon in der Schutzkategorie Nationalpark. Als eines der größten Feuchtgebiete der Erde, als Rastplatz für viele Millionen Zugvögel, als Kinderstube für Meerestiere und mit seinem Reichtum an Lebensräumen für Tierarten und Pflanzenarten ist das Wattenmeer weltweit einzigartig. Dieser außergewöhnliche Wert wurde nun von der UNESCO gewürdigt. Das Wattenmeer hat ein tolles Prädikat erhalten. ({0}) Ebenso wurde - Sie haben die Konkurrenz bei der Schifffahrt angesprochen - von der Internationalen Schifffahrtsbehörde anerkannt, dass das Wattenmeer durchaus ein bedeutsames und ökologisch empfindsames Gebiet darstellt. Die trilaterale Wattenmeerzusammenarbeit basiert auf der gemeinsamen Erklärung der drei Wattenmeeranrainerstaaten Dänemark, Niederlande und Deutschland. Die Trilaterale Wattenmeerkonferenz findet vom 17. bis 19. März 2010 unter deutscher Präsidentschaft, die Deutschland seit 2006 ausübt, auf Sylt statt. Auf dieser Konferenz soll eine gemeinsame Ministererklärung verabschiedet werden, in der die Schwerpunkte für die nächste Präsidentschaft festgelegt werden, und es sollen auch modernere Organisationsstrukturen festgelegt werden. Das Leitbild der drei Anrainerstaaten bei der Entwicklung gemeinsamer Maßnahmen ist, so weit wie möglich ein natürliches und sich selbst erhaltendes Ökosystem zu erreichen, in dem natürliche Prozesse ungestört ablaufen können. Um dies zu schaffen, wurde im Jahre 2001 das Wattenmeerforum eingerichtet. Es ist ein Forum, welches soziale, aber auch wirtschaftlich und ökologisch ausgerichtete Maßnahmen entwickeln soll, die im Rahmen einer Gesamtvision wirken sollen. Hier sind Vertreter aus dem staatlichen Bereich, Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, aber auch die Bürger vor Ort mit eingebunden; das ist selbstverständlich. Es ist wichtig, dass das Wattenmeerforum seine Arbeit auch in Zukunft fortsetzen kann. Viele Probleme lassen sich nur in Kooperation mit anderen Staaten lösen; allein sind sie nicht lösbar. Das Prädikat „UNESCO-Weltnaturerbe“ ist - ich habe es schon gesagt - wertvoll. Es ist auch ein wirksames Marketinginstrument. Die Wattenmeerregion kann sich eine gute Marktposition auf dem Gebiet des naturnahen Tourismus verschaffen. Damit ist das für den Tourismus wertvolle Prädikat „Weltnaturerbe“ sicherlich ein Standortvorteil für die deutsche Küstenregion. Wir begrüßen, dass auch der dänische Teil des Wattenmeeres jetzt als Nationalpark eingestuft werden soll, und hoffen, dass in der Folge auch dieser Teil als UNESCO-Weltnaturerbe anerkannt wird. ({1}) Zudem hat die Stadt Hamburg sozusagen auf der Zielgeraden gerade noch den Antrag gestellt, auch ihre Wattenmeerflächen als UNESCO-Weltnaturerbe anzuerkennen. Dem Vorhaben, die sogenannten PSSAs, die Particularly Sensitive Sea Areas, auszuweiten - dass dies geschieht, war eine Sorge der maritimen Wirtschaft -, haben die zuständigen Bundesressorts eine Absage erteilt. Man erachte die gültigen Schutz- und Sorgfaltspflichten als angemessen. Unser Wattenmeer muss für die jetzige Generation und für künftige Generationen erhalten bleiben. Die Managementmaßnahmen im Rahmen der Trilateralen Wattenmeerkonferenz sind insbesondere darauf ausgerichtet, den Anforderungen an die Erhaltung der Biodiversität in dem natürlichen und dynamischen Wattenmeerökosystem gerecht zu werden. Die ersten Bemühungen zeigen bereits Erfolge. Beispielsweise waren die Kegelrobben stark dezimiert; sie wären fast ausgestorben. Jetzt gibt es wieder große Populationen, die insbesondere in einer Kolonie auf der Kachelotplate zu finden sind. Dort können sie sich völlig ungestört entwickeln und haben Ruhe und Wurfplätze. Es ist gut, zu sehen, dass bestimmte Tierarten, wenn man sie vor Verfolgung schützt und ihnen Ruhe gewährt und Rückzugszonen einräumt, sich wieder vermehren und sich dort heimisch fühlen. Die FDP verfolgte schon immer eine Naturschutzpolitik - es sei mir zum Schluss gestattet, darauf hinzuweisen -, die Naturschutz mit den Menschen proklamiert. Für bestimmte Maßnahmen brauchen wir die Akzeptanz der Menschen vor Ort. Ich glaube, die Nominierung des Wattenmeeres als UNESCO-Weltnaturerbe ist dafür ein Paradebeispiel. Denn die Menschen vor Ort sind auf breiter Basis für die Anmeldung und Durchsetzung dieser langjährigen Bemühungen eingetreten und haben sie mitgetragen. Dafür danke ich den Menschen vor Ort. Ich danke auch für Ihre Aufmerksamkeit und bitte, dem Antrag zuzustimmen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Stüber für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Stüber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004171, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Das Wattenmeer - im Gezeitenwechsel der Nordsee mal Land, mal Meer - ist mit 10 000 Quadratkilometern das größte Küstenfeuchtgebiet Europas. Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, würdigen in Ihrem Antrag den einzigartigen Naturwert mit seiner enormen Artenvielfalt. Zu Recht benennen Sie Erfolge, auf die wir stolz sein können. Seit 1982 arbeiten Dänemark, Deutschland und die Niederlande zusammen, um diesen Naturraum zu schützen. Dabei wurde viel erreicht, von der Unterschutzstellung bis zur gemeinsamen Nominierung des Wattenmeeres für die Welterbeliste und der Anerkennung als Weltnaturerbe. Die Arbeit soll weitergeführt, entwickelt und natürlich auch finanziert werden. Alles, was Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, können wir nur unterstützen - bis auf einen, aus unserer Sicht leider keinen kleinen Widerspruch; fast könnte man es überlesen. Ich zitiere: Deshalb unterstützt der Deutsche Bundestag die ablehnende Haltung der Bundesregierung gegen eine Ausdehnung des PSSA-Gebietes … über das Wattenmeer-Kooperationsgebiet hinaus. In der trilateralen Zusammenarbeit konnte man sich lange nicht zu einem Schutz des Wattenmeeres vor möglichen Folgen der Schifffahrt einigen, ({0}) bis zur Havarie des Frachters „Pallas“ vor Amrum 1998. Nur rund 100 Tonnen Öl kosteten 16 000 Seevögel das Leben. 2001 einigten sich die drei Staaten darauf, für das Wattenmeer den Status als „Besonders Empfindliches Meeresgebiet“ bei der IMO, der UN-Organisation für die weltweite Regelung der Schifffahrt, zu beantragen. Diesen Status erhalten nur Gebiete mit einer besonders hohen ökologischen Bedeutung, die von der Schifffahrt durch Verschmutzung gefährdet werden können. Die südliche Nordsee gehört dazu. Sie ist eines der weltweit am stärksten befahrenen Meeresgebiete. Der Gebietsschutz geht allerdings bisher nicht über die Weltnaturerbefläche hinaus, und man konnte sich auch noch nicht über zusätzliche Schutzmaßnahmen verständigen. Die bestehenden Maßnahmen wurden als ausreichend eingestuft. Was heißt das, Kolleginnen und Kollegen? Das heißt, dass mit diesem Antrag, über den wir heute hier befinden, das Signal für die künftige Arbeit der trilateralen Wattenmeerkooperation doch recht dürftig ausfällt; denn neben der Unterstützung all der durchaus wichtigen Maßnahmen wird der grundsätzliche Schutz des Wattenmeeres, die Einrichtung einer Pufferzone um das eigentliche Weltnaturerbe, explizit ausgeschlossen. Wettbewerbsverzerrung zum Nachteil Deutschlands ist wie in vielen Fällen die eher fadenscheinige Begründung. ({1}) Das Wattenmeer braucht mehr Schifffahrtsschutz als bisher. Der Schiffsverkehr auf dem Hauptstrom parallel zum deutschen und niederländischen Wattenmeer wird weiter zunehmen. Ich möchte mir den Wettbewerbsnachteil für den deutschen Tourismus und die Fischerei an der Nordsee nach einer jederzeit möglichen Havarie gar nicht vorstellen. Umwelt- und Schifffahrtsverbände machen immer wieder Vorschläge und fordern seit Jahren ein umfassendes Schiffsverkehrsmanagement. Hinzu kommt die Forderung nach einer Erweiterung der Schutzzone und deren Einstufung als „Besonders Empfindliches Meeres2426 gebiet“. Dem schließen wir uns als Linke an. Den Antrag in der jetzigen Form lehnen wir ab. ({2}) Wir erwarten von der Bundesregierung, mit ihren Vorschlägen den gegenwärtigen Erfordernissen mit einem Blick in die Zukunft gerecht zu werden. Danke. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Valerie Wilms für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Valerie Wilms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Als Grüne müsste ich mich eigentlich wirklich freuen: Auf Antrag der Koalition - Herr Liebing, vielen Dank - reden wir heute über das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer, und dies gerade im Internationalen Jahr der biologischen Vielfalt, wie die Parlamentarische Staatssekretärin sagte. Das ist wirklich zu begrüßen. Aber was muss ich dann feststellen? Das von Ihnen abgelieferte Papier bleibt äußerst dünn, und damit entspricht der Antrag leider auch dem Gesamtbild, das diese Koalition seit ihrem Bestehen abgibt. ({0}) Was bitte wollen Sie mit diesem deklaratorischen Antrag eigentlich erreichen? Wenn Sie wirklich etwas für das Wattenmeer tun wollen, müssen Sie an größeren Rädern drehen. Oder ist Ihnen das zu anstrengend? Da wäre zum Beispiel die zunehmende Vermüllung der Meere. Inzwischen gehört die Deutsche Bucht zu den am meisten verschmutzten Gewässern. Das Wattenmeer und unsere Küsten leiden unter all den bekannten negativen Auswirkungen, auch auf Natur und Tourismus. Hier erwarten wir von Ihnen Vorschläge. Davon ist nichts zu sehen, Sie drücken sich. ({1}) Das Wattenmeer gehört zwar inzwischen zum UNESCO-Weltnaturerbe und ist damit geschützt; aber was kann dagegen getan werden, dass Schiffe ihren Abfall auf offener See einfach verklappen? Was irgendwo da draußen in die Nordsee gekippt wird, landet früher oder später im Watt. Vögel und Meerestiere fressen kleine Plastikteile und verenden daran. Schauen Sie sich einmal den Film Plastic Planet an! Er ist sehr interessant. ({2}) Der Rest steckt im Schlick oder wird an den Strand gespült. Das ist die Realität, mit der das Wattenmeer heute zu kämpfen hat. Auch davon findet sich in Ihrem Antrag nichts. ({3}) Auch über die Deichsicherheit und den Klimawandel verlieren Sie in Ihrer Vorlage kein Wort. Dabei hat uns das Sturmtief „Xynthia“ erst letztes Wochenende gezeigt, womit wir in Zukunft zu rechnen haben. Weltweit werden die Meeresspiegel dramatisch ansteigen. Allein seit 1900 ist der Pegel der Nordsee um 20 Zentimeter angestiegen. Der Klimawandel wird diesen Effekt noch verschärfen. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Setzen Sie diese Problematik auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz auf Sylt. Gerade die Insel Sylt - Herr Liebing, das wissen Sie als Sylter am besten - ist besonders betroffen. ({4}) Werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon zu Beginn betont, dass wir Grünen es begrüßen, wenn sich der Bundestag mit dem UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer beschäftigt. Die Koalition hat eine Reihe von Punkten durchaus zu Recht in ihren Antrag aufgenommen. Dennoch bleibt vieles hinter dem Notwendigen zurück. Ihr Antrag ist eine Deklamation von Bekanntem und Wünschenswertem. Deswegen fordere ich Sie auf, endlich etwas für den Schutz des gesamten Meeres zu tun. ({5}) Wir werden das Wattenmeer in seiner Einzigartigkeit nur bewahren können, wenn wir für die gesamte Nordsee und den Atlantik etwas tun und zum Beispiel die zunehmende Vermüllung stoppen. Werden Sie dazu auf europäischer und globaler Ebene aktiv! Dazu bietet sich diese Regierungskonferenz geradezu an, wenn Sie die Leitlinien für die nächste Präsidentschaft bestimmen wollen. Es ist schade, dass Sie über dieses wichtige Thema sofort abstimmen wollen. Wir hätten gerne im Ausschuss Verbesserungen eingebracht, damit auch die Naturschutzverbände voll hinter Ihnen stehen. Ein Stichwort wäre, dass Sie die Ausweitung des Schutzstatus PSSA ablehnen. Schon vor diesem geringen Schutzstatus schrecken Sie zurück, obwohl hiervon keinerlei negative Auswirkungen auf die Wirtschaft zu erwarten sind. Das ist mehr als enttäuschend. ({6}) Bei etwas so Wichtigem wie dem Wattenmeer hätte man bei gutem Willen durchaus zu einem Antrag des ganzen Hauses finden können. Das war offensichtlich nicht Ihr Wunsch. Für eine Regierungskoalition, die Maßstäbe setzen will, hat Ihr Antrag leider zu wenig Inhalt. Sie werden unsere Stimmen nicht brauchen - und auch nicht bekommen. Ich empfehle meiner Fraktion eine Enthaltung. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Dr. Wilms, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und verbinde das mit den besten Wünschen für die weitere Arbeit. ({0}) Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Ingbert Liebing für die CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über das Wattenmeer hat gezeigt, dass wir alle miteinander in diesem Hause stolz darauf sind, dass die UNESCO diesen einzigartigen Naturraum im vergangenen Jahr als Weltnaturerbe ausgezeichnet hat. Nach Ihrem Beitrag, Frau Dr. Wilms, sage ich bei aller persönlichen Wertschätzung ganz offen: Ich hätte mich gefreut, wenn Sie bei diesem Thema das, was uns verbindet, in den Vordergrund gestellt hätten. Ich habe ausdrücklich darauf verzichtet, nun alles Mögliche aus den Unterlagen der Konferenz abzuschreiben - Ministererklärung, Wattenmeerplan und Ähnliches -, in denen all die Dinge, die Sie hier einfordern, sehr wohl angesprochen werden: von der Sicherheit auf See über den Seeverkehr bis hin zum Klimawandel. Wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, einmal in diese Konferenzunterlagen hineinzusehen, dann hätten Sie feststellen können, dass dies alles auf der Konferenz behandelt wird. Wir brauchen das alles aber nicht noch einmal in unserem Antrag abzuschreiben. Es ist gut, dass wir uns heute im Deutschen Bundestag mit diesem Thema beschäftigen, weil das auch eine Würdigung der Anerkennung des Wattenmeeres als Weltnaturerbe darstellt. Dabei war das wahrlich keine Selbstverständlichkeit. 18 Jahre hat es gedauert, bis diese Auszeichnung erreicht werden konnte. Es war ein schwieriger Diskussionsprozess, den ich selber vor Ort erlebt habe. Schließlich gibt es auch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Naturraum Wattenmeer und den vielfach zitierten Vergleichsregionen wie Grand Canyon und Great Barrier Reef. Das Wattenmeer ist schließlich auch ein Raum, in dem Zehntausende Menschen auf den Inseln und Halligen mitten im Wattenmeer leben und arbeiten. Wenn wir die Küstenregionen dazunehmen, kommen weitere Millionen Menschen hinzu. Es ist ein Raum, in dem jährlich Millionen von Menschen Urlaub machen. Die Menschen auf den Inseln und Halligen sind von der Schifffahrt und vom Küstenschutz abhängig, mit dem sie über Jahrhunderte hinweg ihren Lebensraum gesichert haben. Hafen- und Energiewirtschaft hängen eng mit dem Wattenmeer zusammen. Das gilt genauso für die Fischerei und die Landwirtschaft. Sie alle haben gefragt: Welche Folgen hat die Anerkennung als Weltnaturerbe für uns? - Es ist inzwischen klargestellt: Das Wattenmeer verfügte bereits vor der Anmeldung über ein so hohes Schutzniveau, dass es zusätzlicher Restriktionen nicht bedarf. Niemand muss deshalb Sorge haben, dass durch das Welterbe legitime Interessen der Region beeinträchtigt werden. Deshalb gab es im Juni vor allem Stolz und ein Aufatmen in der Region. ({0}) Das ist aber auch das Ergebnis einer geänderten Vorgehensweise gewesen. Ich habe erlebt, wie umweltpolitische Ziele von Rot-Grün von oben und von außen vorgegeben worden sind. Dadurch wurde eher Widerstand hervorgerufen. Es sind dann andere, Unionspolitiker, und andere Landesregierungen, christlich-liberale Landesregierungen, gewesen, die dann anders damit umgegangen sind, die die Menschen mitgenommen und Überzeugungsarbeit geleistet haben. ({1}) Deswegen ist es gelungen, dass die Menschen in der Region zu diesem Welterbe jetzt Ja sagen. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege Liebing, ich darf Sie kurz unterbrechen. Der Herr Kollege Schwabe möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Liebing, ich will Ihr Engagement durchaus würdigen, und Sie haben zu Recht angesprochen, wie schwierig die Situation vor Ort ist und wie schwierig es ist, Akzeptanz bei den Menschen vor Ort zu erreichen. Trotzdem will ich Sie an dieser Stelle doch noch einmal fragen: Wie kann es sein, dass gerade die Landesregierungen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, die Sie ja gerade, denke ich, ein Stück weit gelobt haben, die Mittel für die Infrastruktur, für die Nationalparkhäuser und für das Personal kürzen, obwohl sie ja gerade dafür da sind, Akzeptanz zu schaffen, eine Nachhaltigkeit bei der touristischen Nutzung zu erreichen und Überzeugungsarbeit zu leisten? Wie kann es also sein, dass diese Mittel gekürzt werden?

Ingbert Liebing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003801, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich sehe keineswegs, dass die niedersächsische Landesregierung ihrer Verantwortung für das Wattenmeer jetzt nicht nachkommt, sondern ganz im Gegenteil: Die niedersächsische Landesregierung investiert im Rahmen eines Interreg-Programms gemeinsam mit den Nachbarn in den Niederlanden 300 000 Euro für zusätzliche Maßnahmen im Wattenmeer. Zum FÖJ in Schleswig-Holstein. Es geht ausschließlich darum, dass die Finanzierung auf den Level der anderen Bundesländer abgesenkt wird, nachdem Ihre Kollegen in Kiel in roter und rot-grüner Regierungszeit das Land über 18 Jahre hinweg ruiniert haben. Das Land ist jetzt pleite, und jetzt kann man sich nicht mehr erlauben als andere Länder. ({0}) - Herr Kelber, ich schlage vor, dass wir jetzt zum Thema zurückkommen. Kommen wir zurück zum Wattenmeer. ({1}) - Das ist nicht unangenehm, aber beschäftigen wir uns lieber mit unserem Thema. Wir sind stolz auf die Anerkennung als Weltnaturerbe, und es ist gut, dass jetzt auch der Hamburger Senat das klare Bekenntnis dazu abgegeben hat, die dortigen Flächen nachzumelden. Auch Dänemark wird diese Diskussion jetzt aufnehmen können, nachdem die Anerkennung als Nationalpark auf den Weg gebracht wurde. Das alles sind gute Perspektiven für das Wattenmeer. Wir müssen aber auch die Chancen nutzen, vor allem auch für den Tourismus. Hier sehe ich eine nationale Verantwortung. Ich freue mich, dass das Bundesumweltministerium dieses Thema aufgegriffen hat, und möchte Staatssekretärin Heinen-Esser ausdrücklich ermuntern, diesen Weg weiterzugehen; die Unterstützung der Koalition ist hier sicher. ({2}) Seit über 30 Jahren arbeiten die Niederlande, Dänemark und Deutschland in der Trilateralen Wattenmeerkooperation zusammen. Diese Kooperation bildet die Grundlage für das hochrangige Schutzniveau, das wiederum die Voraussetzung für die Anerkennung als Weltnaturerbe gewesen ist. Im Rahmen der Kooperation finden alle vier Jahre Regierungskonferenzen statt, so auch in zwei Wochen auf Sylt. Die Konferenz auf Sylt bildet den Abschluss einer erfolgreichen deutschen Präsidentschaft in der Trilateralen Wattenmeerkooperation. Wir können diese Präsidentschaft wegen der erfolgreichen Anmeldung des Weltnaturerbes, wegen des überarbeiteten Wattenmeerplans, wegen des erneuerten Gründungsdokuments der Kooperation, wegen der neu entwickelten Organisationsstruktur und wegen des Entwurfs einer Ministererklärung ausdrücklich würdigen. Ich will gerne zwei der Themen aufgreifen, die auf der Konferenz verhandelt werden sollen. Das Thema PSSA ist mehrfach kritisch angesprochen worden. Um es ausdrücklich zu sagen: Das Thema der Sicherheit auf See ist für die Wattenmeerkonferenz von entscheidender Bedeutung. Es spielt, wie man den Unterlagen entnehmen kann, auch auf der Konferenz eine Rolle. Hier sitzt niemand, der sagt: Wir müssen uns nicht mit dem Thema beschäftigen. Ich persönlich setze mich seit vielen Jahren dafür ein, die Sicherheitsstruktur auf See zu verbessern. Es wird ein Thema sein, die Bundeskompetenzen, die gesplittet sind und sich auf verschiedene Behörden verteilen, zu bündeln. Es waren die Sozialdemokraten, die dies in der Vergangenheit immer verweigert haben. Die christlich-liberale Koalition hat sich vorgenommen, die Kompetenzen zu bündeln; wir werden das tun. Ich werde Sie daran messen, ob Sie mitziehen, wenn wir dies einbringen. ({3}) Beim Thema PSSA geht es um mehr: In erster Linie geht es nicht um den Schutz des Wattenmeeres. Es glaube doch bitte keiner, dass diejenigen in Holland, die die Ausdehnung der PSSA vorantreiben, dies ausdrücklich mit Blick auf den Schutz des Wattenmeeres tun! Sie tun es mit Blick darauf, dass die deutschen Seehäfen nach einer Ausdehnung in das Schutzgebiet einbezogen wären und damit die Zufahrt zu ihnen erschwert würde, während Rotterdam - auch Antwerpen - außen vor bleiben würde. Natürlich hat dies Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit der Häfen, die wir nicht akzeptieren können. Beschäftigen wir uns lieber mit den konkreten Maßnahmen, die tatsächlich für mehr Sicherheit im Seeverkehr sorgen, anstatt nur pauschal über das Thema der PSSA zu sprechen! Im Übrigen darf ich daran erinnern: Ehemalige Minister - sowohl Herr Tiefensee von der SPD als auch Herr Trittin von den Grünen - haben die Ausdehnung der PSSA über das eigentliche Schutzgebiet des Wattenmeeres hinaus nicht betrieben. Da das Stichwort Pallas gefallen ist, möchte ich hervorheben: Das Unglück der Pallas wäre auch durch eine Ausdehnung der PSSA nicht verhindert worden; denn ein PSSA-Gebiet schützt nicht davor, dass ein Havarist von draußen in das Wattenmeer hineintreibt. Es handelte sich um einen Holzfrachter, der durch jedes PSSA-Gebiet hätte fahren dürfen. Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist das Wattenmeerforum. Es ist ein sehr gutes Instrument, das die Interessenorganisationen in der Wattenmeerregion bündelt und in die Wattenmeerkooperation mit einbringt. Dieses Wattenmeerforum bekommt mit dieser Regierungskonferenz einen neuen, gestärkten Status als Berater des neuen Wattenmeervorstandes. Wenn man dies tut, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Arbeit kontinuierlich fortgesetzt werden kann. Deswegen setzen wir uns mit unserem Antrag auch dafür ein, dass diese Arbeit fortgesetzt werden kann, auch in finanzieller Hinsicht. Ich bin sicher: Dies stärkt das Vertrauen in der Region und dient dem gemeinsamen Interesse des Wattenmeerschutzes. Die beiden Ereignisse - Listung des Wattenmeeres als Weltnaturerbe sowie die Trilaterale Wattenmeerkonferenz auf Sylt zum Abschluss der deutschen Präsidentschaft - sind es wert, vom Deutschen Bundestag gewürdigt zu werden. Dies tun wir, die Fraktionen der christlich-liberalen Koalition, mit unserem Antrag. Ich werbe für ein deutliches Signal des Deutschen Bundestages, den Wert dieses Naturraums zu würdigen, die Leistung der deutschen Präsidentschaft in der Wattenmeerkooperation anzuerkennen und die Chancen, die dieser Raum bietet, beherzt zu nutzen. Darum bitte ich Sie heute um Unterstützung für unseren Antrag. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/903 mit dem Titel „11. Trilaterale Wattenmeerkonferenz - UNESCO-Weltnaturerbe würdigt Schutz des Wattenmeeres“. Wer stimmt für den Antrag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, Rainer Arnold, Sabine Bätzing und weiterer Abgeordneter der Fraktion der SPD, sowie der Abgeordneten Jan van Aken, Agnes Alpers, Dr. Dietmar Bartsch und weiterer Abgeordneter der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Kerstin Andreae, Marieluise Beck ({0}), Volker Beck ({1}) und weiterer Abgeordneter der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 17/888 ({2}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Matthias Miersch von der SPD-Fraktion das Wort. ({3})

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Recht, einen Untersuchungsausschuss zu verlangen, ist ein Urrecht und ein wichtiges Recht, das meistens die Minderheit im Parlament wahrnimmt. Wir meinen, dies ist ein Mittel, das sehr sorgfältig eingesetzt werden muss; aber es muss eingesetzt werden, wenn es um zentrale Fragen geht. Die Endlagersuche und die Risikotechnologie Atomenergie sind solche zentralen Fragen. Wir haben Zweifel, ob die einseitige Festlegung auf den Erkundungsstandort Gorleben tatsächlich auf richtigen Erwägungen beruht. Wir haben vielmehr den Eindruck, dass vieles verdeckt werden soll und dass die schwarz-gelbe Bundesregierung alle Zweifel vom Tisch wischen will. Das darf nicht sein. Deswegen fordern wir in unserem Antrag, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. ({0}) Worum es im Einzelnen gehen wird, wird meine Kollegin Ute Vogt, die für uns die Obfrau in diesem Ausschuss sein wird, näher erläutern. Ich will nur kurz den Kern skizzieren. Es geht darum, zu klären, ob es unter der Regierung von Helmut Kohl, unter der schwarz-gelben Bundesregierung im Jahr 1983 zur Festlegung auf den Untersuchungsstandort Gorleben gekommen ist, obwohl man es hätte besser wissen müssen. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Zweifel, die von Fachleuten angemeldet wurden, unberücksichtigt geblieben sind. Die Frage ist, ob die Politik dergestalt Einfluss genommen hat, dass Fachleute und Gutachten nicht mehr die entscheidende Rolle gespielt haben. Die Frage ist, ob Zweifel, die frühzeitig geäußert wurden, unterdrückt wurden. Wir haben Hinweise darauf, dass Gutachten manipuliert wurden und die Fakten bewusst nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Darum wird es in diesem Untersuchungsausschuss gehen. Die Diskussion über das Endlager findet in einem hochaktuellen Kontext statt. Sie streiten sich als schwarz-gelbe Koalition wie die Kesselflicker um die Frage, wie Sie mit der Atomtechnologie weiter umgehen. ({1}) Parallel dazu kürzen Sie bei den erneuerbaren Energien. Was wir heute aus den Haushaltsberatungen hören, ist mehr als alarmierend. Sie scheinen wirklich weit in die Vergangenheit zurückzufallen. Gleichzeitig formiert sich der Widerstand in der Öffentlichkeit. Am 24. April 2010 werden viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gruppen ihre Interessen dadurch vertreten, dass sie zwischen Brunsbüttel und Krümmel eine Menschenkette bilden werden. Gleichzeitig will Bundesminister Röttgen jetzt plötzlich in Gorleben die Öffentlichkeit beteiligen. Wenn Herr Röttgen etwas sagt, dann muss man sehr genau aufpassen, wie Worte und Taten zusammenzubringen sind. Auch hier zeigt sich, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit vieles offenbar kaschieren soll und dass es eigentlich nur eine Pseudobeteiligung ist. Denn worum geht es? Sie haben vor, das Ganze weiterhin nach dem Bergrecht zu regeln, mit der Folge, dass es gerade keine richtigen Möglichkeiten zu Einwendungen und Klagen der Bevölkerung gibt. Führen Sie die Leute nicht vor! Wir haben drei elementare Forderungen: Erstens. Beteiligen Sie die Öffentlichkeit richtig, statt sie vorzuführen! Zweitens. Stellen Sie, solange dieser Untersuchungsausschuss tagt, alle Tätigkeiten der weiteren Erkundung von Gorleben ein! Alles andere wäre unverantwortlich. ({2}) Drittens. Führen Sie keine einseitige Erkundung durch! Denn wir wissen schon heute, dass es eigentlich um viel mehr geht. Sie wissen, dass Sie in Gorleben enorme Probleme bekommen werden. Denn die Verträge mit den Grundstückseigentümern laufen 2015 aus. Wer seriös an die Sache herangeht, weiß, dass man für die Erkundung viel länger braucht. Sie wissen eigentlich heute schon, dass Sie bei Gorleben gar nichts gewinnen können. Insofern ist der Schritt, den der Bundesminister jetzt scheinbar vorhat, ein unverantwortlicher. ({3}) Jeder, der sich mit der Frage beschäftigt, weiß, dass neben Salz inzwischen ganz andere Gesteinsarten - beispielsweise Ton und Granit - infrage kommen. Wer sich heutzutage einseitig auf Gorleben festlegt, produziert eigentlich den nächsten Skandal. Denn wer in die Schweiz oder in andere Länder schaut, weiß, dass man sich nicht einseitig festlegen darf. Das ist unverantwortlich. ({4}) Sie werden genau überlegen müssen, wie Sie mit den Menschen vor Ort umgehen. Wenn sich herausstellen sollte, dass hier manipuliert worden ist, oder sich herausstellen sollte, dass fachliche Stellungnahmen nur unzureichend zur Kenntnis genommen worden sind, dann können Sie doch nicht in einem so gefährlichen Gebiet nach dem Motto handeln: Augen zu und durch. Wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Sie werden hier mit dem geballten Widerstand der Opposition zu rechnen haben. Deswegen sage ich zum Abschluss noch einmal: Lassen Sie augenblicklich die Finger von Gorleben! Nehmen Sie Ihre Kraft mit in den Untersuchungsausschuss! Klären Sie das gemeinsam mit uns auf, und unterlassen Sie, solange der Untersuchungsausschuss tagt, jegliche Vorhaben, diese Erkundung weiter durchzuführen! Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Kollege Miersch hat es bereits gesagt: Es ist das schärfste Schwert der Opposition, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu beantragen, und zugleich ist es ein Minderheitenrecht. Für uns als Unionsfraktion, als größte Fraktion im Bundestag, ist es selbstverständlich, dass wir den Untersuchungsauftrag mit großem Respekt vor den Maßgaben des Grundgesetzes unaufgeregt abarbeiten. Untersuchungsgegenstand ist ein schwerwiegender Vorwurf gegen die Regierung Kohl/Genscher aus dem Jahr 1983. Damals fiel die Entscheidung, ausschließlich den Salzstock Gorleben als mögliches Endlager für radioaktive Abfälle untertägig zu erkunden. Der Vorwurf, dass dort Manipulationen stattgefunden haben, wurde wie zufällig wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2009 durch den damaligen Bundesumweltminister publik gemacht. Das Bundeskanzleramt hat diese Vorwürfe überprüft und einen eindeutigen Bericht dazu abgegeben. ({0}) Das Bundesumweltministerium hat dasselbe gemacht. Beide Berichte sind nicht ganz gleichlautend. ({1}) Auch das wird sicherlich Gegenstand der Arbeit in unserem Ausschuss sein. Die Nutzung von Kernenergie ist seit den 70er-Jahren eine wichtige Ressource zur Produktion von Strom in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei fällt hochradioaktiver Abfall an. Es ist eine ethische Verpflichtung, eine Frage der politischen Redlichkeit und der Übernahme von Verantwortung für einmal getroffene Entscheidungen, dass der Deutsche Bundestag sich der Lösung der Entsorgungsfrage tatsächlich annimmt. ({2}) Es ist eine Frage der nationalen Entsorgung, natürlich nach unseren Sicherheitsstandards hier in Deutschland. Es ist außerdem eine Frage der Generationengerechtigkeit, um den kommenden Generationen nicht den Müll von heute vor die Füße zu werfen. ({3}) Kurz zur Geschichte Gorlebens: 1977 beschließt die Regierung Schmidt, nach Abstimmung mit dem Kabinett Albrecht in Niedersachsen, Gorleben als Endlagerstandort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein für die damalige Zeit umfangreiches Auswahlverfahren vonseiten der Bundesregierung, die 26 verschiedene Standorte in Betracht zog, und eine Untersuchung von mehr als 140 Salzstöcken in Niedersachsen durch die Landesregierung. Es gab 1979 ein umfangreiches Gorleben-Hearing, eine einwöchige Expertenanhörung unter Hinzuziehung des niedersächsischen Landtags. Ab 1979 wurde der Salzstock oberirdisch und ab 1986 auch unterirdisch untersucht. Seit 2000 wird nichts mehr gemacht. Es gilt ein Moratorium. Ich bin froh, dass die jetzige Bundesregierung und Bundesumweltminister Röttgen keinen Zweifel daran lassen, dass die Lösung der Endlagerfrage für hochradioaktiven Abfall ganz oben auf der Agenda der neuen Bundesregierung steht. Ganz anders war es bei den Vorgängerregierungen und seinen Vorgängern im Amt, den Herren Trittin und Gabriel. Das Ganze soll in einem offenen und transparenten Verfahren erfolgen, das der Koalitionsvertrag vorsieht. Bundesumweltminister Röttgen hat am vergangenen Dienstag am Rande der CeBIT in einer Sitzung des niedersächsischen Kabinetts gesagt, dass diese Untersuchung ergebnisoffen mit Beteiligung der Bevölkerung, der Bürgerinitiativen und auch der Kommunalpolitiker vor Ort, ähnlich wie bei der Asse-Begleitgruppe, erfolgen soll. ({4}) Die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger ist für uns entscheidend, so Röttgen. Darüber hinaus wird es eine Peer Review geben, das heißt, wir wollen internationale Experten zurate ziehen, um alle Befunde, die es bislang in Gorleben gegeben hat, untersuchen zu lassen und ihrem Rat bezüglich der Eignung dieses Salzstocks zur Endlagerung in Anspruch zu nehmen. Dieses Verfahren hatten wir übrigens in der letzten Legislaturperiode Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, angeboten, leider Gottes vergeblich.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche. Herr Kollege Kelber möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, vielen Dank für die Möglichkeit, eine Frage zu stellen. Sie hatten gerade nach den Erläuterungen meines Kollegen Miersch das Thema der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger angesprochen. Unter Bürgerbeteiligung versteht man ein Verfahren, in dem die Bürgerinnen und Bürger per Verordnung oder Gesetz festgelegte Rechte der Beteiligung haben. Können Sie mir bestätigen, dass das von Herrn Minister Röttgen gewählte Verfahren keine Rechte für die Bürgerinnen und Bürger vorsieht, sondern ein reines Informationsverfahren ist? ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kelber, ich darf Sie darüber informieren, dass wir zunächst den Weg über das Bergrecht und dann den der Beteiligung, die eher mit dem Asse-Verfahren vergleichbar ist, wählen werden. Möglicherweise ist Ihnen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von ({0}) und eine Bestätigung dieses Urteils von 1995 nicht mehr in Erinnerung. Darin wurde eben diese Frage höchstrichterlich dahin gehend entschieden, dass die Erkundung im Vorfeld des Planfeststellungsverfahrens sowohl angemessen als auch rechtens ist. Diese Frage ist höchstrichterlich zweimal entschieden worden. Genau auf diesen Entscheid gründet sich unser weiteres Vorgehen. ({1}) Nach diesen Voruntersuchungen, die stattfinden müssen, damit das Planfeststellungsverfahren überhaupt aufgenommen werden kann, wird natürlich ein atomrechtliches Verfahren eingeleitet. Das heißt, das Planfeststellungsverfahren läuft selbstverständlich nach Atomrecht ab, mit den entsprechenden Beteiligungen aller interessierten Gruppen. ({2}) - Das geht gar nicht anders, Sie haben völlig recht. - Es ergibt Sinn, dass man weit im Vorfeld dessen intensiven Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern vor Ort sucht und zudem die Suche nach internationalen Standards begleitet. Nach dem Planfeststellungsverfahren - auch das wissen Sie - ist es natürlich möglich, gegen den Planfeststellungsbeschluss, sollte er positiv ausgefallen sein, zu klagen. Damit ist auch klar, dass ein Endlager vor dem Jahr 2030 vermutlich nicht zur Verfügung stehen wird. Die Bundesregierung strebt dieses Verfahren auf der Grundlage der zwei Urteile des Bundesverwaltungsgerichts von 1990 und 1995 an. Darüber hinaus hat die rotgrüne Regierung, als sie 2000 den Ausstiegsvertrag mit den EVUs gemeinsam vereinbart hat, in dem Ausstiegsbeschluss festgeschrieben, dass nichts gegen die Eignungshöffigkeit dieses Salzstocks spreche. Daher muss er weiter untersucht werden. Das Bundesamt für Strahlenschutz hat in seinem Synthesebericht von 2005, der die Zweifelsfragen abgearbeitet und die Ergebnisse zusammengefasst hat, gesagt, dass es ein Nachweiskonzept für die Langzeitsicherheit von Endlagern gebe und dass die Sicherheit eines möglichen Standorts nur mit standort- und anlagenspezifischen Sicherheitsanalysen ermittelt werden könne, sprich: Man muss tatsächlich vor Ort nachschauen, und das heißt weiter erkunden. Als Letztes möchte ich das Urteil zum Schacht Konrad anführen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg führte im März 2006 aus, dass es eben keiner alternativen Standorterkundung bedürfe und dass ein Mangel im Verfahren nicht darin bestehe, dass alternative Standorte nicht umfassend und vergleichend untersucht worden seien. Diese Bundesregierung mit dem Bundesumweltminister Röttgen stellt sich endlich nach so vielen Jahren des Wegschauens, des Wegtauchens und des Verantwortungvon-sich-Schiebens ihrer Verantwortung für die Entsorgung in einem ergebnisoffenen und transparenten Verfahren mit internationalen Standards. Nun müssen wir tatsächlich ergebnisorientiert auch im Hinblick auf die zahlreichen oberirdischen Zwischenlager überall in Deutschland handeln. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur Vergangenheit aufarbeiten, sondern Zukunft gestalten, das ist der Auftrag, den dieses Haus hat. Ich hoffe, dass in diesem Sinne auch der Parlamentarische Untersuchungsausschuss arbeiten wird. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort die Kollegin Dorothée Menzner. ({0})

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Eben wurde schon gesagt, ein Untersuchungsausschuss sei eine der schärfsten Waffen der Opposition und keine Fraktion werde sie leichtfertig benutzen. ({0}) In den letzten Wochen und Monaten sind uns aber in mindestens fünf Komplexen Zusammenhänge deutlich geworden und bekannt geworden, die diesen Untersuchungsausschuss rechtfertigen. ({1}) Ohne dass der Untersuchungsausschuss seine Arbeit überhaupt begonnen hätte, gibt es ernstzunehmende Hinweise auf folgende Missstände: Erstens. Die Entscheidungen wurden seinerzeit nicht nach fachlichen Kriterien und nach Stand von Wissenschaft und Technik gefällt, sondern nach politischer Opportunität und Durchsetzbarkeit. Man beschränkte sich in den 70er-Jahren lediglich auf Salz als mögliches Einlagerungsmedium und untersuchte über 100 Salzstöcke. Dabei wurde nicht nur bewertet, ob sie geologisch geeignet sind, sondern es wurde beispielsweise auch bewertet, ob die örtliche Bevölkerung besonders aufmüpfig ist oder ob man Entscheidungen dort leicht durchsetzen kann. ({2}) Wissenschaftler sagen bis heute, es sei in weiten Teilen eine politische und nicht eine sachlich-wissenschaftliche Entscheidung gewesen. Auch die Zweifel, die seit den 70er-Jahren bestehen, konnten in den letzten Jahren durch Untersuchungen nicht ausgeräumt werden. Probleme sind ein über weite Teile fehlendes Deckgebirge, die Inhomogenität des Salzstockes oder Frostrisse im Gestein. Zweitens. Die gesetzlich vorgeschriebene Bürgerbeteiligung wurde ignoriert und soll offensichtlich - wir haben es eben gehört - weiter ignoriert und mit Füßen getreten werden. Wie anders ist es zu verstehen, wenn der niedersächsische Umweltminister Hans-Heinrich Sander, FDP, ankündigt, man wolle weiter nach Bergrecht vorgehen? ({3}) Drittens. Es gibt Dokumente, aus denen hervorgeht, dass die Entsorgungstochter der AKW-Betreiber, die DWK, Geld fließen ließ, um Gorleben voranzutreiben. Es flossen sowohl an das Land Niedersachsen als auch an den Landkreis und an die Kommunen Gelder, um für Gorleben als Standort zu werben. Mindestens 40 Prozent dieser Gelder - so belegen es Dokumente, die uns vorliegen - kamen direkt von den AKW-Betreibern. Viertens. Aus unserer Sicht gilt es zu klären, mit wessen Beteiligung und Wissen Gorleben unter Tage viel stärker ausgebaut wurde, als zur reinen Erkundung notwendig war. Auch diese Dokumente sind bekannt, und darüber wurde in der Öffentlichkeit diskutiert. In Gorleben ist unter Tage viel mehr passiert, als zur reinen Erkundung notwendig gewesen wäre. Schwarzbauten sind errichtet worden, um vollendete Tatsachen zu schaffen und ein Endlager wahrscheinlicher zu machen. Fünftens. Als ob das alles nicht reicht, liegen jetzt Dokumente vor, aus denen sich ableiten lässt - ich sage das ganz bewusst so vorsichtig -, dass 1983 unter politischer Einflussnahme der damaligen schwarz-gelben Koalition ein entscheidendes Gutachten verändert wurde, indem Passagen herausgenommen wurden, die ursprünglich besagten, man solle parallel auch andere Standorte erkunden. Das riecht verdammt nach Manipulation, und ich glaube, es ist nicht nur unsere Pflicht als Opposition, da Licht ins Dunkel zu bringen, sondern Klarheit und Transparenz bei diesen Vorgängen sind auch das gute Recht der Bevölkerung und der Öffentlichkeit. ({4}) Die sture Fixierung auf Gorleben entgegen den Warnungen zahlreicher Wissenschaftler und gegen den Widerstand der örtlichen Bevölkerung ist sehr bezeichnend. Als ob das Desaster mit der Asse, bei dem wir im Moment alle gemeinsam überlegen, wie wir es möglichst unschädlich machen können, noch nicht reicht, wollen Sie weiter vollendete Tatsachen schaffen. Das ist mit der Linken nicht zu machen. Wir werden auf Transparenz achten und sehr genau hinschauen, vielleicht auch, weil wir nicht genötigt sind, an irgendeiner Stelle eine innerparteiliche Schonhaltung einzunehmen. ({5}) Die kriminelle Müllkippe Asse und Gorleben reichten seinerzeit gerichtlich als Entsorgungsnachweis für die AKWs Brokdorf, Stade, Grohnde, Biblis A und Biblis B. In dem Zusammenhang halte ich es für fahrlässig, über Laufzeitverlängerungen zu diskutieren. Ich komme zu dem Schluss, dass nicht die Menschen vor Ort, die Angst haben, und nicht die seit 30 Jahren aktive Bürgerbewegung die Atomchaoten, als die sie so oft bezeichnet wurden, sind, ({6}) sondern offensichtlich die Betreiber der AKWs und einige, die das in der Politik unterstützen. Ich danke. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Brunkhorst für die FDP-Fraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, werden die Einsetzung des Gorleben-Ausschusses bekommen, und die FDP wird sehr sachgerecht, ambitioniert und konstruktiv darin mitarbeiten; das können wir Ihnen zusagen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition aber auch um Wahrhaftigkeit sowie darum, diesen Untersuchungsausschuss nicht als politisches Instrument zu verbiegen ({0}) und bei den Bürgern und Bürgerinnen keine Angst zu schüren. Denn Gorleben ist nicht festgelegt, sondern die Erkundung ist weiterhin offen. ({1}) Der gesamte Prozess wird öffentlich und transparent gestaltet. Bundesumweltminister Norbert Röttgen und der niedersächsische Umweltminister Sander haben in dieser Woche bekundet, dass sie eine Einbindung der Bürgerinnen und Bürger - wenn auch nicht nach Ihrem Maßstab - in Form eines Begleitkreises wollen, wie er sich bei der Asse durchaus bewährt hat. In der Sache erheben sie den Vorwurf, es habe eine rein politische Vorfestlegung auf den Standort Gorleben gegeben. Ich bin mir sicher, dass der Untersuchungsausschuss zu anderen Ergebnissen kommen wird und dass das Ganze hinterher wirklich entkräftet werden kann. Allein im Rahmen des niedersächsischen Auswahlverfahrens sind damals 140 Salzstöcke erkundet worden. Auch in den 70er-Jahren gab es eine Beteiligung der Öffentlichkeit. Es gab einmal die Gorleben-Kommission, und es gab im Jahre 1979 das erwähnte Gorleben-Hearing.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Menzner?

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, bitte.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Brunkhorst, Sie sprachen eben richtig an, dass seinerzeit 140 Salzstöcke erkundet und nach einer Punktetabelle bewertet wurden. Aber Ihnen ist auch bekannt, dass Gorleben, selbst wenn man diese etwas zweifelhafte Punktetabelle zugrunde legt, nicht unter den empfohlenen Salzstöcken war. Wie stehen Sie dazu?

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dazu will ich jetzt gar keine Bewertung abgeben, Frau Menzner. Wir werden das im Untersuchungsausschuss im Detail erörtern, und dann werde auch ich meine Bewertung dazu abgeben. Im Jahre 1977 gab es aber unter der SPD-Regierung Schmidt eine vorläufige Zustimmung zu dem Standort Gorleben.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Brunkhorst, Herr Kollege Kelber möchte eine weitere Zwischenfrage stellen.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hatte eigentlich gedacht, dass wir nicht schon jetzt in den Untersuchungsausschuss eintreten. ({0}) Sie können es wohl gar nicht abwarten. Lassen Sie uns doch erst einmal den Untersuchungsausschuss einsetzen. Dann gehen wir in die Details. ({1}) - Ja, vielleicht auch das. Sie haben in der Begründung des Antrags auf Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses zu Recht geschrieben, dass wir eine „Lösung zur Endlagerung hochradioaktiver Abfälle“ brauchen. Das stimmt. Ich muss an dieser Stelle einfach einmal sagen, dass wir in dieser Frage seit zehn Jahren Stillstand zu verzeichnen haben, obwohl in dieser Zeit die SPD und eine Zeit lang auch die Grünen an der Regierung beteiligt waren. Weder unter Umweltminister Trittin noch unter Umweltminister Gabriel waren in dieser Frage irgendwelche Fortschritte zu verzeichnen. Da wundere ich mich dann schon. Ich möchte auf Folgendes zurückkommen: Umweltminister Trittin - ich konnte ihn im Umweltausschuss kennenlernen; er hat damals den AK End einberufen hat den Auftrag vergeben, ein Ein-Endlager-Konzept zu entwickeln. Die Empfehlungen lagen auf dem Tisch. Der AK-End-Bericht verstaubt irgendwo in den Regalen des BMU. So geht es nicht weiter. Wir müssen jetzt endlich einmal vorankommen, auch im Hinblick darauf, dass wir den kommenden Generationen solch eine Bürde einfach nicht aufhalsen können. In Anlage 4 des sogenannten Atomkonsenses steht - auch darauf möchte ich hier verweisen -, dass die bisher gewonnenen geologischen Befunde nicht gegen die Eignung des Salzstockes Gorleben sprechen. Das haben der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der damalige Bundesumweltminister Trittin unterzeichnet. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal sagen: Sie grenzen Ihren Untersuchungsauftrag auf die Umstände der Kabinettsentscheidung von 1983 ein. Ich möchte darauf hinweisen - das müssen die Bürger ebenfalls wissen -, dass bereits in den 1970er-Jahren gewisse Prozesse der Endlagersuche abgelaufen sind. Ich habe das schon gesagt: Es gab Hearings usw. Das ist ja nicht mit der Kabinettsentscheidung 1983 losgegangen. Ich möchte hier noch eine Erklärung abgeben: Mir persönlich und der FDP liegt am Herzen, dass wir endlich die Frage beantworten, wie es mit der Suche nach einem geeigneten Endlagerstandort weitergehen soll. Dass sich diese Frage heute immer noch stellt, dass wir von Ihnen die Frage „Wie soll ein Endlager aussehen, das den internationalen Standards von Wissenschaft und Technik entspricht?“ gestellt bekommen, dass es so gekommen ist, dafür tragen Sie doch selbst seit langem die Verantwortung. Wenn wir das Moratorium von zehn Jahren nicht gehabt hätten, dann wären wir mit der Beantwortung dieser Frage wahrscheinlich schon viel weiter. Selbst Experten, die eigentlich eher auf Ihrer Seite stehen, sagen: Das Moratorium hat nichts gebracht außer Zeitvergeudung. ({2}) Damit muss jetzt Schluss sein. Deswegen sehen wir diesem Untersuchungsausschuss durchaus erwartungsvoll entgegen. Vielen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Kelber.

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Brunkhorst, Sie haben die Aussage gemacht, dass 1973 die Regierung unter dem Sozialdemokraten Helmut Schmidt eine Festlegung auf Gorleben getroffen habe. Mir ist übrigens bekannt, dass Helmut Schmidt pro Atomenergie eingestellt war und dass meine Partei diese Haltung erst in meinem Eintrittsjahr vor 25 Jahren abgelegt hat. Ist Ihnen bekannt, erstens, dass die Festlegung auf Gorleben als einzigen Standort erst unter der Landesregierung Albrecht, also nach dem Jahr 1976, erfolgte und damit 1973 nicht stattgefunden haben kann - wir stellen Ihnen diese Dokumente gerne zur Verfügung -, und, zweitens, dass es zahlreiche Briefe, Vermerke und Weisungen der Regierung Schmidt von 1977 bis 1981 - wir haben damals gemeinsam mit Ihrer Partei regiert an die Landesregierung gibt, sich nicht auf Gorleben als Standort festzulegen, und dass diese Festlegung erst 1983 unter der Regierung Kohl passiert ist? Diese Dokumente stellen wir natürlich auch dem Untersuchungsausschuss zur Verfügung. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zur Erwiderung Frau Brunkhorst.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kelber, das sind natürlich alles Dinge, die ich kenne. ({0}) Sie selbst machen einen Schnitt und sagen: Der Untersuchungsauftrag soll bei den Umständen der Kabinettsentscheidung von 1983 ansetzen. Gleichzeitig wollen Sie Vorgänge vor dieser Zeit heranziehen. Wenn das, was vorher geschehen ist, so bedeutend ist, dann erweitern Sie doch den Untersuchungsauftrag! ({1}) - Sie wissen doch sehr genau, Herr Kelber, dass in der Regierungszeit Schmidt in den 1970er-Jahren eine ganz andere Auffassung bestanden hat, dass Herr Schmidt angesichts der Ölkrise eigentlich 50 Atomkraftwerke bauen wollte. ({2}) - Nein, ich habe von einer vorläufigen Entscheidung gesprochen. ({3}) - Nein, es war 1977. ({4}) - Es ist so, dass die damalige Regierung die Vorauswahl für den Standort Gorleben akzeptiert hat, und zwar am 5. Juli 1977. Darüber gibt es auch einen Vermerk. Den kann ich Ihnen auch gerne zur Verfügung stellen. Herr Kelber, bleiben Sie ganz ruhig, bleiben Sie ganz sinnig! Wir werden ja noch viel Freude miteinander haben. Dann werden wir das alles detailgenau aufarbeiten.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Wir fahren in der Debatte nun fort. Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Brunkhorst, manche lernen Gott sei Dank im Laufe der Jahrzehnte dazu. Kompliment! Andere tun das nicht. Der von uns beantragte Untersuchungsauftrag geht vom Jahr 1983 aus, als in der Tat eine fatale Lenkungsentscheidung getroffen wurde. Das heißt aber nicht, dass wir uns nur diese Entscheidung vom Juli 1983 anschauen. Wir schauen sehr wohl in die Zeit davor und auch in die Zeit danach. ({0}) - Lesen Sie sich die im heute vorgelegten Antrag enthaltenen Fragen einfach einmal durch! Dann werden Sie feststellen, dass sie auch die Jahre 1997/1998 mit einbeziehen und durchaus auch die Zeit danach. Meine Damen und Herren, Gorleben ist nicht der Ort für gute Nachrichten. Ich will noch einmal auf die neueste Nachricht eingehen - sie hat hier ja schon eine Rolle gespielt -: Gorleben braucht einen neuen Rahmenbetriebsplan, denn der alte von 1983 läuft im September aus. Es gibt drei Möglichkeiten, wie man nun verfahren kann: Erstens. Man kann nach Atomrecht weiterverfahren. Zweitens. Man kann einen Rahmenbetriebsplan nach dem novellierten Bergrecht aufstellen. Seit 20 Jahren ist dabei nämlich eine Öffentlichkeitsbeteiligung möglich bzw. bei einer UVP auch vorgesehen. Oder man kann drittens, wenn man es so möchte, die Geltungsdauer des alten Rahmenbetriebsplans verlängern. Genau das ist die Idee, die der neuen Bundesregierung eingefallen ist: Wir verlängern die Geltungsdauer des alten Rahmenbetriebsplans, und statt der eigentlich vorgesehenen Öffentlichkeitsbeteiligung wird eine Begleitgruppe eingesetzt - wie bei der Asse. ({1}) - Was das mit dem Untersuchungsausschuss zu tun hat, kann ich Ihnen sagen: Das würde der schlechten Historie von Gorleben noch eins obendrauf setzen. ({2}) Atomrecht sollten Sie anwenden und nicht seit 20 Jahren außer Kraft gesetztes Bergrecht. Frau Flachsbarth sagt, Sie rechnen bereits mit einer Klage. Warum handeln Sie dann so? Warum wenden Sie ein Verfahren an, bei dem Sie selbst schon jetzt damit rechnen, dass dagegen geklagt werden wird? ({3}) Wählen Sie doch ein Verfahren, bei dem die Öffentlichkeit eingebunden wird. Ich habe übrigens aufgrund meiner Erfahrung des Vorgehens bei der Asse durchaus noch eine Frage in diesem Zusammenhang zu stellen. Wenn die Öffentlichkeitsbeteiligung tatsächlich in Form einer Begleitgruppe stattfinden soll, wird dann Herr Hennenhöfer wieder die Empfehlungen aussprechen, welche Informationen diese Begleitgruppe bekommt und welche nicht? Warum immer wieder diese Intransparenz? Warum immer wieder diese Angst vor der Öffentlichkeit, wenn es um die Gefahren der Atomkraft geht? ({4}) Mit Fehlentscheidungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es so eine Sache. Manchmal kann man sie revidieren. Bei der Asse geht es nicht mehr. Da kann man in einer katastrophalen Situation nur noch die beste unter schlechten Möglichkeiten wählen und mit immensem Aufwand und viel Steuergeld versuchen, so viel Sicherheit wie möglich für die Bevölkerung zu generieren. Wir wissen nicht, ob uns Gorleben in Jahrzehnten oder Jahrhunderten ein ähnliches Desaster bescheren könnte wie die Asse. Aber der Verdacht liegt nahe, ({5}) dass der Standort Gorleben ähnlich leichtfertig ausgewählt wurde wie das Endlager Asse. ({6}) Der Verdacht liegt nahe, dass Gorleben mehr aufgrund politischer Eignung denn geologischer Eignung als einziger Standort den Sprung in das Erkundungsverfahren schaffte. Die vielen geologischen Defizite, angefangen von der Gorlebener Rinne bis zum Kalisalz, lassen nun wirklich nicht plausibel erscheinen, dass ausgerechnet dieser Standort der bestgeeignete für die Endlagerung hochradioaktiven Mülls in ganz Deutschland sein soll. ({7}) Der Verdacht der politischen Einflussnahme wiegt schwer. Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, erwarte ich, dass Sie diesen Untersuchungsausschuss begrüßen. Sie müssen doch ein Interesse daran haben, die ungeheuerlichen Vorwürfe der politischen Manipulation entscheidender Gutachten aus der Welt zu räumen, wenn Sie Gorleben in Betrieb nehmen wollen. Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass die Vorwürfe nicht aus der Welt zu räumen sind, und sie in diesem Untersuchungsausschuss tatsächlich bestätigt werden, dann können Sie doch nicht wirklich ernsthaft erwägen, der Bevölkerung Gorleben als Endlager zuzumuten. ({8}) Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass wir bei hochradioaktivem Müll von einer Langzeitsicherheit von 1 Million Jahre reden. Im Vergleich dazu ist ein Moratorium von zehn Jahren übrigens relativ klein. Wir leben heute, im Jahr 2010, in einer Kultur, die wenig bis nichts mit der Kultur des Jahres null unserer Zeitrechnung in unseren Breiten zu tun hat. Von damals bis heute sind gerade einmal 0,2 Prozent des Zeitraums vergangen, für den wir den Atommüll sicher vor der Biosphäre abschließen müssen. Angesichts solcher Zahlen sollten wir uns bei der Frage eines geeigneten Endlagerstandortes keine Fehler und keine Leichtfertigkeit erlauben. ({9}) Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam Ja zur Aufklärung dubioser Vorgänge um die Auswahl des Endlagerstandortes Gorleben zu sagen. Die Aufklärung bestätigt entweder Ihre Sicht der Dinge oder unsere. Aber die Menschen müssen wissen, woran sie sind. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Wenn Sie wirklich an das glauben würden, was Sie als skandalöse Vorgänge gegeißelt haben, wenn Sie wirklich glauben würden, dass Sie das, was Sigmar Gabriel als einen genauso großen Skandal wie die Parteispendenaffäre bezeichnet hat, im Untersuchungsausschuss beweisen könnten, dann würden Sie die Einsetzung des Untersuchungsausschusses doch ganz anders aufziehen. Dann würde ich das morgens um 9 Uhr machen, nach dem Motto: „Kernkraft zur Kernzeit“, dann, wenn die Kameras an sind und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit da ist. Stattdessen reden wir jetzt in der Abendsonne darüber, dann, wenn schon alle Redaktionsstuben geschlossen sind. ({0}) Das zeigt doch Ihr mangelndes Zutrauen zu dem Erfolg dieses Untersuchungsausschusses in der Sache selber. ({1}) Herr Kelber, ich frage mich natürlich: Wo ist eigentlich Herr Gabriel? ({2}) Der hat uns das doch alles eingebrockt. Herr Gabriel hat wenige Tage vor der Bundestagswahl ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt aufgefunden und hat daraufhin eine Wahlkampfattacke geritten. Tatsächlich hatte die taz schon am 18. April 2009 über den gesamten Sachverhalt berichtet. Die Bundestagsfraktion der Grünen hatte eine Kleine Anfrage zu diesem Sachverhalt eingebracht. Diese ist am 14. Juni 2009 vom Bundesumweltministerium beantwortet worden. Spätestens seit dem 14. Juni hatte Herr Gabriel volle Kenntnis. ({3}) Er hat diese Angelegenheit mal eben für die heiße Wahlkampfphase zurückgelegt. Nur um diese Blamage nicht offenzulegen, fordern Sie diesen Untersuchungsausschuss. ({4}) In Wahrheit ist hier nichts anderes passiert, als dass Sie im Wahlkampf mit den Ängsten der Menschen gespielt haben. Das versuchen Sie mit der Einsetzung dieses Untersuchungsausschusses fortzusetzen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Haßelmann?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlich gerne.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Herr Kollege Grindel. - Sie haben gerade als Argument angeführt, dass die späte Uhrzeit der Befassung mit diesem Thema hier im Plenum deutlich macht, dass die Grünen und auch die anderen Antragsteller kein Interesse daran haben, dieses Thema wirklich zu verfolgen. Dem Kürschner - das ist das Parlamentshandbuch - habe ich entnommen, dass dies Ihre dritte Legislaturperiode im Deutschen Bundestag ist. Deshalb frage ich mich, ob Sie immer noch nicht wissen, wie eine Tagesordnung zustande kommt. Ich kann Ihnen sagen, dass wir versucht haben, diesen Tagesordnungspunkt auf einen früheren Zeitpunkt zu setzen. Wir hätten ihn gerne heute Morgen um neun diskutiert. Ich würde Sie gerne fragen, ob Ihnen nicht klar ist bzw. ob Sie in der Fraktion nicht darüber informiert worden sind, dass CDU/CSU und FDP darauf bestanden haben, dass dieser so wichtige Tagesordnungspunkt zu Gorleben heute Abend diskutiert wird. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Haßelmann, soweit ich weiß, wird in den Geschäftsführerrunden festgelegt, ob und wann die Debatten stattfinden. Natürlich legt nicht nur eine Fraktion oder die Mehrheit fest, wann welcher Tagesordnungspunkt stattfindet; vielmehr hat jeder einen Zugriff. ({0}) Wenn Ihnen das so wichtig ist, Frau Haßelmann, dann frage ich mich angesichts der Forderung nach einem Untersuchungsausschuss, die es unmittelbar nach der Attacke von Gabriel im Bundestagswahlkampf gegeben hat - wo Vertreter Ihrer Fraktion, insbesondere Frau Künast, feststellten: Das sind ungeheuerliche Vorgänge, wir müssen sofort oder aber spätestens unmittelbar nach der Wahl mit einem Untersuchungsausschuss beginnen -: Warum kommen Sie nach sechs Monaten mit diesem Untersuchungsausschuss? Wenn Ihnen das so wichtig ist und wenn Sie tatsächlich daran glauben würden, dass wir es mit einem ernsthaften Skandal zu tun haben, dann hätten Sie es doch viel schneller umgesetzt. ({1}) - Herzlich gerne. Den Zwischenruf hätten Sie besser nicht gemacht; denn das ist genau das, was Herr Gabriel angesprochen hat. Herr Gabriel hat einen konkreten Vorgang, ein Gutachten der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, skandalisiert. ({2}) Darauf hat die Kanzlerin im Wahlkampf angekündigt: Wir gründen unmittelbar eine Arbeitsgruppe, analysieren die Aktenlage und versuchen herauszufinden, ob die Vorwürfe berechtigt sind. - Das dauerte Herrn Gabriel zu lange, weil er seinen Punkt noch vor der Wahl machen wollte. Daraufhin hat er selber einen Bericht vorgelegt und am 24. September 2009 eine schöne Pressemitteilung herausgegeben. ({3}) In der hat er darauf hingewiesen - ich zitiere -: Es geht nicht um die Aufarbeitung der jahrzehntelangen Gorleben-Geschichte, sondern um einen präzisen Vorgang aus dem Jahr 1983. Ich frage mich: Warum machen Sie es mit Ihrem Einsetzungsantrag genau anders herum? Warum untersuchen wir nicht frei nach Gabriel einen präzisen Vorgang aus dem Jahr 1983? Warum sollen wir die jahrzehntelange Gorleben-Geschichte untersuchen? Ich sage es Ihnen: Ihnen geht es nicht um Aufklärung. Ihnen geht es um die Diskreditierung des Endlagers in Gorleben und damit um die Delegitimierung der Kernkraft insgesamt. Das wollen Sie mit diesem Untersuchungsausschuss erreichen. Damit werden Sie keinen Erfolg haben. ({4}) - Herr Kelber, in Wahrheit ergibt sich aus den Quellen, die uns schon jetzt zugänglich sind, ({5}) dass es mit dem vermeintlichen Skandal nicht so weit her sein kann; denn die frühere rot-grüne Bundesregierung hat in der Anlage 4 zum sogenannten Ausstiegsvertrag mit den Energieversorgungsunternehmen selbst erklärt - ich zitiere -: Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes Gebirge und damit die Barrierefunktion des Salzes … wurden positiv bestätigt. Somit stehen die bisher gewonnenen geologischen Befunde einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben nicht entgegen. Das war der Originalton Rot-Grün im Jahre 2000. ({6}) Wie kann man da behaupten, die Kohl-Regierung habe 1983 Gutachter zu falschen Aussagen über die Geeignetheit des Salzstockes Gorleben bewogen? Sie haben aus rein wahlkampftaktischen Gründen versucht, das Thema Gorleben zu skandalisieren. Das soll nun mit anderen Mitteln im Untersuchungsausschuss fortgesetzt werden. ({7}) Herr Kelber, das ist kein guter politischer Stil. ({8}) Sie verschweigen auch, dass die eigentlichen Zeugen der Anklage sich gerade nicht von Rot-Grün vereinnahmen lassen wollen. Der Abteilungsleiter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Helmut Röthemeyer, der für das angeblich verfälschte Gutachten verantwort2438 lich war, hat bereits am 17. September 2009 im Stern klipp und klar erklärt - Zitat -: Wir hatten dem Endlager Gorleben grundsätzlich Eignungshöffigkeit zugeschrieben, was bedeutet, dass wir Gorleben als Endlager grundsätzlich für geeignet hielten. Insofern kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, wieso ich heute als Gorleben-Gegner gelten soll. ({9}) Der Spiegel zitierte Herrn Röthemeyer schon am 14. September mit den Worten: Wenn Gorleben nicht Endlager wird, wäre das für mich eine große Enttäuschung. Das sind die Worte des Mannes, dem Beamte der KohlRegierung laut Gabriel angeblich ins Handwerk gepfuscht haben. ({10}) Der ehemalige Chef der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Herr Kind, hat vor dem Asse-Untersuchungsausschuss des niedersächsischen Landtages inzwischen ausgesagt, das 1983 erstellte Gutachten sei in seiner wissenschaftlichen Aussage nicht verändert und keineswegs in Richtung Gorleben umgeschrieben worden. Klar ist: Herr Gabriel hat seine Autorität als Umweltminister missbraucht, um seine Autorität als SPDWahlkämpfer ein bisschen aufzupolieren. Das ist der Sachverhalt, und das werden wir Ihnen im Untersuchungsausschuss nachweisen. ({11}) Herr Kelber, es ist auch so, dass Vertreter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt am 20. Juni 1984 im Innenausschuss des Bundestages erklärt haben, dass sie überhaupt nicht aufgefordert waren, bezüglich der Frage eines zweiten Standortes eine Stellungnahme abzugeben, weil dies eine Frage der Politik und der Finanzen sei, dass es vielmehr ausschließlich um die Eignungshöffigkeit des Standortes Gorleben und um die Frage ging, ob man dort in die untertägige Erkundung einsteigen solle. Dazu hat man sich klar geäußert. Es ist mehrfach zurückgewiesen worden, dass hier eine Beeinflussung stattgefunden hat. Sie können zwar zu Recht - das nur am Rande - über die Regierung Kohl reden, aber ich will darauf hinweisen: Die Vorgänge ereigneten sich im Mai 1983. Wir hatten einen Regierungswechsel im Oktober 1982 und eine Bundestagswahl im März 1983. Die Beamten, die bei der Besprechung in Hannover, um die es ging, dabei waren, waren alle schon unter der Regierung Schmidt beschäftigt. ({12}) Es gibt keine einzige Quelle, mit der Sie nachweisen können, dass irgendein Politiker der neuen Regierung Kohl mit diesem Sachverhalt überhaupt befasst war, um das einmal ganz klar festzuhalten. ({13}) Die Frage, ob man Gorleben zuerst einmal zu Ende erkundet, bevor man einen weiteren Standort untersucht, ist auch in den Reihen der Sozialdemokraten ja nicht unumstritten. Peter Struck hat im April 2001 den Vorschlag gemacht, Standorte in Bayern und Baden-Württemberg zu erkunden. ({14}) Ich kann Ihnen dazu vortragen, was Herr Hoderlein, der damalige Vorsitzende der SPD in Bayern, dazu gesagt hat: Zuerst muss festgestellt werden, ob Gorleben geeignet ist oder nicht. Wesentlich schärfer reagierte Strucks Kollege Franz Maget in der Welt am Sonntag: Das ist leichtfertiges, einfältiges Gerede, das man besser unterlassen sollte, sonst braucht Struck noch selbst ein Endlager. ({15}) Weiter sagte Franz Maget: Noch sei nicht geklärt, ob der Salzstock in Gorleben für ein Endlager überhaupt geeignet sei. Dann sagte er: Solange man das nicht weiß, sollte man auch keine anderen Bundesländer ins Spiel bringen. Wenn Struck Baden-Württemberg und Bayern nennt, hat das gleich einen parteipolitischen Touch. Wo Herr Maget recht hat, hat er recht. ({16}) Sie wissen ganz genau, dass die politische Entscheidung, die untertägige Erkundung in Gorleben fortzusetzen und nicht eine weitere an einem zweiten Standort zu beginnen, politisch motiviert war, Frau Kotting-Uhl. Man wollte in der Bevölkerung nicht den Eindruck erwecken, dass man als Bundesregierung davon ausgeht, dass Gorleben nicht geeignet ist, und man hat vor dem Hintergrund der vielen Auseinandersetzungen im Wendland auch keinen Sinn darin gesehen, bevor die Erkundung in Gorleben abgeschlossen ist, an einem zweiten Standort ähnliche Auseinandersetzungen heraufzubeschwören. Ich habe dafür volles Verständnis. Ich freue mich auf die Arbeit im Untersuchungsausschuss. Ich sage noch einmal: Aus den bisher öffentlich zugänglichen Quellen - einige von Ihnen wissen, dass ich mich im Visa-Untersuchungsausschuss mit der Quellenlage und der Recherche von Quellen sehr intensiv beschäftigt habe ({17}) geht ein irgendwie geartetes Fehlverhalten nicht hervor. Ich weiß, dass dieser Untersuchungsausschuss auch in den Reihen der SPD sehr umstritten ist. Es gab viele, die abgeraten haben, das zu machen. ({18}) Am Ende hat Herr Gabriel sich durchgesetzt, weil er vor der Wahl diesen Untersuchungsausschuss gefordert hat. Er wurde nicht hängen gelassen. Es wäre ja eine ziemliche Blamage, wenn es ihn nach der Wahl nicht geben würde. ({19}) Ich sage Ihnen: Ich habe große Zweifel, dass wir, wenn wir spätabends im Untersuchungsausschuss sitzen, die Besuchertribüne schon lange leer sein wird und die Pförtner und vielleicht auch wir gegen die Müdigkeit ankämpfen, Neues oder gar Skandalöses über Gorleben herausfinden werden. Aber dass Herr Gabriel im Wahlkampf ein unglaublicher Dampfplauderer war, werden wir dann in den Akten haben. Insofern ist die Sache etwas wert. Herzlichen Dank. ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion. ({0})

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Grindel, es ist ja bekannt, dass Sie einen Hang zur Polemik haben. Wir kennen auch Ihre Neigung, Sachverhalte zu vereinfachen. Nicht anders ist es zu erklären, dass Sie hier Zitate aus Zusammenhängen reißen. ({0}) Darin - das muss ich sagen - liegt der Vorteil dieses Untersuchungsausschusses. Sie werden in einem Untersuchungsausschuss nicht damit durchkommen, polemische Plattheiten von sich zu geben, sondern Sie werden die Akten studieren müssen. ({1}) Wir werden die Akten studieren und die Sachverhalte aufklären. Dann haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, im Detail zu erfahren, wie die damalige Lenkungsentscheidung zustande gekommen ist. ({2}) Ich möchte eines aufgreifen, das ich bemerkenswert fand. Sie beginnen schon jetzt, uns mitzuteilen, dass Sie damals offenbar selbst gar nicht richtig regiert haben, obwohl Sie gewählt waren. Sie sagen, die Beamten und die Beamtinnen seien es gewesen, die damals die Entscheidungen getroffen haben. ({3}) Das würde ich als erstes Rückzugsgefecht werten. Es ist in diesem Zusammenhang beschämend, wenn man die Beamten vorschickt, statt selbst politische Verantwortung zu übernehmen. ({4}) Schauen wir einmal einige Jahrzehnte zurück. Im Jahr ({5}) hieß es zum Thema Atommüll - ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren -: Wenn man das gut versiegelt und verschließt und in ein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können, dass man damit dieses Problem gelöst hat. So dachte damals Carl Friedrich von Weizsäcker, und mit ihm - das muss man zugeben - dachten 1969 durchaus viele so. Aber wir haben heute das Jahr 2010. Im Jahr 1983 waren wir hinsichtlich der wissenschaftlichen Erkenntnisse auch schon wesentlich weiter. Ich wundere mich, dass diese Koalition offenbar immer noch genauso blauäugig wie 1969 mit dem Thema Atommüll und seiner sicheren Endlagerung umgeht. ({6}) Anders kann man nicht erklären, dass Sie nach wie vor keine neue atomrechtliche Genehmigung anstreben, sondern auch in Gorleben die Rahmenbetriebsplanung einfach wie bisher fortführen wollen, ungeachtet der Fakten und auch, Frau Kollegin Flachsbarth, ungeachtet der ethischen Verpflichtung, von der Sie gesprochen haben. Es wundert mich, dass Sie selbst sich bei dem Thema der genaueren Untersuchungen und der Frage, wie Entscheidungen für ein Endlager zustande kommen, so zurückhalten wollen. Denn einerseits betonen Sie, die ethische Verpflichtung für die sichere Endlagerung hätten Sie sich vorgenommen und sogar in Ihrem Koalitionsvertrag werde das festgehalten. Andererseits sorgen Sie dafür, dass jedes Jahr, mit jeder Laufzeitverlängerung, die Sie beschließen, 450 Tonnen mehr an strahlen2440 dem Atommüll in eine Endlagerung kommen, die wir bis heute nicht gelöst haben. ({7}) Bei diesen Punkten muss ich sagen, dass ich nicht verstehe, dass Sie selbst kein Interesse daran haben, dass das Thema Endlager Gorleben so untersucht wird, dass nicht einmal ein Hauch eines Verdachts hängen bleibt, dass diese Entscheidung nicht sachgerecht und wissenschaftlich fundiert, sondern möglicherweise politisch erfolgt ist. ({8}) Herr Kollege Grindel, wir können gerne tagsüber tagen; wenn es lange dauert, auch gerne noch abends. Ich wünsche mir aber, dass wir uns diesem Thema mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zuwenden ({9}) und uns die Sachverhalte anschauen. Schon heute ist im Internet einiges zu diesem Thema zu finden, auch vonseiten der Regierung. Es gibt einen Bericht, in dem man Erstaunliches nachlesen kann. Offenbar bestand im Mai 1983 Konsens darüber, einen Zwischenbericht zu Gorleben vorzulegen. Außerdem bestand Konsens darüber, dass es notwendig und sinnvoll ist, zusätzliche Lagerstandorte zu suchen und zu erkunden. Interessanterweise befasste sich das Bundeskabinett schon einen Monat später mit einer Vorlage, in der darauf hingewiesen wurde, dass es im Hinblick auf die Außenwirkung problematisch sei und Zweifel am Standort Gorleben schüren könnte, wenn man zusätzliche Standorte untersucht. ({10}) Welche Anhaltspunkte braucht man noch, wenn schon das Kabinett sagt: „Wir interessieren uns gar nicht dafür, wie die Fakten sind, und untersuchen erst gar keine anderen Standorte, weil wir Angst haben, dass die intern getroffene Entscheidung angezweifelt werden könnte“? Das kann nicht Sinn von Regierungspolitik und vernünftiger Lagerstandortsuche sein, die den ethischen Grundsätzen entspricht, die man bei einem solch gefährlichen Stoff einhalten muss. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Ute Vogt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002823, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde mich freuen, Herr Kollege Grindel, wenn Sie den Untersuchungsauftrag ernst nähmen, wenn wir in einer sachlichen Atmosphäre diskutierten und wenn Sie aufhörten, polemisch zu denunzieren. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich war damals zwar erst in der zehnten Klasse, aber ich erinnere mich noch sehr gut, wie zwischen dem Jahr 1977, als von der damaligen Bundesregierung die Vorauswahl bestätigt wurde, ({0}) und dem Jahr 1982 der deutsche Bundeskanzler hieß. Er hieß Helmut Schmidt und war von der SPD. Auch der Forschungsminister, der in diesen fünf Jahren im Amt war, gehörte der SPD an. ({1}) Die SPD sollte sich fragen, ob sie sich durch die Art und Weise, wie sie hier argumentiert, nicht von ihrer historischen Verantwortung verabschiedet. Wir stehen zu unserer historischen Verantwortung, die aus der Beteiligung an der sozialliberalen Koalition resultiert. Die SPD tut es leider nicht. ({2}) Verantwortung war für SPD und Grüne auch in den letzten zehn Jahren ein Fremdwort. Ihre Umweltpolitik war, was die Endlagerfrage betrifft, organisierte Verantwortungslosigkeit. Das muss man deutlich aussprechen. ({3}) Sie haben zehn Jahre lang die Hände in den Schoß gelegt. Sie haben zehn Jahre lang nichts getan. Warum? Sie haben nichts getan, weil Sie sich erstens nicht mit Ihrer Klientel anlegen wollten und weil es Ihnen zweitens in den Kram passt, wenn die Endlagerfrage nicht gelöst wird. Dann würde Ihnen nämlich ein Argument gegen die Kernenergie abhanden kommen. ({4}) Außerdem würde Ihnen ein Argument abhandenkommen, warum man die Politik denunzieren kann. Es ist Ihr politisches Interesse, dafür zu sorgen, dass die EndlagerMichael Kauch frage nicht gelöst wird. Das werden wir Ihnen allerdings nicht durchgehen lassen. ({5}) Herr Miersch sagte ganz klar, auch wir sollten während des Untersuchungsausschusses die Hände in den Schoß legen. Das entlarvt Ihre Strategie. Ihnen geht es darum, Sand ins Getriebe zu streuen. Wir werden diesen Sand aber nicht ins Getriebe kommen lassen, sondern unsere Verantwortung wahrnehmen. Dazu gehört beispielsweise, mit dem Peer-Review zu beginnen, um nicht noch mehr Jahre verstreichen zu lassen. Es ist keine verantwortungsvolle Politik, den strahlenden Müll über Jahrzehnte in oberirdischen Zwischenlagern an den Kernkraftwerken stehen zu lassen, wie Sie es in den letzten zehn Jahren gemacht haben. ({6}) Man muss sich auch fragen, ob man nicht einmal einen Untersuchungsgegenstand Gabriel in diesem Haus einführen sollte. ({7}) Was hat eigentlich Herr Gabriel gewusst? Er war vier Jahre lang im Amt und hat drei Jahre lang gesagt, wir müssten mit einer alternativen Standortsuche beginnen. Im Hinblick auf diese Standortsuche glaube ich Herrn Gabriel nicht, dass er drei Jahre lang nicht in die Akten geschaut hat, aber drei Wochen vor der Bundestagswahl plötzlich interessante Dinge hervorkommen. ({8}) Entweder hat Herr Gabriel drei Jahre lang geschlafen, oder Herr Gabriel hat das Wissen, das er hatte, unterdrückt und so seine Amtspflichten verletzt. Auch dies sollte der Deutsche Bundestag einmal diskutieren und untersuchen. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/888 ({0}) an den Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 auf: Unterrichtung durch die Bundesregierung Finanzplan des Bundes 2009 bis 2013 - Drucksache 16/13601 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die noch Gespräche führen wollen, dies vor dem Saal zu tun, damit wir uns voll auf die Rede des Parlamentarischen Staatssekretärs Steffen Kampeter konzentrieren können. ({1})

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

Hochgeschätzte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! ({0}) Anlässlich der Einbringung des Haushaltsplanentwurfes 2010 hat der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hier im Deutschen Bundestag von diesem Pult aus dargelegt, ({1}) dass die Konjunkturlage noch unübersichtlich sei, dass der wirtschaftliche Erholungsprozess anfällig für Rückschläge sei, dass uns deswegen gar nichts anderes übrig bleibe, als bis auf Weiteres auf Sicht zu fahren, und dass wir diesen Haushalt brauchen und diese hohe Neuverschuldung in Kauf nehmen müssen, um die konjunkturelle Erholung abzusichern. ({2}) Heute, zwei Monate später, erweist sich die damalige Einschätzung aus dem Bundesfinanzministerium weiterhin als richtig; denn die deutsche Wirtschaft hat im vierten Quartal 2009 im Vergleich zum Vorquartal eine Wachstumspause eingelegt. Die Deutsche Bundesbank sieht - dies ist bei aller Vorsicht eine gute Nachricht die Hauptursache für das Stocken der konjunkturellen Erholung vor allem in temporären, also vorübergehenden Faktoren begründet. Dazu zählen in erster Linie das Auslaufen steuerlicher Fördermaßnahmen, aber auch die gegen Ende vergangenen Jahres einsetzenden ungünstigen Witterungsbedingungen, ({3}) die sich negativ auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirken. Während der private Konsum im Schlussquartal des vergangenen Jahres einen deutlichen Dämpfer erhalten hat, konnten die deutschen Unternehmen ihr Auslandsgeschäft gerade mit den südostasiatischen Schwellenländern, aber auch mit den OPEC-Ländern deutlich ausbauen. Der deutsche Außenhandel hat im vierten Quartal um rund 3 Prozent zugelegt. Das ist eine gute Nachricht. ({4}) Diese Beschreibung der Konjunktur belegt im Übrigen, warum das, was die Vertreter der Opposition gleich fordern werden, nämlich die Vorlage einer aus dem letzten Jahr stammenden Finanzplanung, weder rechtlich geboten noch sachlich richtig ist. Wir haben unser deutliches Bekenntnis sowohl zum europäischen Stabilitätspakt als auch zu den Stabilisierungsmaßnahmen im G-20-Verbund im Januar hier erläutert. Wir laufen in diesen Stunden in die Zielgerade der Beratung des Haushaltes 2010 ein. Schon jetzt ist erkennbar, dass die Nettokreditaufnahme im laufenden Jahr deutlich niedriger sein wird, als im Regierungsentwurf steht, aber auch deutlich niedriger als im letzten Regierungsentwurf der Großen Koalition. ({5}) Außerdem ist deutlich erkennbar, dass die strukturelle Verbesserung bei der Nettokreditaufnahme nicht auf der Einnahmeseite, sondern durch die Absenkung von Ausgaben in allen Einzeletats wird erreicht werden können. Die Beratungen des Haushaltsplans 2010 machen auch deutlich, dass wir diese staatliche Gestaltungsaufgabe mit einem sinkenden Personalbestand bei den Bundesministerien erfüllen wollen. ({6}) Wir tragen damit der Notwendigkeit Rechnung, dass, wer will, dass gespart wird, zuvörderst bei sich selbst sparen muss. Der Etat 2010 wird ein guter Einstieg in das Regime der Schuldenbremse, ({7}) das uns ab dem Jahre 2011 begleiten wird. Eines ist doch klar: Die Konsolidierungsanstrengungen müssen ab dem nächsten Etat erheblich gesteigert werden. Die neue Schuldenregel verlangt von uns, dass wir das strukturelle Defizit im Bundeshaushalt in den nächsten Jahren in gleichmäßigen Schritten abbauen. ({8}) Das ist eine Konsolidierungsaufgabe, die bedeutet, dass man jedes Jahr gegenüber dem Vorjahr 10 Milliarden Euro einsparen muss. Zugleich gilt es, die weiteren politischen Reformpläne sowohl im Bereich der Steuer- und Abgabenpolitik als auch im Bereich der sozialen Sicherungssysteme engagiert, sachlich und vernünftig fortzuführen. Das ist eine enorme Gestaltungsaufgabe. Wir werden uns dabei an die goldenen Regeln unseres Koalitionsvertrages halten, ({9}) in dem eine Staatsreform mit strikter Ausgabendisziplin und einer Überprüfung aller staatlichen Leistungen bei Qualität in der Aufgabenerfüllung vorgesehen ist. - Kollege Solms hat an der Formulierung dieser goldenen Regeln mitgewirkt. ({10}) Wenn sich, was nationaler wie internationaler Annahme entspricht, die Erholungstendenzen verstärken und die Krise in diesem Jahr zu Ende geht, dann werden wir die Neuverschuldung ab 2011 im Rahmen der Schuldenbremse des Grundgesetzes ohne Zweifel erfolgreich zurückführen können. Das wird ein schwieriger Balanceakt und eine Bewährungsprobe, nicht nur für die Finanzpolitik, sondern für alle Politikbereiche. ({11}) Konsolidierung lässt sich nämlich nicht auf den Haushaltsausschuss beschränken. Konsolidierung fängt beim Einzelplan 01 an und hört beim Einzelplan 60 auf und betrifft alle Damen und Herren, die Mitglieder dieses Hohen Hauses sind. ({12}) Dieser Konsolidierungsaufgabe stellen wir uns. Mit Geschäftsordnungsmätzchen, wie sie Bündnis 90/Die Grünen heute vorgeführt haben, zeigt die Opposition, dass sie zu Recht in der Opposition ist, während diejenigen, die bereit sind, Verantwortung zu tragen, nicht ins Zisterzienserkloster flüchten, ({13}) sondern im Haushaltsausschuss an den notwendigen Aufgaben arbeiten. Die Bundesregierung wird Sie dabei

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Steffen Kampeter (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001062

- unterstützen. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Staatssekretär, der Kollege Kuhn hätte noch eine Frage gehabt. Aber Ihre Redezeit ist auch abgelaufen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Nächster Redner ist der Kollege Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion. ({0})

Johannes Kahrs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werter Kollege Kampeter, Steffen, wenn du in der Opposition gewesen wärst und ein Staatssekretär eine solche Rede gehalten hätte, du hättest gebrüllt vor Lachen. ({0}) Immerhin hast du selber leicht geschmunzelt. Du weißt natürlich, dass das alles nicht ganz so ist, wie du es dargestellt hast. Was haben wir vorliegen? Uns liegt der Finanzplan der Großen Koalition vor; also muss das schon einmal viel mit Qualität zu tun haben. Allerdings muss man sich fragen: Warum liegt kein neuer Finanzplan vor? Was ist ein Finanzplan? Ein Finanzplan ist ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm für eine Wahlperiode und beinhaltet - der Kollege Kampeter hat das eben angedeutet - all die schönen Dinge, die Sie machen wollen. Wenn der Finanzplan ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm ist, dann fragt man sich, warum es Ihnen nicht gelingen will, aus dem eben so gelobten Koalitionsvertrag einen Finanzplan zu machen. Die Frage ist ein bisschen theoretisch, weil jeder Bürger in diesem Land die Antwort kennt. ({1}) - Steffen, willkommen unter den Abgeordneten. ({2}) Wenn man sich das genau anschaut, dann sieht man: Hier liegt kein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm vor, sondern nur ein Koalitionsvertrag. Die Frage, die sich uns stellt, lautet: Warum ist das so? Die Antwort kennt jeder Bürger in Deutschland. Diese Koalition ist sich in fast gar nichts einig. Darin sind sie sich aber einig. ({3}) Wenn man das weiß, dann wird die Sache relativ einfach. Das heißt, wir haben hier keinen Finanzplan vorliegen, weil die CDU nach der Wahl aus dem Finanzministerium heraus den Versuch unternommen hat, ({4}) die Maßnahmen, die im Koalitionsvertrag gemeinsam beschlossen wurden, zu boykottieren und schlechtzumachen. Die CDU/CSU hat es in zwei Monaten geschafft, die FDP mit ihrer angekündigten Steuersenkung sozusagen durchs Land zu jagen, lächerlich zu machen und bloßzustellen. Ich muss sagen: Das ist eine Leistung, die zwar nicht zu einer Koalition gehört, aber überall angekommen ist. Ich glaube, dass sich die CDU/CSU damit keinen Gefallen getan hat. Die FDP hat sich zwei Monate lang angeschaut, wie sie der Lächerlichkeit preisgegeben worden ist, und dann hat sie zurückgeschlagen. Der Vizekanzler hat sich wieder in einen Parteivorsitzenden verwandelt und eine sogenannte Sozialstaatsdebatte vom Zaun gebrochen, und zwar nicht, weil ihn der Sozialstaat ernsthaft interessieren würde. ({5}) - Ganz ruhig bleiben. Nur getroffene Hunde bellen. In der Ruhe liegt die Kraft, Kollegen. Zuhören, lernen und verstehen! Danach können Sie antworten. Sie haben nämlich noch eigene Redezeit. ({6}) Die FDP, die sich von ihrem Koalitionspartner CDU/ CSU gebeutelt, geschlagen und getriezt fühlte, hat also eine Sozialstaatsdebatte angestoßen. Ich glaube nicht, dass es Ihnen ernsthaft um die Beantwortung der Fragen geht; denn es gibt nur relativ wenige Antworten. Die Sozialstaatsdebatte wurde geführt, um die CDU/CSU vorzuführen; denn inhaltlich ist da mit der CDU/CSU nur relativ wenig zu machen. Welche Möglichkeiten im Rahmen einer Sozialstaatsdebatte gäbe es? Auf der einen Seite könnte man Hartz IV senken. Das macht aber keiner mit. Auf der anderen Seite gäbe es Mindestlöhne und höhere Tariflöhne. Auch das ist schwierig. Daneben gibt es kaum noch Varianten. Also führt man die Sozialstaatsdebatte weiter. Man kommt nicht zur Einigung. Die FDP schafft es aber, diese Regierung und diese Kanzlerin vorzuführen und am Ende dafür zu sorgen, dass sich Frau Merkel distanziert - im Duktus, aber nicht inhaltlich. Wir haben also das Problem, dass wir eine Regierung haben, die eine Sachstandsbeschreibung, aber keine Lösung abgeliefert hat. Wenn Mängel beklagt werden, erwartet man, dass hier ein Gesetzentwurf vorgelegt wird, über den man diskutieren kann. Aber dazu gehört, dass man sich auf etwas einigt. Diese Einigung findet in der Koalition nicht statt, und deswegen werden wir schlecht regiert. Wir warten alle die Wahl in Nordrhein-Westfalen ab. ({7}) Große Entscheidungen, seien sie richtig oder falsch, werden verschoben. In diesem Land herrscht Stillstand. Bundesbankpräsident Weber hat gesagt: Tiefe Einschnitte bei den Staatsfinanzen sind unausweichlich. Der Präsident des Bundesrechnungshofes, Herr Engels, hat Ähnliches gesagt. Zurzeit finden Haushaltsausschusssitzungen und die Bereinigungssitzung statt. Die Koalition streicht im Bereich der Verteidigung Pi mal Daumen 250 Millionen Euro. ({8}) Alle Abgeordneten der Opposition sind überrascht, weil es überhaupt kein Berichterstattergespräch, keine vorherige Information und keine inhaltliche Diskussion gegeben hat, ({9}) was natürlich dazu führt, dass sich der Minister nicht in der Lage sah, diese Kürzung mit einer Einschätzung zu versehen. ({10}) Er war ratlos. Man kann das natürlich tun. Das Problem aber ist, dass man dem Sparbemühen der Haushälter jede Wirkung nimmt, wenn man fachlich Unsinn macht. ({11}) Zum Beispiel werden im Einzelplan 12 im Bereich des kombinierten Verkehrs über 60 Millionen Euro gestrichen. Ein gutes und richtiges Vorgehen findet nicht statt. ({12}) Wir haben also das Problem, ({13}) - Herr Fricke, Sie sind doch gleich dran. Ganz ruhig bleiben! - dass Sie kein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm vorlegen. Sie haben das Problem, dass Sie sich in den großen Fragen nicht einigen können. Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag wilde Versprechungen gemacht. ({14}) Was soll eine Steuersenkung kosten? Die einen sagen: 20 Milliarden Euro. Andere sagen, es werde ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger sein. Nur wird es nicht zu dieser Steuersenkung kommen. Herr Kampeter, Sie sagen, dass man hier in den einzelnen Etats insgesamt 10 Milliarden Euro pro Jahr sparen muss. ({15}) Dann muss man natürlich auch sagen, wo man die 20 Milliarden Euro für die Steuersenkung einsparen will. ({16}) Des Weiteren gibt es das Problem, dass Sie sich hierhin stellen und eine Kopfpauschale fordern. Darüber wird gerade in diesem Land diskutiert. Wir Sozialdemokraten haben 2005 schon mit der CDU darüber diskutiert. Inzwischen hat die CDU eine geänderte Meinung; die FDP hat sie aufgenommen. Die CDU ist jetzt gegen ihre eigene Meinung. ({17}) Die Sachlage ist also folgende: Die Diskussion in diesem Land zeigt, dass man am Ende staatliche Zuschüsse braucht, um die Kopfpauschale umzusetzen. Jetzt wird gefragt, wie viel das kosten soll. Der Bundesgesundheitsminister sagt: 10 Milliarden Euro per annum. Das ist ungefähr die Summe, die Sie sowieso streichen müssen. Sie müssen also 10 Milliarden Euro draufpacken, zusätzlich zu den Kosten für die Steuerreform und zu den 10 Milliarden Euro, die Sie darüber hinaus einsparen müssen. Dann sind wir schon bei 40 Milliarden Euro, die Sie jährlich einsparen müssen. Das wird eine fröhliche Veranstaltung. Jetzt kommt aber die Antwort des Bundesfinanzministeriums, ({18}) die Einführung der Kopfpauschale koste nicht 10, nicht 20, sondern 40 Milliarden Euro jährlich. Diese 40 Milliarden Euro müssen eingespart werden. Unter dem Strich heißt das: Diese Koalition ist sich in wesentlichen Punkten nicht einig. Sie hat zwar einen Koalitionsvertrag, schafft es aber nicht, diesen Koalitionsvertrag in ein in Zahlen gegossenes Regierungsprogramm, in einen Finanzplan, zu überführen. Das ist nicht nur schändlich, sondern behindert die Entwicklung unseres Landes, ({19}) weil die Wirtschaft und die Menschen nicht wissen, woran sie sind, weil man nicht weiß, wie es in diesem Land weitergehen soll. Jetzt haben Sie die Mehrheit. Nutzen Sie sie! Wir werden in der Sache hart kritisieren; aber dazu müssen Sie sich erst einmal einigen. Darauf warten wir. Glück auf! ({20})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat der Kollege Otto Fricke für die FDPFraktion. ({0})

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geschätzte Frau Vizepräsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kahrs, es wäre schön gewesen, wenn Sie auch zur Sache geredet hätten und gesagt hätten, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht um den Finanzplan und um die Frage, ob man einen neuen Finanzplan vorlegen muss, wenn es schon einen alten gibt. Im ersten Augenblick könnte man sagen: Formal spricht vieles dafür. ({0}) - Kollege Bonde, ich würde jetzt vorsichtig sein. ({1}) Kollege Kahrs, Sie sagen, dass diese Regierung, dass jede Regierung einen solchen Finanzplan haben müsse. ({2}) Sie meinen, ein neuer Plan müsse her, weil Neuwahlen stattgefunden haben. Würden Sie das, wenn Sie an der Regierung wären, so machen? ({3}) - Sie würden es so machen; das möchte ich für das Protokoll festhalten. - Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, jetzt darf ich Ihnen sagen: Diese beiden Parteien, einstmals an der Regierung, damals hier in weit größerer Zahl vertreten - vor allem die SPD -, haben im Jahre 2003, als sie nach der gerade noch gewonnenen Wahl 2002 wieder an der Regierung waren, die Möglichkeit gehabt, einen neuen Finanzplan vorzulegen. ({4}) - Die Rahmendaten hatten sich damals in vielen Bereichen geändert. Ich darf an Schröder und die Agenda 2010 erinnern. Haben Sie damals einen neuen Finanzplan vorgelegt? Nein. ({5}) - Sie meinen, wenn es die gleiche Koalition ist, muss man das nicht machen? Müssen wir dann einen halben Finanzplan vorlegen, weil einer der Koalitionspartner an der Regierung geblieben ist? ({6}) Entschuldigung, auf der einen Seite ist es zwar formal in Ordnung, wie Sie mit dem Recht umgehen; aber auf der anderen Seite sollte jemand, der sich so verhalten hat, vorsichtig sein, wenn er etwas fordert, das er selbst nicht für richtig gehalten hat. ({7}) Ich kann dem Kollegen Kampeter nur zustimmen: Sie sollten einmal ins Zisterzienserkloster gehen, lesen, lernen und, wie ich finde, vielleicht auch ein bisschen beten, dass all das Unheil, das Sie hier provozieren, irgendwie an Ihnen vorbeigeht. ({8}) Nun zur Sache selbst: Wir wollen einen möglichst präzisen Finanzplan. Gibt es einen präzisen Finanzplan? Jetzt sagen Sie, der Finanzplan von Herrn Steinbrück sei präzise gewesen. Haben Sie sich einmal angeschaut, wie oft im Finanzplan von globalen Minderausgaben die Rede ist und welche Höhe sie einnehmen? ({9}) Er ist nicht präzise und kann dies auch nicht sein, weil wir bei der Gestaltung des Finanzplans immer versuchen, uns ein Bild von der Zukunft zu machen. Unser Bild von der Zukunft bedeutet - darin sind wir uns doch alle einig -: Wir halten die Verfassung ein. Das heißt, wir halten den Stabilitätspakt ein. Es heißt auch, dass wir sparen müssen. Der Kollege Kahrs hat kurz aus dem Haushaltsausschuss berichtet. Sie haben festgestellt, wie schlimm es ist, dass wir sparen. Für Sie ist es schlimm. 200 Millionen Euro im Verteidigungsbereich einzusparen ist etwas, dem Sie nicht zustimmen können. Aber dumm oder unverantwortlich kann das nicht sein; ({10}) denn selbst Grüne und Linke haben dem zugestimmt. ({11}) Deswegen sage ich in Richtung SPD: Sie sind überrascht davon, dass die Koalition - ich bin froh, wie das mit dem Kollegen Barthle und den Haushältern funktioniert - das Sparen gemeinsam angeht. Sie sind völlig platt. Sie sind überrascht. Sie lehnen jeden Sparvorschlag ab. Die Grünen verhalten sich zwar kritisch, aber konstruktiv. Die Linken fahren ihre Linie. Aber Sie sagen einfach nur: nicht sparen! Das zeigt doch, worum es Ihnen eigentlich geht. Es geht Ihnen allein um eine Politik nach dem Motto „Die anderen sparen nicht, und wir wollen das beweisen“. Es ist genau umgekehrt: Sie wollen nicht sparen, und wir werden es beweisen. ({12}) Wäre denn ein Finanzplan, den wir heute aufstellen würden, über das Jahr 2010 hinaus präzise zu machen, wenn Sie alleine in der Regierung wären? So, wie die gegenwärtige wirtschaftliche Situation aussieht, befinden wir uns zurzeit am entscheidenden Dreh- und Angelpunkt, ob wir aus der Krise herauskommen. Es geht nicht mehr um die Frage, ob es weiter hinuntergeht. Wir sind jetzt an der Stelle angelangt, an der sich in unserem Finanzsystem, Steuersystem, Haushaltssystem und Sozialsystem in einer alternden Gesellschaft die Frage stellt, wie wir wieder hochkommen. Wir wissen genau, dass das, was wir heute noch für richtig halten, möglicherweise in einem Vierteljahr schon anders ist. ({13}) Ich wünsche mir in der Frage nach dem weiteren Vorgehen im Laufe des Halbjahrs einen neuen Finanzplan und eine neue Steuerschätzung. Das erwarte ich vom Finanzministerium. Alles geht den Weg, den es immer gegangen ist, wie es zu Zeiten von Rot-Grün der Fall war, wie wir für das Jahr 2003 gehört haben, und wie es bei der Steuerschätzung war. Zuverlässigkeit, Klarheit und vor allen Dingen Berechenbarkeit - das zeichnet uns aus. ({14}) Das mag Ihnen nicht passen. Es mag Sie überraschen. Sie können versuchen, irgendwelche Streitinterpretationen aus der Sesamstraße zu bringen. Es wird Ihnen nicht gelingen. Ich will kurz sagen, wo wir als FDP und unser Koalitionspartner in Zukunft noch Imponderabilien sehen. ({15}) Sie wissen genauso wenig wie wir, wie sich die Spekulationsversuche, die sich gegenwärtig am Finanzmarkt darstellen, auswirken werden. Wir alle hoffen, dass die Griechen es schaffen, sich selbst aus dem Sumpf herauszuziehen, in den sie sich begeben haben. Wir alle hoffen, dass wir keine weiteren größeren Schlaglöcher finden, aber wir wissen es derzeit noch nicht. ({16}) Ich sage Ihnen klar und deutlich: Wir werden genau beobachten, was kommt. Wir werden weiterhin den Weg beschreiten, der im Koalitionsvertrag vereinbart worden ist. ({17}) Sie mögen zwar sagen, dass das nicht geht. Sie haben aber auch bestritten, dass wir es schaffen, die Steuern zu senken. Wir haben damit angefangen. Sie haben bestritten, dass wir es schaffen, die Ausgaben und die Neuverschuldung zu reduzieren. Wir sind dabei. Wir werden auch beim Finanzplan ordentlich und zuverlässig vorgehen. ({18}) Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Schuldenbremse: Wir als FDP werden uns - das sage ich besonders an die SPD gewandt - genau ansehen, wie die Schuldenbremse bei Ihnen ausgefallen wäre und wie Ihre Anträge, Ihre Nichtbereitschaft zum Sparen und der fehlende Wille, bestimmte Dinge anzugehen, zustande gekommen sind. ({19}) Wenn fiktive Vorschläge kommen, wie sie schon zu hören waren, alte Ausgabenreste zu streichen, und Sie dann meinen, Sie hätten gespart, oder ähnliche Tricks, dann werden wir Ihnen das nicht durchgehen lassen. ({20}) - Ja, warten wir es ab. Ich habe - damit komme ich zum Schluss - heute schon den ganzen Tag mit den Kollegen im Haushaltsausschuss erlebt, wie sich die SPD bisher dem Sparen verweigert, während die Koalition den Kurs des Sparens verfolgt und nicht nur einen Finanzplan, sondern auch einen politischen Plan dafür hat. Den werden Sie vier Jahre vor Augen haben. ({21}) Ich freue mich weiterhin darauf. Herzlichen Dank. ({22})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch das Wort. ({0})

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich frage mich seit Beginn dieser Debatte, ob unsere Zuschauer auf den Zuschauerrängen überhaupt verstehen, worüber hier diskutiert wird. ({0}) Daher noch einmal: Das Thema ist die Finanzplanung des Bundes 2009 bis 2013. Der Kollege Staatssekretär Kampeter hat alles Mögliche getan, um das, worüber wir eigentlich reden sollten, herumzureden. ({1}) Er hat zwar über den Haushalt, aber nicht über die Finanzplanung gesprochen. Nun ist es so, dass dies wirklich eine ziemlich absurde Debatte ist; denn im Herbst haben, wie wir alle wissen, Wahlen stattgefunden. Seit den Wahlen gibt es eine neue Koalition. Diese neue Koalition hat erklärt, dass sie alles anders machen wolle. Sie hat aber versäumt, einen neuen Finanzplan vorzulegen. Nun haben wir sowohl vom Kollegen Kampeter als auch vom Kollegen Fricke von der FDP noch einmal die Ausreden und fadenscheinigen Argumente gehört. Sie erklären, dass sie erst einmal die Steuerschätzungen abwarten wollen. Ich halte das für Arbeitsverweigerung und für unehrliche Politik. ({2}) Wir alle wissen doch, dass Sie gebannt auf einen Termin starren, nämlich auf einen Termin im Mai. Dann findet die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen statt. ({3}) Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland. Nicht zu Unrecht können, glaube ich, alle davon ausgehen, dass die schwarz-gelbe Koalition dort abgewählt wird, da sie mit Sponsoringaffären das Vertrauen in die Politik in hohem Maße beschädigt hat. ({4}) Ich finde, Sie sollten wenigstens so ehrlich sein und zugeben, dass Sie sich nicht trauen, der Bevölkerung in diesem Land vor dem Wahltermin die Wahrheit über die Richtung Ihrer Politik zu sagen. ({5}) Die Wählerinnen und Wähler in Nordrhein-Westfalen haben es in der Hand, zu entscheiden, ob die schwarzgelbe Koalition abgemahnt wird. Ich finde, eine Abmahnung ist überfällig. ({6}) - Darin stimme ich Ihnen zu, Kollege Kuhn. Eine Abmahnung reicht nicht. Die Abmahnung muss die Abwahl sein. ({7}) Darin sollten wir uns einig sein. Wenn diese Koalition in Nordrhein-Westfalen nicht abgewählt wird, macht die Bundesregierung weiter wie bisher: Klientelpolitik, Steuersenkungen für Großunternehmen, Großspender und Sponsoren bedienen sowie reihenweise Parteifreunde in den Ministerien unterbringen. So erleben wir es seit langer Zeit. Wir haben festgestellt, dass insbesondere die FDP dabei besonders aktiv ist. Wir brauchen uns nur anschauen, wen alles der Kollege Niebel in seinem Ministerium, das die FDP eigentlich abwickeln wollte, untergebracht hat.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, sehr gerne.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Lötzsch, würden Sie mir bestätigen, dass die Steuerschätzung im Mai vor der Landtagswahl kommt?

Dr. Gesine Lötzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003584, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Fricke, erstens weiß ich, wann die Steuerschätzung kommt. Zweitens können wir gerne wetten, dass Sie den Finanzplan vor der Wahl nicht vorlegen werden und sich weiter verstecken. ({0}) Sie haben über die Schuldenbremse gesprochen. ({1}) - Bleiben Sie ruhig stehen, Herr Fricke. Dann kann ich Ihnen das erklären. ({2}) Da Sie sitzen bleiben, kann ich nur sagen: Das ist feige. Aber das sind wir von der FDP gewohnt. Ich habe aber noch Redezeit und kann Ihnen das erklären. ({3}) Sie sagen, Sie könnten keine Finanzplanung machen, weil Sie die Ergebnisse der Steuerschätzung noch nicht hätten. Aber im gleichen Atemzug sagen Sie, dass die Vorgaben der Schuldenbremse gelten müssen. Diese sieht vor, dass pro Jahr 10 Milliarden Euro im Haushalt nicht gespart, wie es immer irreführend heißt, sondern gestrichen werden sollen. Sie können 10 Milliarden Euro aber nicht streichen, indem Sie auf Bleistiftanspitzer oder Ärmelschoner in den Bundesministerien verzichten. Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Kampeter, es ist keine vernünftige Politik, in allen Ressorts zu sparen, ohne eine Schwerpunktsetzung zu formulieren. Wir wollen, dass im Verteidigungsbereich gespart wird, und zwar deutlich. Wir wollen keine unsinnigen Rüstungsprojekte. Wir werden uns mit aller Kraft dagegen wenden, dass Sie Ihren Plan, auf dem Rücken der Ärmsten in diesem Land zu sparen, umsetzen können. Wir brauchen endlich eine vernünftige Politik, eine andere Wirtschafts- und Steuerpolitik. Wir müssen die Verursacher der Finanzkrise zur Verantwortung ziehen ({4}) und endlich Schluss mit dem Niedriglohnsektor, Hartz IV und lächerlich niedrigen Steuersätzen für Konzerne machen. Außerdem müssen wir, um dieses Land voranzubringen, endlich die Agenda 2010 abwickeln. Dann ist wieder eine solide Finanzpolitik möglich. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Alexander Bonde für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Alexander Bonde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003509, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der jetzige Tagesordnungspunkt ist ein Novum in der deutschen Haushaltsgeschichte; denn zeitgleich zur Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, also in dem Moment, in dem der Haushalt endgültig aufgestellt wird, bringt die Regierung - last minute - einen Finanzplan in die Haushaltsberatungen ein. Jetzt hat die Koalition hier erstaunlich viel darum herumgeredet. Immer wenn sie darum herumredet, lohnt es sich, genau hinzuschauen. ({0}) Sie sind nach § 9 des Stabilitätsgesetzes verpflichtet, der Haushaltswirtschaft eine fünfjährige Finanzplanung zugrunde zu legen, in der - Zitat -: Umfang und Zusammensetzung der voraussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens darzustellen … sind. Nach § 50 des Haushaltsgrundsätzegesetzes sind Sie verpflichtet, den Finanzplan spätestens im Zusammenhang mit dem Entwurf des Haushaltsgesetzes vorzulegen. Das, was heute passiert, ist schlicht rechtswidrige Haushaltspolitik dieser Koalition. ({1}) Sie entziehen sich der Aufgabe, mit einem Finanzplan klar darzustellen, was Sie in den nächsten Jahren vorhaben, mit welchen volkswirtschaftlichen Eckdaten Sie als schwarz-gelbe Koalition rechnen und wie Sie dem berechtigten Interesse der Bevölkerung nach einer Vorausschau in der Situation der Rekordverschuldung entsprechen wollen. Dazu sind Sie aber von Gesetz wegen verpflichtet. Dieses Gesetz ignorieren Sie, seit Sie zu Beginn Ihrer Amtszeit einen Haushaltsentwurf vorgelegt haben, dem keine Finanzplanung zugrunde lag. ({2}) Sie haben in dieser rechtlichen Auseinandersetzung immer behauptet, Sie könnten den alten Finanzplan von Herrn Steinbrück aus dem Sommer 2009 weiter verwenden. Ich sage Ihnen einmal, was in diesem alten Finanzplan steht. Darin steht eine Wachstumserwartung von 0,5 Prozent für das Jahr 2010. Sie passen gerade die Wachstumserwartung auf 1,4 Prozent an. Hat das etwas miteinander zu tun? Nein, das hat es nicht. ({3}) Im Finanzplan 2009, den Sie nun einbringen, rechnen Sie überhaupt nicht mit einem Zuschuss in Höhe von über 10 Milliarden Euro für die Bundesagentur für Arbeit. Dieser Betrag lässt sich dort nicht finden. Was hat das mit Wahrheit und Klarheit sowie einer ehrlichen Ansage zu tun, die die Bürgerinnen und Bürger brauchen? ({4}) Kommen wir zur Steuerseite. Ihr alter Finanzplan kennt Ihr „Wachstumstrullalagesetz“, Ihre Geschenke an Hotelbesitzer und die 10 Milliarden Euro, die Sie als Koalition bereits verbraten haben, nicht. ({5}) Was hat das mit Wahrheit und Klarheit, was hat das mit einer ehrlichen Haushaltspolitik zu tun? Wenn man sich den Haushaltsplan anschaut, den Sie verabschieden, dann sieht man, dass es reihenweise Programmtitel gibt. Da ist das, was Sie an Geld in der Verpflichtungsermächtigung für 2011 zuweisen, höher als der Baransatz Ihres Finanzplans für das Jahr 2011. Der Finanzplan, den Sie heute einbringen, hat so viel mit der Realität zu tun wie Hertha BSC mit der Spitze der Fußball-Bundesliga. Es ist Pfusch, was Sie hier vorgelegt haben, und Sie wissen, dass es Pfusch ist. ({6}) Eines setzt dem Ganzen die Krone auf: Sie haben nicht einmal daran gedacht, dass Sie einen Finanzplan brauchen. Sie haben bis Ende letzter Woche nicht einmal gemerkt, dass Sie keinen im Haushaltsverfahren haben. Deshalb müssen Sie jetzt eine solche peinliche Veranstaltung aufführen und Reden wie aus einem Zisterzienserkloster halten. Was Sie machen, ist nichts anderes als Pfusch. Sie beherrschen Ihr Handwerkszeug nicht. Eine Räuberbande geht verantwortungsvoller mit dem Geld der Bürgerinnen und Bürger um. ({7}) Deshalb sage ich Ihnen: Stampfen Sie diesen Unfug ein! Das haben die Menschen nicht verdient. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norbert Barthle für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach diesem Auftritt des Kollegen Bonde, dessen Kompetenz als Haushaltspolitiker ich sehr schätze, ({0}) kann ich nur sagen: Diese Debatte ist wirklich kabarettreif; denn was hier versucht wird, ist nichts anderes, als dem Finanzminister Wolfgang Schäuble ein Versäumnis unterzujubeln und damit Kritik an ihm zu üben. Über dieses formale Versäumnis kann man sehr wohl streitig diskutieren. Das werde ich gleich noch tun. ({1}) Ich kann nur sagen: Die Tatsache, dass den Grünen nichts Besseres einfällt, um am Finanzminister Kritik zu üben, zeigt, wie die Grünen aufgestellt sind. So etwas tropft am Finanzminister relativ unbeschadet ab. ({2}) Worum geht es denn? Es war wunderschön, vorhin zu erleben, dass die Kolleginnen und Kollegen von der SPD begeistert mitgeklatscht haben, als der Kollege Bonde von den Grünen im Zusammenhang mit dem Finanzplan 2009 bis 2013 von Pfusch geredet hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist der Finanzplan des Finanzministers Peer Steinbrück, SPD. ({3}) Das zeigt die Qualität dieser Debatte, die uns die Grünen aufgedrängt haben. ({4}) Tatsächlich gibt es - nun sind wir bei dem von dem Kollegen Bonde angesprochenen Gesetz - ein Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967. ({5}) Dieses Gesetz sieht Folgendes vor: Der Finanzplan ist vom Bundesministerium der Finanzen aufzustellen und zu begründen. Er wird von der Bundesregierung beschlossen und Bundestag und Bundesrat vorgelegt. Weiter heißt es: Der Finanzplan ist jährlich der Entwicklung anzupassen und fortzuführen. Peer Steinbrück hatte einen Finanzplan 2009 bis 2013 aufgestellt, der im Kabinett verabschiedet und dem Parlament übergeben wurde. Dieser Finanzplan ist tatsächlich überholt. Der Finanzminister Wolfgang Schäuble hat in der Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, an dieser Stelle klipp und klar gesagt, er sehe es als seine Verantwortung an, im Jahre 2010 einen neuen Finanzplan gemeinsam mit dem Bundeshaushalt 2011 vorzulegen. Denn der Finanzplan ist, wie gesagt, nur jährlich fortzuschreiben. Wie Sie alle wissen, werden wir im Jahr 2010 zwei Haushalte beraten, nämlich nicht nur den für 2010, sondern auch den für 2011. Deshalb können Sie beruhigt darauf warten, bis der Finanzminister zu gegebener Zeit den Finanzplan anpassen wird, und zwar auf der Grundlage korrekter Daten und Fakten, die aus der Steuerschätzung resultieren, deren Ergebnisse wir noch vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bekommen werden. Das ist aus meiner Sicht die richtige und verantwortungsbewusste Vorgehensweise des Finanzministers. Er wird die deutsche Öffentlichkeit nicht mit einem schnell zusammengeschusterten Zahlenwerk überraschen, sondern mit korrekten, verlässlichen und eindeutigen Zahlen aufwarten. Das ist unser Bestreben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Barthle, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kuhn?

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer gerne, Herr Kollege Kuhn.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kuhn, bitte.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, ich habe eine Verständnisfrage. In der Woche, als der Haushalt eingebracht wurde, haben wir uns mit diesem Thema auseinandergesetzt. Auch ich hatte das Vergnügen, in dieser Debatte zu reden. Das Argument des Finanzministers war, er wolle jetzt keinen neuen Finanzplan einbringen, weil aufgrund der fehlenden Steuerschätzung die Faktenlage noch nicht eindeutig zu beurteilen sei. Wir haben dagegen argumentiert; das alles ist bekannt. Unter der Voraussetzung, dass das stimmt, was er damals gesagt hat, möchte ich gerne wissen, warum er heute einen alten Finanzplan einbringt, der in wichtigen Positionen, zum Beispiel beim Zuschuss für die BA, um 10 Milliarden Euro von dem abweicht, was Herr Steinbrück im letzten Jahr vorgelegt hat. Herr Bonde hat in diesem Zusammenhang noch weitere Punkte genannt. Zuerst sagt man, man könne jetzt keine Finanzplanung machen. Dann passiert erst einmal gar nichts; wochenlang hört man nichts über dieses Thema. Aber am Tage der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses, der finalen Sitzung im Zuge der Haushaltsberatungen, wird plötzlich eine alte, schon nicht mehr gültige Finanzplanung vorgelegt. Ich will die Frage noch ergänzen; Herr Fricke von der FDP hat diesen Punkt vorhin angesprochen. Im Jahr 2003 war die Lage anders. Damals hat man keinen neuen Finanzplan eingebracht, ({0}) weil die wesentlichen Eckdaten sowohl bei den Einnahmen als auch bei den Ausgaben der alten Finanzplanung entsprochen haben. Das ist der Unterschied zu damals. ({1}) Wie erklären Sie also das, was Herr Schäuble vor wenigen Wochen gesagt hat und was jetzt hektisch von der Regierung und von Herrn Kampeter vertreten wird? Jeder, der Herrn Kampeter persönlich kennt, weiß, dass er mit heißen Füßen in den Socken dastand, als er hier etwas ganz anderes erzählt hat. ({2})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kuhn, wir wollen zuerst eines festhalten: Im Gesetz steht, dass ein jährlich anzupassender Finanzplan vorzulegen ist. Es steht aber nicht im Gesetz, dass er vorzulegen ist, wenn sich die Rahmenbedingungen geändert haben. Darüber steht überhaupt nichts im Gesetz. Vielmehr haben Sie, die Grünen, diese Debatte mit dem Argument angestoßen, es gebe einen formalen Verstoß. Dieser formale Verstoß kann sich nie und nimmer auf eine Änderung der Rahmendaten beziehen. Tatsächlich haben sich die Rahmendaten geändert. Wir haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen Koalition erreicht, ({0}) dass die Arbeitslosigkeit deutlich weniger angewachsen ist, als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir haben dank der erfolgreichen Politik dieser neuen Koalition erreicht, ({1}) dass die Steuereinnahmen weniger eingebrochen sind, als Herr Steinbrück es noch angenommen hat. Wir haben erreicht, dass es wieder ein ordentliches Wirtschaftswachstum gibt. Deshalb sind die Rahmendaten besser. Aber von den Rahmendaten steht in dem Gesetz überhaupt nichts. Wenn Sie sich auf die Änderungen der Rahmendaten als Begründung dafür berufen, dass ein Finanzplan eingebracht werden muss, dann täuschen Sie sich über die Gesetzeslage; da müssen Sie noch einmal nachschauen. Deshalb kann ich Ihnen nur sagen, dass Ihre formale Begründung an den Haaren herbeigezogen ist. Der Finanzminister hat klipp und klar gesagt, dass er seiner Pflicht nachkommt. ({2}) - Ich antworte Ihnen noch. - Danke. - Er wird den Finanzplan dann vorlegen, wenn er gesicherte Daten als Grundlage hat; das geschieht jährlich. Dieser Pflicht wird er nachkommen; da können Sie ganz beruhigt sein. Herzlichen Dank für die Zwischenfrage.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Der Kollege Kuhn will Ihnen noch einmal die Chance auf weitere Ausführungen geben.

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wunderbar! Ich genieße meine Redezeit.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich will das wirklich sachlich klären. Im Gesetz steht, welchen Sinn eine Finanzplanung hat. Sie soll Aufschluss über die wesentlichen Elemente von Einnahmen und Ausgaben geben. Wenn diese sich durch Ihren Haushaltsentwurf wesentlich ändern, müssen sie doch dem Gesetz zufolge in der Lage sein, einen neuen Finanzplan einzubringen. Wenn sich nichts ändert, dann gilt die Einjahresregel, von der Sie gesprochen haben. Wenn sich aber im ersten Jahr der Finanzplanung Wesentliches ändert, dann ist die Fortschreibung für die folgenden vier Jahre obsolet, weil sich alles anders darstellt und verzerrt. Deswegen hätten Sie den alten Finanzplan nicht einbringen dürfen. Das ist doch ganz logisch. ({0})

Norbert Barthle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben richtig aus dem Gesetz zitiert. Da steht zur fünfjährigen Finanzplanung: In ihr sind Umfang und Zusammensetzung der voraussichtlichen Ausgaben und die Deckungsmöglichkeiten in ihren Wechselbeziehungen zu der mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens darzustellen … Das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen kann der Finanzminister dann abschätzen, wenn er wieder fundierte Informationen über die Entwicklung der Steuereinnahmen hat. Diese Datenlage steht uns in wenigen Wochen zur Verfügung. Dann werden sich die Beamten des Finanzministeriums daranmachen, den Finanzplan fortzuschreiben, und zwar auf gesicherter Datenbasis. Alles andere wäre ein Beschäftigungsprogramm ohne Hand und Fuß für zahllose Beamte. So etwas lehnen wir ab. ({0}) Es muss noch gesagt werden, dass das Parlament den jetzigen Finanzplan gar nicht beraten muss. Es muss ihn nur zur Kenntnis nehmen. ({1}) - Natürlich muss er vorgelegt werden. Aber er muss nicht beraten, sondern nur zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Das ist alles, was das Gesetz vorschreibt. Ich halte daher diese Debatte für an den Haaren herbeigezogen. Sie dient nur dem Zweck, den Finanzminister an einer Stelle zu kritisieren, an der man ihn überhaupt nicht kritisieren kann, und - das kam in der Rede der Kollegin Lötzsch ganz klar zum Ausdruck - einen Zusammenhang mit der Landtagswahl in NordrheinWestfalen zu konstruieren, der überhaupt nicht besteht; denn wir stellen Finanzpläne nicht in Abhängigkeit von anstehenden Terminen für Landtagswahlen auf. Das ist eine Vermutung, die weit hergeholt ist; ich weise sie klar zurück. Wir stellen Finanzpläne nach richtiger Datenlage und sorgfältiger Prüfung so auf, dass sie der tatsächlich eingetretenen Entwicklung entsprechen und eine korrekte Perspektive für die Zukunft darstellen. Eines muss doch klar sein: Der Finanzplan, den die Bundesregierung aufstellt und den der Finanzminister hier vorlegt, dient nicht nur der Unterrichtung des Parlaments, sondern auch der Öffentlichkeit. Er hat eine Wirkung auf zahlreiche Bereiche in unserer Wirtschaft. Deshalb muss dieser Finanzplan ordentlich fortgeschrieben werden, und zwar jährlich. ({2}) Das tun wir. Warten Sie ab! Gedulden Sie sich! Es wird Ihnen nicht gelingen, uns dazu zu bewegen, diesen Finanzplan hopplahopp und holterdiepolter vorzulegen; vielmehr werden wir ihn sorgfältig aufstellen. So machen wir das. Herzlichen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/13601 an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen - Drucksache 17/880 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Hiller-Ohm von der SPD-Fraktion das Wort. ({1})

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir auch in dieser Woche Gelegenheit haben, über das so wichtige Thema der Grundsicherung zu debattieren. Schade, dass heute wieder nicht allzu viele anwesend sind. ({0}) Leider hat Herr Minister Westerwelle seine Haltung gegenüber den Arbeitslosengeld-II-Beziehern nicht revidiert; auch hat er sich bei den Langzeitarbeitslosen für die Unterstellung spätrömischer Dekadenz nicht entschuldigt. Das ist bedauerlich, wirft aber ein bezeichnendes Licht auf Herrn Minister Westerwelle und seine FDP. Beide vertreten definitiv nicht die Interessen der langzeitarbeitslosen Menschen. ({1}) Genauso sieht es mit der CDU/CSU in der Regierungsverantwortung aus. Wo sind ihre Lösungsvorschläge? Auch hier gilt: Außer Thesen nichts gewesen. Aber keine Sorge: Wir werden Sie nicht im Regen stehen lassen und geben Ihnen deshalb mit unserem Antrag Orientierung. ({2}) Bereits unter Schwarz-Rot in der letzten Legislaturperiode hat die SPD richtige Schritte im Sinne des Bundesverfassungsgerichtsurteils bei den Regelsätzen erwirkt: Wir haben durch eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Bedarfe von Kindern genauer erfasst. Mit dem Schulbedarfspaket von 100 Euro pro Kind und Schuljahr haben wir die Teilhabe an Bildung für Kinder im Sozialgeldbezug verbessert. Das haben die obersten Richter auch anerkannt. ({3}) - Das haben sie anerkannt. - Sie verlangen aber bis Ende des Jahres eine ganz neue verfassungsfeste Auswertungsmethodik, die auch die Bedarfe von Kindern eigenständig erfasst - keine leichte Aufgabe. Das Ministerium allein wird mit dieser Aufgabe überfordert sein. Deshalb, meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, nehmen Sie sich den Sachverstand von Wissenschaftlern und Sozialverbänden bei der Entwicklung dieser neuen Auswertungsmethode für die Regelsätze zur Hilfe. Wir fordern die Einsetzung einer Kommission, die Grünen übrigens auch. ({4}) Um die Regelsätze besser an Preissteigerungsraten anzupassen, schlagen wir eine Verkürzung der Zeiträume zwischen den Einkommens- und Verbrauchsstichproben vor. Fünf Jahre sind entschieden zu lang. Es sollte außerdem die jährlich durchgeführte Laufende Wirtschaftsrechnung des Statistischen Bundesamtes als ergänzende Datengrundlage einbezogen werden. Damit die Regelsätze nicht unter das Existenzminimum rutschen, ist es notwendig, eine Einkommensuntergrenze bei der Erhebung der Daten für die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festzulegen. Die Regelsätze sind das eine. Die obersten Richter fordern außerdem eine Berücksichtigung individueller Sonderbedarfe, und dies ab sofort. Ich habe es in der letzten Debatte schon gesagt, und ich wiederhole an dieser Stelle noch einmal: Ihre Vier-Punkte-Liste, die Sie über die Agenturen an die Argen verschickt haben, ist in keiner Weise ausreichend. Fummeln Sie nicht alleine an einer Regelung für Härtefälle herum! Beziehen Sie uns Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker und die Experten aus Vereinen und Verbänden ein! Auch hier brauchen wir eine Expertenkommission. Wenn man über Grundsicherung spricht, darf man das Thema Armut nicht ausklammern. Wir fordern deshalb eine umfassende Strategie zur Armutsbekämpfung. Arbeitslosigkeit und schlecht bezahlte Jobs sind das größte Armutsrisiko. Wir fordern deshalb eine Abkehr von Niedriglohnbeschäftigung. ({5}) Sie ist ökonomisch kontraproduktiv und haushaltspolitisch fatal. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind eben keine Brücke in reguläre Beschäftigung. Das hat die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gezeigt. Schlimm ist auch die Geschlechterdiskriminierung, die gerade im Niedriglohnsektor passiert. Rund zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen, die hier zu miesen Löhnen und unter schlechten Bedingungen arbeiten. Das müssen wir ändern. ({6}) Frau Ministerin von der Leyen hat erklärt, dass sie sich für Frauen und insbesondere für Alleinerziehende starkmachen will. Tun Sie das endlich! Rund 650 000 Alleinerziehende erhalten Arbeitslosengeld II oder aufstockende Leistungen, weil sie langzeitarbeitslos sind oder zu wenig verdienen, um davon leben zu können. Auch hier weisen wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und FDP, mit unserem Antrag den Weg. ({7}) Bauen Sie die Betreuungsangebote weiter aus! Wir haben in unserer Regierungszeit gute Vorarbeit geleistet. Führen Sie endlich einen flächendeckenden Mindestlohn ein! Das hilft auch den Frauen. Setzen Sie eine unabhängige Kommission ein, die Kriterien für die richtige Höhe des Mindestlohns entwickelt! ({8}) Das Bundesverfassungsgericht fordert in seinem Urteil eine gerechtere Verteilung von Bildungschancen. Wenn man an der Regierung ist, reicht es nicht, nur über Bildungsgerechtigkeit zu reden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, das haben Sie alle lauthals getan. Jetzt wollen wir endlich Taten sehen. ({9}) Noch haben Sie die politischen Mehrheiten, um durchzusetzen, dass es in Deutschland endlich vernünftige Strukturen für frühe Förderung, Bildung und Ausbildung gibt. Auch hier haben wir während der Zeit unserer Regierungsverantwortung zum Beispiel mit dem Ausbau von Ganztagsschulen, Krippen und Kitas die richtigen Pflöcke eingeschlagen. Wir fordern eine nationale Bildungsinitiative, um endlich zu verbindlichen Vereinbarungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu kommen, die dafür sorgen, dass allen Kindern gute und faire Bildungs- und Entwicklungschancen geboten werden. Damit Länder und Kommunen die Infrastruktur hierfür schaffen können, benötigen sie natürlich Finanzmittel. Was aber machen Sie? Sie stärken die Kommunen nicht. Nein, im Gegenteil: Sie schmälern durch Ihr Wachstumsbeschleunigungsgesetz deren Finanzkraft. Es ist die Schuld von Schwarz-Gelb, dass die Kommunen jetzt am Hungertuch nagen. ({10}) Sie verhindern dadurch nicht nur Wachstum. Sie verschlechtern darüber hinaus massiv die Bildungs- und Entwicklungschancen unserer Kinder. ({11}) In meinem wunderschönen, aber leider auch sehr armen Schleswig-Holstein zwingen Sie sogar Ihre schwarz-gelben Parteifreunde durch Ihre kurzsichtige und klientelbehaftete Politik dazu, das gerade erst durchgesetzte beitragsfreie Kita-Jahr wieder infrage zu stellen. Rückwärtsgewandter kann Politik gar nicht sein. ({12}) Helfen Sie den Familien und helfen Sie den Kommunen! Wir fordern zur Tätigung der so notwendigen Investitionen für Familien und Kinder einen Rettungsschirm für die Kommunen in Höhe von 4 Milliarden Euro für die nächsten zwei Jahre. Verzichten Sie auf die gesetzliche Umsetzung des Betreuungsgeldes, und stecken Sie diese Mittel konsequent in Investitionen zur Förderung der frühkindlichen Bildung. Damit und nicht mit Ihrem Betreuungsgeld helfen Sie den Kindern und Familien. Herdprämien vergrößern Bildungsungerechtigkeiten. Kostenfreie Kitas und Ganztagsbetreuung an Schulen sind hingegen der richtige Weg. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD-Fraktion hat ein weitreichendes Konzept vorgelegt. Folgen Sie unseren Vorschlägen, Regelsätze rechtssicher zu bemessen und für gute Arbeit und gegen Armut zu kämpfen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carsten Linnemann für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Carsten Linnemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004098, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir sprechen heute Abend über das wichtige Urteil aus Karlsruhe. Als ich mir den Antrag der SPD-Fraktion gestern - ich glaube, gestern ist er erst eingetroffen - durchgelesen habe, Frau Hiller-Ohm, musste ich zunächst einmal feststellen, dass wir in der Analyse des Urteils, also in dem, was Sie auf den ersten beiden Seiten schreiben, eigentlich im Grundsatz keine unterschiedliche Meinung haben. Das sollte man in diesem Hause einfach einmal ansprechen. Bei den Konsequenzen gibt es allerdings Unterschiede; darüber werden wir im Ausschuss reden müssen. Aber, wie gesagt, in der Analyse gibt es keine unterschiedliche Meinung. Dazu zählen zwei Kernpunkte: Erstens. Das Verfahren der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, der EVS, ist nicht als verfassungswidrig eingestuft worden. Zweitens. Es wurde - Frau Hiller-Ohm, das haben Sie richtig gesagt ({0}) die fehlende Ermittlung der Bedarfe von Kindern kritisiert. Hier kann es nicht einfach eine pauschale Ableitung geben. Dafür brauchen wir ein transparentes System, ein System, das nachvollziehbar und sachgerecht ist. Dabei müssen wir das Thema Bildung mit einfließen lassen. Das ist der Sachstand. Jetzt müssen wir schauen, dass wir uns die Schablone vornehmen und an dieser Schablone arbeiten. Im Herbst liegen die Zahlen des Statistischen Bundesamtes vor. Die Schablone müssen wir im Sinne des Urteils aus Karlsruhe neu justieren und dann mit den Zahlen füllen. ({1}) Was man schon heute sagen muss und sagen kann, ist, dass für unsere Fraktion die Frage im Mittelpunkt steht: Wie gehen wir mit den bedürftigen Kindern um? Die bedürftigen Kinder stehen ganz klar im Vordergrund. Mittlerweile sind es, schlimm genug, knapp 2 Millionen Kinder, die von den Regelsätzen des SGB II leben. Das ist die Frage, die im Vordergrund steht: Wir müssen die Kinder aus dem SGB-II-Bezug herausholen. Es gibt immer noch Familien, die von Generation zu Generation von der Sozialhilfe leben. Auch diese Kinder müssen wir herausholen. Sie brauchen eine Perspektive. Ich bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht gesagt hat - der Präsident hat dies übrigens am Wochenende noch einmal eindrucksvoll in der Welt am Sonntag dargestellt -, ({2}) dass es nicht nur um Geldleistungen geht, sondern auch um Sachleistungen und/oder Dienstleistungen. Die jungen Menschen brauchen eine Perspektive, um Eigenverantwortung zu übernehmen. Diese Eigenverantwortung ist nichts anderes als das Prinzip der Subsidiarität, eingebettet in die soziale Marktwirtschaft. Die Marktwirtschaft, gepaart mit dem Sozialstaat, ist trotz aller Krise noch intakt. Das sehen wir beispielsweise bezogen auf die Arbeitslosenquote. Schauen wir uns diese einmal im Vergleich zum Ausland an: Spanien hat im Moment eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent; bei den jungen Menschen liegt sie bei 40 Prozent. Zum Glück liegt die Arbeitslosenquote bei uns weit unter der 10-Prozent-Marke. Für den Fall, dass Sie sagen, die Arbeitslosenquote könne man manipulieren, nehmen Sie die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Diese Zahl kann man nicht manipulieren. Auch diese Zahl ist Gott sei Dank noch einigermaßen stabil. Wir alle müssen hoffen, dass dies auch so bleibt. ({3}) Mit diesem Datenmaterial im Rücken sollte es für uns Verpflichtung sein - vielleicht auch Ansporn -, uns jetzt auf den Weg zu machen, um dieses Urteil umzusetzen. Wir sollten dies zügig tun, ({4}) weil das Ganze noch in diesem Jahr über die Bühne gehen muss, aber auch mit der nötigen Sorgfalt. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Diana Golze für die Fraktion Die Linke. ({0})

Diana Golze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003759, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Wochen sind unerträglich diffamierende Debatten auf dem Rücken von Millionen Menschen in diesem Land geführt worden. Menschen, die Ausgrenzung von der Gesellschaft durch Erwerbslosigkeit am eigenen Leib erleben, wurden an den Pranger gestellt, und das nur, um davon abzulenken, dass Millionen anderer Menschen von Löhnen leben müssen, für die die Erfinder dieser Hetzkampagne nicht einmal den Laptop aufklappen würden. Hier werden die Ärmsten der Gesellschaft gegeneinander ausgespielt: diejenigen, die von Sozialleistungen leben müssen, und diejenigen, die so geringe Löhne haben, dass diese nur knapp über den Sozialleistungen liegen. Nun kommt mit dem Antrag der SPD endlich erneut ein Vorschlag von der Opposition, in dem versucht wird, den Stammtischparolen der Regierung etwas Sachlichkeit entgegenzusetzen. Der Antrag leistet in weiten Teilen das, was ich mir von einer Arbeitsministerin oder von der Bundeskanzlerin selbst wünschen würde. Doch diese setzen entweder auf ihre bewährte Ankündigungsmethodik, oder sie hüllen sich lieber ganz in Schweigen. Viele der im SPD-Antrag vorgeschlagenen Maßnahmen unterstütze ich. Besonders begrüßenswert finde ich die Darstellung, dass sich das Lohnabstandsgebot nicht an der Höhe der Sozialleistungen, sondern an der Höhe der Löhne bemessen soll. ({0}) Einen gesetzlichen Mindestlohn fordert die Linke bekanntermaßen schon seit langem. Anderes in dem Antrag bleibt etwas verschwommen und unzureichend formuliert. Ich frage mich beispielsweise, was die SPD mit der vorgeschlagenen Wahlfreiheit zwischen Kinderzuschlag und ALG-II-Bezug für Familien mit geringem Einkommen meint; denn nur, wenn der Kinderzuschlag und das Wohngeld als vor2454 rangige Leistungen so ausgestaltet werden, dass die Familien dadurch mehr haben, liegt wirklich Wahlfreiheit vor. Wenn es aber wie jetzt in vielen Fällen dazu führt, dass der Kinderzuschlag sogar noch geringer ausfällt als der ALG-II-Bezug, dann ist das nicht Wahlfreiheit, sondern Erpressung mit einem menschenentwürdigenden Grundsicherungsmodell. ({1}) Die Linke hat schon diverse Male Anträge für eine sozialere Ausgestaltung des Kinderzuschlages vorgelegt. Dass die SPD die Berechnung der Regelsätze und auch die sogenannte Härtefallregelung nicht allein in die Hände der Bundesregierung legen will, kann ich nachvollziehen. Der Vorstoß, dies durch eine Expertenkommission zu unterstützen, kommt einer Forderung der Linken nahe. Fraglich bleibt für mich allerdings, warum Sie eine Gruppe von Experten, die dort mitwirken sollen, außen vor lassen: die Vertreter der Menschen, die am stärksten davon betroffen sind und um deren Bedarfe es geht, nämlich die Vertreter von Erwerbsloseninitiativen. ({2}) Vielleicht liegt es daran, dass diese Sie daran erinnern könnten, dass die verkorkste Arbeitsmarktreform von Rot-Grün erfunden und von Schwarz-Gelb im Bundesrat noch verschärft wurde. ({3}) Alles, was das Bundesverfassungsgericht der Regierung am 9. Februar ins Hausaufgabenheft geschrieben hat, ist ihnen prophezeit worden, nicht nur von uns, sondern von vielen Sachverständigen und Initiativen. Einen Punkt möchte ich besonders hervorheben: Es geht um die Debatte über die Frage von Gutscheinen bzw. Sachleistungen, die durch die Bundesarbeitsministerin angestoßen wurde. Um diese Frage ging es auch in einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales. Hier war aber die Rede von gebührenfreiem Schulessen, Lernmittelfreiheit und beitragsfreien Ganztagsbildungsangeboten und nicht davon, die Kinder von ALG-II-Beziehern durch Gutscheine zu Kunden zu machen, um dadurch die Privatisierung dieser Angebote noch weiter voranzutreiben. Ich bitte Sie, Lösungen zu finden, die die Teilhabe aller Kinder an Bildung in ihrer ganzen Breite sichern, und nicht eine Verstärkung für den privatgewerblichen Markt zu organisieren. ({4}) Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, das Existenzminimum von Menschen ist keine Verhandlungsmasse. Das Gericht hat genau festgelegt, was ein Mensch braucht, um Mensch zu sein. Er braucht eben mehr als die Sicherung seiner physischen Existenz. Er hat ein Recht auf Teilhabe. Lassen Sie uns also in diesem Haus nach politischen Lösungen für die Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben suchen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion. ({0})

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, der Titel Ihres Antrages hat es in sich. (Angelika Krüger-Leißner ({0}): Der ist nicht schlecht, ne? Er lautet: „Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zur Bemessung der Regelsätze umsetzen - Die Ursachen von Armut bekämpfen“. Entschuldigung, beim Lesen habe ich mir die Frage gestellt, welche Aussage sich eigentlich hinter dem Gedankenstrich verbirgt. ({1}) Welchen Zusammenhang lassen Sie durch die Verwendung eines Gedankenstrichs unausgesprochen? Welchen Zusammenhang zwischen Hartz-IV-Regelsätzen, Urteil des Bundesverfassungsgerichts und Armut möchten Sie durch die Verwendung eines Gedankenstrichs vielleicht kaschieren? ({2}) Vielleicht meinen Sie es ja so: Indem Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umsetzen, bekämpfen Sie Armut. Das würde aber bedeuten, dass Sie meinen, dass durch die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts in unserem Land Armut bekämpft wird. ({3}) Da das Bundesverfassungsgericht Ihre Politik, Ihre Hartz-IV-Gesetze kritisiert hat, frage ich Sie: Soll ich Ihren Antrag so verstehen, dass man Armut in diesem Land dadurch bekämpft, dass man Ihre Hartz-IV-Politik aus dem Jahr 2005 verändert? ({4}) Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass Sie sich damit nicht nur von Ihren eigenen Überzeugungen lösen, sondern sich zugleich in die Nähe Ihrer heftigsten Kritiker begeben, in die Nähe der Kolleginnen und Kollegen der Linken, die immer betonen, dass Hartz IV Armut per Gesetz sei. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie sollten sich entscheiden: ({5}) Ist Hartz IV mit allem, was damit zusammenhängt, ein Gesetz gewesen, das Armut verhindern sollte und soll, oder ist das Hartz-IV-Gesetz ein Gesetz, das Armut bewirkt? Wir von der FDP sind mit Ihnen einig, dass von Ihnen im Jahr 2005 manches in Gesetzesform gegossen wurde, das im Sinne der betroffenen Menschen dringend reformiert gehörte, das gerechter und fairer ausgestaltet werden sollte. ({6}) Wenn ich Ihren Antrag aber lese, stelle ich fest - das muss ich Ihnen sagen -, dass Sie an der ganz falschen Stelle ansetzen, nämlich an vielen Punkten, die das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht beanstandet hat. Jetzt wollen Sie unter anderem dort Veränderungen vornehmen, wo Ihnen das Bundesverfassungsgericht im Grunde attestiert hat: Gut gemacht. Zum Beispiel kritisieren Sie das bestehende System der Regelsatzbemessung anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Statt nur alle fünf Jahre soll die Stichprobe nun alle drei Jahre erfolgen. Dass Sie das im Jahr 2005 noch nicht so gesehen haben, will ich gar nicht kritisieren. ({7}) Dass Sie, namentlich der SPD-Bundesarbeits- und Sozialminister Olaf Scholz, es aber auch in den letzten vier Jahren nicht so gesehen haben, macht Ihre Forderung zum jetzigen Zeitpunkt nicht sehr glaubwürdig. ({8}) - Es wurde von Ihrem Bundesarbeitsminister blockiert. Das habe ich mir von den Kollegen schon erläutern lassen. Das mit dem Urteilsspruch des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar dieses Jahres in Beziehung zu setzen, ist nicht sehr glaubwürdig; denn gerade diesen Punkt hat das Bundesverfassungsgericht überhaupt nicht kritisiert. Seien Sie doch froh, dass Sie offensichtlich auch etwas richtig gemacht haben. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, daher stellen wir uns schützend vor Sie, Ihre Geschichte und Ihre kleinen Erfolge und werden Ihrem Antrag nicht zustimmen. ({10}) Es gibt eine ganze Reihe anderer Gründe, Ihren Antrag abzulehnen. In Ihrem Antrag fordern Sie zum Beispiel einen gesetzlichen Mindestlohn. ({11}) Über die Höhe schweigen Sie sich in diesem Antrag zwar aus, aber wir wissen ja, was Ihnen vorschwebt: 7,50 Euro in der Stunde. Das macht in einer 38-StundenWoche summa summarum 1 140 Euro im Monat. Da höre ich schon die Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei rufen: Das ist Armut per Gesetz; das müssen mindestens 10 Euro die Stunde sein. ({12}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, werden schnell in Versuchung geraten, den Sirenenklängen der Linken zu erliegen, und nach einer gewissen Schamfrist ihren eigenen Mindestlohn als zu niedrig deklarieren. Davor möchten wir von der FDP Sie bewahren. ({13}) Wir werden Ihren Antrag ablehnen und eine seriöse, transparente Politik im Sinne und zum Wohl der Betroffenen machen, und zwar ganz im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichtes. ({14}) Darauf können Sie sich verlassen. Sie werden gut regiert. Wir machen das schon. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist interessant, wie Sie in letzter Zeit versuchen, ehemalige Regierungsparteien zu Geiseln der Vergangenheit zu machen. ({0}) Aber wir werden uns nicht davon abbringen lassen, dazuzulernen - ganz im Gegensatz zu Ihnen -, Folgen unseres Handelns zu beobachten und die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. ({1}) - Auch ich bedauere es, dass die Fraktion der SPD es noch nicht in der letzten Legislatur getan hat. Wenn sie, dies nun tut, ({2}) dann erkennen wir das durchaus an. Der vorgelegte Antrag der SPD ist in weiten Teilen übereinstimmend mit dem, was die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bereits heute vor einer Woche vorgelegt und seit mehreren Jahren sehr sorgfältig entwickelt hat. ({3}) Die Frage ist, ob im Verlauf der letzten Woche, seit der Regelsatzdebatte, gewisse Lerneffekte zu beobachten sind. Bei Ihnen von den Regierungsparteien ist dies ganz offensichtlich leider nicht der Fall. Wenn ich zum Beispiel vom Kollegen Linnemann höre, dass Sie jetzt erst einmal wieder die Zahlen abwarten wollen und dann erst die Methodik, die Schablone, wie Sie das nennen, entwickeln wollen, dann habe ich die Befürchtung, dass Sie den Fehler wiederholen werden, der zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes geführt hat. Auch da hat man erst die Zahlen genommen, dann einen fiskalischen Zielwert angegeben und daraufhin die Regelsätze berechnet. Entwickeln Sie doch zuerst die Methodik, wie Sie eine Einkommens- und Verbrauchsstichprobe auswerten wollen, und warten wir die Zahlen ab; denn dann kann das Ergebnis auch nicht manipuliert werden. ({4}) Ich sage Ihnen: Im Verlauf der letzten Woche sind noch einige interessante Erkenntnisse zu den von Ihnen gern diskutierten Fragen des Lohnabstandsgebots und der Arbeitsanreize hinzugekommen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Kurth, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lindner von der FDP-Fraktion?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Dr. Martin Lindner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004096, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, Sie sprachen gerade von den Lerneffekten, die bei Ihnen eingetreten sind. Stimmen Sie mir zu, dass diese Lerneffekte sowohl bei Ihnen als auch bei der SPD immer nur dann eingetreten sind, wenn Sie aus der Regierung ausgeschieden sind?

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Keineswegs. Ich will ein Beispiel nennen. Als wir das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt hier im Bundestag im Sommer 2003 verabschiedet haben, stand darin der Satz, dass zumutbare Arbeit sich an den Tariflöhnen oder, wenn es keine Tarife gibt, an den ortsüblichen Löhnen orientieren soll, weil wir das Entstehen eines Niedriglohnsektors verhindern wollten. Das heißt, vieles, was wir jetzt in den Anträgen zum Mindestlohn fordern, haben wir im Prinzip bereits damals in diesem Gesetz verankern wollen. ({0}) - Bleiben Sie bitte stehen; ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. - Es ist so, dass der Bundesrat mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP unsere damaligen Einsichten wieder gekippt und beispielsweise diesen Satz gestrichen hat. ({1}) Natürlich greifen wir dann in der Opposition wieder auf, was Sie damals zerstört haben. ({2}) Es ist so, dass wir - ich fahre mit meiner Rede fort neue Erkenntnisse zum Lohnabstandsgebot haben. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat dank Fleißarbeit eine ganze Reihe von Berechnungen, Lohnabstandsbeispiele, vorgelegt, wo sehr deutlich wird, dass diejenigen, die arbeiten, letztlich mehr im Portemonnaie haben. Das wurde jetzt sogar durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bestätigt, das auf eine Kleine Anfrage der Linken geantwortet hat: Wer arbeitet, werde immer mehr Mittel zur Verfügung haben als ein Nichterwerbstätiger. Das sollten wir in unsere Debatte einbeziehen. Den Punkt Arbeitsanreize sollte man sich einmal sorgfältiger anschauen. Als zum Beispiel vor etwa zwei Wochen die Berliner Stadtreinigung gegen Ende des Winters endlich erkannt hatte, das eisverkrustete Berlin müsse jetzt vom Eis befreit werden, wurden 650 Arbeitslose angefordert - es haben sich Tausende gemeldet. ({3}) Innerhalb einer halben Stunde war die Hotline der Agentur für Arbeit überlastet, weil sie den Ansturm der Arbeitsuchenden nicht bewältigen konnte. Das heißt, dass die Realität bei den Arbeitsanreizen ganz anderes aussieht, als insbesondere Sie von der FDP ständig behaupten. ({4}) Angesichts dessen frage ich mich, wie man immer wieder von einer konsequenten Anwendung von Sanktionen als vordringlichem Mittel reden kann. ({5}) Geht es nicht vielmehr darum, diesen Tausenden, die selbst bei bescheidenen Hinzuverdienstmöglichkeiten einfach mal wieder gebraucht werden wollen, vernünftige Angebote zu bieten? ({6}) Erst heute hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA ebenfalls in einer Studie bestätigt, dass sich Hartz-IV-Beziehende um Arbeit bemühen und es vielmehr an maßgeschneiderten Fortbildungsangeboten und an fallbezogener Ausrichtung der Hilfegewährung mangelt. ({7}) Das heißt, es mangelt an einer vernünftigen materiellen und inhaltlichen Hinterlegung der Förderpolitik. ({8}) Ich sage Ihnen: Auch das Problem des sogenannten Lohnabstands bekommen wir selbst bei erhöhten Regelsätzen sehr gut in den Griff, wenn wir eine Progression bei den Sozialabgaben und einen Mindestlohn einführen, wie Bündnis 90/Die Grünen es vorschlägt. Dadurch schaffen wir Anreize und mobilisieren Wachstumspotenziale und menschliche Potenziale, die Sie zu ersticken drohen. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Mechthild Heil für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße, dass eine breite öffentliche Diskussion darüber geführt wird, welche sozialen Leistungen, aber auch welche steuerlichen Leistungen wir alle zu erbringen bereit sind. Vor allem begrüße ich, dass sich diese Diskussion - wenn auch sehr langsam - erkennbar versachlicht, zumindest in der Öffentlichkeit. In der Vergangenheit sind Emotionen hochgekocht, Randerscheinungen bestimmten die Diskussion, Fakten spielten so gut wie keine Rolle mehr. Ich finde es unverantwortlich, dass einige, insbesondere von der Linken, auch heute in diesem Hause den Versuch unternehmen, Misstrauen zu säen und gesellschaftliche Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. ({0}) Das ist mit der Union nicht zu machen. ({1}) Als große Volkspartei tragen wir Sorge dafür, dass alle Menschen, egal welcher Schicht, einen Platz in dieser Gesellschaft haben. Niemand soll an den Rand gedrückt, niemand übervorteilt werden. Es ist auch keine Zeit für Neiddiskussionen. ({2}) Die Zeiten sind schwierig genug. ({3}) CDU und CSU tragen das „C“ in ihren Namen. Auch ich bin, wie manch anderer in diesem Hause, Christ. Wir wissen: Unsere christliche Überzeugung ist uns Verpflichtung und Antrieb. ({4}) CDU und CSU werden deshalb mit Tatkraft, Leidenschaft und Klugheit für eine Gesellschaftsordnung kämpfen, in der Leistung gefördert wird, in der Schwache beschützt werden und in der Verantwortungslosigkeit geahndet wird. ({5}) Leistungsgerechtigkeit und soziale Verantwortung gehören für uns von der Union untrennbar zusammen. Ein populistischer Wettbewerb nach dem Motto: „Wer ist näher dran an den Hartz-IV-Empfängern?“ oder: „Wer verspricht die größeren Geschenke?“ ist mit uns nicht zu machen. ({6}) Wir stellen uns den Aufgaben, die vor uns liegen: Wie bekommt man die Menschen, Eltern und Kinder, aus der Abhängigkeit vom Staat? Was müssen wir tun, um die Wirtschaft so zu stärken, dass neue, gute Arbeitsplätze geschaffen werden? An dieser Stelle seien nur die Stichworte Wachstum und Haushaltskonsolidierung genannt. Was müssen wir für die Kinder aus Hartz-IV-Familien tun, damit sie nicht in die Spirale der Abhängigkeit vom Staat geraten? Hier sei nur das Stichwort Bildungschancen genannt. In der Analyse sind wir uns mit der SPD größtenteils einig. Verglichen mit den Anträgen von den Grünen und den Linken, die uns in der letzten Sitzungswoche vorgelegen haben, ist der jetzt von der SPD eingebrachte Antrag wirklich eine Wohltat. Die Analyse ist okay. Was die Konsequenzen, die wir ziehen, betrifft, unterscheiden wir uns allerdings erheblich von Ihnen. Deshalb stimmen wir dem Antrag der SPD heute nicht zu. Sie fordern zum Beispiel, die Mehrbedarfe nach dem SGB XII entsprechend dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu ändern, und zwar ähnlich wie im SGB II. In § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch sind abweichende Mehrbedarfe allerdings bereits geregelt. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Die Bedarfe werden abweichend festgelegt, wenn im Einzelfall ein Bedarf ganz oder teilweise anderweitig gedeckt ist oder - jetzt kommt die entscheidende Aussage unabweisbar seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts ist in diesem Gesetz also schon längst verankert. ({7}) Eine Gesetzesänderung brauchen wir an dieser Stelle nicht. Die Forderung der SPD geht ins Leere. Zu Ihrem Maßnahmenkatalog gegen die Niedriglohnbeschäftigung haben wir heute von dieser Stelle aus schon einiges gehört. Die von Ihnen immer wieder geforderten gesetzlichen Mindestlöhne sind keine Lösung. Wir sind uns einig, dass Arbeitnehmer einen auskömmlichen Lohn für ihre Arbeit erhalten sollen. Aber ich sage: Dieser Lohn sollte nicht vom Staat diktiert werden. Wir werden jedenfalls die Tarifautonomie in unserem Land nicht kippen. ({8}) Sie fordern des Weiteren, die Koalition solle sich erst gar nicht damit auseinandersetzen, sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse zu erhöhen oder zu dynamisieren, ({9}) weil Sie davon ausgehen, dass Vollzeitjobs in mehrere Minijobs aufgesplittet wurden. Ich weiß wirklich nicht, woher Sie diese Erkenntnis haben. Meine Informationen sind völlig andere: (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Müssen Sie mal Ihre Informationsbasis überprüfen! Die Bundesagentur für Arbeit hat dieses angeblich weit verbreitete Phänomen untersucht und festgestellt, dass es dieses Phänomen nicht gibt. Die Betriebe, die Vollzeitarbeitsplätze gestrichen haben, haben auch Minijobs abgebaut. ({10}) Die Betriebe, die mehr Minijobber eingestellt haben, haben gleichzeitig mehr Vollzeitarbeitsplätze geschaffen. ({11}) Es gibt also keinen eindeutigen Beleg für Ihre Behauptung, dass allein die Zulassung von Minijobs die Umwandlung von Vollzeitstellen in Minijobs gefördert hat. Deshalb sollten Sie Ihren Widerstand gegen die Minijobs aufgeben. ({12}) Ein Weiteres kommt hinzu, was heute allerdings leicht in Vergessenheit geraten ist: Wie Auswertungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln auf Basis der sozioökonomischen Erhebungen zeigen, ist die Zufriedenheit von Menschen mit Niedriglohnarbeit größer als die Zufriedenheit von Menschen in Arbeitslosigkeit - im Grunde eine Binsenweisheit. ({13}) Arbeit an sich ist eben auch ein Wert. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, sorgen Sie mit uns dafür, dass Leistungsstarke sagen können: „Ich helfe denen, die zu schwach sind, sich selber zu helfen“, und dass Leistungsempfänger sagen können: „Ich tue, was mir möglich ist, um auf eigenen Beinen stehen zu können.“ Ein solches Klima wünsche ich mir für Deutschland, weil wir nur im Miteinander aller gesellschaftlichen Gruppen die Chance haben, die Probleme zu bewältigen. Es liegt an uns. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/880 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren Lay, Dr. Axel Troost, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Finanziellen Verbraucherschutz stärken - Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren - Drucksache 17/887 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Rechtsausschuss Federführung strittig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Caren Lay für die Fraktion Die Linke das Wort. ({2})

Caren Lay (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004088, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die meisten Menschen, die ihr mühsam erspartes Geld zur Bank bringen, wollen ihr Geld sicher anleCaren Lay gen. Mit den Lehman-Zertifikaten, um nur ein Beispiel zu nennen, wurden Risiken jedoch verschwiegen, und das Geld von Kleinanlegern wurde in windigen Geschäften verwettet. Die Pleite der Lehman-Bank ist nun anderthalb Jahre her. Seitdem hat die Bundesregierung keine wesentlichen Schritte unternommen, um Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärkten besser zu schützen. Zwar gibt es zum Beispiel die Protokolle von Beratungsgesprächen. Sie dienen aber - dies hat eine Studie der Verbraucherzentrale NRW erst in der vergangenen Woche bewiesen - eher dem Schutz der Unternehmen als dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher. Ministerin Aigner setzt hier auf Produktinformationsblätter. Wir als Linke sagen ganz eindeutig: Mit diesem Beipackzettel alleine ist es nicht getan, ({0}) schon gar nicht, wenn dieser Beipackzettel nicht einheitlich, wohl aber unverbindlich ist. Untaugliche Finanzprodukte gehören überhaupt nicht auf den Markt. ({1}) Deshalb fordern wir als Linke einen europäischen Finanz-TÜV. Er ist längst überfällig, damit hochriskante Produkte erst gar nicht zugelassen werden. ({2}) Für die Produkte, die dann auf dem Markt sind, wollen wir wir eine klare Kennzeichnung haben. Verbraucherschutz greift aber zu kurz, wenn er die Verantwortung allein bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern ablädt. Die Realität ist doch: Die Finanzmärkte sind schnelllebig, und die Verbraucherinnen und Verbraucher sind häufig überfordert und einem undurchsichtigen Dschungel von Produkten ausgeliefert. Deswegen sagen wir als Linke ganz klar: Die Finanzmärkte müssen reguliert werden, nicht zuletzt im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({3}) Wir wollen den Verbraucherschutz institutionell und organisatorisch stärken. Auch Deutschland braucht endlich eine Verbraucherbehörde. ({4}) Es kann doch nicht sein, dass wir in Deutschland eine Finanzaufsicht haben, diese beim Ausüben ihrer Aufsicht aber nicht auf die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher achten muss. Auch der Verbraucherschutz - Sie wissen, dass das seit langem gefordert wird - muss eine Aufgabe der Finanzaufsicht werden. ({5}) Die Linke fordert mit diesem Antrag einiges mehr: Wir wollen die demokratische Vertretung der Verbraucherinteressen stärken. Wir wollen die Verbraucherzentralen in ihrer Marktwächterfunktion unterstützen. Sie sollen beispielsweise ein Recht auf Sammelklage erhalten und einen Verbraucherbeirat einrichten können. Ein aus unserer Sicht wichtiger Punkt, den ich noch ansprechen möchte, ist, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher unabhängige Beratung brauchen. Solange Finanzberater für den Verkauf von Wertpapieren Provisionen erhalten, kann von unabhängiger Beratung keine Rede sein. ({6}) Das BMELV beziffert den Schaden, der Verbraucherinnen und Verbrauchern durch schlechte Anlageberatung entsteht, auf 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr. Deswegen wollen wir die Provisionsberatung überwinden und stattdessen eine Honorarberatung einführen, und wir wollen unabhängige Beratung durch die Verbraucherzentralen stärken. Die Linke hat die Debatte zur Verbesserung des Anlegerschutzes heute eröffnet. Wir haben die Initiative ergriffen, um die Ersparnisse der Menschen vor wilden Spekulationen zu schützen. Ich habe die Pläne von Verbraucherschutzministerin Aigner als viel zu zaghaft kritisiert; aber sie sind immerhin ein Versuch. Womit sich allerdings Herr Schäuble die Federführung bei diesem Thema verdient hat, bleibt mir schleierhaft; denn bislang hat er sich bei der Verbesserung des finanziellen Verbraucherschutzes durch keinerlei Aktivitäten hervorgetan. Kaum lag unser Antrag vorgestern auf dem Tisch, hat auch er einen Gesetzentwurf zur Verbesserung des Anlegerschutzes angekündigt. Sie sehen also: Die Linke wirkt. ({7}) Kolleginnen und Kollegen, es wird Zeit, dass wir den Verbraucherschutz endlich ernst nehmen. Wir bitten daher um Überweisung an den Verbraucherschutzausschuss. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Lay, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten Wünsche! ({0}) - Stimmt nicht? Das ist mir extra aufgeschrieben worden. Dann haben Sie die Freude, eine zweite Gratulation erlebt zu haben. ({1}) Das Wort hat nun Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSUFraktion. ({2})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der Linken sind durchaus einige Sätze, die ich unterschreiben würde. Diesen Antrag durchzieht aber der Gedanke: Wir brauchen in Deutschland eine neue Behörde, eine neue Verbraucherschutzbehörde, und wenn wir diese Behörde haben, geht es allen besser. Wir brauchen keine neue Behörde. Wenn wir den Verbraucherschutz verbessern wollen, brauchen wir Transparenz in den Märkten, brauchen wir Wettbewerb, brauchen wir Haftung und brauchen wir mehr Verantwortlichkeit in den Finanzmärkten. ({0}) Minister Schäuble hat gestern deutlich gemacht, dass er bis zum Sommer ein Gesetz zum Schutz der Privatanleger vorlegen wird. Damit erfüllen wir ein Stück unseres Koalitionsvertrages. Wir haben deutlich gemacht, dass es in Deutschland keinen Finanzmarkt, kein Finanzprodukt und keinen Finanzakteur mehr geben soll, der nicht reguliert und kontrolliert wird. Wir erfüllen unseren Koalitionsvertrag. ({1}) Es ist kein Geheimnis, dass es einen Unterschied im Wissen um Finanzprodukte zwischen Anbietern und Nachfragern, den Verbrauchern, gibt. Das hat sich gerade in der Finanzkrise gezeigt. Es gibt zahlreiche Kleinanleger, es gibt zahlreiche Anleger, die sicherheitsorientiert sind. Viele wollen für ihre Altersvorsorge sparen. Sie haben ein Anrecht auf Schutz und darauf, dass sie nur Produkte bekommen, die auch ihren Wünschen entsprechen. ({2}) Deshalb sollten wir uns, wenn wir an die Lösung denken, nur drei Jahre zurückversetzen, in die Zeit, als die EU-Versicherungsvermittler-Richtlinie umgesetzt wurde. Für die Verbraucher ist es wichtig, zu wissen, wer ihnen im Gespräch gegenübersteht. Ist der Verkäufer der Angestellte einer Versicherungsgesellschaft oder einer Bank, ist es ein Mehrfachagent, ist es ein Makler, oder ist es ein Berater, der auf Honorarbasis berät? Das ist mit das Wichtigste, was der Verbraucher zuerst einmal wissen muss. Er muss auch wissen, welche Qualifikation der auf der anderen Seite hat, und er muss wissen, ob er registriert ist und ob er eine Haftpflichtversicherung besitzt, ob ihm eine Versicherungsgesellschaft also eine Haftpflichtversicherung angeboten hat, damit er überhaupt Risiken eingehen kann. ({3}) Das alles sind die ersten und wichtigsten Informationen für den Verbraucher. ({4}) Das Zweite, was der Verbraucher wissen muss, ist, was ihm angeboten wird und was das eigentlich für ein Produkt ist. Deswegen unterstützen wir Ministerin Aigner auch darin, grundsätzlich für jedes Produkt ein Produktinformationsblatt aufzulegen. Es gehört zur Verantwortung gegenüber dem einzelnen Verbraucher, dass diese Dinge bei allen wesentlichen Schritten haftungssicher angeboten werden. Ich halte es auch für richtig, dass nicht nur im Versicherungsbereich, sondern grundsätzlich auf dem gesamten Finanzmarkt eine Dokumentationspflicht besteht, das heißt, jedes Gespräch muss entsprechend dokumentiert werden. Sie haben das Thema Finanz-TÜV angesprochen. Im vergangenen Jahr gab es ja eine größere Anhörung zu dem Thema insgesamt. Die BaFin als Aufsichtsbehörde - wir brauchen eine Aufsichtsbehörde in diesem Bereich - hat deutlich gemacht, dass sie sich nicht imstande sieht, einzelne Produkte zu bewerten. Wir haben einen Finanzmarkt mit Hunderttausenden von Anbietern bzw. Vermittlern. Deswegen werden wir die Aufgabe, jedes einzelne Produkt im Markt zu kontrollieren, niemals auf eine Verbraucherschutzbehörde auslagern können. Sie sagen: Wir verstehen das alles nicht und machen das ganz einfach. Wir bieten drei Produkte an, wie früher in der DDR: zum Beispiel eine Lebensversicherung, die man mit 18 Jahren abschließt, sodass man nach 14 Jahren so viel auf dem Sparbuch hat, dass man sich einen Trabi kaufen kann. Das wollen wir in der Bundesrepublik Deutschland so nicht haben. ({5}) Aber in diesen Produktinformationsblättern muss auch deutlich beschrieben werden, welches Produkt das ist und ob dieses Produkt beispielsweise der Einlagensicherung unterliegt. Auch das war bei den Lehman-Produkten ein Problem. Es hat auch Anlagen bei Kaupthing gegeben. Wichtig ist, dass die Deutschen, die sicherheitsorientiert anlegen, wissen, dass es der deutschen Einlagensicherung unterliegt. Ich halte es auch für ganz natürlich, dass bei den Finanzprodukten festgehalten wird, wie hoch der Kostenanteil bei dem Produkt ist, beispielsweise der Vertriebsanteil und die Verwaltungskostenquote. Der Einzelne muss wissen, was von seiner Anlage in die Investition fließt. ({6}) Wir sollten aber auch keine falsche Sicherheit darstellen. Wir alle kennen das - gerade die Leute aus dem Finanzbereich -: Es gibt die Entschädigungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen. Nach wie vor sind hier Produkte mit einer Garantie für eine Einlage von bis zu 20 000 Euro verkauft worden. Es ist ein Schaden von 200 Millionen Euro entstanden. Bis heute gibt es hier keine Regelung, weil die Entschädigungseinrichtung überhaupt nicht in der Lage ist, den Schaden zu begleichen. Sie haben davon gesprochen, dass Provisionen grundsätzlich abgeschafft werden müssen. Betrachten Sie einmal den Markt der betrieblichen Altersversorgung. Hier laufen alle Systeme parallel. Wenn Sie zu einem mittleren Betrieb gehen, dann sehen Sie zum Beispiel: Er hat Berater, die auf Honorarbasis arbeiten. Es gibt auch Makler, die auf Courtagebasis arbeiten, für die also laufend Provisionen pro Vermittlung gezahlt werden, und es gibt Abschlussprovisionen bei Versicherungsgesellschaften. Hier gibt es einen fairen Wettbewerb, der völlig unabhängig von der Vergütung ist. Sie werden in gewissen Marktsegmenten auch überhaupt nicht auf die Provisionsvermittlung verzichten können. Versuchen Sie einmal, einen geschlossenen Fonds von 100 Millionen Euro in einem halben Jahr auf Honorarbasis zu platzieren. Es gibt im Versicherungssektor in Deutschland 170 Berater, aber mehrere Hunderttausend Vermittler. Glauben Sie doch nicht, dass Sie über diesen Weg den gesamten Finanzmarkt entsprechend gestalten können. ({7}) Verbraucherzentralen sind wichtige Informationszentren, aber wir erwarten, dass die gleichen Qualitätsanforderungen auch an die Verbraucherzentralen gestellt werden. Auch sie müssen sich einer Prüfung unterwerfen, wenn sie im Markt beraten. ({8}) Wir sollten natürlich auch den grauen Kapitalmarkt einbeziehen; das ist zwingend notwendig. Die Anhörung im letzten Jahr hat aber gezeigt, dass wir am grauen Kapitalmarkt Ungleiches nicht gleich behandeln sollten. In Deutschland gibt es am grauen Kapitalmarkt Hedgefonds, aber auch geschlossene Fonds - ein deutsches Spezifikum -, beispielsweise im Bereich der Immobilien oder der Windkraftanlagen. Es ist wichtig, dass diese geschlossenen Fonds nicht kaputtgemacht werden. Derzeit liegt uns der Entwurf der europäischen AIFM-Richtlinie vor. Hier wird alles in einen Topf geworfen. Bei der Sachverständigenanhörung wurde gesagt: Macht nicht die geschlossenen Fonds in Deutschland kaputt! Die haben mit der AIFM-Richtlinie nichts zu tun. ({9}) Im Grunde ist es für die Anleger wichtig, dass sie bei der Anlage Sicherheit haben. Die BaFin hat deutlich gemacht, dass sie nicht in der Lage ist, die Kontrolle durchzuführen. Seriöse Anbieter sind aber heute in der Lage, durch ein Wirtschaftsprüfergutachten die Plausibilität der Anlage darzustellen. Deswegen fordern wir beispielsweise ein IDW-Gutachten für entsprechende Anlagen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege!

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. Im Grunde gilt vor allem eines: Wir brauchen Transparenz an den Märkten; der Einzelne muss wissen, wer ihm was anbietet und warum. Wir müssen im Sinne des Verbrauchers das unseriöse Geschäft vom sauberen Geschäft des ordentlichen Kaufmanns unterscheiden. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Carsten Sieling für die SPD-Fraktion.

Dr. Carsten Sieling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004157, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier heute über die Auswirkungen der Finanzmarktkrise, und zwar unter dem besonderen Gesichtspunkt des Anlegerschutzes. In diesem Zusammenhang berücksichtigen wir insbesondere die Verbraucherinteressen. ({0}) Das ist der Zusammenhang, über den wir heute reden. Wir diskutieren aber nicht zum ersten Mal über die Frage der Auswirkungen der Finanzmarktkrise. Es ist das vierte, fünfte oder sechste Mal, dass wir in unterschiedlichen Variationen an dieses Thema herangehen. Das ist richtig und gut. Heute stehe ich hier und muss sagen: Ich habe den Eindruck, dass die Vielzahl der Diskussionen und die Positionierungen, die wir hier vorgenommen haben, erstmals so etwas wie einen Erfolg zeigen; ({1}) scheinbar hat es Früchte getragen. Ich beziehe mich darauf, dass in den letzten Tagen, gestern und vorgestern, Finanzminister Schäuble in der Tat - es ist schon angesprochen worden - einen Vorschlag vorgelegt hat. Zum ersten Mal hat die Bundesregierung einen Vorschlag, ein paar Ideen auf den Tisch gelegt. ({2}) Das ist schon einmal ein Schritt nach vorne. Man kann hier, glaube ich, für alle Oppositionsfraktionen sagen: Das ist ein Erfolg der Oppositionsarbeit. Wir von der SPD waren hier vorne dran. ({3}) Jetzt liest man gute Sachen über den Vorschlag von Herrn Minister Schäuble: Verbot von Leerverkäufen und Ähnliches. Das freut mich besonders. Wenn ich nämlich die Koalitionsfraktionen und den Staatssekretär im Finanzministerium anschaue, muss ich an die Sitzung des Finanzausschusses gestern Morgen denken, in der man noch beim Thema des Verbots von Leerverkäufen gezögert und sich seitens der Koalitionsfraktionen sehr kritisch geäußert hat. Da ist offensichtlich einiges passiert. ({4}) Der Minister scheint ein Machtwort gesprochen zu haben; da kann man sich freuen. ({5}) - Kollege Poß ruft es richtigerweise herein: Man darf sich fragen, ob sich Herr Schäuble am Ende durchsetzen wird oder ob es wie beim Ankauf der CDs mit den Daten zu Steuerbetrügern sein wird, dass hinterher Herr Kauder und die Fraktion kommen und so etwas unterbinden wollen. ({6}) Ich bin gespannt, wie weit der Minister wirklich kommt. Ich darf an dieser Stelle auch sagen - wir müssen das so diskutieren -, dass bei diesen Vorschlägen nicht nur die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ein Problem sein werden, sondern parallel - ({7}) - Das fragt man sich. Er hört gar nicht zu, damit er sich hinterher nicht auf irgendetwas beziehen muss. - Dieses Mal hat die FDP wieder parallel einen Vorschlag gemacht, dieses Mal in Form von Herrn Brüderle: Parallel zu den Vorschlägen von Herrn Schäuble hat er eigene Vorstellungen vorgelegt. ({8}) Handelsblatt Online hat das sofort richtig eingeordnet: Brüderle will in Schäubles Ressort wildern. Das ist die Wahrheit. ({9}) Jetzt müssten Sie kommen und entsprechend der Sprachregelung des Finanzministeriums sagen: Nein, nein, das ist nur ein Stück Ideenwettbewerb. ({10}) Das ist kein Ideenwettbewerb; das ist das Tollhaus Bundesregierung, das wir immer wieder erleben. Die eine Hand weiß nicht, was die andere Hand will. ({11}) - Da muss man sich keinen Mut machen, Kollege Michelbach. Die Angelegenheit ist traurig, weil es auch inhaltliche Dissonanzen und Differenzen gibt. Herr Schäuble - ich habe es schon gesagt - schlägt ein Verbot von Leerverkäufen vor. ({12}) Was macht Bundeswirtschaftsminister Brüderle? Er redet auch über die Frage der Leerverkäufe, ({13}) thematisiert mangelnde Transparenz, ruft nach der EU und fordert eine Ausweitung der EU-Meldepflicht. Wir wissen um die Situation bei den Leerverkäufen. ({14}) Darüber muss man nicht reden; man muss das Verbot angehen. ({15}) Ich habe die Sorge, mit diesem Wirtschaftsminister und der FDP bleibt das Zockerkasino geöffnet. In dieser Bundesregierung geht es weiter jeder gegen jeden. ({16}) - Es geht um ungedeckte Leerverkäufe. Ich konnte nicht entnehmen, dass Minister Brüderle nicht auch diese ungedeckten Leerverkäufe mit seinen Vorschlägen meint. Vielleicht wird uns gleich der Kollege von der FDP aufklären können, wenn er schon darüber informiert ist. Ich bin gespannt, was sich dort entwickelt. ({17}) Es geht hier um ein Thema, bei dem wir in der Tat keine Zeit haben. Damit kommen wir zum nächsten Punkt. Bundesfinanzminister Schäuble kündigt Vorschläge an, die er im Sommer in einer Kabinettsvorlage vorlegen will. Ich finde, das ist zu spät. Es dauert zu lange, bis das kommt. Es ist zwar typisch, dass Sie die Wahl in Nordrhein-Westfalen abwarten, aber das muss nicht sein. ({18}) Meines Erachtens muss man Druck machen. Es sind aber nicht nur der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesfinanzminister, die sich hierzu äußern, sondern auch - das haben meine Vorrednerinnen und Vorredner schon gesagt - Ministerin Aigner. Sie ist die Dritte im Bunde dieser Chaosregierung, wo jeder das sagt, was ihm gerade einfällt. ({19}) - Das ist nicht falsch. Frau Aigner tut mir allerdings in der Tat leid; denn sie arbeitet seit fast einem Jahr an dieDr. Carsten Sieling sem Thema und versucht, Vorschläge zu machen. Sie macht eine Verbraucherkonferenz nach der anderen, aber es kommt nichts dabei heraus. Es kommt nichts Vernünftiges auf den Tisch, sondern es werden nur Vorschläge zu Produktinformationsblättern und Ähnlichem gemacht, die mit fachlichen Fehlern versehen sind - man denke nur an die Berichterstattung der letzten Tage - und von den Banken nicht übernommen werden. Nur zwei Institute, die Deutsche Bank und ING-DiBa, haben das aufgegriffen. Das ist nichts als heiße Luft. ({20}) Frau Staatssekretärin, legen Sie einen Gesetzentwurf vor, statt nur Tagungen zu machen und Konzepte zu erstellen. Wir brauchen eine Reihe von Maßnahmen, die wir wirksam umsetzen können. Zum Antrag der Linken hat Kollege Flosbach gesagt, er könne mehreres darin unterschreiben. Dem kann ich mich anschließen. Der Antrag enthält viele Punkte, die, glaube ich, in der jetzigen Debatte allgemeingültig sind. In dem Antrag ist ein Katalog von Maßnahmen, wie sie die Verbraucherverbände richtigerweise fordern, zusammengeschrieben worden. Darin finden sich viele richtige Punkte. Ich glaube aber, es wird jetzt darauf ankommen, dass wir uns auf die wirklich wichtigen und zentralen Dinge konzentrieren. Das sind aus meiner Sicht vier Punkte, die man beachten muss. Wir brauchen erstens eine klare Regulierung in den entsprechenden Bereichen. Dazu liegen, wie gesagt, entsprechende Vorschläge vor. Der graue Kapitalmarkt muss eingeschränkt werden. Wir brauchen klare Beratungsprotokolle. Die Finanzaufsicht muss verbessert werden. ({21}) Dazu muss ich übrigens sagen, Kollege Flosbach: Schauen Sie sich an, was Minister Schäuble vorgelegt hat! Sie haben gesagt, die BaFin komme dafür nicht infrage. Der Minister hat ausweislich der Berichterstattung über den Vorschlag durchaus verschiedene Verstärkungen durch die Finanzaufsicht bzw. die BaFin formuliert. Das geht ziemlich ins Detail. ({22}) Es sollen sogar die Anlageberater durch die BaFin kontrolliert werden. ({23}) Machen Sie sich erst einmal klug, was im Ministerium angedacht wird, und bringen Sie es mit dem zusammen, was Sie hier sagen. Das ist an dieser Stelle notwendig. ({24}) Wir haben also eine Reihe von klaren Regulierungspunkten. Zweitens muss es dazu kommen, dass die Anlageprodukte, die auf den Markt kommen, zertifiziert werden müssen, damit Produkte gegebenenfalls verboten werden können. Drittens muss die Honorarberatung gestärkt werden. ({25}) Wir müssen davon wegkommen, dass nur auf Provisionen geschielt wird und die wirkliche Information des Verbrauchers nicht wirklich im Vordergrund steht. Viertens müssen die Verbraucherzentralen in ihrer Marktwächterfunktion gestärkt werden. ({26}) In diesem Punkt erwarten wir von der Bundesregierung einiges, damit wir eine vernünftige Vertretung im Anlegerschutz bekommen. Ich glaube, wenn die Regierung in diese Richtung handelt, kann daraus etwas werden. Machen Sie das, und machen Sie es zügig. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({27})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Erik Schweickert für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Erik Schweickert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004151, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Sieling, Sie haben um Aufklärung gebeten. Ich wusste gar nicht, dass es so einfach ist, die SPD aufzuklären. In dem Antrag geht es um Verbraucherschutz. Wer erst in der Nachspielzeit dazu kommt, der hat ihn nicht richtig gelesen. ({0}) Gehen wir einmal darauf ein. Kollegin Lay, Sie haben vorhin behauptet, in Bezug auf die Regulierung der Finanzmärkte seien von der Bundesregierung keine durchgreifenden Schritte unternommen worden. Ich muss darauf hinweisen: Das entspricht nicht der Realität. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Verbraucherschutz in der christlich-liberalen Koalition sehr wohl eine Vorreiterrolle spielt, und zwar die Vorreiterrolle, die der Verbraucherschutz in den letzten elf Jahren nicht innehatte. ({1}) Wir waren es, die bereits Anfang 2007 gefordert haben, die Zersplitterung der europäischen Bankenaufsicht zu beenden. ({2}) - Ja, so ist es. - Die Wahrheit tut manchmal weh, auch der SPD. Wir haben durchgesetzt, dass wir die einheitliche Finanzaufsicht jetzt in Deutschland umsetzen werden. Die Zersplitterung, die zu dem Chaos geführt hat, wird also jetzt von uns beseitigt, nicht von Ihnen, die Sie immer so tun, als ob Sie in den letzten Jahren nicht an der Regierung gewesen seien. ({3}) Im Antrag steht außerdem, dass wir einheitliche Risikoklassen wollen. Ich muss sagen: In diesem Punkt ist der Antrag gut. Das gilt für alle Punkte, die Sie von der FDP abgeschrieben haben. Wir fordern das nämlich schon länger. ({4}) Von daher muss ich sagen: Schauen wir uns doch einmal an, was Sie tun. Was Sie vergessen, ist: Für uns ist Verbraucherschutz ein Bürgerrecht. Die FDP ist die Bürgerrechtspartei in Deutschland, und deswegen setzen wir uns dafür ein. ({5}) - Jeden Tag? Ich merke es jede Stunde, Frau Tackmann. Ich gestehe, dass auch in dieser Bundesregierung noch nicht alles paletti ist. ({6}) Ich weiß, dass wir noch etwas tun müssen. Aber wir haben in vier Monaten mehr getan, als Sie in elf Jahren jemals hinbekommen haben. ({7}) Es geht um einen effizienten Verbraucherschutz. Das heißt, wir wollen nicht mehr Auflagen und nur Beweispflichten einführen, die den Verbrauchern nichts bringen. Ich möchte keine 20-seitigen Protokolle haben, in denen sich die Banken dann absichern. ({8}) Ich habe lieber ein Blatt, eine Seite im Sinne des Verbrauchers. Das ist besser als viel Bürokratie, die von der einen Seite gefordert wird. ({9}) Beipackzettel sind effizient, wenn wir branchenweit einheitliche Risikoklassen haben. Dann haben wir Vergleichbarkeit und Transparenz. Das macht dann auch eine gesetzliche Regelung überflüssig. Lassen Sie uns nun einen Schritt nach vorne machen, um in diesem Bereich etwas zu erreichen. ({10}) - Hören Sie bitte zu, Herr Sieling. Ich sage auch - das meine ich vollkommen ernst -: Ich glaube, die Banken haben immer noch nicht verstanden, was sie vielen Verbrauchern und dem Steuerzahler angetan haben. ({11}) Bei vielen ist diese Erkenntnis noch nicht reif. Das heißt, wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Banken den Verbraucher nicht zum Spielball machen und dass sich so ein Desaster wie mit den Lehman-Zertifikaten nicht wiederholt. ({12}) Wir brauchen gute Regelungen. Zu guten Regelungen gehört aber auch, dass wir schlechte Beratung nicht zulassen dürfen. Es kann doch nicht sein, dass ich zum Backen von Brötchen einen Meisterbrief brauche, für den Vertrieb von Finanzprodukten ist das aber vollkommen egal. Aus diesem Grund sagen wir: Qualifikation, Registrierung und Berufshaftpflicht für die Branche sind ein Baustein, den wir für mehr Verbraucherschutz einbringen wollen. ({13}) Wir werden die Ausweitung des Verbraucherinformationsgesetzes auf den Bereich der Finanzaufsicht unterstützen. Zum Antrag der Linken sage ich Ihnen aber: Sie begehen einen Denkfehler, und zwar einen gravierenden. Deswegen können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wenn Sie nämlich eine Verlängerung der Verjährungsfristen für Falschberatung auf 30 Jahre fordern, dann frage ich mich, welche Maßstäbe Sie für Falschberatung ansetzen. Wer kann denn die Dividende einer Aktie oder den Kurs einer Anleihe in 30 Jahren voraussagen? Das geht nicht. ({14}) Das können Sie vielleicht für Altersvorsorgemodelle machen. Es wäre kontraproduktiv, dem Verbraucher vorzugaukeln, dass er 30 Jahre Sicherheit hat. ({15}) Besonders problematisch ist, dass Sie das Ganze mit der Beweislastumkehr koppeln. Was würde denn dann passieren? Die Banken würden alle ihre Finanzprodukte in die höchste Risikoklasse einordnen. Das müssen sie, wenn sie ordentlich wirtschaften wollen, weil sie keine 30 Jahre vorausschauen können. Aus diesem Grund ist die Kombination dieser beiden Maßnahmen absolut unrealistisch. Damit tun Sie dem Verbraucherschutz nichts Gutes. Unsere Vorschläge gehen weiter. Wir wollen transparente und verständliche Produktinformationen, einheitliche Beipackzettel und Informationen für den Verbraucher über Provisionen. Gleichzeitig wollen wir mehr Wettbewerb zwischen den Ratingagenturen. Ein doppeltes Rating sollte dazu führen, dass man unabhängig von nur einer Ratingagentur wird. Das sind unsere Punkte, um im Verbraucherschutz voranzukommen. Nach unserem Modell soll der Verbraucher frei entscheiden, wie er sein Geld anlegt. Nicht der Staat sollte vorgeben, welches Produkt gut oder schlecht ist. Wir wollen diese Angebotsvielfalt, und dafür werden wir uns auch einsetzen. ({16}) Wir wollen keine Bevormundung, wie Sie es wollen, sondern wir wollen Transparenz. Wir wollen keine Schaufensterpolitik, wie sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck kommt, sondern effizienten Verbraucherschutz, der die Verbraucher in die Lage versetzt, ihre Anlageentscheidung auf der Basis umfassender Informationen zu treffen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, es gibt keinen Zweifel in diesem Haus, dass beim Thema Anlegerschutz Handlungsbedarf besteht. Da genügt ein Blick in die Presse der letzten Wochen: Bankentest der Stiftung Warentest, Verbraucherzentrale NRW stellt den Banken ein mieses Zeugnis beim Beratungsprotokoll aus. Die aktuelle Wirtschaftswoche titelt: „Legt die Banken an die Kette!“ Wir alle kennen die volkswirtschaftlichen Schäden, die Falschberatung und spektakuläre Pleiten wie die von Lehman, Göttinger Gruppe oder Phönix ausgelöst haben. Diese Debatte ist also überfällig, und bei allen Zweifeln, die man an einzelnen Forderungen im Antrag der Linken haben kann - ich nenne den Produkt-TÜV oder die Verbraucherschutzbehörde -, benennen sie doch die richtigen Probleme: unregulierter grauer Kapitalmarkt, Provisionssystem, Verkaufsdruck, mangelnde Regulierung bei bestimmten Produkten. Das heißt, die Themen sind benannt, aber wie so oft von der Opposition und nicht von den Fraktionen, die hier im Haus die Mehrheit haben, oder gar von der Regierung. ({0}) Die Regierung zieht es vor, mit dem Gesetzgeber über Pressemitteilungen zu kommunizieren. Das kann ich gut verstehen; denn Pressemitteilungen müssen nicht durch das Kabinett und nicht durch den Koalitionsausschuss. ({1}) Sie wollen uns mit Überschriften abspeisen, wohingegen die Bürger und auch die betroffene Branche Konzepte erwarten. Ich bin sehr gespannt auf den Ideenwettbewerb, den Herr Brüderle, Herr Schäuble und vielleicht auch Frau Aigner angekündigt haben. Ich glaube allerdings, dass Ideenwettbewerb eher ein Euphemismus für schwarz-gelben Dauerstreit und Reformverweigerung ist. ({2}) Sie sprechen von Ideen. Normalerweise sind Ideen etwas Neues. Aber die Ideen, die uns Herr Schäuble in der Presse mitgeteilt hat, sind eigentlich schon lange auf dem Ideenmarkt. 2008 hat die grüne Fraktion auf Initiative meines Kollegen Gerhard Schick eine strengere Regulierung des grauen Kapitalmarkts gefordert. Abgelehnt von FDP, CDU/CSU und SPD. ({3}) Schon 2007 haben wir in den Debatten zur MiFID eine stärkere Regulierung der geschlossenen Fonds gefordert. Abgelehnt von eben diesen drei Fraktionen. Das finden wir sehr schade. Ich glaube, wenn man vom Ideenwettbewerb spricht, dann sollte man sich auch ehrlich machen und sagen, welche Initiativen in dieser Richtung man in der Vergangenheit abgelehnt hat. Ich finde, die Bundesregierung muss jetzt zeigen, ob sie mehr als gute Pressearbeit kann. Sie müssen zeigen, ob Sie die Konflikte mit der Branche beim Thema Provisionen, beim Thema Beweislastumkehr und beim Thema Kostentransparenz aushalten. Die Frage ist doch: Was geben Institute wie die Commerzbank, die wir mit Steuermilliarden und mit Kapitalhilfegarantien gestützt haben, eigentlich der Gesellschaft zurück? Ich bin sehr gespannt, wie Sie im Ideenwettbewerb zwischen Union und FDP über das Thema Abgabe diskutieren werden. ({4}) Wenn Frau Aigner große Ankündigungen zum Thema finanzieller Verbraucherschutz macht, dann frage ich mich, warum man im Haushaltsentwurf diese großen Initiativen mit der Lupe suchen muss. ({5}) Wenn man so viel Verbraucherschutz machen will, dann müsste sich das im Haushalt wiederfinden. ({6}) Beim Thema Regulierung ist eine nüchterne Debatte angebracht. Im Antrag der Linken wird sehr sachlich analysiert. Die Union ist leider nicht so sachlich. Herr Altmaier von der CDU/CSU spricht davon, dass wir den kollektiven Rinderwahnsinn im Bankensektor beenden wollen. Wenn Sie glauben, dass man Rinderwahnsinn mit Pressemitteilungen beenden kann, dann ist die Regierungsbank für Schwarz-Gelb der falsche Sitzplatz. Ich bedanke mich. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Lucia Puttrich für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Lucia Puttrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004132, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eines feststellen: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der Opposition und der Regierung. Die Opposition redet, die Regierung handelt. ({0}) Der heutige Antrag der Linken ist betitelt mit „Finanziellen Verbraucherschutz stärken - Finanzmärkte verbrauchergerecht regulieren“. Das klingt erst einmal sehr vielversprechend, enttäuscht ist man dann aber umso mehr. Einzelne Forderungen Ihres Antrags, werte Kolleginnen und Kollegen, sind durchaus diskussionswürdig. Aber in der Gesamtheit regulieren Sie nicht, sondern Sie strangulieren. ({1}) Deutlich wird jedenfalls, dass sich unser Bild des Verbrauchers von Ihrem erheblich unterscheidet. ({2}) Wir setzen auf die Stärkung des Verbrauchers. Dabei steht der gut informierte und zu selbstbestimmtem Handeln befähigte und mündige Verbraucher im Zentrum unserer Politik. Sie hingegen neigen dazu, eine Vollkaskomentalität aufzubauen. ({3}) Eine Anlage mit hoher Rendite birgt häufig ein hohes Risiko. Die Entscheidung, ob ein Verbraucher dieses Risiko eingehen will, trifft letztendlich er selbst. ({4}) Deshalb gilt: Der beste Schutz vor Fehlanlagen ist Information. Was man nicht versteht, das sollte man auch nicht kaufen. ({5}) Vollkommen unhaltbar ist Ihre Behauptung, dass die Bundesregierung bis heute keine durchgreifenden Schritte zur Ordnung der Finanzmärkte unternommen habe. Ich darf Sie hier allein an die Finanzmarktstabilisierungsgesetze erinnern. Genauso wenig ist es zutreffend, dass keine bessere Regulierung für Verbraucherinnen und Verbraucher stattgefunden habe. Ich kann nur sagen: Sie haben hier offensichtlich eine sehr selektive Wahrnehmung. Die Dokumentations- und Informationspflichten wurden verbessert ({6}) und die Verjährungsfristen verlängert. ({7}) Gerade das Beratungsprotokoll, das seit Anfang dieses Jahres Pflicht ist, stärkt den Verbraucher, da sich damit Fehler in der Beratung konkret nachweisen lassen. Wenn Kunden erklären, risikoarm anlegen zu wollen, kann am Ende der Beratung nicht der Abschluss einer hochriskanten Anlageform stehen. Einige Banken haben dieses Beratungsprotokoll als Chance und als Wettbewerbsvorteil begriffen. Leider gibt es - darauf sind Sie eingegangen - auch Missbräuche. Bei der telefonischen Anlageberatung wurden die gesetzlichen Vorgaben umgangen, indem Berater zwei Anrufe tätigten. Beim ersten Telefonat gab der Berater Empfehlungen, beim zweiten Telefonat kam es dann zur Order. In anderen Fällen ließen sich die Berater durch Unterschrift des Kunden von der Haftung freistellen. Diese Entwicklung, die auch Gegenstand der Untersuchung der Verbraucherschutzzentrale Nordrhein-Westfalen war, werden wir im Auge behalten. Wir werden Missbräuche nicht tolerieren und gegebenenfalls darauf reagieren. ({8}) Eine weitere Verbesserung ist das Produktinformationsblatt, das den Verbraucher über die entscheidenden Merkmale eines Finanzproduktes informiert: Kosten, Risiken, Laufzeit, Funktionsweise und Renditen. Der Bundesverband deutscher Banken hat mit der Vorstellung eines einheitlichen Informationsblattes einen wichtigen Schritt getan. ({9}) Der Bundesverband der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken zog am vergangenen Freitag mit der Ankündigung nach, im Frühjahr ebenfalls ein standardisiertes Produktinformationsblatt anzubieten. ({10}) - Regen Sie sich doch nicht auf, sondern hören Sie einfach einmal bis zum Ende zu! - Zu Recht mahnt Bundesministerin Aigner jedoch ein bundesweit einheitliches Produktinformationsblatt an. Ein Flickenteppich nutzt niemandem, weder dem Kunden noch dem Berater. ({11}) Deshalb werden wir auch genau beobachten, was sich da tut. Wenn die Banken nicht mitziehen, müssen wir notfalls gesetzlich regeln. ({12}) Wir sind uns doch alle einig, dass wir die Finanzaufsicht verbessern müssen. Dafür haben wir konkrete Vorschläge. ({13}) Der Verbraucherschutz muss als Aufsichtsziel gesetzlich verankert werden. ({14}) Verbraucherverbände und das Bundesverbraucherschutzministerium sollen in die Gremien bei der Finanzaufsicht einbezogen werden. Verbraucherverbände sollen die Möglichkeit eines Beschwerdeverfahrens bekommen, mit dem die Finanzaufsicht in konkreten Fällen zum schnellen Einschreiten aufgefordert werden kann. Das hilft Verbrauchern sofort und effektiv. Sammelklagen hingegen lehnen wir ab. Diese eröffnen in erster Linie einen lukrativen Markt für Anwaltskanzleien. ({15}) Die Finanzaufsicht muss die Möglichkeit haben, vor unseriösen Produkten und Anbietern zu warnen. Im Lebensmittelsektor ist dies gängige Praxis. Dies muss auch für den Finanzsektor gelten und im Wertpapierhandelsgesetz entsprechend geregelt werden. Ein EU-FinanzTÜV für alle Finanzprodukte, wie die Linken ihn fordern, ist vollkommen unrealistisch. ({16}) Eine seriöse Bewertung von circa 800 000 Finanzprodukten - davon sind circa 350 000 Zertifikate - allein auf dem deutschen Markt ist überhaupt nicht zu leisten. Hinzu kommt, dass Bewertungen von heute aufgrund sich verändernder wirtschaftlicher und politischer Rahmenbedingungen schon morgen falsch sein können. Stichproben hingegen sind selbstverständlich sinnvoll. Wichtig ist für uns außerdem, dass freie Finanzvermittler ihre Qualifikation künftig nachweisen, sich registrieren lassen und eine Haftpflichtversicherung abschließen müssen. ({17}) Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zum grauen Kapitalmarkt sagen. Der graue Kapitalmarkt darf keine Grauzone sein. Deshalb begrüßen wir, dass Finanzminister Schäuble im April einen Gesetzentwurf vorlegen wird, der sich konkret mit der Verschärfung der Anforderungen an die Beratung und Vermittlung beim Vertrieb von Produkten des grauen Kapitalmarkts befasst. ({18}) Beratungsprotokolle werden dann auch dort Pflicht. Die Regelung für Wertpapiere war ein guter Anfang, reicht aber nicht aus. Wir begrüßen, dass in dem Gesetzentwurf auch mehr Transparenz bei Provisionen vorgesehen ist. Ich komme zum Ende. Der Antrag der Linken ist nichts Neues. Er wirkt wie ein Sammelsurium oder ein Versandhauskatalog mit allen Forderungen, die bisher zum finanziellen Verbraucherschutz gestellt wurden. ({19}) So viele Regeln wie möglich und so wenig Eigenverantwortung wie nötig - das scheint dabei die Devise zu sein. Damit helfen Sie den Verbrauchern nicht, sondern damit entmündigen Sie sie. ({20}) Deshalb lehnen wir den Antrag ab. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Die Linke abstimmen, also Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag der Linken? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abgelehnt. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, also Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltung? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Beate Müller-Gemmeke, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ELENA aussetzen und Datenübermittlung strikt begrenzen - Drucksache 17/658 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Federführung strittig Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Konstantin von Notz, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Konstantin Notz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004123, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit dem 1. Januar 2010 werden mit dem sogenannten elektronischen Entgeltnachweis, kurz: ELENA, die Daten von über 30 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zentral gespeichert und verwaltet. Wir sprechen hier heute Abend über den Antrag meiner Fraktion, ELENA umgehend auszusetzen und ganz grundlegend zu überarbeiten. Das ist auch zwingend notwendig; ({0}) denn in der vorliegenden Form ist ELENA zu bürokratisch und intransparent und erhebt zu viele Daten ohne ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Das Fazit: ELENA ist - auch in der Fastenzeit - zu datenhungrig und muss ordentlich abspecken. Es stimmt: ELENA selbst gingen rot-grüne Überlegungen zur sogenannten Jobkarte voraus. Ziel war es, Bürokratieabbau und Verwaltungsvereinfachung zu erlangen. Aber man kann eben auch gute Ideen schlecht umsetzen. Genau so ist es mit diesem Gesetz: ELENA ist gut gemeint, aber schlecht gemacht. ({1}) Dass das so ist, werden Sie alle, die hier zu dieser späten Abendstunde sitzen, selbst erfahren; denn es kommen viele kritische Briefe und Beschwerden von Bürgerinnen und Bürgern, von kleinen und mittleren Betrieben. Es besteht eine große Unsicherheit bei Arbeitnehmern, aber auch bei Arbeitgebern. Zugleich hat die sogenannte ELENA-Petition, die die sofortige Aufhebung fordert, 27 500 Zeichnerinnen und Zeichner gefunden. Diese teilen ihre Sorge bezüglich dieses Datenmonsters mit Datenschützern, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die alle sofortige Nachbesserungen fordern. Die Grundprobleme sind trotz einiger kleiner kosmetischer Überarbeitungen im Dezember, also kurz vor Inkrafttreten von ELENA, nicht gelöst: Daten von Millionen von Menschen werden anlasslos erhoben. Ob und wie all die erhobenen Daten jemals Verwendung finden, ist im Einzelfall völlig offen. ELENA ist intransparent. Im Gesetz selbst ist nicht eindeutig festgelegt, was nach den Grundsätzen der Zweckbindung, der Erforderlichkeit und der Datensparsamkeit gespeichert werden darf. Das allein ist ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz und ist deswegen inakzeptabel. ({2}) Nach den vielen Skandalen mit Beschäftigtendaten in der jüngsten Vergangenheit steht es uns wirklich gut an, bei dieser zentralen Datensammlung kritisch innezuhalten, das Gesetz zurückzunehmen, ELENA zurückzuholen und das große Missbrauchspotenzial, das bei dieser zentralen Datenspeicherung gegeben ist, zu beseitigen. Wir fordern deswegen eine Stärkung des informationellen Selbstbestimmungsrechts. Es ist erforderlich, dass sich die Betroffenen jederzeit über die Daten über sie, die weitergegeben werden, informieren können. Gegen falsche oder negative Informationen, die weitergegeben werden, müssen sich die Betroffenen rechtlich effektiv zur Wehr setzen können. Außerdem brauchen wir eine konkrete Einschätzung der Kosten, die durch ELENA entstehen. Auch dort bestehen große Verunsicherungen. ELENA erfüllt all diese Anforderungen heute nicht, und deswegen brauchen wir die umgehende Aussetzung. ({3}) Ganz zum Schluss möchte ich Ihnen folgenden Gedanken mitgeben - das jüngste Bundesverfassungsgerichtsurteil hat sich zur anlasslosen Datenspeicherung geäußert; ich darf Ihnen diese zwei Sätze noch vorlesen -: Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt voraus, dass diese eine Ausnahme bleibt. … Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen - wie ELENA auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer. Sie hören also, meine Damen und Herren: Für anlasslose Datenerhebungen sind die Spielräume sehr eng, zu eng für ein so unausgegorenes Gesetz. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kai Wegner für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Kai Wegner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003860, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Dr. Notz, wir beraten heute in der Tat einen Antrag Ihrer Fraktion zum sogenannten ELENA-Verfahren. Ich bin sehr froh, dass Sie diesen Antrag gestellt haben, weil ich die nächsten Minuten nutzen möchte, Fakten darzulegen und auch auf einige Kritikpunkte, die Sie in Ihrem Antrag formuliert haben, einzugehen. Bürokratie kostet Zeit, und Bürokratie kostet Geld. Es kostet Zeit und Geld für die Bürgerinnen und Bürger, aber es kostet auch Zeit für die Unternehmerinnen und Unternehmer und natürlich auch für die öffentliche Verwaltung selbst. Wir wissen alle: Unnötige Formalien bremsen jegliche wirtschaftliche Betätigung. ({0}) Deshalb wird die christlich-liberale Bundesregierung Bürokratie abbauen und die Bürokratiekosten deutlich senken. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg bleibt auch weiterhin die Einführung des elektronischen Entgeltnachweises, kurz: ELENA. Das Gesetz über das Verfahren des elektronischen Entgeltnachweises ist und bleibt ein wichtiger Meilenstein zum Abbau bestehender Bürokratie und ist gleichzeitig ein deutliches Signal für ein Mehr an Innovationen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen in unserem Land Anspruch darauf haben, dass staatliche Aufgaben in hoher Qualität, serviceorientiert und effizient erfüllt werden. Daher müssen wir sukzessive bestehende Innovationspotenziale für eine bessere Verwaltung nutzen. Genau das, meine Damen und Herren, ist das Anliegen von ELENA. Rund 3 Millionen Arbeitgeber stellen Jahr für Jahr etwa 60 Millionen Bescheinigungen in Papierform aus. Diese Nachweise benötigen die Beschäftigten, um gegenüber öffentlichen Stellen die Voraussetzungen für den Bezug einer bestimmten Leistung nachweisen zu können. Zwischen der elektronischen Personalverwaltung des Arbeitgebers und der elektronischen Sachbearbeitung in den Behörden klafft eine Riesenlücke, die weiterhin durch den traditionellen Informationsträger Papier überbrückt wird. Dieser Medienbruch wird durch das ELENA-Verfahren beseitigt. Mit dem ELENAVerfahren werden die heute schon in Papierform notwendigen Bescheinigungen der Arbeitgeber für die Beantragung von Sozialleistungen durch elektronische Meldungen an die Deutsche Rentenversicherung Bund ersetzt. Mit der erstmaligen Meldung der Beschäftigtendaten durch die Arbeitgeber, die mit dem 1. Januar dieses Jahres begann, werden zunächst nur Daten elektronisch erhoben und eingepflegt. Ab 2012 sollen dann insgesamt fünf Bescheinigungen, die für die Beantragung von drei Sozialleistungen, nämlich Elterngeld, Wohngeld und Arbeitslosengeld I, erforderlich sind, elektronisch ersetzt werden. Das hat zur Folge, dass Anträge auf Sozialleistungen zukünftig wesentlich einfacher und schneller bearbeitet werden können, und das, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist unser Ziel. Die Ermittlungen des Normenkontrollrats haben ergeben, dass alleine durch das papiergebundene Verfahren für die Beantragung und Berechnung der circa 6,5 Millionen Arbeitsbescheinigungen, die allein für das Arbeitslosengeld I erforderlich sind, der Wirtschaft jährlich Bürokratiekosten in Höhe von rund 100 Millionen Euro entstehen. Insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen sind durch das Ausstellen dieser Papierbescheinigungen überproportional belastet. Es ist mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden, und oftmals muss darüber hinaus die Unterstützung von Steuerbüros in Anspruch genommen werden. Insgesamt hat sich bei der Bürokratiekostenmessung gezeigt, dass der Abruf von vorhandenen Daten in der Praxis wenig Aufwand verursacht. Wenn aber Daten in den Betrieben nicht vorliegen und extra gesammelt, aufbereitet oder umformatiert werden müssen, dann entsteht in den Betrieben unter Umständen ein sehr großer Aufwand. Herr Dr. Notz, angesichts genau dieser Beschwerden von kleinen und mittelständischen Unternehmen werden wir seitens der Koalition und seitens der Regierung bzw. des Bundeswirtschaftsministeriums in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales Überlegungen anstellen, ob Maßnahmen ergriffen werden sollen, die auf die besonderen Belange von kleinen und mittelständischen Unternehmen eingehen. Das begrüße ich ausdrücklich; denn gerade kleine und mittelständische Unternehmen müssen entlastet werden. Aber, wohlgemerkt, mithilfe von ELENA kann ein kostenintensiver Medienbruch überwunden werden. Denn für die fünf Bescheinigungsarten, die in das ELENA-Verfahren einbezogen werden, ergibt sich nach Schätzungen des Normenkontrollrates eine Entlastung für die Unternehmen von rund 85 Millionen Euro. Diese Zahl ist eigentlich klar vom Normenkontrollrat ermittelt. Ich weiß nicht, warum sie infrage gestellt wird. Neben dem Wegfall von Archivierungspflichten für Arbeitgeber profitieren auch Behörden sowie Bürgerinnen und Bürger von dem ELENA-Gesetz. Die Bürger profitieren durch eine schnellere und diskretere Abwicklung von Sozialleistungsverfahren ohne unnötige Wartezeiten. Die Behörden können Anträge durchgängig elektronisch effizient bearbeiten und dadurch Übertragungsfehler vermeiden. Ein gut gemachter elektronischer Entgeltnachweis kann also einen Beitrag zur Entbürokratisierung leisten, Bürokratiekosten senken, Verwaltungsverfahren vereinfachen und so allen Beteiligten nutzen. Darüber sind wir uns mit dem Antragsteller einig; denn genau das schreiben Sie in Ihrem Antrag. Mir ist durchaus bewusst, dass es infolge zahlreicher Fälle von Datenmissbrauch zu einer tiefen Verunsicherung in der Bevölkerung in Bezug auf das Speichern von Daten gekommen ist. Deshalb möchte ich heute ausdrücklich betonen, dass das ELENA-Verfahren die höchsten Datensicherheitsstandards erfüllt. Das gilt sowohl für die Verschlüsselung der Daten als auch für die Möglichkeit des Abrufs; denn für das ELENA-Verfahren gelten die Bestimmungen zum Sozialdatenschutz des SGB X und weitere im Gesetz festgelegte Schutzrechte. Die Daten in der zentralen Speicherstelle werden nach der Übermittlung durch den Arbeitgeber sofort überprüft, zweifach verschlüsselt und erst danach gespeichert. Eine Entschlüsselung ist nur im Rahmen eines konkreten, durch den Bürger legitimierten Abrufs möglich. Ein direkter Zugriff auf die Datenbank ist weder für interne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch für Außenstehende möglich, da die Speicherung der Daten und deren Verschlüsselung in unterschiedlichen Verantwortlichkeiten liegen. Ab 2012 können die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst mit einer Signaturkarte die Erlaubnis erteilen, ob ihre Daten abgerufen werden können oder nicht. Ohne diese Zustimmung können die Daten nicht übertragen und auch nicht eingesehen werden. Auch eine Verwendung der Daten zu anderen Zwecken ist gesetzlich geregelt und damit komplett ausgeschlossen. Gerade vor diesem datenschutzrechtlichen Hintergrund halte ich ELENA für absolut gerechtfertigt. Aber nichtsdestotrotz nehme ich die Kritik an der Datenerfassung sehr ernst. Ja, es hat Kritik gegeben; auch ich habe Briefe bekommen. Das ist letztlich auch der Anlass für Ihren Antrag. Es hat Kritik bei der Frage gegeben, ob spezifische Daten erhoben werden sollen oder nicht, beispielsweise hinsichtlich einer Streikteilnahme. Dass wir diese Anmerkungen seitens verschiedenster Akteure sehr ernst nehmen, sehen Sie daran, dass das Verfahren in drei Punkten sehr konkret geändert wird: Erstens. Am 15. Dezember letzten Jahres wurde auf der Sitzung des Beirates für ELENA beschlossen, dass die Datengrundsätze überprüft werden. Die Bundesregierung hat dem Wunsch des Beirats entsprochen, dass die allgemeine Erhebung von Daten über eine Streikteilnahme nicht mehr stattfindet. Es werden nur die Fehlzeiten abgefragt und unter dem pauschalen Begriff „allgemeine Fehlzeit“ zusammengefasst. Ein weiterer Vorteil des ELENA-Verfahrens ist darin zu sehen, dass der Arbeitgeber zukünftig keine Kenntnis darüber erlangt, ob sein Arbeitnehmer einen Antrag auf Sozialleistungen stellt oder nicht. Zweitens. Gerade der Aspekt der Datenerhebung ist ein sehr sensibles Gebiet. Obwohl es ausschließlich Daten sind, die schon heute in Papierform erfasst werden, soll der ELENA-Beirat noch einmal alle zu erhebenden Daten auf ihre zwingende Notwendigkeit hin überprüfen. Ich bin der Meinung, dass nur das absolute Minimum, nur die wirklich unerlässlichen Daten, erhoben werden sollten. Drittens. Bei der Entwicklung der Datengrundsätze wurde die Arbeitnehmervertretung nicht von Anfang an mit einbezogen und angehört. Ich halte es aber für wichtig, dass den Arbeitnehmervertretern ein Anhörungsrecht eingeräumt wird. Deshalb werden wir im SGB IV der Arbeitnehmervertretung ein gesetzlich verbrieftes Anhörungsrecht einräumen, wenn über den Inhalt der zu erhebenden Daten entschieden wird. Das schafft Transparenz und Vertrauen, welches wir für diesen dringend notwendigen Schritt hin zu einer entbürokratisierten und damit modernen, zukunftsfähigen und serviceorientierten Verwaltung brauchen. Ich würde mir wünschen, dass sich auch die Opposition in diesem Haus konstruktiv an der weiteren Entwicklung beteiligt. Sie haben es ja schon angemahnt. Es ist durchaus eine Idee der rot-grünen Bundesregierung gewesen. Sie haben es aber in sieben Jahren nicht hinbekommen, das umzusetzen. Die Große Koalition hat es angepackt. Die christlich-liberale Koalition wird es jetzt optimal umsetzen. Denn es bleibt dabei: Das ELENAVerfahren revolutioniert die Art und Weise, wie wir in unserem Land Verwaltung organisieren. Deshalb freue ich mich auf den Diskussionsprozess und die Weiterentwicklung des Verfahrens. Ich wünsche mir eine konstruktive Diskussion. ({1}) Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Doris Barnett für die SPD-Fraktion.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich: Vor knapp acht Jahren - es wurde schon darauf hingewiesen - haben wir während der rotgrünen Regierungszeit den Grundstein für ELENA gelegt; damals hieß sie allerdings noch Jobcard. Wir wollten Arbeitsabläufe vereinfachen und haben uns, wie ich finde, behutsam auf den Weg gemacht. In Projektphasen haben wir einzelne Schritte der Datenerfassung und -verarbeitung für Verdienst- und Arbeitsbescheinigungen getestet, Fehler eliminiert und das Verfahren optimiert, bis wir uns sicher waren, wie wir das Verfahren endgültig gestalten wollen. Ziel war und ist nach wie vor, Bürokratie abzubauen und Kosten einzusparen, aber auch, dass der Arbeitnehmer schneller zu seinen Leistungen kommt. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man ein gutes Gesetz immer noch besser machen kann. Aber wir alle wissen: Warten wir darauf, bis ein Gesetz absolut perfekt ist, dann warten wir auf den Sankt Nimmerleinstag. Aber nach acht Jahren war letztes Jahr der Zeitpunkt gekommen, um das Gesetz in Kraft treten zu lassen. Ihren Optimierungsbemühungen blicken wir nun gespannt entgegen. Dennoch verlangen jetzt die Grünen, das ELENAVerfahren 40 Tage nach dem Start auszusetzen. Vor dem Start von ELENA war bekannt geworden, dass in dem vom Arbeitgeber auszufüllenden Erfassungsbogen neben bisher üblichen Angaben auch Zeiten angegeben werden sollten, in denen gestreikt oder ausgesperrt wurde. Das war neu und so nicht vorgesehen. Wir Abgeordnete hatten das seinerzeit weder bei der Jobcard noch bei ELENA auch nur angedacht. Deshalb wurden diese Datensätze bereits am 15. Dezember letzten Jahres vom Arbeitskreis „ELENA“ zu Recht aus dem Verfahren entfernt. Ich halte deshalb fest: Die Angabe von Streik- und Aussperrungstagen ist nicht mehr vorgesehen und wird auch ab dem Start von ELENA nicht mehr erhoben. Ich möchte darauf hinweisen, dass es das Verfahren, anlasslose Daten für längere Zeit zu speichern, auch bei anderen Verfahren in der Sozialversicherung gibt. In dieser Hinsicht ist ELENA nicht einzigartig. ({0}) Die Grünen haben zwar in ihrer Begründung nochmals ausdrücklich auf die Speicherung der Streikdaten hingewiesen; aber das ist aufgrund der Tatsache, dass der Antrag erst am 9. Februar gestellt wurde, populistisch und baut einen Popanz auf. ({1}) So wird verlangt, dass der Beschäftigte auf Wunsch mitgeteilt bekommt, welche Informationen der Betrieb an die zentrale Speicherstelle übermittelt. ({2}) Andersherum gesagt: Die Grünen unterstellen, dass die Beschäftigten im Dunkeln gelassen werden. Ein Blick ins Gesetz hätte aber genügt, um festzustellen, dass ein solcher Anspruch längst besteht und garantiert ist, nämlich in § 103 SGB IV. Jeder Teilnehmer des ELENAVerfahrens hat selbstverständlich Anspruch, Auskunft über die über ihn gespeicherten Daten zu erhalten. Vielleicht würde auch ein Blick auf die vom Arbeitgeber regelmäßig ausgestellte Gehaltsbescheinigung reichen; denn dort wird darauf hingewiesen, dass die in der Gehaltsabrechnung angegebenen Daten an die zentrale Speicherstelle weitergegeben werden. ({3}) Es trifft zu, dass der Arbeitgeber nach dem bisherigen Papierverfahren erst zu dem Zeitpunkt eine Arbeitsbescheinigung ausstellt, die für einen Wohnberechtigungsschein, für Wohngeld, Arbeitslosengeld usw. benötigt wird, wenn der Arbeitnehmer zu ihm kommt und einen solchen Entgeltnachweis verlangt. Für ELENA sind monatlich vom Arbeitgeber weiterzuleitende Daten vorgesehen, die zum großen Teil identisch sind mit denen, die auch an die Sozialversicherungsträger gehen. Das regelt unter anderem der § 97 SGB IV. Aufgrund der gespeicherten Daten benötigt der Arbeitnehmer zukünftig nicht mehr den Gang zum Arbeitgeber, wenn er eine Arbeitsbescheinigung braucht. Er muss also keine Gründe mehr angeben, wofür er die Bescheinigung braucht, weil er direkt zur entsprechenden Stelle gehen kann und dort nach dem Vieraugenprinzip die Bescheinigung erstellt wird. Im Sinne der Wahrung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung ist das ein großer Fortschritt. Auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses braucht der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin nicht mehr als Bittsteller aufzutreten und für eine Entgeltbescheinigung anzustehen. Das heißt aber nicht, dass keine Angaben mehr zum Kündigungsgrund zu machen sind. Eine Kündigung aus in der Person liegenden Gründen ist regelmäßig wertend. Sie war und bleibt Grundlage für mögliche Sperrzeiten, die von der Arbeitsagentur verhängt werden. Insoweit kann auf diese Daten gar nicht verzichtet werden, außer man will zukünftig ganz auf Sperrzeiten verzichten. Als so weitgehend habe ich den Antrag der Grünen dann aber doch nicht verstanden. Nun fordern Sie allerdings noch, „nach Ablauf eines Jahres die tatsächlich angefallenen Kosten von ELENA zu evaluieren“, und zwar mit dem Ziel, „kleine und mittelständische Betriebe vor einer unverhältnismäßigen Belastung zu bewahren“. Abgesehen davon, dass die Evaluierung nach zwei Jahren sowieso vorgesehen ist und sich die Einsparwirkung für die Unternehmen erst ab 2012 zeigt, wenn die Datenbank aufgebaut und einsatzbereit ist ({4}) und deshalb keine Papierbescheinigungen mehr ausgestellt werden können, könnte man im ersten Augenblick meinen, dass diese Forderung nützlich ist. Aber der Augenblick verfliegt, und man weiß, dass seit 2006, also jetzt im fünften Jahr, alle Betriebe verpflichtet sind, den Sozialversicherungen die Daten ihrer Beschäftigten elektronisch zu melden. Bis zum Beginn dieses Jahres haben die Krankenkassen bei schätzungsweise 1 500 kleinen Betrieben von den über 3 Millionen in unserem Land, die die Daten zum Teil über ihre Steuerberater oder ihre Lohnsteuerbüros weitergeleitet haben, die Weiterleitung in Papierform contra legem zugelassen. Mit dieser Ausnahme ist jetzt allerdings Schluss. Mit dem Beginn von ELENA, die Teil der sv.net-Datenmaske ist, müssen jetzt alle Betriebe elektronisch weiterleiten. Wer glaubt, sich unter Hinweis auf Kosten und Arbeitsbelastung im Zusammenhang mit der Erfassung der ELENA-Daten weiterhin auch der elektronischen Erfassung der Daten für Krankenkassen und Rentenversicherungen entziehen zu können, wird recht schnell merken, dass es dafür kein Verständnis mehr gibt. Ausnahmen ziehen weitere Ausnahmen und immer auch Kosten nach sich. Deshalb Vorsicht bei Ausnahmen! Ich frage an dieser Stelle die Grünen, ob sie allen Ernstes Klientelpolitik für 1 500 Betriebe betreiben wollen, da das doch eigentlich eine FDP-Spielwiese ist. ({5}) Die Betriebe bzw. deren Steuerberater und Lohnsteuerbüros bekommen das Meldeprogramm für die Daten kostenlos vom sv.net zur Verfügung gestellt. In diesem kostenlosen Meldeprogramm für die Sozialversicherungen ist auch der Datensatz für ELENA enthalten. Hier hat die Ersterfassung der Daten zu erfolgen. Das ist zwar immer mühsam, aber wir erfinden das Rad doch nicht ständig neu. Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung zum Schluss noch einen wichtigen Hinweis geben. Dort wurde festgestellt, welche Instrumente zur Gewährleistung der Datensicherheit gegeben sein sollten. Das sind: getrennte Speicherung, asymmetrische Verschlüsselung, Vieraugenprinzip verbunden mit einem fort2472 schrittlichen Verfahren zur Authentifizierung für den Zugang zu den Schlüsseln und revisionssichere Protokollierung von Zugriff und Löschung. Alle diese Vorgaben beachtet ELENA. Sie ist also auf der Höhe der Zeit und deshalb ein Vorbild für andere Verfahren. Aus diesem Gunde darf ELENA nicht ausgebremst werden. Das Verfahren ist anzuwenden, nicht zuletzt im Interesse der Beschäftigten. Deshalb lehnen wir den Antrag der Grünen ab. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun die Kollegin Claudia Bögel für die FDP-Fraktion. ({0})

Claudia Bögel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004015, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Griechischen bedeutet Helena: die Strahlende, die Leuchtende. Man könnte meinen, der Name ELENA sei davon abgeleitet; doch weit gefehlt. ELENA bedeutet elektronischer Entgeltnachweis, was die Sache entmystifiziert. Dennoch, Helena war eine maßgebliche und nicht unbedingt positiv besetzte Figur in der Geschichte des Trojanischen Krieges. Was könnte das für ELENA bedeuten? Licht und Schatten zugleich? Eines ist klar: ELENA, die erst vor knapp zwei Monaten auf den Laufsteg geschickt wurde, kann noch nicht jeden Schritt richtig machen und alle Zuschauer und Beteiligten im Lande restlos entzücken. ({0}) Die Bundesregierung verfolgt mit dem Verfahren das Ziel, die Kosten der Unternehmen für Bürokratie deutlich zu senken. Bis Ende 2011 sollen sie eine Entlastung um 25 Prozent erfahren. ({1}) Das ist ein hehres Ziel, und ELENA, um im Bild zu bleiben, soll eine Lichtgestalt dieses Vorhabens werden. Seit dem 1. Januar 2010, seit Inkrafttreten der ersten Stufe des Gesetzes, sind die Arbeitgeber verpflichtet, die Entgeltdaten ihrer Beschäftigten monatlich in Form eines elektronischen Datensatzes zu übermitteln. Ziel ist es, die Arbeitgeber nachhaltig von der Ausstellung der unterschiedlichen Bescheinigungen in Papierform zu entlasten. Im ersten Schritt gilt das für die Leistungsabrechnungen bei Arbeitslosen-, Wohn- und Elterngeld. Ab 2015 ist eine vollständige Abdeckung aller Arbeitgeberbescheinigungen geplant. ELENA soll die Beantragung und Bewilligung von Sozialleistungen und das Bescheinigungswesen vereinfachen und beschleunigen. Seit zwei Monaten sind 600 000 Arbeitgebersendungen gezählt worden, von denen bereits 85 Prozent verarbeitet wurden. So viel zur Lichtgestalt ELENA. Deutliche Kritik in der Öffentlichkeit wurde im Hinblick auf den Umfang des Datensatzes und die Belastung für kleine und mittelständische Unternehmen geäußert. ({2}) Hier möchte ich ansetzen. Die Kritik an ELENA, die in dem vorliegenden Antrag der Kollegen von Bündnis 90/ Die Grünen vorgebracht wird, geht im Wesentlichen in die gleiche Richtung: Datenschutz und Belastung der kleinen und mittelständischen Unternehmen. Der Datenschutz ist ein hochsensibles Thema. Gerade meine Partei hat immer ein besonderes Augenmerk darauf. ({3}) Daher möchte ich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass auf das Drängen der FDP die zuständige Bundesministerin den Umfang der zu erhebenden Daten zwischenzeitlich korrigiert hat. ({4}) Meine Fraktion hat sich gegenüber der Bundesregierung auch dafür stark gemacht, die Erforderlichkeit der erhobenen Daten weiterhin strengstens zu prüfen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang deutlich darauf hinweisen, dass wir mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Vorratsdatenspeicherung sehr zufrieden sind. ({5}) Ich möchte sagen: Ein sozialistischer Unrechtsstaat wie die DDR mit einer Partei wie der SED hätte über die Möglichkeiten, wie sie heute gegeben sind, sicherlich frohlockt. Speicherungen von intimsten Daten, ja sogar Geruchsproben waren, wie wir wissen, an der Tagesordnung. Sozialismus macht eben nicht nur arm, sondern auch unfrei. Dieses Kapitel haben wir, Gott sei Dank, für unser Land abgeschlossen. ({6}) Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Seien Sie sicher: Meine Fraktion wird sich vehement gegen jedwede Freiheitsbeschränkung auflehnen. ({7}) Genau daher sehe ich es als eine Selbstverständlichkeit an, dass der Arbeitnehmer ein vollständiges Recht auf Selbstauskunft hat. Technische Schwierigkeiten, die dies zurzeit noch verhindern, gilt es sofort zu überwinden. ({8}) Als Beauftragte für den Mittelstand im Wirtschaftsausschuss möchte ich den Fokus neben dem Thema Datenschutz vor allem auf die Reaktionen der kleinen und mittelständischen Unternehmen lenken. Erst gestern habe ich mit einem münsterländischen Unternehmer teClaudia Bögel lefoniert und ihn nach seinen Erfahrungen mit ELENA gefragt. Seine Erfahrungen mit ELENA waren eher düster als lichterfüllt. ({9}) Die mittelständischen Unternehmen bilden das Rückgrat der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit unseres Landes. Wir dürfen sie nicht durch ELENA belasten. Im Gegenteil, in meinen Augen muss alles darangesetzt werden, kleine und mittelständische Betriebe von Bürokratie zu entlasten. ({10}) Die bürokratischen Hürden für die mittelständischen Unternehmen haben in den vergangenen elf Jahren monströse Formen angenommen. Unser Staat ächzt unter unnötiger Bürokratie, die dazu geführt hat, dass der Mittelstand immer weiter schrumpft. Das muss sich ändern. ({11}) Ein Schüler hat bereits vor einigen Jahren in einem Schulaufsatz mit unfreiwilligem Humor geschrieben: Zuerst hatten wir das Matriarchat, dann hatten wir das Patriarchat, und heute haben wir das Sekretariat. ({12}) Leider hat er recht behalten. Deshalb werden wir Maßnahmen ergreifen, ELENA hübsch schlank werden zu lassen, damit sie auch für einen kleinen und mittleren Betrieb die richtige Figur abgibt. Mit dem ELENA-Verfahrensgesetz sind wir auf dem richtigen Weg. Wir haben erste Reparaturen vorgenommen und werden damit zu einer echten Entbürokratisierung beitragen. Lassen Sie uns ELENA weiter aufhübschen, damit sie zur begehrten Lichtgestalt Helena wird. So können alle Beteiligten zum Schluss rufen: Heureka! Danke. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin Bögel, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit viel Erfolg. ({0}) Nun hat die Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einem historischen Exkurs. Als geistiger Vater von ELENA gilt ein gewisser Peter Hartz; Sie wissen, das nahm kein rühmliches Ende. Dann wurde ELENA ein Ziehkind von Kanzler Gerhard Schröder; auch das war für dieses Vorhaben kein gutes Omen. Später erhielt Interimsminister Michel Glos, CSU, eine zweifelhafte Auszeichnung für ELENA, nämlich den Big-Brother-Award. Kurzum, mit ELENA ist kein Staat zu machen. Wir sollten die Chance nutzen und ELENA endlich in den Ruhestand schicken. ({0}) ELENA ist ein elektronisches System, mit dem persönliche Daten unbekannter Menge von zig Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zentral und auf Vorrat erfasst werden sollen. Ähnlichkeiten mit der Vorratsdatenspeicherung sind nicht zufällig. Das Bundesverfassungsgericht hat am 2. März 2010 geurteilt: Unbestimmte Vorratsspeicherungen sind verfassungswidrig. Die Linke hält die ausufernde Speicherung von Arbeitnehmerdaten für verfassungswidrig. Ich muss ehrlich gestehen: Ich wünsche ELENA lieber einen schnellen Abgesang im Bundestag als einen üblen Nachruf in Karlsruhe. Viel zu oft musste dort in letzter Zeit repariert werden. ({1}) Es stimmt - man sieht es an der langen Geschichte -: ELENA führte lange ein Schattendasein, bis offenbar wurde, dass nicht nur Gehalts- und Steuerdaten zentral gespeichert werden sollen, sondern auch Daten über Krankheiten, Streikteilnahmen, Kündigungen und anderes mehr. Das war vor drei Monaten. Die Empörung schwoll an, und flugs schwor die Regierung Besserung. Ich habe nachgefragt. Ich wollte wissen: Welche Daten werden denn nun wirklich erhoben und zentral gespeichert? Vor 14 Tagen erhielt ich eine schriftliche Antwort aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Der Verfasser dieser Antwort ist jetzt leider hier nicht anwesend. Die Antwort ist nichtssagend und eine Missachtung des Bundestages. Außerdem ist sie eine Irreführung der Bevölkerung. Wie die Bundesregierung mit ELENA und dem Nachbesserungsbedarf umgeht, den sie angeblich selbst erkannt hat, spricht Bände. Nun hat heute die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen beantragt, das Vorhaben ELENA auszusetzen und die vorgesehene Datenübermittlung strikt zu begrenzen. Dem wird die Fraktion Die Linke zustimmen. Aber unsere Forderung geht weiter. Wir wollen ein Moratorium für alle elektronischen Großprojekte, die datenschutzrelevant sind. ({2}) Wir wollen, dass die Bundesregierung auf den Boden des Grundgesetzes zurückkehrt. Ein solches Moratorium müsste ELENA betreffen, ebenso das SWIFT-Abkommen zur Weitergabe von Bankdaten, auch die elektronische Gesundheitskarte und die Passagierdaten, die auf Nimmerwiedersehen in die USA verschwinden. ({3}) Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eine Rechnung: ELENA soll einen finanziellen Nutzen von netto 85 Millionen Euro erbringen. Dafür sollen Daten von 40 Millionen Bürgerinnen und Bürgern erfasst und auf Vorrat gespeichert werden: Daten, die sich fortan jedweder Kontrolle der Beschäftigten entziehen, Daten, die, einmal angehäuft, große Begehrlichkeiten wecken werden, Daten, die laut Grundgesetz einen besonderen Schutz genießen. Für lumpige 2 Euro Gewinn je Datensatz sollen also verbriefte Bürgerrechte von Millionen Bürgerinnen und Bürgern aufs Spiel gesetzt werden. Wir sehen: ELENA ist ein Stiefkind des Schicksals. Lassen wir es doch endlich ruhen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/658 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen die Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen beim Innenausschuss. Zunächst stimmen wir deshalb über den Überwei- sungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, Federführung beim Innenausschuss. Wer ist für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthal- tungen? - Dieser Überweisungsvorschlag ist damit abge- lehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP abstimmen, Fe- derführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno- logie. Wer ist für diesen Vorschlag? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Überweisungsvor- schlag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke an- genommen. Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 15 a bis 15 c: a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Europa 2020 - Strategie für ein nachhaltiges Europa Gleichklang von sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Entwicklung - Drucksache 17/882 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Gegen Armut und soziale Ausgrenzung - Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen - Drucksache 17/902 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN EU 2020 - Für ein ökologisches und soziales Europa - Drucksache 17/898 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Eva Högl für die SPDFraktion. ({5})

Dr. Eva Högl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003896, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Zu sehr später Stunde diskutieren wir heute Abend über die Zukunft Europas. ({0}) - Es ist nie zu spät, aber es wäre auch schön, wenn man dieses Thema zu einer früheren Stunde behandeln könnte; es wäre es jedenfalls wert. Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geht es jetzt um die zentralen Inhalte, um die zentrale Strategie, die Europa in den nächsten zehn Jahren verfolgen wird. Vor zehn Jahren haben wir uns mit der LissabonStrategie vorgenommen, Europa zum „wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Heute steckt Europa in einer Wirtschafts- und Finanzkrise, und wir müssen leider feststellen, dass wir die Ziele der Lissabon-Strategie nicht in vollem Umfang erreicht haben. Dies hat viele verschiedene Ursachen. Ich nenne drei, die ich für wesentlich halte: Erstens. Die Lissabon-Strategie war viel zu unverbindlich. Die Mitgliedstaaten haben sich zwar auf Ziele verständigt; sie haben aber diese Ziele nicht konsequent verfolgt. Die jeweilige Politik, die sie betrieben haben - die einen haben Steuern gesenkt, die anderen haben Steuern erhöht -, haben sie am Ende mit der LissabonStrategie gerechtfertigt, ohne ein einheitliches Konzept zu haben. Zweitens müssen wir feststellen, dass die LissabonStrategie viel zu schwer verständlich und zu umständlich war und auch aus den Berichtspflichten nicht wirklich etwas folgte. Das Dritte, was ich für wesentlich halte - deswegen hoffe ich, dass möglichst viele diese Debatte verfolgen -, ist: Auch die Einbeziehung der Öffentlichkeit ist uns nicht gelungen. Weder waren die Parlamente einbezogen noch die interessierte Öffentlichkeit noch Wirtschaftsverbände, Sozialpartner oder Zivilgesellschaft. Wir müssen aus diesen Fehlern lernen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deswegen fordern wir als SPD eine neue, eine intelligente Strategie für ein nachhaltiges und soziales Europa. ({1}) Diese Strategie muss zweierlei leisten: Sie muss helfen, die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zu überwinden, vor allem aber muss sie Perspektiven für Europa 2020 aufzeigen, und sie muss Antworten geben auf die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Die SPD hat mit ihrem umfassenden Antrag ein gutes Konzept vorgelegt. Es ist der SPD zu verdanken, dass wir heute Abend hier - hoffentlich engagiert - über Europas Zukunft diskutieren. ({2}) Was macht die schwarz-gelbe Bundesregierung? Die schwarz-gelbe Bundesregierung kümmert sich nicht um das Thema Europa. Sie war von Anfang an nicht engagiert und hat keine eigenen Vorstellungen in die Debatte eingebracht. Sie reagiert nur. Wenn andere Vorschläge machen - etwa die Kommission gestern oder vorher die spanische Ratspräsidentschaft -, werden diese Vorschläge - das können wir beobachten - von der Bundesregierung ablehnt. Es wird immer nur reagiert. Ich komme zum Ergebnis: Die Bundesregierung hat weder eine Vision noch eine Strategie. Sie zeigt kein Engagement und keine Verantwortung für Europa. ({3}) Die Bundesregierung verspielt damit - das müssen wir an dieser Stelle deutlich kritisieren - die einmalige Chance, dass Deutschland als größter Mitgliedstaat der Europäischen Union die Entwicklung mitbestimmt. Wir dagegen legen einen umfassenden Vorschlag mit einer ganzheitlichen Strategie vor. Ich will ein paar Punkte herauspicken: Wir wollen zurückkehren zu einem Gleichklang aus wirtschaftlicher Entwicklung, Wachstum, Beschäftigungspolitik, sozialem Fortschritt und verantwortungsvoller Umweltpolitik. Deshalb sagen wir: Eine einseitige Wachstumsstrategie mit einem überkommenen Wachstumsbegriff wird der Zukunft Europas nicht gerecht. Das ist im Übrigen ein Punkt, den ich an dem Papier, das die Kommission vorgelegt hat, kritisiere: dass jetzt nur noch von Wachstum die Rede ist. Wir wollen eine einheitliche Strategie, das heißt, wir wollen alle politischen Prozesse verbinden. Wir fordern auch eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik mit der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sowie der Umweltpolitik. ({4}) Wenn wir hören, dass schon der Vorschlag der Kommission, die Berichte parallel vorzulegen, von der Bundesregierung abgelehnt wird, können wir nur sagen: Das ist sehr bedauerlich. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung des Sozialen. Wir fordern, dass der Wirtschaftsunion endlich eine Sozialunion, die diesen Namen verdient, an die Seite gestellt wird. Bei einer Sozialunion geht es nicht nur darum, dass Menschen in Beschäftigung kommen. Wir müssen auch darüber diskutieren, in was für eine Beschäftigung sie kommen. Es geht um die Qualität der Arbeitsplätze. Auch das fehlt in dem Papier der Kommission. Die größte Sorge der Menschen in ganz Europa ist, dass sie von ihrer Arbeit zunehmend nicht leben können. Deswegen brauchen wir klare Ziele für Mindestlöhne, für Entgeltgleichheit von Männern und Frauen, und wir brauchen klare Ziele bei der Armutsbekämpfung. ({5}) 2010 ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Deswegen begrüße ich es, dass die Kommission vorschlägt, 20 Millionen Menschen aus der Armutsgefährdung herauszuholen, und die Mitgliedstaaten auffordert, sich gemeinsam dieses Ziel zu setzen. Es reicht aber nicht, nur diese Erklärung abzugeben. Wir brauchen zur Bekämpfung der Armut konkrete Politik, klare Vorgaben und Maßnahmen. Ich will an dieser Stelle auch sagen: Es ist unerträglich, wenn Hilfebedürftige beschimpft werden und über die Dekadenz des antiken Roms schwadroniert wird. Was wir brauchen, sind mehr Taten in Brüssel, vor allen Dingen aber mehr Taten in Berlin und eine konsequente Politik zur Bekämpfung der Armut. ({6}) Eine Bemerkung zur Außendimension. Wenn wir über die Lissabon-Strategie und über die Nachfolgestrategie EU 2020 diskutieren, diskutieren wir auch darüber, wie sich Europa in seinen Außenbeziehungen darstellt, wie wir in der Welt agieren. Das halte ich für einen entscheidenden Punkt. Wir wollen Vorbild sein; aber wir müssen diesem Anspruch auch gerecht werden. Deshalb ist es sehr wichtig - wir haben das in unseren Antrag auch hineingeschrieben -, dass wir uns dem fairen Welthandel verpflichten und vor allen Dingen die soziale Dimension der Globalisierung nicht aus den Augen verlieren. Ich will noch ein paar abschließende Bemerkungen zur sogenannten Governance machen. Ich habe am Anfang gesagt: Die Lissabon-Strategie war auch deshalb nicht erfolgreich, weil die darin enthaltenen Verfahren nicht gut waren. - Aus diesen Fehlern müssen wir jetzt lernen. Wir brauchen wenige Ziele und kein Wolkenkuckucksheim, also keine Ziele, die nicht erreichbar sind, sondern realistische Ziele, aber wir brauchen vor allen Dingen auch - ich habe das eben schon angesprochen mehr Verbindlichkeit in den Zielen. Ich habe es sehr begrüßt, dass die spanische Präsidentschaft gleich zu Beginn des Jahres gesagt hat, dass es ein ganz entscheidender Punkt sein wird, wie verbindlich sich die Mitgliedstaaten auf Ziele verständigen. Wir diskutieren hier im Deutschen Bundestag. Deswegen sage ich an dieser Stelle auch: Wir müssen die Parlamente ernst nehmen. Ich finde es nicht gut, dass wir, bevor die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat reist und dort die deutsche Position vertritt, keine Gelegenheit haben, hier im Deutschen Bundestag über die Position zu diskutieren, die dort vertreten wird. Dadurch wird das Parlament missachtet. ({7}) Deswegen sollten wir uns darauf verständigen, die Parlamente ernst zu nehmen und auch zu stärken. Wir haben gute Chancen, eine neue Strategie auf den Weg zu bringen. Wir haben eine engagierte spanische Ratspräsidentschaft, und wir haben sogar gute Grundlagen durch die Kommission, auch wenn ich den Vorschlag im Detail kritisiere. Die SPD zeigt mit ihrem Antrag den Weg auf, wie es gehen kann, und macht gute Vorschläge. Die Bundesregierung behindert und beteiligt uns nicht. Deswegen sage ich: Nehmen Sie den Antrag der SPD an, nehmen Sie das zur Richtschnur für unsere Politik in Europa! Frau Merkel, nehmen Sie den Deutschen Bundestag ernster und nehmen Sie Europa ernst! Herzlichen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Johann Wadephul das Wort. ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es besteht in der Tat Anlass, den Oppositionsfraktionen sehr herzlich dafür zu danken, dass wir, einen Tag nachdem sich die Kommission geäußert hat, Gelegenheit haben, über die Strategie EU 2020 hier im Plenum des Deutschen Bundestages miteinander zu diskutieren. Nach den vorliegenden Anträgen und auch nach Ihren Einlassungen, Frau Kollegin Högl, gibt es jedoch keinen Anlass, über das, was die Opposition vorschlägt, hier positiv zu diskutieren. Ich stelle erstens fest, dass es durchaus bisher schon die Gelegenheit gegeben hat, mit der Bundesregierung über ihre Meinung zu EU 2020 zu sprechen. ({0}) Der Herr Staatssekretär Hintze ist im Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gewesen. Bemerkenswert ist Ihre Schweigsamkeit dort gewesen. Sie haben nur wenige Fragen gestellt. ({1}) Sie haben sich an der Diskussion im Ausschuss nicht beteiligt. Sich trotzdem hier im Plenum hinzustellen und zu sagen, es gebe keine Gelegenheit, mit der Bundesregierung zu reden, ist schlichtweg unlauter; das muss ich zurückweisen. ({2}) Zweitens. Dass Sie sich hier hinstellen und nun der christlich-liberalen Bundesregierung vorwerfen, dass sie auf europäischer Ebene zu wenige Impulse gegeben hat, finde ich in der Tat bemerkenswert. Die Europäische Union hat nun wirklich gerade unter der Achsenpolitik Gerhard Schröders zu leiden gehabt. Die Europäische Union wäre nicht da, wo sie jetzt ist, wenn Helmut Kohl die Europäische Union und den europäischen Gedanken in den 80er-Jahren, in einer Phase der Lethargie, nicht wieder nach vorne gebracht hätte, wenn er nicht den Euro gemeinsam mit Theo Waigel gegen viele Widerstände von links durchgesetzt hätte und wenn Angela Merkel nicht diejenige gewesen wäre, die durch viele Gespräche auf europäischer Ebene dafür gesorgt hat, dass der Lissabon-Vertrag letzten Endes Wirklichkeit geworden ist. ({3}) Der Motor Europas sitzt also hier in der Koalition, und die christlich-liberale Regierung setzt ihre Europapolitik jetzt ganz im Sinne von Helmut Kohl fort. Dessen sollten Sie sich besinnen. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer?

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dr. Wadephul, sind Sie mit mir bei all dem, was uns als Demokraten verbindet, der Meinung ({0}) - hören Sie erst einmal zu -, dass die einzige Achse in der Politik des 20. Jahrhunderts die Achse Rom-BerlinTokio war, Dr. Johann Wadephul ({1}): Na ja.

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- dass es die zentrale Absicht der Achse gewesen ist, Krieg zu führen, und dass insbesondere die Zusammenarbeit von Gerhard Schröder mit dem französischen Präsidenten dazu geführt hat, dass sich die Europäische Union weitestgehend nicht an diesem illegalen Irakkrieg beteiligt hat? ({0})

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schäfer, der zweite Teil Ihrer Frage zeigt mir, dass Sie es richtig verstanden haben: Es gehört zu den Grundprinzipien deutscher Politik nach dem Zweiten Weltkrieg, ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Frankreich zu haben. Das ist auch Politik der jetzigen Regierung. Es war allerdings ein zentraler europapolitischer Fehler der Regierung Schröder, die europäische Politik unter Vernachlässigung kleiner Partner nur auf diesen einen großen Partner zu verengen. ({0}) Ich halte an dieser Kritik fest. Es war Balsam für die Seelen vieler kleinerer Mitgliedstaaten der Europäischen Union, dass Außenminister Guido Westerwelle gleich zu Beginn nicht nur Polen, sondern auch die Niederlande besucht hat und somit ein Zeichen für die kleinen Länder gesetzt hat. Deutschland ist gut beraten, kleinere Staaten mit einzubeziehen und nicht auf jene Art Politik zu machen, wie es Gerhard Schröder fälschlicherweise getan hat. ({1}) Herr Kollege Schäfer, ich würde gerne auf das Thema unserer Diskussion zurückkommen. In der Tat ist es vollkommen richtig, dass wir anfangen müssen, eine kritische Analyse und Auswertung der Lissabon-Strategie vorzunehmen; da sind wir uns einig. Dennoch bin ich der Meinung, dass wir nicht über der Strategie und all dem, was gemacht wurde, den Stab brechen sollten. Natürlich sind viele Ziele, die man sich gesetzt hat, nicht erreicht worden, etwa in Bezug auf die Beschäftigungsquote, die Steigerung der Investitionen und das Wirtschaftswachstum. Daraus sollten wir aber die richtigen Lehren ziehen. Wenn wir auf der Welt Einfluss haben und unsere Bürgerinnen und Bürger weiterhin für die europäische Idee begeistern wollen, sollten wir durchaus daran festhalten, Europa zu einer Region des Wohlstandes, der maximalen Beschäftigung und der Vermeidung von Armut zu machen, in der es optimale Bildung für alle unabhängig von der Herkunft gibt. Das sind im Kern richtige Ziele, die nicht ganz erreicht wurden. Wir sollten diesen Weg weitergehen. ({2}) Ich möchte zu dem, was Sie jetzt hier vorschlagen, konkret sagen: Wenn wir feststellen, dass wir zu euphorisch waren, muss man die Anstrengungen in der Tat maximieren und sehen, was man mehr tun kann. Frau Kollegin Högl, es hilft nur nichts, sich jetzt - wenn ich Sie richtig verstanden habe - noch höhere Ziele zu setzen ({3}) und noch detaillierter aufzuschreiben, was man machen will. So steht beispielsweise im Barroso-Papier, dass man die Beschäftigungsquote der 20- bis 64-Jährigen von 69 auf 75 Prozent steigern will usw. Ich glaube, man sollte sich hier nicht zu sehr auf Zahlen fixieren und nicht meinen, dass man hier mit arithmetischer Exaktheit vorgehen kann. Vielmehr müssen wir lernen, dass zu euphorische und detaillierte Ziele nicht geholfen haben; am Ende bringen sie mehr Frust als Belebung in die Debatte. ({4}) Auch aus Sicht meiner Fraktion bleibt richtig, dass wir im Bildungsbereich vorangehen. Hier geht die Bundesregierung voran: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Bildungsrepublik Deutschland ausgerufen und zum Glück alle Länder dazu überreden können, mitzuwirken. ({5}) Es ist eine zentrale Frage für den Wohlstand in Europa, dass wir im Bildungsbereich alle Schätze heben, die unser Land bietet. Deswegen müssen wir hier eindeutig vorangehen. Ein zweiter, etwas neuerer Schwerpunkt: Energie und Klimawandel. Ich glaube, nach der Kopenhagener Konferenz hat jeder gemerkt, dass hier auch innerhalb Europas einige Anstrengungen nötig sind. Bundesumweltminister Norbert Röttgen ist hier gemeinsam mit der gesamten Bundesregierung Schrittmacher; Europa ist hier Schrittmacher in der Welt. Wir müssen beim Thema Klimaschutz vorangehen; das muss auch unsere Energiepolitik in Deutschland bestimmen. Der Weg ist richtig; wir sollten ihn weitergehen. ({6}) In anderen Bereichen müssen wir lernen und nicht glauben, dass allein wir in Deutschland immer die richtigen Rezepte haben. Wenn Sie etwas verengend meinen, die gesamte deutsche Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müsse in ganz Europa übernommen werden, dann ist das, glaube ich, der falsche Ansatz. Nicht alles, was wir machen, ist das Optimum; auch andere haben Modelle, die richtig sind. Das Flexicurity-Konzept, das aus dem skandinavischen Raum kommt und von der Europäischen Union übernommen wurde und sowohl Sicherheit als auch Flexibilität am Arbeitsmarkt bedeutet, ist ein Modell, das Zukunft hat. Dieses Konzept sollten wir auch in Deutschland offener miteinander diskutieren. Dafür sollten Sie vielleicht einigen ideologischen Ballast abwerfen. Hier ist mehr Flexibilität im Denken verankert als in dem, was seit 20 oder 30 Jahren in Ihrem Parteiprogramm steht. Es bringt optimale Beschäftigungschancen für die Menschen. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. ({7}) Wenn wir über die Anträge diskutieren, muss man auch in aller Kürze auf das eingehen, was die Linkspartei vorgelegt hat. Den Eindruck zu erwecken, als wäre gerade Europa im Vergleich zu Asien, zu den Zuständen auf dem indischen Subkontinent oder in China, oder auch zu den USA sozusagen ein Kontinent der sozialen Ausgrenzung, ist geradezu ungeheuerlich. Mehr soziale Rechte als in Europa gibt es eigentlich nirgendwo. Wenn Sie mit Ihrem Antrag beabsichtigen, dass man nur noch dann weiterverhandeln kann, wenn man Ihre Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnimmt, dann zeigt das, dass Sie Europa letztlich lähmen wollen. Sie sind immer noch nicht in Europa angekommen. Das ist eine traurige Bilanz, die wir heute ziehen. Ich hoffe, dass das Haus insgesamt das anders sieht, und freue mich noch auf zahlreiche Diskussionen zum Konzept Europa 2020. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, wir können feststellen - das haben auch die Vorredner mehr oder weniger bestätigt -, dass die Lissabon-Strategie gescheitert ist. Vom wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum können wir, glaube ich, nicht reden. Das Ziel von 3 Prozent Wachstum, das ursprünglich verfolgt wurde, wurde nur in zwei von den zehn Jahren knapp erreicht. 2009 schrumpfte die Wirtschaft um 4 Prozent, wie wir wissen. Die Beschäftigungsquote ist zwar um 4 Prozentpunkte gestiegen, die Arbeitslosigkeit liegt aber bei 9,5 Prozent, und - das ist das Traurige daran - die Qualität der Arbeitsplätze lässt sich an der stetigen Zunahme der Zahl der Armutslöhner ablesen. Bereits vor der Krise waren es 8 Prozent der Erwerbstätigen in Europa. Ein größerer sozialer Zusammenhalt - das hat sogar der Kollege von der Union gesagt - ist, glaube ich, nicht vorhanden. Wenn Sie Europa als Vorreiter bezeichnen, dann sollten Sie zur Kenntnis nehmen, dass 80 Millionen Menschen in Europa und damit fast 20 Prozent von Armut bedroht sind. Das muss bekämpft werden, aber nicht, indem man darauf verweist, dass es in anderen Kontinenten der Welt noch schlimmer ist. Die soziale Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander. Bei den Themen Bildung, Forschung und Entwicklung müssen wir feststellen, dass die Investitionen in dem Bereich weit hinter Japan und den USA liegen. Auch hier sind die Ziele deutlich verfehlt worden. Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist aber nicht die Wirtschafts- und Finanzkrise, wie es manche darstellen wollen. Schon zuvor hatte die EU miserable Beschäftigungszahlen und hohe Armutsrisiken. Ursache für diese völlige Verfehlung der Ziele ist auch nicht, dass die Lissabon-Strategie nicht umgesetzt oder ambitioniert genug erarbeitet wurde, wie die Kommission und auch Sie nicht müde werden, zu behaupten. Ursache für die völlige Verfehlung der Ziele ist, dass die Strategie umgesetzt wurde. Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert und die Sozialsysteme, wie man so schön sagt, modernisiert, in Deutschland unter dem schönen Namen Agenda 2010 und Hartz IV. Das war die nationale Umsetzung der Lissabon-Strategie. Insofern ist das, was Sie in Ihrem Antrag schreiben, liebe Frau Högl, vielleicht auch ein bisschen Vergangenheitsbewältigung. Denn dass wir in Europa diese Ziele verfehlt haben, war auch dem geschuldet, dass man in Deutschland Vorreiter für Sozialabbau, Dumpinglöhne und Steuerdumping auf breiter Flur war. Sie haben damit in Europa ein schlechtes Zeichen gesetzt. Denn das, was Sie heute selbst darlegen, ist Ergebnis Ihrer eigenen Politik unter Rot-Grün oder danach unter Schwarz-Rot. ({0}) Gemeinsam mit einem weiteren Kernstück der Strategie, der Liberalisierung der Finanzmärkte, hat dies wesentlich dazu beigetragen, den Boden für die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er-Jahren zu bereiten. Hier muss man noch einmal deutlich sagen: Europa und Deutschland sind nicht Opfer der Finanzkrise, sondern aufgrund ihrer Politik Mitverursacher der Finanzkrise. Eine Strategie, mit der man genau das Gegenteil dessen erreicht hat, was man sich davon versprochen hat, muss grundlegend überarbeitet werden. Eigentlich brauchen wir jetzt keine Neuauflage „Europa 2020“, sondern mehr Zeit, um zu analysieren. Auch die Vorredner haben deutlich gemacht, dass man diesen Weg nicht weitergehen kann. Denn steigende Wettbewerbsfähigkeit führt nicht automatisch zu Nachhaltigkeit, sozialem Fortschritt und guter Arbeit. Im Gegenteil, oftmals werden genau diese auf dem Altar der Wettbewerbsfähigkeit geopfert. Das Gleiche gilt für das Wachstumsziel. Wachstum, das auf Lohndumping und Sozialabbau beruht, verschlechtert die Lebensqualität der Mehrheit der Menschen und verringert den sozialen Zusammenhalt in der Europäischen Union. Diese Dimensionen sind nicht gleichrangig. Dies ist schon in der Konstruktion der EU, in deren Zentrum der Binnenmarkt steht, so angelegt. Jetzt zu dem Thema, das Sie bereits angesprochen haben: zur sozialen Fortschrittsklausel. Der Europäische Gerichtshof hat deutlich gemacht, dass Binnenmarktfreiheiten höher zu bewerten sind als soziale Grundrechte. Für einen Ausgleich kann man nur sorgen, wenn man bei den Vertragsveränderungen auch über den sozialen Fortschritt diskutiert. Genau darauf zielt unser Antrag. Wenn es um den EU-Beitritt von Island geht, muss dieser Aspekt in den Verhandlungen thematisiert werden. Ansonsten wird dieses Ziel nie erreichbar sein. ({1}) Zum Schluss. Ich denke, ein soziales Europa ist nicht mit den Zielen vereinbar, für die alle anderen vier Fraktionen in diesem Hause im letzten Jahrzehnt leider standen. Sie sind Mitverursacher des Europas, das wir heute haben, das immer mehr auseinanderfällt und das große Probleme hat. Deshalb kann ich den anderen vier Fraktionen in den weiteren Debatten nur zurufen: Europa ist kein Selbstbedienungsladen für die Wirtschaft. Ein Europa für die Menschen gelingt nur gemeinsam. Vielen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Gabriele Molitor. ({0})

Gabriele Molitor (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004112, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist spät, aber nicht zu spät, als dass man nicht noch wach genug sein könnte, um Sie, Frau Dr. Högl, zu fragen, wo Sie von der SPD mit Ihrem Außenminister eigentlich die letzten elf Jahre gewesen sind. Sie hätten alle Möglichkeiten gehabt, die Europapolitik auf die Erfolgsspur zu führen. ({0}) Ich möchte einen Aspekt in die Diskussion einbringen, der mir bei der Zeitungslektüre aufgefallen ist: Wenn Europa gegenüber den Vereinigten Staaten und China eine globale Kraft werden will, dann muss es aufhören, sich wie eine Sammlung von reichen einzelnen Staaten zu verhalten, und beginnen, für seine Ziele zu kämpfen. - Mit diesem Satz beginnt ein Artikel der Märzausgabe des Time Magazine. Ich fand diesen Satz sehr interessant, weil er die bei uns geführte Europadebatte aus einem völlig anderen Blickwinkel betrachtet. Im März 2000 steckten sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat in Lissabon das Ziel, die Europäische Union bis zum Jahr 2010 durch umfangreiche Reformen zum wettbewerbsfähigsten, dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Die Lissabon-Strategie bildet seither den Rahmen für die Wirtschafts-, Arbeits-, Sozial- und Umweltpolitik der Europäischen Union. Die ursprüngliche Strategie nahm jedoch im Laufe der Zeit eine so komplexe Struktur an, dass sie nur in einigen Bereichen zum Erfolg führte. Auch die Wirtschaftskrise hat die LissabonStrategie beeinflusst. Es fehlten die notwendigen Instrumente, um die Krise von Anfang an bekämpfen zu können. Besonders krisenverschärfend wirkte sich die mangelnde Aufsicht der Finanzmärkte auf EU-Ebene aus. In diesem Bereich wurden die Hausaufgaben bis heute nicht gemacht. ({1}) Die Gründe für dieses enttäuschende Ergebnis sind offensichtlich. Es gab auf EU-Ebene zu viele Einzelziele, und die unterschiedlichen Ausgangspositionen der Mitgliedstaaten wurden nicht ausreichend berücksichtigt. Mit den heute von den Oppositionsfraktionen vorgelegten Anträgen zur neuen Wachstumsstrategie „Europa 2020“ laufen wir Gefahr, genau denselben Fehler zu wiederholen. Die hier aufgestellten Forderungen sind zu umfangreich, zu wenig zielgenau. Es ist falsch, die neue Agenda mit Regelungs- und Reformansprüchen für jeden denkbaren Bereich zu überfrachten. Auch der Ruf nach Füllhörnern mit sozialen Wohltaten und Forderungen nach einer sozialen Fortschrittsklausel würden die Zukunftsschancen der Europäischen Union schmälern. ({2}) Der Grundsatz der Balance zwischen Erwirtschaften und Verteilen gilt nicht nur im Inland, sondern auch auf europäischer Ebene. Vielmehr müssen wir der neuen Strategie die richtigen Prioritäten geben. Als Lehre aus der Wirtschaftskrise müssen die EU-Mitglieder noch intensiver zusammenarbeiten und Mechanismen entwickeln, die zeigen, dass jeder Krise auch Chancen zur Veränderung innewohnen. Wir müssen uns darauf konzentrieren, neue Wachstumsquellen zu erschließen, um krisenbedingte Arbeitsplatzverluste wettzumachen. Wissensbasiertes Wachstum, die aktive Teilhabe an integrativen Gesellschaften und Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige und vernetzte Wirtschaft müssen im Vordergrund stehen. Hinzu kommt die Förderung internationaler Kooperationen mit fairen und geregelten internationalen Handels- und Finanzsystemen. All diese neuen Maßnahmen müssen sowohl zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen als auch leistungsfähige Arbeitsmärkte gewährleisten. Wir müssen uns die Globalisierung und die wechselseitige Abhängigkeit zunutze machen. Kein Mitgliedstaat allein kann hier erfolgreich sein. Die EU-Kommission hat gestern ihr Konzept für eine Nachfolgestrategie der Lissabon-Strategie vorgestellt. Das Arbeitspapier enthält ehrgeizige Formulierungen zur Ausgestaltung einer nachhaltigen europäischen Marktwirtschaft. Wir Liberale begrüßen diese Überlegungen. Allerdings fehlt auch diesem Papier die notwendige Fokussierung auf wichtige Kernbereiche. Damit läuft das Konzept Gefahr, ähnlich wie die Lissabon-Strategie zuvor, zu viel auf einmal zu wollen und am Ende mit leeren Händen dazustehen. Im Einklang mit der Arbeits- und Sozialministerkonferenz warne ich die Kommission davor, erneut Versuche zu unternehmen, die arbeitsrechtlichen Vorschriften der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen Gegebenheiten und im Hinblick auf die Wahrung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit darf es hier keine Vereinheitlichung geben. ({3}) Stattdessen sollte sich die Kommission auf die Förderung von nachhaltigem Wachstum und Beschäftigung konzentrieren. So haben wir es in der Koalitionsvereinbarung festgehalten. Das hat die Arbeits- und Sozialministerkonferenz bekräftigt. So wird es auch von vielen anderen Mitgliedstaaten gesehen. Wir können die in dem Entwurf formulierten Ziele nur dann unterstützen, wenn sie die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen gewährleisten; denn nur mit wettbewerbsfähigen und erfolgreichen Unternehmen können wir das Niveau unserer Beschäftigungs- und Sozialmodelle aufrechterhalten. Die globalisierte Wirtschaft verdeutlicht uns jeden Tag aufs Neue, dass wir nur durch ständige Weiterentwicklung Wachstum und Wohlstand erreichen können. Ein Arbeitsplatz ist nun einmal der beste Schutz gegen Armut und Ausgrenzung. Zusätzlich brauchen wir moderne und finanzierbare Sozialsysteme, die krisenfest sind und der Alterung der europäischen Bevölkerung Rechnung tragen. Dabei muss klar sein, dass ein Sozialstaat, der Armut bekämpfen will, auch das Prinzip des Forderns und Förderns berücksichtigen muss. Es muss uns um die Qualität und nicht um die Benennung möglichst vieler Themengebiete gehen. Nur auf diese Weise wird Europa eine wichtige Rolle in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts spielen. Vielen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich das Wort dem Kollegen Manuel Sarrazin. ({0})

Manuel Sarrazin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003889, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muss in meiner kurzen Redezeit eines klarstellen: Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen den Fraktionen der FDP und der CDU/CSU und zwischen uns. Sie wollen gar kein soziales Europa. ({0}) Es steht im Koalitionsvertrag ausdrücklich, dass Sie kein soziales Europa wollen. Da helfen auch Schönwetterreden nicht. Sie, Frau Molitor, sprechen davon, dass wir eine engere Zusammenarbeit brauchen. Das finde ich gut. Wir hatten in der letzten Woche eine tolle Ausschusssitzung. In dieser Sitzung habe ich das Auswärtige Amt gefragt, ob die Handschrift der Bundesregierung in der Mitteilung der Kommission zu erkennen ist. Der kompetente Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hat daraufhin gesagt, er könne beim besten Willen nicht wissen, was in der Kommissionsmitteilung enthalten sei. Zwei Tage später und noch vor der Veröffentlichung erfahren wir von einem Brief, den die Bundeskanzlerin Merkel an Barroso geschrieben hat, in dem sie davon spricht, die engere Koordinierung, die vorhin Frau Molitor angesprochen hat, gehe nicht und sei mit ihr nicht abgesprochen gewesen. Da frage ich mich wirklich, ob Sie das, was Sie uns hier erzählen, selber glauben. ({1}) Mit Blick auf die Strategie „EU 2020“ - ich verweise da auf unseren Antrag - müssen wir das Versprechen für ein sozialeres Europa tatsächlich ernst nehmen und dürfen nicht mit leeren Worthülsen reagieren. Die Grundrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, indem beispielsweise das Grundrecht auf Freizügigkeit für einen einfachen Arbeitnehmer plötzlich durch irgendeine Sozialklausel beschränkt werden soll. Es darf auch keine Einschränkungen bei den anderen Grundrechten aus der Grundrechtscharta geben. Wir brauchen tatsächlich konkrete Aussagen und konkrete Handlungen, die wir und auch die SPD beschrieben haben. ({2}) Wenn wir wissen wollen, was die Handschrift der Bundesregierung ist, dann schauen wir doch einmal in die Zeitung, wie Frau Molitor es getan hat. Es wird von „Madame No“ gesprochen. Die Financial Times Deutschland schreibt, es bestehe die Gefahr, dass Deutschland die Debatte erstickt. Das ist der Eindruck, der von der Bundesregierung nach Europa transportiert wird. Sie haben nur eine Handschrift: Sie dementieren, Sie diskutieren nicht, sondern Sie ducken sich weg. Am Ende versuchen Sie nur noch, zu verhindern, und sagen: Ich finde das doof. - Das ist kein europäischer Stil, wie er sich gehört. Sie bringen sich nicht proaktiv ein. ({3}) Wir führen seit einigen Monaten die Debatte über dieses Vorhaben der EU. Es gab dazu auch eine Stellungnahme des Wirtschaftsministeriums. Ich muss sagen, eine solche dünne Stellungnahme habe ich selten gelesen. Die Stellungnahme des Bundesrates hatte deutlich mehr Inhalt. Die Konsultationsfrist wurde von Ihnen verschnarcht. Auf unsere Bitte, diese Frist etwas großzügiger zu gestalten und sich dafür bei Herrn Barroso einzusetzen, damit die Parlamente beteiligt werden können, hat Frau Merkel antworten lassen, das verstehe sie schon, aber es gehe leider nicht. Jetzt heißt es plötzlich, was die Kommission vorschlägt, gehe nicht, weil man die nationalen Parlamente einbinden müsse. Entscheiden Sie sich einmal! Sie wollen doch nur verhindern, dass endlich nach vorne gegangen wird. Wir sagen nicht, dass uns das, was die Kommission aufschreibt, genug ist. Natürlich muss man Nachhaltigkeit viel genauer definieren. Natürlich muss Artenvielfalt viel ausführlicher besprochen werden. Natürlich muss das soziale Europa konkreter ausgestaltet werden. Natürlich müssen Sie energischer an Themen wie Klimaschutz und erneuerbare Energien herangehen. Aber eines kann ich Ihnen sagen: Wer sich in Europa nicht proaktiv mit Gestaltungswillen einbringt, sondern nur mit bösen Briefen, der agiert nicht im Sinne einer stärkeren Integration und im Sinne einer Lösung der Probleme, die wir jetzt haben. Er agiert letztendlich nicht europäisch. ({4}) Ich kann ja verstehen, dass sich die Bundesregierung im Rat manchmal wie auf einer Insel fühlt. Aber wer bei der derzeitigen Debatte gleichzeitig sagt, man solle die Berichte zur EU 2020 und zum Stabilitätspakt nicht gemeinsam - im Sinne von zeitgleich - evaluieren, der hat nicht die grundlegenden Lehren aus der Krise von Griechenland gezogen. Die EU-2020-Strategie wird wesentliche Weichenstellungen vornehmen. Sie ist dabei noch nicht so konkret, dass man sie nicht weiter gestalten könnte. Ich habe leider nicht die Hoffnung, dass Sie sie positiv gestalten werden. Ihnen bleibt nur ein Ausweg: Nehmen Sie den Antrag der Grünen und meinetwegen auch den Antrag der SPD an. Herzlichen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Karl Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als neu gewählter Abgeordneter sehe ich viele politische Entscheidungen noch stark mit den Augen der Bürgerinnen und Bürger. Und das ist gut so. ({0}) Mit diesen Augen habe ich gestern die von der Kommission beschlossene Mitteilung zur neuen Wachstumsstrategie „Europa 2020“ gelesen. Diese neue Strategie soll die gescheiterte Lissabon-Strategie aus dem Jahre 2002 ablösen. Sie war damals von Rot-Grün verhandelt worden, als Rot-Grün noch Regierungsverantwortung in Deutschland trug. Herr Sarrazin, ich glaube, ein Grüner war damals Außenminister. ({1}) Damals hieß es: Wir wollen innerhalb der nächsten zehn Jahre zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt werden. Das war ein hochgestecktes und ehrgeiziges Ziel, bei dem sich viele Menschen gefragt haben, ob und wie das zu erreichen ist. Was ist eigentlich die Kernaufgabe der Europäischen Union, und was soll die Europäische Union leisten? Wir alle, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, sollten verhindern, dass wir uns in Europa noch einmal solche realitätsfernen Ziele setzen. Europa muss bürgernäher werden; das ist das Hauptziel in den nächsten Jahren. ({2}) Das erreichen wir jedoch nicht mit Zielen, die fernab jeder Realität sind. Damit machen wir uns unglaubwürdig und erweisen dem europäischen Gedanken einen Bärendienst. Lassen Sie mich kurz in drei Punkten erläutern, was ich von der Europäischen Union erwarte. Erstens. Konzentration auf Kernziele. Die Europäische Union soll sich auf ihre Kernziele konzentrieren. Sie soll das machen, was wir nicht mindestens genauso gut oder gar besser in den Mitgliedstaaten erreichen können. Hierzu gehört, vernünftige Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Wachstum in der gesamten Europäischen Union zu schaffen und internationale Wettbewerbsfähigkeit herzustellen. ({3}) Das heißt aber auch, dass wir keine Sozialpolitik aus Brüssel wollen und brauchen, wie die Damen und Herren von der Opposition sie gerne sehen würden. ({4}) Zweitens. Bürgernähe und Glaubwürdigkeit. Bei der Erreichung dieser Ziele müssen wir darauf achten, dass wir nicht an den Bürgerinnen und Bürgern vorbei entscheiden. Unsere Ziele müssen nachvollziehbar und realistisch sein, und die Mehrheit der Menschen muss sich damit identifizieren können. Häufig können sie das nicht. Ich kann daher auch den Europaverdruss gut verstehen. Die Menschen haben es satt, sich von der Europäischen Union ihre Lebensführung vorschreiben zu las2482 sen. Das fängt beim Glühbirnenverbot an und hört bei der Festlegung des Salzgehaltes auf der Brezen oder im Brot auf. ({5}) Wir können Europa nur weiterentwickeln, wenn wir die Menschen mitnehmen. Drittens. Bessere Abstimmung mit den Mitgliedstaaten und mehr Geschlossenheit. Wir brauchen in Europa eine bessere Abstimmung der Institutionen mit den Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission kocht noch viel zu häufig ihr eigenes Süppchen, ohne Rücksicht auf die Interessen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass die Europäische Kommission kein gewähltes Gremium, sondern ein Beamtenapparat ist. ({6}) Wir wollen eine leistungsfähige und selbstbewusste Europäische Union, die mit einer Stimme spricht und entschlossen für die Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand eintritt. Nur durch ein einiges Europa können wir unsere Werte und Interessen erfolgreich in der Welt vertreten. Werden mit dem Kommissionsvorschlag zur Strategie 2020 die Erwartungen erfüllt? - Wenn ich mir das Papier der EU-Kommission von gestern ansehe, kommen mir erhebliche Zweifel, ob meine und unsere Erwartungen erfüllt werden und ob die Kommission ihre Lehren aus der gescheiterten Lissabon-Strategie gezogen hat. Zwar sehe ich auch gute Ansätze. Das gilt vor allem für die Akzente, die die Kommission mit der Strategie 2020 setzen möchte. Eine wissens- und innovationsbasierte, eine nachhaltige und wettbewerbsfähige Wirtschaft, die die natürlichen Ressourcen schont, sowie eine hohe Beschäftigungsquote und sozialer Zusammenhalt: Dies alles sind Punkte, die ich selbstverständlich teile und mit mir sicherlich auch viele andere Menschen in unserem Land. Problematisch wird es allerdings bei den konkret beschriebenen Zielen. Die Kommission nennt sechs Kernziele, die bis 2020 erreicht sein sollen, und sie verbindet diese Kernziele mit konkreten Zahlen. Erstens. Die Erhöhung der Beschäftigungsquote auf 75 Prozent. Die Beschäftigungsquote für die 20- bis 64-Jährigen soll bis 2020 auf 75 Prozent steigen. Dieses Ziel ist - wenn auch mit anderen Zahlen - bereits aus der Lissabon-Strategie bekannt. Angesichts der aktuellen Beschäftigungsquote von 69 Prozent kann man mit diesen Zielen durchaus leben. Ich will dennoch betonen, dass der Einfluss der Politik auf die Erreichung dieses Ziels begrenzt ist. Nicht die Politik schafft Arbeitsplätze, sondern die Wirtschaft. ({7}) Wir können lediglich die Rahmenbedingungen setzen. Zweitens: 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung. Die Regierungen sollen 2020 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung investieren. Dieses Ziel ist ebenfalls nicht neu. Auch hier hat der Staat nur begrenzten Einfluss. Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass seit der gleichlautenden Vorgabe der Lissabon-Strategie vor zehn Jahren die Investitionen in Forschung und Entwicklung der 27 Mitgliedstaaten nicht einmal gestiegen, sondern sogar leicht zurückgegangen sind. Zum Vergleich: 1,86 Prozent waren es im Jahr 2001, 1,85 Prozent im Jahr 2007. Vor diesem Hintergrund frage ich mich ernsthaft, wie realistisch es ist, in weiteren zehn Jahren eine Steigerung auf 3 Prozent zu schaffen. Drittens: Umsetzung der 20-20-20-Umweltziele. Im Interesse des Klimaschutzes und der Schonung der natürlichen Ressourcen sollen die Klima- und Energieziele bis 2020 erreicht werden, das heißt 20 Prozent CO2-Reduzierung, ausgehend vom Niveau 1990; Steigerung des Anteils erneuerbarer Energien auf 20 Prozent; Steigerung der Energieeffizienz um 20 Prozent. Diese Ziele sind nicht neu. Damit übernimmt die EU weltweit eine Vorreiterrolle, und deshalb sollten wir als Deutsche auch hinter diesen Zielen stehen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass unsere eigenen Ziele sogar höher angesetzt sind und wir diese Ziele auch erreichen wollen und auch erreichen werden. Viertens: Bildung, konkret: Erhöhung der Hochschulabsolventenquote. Im Bereich der Bildung ist vorgesehen, die Schulabbrecherquote von derzeit 15 Prozent auf 10 Prozent zu reduzieren. Außerdem sollen 40 Prozent der 30- bis 34-Jährigen im Jahr 2020 ein abgeschlossenes Hochschulstudium haben. Hierzu kann ich nur sagen: Wer so etwas beschließt, hat keine Ahnung vom deutschen Bildungssystem. ({8}) Zum einen ist Bildung in Deutschland Ländersache. Das heißt, Brüssel kann und darf nicht über die Köpfe der Länder hinweg entscheiden. ({9}) - Jawohl. ({10}) Zum anderen - dies ist noch viel wichtiger -: Diese Zielvorgabe lässt eine große Errungenschaft Deutschlands vollkommen außer Betracht - unser duales Bildungssystem. Wir brauchen in Deutschland nicht nur Hochschulabsolventen, sondern vor allem qualifizierte Facharbeiter. Es kann nicht sein, dass wir mehr Architekturstudenten als Maurerlehrlinge haben. Eine solche Zielvorgabe wird unsere Zustimmung sicherlich nicht erhalten. Fünftens: Armutsreduzierung. Letztes Kernziel der Kommission ist, dass 20 Millionen Menschen, die zurzeit unterhalb der Armutsgrenze leben, aus der Armut befreit werden. ({11}) Ich frage mich, wer die Erreichung dieses sozialistischen Zieles steuern will. Die Armutsgrenze orientiert sich am Durchschnittseinkommen der Europäischen Union, und die verschiebt sich bekanntlich hin und wieder. Kaufen zum Beispiel europäische Fußballklubs wieder ein paar teure brasilianische Spieler, so steigt das Durchschnittseinkommen in der Europäischen Union, und schon fallen wieder ein paar Menschen unter die Armutsgrenze, obwohl sich ihr Einkommen nicht verändert. Umgekehrt kann das Ziel schon dadurch erreicht werden, dass die Einkommen oberhalb des EU-Durchschnittswertes sinken. Damit sinkt auch der Gesamtdurchschnitt. Die Situation der in der Armut lebenden Menschen hat sich damit nicht verbessert. Sechstens. Europa braucht - das ist das wichtigste Ziel - einen Bürokratieabbau. Das ist vor allem für unsere Wirtschaft wichtig. ({12}) Lassen Sie mich abschließend noch auf den einen oder anderen Aspekt der Mitteilung der EU-Kommission eingehen, der mir persönlich sehr am Herzen liegt. Die Europäische Kommission ist in dieser Mitteilung der Versuchung erlegen, den Stabilitäts- und Wachstumspakt aufzuweichen. Dieser Pakt ist eine Errungenschaft Deutschlands für die gesamte Europäische Union. Die unbedingte Einhaltung der Stabilitätskriterien verdanken wir unserem ehemaligen Finanzminister Dr. Theo Waigel, Mitglied der Regierung von Helmut Kohl. Er hat damit ein maßgebendes Instrument für eine starke D-Mark auf den Euro übertragen. Damit sind wir gut gefahren, und das werden wir in Europa trotz aller Krisen auch weiter tun. Die EU-Kommission will nun ihre wirtschaftspolitischen Ziele mit den Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verknüpfen, wie dies von verschiedenen Akteuren der Europäischen Union schon seit langem mehr oder weniger offen gefordert wird. Hiergegen lege ich ein klares Veto ein. ({13}) Ich habe mich daher gefreut, dass unsere Bundeskanzlerin gegenüber dem Kommissionspräsidenten bereits klar zum Ausdruck gebracht hat, dass sie hierzu keine Zustimmung geben wird.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich muss jetzt wirklich auf die Redezeit achten.

Karl Holmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sehen, es besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf. ({0}) Den Anträgen der Fraktionen der SPD, der Grünen und der Linken kann ich nicht zustimmen. Sich so zu verhalten, empfehle ich auch den Mitgliedern unserer Koalitionsfraktionen, vor allem vor dem Hintergrund, dass ich nicht will, dass in Brüssel Sozialpolitik gemacht wird. ({1}) Das wollen wir alle nicht und brauchen wir vor allem nicht. Der Regierung kann ich für die Verhandlungen in Brüssel nur auf den Weg geben: keine überstürzten Beschlüsse, keine unrealistischen Ziele und keine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Ich habe jetzt ein bisschen überzogen, aber es ist ja die letzte Rede. ({2}) Ich sage einen herzlichen Dank und wünsche einen angenehmen Abend. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie wissen, dass ich nicht immer so großzügig bei der Bemessung der Redezeit bin. ({0}) Kollege Holmeier hat seine erste Rede hier gehalten, und es ist gleichzeitig die letzte Rede in der heutigen Debatte. ({1}) Deshalb bitte ich, die Großzügigkeit einfach so zu akzeptieren und nicht davon auszugehen, dass sich dieses häufig wiederholt. Ihnen, lieber Kollege Holmeier, darf ich also herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag gratulieren, verbunden mit den besten Wünschen für die weitere Arbeit. ({2}) Nun schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 17/882, 17/902 und 17/898 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen jetzt noch zu einigen Abstimmungen, die wir, denke ich, zügig über die Bühne bringen kön- nen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt Zunächst rufe ich die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gunkel, Lothar Binding ({3}), Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Menschenrechtsschutz im Handelsabkommen der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru verankern - Drucksache 17/883 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck ({6}), Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsame menschenrechtliche Positionie- rung der EU gegenüber den Ländern Latein- amerikas und der Karibik einfordern - Drucksachen 17/157, 17/925, 17/936 - Berichterstattung: Abgeordnete Michael Frieser Christoph Strässer Annette Groth Tom Koenigs Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael Frieser, Frank Heinrich, Wolfgang Gunkel, Pascal Kober, Heike Hänsel und Tom Koenigs.1) Wir kommen nun zu den Überweisungen: Tagesordnungspunkt 16 a. Interfraktionell wird Über- weisung der Vorlage auf Drucksache 17/883 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 16 b. Hier geht es um die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung - das sind die Drucksachen 17/925 und 17/936 -, den Antrag auf Drucksache 17/157 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitions- fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ 1) Anlage 2 Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Europäisches Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen - Drucksache 17/889 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es ist in der Tagesordnung schon ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden, und zwar die Reden der Kolleginnen und Kollegen Mechthild Heil, Dr. Johann Wadephul, Gabriele Hiller-Ohm, Pascal Kober, Heidrun Dittrich und Markus Kurth.

Mechthild Heil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004052, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke eignet sich in keinster Weise, dem wichtigen Thema „Armutsbekämpfung in Deutschland“ sinnvolle Impulse zu geben! Es kann keine Rede davon sein, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen die Herausforderung der Armutsbekämpfung in Deutschland ignorieren. Im Gegenteil: Im Mittelpunkt der Politik der christlich-liberalen Bundesregierung stehen zwei wesentlichen Chancen, das Armutsrisiko in Deutschland zu senken. Wir wollen Arbeitsplätze für möglichst viele Menschen schaffen, dafür brauchen wir Wachstum, und wir wollen Kinder aus Hartz-IV-Familien in eine Zukunft mit eigenem Einkommen führen, dazu brauchen wir Bildung und gute Kinderbetreuung. Der erneut von der Linken geforderte gesetzliche Mindestlohn eignet sich hingegen nicht, Armut in Deutschland zu bekämpfen! Es ist nicht staatliche Aufgabe, in einem Markt die Preise zu diktieren, auch nicht den Preis für Arbeit. Wir wollen die Tarifautonomie stärken. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich auf einen tariflichen Mindestlohn für ihre Branche einigen, wenn sie dies für geboten halten. Ich unterstreiche nochmals, was schon im Koalitionsvertrag steht: „Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab. Die Rechtsprechung zum Verbot sittenwidriger Löhne soll gesetzlich festgeschrieben werden, um Lohndumping zu verhindern. Damit werden wir auch wirksam gegen soziale Verwerfungen in einzelnen Branchen vorgehen.“ Ein gesetzlicher Mindestlohn kann dazu führen, dass Arbeitsplätze für weniger qualifizierte Menschen wegfallen und dass die für viele MenMechthild Heil schen wichtigen Zuverdienstmöglichkeiten, etwa im Bereich der geringfügigen Beschäftigungen, ebenfalls zurückgehen. Die Folge wären mehr Menschen im Bezug von ALG II, die aufgrund geringerer Qualifikationen wenig Chancen hätten, in den Arbeitsmarkt zurückzugelangen. Wir, die CDU/CSU, sprechen uns für ein Mindesteinkommen mit einer Kombination aus fairen Löhnen und ergänzenden staatlichen Leistungen aus. Dazu gehört auch eine moderne und leistungsfördernde Steuerpolitik. Diese Richtung werden wir konsequent weiterverfolgen. Über die von Ihnen auch jetzt wieder geforderte generelle Anhebung der Regelsätze im Bereich des ALG II haben wir zuletzt ausgiebig diskutiert. Wir werden die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts sehr sorgfältig umsetzen und damit die Schwächen in diesem Teil der rot-grünen „Agenda 2010“ beseitigen. Ein Abstandsgebot zwischen Lohneinkommen und sozialen Transferleistungen ist unabdingbar, um Menschen den Anreiz zu geben, eine Arbeit aufzunehmen. Ein Aufgeben dieser Grundrichtung durch die von Ihnen geforderte nachhaltige Erhöhung der Regelsätze würde aber zwangsläufig dazu führen, dass wir die Anreize zur Aufnahme von Arbeit kappen. Die Frage, wie ein solches System zu finanzieren wäre, bleibt Ihrerseits wie immer unbeantwortet. Wir tragen auch Sorge für die Menschen in Deutschland, die Tag für Tag arbeiten gehen, Steuern zahlen und sich damit bereit erklären, dass große Teile dessen, was sie an den Staat abführen, dazu verwendet werden, um in unserem Land eine soziale Balance zu erhalten und den Schwächeren zu helfen. Die Akzeptanz unserer sozialstaatlichen Ordnung hängt maßgeblich davon ab, dass die allermeisten das Gefühl haben, es geht gerecht zu und eigene Anstrengung lohnt sich. Reich wird keiner durch Hartz IV. Ja. Hartz IV darf in Deutschland aber auch nicht zum Stigma werden, egal welche Art von Leistung fließt. Es ist wenig hilfreich, wenn in diesem Zusammenhang der Antrag der Fraktion Die Linke von „Armutsregelsätzen“ spricht. Damit stigmatisieren Sie diejenigen, die im ALG-II-Bezug sind. Sie suggerieren, der Staat würde Menschen durch die Transferleistung in Armut halten. Das Gegenteil ist der Fall. Ohne diese Leistungen würde sich der Sozialstaat ein Armutszeugnis ausstellen. Denn richtig ist, dass der weitaus größte Teil des Bundeshaushalts dazu genutzt wird, die sozialen Sicherungssysteme zu stabilisieren und deren Funktionsfähigkeit zu erhalten. Die immensen Summen, zum Beispiel für das ALG II, das Kindergeld und die Zuschüsse zur Rentenversicherung zeigen, dass wir das Steuergeld der Bürger sozial verteilen, um den Schwächeren in der Gesellschaft zu helfen. Die Bundesregierung geht das „Europäische Jahr gegen Armut und Ausgrenzung 2010“ sehr zielgerichtet an. Das mit der Umsetzung des Europäischen Jahres beauftragte Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat drei Themenschwerpunkte entwickelt: - Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern. - Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfsbedürftigkeit überwinden. - Integration statt Ausgrenzung - Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen. Das ist Ergebnis eines langfristig angelegten Dialogund Abstimmungsprozesses mit allen Akteuren, die sich in Deutschland sozial engagieren, darunter Kirchen, Sozialverbände und Selbsthilfeorganisationen. Im Beirat zur Umsetzung des Aktionsjahres sind rund 20 Verbände und Institutionen vertreten. Deutschlandweit erhalten 40 sogenannte Leuchtturmprojekte Förderungen der EU im Rahmen des Europäischen Jahres. Es sind angesichts der mehr als 842 Projektanträge leider viel zu wenige, die wir damit fördern können. Es gibt über 800 Anträge von verschiedensten Trägern wie Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Stiftungen, mit einem breiten Spektrum von Ansätzen und Zielgruppen: Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderungen und andere mehr. Diese hohe Zahl der Anträge zeigt, dass das gesellschaftliche Bewusstsein, etwas gegen Armut und für Chancengerechtigkeit zu tun, in unserem Land stark verankert ist. In meinem Heimatbundesland Rheinland-Pfalz wird zwar nur ein Projekt gefördert, ich halte es aber für beispielhaft für die guten und sinnvollen Initiativen. Der Caritasverband für die Region Rhein-HunsrückNahe e.V. betreibt die Tafel Rhein-Hunsrück und machte immer wieder die Erfahrung, dass sie den von Armut und Ausgrenzung betroffenen Tafel-Kunden und -Kundinnen bei ihren Problemen nicht angemessen helfen konnten. Das bezuschusste Projekt der Caritas in Kooperation mit der Tafel will nun Abhilfe schaffen. Vor Ort bei den Essensausgaben sollen für die Kunden und Kundinnen offene Sprechstunden zur Problemklärung abgehalten werden. Zugleich werden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Tafel in Beratung geschult, damit sie die Betroffenen in wirtschaftlichen, gesundheitlichen oder sozialen Fragen und bei Zugängen zum Hilfesystem besser unterstützen können. Zusätzlich zur Beratung werden den Tafel-Kunden und -Kundinnen kleinere Qualifizierungsmaßnahmen in Finanzen, Ernährung usw. angeboten, damit sie sich im Alltag besser zurechtfinden. Armut und soziale Ausgrenzung gehen uns alle an. Lassen Sie mich an zwei Punkten nochmals konkretisieren, was wir tun können. Es ist erwiesen, die Erwerbsarbeit der Eltern verringert das Armutsrisiko der Kinder nachhaltig. In Haushalten ohne erwerbstätigen Elternteil liegt die Armutsrisikoquote von Kindern bei 48 Prozent; sie sinkt bei einem in Vollzeit erwerbstätigen Elternteil auf 8, bei zwei in Vollzeit erwerbstätigen Elternteilen auf 4 Prozent. Unsere Bemühungen müssen also vor allem darauf gerichtet sein, Eltern in Arbeit zu bringen und sie für die Aufgaben der heutigen Berufswelt fit zu machen. Besonders armutsgefährdet in Deutschland sind Alleinerziehende, die zu 36 Prozent armutsgefährdet sind. Daher ist auch vor diesem Hintergrund der weitere Ausbau der Kinderbetreuung - übrigens auch für Schulkinder - von immenser Bedeutung, damit alleinerziehende Eltern ihre Kinder verlässlich Zu Protokoll gegebene Reden betreut wissen und beruhigt einer Erwerbsarbeit nachgehen können. Wir werden unseren Weg konsequent weitergehen!

Dr. Johann Wadephul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004182, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann mich den Ausführungen meiner Kollegin Heil zum vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke voll und ganz anschließen: Ihr Antrag leistet überhaupt keinen Beitrag zu einer ernsthaften Diskussion über die wirklichen Probleme von Menschen, die tagtäglich spüren, dass sie an Grenzen stoßen, sei es die Alleinerziehende, die nur deswegen von staatlicher Hilfe leben muss, weil es an ihrem Ort keine Kitaplätze gibt, oder der Junge aus einer Migrantenfamilie, der aufgrund mangelnder Beherrschung der deutschen Sprache in der Schule nicht mitkommt. Mit ideologischen Leerfloskeln und Polemik wie „Armutsregelsätze“ sowie „Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten“ tragen Sie selbst dazu bei, Menschen in unserer Gesellschaft zu stigmatisieren und ihnen einen Stempel aufzudrücken, den sie nicht verdient haben. Sie helfen ihnen damit nicht, sondern verstärken ihre ohnehin schon schwierige Lage. Vieles aus Ihrem Antrag ist nicht neu, sondern findet sich in Ihrem Bundestagswahlprogramm wieder. Als Antwort auf die großen Herausforderungen bei der Armutsbekämpfung findet man dort lediglich: Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes von 10 Euro, Kündigungsschutz ausweiten und Hartz IV abschaffen, privaten Bankensektor verstaatlichen, Aufbau eines öffentlichen Beschäftigungssektors. Hierzu möchte ich folgende Bemerkungen machen: Erstens: Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, der über dem markträumenden Gleichgewichtslohn liegt, nimmt gerade niedrig qualifizierten inländischen Arbeitskräften jegliche Beschäftigungschancen, weil er zu höheren Lohnkosten und damit letztlich zu Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland führt. Das hat bereits der Wissenschaftliche Dienst im September 2005 deutlich gemacht. Zweitens: Alle Fraktionen im Deutschen Bundestag, mit Ausnahme Ihrer Fraktion, halten die Grundsätze von Hartz IV, nämlich die Zusammenführung der bisherigen Arbeitslosen- und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zu einer einheitlichen Grundsicherung für Arbeitssuchende für richtig. Insbesondere die Langzeitarbeitslosen haben dadurch Zugang zu einer Reihe von wirkungsvollen Arbeitsmarktinstrumenten und Hilfen erhalten. Auch der Grundsatz von „Fordern und Fördern“ ist richtig und wird weder vom Bündnis 90/Die Grünen noch von den Sozialdemokraten bestritten. Im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Regelsätzen möchte ich Ihnen sagen, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Berechnungsmethode selbst und ebenso wenig die Höhe der Leistungen gerügt hat, sondern das Berechnungsverfahren. Vor diesem Hintergrund eine Erhöhung des Regelsatzes für Erwachsene auf 500 Euro zu fordern, ist eine unehrliche und gefährliche Debatte. Drittens: Wenn Sie davon reden, dass Armut und soziale Ausgrenzung Resultate der Agenda 2010 und der Lissabon-Strategie sind, sollten Sie nicht öffentlich erklären, dass Bolivien, ein Land mit extremer Armut und großen sozialen Problemen, für eine „Alternative zum neoliberalen Kapitalismus“ stehe, ein Land, bei dem etwa 10 Prozent der Bevölkerung über 40 Prozent des Gesamteinkommens verfügen. Viertens: Chancengleichheit bedeutet nicht Umverteilung, wie man das bei der Linken immer wieder hört. Es ist schwierig, etwas aufzubauen, ein Haus, ein Vermögen, ein funktionierendes Bildungssystem. Aber es ist verhältnismäßig einfach, anderen etwas wegzunehmen und nichts Neues aufzubauen, zumindest solange noch etwas da ist. Zum Glück ist der Sozialismus, den Sie weiter fortführen wollen, passé.

Gabriele Hiller-Ohm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das Europäische Jahr 2010 steht unter dem Motto „Mit neuem Mut“. In Deutschland hat hierfür das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Gesamtkoordination. Für dieses Jahr wurden bereits unter unserem SPD-Arbeitsminister Olaf Scholz insgesamt 40 Projekte in Deutschland, die mit rund 1,4 Millionen Euro gefördert werden, auf den Weg gebracht. Thematische Schwerpunkte liegen dabei in folgenden Bereichen: „Jedes Kind ist wichtig - Entwicklungschancen verbessern“, „Wo ist der Einstieg? - Mit Arbeit Hilfebedürftigkeit überwinden“, „Integration statt Ausgrenzung Selbstbestimmte Teilhabe für alle Menschen“. Zur Armutsbekämpfung müssen alle Politikfelder eng zusammenarbeiten. Leider fehlt diese Vernetzung oft. Die jetzt geförderten Projekte bieten gute Möglichkeiten, gemeinsam noch effektiver gegen Armut zu arbeiten. Armutsbekämpfung ist wichtig. Leider verhält sich die schwarz-gelbe Bundesregierung dabei viel zu passiv. Wenn sie hier die gleiche Leidenschaft an den Tag legen würde wie bei der Entlastung von Besserverdienenden, hätten deutlich mehr Menschen die Chance auf einen annehmbaren Lebensstandard! Stattdessen geht die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland weiter auseinander. Schwarz-Gelb hat mit der verfehlten und unsozialen Klientelpolitik bereits nach nicht einmal 150 Tagen Regierungszeit erheblich dazu beigetragen. Diese kurze Zeit hat auch ausgereicht, um das soziale Klima in Deutschland zu vergiften. Verantwortlich dafür ist die FDP, maßgeblich durch die Äußerungen des Bundesaußenministers und des Berliner Abgeordneten Martin Lindner. Jeder siebte Deutsche lebte 2008 unterhalb der Armutsschwelle - das bedeutet, dass man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Im Vergleich zu 1998 hat sich die Zahl um rund ein Drittel erhöht. Überdurchschnittlich sind Alleinerziehende betroffen. Hier waren es rund 40 Prozent. Aber auch viele Menschen, die von der Grundsicherung leben, sind von Armut bedroht. Deshalb müssen wir über die Bemessungsgrundlage von Regelsätzen sprechen. Und natürlich müssen wir auch endlich eigenständige bedarfsgerechte und rechtssichere Regelsätze für ErZu Protokoll gegebene Reden wachsene und besonders für Kinder auf den Weg bringen. Das Bundesverfassungsgericht hat das zu Recht angemahnt. Die Oppositionsfraktionen haben sich mit Anträgen dazu positioniert. Von der Regierung gibt es aber nur peinliche Stille! Der Sozialstaat muss gestärkt und nicht abgebaut werden. Deswegen ist es wichtig, soziale Leistungen weiterzuentwickeln und zu verbessern. Wer keine oder schlechte Arbeit hat, ist arm dran! Wir brauchen deshalb gute Jobs und faire Arbeitsbedingungen in Deutschland. CDU, CSU und FDP subventionieren lieber Lohndumping mit aufstockendem Arbeitslosengeld II als „Quasi-Kombilohn“ auf Kosten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Nur mit einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn kann es gelingen, dass Menschen, die eine Vollzeitstelle haben, auch ein existenzsicherndes Arbeitsentgelt erhalten. Wer arbeitet, muss davon leben können! Die Ergebnisse in Deutschland sind leider ernüchternd. 5,1 Millionen Menschen arbeiten für einen Stundenlohn von unter 8 Euro. 20 von 27 EU-Mitgliedstaaten haben Lohnuntergrenzen, die in westeuropäischen Staaten wie Frankreich, Irland, den Niederlanden oder Belgien bei über 8,40 Euro pro Stunde liegen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt, gerade für die rund 650 000 Alleinerziehenden, die arbeitslos sind oder in ihrem Job zu wenig verdienen und deshalb auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind. Eine für Eltern gebührenfreie bedarfsdeckende Kinderbetreuung ist dabei die wichtigste Maßnahme, nicht nur, weil jedes Kind wichtig ist und Entwicklungschancen so verbessert werden, sondern weil es Alleinerziehenden erst ermöglicht, mit Arbeit aus der Armutsgefährdung herauszukommen. Die SPD hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass ab dem Jahr 2013 jedes Kind ab einem Jahr einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz bekommt. Armut, mangelnde Teilhabe und ein versperrter Zugang zu Bildung hängen eng miteinander zusammen. Besonders Kinder aus armen Familien müssen gut, diskriminierungsfrei und nicht stigmatisierend unterstützt werden. Deswegen fordern wir Gebührenfreiheit von der Kita bis zur Uni. Deswegen haben wir das Schulbedarfspaket auf den Weg gebracht. Und deshalb fordern wir, die Bedarfe für Bildung und gesellschaftliche Teilhabe bei den Regelsätzen gerecht abzubilden. Gute Bildung und Berufsausbildung bringen die besten Voraussetzungen, um Armut bei der heranwachsenden Generation zu vermeiden. Wenn es um Armutsbekämpfung geht, sind diese Punkte für die SPD wesentlich. In unseren Anträgen zur Gleichstellung und zu den Konsequenzen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Regelsätzen haben wir uns heute im Bundestag positioniert. Der jetzt vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke zum Europäischen Jahr macht in vielen Punkten perspektivisch einen richtigen - wenn auch sehr abstrakten - Aufschlag. Leider fehlen in dem Forderungskatalog der Linken viele Punkte, die für eine wirksame Armutsbekämpfungsstrategie notwendig wären. Der Antrag der Linken greift deswegen aus Sicht der SPDFraktion zu kurz. Aber ich freue mich, dass die Fraktion Die Linke die europäische Ebene als wichtiges Handlungsfeld erkannt hat - immerhin hatte die Linkspartei noch vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Vertrag von Lissabon geklagt. Und mit der Verankerung sozialer Komponenten und des sozialen Fortschritts in Europa rennen Sie bei uns offene Türen ein. Die SPD hat dazu Anfang Mai 2009 zusammen mit dem DGB ein gemeinsames Positionspapier für sozialen Fortschritt in Europa verabschiedet, das deutliche Maßstäbe setzt und sozialen Grundrechten einen absoluten Vorrang einräumt. Daran müssen wir weiter arbeiten - wir laden alle Fraktionen dazu ein, den Weg mit uns gemeinsam zu gehen, auch nach dem Ablauf des Europäischen Jahres 2010 gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

Pascal Kober (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004075, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die christlich-liberale Koalition bekennt sich in ihrem Koalitionsvertrag klar zum verstärkten Einsatz gegen Armut in Deutschland. Nichts anderes beinhalten die Maßnahmen, die wir dort gemeinsam beschlossen haben. Nichts anderes ist es, wenn wir die Instrumente zur Vermittlung in den Arbeitsmarkt verbessern wollen. Nichts anderes ist es, wenn wir die Hinzuverdienstgrenzen verbessern wollen. Nichts anderes ist es, wenn wir das Schonvermögen im Sozialgesetzbuch II morgen von 250 auf 750 Euro verdreifachen werden. Vor allem aber setzen wir auf Bildung als langfristige Investition zur Vermeidung von Armut. Deshalb trifft der Vorwurf, dass diese Regierungskoalition sich des Problems der Armut in Deutschland nicht annehmen würde, schlichtweg nicht zu. Wir sind es, die jetzt Regelungen, die die rot-grüne Bundesregierung bewusst getroffen hat, zum Beispiel die Regelungen im SGB II, im Sinne der Betroffenen verbessern und gerechter ausgestalten. Wir nehmen uns der Menschen, die in Armut leben, an. Auch und gerade in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der Bildungspolitik haben wir konkrete Punkte vereinbart. Durch Steuerentlastungen haben wir wirtschaftliches Wachstum gefördert und werden das auch so fortsetzen. Dies führt auch dazu, dass mehr Menschen in Arbeit bleiben können und darüber hinaus in Arbeit kommen und nicht mehr von Sozialleistungen des Staates abhängig sind. Noch immer gilt, dass gute Bildungspolitik die beste Sozialpolitik ist. Gute Bildungspolitik schafft die Voraussetzungen dafür, dass Menschen in Freiheit selbstbestimmt leben können. Daher haben wir uns als christlich-liberale Koalition klar und deutlich zur verstärkten Förderung in der Bildungspolitik ausgesprochen. So werden wir neben der Einführung von leistungsabhängigen Stipendien auch die Kinderbetreuung weiter ausbauen. Das sind Maßnahmen, die die Armut von morgen verhindern. Auch das gehört für uns Liberale zum Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Was die Linke in ihrem Antrag aber unter anderem als Maßnahmen gegen Armut vorschlägt, ist vollkommen kontraproduktiv. Zudem verdrehen Sie, wie so oft, Tatsachen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar zu den Regelsätzen im SGB II werden Zu Protokoll gegebene Reden wir nun zügig, aber auch gründlich die vorgeschriebene Überarbeitung vornehmen. Wir werden uns dabei an den Maßgaben des Urteils orientieren und den Regelsatz sachgerecht, transparent und somit nachvollziehbar ermitteln. Da uns zum jetzigen Zeitpunkt die Einkommensund Verbrauchsstichprobe noch nicht vorliegt und daher noch keine Bewertung vorgenommen werden kann, sind Aussagen über die künftige Höhe der Regelsätze verfrüht und populistisch. In einer Sache haben Sie in Ihrem Antrag recht, wenn Sie feststellen, dass sich die Bundesregierung gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ausspricht, und dies aus guten Gründen. Zum einen führt ein gesetzlicher Mindestlohn zum Verlust von Arbeitsplätzen. Besonders im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit lässt sich dies an Beispielen aus dem europäischen Ausland deutlich belegen. Wir setzen daher auf ein Mindesteinkommen, das den Menschen ein menschenwürdiges Auskommen ermöglicht. Zum anderen sorgen auch die in der politischen Diskussion genannten Höhen von Mindestlöhnen nicht für ein Auskommen ohne staatliche Unterstützung. Damit ist ein Mindestlohn kein Instrument, um Menschen aus der staatlichen Unterstützung herauszuhelfen. Der Antrag der Linken liefert keinerlei tragfähige Konzepte. Wenn Sie unter anderem fordern, dass „eine soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk“ eingesetzt werden soll, kann ich Ihnen sagen, dass diese Diskussion im Rahmen der Erarbeitung und der Beschlussverfassung ausgiebigst diskutiert wurde - und zu Recht keine Mehrheit fand. Abschließend kann ich Ihnen noch aufzeigen, wie sich diese Regierung schon jetzt konkret am Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung beteiligt. Am 25. Februar hat Bundesministerin von der Leyen im Rahmen einer Festveranstaltung das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung eröffnet. Die EU und das Ministerium fördern dabei gezielt 40 Sozialprojekte mit insgesamt 1,5 Millionen Euro. Auch vor diesem Hintergrund lässt sich die Behauptung der Linken, dass sich die Bundesregierung des Themas nicht annimmt, nicht aufrechterhalten. Wir haben uns des Problems der Armut angenommen und beteiligen uns angemessen am Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung.

Heidrun Dittrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004028, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das Sozialprodukt der Europäischen Union umfasst 12,4 Billionen Euro und ein Pro-Kopf-Einkommen von 23 600 Euro. Damit ist die EU der größte Wirtschaftsraum der Welt. Angesichts dieser Zahlen sollte Armut eigentlich der Vergangenheit angehören. Aber statt zu verschwinden, wächst die Armut in der EU stetig an - der Graben zwischen Arm und Reich wird immer tiefer. Nach offiziellen Angaben müssen 80 Millionen Europäer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohnes ihres Heimatlandes auskommen. 17 Prozent der Europäerinnen und Europäer sind damit von Armut direkt betroffen. Jeder zehnte EU-Bürger hat nicht das Geld, um wenigstens jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine gute vegetarische Mahlzeit zu essen. Auch in Deutschland ist seit dem Jahr 2000 die Zahl der Menschen, die in Armut leben müssen, von 8 auf 12 Millionen dramatisch angestiegen. Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, werden sechzehnmal häufiger krank, ihre Lebenserwartung liegt vier Jahre unterhalb des Durchschnitts. Wer arm ist, findet schwieriger eine Arbeit oder eine Wohnung und hat weniger Zugang zu Bildungsmöglichkeiten. Rund 30 Prozent der Armen in Deutschland sind Alleinerziehende, circa 80 Prozent von ihnen sind alleinerziehende Mütter. Frauen sind von der Armut besonders bedroht, sie verdienen durchschnittlich 30 Prozent weniger und besitzen nur 82 Prozent des ausgabefähigen Einkommens gegenüber dem der Männer. Das Risiko, in Armut zu geraten, ist vor allem für ältere Frauen besonders hoch, da die Sozialschutzsysteme in der EU häufig auf dem Grundsatz einer ununterbrochenen bezahlten Erwerbstätigkeit beruhen, welche Frauen häufig nicht haben. Auch Kinder sind zunehmend von Armut betroffen. In den EU-Mitgliedstaaten leben 20 Prozent der Minderjährigen unterhalb der Armutsgrenze. Während die wachsende Kinderarmut auf die schlechte Einkommenssituation der Haushalte zurückzuführen ist, zeigt die ebenfalls steigende Altersarmut, dass die europäischen Rentensicherungssysteme nicht mehr armutsfest sind. 19 Prozent der über 65-Jährigen sind von Armut akut gefährdet. Selbst wer Arbeit hat, ist vor Armut nicht mehr sicher! Ein Großteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen, sind Beschäftigte im Niedriglohnbereich. Rund 25 Prozent aller abhängig Beschäftigten arbeiten in Deutschland mittlerweile im Niedriglohnsektor - Tendenz steigend. Nirgendwo in Europa liegt die Quote höher. In Großbritannien beträgt der Anteil der Geringverdiener an allen Beschäftigten 21,7 Prozent, in den Niederlanden 17,6 Prozent, in Frankreich 11,1 Prozent und in Dänemark sogar nur 8,5 Prozent. Besonders erschreckend: die hohe Zahl derjenigen, die sich mit absoluten Billigjobs zu Stundenlöhnen von unter fünf Euro begnügen müssen. Das sind in Deutschland inzwischen fast zwei Millionen Arbeitnehmer, knapp ein Drittel der 6,5 Millionen Beschäftigten im Niedriglohnsektor. In den meisten anderen Ländern, so auch im liberalen Großbritannien, sind solche Löhne gesetzlich verboten. Selbst die USA haben wir im Bereich des Niedriglohnsektors überholt. Wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Armen als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise weiter zunimmt. Das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen! Die Europäische Kommission hat das Jahr 2010 zum „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ ausgerufen. In den vom Europäischen Parlament und vom Rat beschlossenen Zielen des Europäischen Jahres gegen Armut wird eine Gesellschaft eingefordert, in der es keine Armut mehr gibt, in der eine gerechte Verteilung ermöglicht wird und in der niemand ausgegrenzt wird. Eine Gesellschaft ohne Armut ist keineswegs unrealistisch und utopisch, Zu Protokoll gegebene Reden denn die Armut existiert neben einem immer größer werdenden gesellschaftlichen Reichtum, der schon lange ein Ausmaß angenommen hat, dass er die Armut für immer verbannen könnte. Ein wirkliches Handlungsprogramm der Bundesregierung gegen Armut und soziale Ausgrenzung ist jedoch nicht erkennbar. Ganz im Gegenteil: In jüngster Zeit überbieten sich die Regierungsparteien mit politischen Vorstößen, die das Sozialmodell der Republik grundlegend in Frage stellen. Die Formulierung im Nationalen Strategiepapier des Bundesarbeits- und Sozialministeriums zur Umsetzung des Jahres gegen Armut, dass „trotz der vielfältigen politischen Maßnahmen“ die Armut gewachsen sei, ist an Zynismus kaum noch zu überbieten. Realität ist doch, dass wegen und nicht „trotz“ der Umsetzung der neoliberalen Lissabon-Strategie und der Agenda 2010 die Armut rasant gestiegen ist. Die Lissabon-Strategie und deren Entsprechung in der Bundesrepublik, die Agenda 2010, haben mit der Schaffung und Förderung des Niedriglohnsektors und von ungesicherten Arbeitsverhältnissen maßgeblich zum Anstieg von Armut beigetragen. Hartnäckig hält sich daher der Eindruck auch bei zahlreichen sozialen Initiativen und Verbänden, dass das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung von der Bundesregierung dazu benutzt werden soll, die noch verbliebenen, tatsächlich unzureichenden sozialen Sicherungssysteme als ausreichend zu loben. Pressemitteilungen des Ministeriums und auch das Nationale Strategiepapier bestärken die Vermutung noch, dass es sich bei dem Europäischen Jahr 2010 lediglich um eine werbewirksame PR-Aktion für die Politik der Bundesregierung handelt. Zahllos sind die im Europäischen Jahr 2010 geplanten Projekte, die lediglich auf die Bewusstseinsmachung für Armutsrisiken abzielen. Zu diesem Zweck sollen laut Nationalem Strategiepapier beauftragte PR-Agenturen sicherstellen, „dass regelmäßig über gute Beispiele der Umsetzung sozialer Integration und Armutsprävention berichtet wird“. Werbe- und PR-Agenturen dürften so die Hauptnutznießer des Europäischen Jahres 2010 sein, denn diese Arbeit will ja entlohnt sein. Wir haben jedoch kein Erkenntnisdefizit, sondern ein politisches Handlungsdefizit. Angesichts der sozialen Probleme in unserem Land sollte die Bundesregierung nicht Werbeagenturen, sondern Taten sprechen lassen. Der DGB hat nun die Zusammenarbeit mit dem Bundesarbeits- und Sozialministerium ({0}) zum Europäischen Jahr 2010 aufgekündigt. Die stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende Annelie Buntenbach kritisiert in scharfen Tönen das Verfahren bei der Auswahl der zu fördernden Projekte. Gesetzliche Aufgaben wie Sprachförderung von Kindern, werden nicht finanziell abgesichert, sondern als befristete finanziell ungesicherte Projekte gewährt. Auch die Debatte im Anschluss an das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Hartz-IV-Regelleistungen lässt an einem angemessenen Problembewusstsein der Bundesregierung ernsthaft zweifeln. Mit den Äußerungen des Bundesaußenministers Westerwelle, dass sich Arbeit wieder lohnen solle, spielt er die Erwerbslosen und die Erwerbstätigen gegeneinander aus. Damit lenkt er von den eigentlichen Verantwortlichen für die soziale Schieflage ab. Der Hintergrund ist, dass Teile der aktuellen Bundesregierung offen darüber nachdenken, die Regelleistungen noch weiter zu kürzen. Ich meine: Nicht die Hartz-IV-Regelsätze sind zu hoch, sondern die Löhne sind zu niedrig! Der von Westerwelle bemühte Vergleich mit der „spätrömischen Dekadenz“ ist nicht nur historisch vollkommen verfehlt, sondern verdeutlicht auf eine menschenverachtende Weise den Realitätsverlust des Vizekanzlers und Außenministers. Ein monatlicher Regelsatz von 359 Euro für Erwachsene ist menschenunwürdig! Er ermöglicht weder eine Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben noch eine ausgewogene und gesunde Ernährung. Wie soll zum Beispiel ein Erwerbsloser mit 11,27 Euro im Monat für den öffentlichen Nahverkehr tatsächlich mobil sein und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen? In Berlin oder Hannover kann man mit diesem Betrag circa fünf Mal die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Auch die Medien, angefangen bei der „Zeit“ bis zur „Bild“, reihen sich ein in die von Westerwelle initiierte Missbrauchsdebatte und mischen ordentlich mit bei der Konstruktion von Sozialneid und Sündenböcken. Gegen alle Fakten konnten wir in „Bild“ und auch in der „Zeit“ lesen, dass Menschen mit Migrationshintergrund dem Steuerzahler auf der Tasche liegen und damit mitverantwortlich für die leeren öffentlichen Kassen seien. Tatsächlich sind die Staatskassen leer, weil sich Unternehmen und Vermögende immer weiter aus der Finanzierung der öffentlichen Ausgaben zurückziehen konnten. „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bemüht sogar das alte rassistische Bild von der Einwanderung in die Sozialsysteme. Dabei war die Einwanderungsbilanz in der Bundesrepublik nie schlechter als heute. Inzwischen verlassen fast ebenso viele Menschen das Land, wie neue einwandern. Solche hetzerischen Äußerungen kennen wir sonst nur von Rechtsextremen. Damit wird das gesellschaftliche Klima ins Unerträgliche verschlechtert. Dieser Spaltung der Bevölkerung tritt die Linke entschlossen entgegen. Wenn wir die Ziele des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung ernst nehmen, dann brauchen wir einen radikalen Politikwechsel für mehr Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Es geht darum, gesellschaftliche Umstände zu schaffen, in denen Armut ausgeschlossen bleibt. Um Armut nachhaltig zu bekämpfen und um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten, benötigen wir jetzt einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro und die Fortentwicklung der Sozialversicherungen zu Bürgerversicherungen, in denen das Solidarprinzip gestärkt wird und zu deren Finanzierung hohe und höchste Einkommen angemessen herangezogen werden. Wir fordern die Abschaffung von 1-Euro-Jobs sowie die Einschränkung von Leih- und Zeitarbeit. Hartz IV soll durch eine bedarfsorientierte soziale Mindestsicherung ersetzt werden, die gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht und sanktionsfrei ist. Zu Protokoll gegebene Reden Darüber hinaus brauchen die sozial benachteiligten und bedürftigen Familien allerdings auch mehr finanzielle Mittel zu ihrer freien Verfügung, denn das meiste, was man bei uns zum Leben braucht, bekommt man nur gegen Bares. So zu tun, als lägen die sozialen Defizite bloß auf dem Gebiet der Beteiligungs-, nicht aber der Verteilungsgerechtigkeit, ist verkürzt. Gesellschaftliche Teilhabe in Armut reicht nicht aus. Denn heute ist das Geld in fast allen Lebensbereichen so wichtig wie noch nie, und es ist auch so ungleich verteilt wie noch nie. Wer die Armut bekämpfen will, kommt an einer Umverteilung von Vermögen und Arbeit nicht vorbei. Ein wirksames Mittel, der wachsenden Arbeitslosigkeit entgegenzusteuern, ist die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und die Senkung des Renteneintrittsalters. Wir kommen nicht darum herum, das Tabu zu brechen: Der Staat braucht neue, wesentliche Einnahmen: Kapitalgewinne, Kapitaltransaktionen, große Vermögen und Einkommen, von denen es noch nie so viel gab wie heute, müssen höher oder überhaupt erst besteuert werden. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition ist dazu aber offenbar, genau wie ihre Vorgänger, nicht bereit. Deswegen fordert die Linke eine stärkere Beteiligung der wirtschaftlich Leistungsfähigen an den Kosten des Gemeinwesens. Wir fordern die Anhebung des Spitzensatzes in der Einkommensteuer auf 53 Prozent, eine höhere Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer als Millionärssteuer. Jahrelang wurde mit staatlicher Unterstützung von unten nach oben umverteilt. Dieser Trend muss nun umgekehrt werden! Wir fordern die Bundesregierung auf, ein ernst gemeintes Strategiepapier gegen Armut und soziale Ausgrenzung vorzulegen, das den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung als politische Priorität versteht. Es müssen verbindliche Ziele zur Reduktion von Armut und sozialer Ausgrenzung mit einem konkreten Zeithorizont festgelegt werden. Die Erreichung der jeweiligen Ziele muss durch ein konkretes Handlungsprogramm abgesichert werden, das mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet wird! Auf EU-Ebene ist das Thema Vermeidung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung ebenfalls zu einem Schwerpunkt zu machen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass eine soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufgenommen wird. Dies bedeutet, dass soziale Grundrechte im Konfliktfall Vorrang haben müssen gegenüber der sogenannten „Niederlassungsfreiheit des Kapitals“, der „Dienstleistungsfreiheit“ und der „Freiheit des Kapitalverkehrs“ - denn es ist diese neoliberale Politik der Profitmaximierung, die uns in die wirtschaftliche Krise geführt hat. Insbesondere fordert die Linke, die Koalitionsfreiheit, die Tarifautonomie, das Streikrecht der Gewerkschaften und das Recht der Mitgliedstaaten zum Erlass von Tariftreuegesetzen anzuerkennen und in der Praxis abzusichern. Wir fordern zudem die Staats- und Regierungschefs der EU sowie die Europäische Kommission in Brüssel eindringlich auf, sofort Regelungen zu erlassen, mit denen alle Mitgliedstaaten wirksam gegen Lohndumping vorgehen können. Die Linke will das Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung gemeinsam mit Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen und mit sozialen Bewegungen dazu nutzen, über gesellschaftliche Ursachen von Armut und alternative Lösungsansätze zu diskutieren. Neue Ansätze der sozialen und demokratischen Teilhabe müssen entwickelt werden. Die Linke ruft auf, den globalen Aktionstag gegen Armut am 17. Oktober 2010 mit den vielfältig geplanten Protesten wie den Europäischen Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Armut und der Weltfrauenkonferenz zu verbinden.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dass die Linke hier und heute einen Antrag zum „Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ stellt, das kann ich schon verstehen. Denn wenn ich mir anschaue, was diese Bundesregierung im Bereich Armutsbekämpfung abliefert, dann ist das schon ein Trauerspiel. Sie nimmt ja noch nicht einmal zur Kenntnis, welche Ausmaße Armut und soziale Ausgrenzung haben. Sie hat ja einen Außenminister in ihren Reihen, der die Armut gar nicht sieht, einen Außenminister, der meint, Hartz-IV-Empfänger lebten in spätrömischer Dekadenz. Wenn das so wäre, dann fehlten mir die Worte für das, was uns unser Vortragsreisender Guido Westerwelle da bietet. 7 000 Euro für ein paar warme Worte, das wäre eine Steigerung von Dekadenz, für die es gar keine Worte mehr gibt. Mir wird angst und bange, wenn ich daran denke, dass Deutschlands wohl teuerste Plaudertasche uns in der Welt als ranghöchster Diplomat repräsentieren soll. Andere Mitglieder der Bundesregierung sind offenbar nur noch damit beschäftigt, die Scherben zusammenzukehren, die der oberste Repräsentant des Lobbyistenvereins der Besserverdienenden, der eigentlich LdB statt FDP heißen müsste, zusammenzukehren. Anders ist das, was uns Frau von der Leyen als in Deutschland für die Durchführung des Europäischen Jahres zuständige Ministerin nun vorsetzt, nicht zu erklären. Nach der nationalen Strategie für das Europäische Jahr sollen lediglich 1,24 Millionen von 2,25 Millionen Euro tatsächlich in die Förderung konkreter Projekte gehen, die etwas mit Armut und sozialer Ausgrenzung zu tun haben. Der Rest fließt in die Öffentlichkeitsarbeit. Im besten Falle erfahren wir also das, was wir sowieso wissen, wenn wir mit offenen Augen durch die Straßen gehen, nämlich dass es überall in Deutschland Armut und soziale Ausgrenzung gibt. Auf jeden Fall profitieren aber die Werbeagenturen. Ob das im Sinne von Armut betroffener Menschen ist, kann man getrost bezweifeln. Interessant ist aber schon, zu erfahren, an welche Werbeagenturen welche Summen fließen. Genau das habe ich die Bundesregierung in der Kleinen Anfrage auf Drucksache 17/833 gefragt. Ich bin gespannt. Mich interessiert ehrlich gesagt auch sehr, warum die Bundesregierung nur 40 Projekte fördert, wenn sich doch 842 beworben haben und ursprünglich 50 bis 70 Projekte gefördert werden sollten. Ich hoffe, es lag nicht daran, dass diese Projekte auch die Ursachen von Armut und Zu Protokoll gegebene Reden sozialer Ausgrenzung thematisiert hätten, Sachverhalte, die bei der Auswahl von Projekten „Wie knapp bei Kasse Wir kommen klar“ und „Arm ist nicht, wer wenig hat“ sowie „Arbeitsgelegenheit im Fokus“ keine Rolle spielen, deren Erörterung aber gewinnbringend wäre. Aber möglicherweise kann die Bundesregierung mir diese Frage ja ebenfalls beantworten, denn auch sie ist Teil meiner Kleinen Anfrage zur Sache. Gleiches gilt für die Frage, warum den Mitgliedern des Programmbeirats von den 842 Projektanträgen, die eingereicht wurden, nur 70 präsentiert wurden. Wenn ich mir diesen Antrag der Fraktion Die Linke so anschaue, dann muss ich sagen, mir ist das viel zu unkonkret. Ich weiß bei vielem einfach gar nicht genau, was sich dahinter verbirgt, eine soziale Fortschrittsklausel zum Beispiel oder die Definition verbindlicher Ziele im Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung mit Zeithorizont und deren Unterfütterung mit einem Handlungsprogramm. Dieses Hohe Haus hat doch die Aufgabe, Ziele festzulegen, die die Bundesregierung dann auf nationaler Ebene erfüllen muss. Gegebenenfalls muss das Ganze in einen europäischen Prozess einfließen. Das, was Sie uns hier präsentieren, halte ich dafür ehrlich gesagt für zu dünn. Ich will aber anerkennen, dass mir die guten Absichten dahinter nicht verborgen geblieben sind. Deshalb empfehle ich eine Enthaltung.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/889 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Kinderlärm - Kein Grund zur Klage - Drucksache 17/881 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Auch hier ist in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul, Dorothee Bär, Hans-Joachim Hacker, Judith Skudelny, Heidrun Bluhm und Bettina Herlitzius1) zu Protokoll gegeben werden.

Dr. Michael Paul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kindern gute Entwicklungschancen geben - das ist sicherlich eine der bedeutendsten Aufgaben einer Ge- sellschaft. Dazu gehört, dass Kinder spielen dürfen. Da- her ist es auch sinnvoll, an den Lärm von spielenden Kindern einen anderen Maßstab anzulegen als an den 1) Der Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem späteren Zeitpunkt abgedruckt. Lärm aus einer Industrieanlage. Niemand kann ernsthaft gegen dieses Ziel sein, und auch wir sind es nicht. Das haben die Fraktionen des letzten Bundestages im Übrigen auch schon übereinstimmend bekräftigt. Falsch ist es aber, dort schwarz-weiß zu malen, wo eine bunte Palette an unterschiedlichen Interessen besteht. Und an dieser Stelle zeigt der Antrag der SPDFraktion zum Kinderlärm Schwächen. Die Kolleginnen und Kollegen von der SPD haben es sich ja auch einfach gemacht und den Bundesratsantrag von RheinlandPfalz abgeschrieben. Nur der letzte Punkt ist hinzugefügt. Selbstverständlich hat die Entfaltung der Kinder als wesentlicher Faktor für die Zukunft unseres Landes einen besonders zu berücksichtigenden Stellenwert. Aber das ändert nichts daran, dass der von Kindern erzeugte Lärm - und in diesem Punkt ist offensichtlich auch die SPD-Fraktion keiner anderen Meinung - auch als Lärm bezeichnet werden muss. Und ebenso selbstverständlich ist, dass auch Kinderlärm in der Umgebung seiner Entstehung als Lärm wahrgenommen wird. Daher ist es schon denklogisch der falsche Weg - wie durch den SPD-Antrag geschehen - Kinderlärm generell nicht mehr als Lärm bezeichnen zu wollen. Den zu berücksichtigenden Interessen, also der besonderen Stellung der Kinder einerseits und dem Ruhebedürfnis der in der Umgebung lebenden Menschen andererseits, kann doch nicht durch eine solch starre Regelung begegnet werden. Das würde, basierend auf den Bevölkerungszahlen des Jahres 2008, bedeuten, dass die Interessen von 11,13 Millionen Kindern im Alter zwischen 0 und 15 Jahren ohne jede Ausnahme über die Interessen der übrigen 70,8 Millionen Bürger in Deutschland gestellt würden. Das kann schon deshalb nicht richtig sein, weil auch die Kranken und die Menschen, die auf Lärm empfindlich reagieren, schützenswert sind. Daher kann hier nur ein Ansatz gewählt werden, der zwar die besondere Bedeutung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen für die Zukunft unseres Landes angemessen berücksichtigt, nicht aber die Rechte der übrigen Bevölkerung ausschließt. Ein solcher Ansatz muss auch berücksichtigen, dass sich, gerade im Fall von Lärmemissionen, eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbeeinträchtigung verbietet. Die Störungsintensität hängt vielmehr entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher zwingend notwendig, dass auch in Zukunft Einzelfallüberprüfungen möglich sind. Das ist im Übrigen auch ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, einen Rechtsweg vorzuhalten. Natürlich muss bei dieser Abwägung den besonderen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen dadurch Rechnung getragen werden, dass für den von ihnen erzeugten Lärm ein höherer Toleranzmaßstab entwickelt wird. Die große Zahl von Gerichtsurteilen, in denen den Interessen der Kinder der Vorrang gegeben wird, zeigt, dass dies auch bisher die gängige Praxis ist. Bei den weiteren Beratungen müssen wir daher eine Lösung finden, die nicht nur rechtsstaatskonform ist, sondern auch Einzelfallentscheidungen zulässt, klare Vorgaben für die Verwaltung enthält, um einen Vollzug der rechtlichen Regelungen zu ermöglichen, und den Interessen der spielenden Kinder Rechnung trägt. Ich freue mich deshalb auf die weiteren Beratungen.

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Alleine der Begriff, über den wir heute hier diskutieren, ist ein Widerspruch in sich: Kinder-Lärm! Das unterstellt, dass „Lärm“ entsteht, wenn Kinder spielen, toben, lachen, schreien, weinen, Bälle kicken. Wenn Kinder spielen, tun sie das mit lautstarker Begleitung, teilen sich einander mit - das ist der Sinn der Sache; wenn sie weinen, hört man das gut, wenn sie sich freuen, lachen sie fröhlich. Dass diese vitalen Lebensäußerungen von Kindern, ihr unüberhörbares Sich-in-der-Gemeinschafteinander-Mitteilen und Aneinander-Messen als „Lärm“ empfunden werden und an den zulässigen Werten für Gewerbelärm gemessen werden kann, sagt viel über unsere Gesellschaft aus: Wir sind kinderentwöhnt! Die Geburtenzahl geht zurück, die Menschen werden immer älter und leben oft ohne eigene Kinder und Enkel. Viele kennen es nicht mehr, Kinder um sich zu haben, mit Kindern zusammen in einem Haus zu wohnen oder einen Kinderspielplatz oder eine Kita in unmittelbarer Nachbarschaft zu haben. Viele Menschen wohnen am liebsten in einer kinderlosen Umgebung, viele Vermieter privilegieren Mieter ohne Kinder. So kommt es, dass viele von uns sich an eine Welt ohne Kinder gewöhnt haben, ohne zu merken, wie arm wir dadurch werden. Kinder sind leider keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie werden nicht mehr als Bereicherung empfunden, sondern als Störenfriede. Daher kommt es immer wieder zu Klagen von Anwohnern gegen Kindertageseinrichtungen oder auch gegen erteilte Baugenehmigungen, in Einzelfällen sogar zur Schließung dieser Einrichtungen, besonders dann, wenn diese in Wohngebieten liegen. Die Gerichtsentscheidungen geben weniger Anlass zur Richterschelte, sondern werden durch die Bestimmungen im Wohnungseigentums- und Mietrecht, im öffentlichen Baurecht und im Immissionsschutzrecht selbst veranlasst. Das wollen wir ändern! Denn Kinder sind ein Segen für ihre Eltern und auch für die Gesellschaft, in der sie leben. Ohne Kinder hat unser Land keine Zukunft! Union und FDP haben daher im Koalitionsvertrag vereinbart, dass Spielen, Toben, Lachen und Weinen von Kindern kein Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen mehr sein dürfen. Wir haben versprochen, die Gesetzeslage entsprechend zu ändern. Dennoch werden wir dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen, weil es sich um eine hochkomplexe Materie handelt, die nicht einfach zu lösen ist: Beteiligt sind mehrere Bundesministerien und auch Länder und Kommunen: Das Bundesministerium für Verkehr, Bau, und Stadtentwicklung ist zuständig für das Baugesetzbuch, das Bundesumweltministerium für das Immissionsschutzrecht und das Bundesjustizministerium für die Regelungen des zivilen Nachbarschutzrechts. In der Gesetzgebungskompetenz der Länder liegt der Schutz von „verhaltensbezogenem Lärm“. Dazu gehört das Rufen, Toben und laute Lachen der Kinder. Die kommunale Ebene ist für das Bauplanungsrecht zuständig. So wichtig und richtig das Anliegen auch ist: Es darf keinen gut gemeinten Schnellschuss geben, sondern nur eine gut durchdachte Lösung. Dabei sind wir uns sicherlich einig, dass wir mit rechtlichen Regelungen allein das Grundproblem nicht lösen können. Wir müssen neue Wege suchen, wie unsere Gesellschaft kinderfreundlicher werden kann. Doch durch eine Gesetzesänderung können wir als Gesetzgeber ein Signal senden: Eine kinderfreundliche Gesellschaft sind wir nur dann, wenn Kinder überall willkommen sind, wenn sie sich frei entfalten können und ihr Rufen und Lachen nicht als „Lärm“, sondern als „Zukunftsmusik“ gesehen wird. Eine Gesetzesänderung in diesem Sinne bedeutet natürlich keinen Anspruch auf Rücksichtslosigkeit - weder für die Planer von Kinderspielplätzen und von Bolzplätzen noch für die Eltern und Erzieherinnen und Erzieher in der Kita. Es muss gelingen, die berechtigten Wünsche und Bedürfnisse auch der Anlieger und Mitbewohner mit denen der Kinder in Einklang zu bringen. Gegenseitige Rücksichtnahme ist das Gebot allen gemeinschaftlichen Miteinanders, denn Rücksichtnahme ist keine Einbahnstraße. Wir brauchen ein Klima der Toleranz, in dem Jung und Alt, Kinderlose und Familien mit Kindern gemeinsam zusammenleben können. So wie Anwohner und Mitbewohner offenbar wieder neu lernen müssen, Kinder als selbstverständlichen Bestandteil der Lebenswirklichkeit und zugleich die Lebenswirklichkeit von Kindern selbst zu akzeptieren ebenso wie den unveränderlichen Umstand, dass Kinder nun einmal laut sein können, so sollten Eltern und Erzieher das Ruhebedürfnis anderer im Blick behalten und dafür Sorge tragen, dass die Freude über die Nachbarschaft der Kinder erhalten bleibt.

Hans Joachim Hacker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000771, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deutschland soll und will ein familienfreundliches Land sein. Wer ein Herz für Kinder hat, der soll sich an ihnen erfreuen können. Aber leider - nicht jeder denkt so. Wenn Kinder toben, wenn Kinder laut rufen, dann sorgt das gelegentlich auch für Ärger. Nachbarn fühlen sich gestört und erheben Klagen, zum Beispiel gegen Kindertageseinrichtungen. Wenn wir in einem familienfreundlichen Land leben wollen, dann müssen wir auch in diesem Punkt Toleranz üben. Auch wenn mein kleiner Sohn Alexander zu mir ins Büro kommt, tollt er herum. Das ist ganz natürlich, das gehört zum Leben - deshalb würde ich ihn nicht aus dem Büro schicken. Das muss auch für Kindertageseinrichtungen in Wohngebieten gelten. Kinder gehören in unser Leben, Kindereinrichtungen in unser Wohnumfeld. Wiederholt gab es in der Vergangenheit Klagen gegen den Betrieb von Kindereinrichtungen oder gegen erteilte Baugenehmigungen. In einigen Fällen führte dies sogar zu Schließungen von Einrichtungen. Wo sollen unsere Kinder künftig spielen - in Stadtrandgebieten, in besonders ausgewiesenen Zonen? Die Kinder gehören zu uns, und sie gehören damit auch in Wohngebiete. Dass dies Zu Protokoll gegebene Reden auch rechtlich abgesichert ist, wollen wir als SPD-Bundestagsfraktion mit unserem Antrag erreichen. In der vergangenen Legislaturperiode hatte der Bundestag bereits einen entsprechenden Antrag der Großen Koalition beschlossen. Wir haben bewusst noch vor der Sommerpause 2009 in diesem Hohen Hause einen entsprechenden Beschluss gefasst. Dem müssen jetzt konkrete Taten folgen. Kinderlärm darf rechtlich nicht mehr mit hupenden Autos oder dröhnenden Maschinen in Fabriken gleichgesetzt werden. Noch im November letzten Jahres behaupteten hochrangige Koalitionspolitiker unter Bezugnahme auf den Koalitionsvertrag, schon in wenigen Wochen würden gesetzliche Regeln auf den Weg gebracht, die es ermöglichen, die bauplanungsrechtlichen Voraussetzungen für Kindereinrichtungen zu verbessern. Darauf warten wir bis heute - aus Wochen wurden nun schon Monate, bei dem Tempo der Bundesregierung können Jahre vergehen, bis ein Gesetzentwurf vorgelegt wird. Im Januar 2010 fragte ich die Bundesregierung, wann die Koalition beabsichtigt, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Auch hier Fehlanzeige. Statt eines Gesetzentwurfes in wenigen Wochen wird eine Änderung irgendwann in dieser Legislaturperiode in Aussicht gestellt. Ich frage mich, warum seit dem letzten Beschluss des Bundestages zu diesem Thema inzwischen ein Dreivierteljahr nichts getan wurde und wir immer noch auf dem Stand vom Sommer 2009 sind. Wir zeigen der Bundesregierung deshalb mit unserem Antrag einen konkreten Weg auf. Erstens soll das Bundes-Immissionsschutzgesetz ergänzt werden, um klarzustellen, dass Kinderlärm in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung ist. Kinderlärm muss in Wohngebieten toleriert werden. Zweitens wollen wir eine Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch. Auch dort soll festgelegt werden, dass Kinderlärm keine schädliche Umwelteinwirkung darstellt. Und drittens verlangen wir, die Baunutzungsverordnung so zu ändern, dass Kindertageseinrichtungen in Wohngebieten generell für zulässig erklärt werden. In einem weiteren Punkt regen wir an, zu prüfen, wie durch präventiv wirkende Maßnahmen im Bereich der Städteplanung Klagen gegen Kinderlärm vermieden werden können. Wir wollen Kinder und Kindereinrichtungen nicht hinter meterhohen Lärmschutzwänden verstecken oder in Randlagen drängen. Der Gesetzgeber ist gefordert, endlich Klarheit zu schaffen, damit die Vorstellungen von frühzeitiger Förderung der Kinder umgesetzt werden und die natürlichen Lebensäußerungen der Kinder Rechtsschutz bekommen. Dass es gangbare Wege gibt, zeigt das Land Berlin. Hier wurde vor kurzem das Landes-Immissionsschutzgesetz geändert und Kindern ausdrücklich Schutz eingeräumt. Jedoch reichen landesspezifische Regelungen in Teilbereichen nicht. Wir brauchen bundeseinheitliche Normen, damit Rechtsklarheit und Rechtssicherheit geschaffen werden. Der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion unterbreitet dazu konkrete Vorschläge. Wir werden den Antrag im Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und den mitberatenden Ausschüssen debattieren. Ich bitte Sie im Sinne unserer Kinder und im Interesse einer modernen Familienpolitik um Unterstützung und Zustimmung. Es gibt keinen Grund, die Frage weiter aufzuschieben. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam zu einer Lösung kommen und beweisen, dass wir ein Herz für Kinder haben.

Judith Skudelny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004159, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass die SPD nicht nur dem FDP-Parteiprogramm folgen kann, sondern auch Forderungen stellt, die im Koalitionsvertrag bereits vereinbart wurden. Ein wenig traurig stimmt mich dagegen, dass die SPD sich dabei nicht mehr Mühe macht, als den Bundesratsantrag des Landes RheinlandPfalz vom 16. November 2009 zu übernehmen. Morgen, am 5. März, wird der rheinland-pfälzische Antrag im Plenum des Bundesrates abgestimmt. Die zuständigen Ausschüsse haben zum Teil Änderungen empfohlen. Nun zum SPD-Antrag: Erstens. Der Antrag fordert in einer Ergänzung des § 3 Abs. 1 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes die Klarstellung, dass Kinderlärm in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung im Sinne dieses Gesetzes darstellt. Für mich stellt sich jedoch die Frage, ob Kindergeräusche nie und in keinem denkbaren aktuellen und künftigen Fall als Lärm einer Anlage - denn nur für diese gilt das Bundes-Immissionsschutzgesetz - gewertet werden können. Bei genereller und pauschaler Herausnahme wäre eine Abwägung mit anderen Belangen nicht mehr möglich, da die soziale Adäquanz der kindlichen Geräusche die Annahme von Lärm ausschließen würde - eine aus meiner Sicht zu weitreichende Änderung. Zweitens. Der Antrag fordert weiter eine Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch in dem Sinne, dass Kinderlärm keine wesentliche Beeinträchtigung des Eigentums oder der Mietsache mehr ist. Das ist eine sehr umfassende Klarstellung. Die Frage ist: Wollen wir, dass jeglicher Kinderlärm im häuslichen Bereich von Dritten hinzunehmen ist? Damit würde das nächtliche Schreien eines Säuglings dem nächtlichen Lärm eines randalierenden Fünfjährigen gleichgestellt. Auf das Verhalten des Säuglings haben Eltern keinen Einfluss - dieser ist damit automatisch sozial adäquat. Im Falle des Fünfjährigen können die Eltern durch Erziehung darauf hinwirken, dass nächtlicher Lärm vermieden wird. Daher sehe ich Kinderlärm durchaus differenziert. Was wäre denn die Folge einer solch weitreichenden Regelung? Wenn wir Kinderlärm rechtlich unantastbar machen, könnten Nachbarn und andere Anwohner nicht mehr rechtlich gegen diesen vorgehen. Infolgedessen würden Vermieter aus Gründen der Vorsicht nicht mehr oder weniger an Familien vermieten. Der Schutz, den wir eigentlich Familien mit Kindern gewähren wollen, würde sich durch eine solche Regelung ins Gegenteil verkehren. Drittens. Es wird die Änderung der Baunutzungsverordnung - BauNVO - gefordert. Zu Protokoll gegebene Reden Dass Kindergärten in Wohngebiete gehören, ist und war nie strittig. Kommunalpolitiker aller Parteien wissen das seit Jahren. Die FDP hatte diese Forderung in die Koalitionsvereinbarung eingebracht und wird darauf achten, dass das federführende Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung diesen Punkt bei der Änderung der BauNVO zügig umsetzt. Der Antrag enthält hier also keine neuen Erkenntnisse oder gar originelle Forderungen. Natürlich ist es auch unser Anliegen, dass unsere Kinder genügenden Freiraum haben, sich geistig und körperlich optimal zu entwickeln. Man muss einen Ausgleich finden, der allen Interessen im privaten Bereich gerecht wird. Das grundsätzliche Problem in unserer heutigen Gesellschaft ist doch, dass es an ausreichender Akzeptanz und Toleranz für Kinder fehlt. Kinderfreundlichkeit wird zwar gepredigt. Dennoch häufen sich Beschwerden über Kinderlärm. Die heutige Toleranz für Kinder reicht leider nur so weit, wie der Lärm spielender Kinder einen selbst nicht stört. Kinderlärm soll möglich sein, solange er sozialadäquat ist. Die Grenze der sozialen Adäquanz wird aber von Person zu Person anders wahrgenommen. Was der eine erst gar nicht als Störung wahrnimmt, übersteigt beim anderen die Schmerzgrenze. Dies gilt umso mehr, als wir in einer immer älter werdenden Gesellschaft leben. Ältere Menschen haben mehr Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug. Dieser demografische Wandel stellt uns vor neue Herausforderungen. Wir müssen neben den Bedürfnissen der Kinder auch auf die Bedürfnisse der älter werdenden Gesellschaft eingehen. Wir müssen also im Sinne der Generationengerechtigkeit eine Lösung finden. Wir wollen, dass unsere Kinder in einer kinderfreundlichen Gesellschaft aufwachsen. Dabei müssen wir verhindern, dass wir die Ablehnung gegenüber Kindern bestärken. Stattdessen müssen wir vielmehr versuchen, die Gesellschaft zu harmonisieren und damit den Freiraum schaffen, den Kinder für eine gesunde Entwicklung benötigen. Viertens. In diesem Sinne begrüßen wir einen Prüfauftrag, der zum Ziel hat, städtebaulich Konfliktzonen aufzuzeigen. Im Wege sinnvoller Maßnahmen sollten diese Konfliktzonen entschärft werden, damit künftig keine Klagen wegen kindlichen Lärms mehr eingereicht werden. Fakt ist: Wir müssen Kinder schützen. Wir dürfen sie aber nicht über alle anderen Generationen hinweg privilegieren. Denn dadurch würden wir vielmehr eine steigende Ablehnung gegenüber Kindern hervorrufen. Und das will keiner. Deutschland muss insgesamt familienfreundlicher werden. Deswegen ist es uns wichtig, eine bundeseinheitliche Regelung zu treffen.

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich muss gestehen, es fällt mir schwer, über das Lachen und Lärmen spielender Kinder hier so zu befinden wie über das krank machende Getöse einer Stadtautobahn oder den penetranten Gestank einer undichten Kläranlage. Wir reden hier im Deutschen Bundestag über unsere Kinder und Enkel im Zusammenhang mit Bauordnungs- und Immissionsschutzrecht, in Kriterien wie „anlagebezogenem“ oder „verhaltensbezogenem“ Lärm, in technischen Normen und juristischen Kategorien! Da kann ich nur hoffen, dass die das nicht mitbekommen und eines nicht allzu fernen Tages - hier auf unseren Plätzen sitzend - in gleicher Weise, wie wir das jetzt tun, über alte, gebrechliche oder Menschen mit Behinderungen debattieren, feilschen und über sie hinweg entscheiden. Schon aus Selbstschutzgründen bin ich dafür, Kinderrechte lieber jetzt als später in die Verfassung - pardon - ins Grundgesetz zu schreiben. Immerhin ist es ja löblich und durchaus anerkennenswert, dass die Antragsteller nun dem Beispiel der rotroten brandenburgischen Koalition folgen und auch auf Bundesebene längst überfällige Regelungen auf den Weg bringen wollen, die wenigstens die rechtlichen Grundlagen dafür schaffen, dass man Kinder nicht einfach wegklagen kann. Wir unterstützen das ausdrücklich, wollen aber - das werden Sie nicht anders von uns erwarten - an der einen Stelle weniger, dafür an anderer Stelle deutlich mehr. Was wir nicht wollen, ist eine gesetzliche Regelung, die lediglich als Reaktion auf anhängige Gerichtsverfahren zeitweilig eine Lücke schließt und andere, ebenfalls reformbedürftige Gesetzesteile unberücksichtigt lässt, bis neue Klagen wiederum dazu zwingen, neue Anpassungen auf den Weg zu bringen. Was wir deutlich mehr und sehr viel gründlicher wollen, ist eine Novellierung des Bauordnungsund auch des Immissionsschutzrechtes, das den gegenwärtigen und den künftigen Herausforderungen einer menschenfreundlichen Stadtentwicklung nicht hinterherläuft oder sie gar ignoriert und konterkariert, sondern sie aktiv und vorausschauend mitgestaltet. Dazu gehört zum Beispiel, Bauordnungsrecht nicht reaktiv und selektiv - wie im vorliegenden Fall - anzupassen, sondern aus der Prognose der Bedürfnisse künftiger Generationen demokratisch neuzugestalten; absehbare, wissenschaftlich gestützte ökonomische, ökologische und demografische Entwicklungen und Tendenzen zur Grundlage von Gesetzgebungsprozessen zu machen und offensichtliche städtebauliche Missstände und Fehlentwicklungen auch mit Mitteln des Bau- und des Immissionsschutzrechtes beheben zu helfen. Das alles und sicher noch einiges mehr wird notwendig sein, um der voranschreitenden und sich verstetigenden Tendenz der Segregation in unseren Städten entgegenzuwirken, um Integration und Solidarisierung von Kindern und Erwachsenen unterschiedlicher sozialer, ethnischer und religiöser Herkunft und Prägung zu fördern, um den Forderungen und materiellen Voraussetzungen zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden. Wir werden, das sei Ihnen, meine Damen und Herren, versprochen, in diesem Sinne initiativ werden. Fürs Erste allerdings wollen wir uns mit dem, was hier vorliegt, bescheiden und das als einen Schritt in die richtige Richtung - nicht mehr und nicht weniger - unterstützen. Zu Protokoll gegebene Reden

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/881 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit liegen soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dann kommen wir zum Tagesordnungspunkt 19: Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine Verstetigung der Kommunalfinanzen - Die Gewerbesteuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterentwickeln - Drucksache 17/783 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden von den Kolleginnen und Kollegen Antje Tillmann, Bernd Scheelen, Dr. Birgit Reinemund, Katrin Kunert und Britta Haßelmann zu Protokoll gegeben werden.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit, und dazu gehört zu Beginn eine Darstellung der finanziellen Situation von Bund, Ländern und Kommunen. Zu dem vorliegenden Antrag der Fraktion Die Linke möchte ich daher eingangs gerne noch einmal vor Augen führen, wie sich die finanzielle Situation von Bund, Ländern und Kommunen im Augenblick darstellt. Der öffentliche Schuldenstand beläuft sich aktuell auf insgesamt 1,68 Billionen Euro. Hiervon entfallen 62 Prozent auf den Bund. Er ist also bereits mit über 1 000 Milliarden verschuldet. Auf die Länder entfallen 32 Prozent der Schulden und auf die Kommunen 6 Prozent. Der Bund muss alleine in diesem Jahr neue Schulden in Höhe von 85,8 Milliarden Euro aufnehmen. Ich möchte Sie einfach der Fairness halber darauf hinweisen: Dem Bund geht es finanziell sehr viel schlechter als Ländern und Kommunen! In den Jahren 2006 bis 2008 übrigens wuchsen die Einnahmen der Gemeinden aus der Gewerbesteuer steil an, und zwar bis auf 34,3 Milliarden Euro. Für die Kommunen war es das beste Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik. In diesen „guten Jahren“ haben viele Städte und Gemeinden die Gelegenheit genutzt, Schulden abzubauen und Rücklagen zu bilden. Unter der rot-grünen Vorgängerregierung war daran nicht zu denken. Die derzeitige prekäre Situation der Haushaltslage des Bundes, der Länder wie auch der Gemeindefinanzen ist unmittelbar eine Folge der weltweiten Wirtschaftsund Finanzkrise. Der Bund aber trägt die Hauptlasten für alle seit Ausbruch der Krise in Angriff genommenen Programme zur Stützung und Förderung der Konjunktur. In der Großen Koalition haben wir bereits erste Maßnahmen ergriffen, um das Wachstum zu stärken und insbesondere den Kommunen unter die Arme zu greifen. Schon im Rahmen der Unternehmensteuerreform haben wir die Gewerbesteuereinnahmen auf gesündere Beine gestellt, indem wir die Hinzurechnung von Miet- und Pachtzinsen beschlossen und damit eine gleichmäßigere Einnahmensituation hergestellt haben. Mit dem Konjunkturpaket I haben wir strukturschwache Kommunen über KfW-Zinszuschüsse von 300 Millionen Euro unterstützt. Kommunen in besonders schwieriger Haushaltslage wird über den Investitionspakt BundLänder-Gemeinden eine klimagerechte Modernisierung von Gebäuden der sozialen Infrastruktur wie Schulen, Kindergärten und Turnhallen ermöglicht. Hier wurde der Bundesanteil für die Jahre 2009 bis 2011 um jeweils 300 Millionen Euro erhöht. Im Konjunkturpaket II haben wir für zusätzliche Investitionen von Ländern und Gemeinden Bundesmittel in Höhe von 10 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. 65 Prozent davon sind für Investitionen in die Bildungsinfrastruktur reserviert. Hierzu gehören zum Beispiel Investitionen zur energetischen Sanierung von Schulen, Hochschulen sowie kommunalen oder gemeinnützigen Einrichtungen der Weiterbildung, Investitionen in Einrichtungen der frühkindlichen Infrastruktur wie Kindertagesstätten oder in die Forschung. Dies verbessert die Bildungsinfrastruktur vor Ort erheblich und legt den Grundstein für die Wachstumspotenziale von morgen. Diese Aufträge tragen nicht nur zum Erhalt lokaler Arbeitsplätze und zum Gewerbesteueraufkommen bei, sondern führen darüber hinaus in den kommenden Jahren aufgrund niedrigerer Betriebskosten zu Einsparungen in den kommunalen Haushalten. Ebenso werden weitere Investitionen in Krankenhäuser ermöglicht wie auch in moderne Breitbandnetze, um auch ländliche Kommunen an die Kommunikation der Zukunft anzubinden. Der Bund investiert zusätzlich weitere 4 Milliarden Euro in die Infrastruktur wie Bundesverkehrswege und Bauten. Auch hiervon profitieren die Kommunen über eine verbesserte Infrastruktur nachhaltig. Mit den Ländern und Kommunen hat der Bund darüber hinaus ein Gesamtpaket zum bedarfsgerechten Ausbau der Betreuungsinfrastruktur für Kinder unter drei Jahren beschlossen. Ab 2014 sollen bundesweit 750 000 Plätze in der Kindertagesbetreuung zur Verfügung stehen. Dafür stellt der Bund 4 Milliarden Euro bereit. Ab 2014 beteiligt sich der Bund auch weiterhin mit 770 Millionen Euro jährlich an diesen Kosten, die ganz vorrangig kommunale Aufgaben und Kosten wären. Abgesehen von den Bundesverkehrswegen sind dies alles Aufgaben, für die der Bund nach unserem Grundgesetz finanziell nicht zuständig ist, die er aber trotzdem finanziert, weil er die Kommunen um diese Kosten entlasten will. Schon die Eingangsbehauptung zu Ihrem Antrag stimmt einfach nicht: Mit dem Bürgerentlastungsgesetz sowie dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben wir Familien massiv entlastet und dafür gesorgt, dass Arbeitnehmer am Ende des Monats über mehr Netto vom Brutto verfügen können. Vor allem den Mittelstand ha2496 ben wir dadurch entlastet, dass wir die 2008 eingeführten Hinzurechnungen bei Mieten und Pachten von 65 Prozent auf 50 Prozent abgesenkt haben. Diese Senkung führt bei der Gewerbesteuer zu geringfügigen Mindereinnahmen von 0,3 Prozent. Am Ende dieses Prozesses profitieren die Kommunen über einen vermehrten privaten Konsum und unzählige gesicherte Arbeitsplätze und damit ein erhöhtes Gewerbesteueraufkommen beträchtlich. Aber nun im Einzelnen zu Ihrem Antrag: In allen Debatten geißeln Sie uns mit der Behauptung, wir wollten die Gewerbesteuer abschaffen. Das wollen wir aber nur dann, wenn wir gemeinsam mit den Kommunen eine bessere Einnahmequelle, die nicht so konjunkturabhängig wie die Gewerbesteuer ist, finden. Die Linke fordert, die Gewerbesteuer in eine allgemeine Gemeindewirtschaftsteuer umzuwandeln. Nach ihren Plänen sollen der Bemessungsgrundlage alle Schuldzinsen hinzugerechnet werden. Außerdem sollen die Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und Lizenzgebühren in voller Höhe bei der Ermittlung der Steuerbasis berücksichtigt werden. Ich kann Ihnen ganz genau sagen, wohin Ihre Pläne führen würden, werte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion. Sie würden den Mittelstand, der die tragende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft darstellt und ein Garant für stabile Arbeitsplätze ist, mit einer solchen maßlosen Ausweitung der Substanzbesteuerung völlig ausbluten lassen. Ihr Antrag ist ein Schuss vor den Bug des kleinen Einzelhändlers an der Ecke. Die Folge ist eine Verringerung des Gewerbesteueraufkommens aufgrund vermehrter Pleiten - keine Erhöhung! Der Antrag sieht außerdem vor, die Gewerbesteuerumlage an den Bund sofort und an die Länder schrittweise bis 2015 abzuschaffen. Lassen Sie mich vorweg vielleicht noch einmal in Erinnerung rufen, wie es zu einer Gewerbesteuerumlage überhaupt kommen konnte. Die Umlage war Teil der 1970 durchgeführten Gemeindefinanzreform. Zentral war hier die Einrichtung eines Steueraustausches zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Die Gemeinden wurden an dem Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt, Bund und Länder erhielten einen Anteil am Gewerbesteueraufkommen. Dies geschah nicht zuletzt auf Wunsch der Kommunen, weil die Gewerbesteuer Konjunkturschwankungen eher unterliegt als die Einkommensteuer. Ich frage ganz direkt: Warum beantragt die Fraktion Die Linke nicht gleich die Abschaffung dieser Vereinbarung? Aus folgendem Grund: Die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würde zu einer weiteren Verschärfung der bereits bestehenden Ungleichgewichte zwischen den einzelnen kommunalen Verbänden führen. Die Städte Coburg und Frankfurt am Main beispielsweise hatten im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro Einwohner von 2 668 Euro bzw. 2 473 Euro. Weimar und Delmenhorst hatten mit 191 Euro und 192 Euro nicht einmal ein Zehntel dessen zur Verfügung. Eine Abschaffung der Gewerbesteuerumlage würde aber dazu führen, dass Kommunen, die eine geringe Wirtschaftskraft, wie die beiden letztgenannten, besitzen, nicht von der Abschaffung einer solchen Umlage profitieren. Denjenigen Kommunen und Städten, die relativ hohe Gewerbesteuereinnahmen erzielen und entsprechend auch eine höhere Umlage leisten, würden wir bei Abschaffung der Umlage diesen hohen Anteil wieder zurückgeben. Diejenigen, die nur geringe Einnahmen aus der Gewerbesteuer haben, hätten bei Umsetzung Ihres Antrags aber überhaupt keinen Vorteil. Mit anderen Worten: Diejenigen Kommunen, die es am wenigsten nötig haben, würden, wenn es nach der Fraktion Die Linke ginge, am meisten profitieren. Klamme Gemeinden dagegen hätten nichts von dem Vorschlag. Es kommt aber noch Folgendes hinzu: Wenn Sie die Gewerbesteuerumlage an den Bund sofort und an die Länder schrittweise abschaffen wollen, müssen Sie auch erklären, wie Sie dieses Vorhaben gegenfinanzieren wollen. In der heutigen Bereinigungssitzung zum Haushalt 2010 haben Sie ja Gelegenheit, diesen Antrag nachzureichen. Da ist dann erstmals Licht am Ende des Tunnels Ihres Antrags: bei einer Gemeindewirtschaftsteuer. Unserer Verantwortung für unsere Städte und Kommunen sind wir uns absolut bewusst. Genau zu diesem Zweck ist die heute erstmals zusammengetretene Regierungskommission zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung unter der Leitung von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble ins Leben gerufen worden. Wir versuchen stets, einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Bundes wie auch der Kommunen zu finden. Deshalb liegt auch seit Jahren ein Vier-Säulen-Modell zur Neuordnung des Gemeindesteuersystems auf dem Tisch, das bereits 2006 aufkommensneutral hätte eingeführt werden können. Im Rahmen der Debatte sollte zum Beispiel auch die Reform der Grundsteuer auf die Frage hin überprüft werden, ob sie als eine Säule des Ersatzes der Gewerbesteuer in Betracht kommt. All dies werden wir mit den kommunalen Vertretern sehr intensiv besprechen. Es kann aber nicht nur darum gehen, zusätzliche Steuereinnahmen zu generieren und damit Bürgerinnen und Bürger zusätzlich zu belasten, sondern wir werden auch sehr intensiv auf der Ausgabenseite nachprüfen müssen, ob wir alle bisherigen Aufgaben tatsächlich noch brauchen, ob wir über eine Veränderung von Standards ein hohes Niveau halten können und ob es durch Effizienzsteigerungen nicht zu verminderten Ausgaben kommen kann. Darüber hinaus werden wir uns selbstverständlich im Vermittlungsausschuss noch einmal sehr intensiv mit den Kosten der Unterkunft befassen. Dabei dürfen die Kommunen allerdings nicht vergessen, dass sie sich im Jahre 2006 an der Schaffung einer Berechnungsgrundlage, die sich an der Anzahl der Bedarfsgemeinschaften orientiert, beteiligt haben. Keine Lösung ist jedenfalls Ihr Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, in dem Sie fordern, zur Hilfe einer staatlichen Ebene, die finanzielle Sorgen hat, eine andere staatliche Ebene in eine weitere Schuldenaufnahme zu zwingen oder Bürgerinnen und Bürger zusätzlich zu belasten. Es ist nicht zuletzt eine Frage der Generationengerechtigkeit, dass wir Zu Protokoll gegebene Reden die gegen Ihre Stimmen beschlossene Schuldenregelung jetzt auch einhalten. Die Menschen in unserem Land haben ein Recht darauf, dass die heute beginnende Kommission gute Lösungen sowohl für die Kommunen als auch für den Bund findet. Wir sind bereit, diesen Weg mitzugehen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Den Kommunen geht es schlecht. Überall wird vor Ort angesichts der desolaten Finanzsituation über die Schließung von Theatern, Bädern und Stadtteilbibliotheken gesprochen. Aus einem positiven Finanzierungssaldo von 7,6 Milliarden Euro im Jahr 2008 ist ein Minus von 4,5 Milliarden Euro im Jahr 2009 geworden. Im Jahr 2010 rechnen die kommunalen Spitzenverbände mit einer Unterdeckung von 12 Milliarden Euro. Die Löcher in den kommunalen Haushalten vergrößern sich durch Gesetze von Schwarz-Gelb um weitere 2 bis 3 Milliarden Euro. Das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das eher ein Schuldenbeschleunigungsgesetz ist, hat unmittelbare Ausfälle von 1,6 Milliarden Euro zur Folge. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Länder einen Teil ihrer eigenen Steuerausfälle an die Kommunen weiterreichen werden. Seriöse Schätzungen gehen dabei von mindestens einer halben Milliarde Euro aus. Morgen möchte die schwarz-gelbe Koalition ein weiteres „Kommunalbelastungsgesetz“ verabschieden. Es kommt unter dem eher harmlos klingenden Namen „Gesetz zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften“ daher. Doch es enthält von der Koalition nachgeschobene Regelungen zur Funktionsverlagerung und zu Leasing und Factoring, die sich zur Zeitbombe für die Kommunen entwickeln werden. Ausfälle für die Kommunalfinanzen von 650 Millionen Euro müssen bei Regelungen zur Funktionsverlagerung und ein knapp dreistelliger Millionenbetrag bei Leasing und Factoring erwartet werden. Das ist unvertretbar in der aktuellen Situation, in der sich krisen- und konjunkturell bedingt viele Kommunen in finanzieller Schieflage befinden. Die angemessene Reaktion wäre, auf die angesprochenen Gesetze zu verzichten, die Einnahmesituation der Kommunen zu verbessern und über Wege der Entlastung bei den Sozialausgaben, die sich der 40-Milliarden-Euro-Marke annähern, nachzudenken. Dass die heute vom BMF erstmalig eingeladene Gemeindefinanzkommission richtige Antworten liefern wird, darf mit gutem Grund bezweifelt werden. Ziel soll ja offenbar sein, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch untaugliche Instrumente der Gegenfinanzierung zu ersetzen. Die Folgen der angedachten Änderung: weg von der Gewerbesteuer, hin zu Zuschlagsrechten bei Einkommen- und Körperschaftsteuer bedeuten: erlahmendes Interesse der Kommunen an der Ansiedlung von Unternehmen. Wollen wir das? Verlagerung der Steuerbelastung von der Wirtschaft hin zu Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Wollen wir das? Verschärfung der Stadt-Umland-Problematik. Wollen wir das? Nein, das kann niemand ernsthaft wollen, der es gut mit Städten und Gemeinden meint. Umso merkwürdiger mutet an, dass auch die Linke in ihrem Antrag vom „Ersatz der Gewerbesteuer“ spricht. Ersatz ist der falsche Weg. Weiterentwicklung und Stabilisierung der Gewerbesteuer sind der richtige Weg, hin zu dem, was wir im Jahr 2003 als Ergebnis der Gemeindefinanzreformkommission unter Hans Eichel das „Kommunalmodell“ genannt haben. Dazu gehört die Einbeziehung aller Finanzierungsformen in die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer und die Einbeziehung der Freiberufler in die Gewerbesteuerpflicht. Die Umsetzung des Kommunalmodells ist bedauerlicherweise damals am schwarz-gelb dominierten Bundesrat gescheitert. Mit der Unternehmensteuerreform 2008 waren wir auf einem guten Weg. Schwarz-Gelb verlässt jetzt diesen Pfad der Tugend wieder und kehrt zur Einrichtung neuer Steuerschlupflöcher zurück, mit katastrophalen Folgen für die Kommunalhaushalte. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist aber auch in anderen Punkten unklar. Bedeutet die geforderte Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, dass auch auf die Anteile an der Einkommensteuer seitens der Kommunen verzichtet werden soll? Immerhin gewährleistet die Umlage seit 1969, als die Kommunen in Höhe von 15 Prozent am Aufkommen der Einkommensteuer beteiligt wurden, einen gewissen Ausgleich für die Verluste von Bund und Ländern. Hätten Bund und Länder bei Wegfall der Umlage überhaupt noch ein Interesse an der Gewerbesteuer? Die kommunalen Spitzenverbände haben jedenfalls im Gegensatz zur Linken die Gefahr erkannt und plädieren deshalb für eine Absenkung und nicht für die Abschaffung. Der Antrag der Fraktion Die Linke wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet. Er ist unpräzise formuliert und in sich nicht konsistent. Deshalb findet er nicht die Zustimmung der SPD-Fraktion.

Dr. Birgit Reinemund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11004133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Einer Feststellung im Antrag der Fraktion Die Linke kann ich vorbehaltlos zustimmen: Viele Städte, Gemeinden und Landkreise befinden sich in einer dramatischen Haushaltslage. Da haben Sie völlig recht. Nur: Sie ziehen die falschen Schlüsse daraus! In typischer Manier linker Ideologie sehen Sie die einzige Lösung in zusätzlichem Abkassieren von Steuerzahlern - hier Unternehmern und Freiberuflern, indem Sie „einfach“ die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer verbreitern und weitere Berufsgruppen gewerbesteuerpflichtig stellen. Das bedeutet für viele Unternehmen schlicht eine Steuererhöhung - und dies mitten in der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Damit werfen Sie lediglich frisches Geld in ein unzuverlässiges System und entziehen so den Betrieben Kapital, welches diese dringend für Investitionen benötigen, die letztlich auch den Kommunen zugute kämen. Die im Grundgesetz Art. 18 Abs. 2 gesicherte kommunale Selbstverwaltung müssen wir auf eine stabile, verZu Protokoll gegebene Reden lässliche finanzielle Grundlage stellen. In der Krise hat sich erneut gezeigt, dass die extrem konjunkturabhängige Gewerbesteuer dazu nicht geeignet ist. Zur Verdeutlichung: in Deutschland schwankte das Gewerbesteueraufkommen im Zeitraum von 1999 bis 2008 zwischen 27,06 Milliarden Euro und 41,037 Milliarden Euro mit einem Einbruch auf 23,49 Milliarden Euro im Jahr 2002. 2009 erlebten wir einen Konjunktureinbruch von 5 Prozent. Der Deutsche Städtetag schätzt gleichzeitig einen Rückgang bei der Gewerbesteuer 2009 von durchschnittlich 18,3 Prozent brutto, 17,4 Prozent netto, wobei die einzelnen Kommunen sehr unterschiedlich betroffen sind - mit teilweise über 40 Prozent Gewerbesteuermindereinnahmen zum Beispiel in der VW-Stadt Wolfsburg. Diese Zahlen sind eineindeutig, die Schwankungsbreite ist enorm und unkalkulierbar für die Kommunen. Neben den konjunkturbedingten Steuermindereinnahmen ist eine der Hauptursachen für die Finanznot der Kommunen auf der Ausgabenseite zu suchen. In den letzten Jahren wurden ihnen - vor allem unter Rot-Grün zunehmend Aufgaben vom Bund übertragen, ohne ausreichende Kostenübernahme zu gewährleisten. Kosten für die Unterkunft von Hartz-IV-Empfängern, Eingliederungshilfe, Grundsicherung im Alter und das Tagesbetreuungsausbaugesetz verursachen enorme Kosten für die Kommunen. Wir brauchen eine stärkere Berücksichtigung des Konnexitätsprinzips auf der Ausgabenseite, damit wieder gilt: Wer bestellt, bezahlt. Angesichts dieser Tatsache sollten wir uns über eine grundsätzliche Strukturreform der kommunalen Steuereinnahmen Gedanken machen, anstatt ein marodes, labiles System weiter aufzublähen. Das Herumdoktern an einem kranken System bringt den Kommunen keine Linderung. Ich begrüße daher, dass die Gemeindefinanzreform jetzt auf die Tagesordnung gesetzt wird. Das erste Treffen der Kommission aus Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden am heutigen 4. März 2010 ist ein erster wichtiger Schritt. Dabei erwarte ich, dass alle Beteiligten vorurteilsfrei, ergebnisoffen und zielorientiert in die Diskussion eintreten. Ich erinnere daran, dass die FDP seit Jahren fordert, die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen, mit eigenem Hebesatzrecht für die Kommunen. Dieses Hebesatzrecht schafft echten Wettbewerb zwischen den Gemeinden und Transparenz und Entscheidungsfreiheit für Bürgerinnen und Bürger. Es sorgt so für Kostenbewusstsein und eine effiziente Mittelverwendung. Mittels eines Zuschlags auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer werden alle Bürger und Unternehmen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung ihrer Gemeinde beteiligt. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer sind weniger konjunkturabhängig und schwankungsanfällig. So ist die Umsatzsteuer im Gegensatz zu allen anderen Steuerarten selbst im Krisenjahr 2009 sogar leicht gestiegen. Hätten Sie früher auf die FDP gehört, sähe es heute bei den Gemeindefinanzen anders aus. Nicht zu vergessen: Grundlage jeder Steuereinnahme ist wirtschaftlicher Erfolg, sind Arbeitsplätze und Wachstum. Wir haben mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz einen ersten Schritt unternommen, um die Konjunktur zu stärken. Jede verhinderte Insolvenz, jeder erhaltene Arbeitsplatz kommt direkt auch den Kommunen zugute und spült Steuern in die leeren Kassen. Das vergessen unsere Kritiker oft. In diese Richtung muss es weiter gehen. Erwirtschaften statt abkassieren und umverteilen ist die Devise!

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Heute konstituiert sich die Regierungskommission zur Zukunft der Kommunalfinanzen. Damit wird die längst überfällige Diskussion zu den Kommunalfinanzen eröffnet. Die Linke erwartet, dass die Kommission nicht hinter verschlossenen Türen tagt, sondern dass eine breite öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommunalfinanzen zugelassen wird. Alle relevanten Akteure müssen die Möglichkeit haben, ihre Interessen zu artikulieren und sich in den Diskussionsprozess einbringen zu können. Alle Ideen, Vorschläge aus möglichst vielen Kommunen, Verbänden und Gewerkschaften müssen Eingang finden. Denn diese Frage ist für Städte, Gemeinden und Landkreise existenziell. Schließlich steht die Zukunft der Kommunen auf dem Spiel. Existenziell für die Kommunen ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der Verstetigung und Verbreiterung der Gewerbesteuer, mithin ihre Entwicklung hin zu einer Gemeindewirtschaftsteuer. Insofern hat die Linke heute ganz bewusst ihren Antrag eingebracht. Die Haushaltssituation vieler Gemeinden hat sich gerade in jüngster Zeit dermaßen verschlechtert, dass diese vielerorts kaum noch handlungsfähig sind. Für das laufende Jahr rechnet der Deutsche Städtetag mit einem Rekorddefizit in Höhe von insgesamt 12 Milliarden Euro, das nach Schätzungen von Bund, Ländern und Gemeinden bis zum Jahr 2013 auf deutlich über 40 Milliarden Euro ansteigen wird. Unstreitig dürfte sein, dass die Kommunen in der Regel unverschuldet in diese prekäre Lage geraten sind. Die Kommunen vollziehen schon seit Jahren gezwungenermaßen Entscheidungen des Landes-, des Bundesund des europäischen Gesetzgebers, die einerseits zu höheren Ausgaben und andererseits zu sinkenden Einnahmen führen. Fehlentscheidungen der Bundesregierung unter Rot-Schwarz und Schwarz-Gelb haben dazu geführt, dass die Sozialausgaben explodieren. Die Kosten hierfür tragen zu einem großen Teil die Kommunen. Gleichzeitig zieht sich der Bund immer mehr aus der Finanzierung der Sozialleistungen zurück. So hat beispielsweise der Bundestagsbeschluss zur Bundesbeteiligung zu einem Anstieg der bundesweiten kommunalen Belastungen mit Unterkunftskosten in Höhe von 11 Milliarden Euro geführt, was einer Steigerung von 27 Prozent seit Einführung von Hartz IV entspricht. So weit zur Ausgabenseite. Zur Einnahmenseite: Sowohl unter Rot-Schwarz als auch unter Schwarz-Gelb hat die Bundesregierung Gesetzesvorhaben zur Steuerentlastung auf den Weg geZu Protokoll gegebene Reden bracht, die gerade die kommunalen Steuereinnahmen empfindlich treffen. Allein im Zeitraum von November 2008 bis zum Sommer 2009 wurden im Bundestag mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP Gesetze angenommen, die bis zum Jahr 2013 für die Kommunen zu einer Belastung in Höhe von 19 Milliarden Euro führen. Einnahmeausfälle und Ausgabensteigerungen, dieser Spagat ist auf Dauer nicht zu verkraften und es droht bereits jetzt vielen Gemeinden der finanzielle Kollaps. Dieser Entwicklung kann und darf der Gesetzgeber nicht weiter tatenlos zusehen. Die grundgesetzlich garantierte kommunale Selbstverwaltung, die durch verschiedene Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes in ihrem Gehalt immer wieder bekräftigt und erweitert wurde, darf nicht weiter ausgehöhlt werden. Zu den strukturellen Finanzproblemen kommen jetzt als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise noch enorme Einbrüche bei den Einnahmen aus der Gewerbesteuer hinzu. Im Durchschnitt sind diese Einnahmen im Jahr 2009 um 17,4 Prozent zurückgegangen, wobei in vielen Städten deutlich dramatischere Verluste in Höhe von zum Teil mehr als 40 Prozent zu verzeichnen waren. Insgesamt mussten die Kommunen im Jahr 2009 Steuermindereinnahmen in Höhe von 7,1 Milliarden Euro verkraften. Der Rückgang der Gewerbesteuer ist aber für die Linke im Unterschied zur FDP keinesfalls ein Grund, die Abschaffung der Gewerbesteuer zu fordern. Im Gegenteil, unserer Auffassung nach sind die massiven Gewerbesteuereinbrüche darauf zurückzuführen, dass diese Steuer in der Vergangenheit nur unzureichend stabilisiert wurde. Wir möchten in diesem Zusammenhang auch an das von der Bundeskanzlerin im Mai 2009 auf dem Städtetag in Bochum abgegebene Versprechen erinnern, wonach an der Gewerbesteuer nicht gerüttelt werden soll. Wir als Fraktion Die Linke schlagen zur Herbeiführung der notwendigen Verstetigung der Kommunalfinanzen vor, die bestehende Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. So sollen zukünftig alle unternehmerisch Tätigen in die Steuer einbezogen werden. Die Last der bisherigen Gewerbesteuer soll auf mehr „Schultern“ verteilt werden. Zudem soll eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, die auch vom Städtetag sowie vom Städte- und Gemeindebund gefordert wird, dazu beitragen, die derzeitige Einnahmesituation der Gemeinden zu verstetigen, das heißt sie konjunkturunabhängig zu gestalten. Selbstverständlich ist uns klar, dass eine derartige Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen an dieser Stelle für kleinere Unternehmen und Existenzgründer eine unangemessene wirtschaftliche Belastung darstellen kann. Unser Antrag sieht daher entsprechende Freibeträge vor, die im Vergleich zur derzeitigen Rechtslage sogar zu einer Steuererleichterung führen und damit entsprechend mehr Kaufkraft generieren. Zur Schließung von bisher bestehenden Steuerschlupflöchern und zur damit verbundenen Herstellung von mehr Steuergerechtigkeit soll für die von uns vorgeschlagene Gemeindewirtschaftsteuer die Bemessungsgrundlage im Vergleich zur aktuellen Gesetzeslage verbreitert werden, indem alle Schuldzinsen hinzugerechnet und die Finanzierungsanteile von Mieten, Pachten, Leasingraten und die Lizenzgebühren in voller Höhe bei der Ermittlung der Steuerbasis Berücksichtigung finden. Wir möchten mit dieser Maßnahme jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass in Zukunft nicht mehr die Möglichkeit bestehen soll, tatsächliche Verluste steuerlich geltend zu machen. Wir möchten durch eine Pflicht zur zeitnahen Geltendmachung von Gewinnen und Verlusten in der jeweiligen Entstehungsphase sicherstellen, dass vorhandene Gewinne nicht im Nachhinein „kleingerechnet“ werden, und so dieses mögliche Steuerschlupfloch schließen. Im Ergebnis würde auch hierdurch ein Plus an Steuergerechtigkeit geschaffen werden. Gerade in der Krise müssen wir sicherstellen, dass die Gemeinden über die finanziellen Mittel verfügen, die Aufgaben der Daseinsvorsorge für die Bürgerinnen und Bürger in guter Qualität zu erfüllen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Linke schlägt in ihrem Antrag eine Umwandlung der Gewerbesteuer in eine Gemeindewirtschaftsteuer vor. Dabei sollen auch freie Berufe mit in die Gewerbesteuerpflicht einbezogen werden und die gewinnunabhängigen Elemente voll hinzugezogen werden. Dazu kann ich nur sagen: Bravo! Für eine solche Lösung werben wir Grüne schon seit 2003. Wenn heute nur rund ein Drittel aller umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen Gewerbesteuer zahlen, dann ist das nicht gerecht. Leider lassen Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken, zentrale Erkenntnisse der schon im Jahre 2002 eingesetzten Gemeindefinanzkommission unter den Tisch fallen. Wir Grüne wollen in unserem Konzept der „kommunalen Wirtschaftssteuer“ - wie Sie - die gewinnunabhängigen Elemente stärken und die freien Berufe einbeziehen. Wir folgen jedoch dem Vorschlag der Kommission und wollen nicht nur die Steuerlast auf mehrere Schultern verteilen, sondern auch zugleich die Steuern senken. Wir Grüne wollen es auch vermeiden, Unternehmen durch die Einbeziehung gewinnunabhängiger Elemente in der Substanz zu besteuern. Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Fraktion dies im Blick hat. So fehlt in Ihrem Antrag ein zentraler Punkt: Sie müssen Unternehmen die Verrechnung von Verlusten ermöglichen und so die Steuer für wirtschaftlich schwierige Zeiten flexibler gestalten. Außerdem müssen Sie deutlich machen, in welchem Ausmaß Sie Freiberufler und Personenunternehmen mit der Gewerbesteuer belasten wollen. Wir Grüne wollen die volle Anrechnung auf die Einkommensteuer, sodass die freien Berufe unter dem Strich nicht mehr belastet werden, wohl aber ihren Beitrag für die kommunale Infrastruktur leisten müssen, da die Gewerbesteuer in erster Linie den Kommunen zufließt. Leider ist Ihr im Grundsatz richtiger Antrag an den entscheidenden Stellen zu unausgewogen. Zu Protokoll gegebene Reden Während die Linke zu kurz springt, sind die Forderungen von Union und FDP, die Sie in der heute konstituierten Gemeindefinanzkommission prüfen lassen wollen, geradezu abenteuerlich. Ihr Ansatz, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch Umsatzsteueranteile und Hebesätze auf die Einkommensteuer und die Körperschaftsteuer zu ersetzen, ist schon 2003 in der Gemeindefinanzkommission aus guten Gründen verworfen worden. Die Kommunen brauchen jetzt Entscheidungen, die ihre strukturelle Unterfinanzierung durch Bund und Länder substanziell verbessern. Statt Entscheidungen zu treffen, vertagen Sie die Problemlösung in eine Kommission, die schon heute zum Scheitern verurteilt ist. Sie schicken die Kommunen auf die Reservebank, um in aller Seelenruhe weiter Steuersenkungen zu beschließen, die den Kommunen weitere Milliarden an Einnahmen entziehen. Wohin bei Ihnen die Reise geht, haben Sie bereits im Dezember - kurz nach Regierungsantritt - deutlich gemacht: Durch die Kürzung des Bundesanteils an den Kosten der Unterkunft für ALG-II-Beziehende und das Wachstumsbeschleunigungsgesetz haben Sie den Kommunen mal eben 3,5 Milliarden Euro entzogen. Es macht mich sprachlos, wenn Sie, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union und der FDP, bereits in der morgigen Sitzung des Bundestages einen Beschluss zur Unternehmensbesteuerung auf den Weg bringen wollen, der den Kommunen weitere 650 Millionen Euro jährlich entzieht. Das ist schon verwegen, einen Tag nach der konstituierenden Sitzung der Gemeindefinanzkommission, unverdrossen weiter den Kommunen das Wasser abzugraben. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, seien Sie ehrlich: Verraten Sie den Bürgerinnen und Bürgern, wer künftig die 35 Milliarden Euro für die Gewerbesteuer aufbringen muss. Treffen wird es vor allem die Bürgerinnen und Bürger in den Städten über erhöhte Einkommensteuersätze oder sogar die Verbraucherinnen und Verbraucher über höhere Umsatzsteuerpunkte. Seien Sie ehrlich und legen Sie offen, was es bedeutet, die Gewerbesteuer abzuschaffen! Nur für die Unternehmen gehen Sie mit den Steuern runter. Für die Bürgerinnen und Bürger gehen die Steuern rauf. Das ist Ihre Botschaft nach fünf Monaten schwarz-gelbem Regierungschaos.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/783 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch damit sind Sie einverstanden, wie ich sehe. - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen, dass Sie so lange ausgehalten haben, und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 5. März 2010, 9 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und schließe die Sitzung.