Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Wir haben gestern zwischen den Fraktionen verabredet, dass heute zuerst der Tagesordnungspunkt 32 aufgerufen wird:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung
- Drucksache 17/12637 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13951 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzMarianne Schieder ({1})Judith SkudelnyHalina WawzyniakIngrid Hönlinger
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD und ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Über den Änderungsantrag werden wir namentlich abstimmen.
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu diesem Tagesordnungspunkt zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Sitzung und gebe das Wort dem Kollegen Dr. Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich möchte mit den Worten einleiten, dass die
FDP seit jeher für einen angemessenen Ausgleich zwischen Verbraucherschutz und fairem Wettbewerb steht.
Der heute zur Debatte stehende Gesetzentwurf zur Umsetzung der EU-Verbraucherrechterichtlinie ist ein gutes
Beispiel für genau diesen Mittelweg. Ich trage Ihnen
auch einige Gedanken meiner Kollegin Judith Skudelny
vor, die sich in diesem Bereich erheblich eingebracht hat
und heute leider nicht hier sein kann.
In den letzten Jahren hat der grenzüberschreitende
Handel gerade im Internet zugenommen. Wir alle kennen das: Wir freuen uns darüber, im Internet Waren kaufen zu können, schrecken aber manchmal davor zurück,
wenn das auf europäischer Ebene geschieht. Wir wissen,
dass im Internet jedes Jahr Waren im Wert von 30 Milliarden Euro bestellt werden und dieser Bereich starke
Zuwächse erfährt.
Problematisch wird es erst, wenn nach dieser schönen
Bestellung festgestellt wird, dass es Probleme gibt, dass
nämlich die Rückgabe oder andere Dinge kompliziert
sind. Genau um diesem Problem zu begegnen, wurde
nun auf europäischer Ebene die Verbraucherrechterichtlinie erlassen, die mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
in deutsches Recht umgesetzt wird.
Ich möchte noch einmal betonen, dass die Richtlinie
dem Prinzip der Vollharmonisierung folgt. Also: Die
Mitgliedstaaten müssen genau diese Regelungen erlassen. Die Vorgabe wird von der Regierungskoalition nun
auch umgesetzt.
Es werden zusätzliche verbraucherschützende Regelungen geschaffen, die allen Verbrauchern europaweit einheitliche Rechte garantieren. Wer also künftig über das Internet in einem EU-Mitgliedstaat etwas bestellt, muss sich
nicht mehr mit den komplizierten einzelstaatlichen gesetzlichen Regelungen auseinandersetzen. Es gilt überall der
gleiche Verbraucherrechtsschutz; das Niveau ist überall
gleich. Ich glaube, das ist ein sehr guter Erfolg.
Von dieser Vereinheitlichung des Schutzes wird der
grenzüberschreitende Handel entscheidend profitieren;
denn Unternehmen können nun auch ohne Rechtsberatung, mit der ja hohe Kosten verbunden sind, europaweit
tätig werden. Das freut mich vor allem, weil das kleinen
Unternehmen den Markt erst richtig öffnet.
({0})
Die Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs
bietet somit nur Vorteile für alle Beteiligten. Bei seiner
konkreten Ausgestaltung haben wir noch einige Punkte
mit minimalem Änderungsbedarf erkannt und ihn entsprechend verbessert.
Künftig gelten bei Einkäufen, die außerhalb von
Geschäftsräumen oder im Fernabsatz getätigt werden,
europaweit die gleichen Informationspflichten und Widerrufsrechte. Wer also in Onlineshops in anderen europäischen Staaten einkauft, genießt die gleichen rechtlichen Regelungen bezüglich der Informationen und
Rückgaberechte wie bei deutschen Internetshops.
Daneben wird die Frist, innerhalb derer im Fernabsatz
oder an der Haustür geschlossene Verträge ohne Angabe
von Gründen widerrufen werden können, europaweit auf
14 Tage vereinheitlicht; bisher galt bekanntlich nur eine
Mindestfrist von 7 Tagen.
Künftig wird es bei unterlassener oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung kein ewiges Widerrufsrecht mehr geben, sondern dieses Recht erlischt nach
einem Jahr und 14 Tagen. Auch durch diese Regelung
haben kleine Unternehmen deutlich mehr Rechts- und
Planungssicherheit, da damit Widerrufsbegehren, deren
Anlass schon Jahre zurückliegt, ausgeschlossen werden
können. Ich finde, auch das ist ein sehr guter Ansatz dieses Gesetzes.
({1})
Wir haben weitere Erleichterungen für Unternehmen
geschaffen, eine Musterwiderrufsbelehrung. Da es gerade für kleine Unternehmen schwierig sein kann, eine
korrekte einheitliche Widerrufsbelehrung zu erstellen,
profitieren von dieser Vereinfachung sowohl die Unternehmen als auch die Verbraucher. Wir haben hier also
eine gute Balance gefunden.
({2})
Ein weiterer Punkt, bei dem die FDP unnötige Bürokratie vermeiden konnte - Sie wissen, das ist ein wichtiges Anliegen unserer Partei -, sind die Ausnahmen von
den umfangreichen Informationspflichten bei Geschäften des täglichen Lebens wie der Lieferung von Lebensmitteln. Bei diesen Geschäften ständen die Informationspflichten in keinem Verhältnis zu dem Wert des
Geschäfts.
Für Pauschalreiseverträge, die auf Kaffeefahrten abgeschlossen werden, besteht auch künftig ein Widerrufsrecht. Dieses Recht gilt allerdings nicht für Verträge, bei
denen sich der Verbraucher einen Unternehmer zur Vertragsschließung nach Hause bestellt hat, da hier das Argument des Überrumpelns, also der Schutz des Verbrauchers, nicht mehr greifen kann.
Ich möchte noch kurz auf die Änderungs- bzw. Entschließungsanträge der Oppositionsfraktionen eingehen.
Liebe Kollegen von der SPD, inhaltlich werde ich auf
Ihren Änderungsantrag nicht eingehen. Aber nach all
den Debatten der letzten Wochen zu bezahlbaren Mieten
und Mietpreisen in Deutschland finde ich es gut, dass
Sie nun auch versuchen, dieses Thema im vorliegenden
Gesetz zu verankern.
({3})
Da wir hier aber über eine europarechtliche Vereinheitlichung der Informationspflichten für Unternehmer und
der Widerrufsrechte für Verbraucher diskutieren, ist das
Thema sicherlich an anderer Stelle besser aufgehoben.
Man merkt auch, Sie wissen das selbst sehr gut.
An die Adresse der Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen möchte ich noch sagen: Es ist schön, dass Sie in
Ihrem Entschließungsantrag fordern, in kaufrechtlichen
Gewährleistungsrechten umfassende Regelungen vorzusehen, die den Interessen der kleinen und mittelständischen Unternehmen bei der Übernahme von Kosten für
den Ein- und Ausbau einer mangelhaften Sache Rechnung tragen. Aber wenn das so einfach zu regeln wäre,
hätten Sie uns doch mit Sicherheit heute schon einen fertigen Gesetzentwurf vorgelegt, wie Sie das sonst auch
tun. So einfach, wie Sie es sich machen, ist es leider
nicht.
({4})
Wir müssen Ihre Anträge ablehnen.
({5})
Abschließend ist zu sagen, dass das vorliegende Gesetz eine gute und konstruktive Umsetzung der Richtlinie der europarechtlichen Ebene ist. Wir erhalten nicht
nur das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau, sondern vereinheitlichen es auch auf europäischer Ebene.
Die erwähnten Nachbesserungen beraten wir nun abschließend und haben dann ein Gesetz, von dem der europäische Verbraucher entscheidend profitieren wird.
Die angesprochenen Vorteile, die sich für den grenzüberschreitenden Handel ergeben, führen dazu, dass sich insgesamt eine gute Situation für alle ergibt. Die Unternehmen, gerade kleine Unternehmen, haben neue Chancen,
und der Verbraucher ist geschützt. Das ist eine gute Balance. Ich glaube, damit gehen wir einen richtigen und
guten Schritt.
Vielen Dank.
({6})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Marianne
Schieder das Wort.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute abschließend über ein für die
Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land
sehr wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, nämlich über
die Umsetzung der EU-Verbraucherrechterichtlinie.
Marianne Schieder ({0})
Sehr erfreulich ist - das möchte ich ausdrücklich betonen -, dass es gelungen ist, mit der sehr wünschenswerten und notwendigen Vollharmonisierung im Bereich
des Verbraucherschutzes das hohe Niveau des deutschen
Verbraucherschutzes zu erhalten. Dies wurde uns auch
von den Experten und Expertinnen in der Anhörung vor
dem Rechtsausschuss bestätigt.
Verbraucherinnen und Verbraucher sollen beim Erwerb von Waren oder Dienstleistungen europaweit einheitliche Rechte erhalten, europaweit können einheitliche Muster für Widerrufsbelehrungen genutzt werden,
und die Informationspflichten sind vollständig harmonisiert. Das ist sehr gut für die Kundinnen und Kunden.
Auch dass Verbraucherverträge, die im Fernabsatz oder
an der Haustür geschlossen wurden, künftig europaweit
ohne Angabe von Gründen innerhalb von 14 Tagen widerrufen werden können, ist sehr begrüßenswert.
Sehr schade aber finde ich es, dass es der Bundesregierung bei ihren Verhandlungen auf europäischer
Ebene nicht gelungen ist, unser „ewiges“ Widerrufsrecht
zu erhalten. Jetzt ist es zu spät. Wir müssen die Vorgaben
der Richtlinie umsetzen, Ausnahmen sind nicht gestattet.
Das bedeutet, dass das Widerrufsrecht bei unterbliebener
oder nicht ordnungsgemäßer Belehrung künftig schon
nach 12 Monaten und 14 Tagen erlischt.
({1})
- Ja freilich stimmt das. - Der Gesetzentwurf enthält
zahlreiche gute Ansätze, aber man könnte ihn noch besser machen.
({2})
Einige Vorschläge der Sachverständigen haben Sie aufgegriffen, und auch die Anregungen des Bundesrates haben Sie berücksichtigt. Nachzulesen ist das alles in einem Änderungsantrag von circa 120 Seiten, den Sie uns
immerhin schon 36 Stunden vor der Abstimmung im
Rechtsausschuss haben zukommen lassen. Ich begrüße
es sehr, dass damit das Widerrufsrecht jetzt doch für
Pauschalreisen gilt, die auf sogenannten Kaffeefahrten
gebucht werden.
Was man aber noch besser hätte machen können, hatten Sie in Ihrem Referentenentwurf schon dargelegt,
jetzt aber wieder herausgenommen und aus den Augen
verloren. Sie hätten schon noch einmal intensiv über
eine Anpassung der Regelungen zur Nacherfüllung im
Verbrauchsgüterkaufrecht nachdenken sollen; denn diese
Regelung genügt den verbraucherschützenden Vorgaben
der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nicht vollständig.
In diesem Zusammenhang sollte im Rahmen der nach
den Vorgaben des EuGH erforderlichen Neuregelung des
§ 439 BGB wirklich geprüft werden, ob diese Vorschrift
nicht uneingeschränkt gelten kann, also nicht nur für
Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern auch für
Unternehmerinnen und Unternehmer. Das wäre nämlich
wirklich eine sinnvolle Neuregelung, die vor allen Dingen unseren kleineren und mittleren Unternehmen sehr
helfen würde.
({3})
Abschließend möchte ich noch ganz kurz auf unseren
wirklich sehr guten Änderungsantrag eingehen. Herr
Kollege Ruppert, Sie müssen irgendetwas verwechselt
haben; denn Sie laufen uns hinterher und nicht wir Ihnen.
({4})
Dass die Verbraucherinnen und Verbraucher vor überteuerten Mieten geschützt werden müssen, haben inzwischen alle erkannt, selbst die Union und, wie ich hoffe,
auch die FDP. Die Bundeskanzlerin hat dies vor kurzer
Zeit auf dem Verbrauchertag erst selbst gefordert. Sie hat
damit eingestanden, dass wir Sozialdemokraten mit unserer Forderung nach einer Deckelung von exzessiv steigenden Mieten recht haben, dass wir uns damit auf dem
richtigen Weg befinden. Sie will das Ganze ja übernehmen.
Ich fordere Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, vor
allen Dingen von Union und FDP, auf:
({5})
Stimmen Sie heute unserem Änderungsantrag zu, und
schaffen Sie wirklichen Verbraucherschutz für die Menschen in diesem Land!
Herzlichen Dank.
({6})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Marco Wanderwitz.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern
auch kleine und mittlere Unternehmen begegnen dem
grenzüberschreitenden Warenverkehr, speziell im Internet, häufig mit einer gewissen Skepsis: Man hat es mit
anderen Sprachen zu tun. Vor allen Dingen hat man es
mit unterschiedlichen nationalen Rechtssystemen der
Beteiligten zu tun.
Die EU-Verbraucherrechterichtlinie, deren nationale
Umsetzung in ein deutsches Gesetz wir heute hier beschließen, wird das Vertrauen in den europäischen Binnenmarkt an dieser Stelle entscheidend stärken. Durch
die Vereinheitlichung der Rechte in den Mitgliedstaaten
schaffen wir einen rechtssicheren Raum, der Voraussetzung für das Funktionieren des europäischen Binnenmarktes ist. Geregelt werden dabei Bereiche mit einem
europäischen Mehrwert, also insbesondere der Erwerb
von Waren und Dienstleistungen im Fernabsatz und außerhalb von Geschäftsräumen. Hier gibt es klare grenzüberschreitende Bezüge, die eine europäische Regelung
sinnvoll machen.
Auf Drängen der Bundesregierung in Brüssel wurde
eine Regelung gegen Kostenfallen im elektronischen
Geschäftsverkehr in die im Dezember in Kraft getretene
Verbraucherrechterichtlinie aufgenommen. Nach der sogenannten Schaltflächenlösung kommt ein im Internet
geschlossener Vertrag nur dann zustande - darüber haben wir hier im Haus schon intensiv debattiert -, wenn
dem Verbraucher alle wesentlichen Informationen verständlich zur Verfügung gestellt werden, bevor er einen
unmissverständlich als zahlungspflichtige Bestellung
ausgewiesenen Button, eine Schaltfläche, anklickt.
Aufgrund des dringenden Handlungsbedarfs, weil es
an dieser Stelle so viel Missbrauch gab, haben wir diese
Regelung auch bereits im August vergangenen Jahres,
also vorauseilend und vorzeitig, in nationales Recht umgesetzt. Bereits vier Wochen nach dem Inkrafttreten hat
der Verbraucherzentrale Bundesverband der neuen Regelung eine große Wirkkraft attestiert. Von 109 überprüften Internetseiten, die in der Vergangenheit den Verbraucherinnen und Verbrauchern wegen verschleierter
Preisangaben viel Ärger bereitet haben, waren laut vzbv
92 Prozent nicht mehr aufrufbar, oder eine Anmeldung
war nicht mehr möglich. Das ist ein erfreuliches Zeichen
und bestätigt die Wirksamkeit unserer gesetzgeberischen
Lösungen an diesem Punkt.
({0})
Mit den weiteren heute zu beschließenden Regelungen geben wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern
im Hinblick auf Informationen, Lieferbedingungen und
Widerrufsrecht zusätzliche Rechte in die Hand. Insbesondere bei Einkäufen in Internetshops im EU-Ausland
gelten künftig grundsätzlich dieselben Informations- und
Widerrufsrechte wie bei Einkäufen in deutschen Internetshops. Das gilt natürlich, wenn es die anderen EULänder umsetzen, jeweils auch für die Bürger dieser
Länder.
Die Frist, innerhalb derer Verbraucher im Fernabsatz
oder an der Haustür geschlossene Verträge ohne Angabe
von Gründen widerrufen können, wird europaweit einheitlich auf 14 Tage festgelegt. Bisher war eine Schutzfrist von 7 Tagen vorgesehen, und die allermeisten EULänder haben sich auch nur an diese Frist gehalten. Das
ist also ein deutliches Mehr an Verbraucherschutz.
Das bislang - Kollegin Schieder hat es angesprochen unbegrenzte Widerrufsrecht bei unterlassener oder nicht
ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung erlischt künftig
nach einem Jahr und 14 Tagen. Diese etwas atypische
Frist ergibt sich dadurch, dass man die Jahresfrist nach
Ablauf der 14 Tage beginnen lässt. Dieser Punkt kommt
im Ergebnis sowohl den Unternehmen als auch den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugute, weil Rechtssicherheit geschaffen wird. Missbrauch, den es an dieser
Stelle bisher gibt, ist künftig ausgeschlossen. Man kann
also künftig nicht mehr nach Jahren mit Hinweis darauf,
dass eine Belehrung unterblieben ist, die Rückabwicklung eines Kaufes fordern. Die dadurch entstehenden
Kosten würden letztlich auf alle anderen Verbraucherinnen und Verbraucher umgelegt.
Um eine rechtssichere Widerrufsbelehrung zu ermöglichen, haben wir Musterwiderrufsbelehrungen in unseren Gesetzentwurf integriert, wie wir das auch schon an
anderen Stellen im BGB getan haben. Das machen wir
verstärkt, um unmittelbar mit dem Gesetz Rechtssicherheit zu bieten, statt es der Rechtsprechung zu überlassen,
das entsprechend auszuformulieren.
Ferner werden künftig die Informationen vereinheitlicht, die ein Unternehmer dem Verbraucher vor Abschluss eines Fernabsatzvertrages oder Haustürgeschäftes unaufgefordert zur Verfügung zu stellen hat. Sie sind
in Papierform oder auf einem anderen dauerhaften Datenträger zu geben oder bei Fernabsatzverträgen entsprechend nach Vertragsabschluss zu bestätigen. Wir haben
dabei eine Bagatellklausel eingeführt: Bei sofort durchgeführten Reparaturen oder Wartungsarbeiten, sofern der
Besuch bestellt war - wenn beispielsweise ein Haushaltsgerät kaputt gegangen ist -, haben wir die Anforderungen an die Informationspflichten erleichtert. Ich
denke, das ist sachgerecht.
Ebenfalls ein wichtiger Punkt - ich glaube, einer der
wichtigsten dieses Gesetzentwurfs -: Wenn ein Unternehmer im Internet Voreinstellungen wählt, die der Verbraucher erst ablehnen muss, um eine Vereinbarung über
Zusatzleistungen zu vermeiden, wenn beispielsweise ein
Kästchen vorangekreuzt ist, mit dem man bei Buchung
einer Reiseleistung gleichzeitig eine Reisekostenrücktrittsversicherung erwirbt - diese Regelung ist künftig
unzulässig. Wenn ein Kästchen vorangekreuzt ist, ist der
Vertrag an dieser Stelle unwirksam. Künftig muss ein
Kästchen aktiv angekreuzt werden. Ich glaube, das ist
ein weiterer wichtiger Punkt für mehr Verbraucherschutz
im Internet.
Die Verbraucherrechterichtlinie folgt dem Prinzip der
umfassenden Vollharmonisierung. Das heißt, es gibt wenig Abweichungsmöglichkeiten. Wir haben künftig einen möglichst einheitlichen rechtlichen Rahmen in Europa. Gleichwohl konnten wir einige Öffnungsklauseln
vorab in Brüssel durchsetzen, die insofern wichtig sind,
als dass die Richtlinie in einigen Punkten unterhalb unseres hohen deutschen Verbraucherschutzrechtsniveaus
liegt. Wir können jetzt durch die Öffnungsklauseln, die
wir in einigen Punkten aufgenommen haben, über die
vollharmonisierte Richtlinie hinausgehen, sodass es in
keinem Punkt zu einem Schleifen hoher deutscher Verbraucherschutzstandards kommt.
Ein kleiner Teil dieses Gesetzentwurfs befasst sich in
der Tat - möglicherweise ist das der Punkt, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, an dem Sie Ihren Änderungsantrag andocken - mit Mieten. Wir haben im Zuge
dieses Vorhabens eine Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vorgenommen. Der
Übergang der Gesetzgebungskompetenz für die soziale
Wohnraumförderung auf die Länder machte eine Klarstellung, sozusagen eine redaktionelle Gesetzgebung,
nötig, dass künftig einem Wohnungsvermittler auch gegen den Mieter einer durch Landesrecht aus öffentlichen
Haushalten geförderten Wohnung kein Anspruch auf
Zahlung eines Vermittlungshonorars zusteht. Wie geMarco Wanderwitz
sagt, im Grunde genommen handelt es sich um eine redaktionelle Gesetzgebung.
({1})
Weder in der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs
hier im Haus noch im gesamten parlamentarischen Verfahren, insbesondere nicht in der Anhörung, die wir
durchgeführt haben, hat das von Ihnen nun auf den letzten Metern des Gesetzgebungsverfahrens eingeführte
Thema irgendeine Rolle gespielt.
({2})
Heute steht der Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie auf der Tagesordnung. Das Thema, dem sich Ihr Änderungsantrag widmet, ist in der Tat ein wichtiges rechtspolitisches und
gesellschaftspolitisches Thema, allerdings ungeeignet
für parlamentarische Schnellschüsse.
({3})
Es bedarf intensiver Abwägungen der Eigentümer- und
Mieterrechte und auch der Auswirkungen auf den Wohnungsbau.
({4})
Ihr heutiges Vorgehen ist auf die schnelle populistische Schlagzeile ausgerichtet. Es ist ein schlichtweg unparlamentarisches Verhalten. Wenn wir in letzter Minute
irgendetwas in einem Gesetzentwurf nachschieben wollen, ist das genau der Punkt, den Sie kritisieren. Wir
bringen heute ein für die Verbraucherinnen und Verbraucher gutes Gesetz auf den Weg. Ich finde es sehr bedauerlich, dass Sie mit Ihrem Verhalten diesem Gesetz nicht
den nötigen Rahmen geben; vielmehr versuchen Sie im
Grunde genommen, es zu diskreditieren. Das finde ich
sehr bedauerlich.
({5})
Wir werden das von Ihnen eingebrachte Thema natürlich
debattieren; wir werden aber keine Schnellschüsse produzieren.
({6})
Jetzt hat die Kollegin Karin Binder das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Mit der Umsetzung der
Richtlinie für einen besseren Verbraucherschutz bleibt
die Bundesregierung deutlich hinter ihren Möglichkeiten
zurück. Einige Chancen wurden genutzt, viele andere
leider vertan. Ihre Art der Umsetzung dieser EU-Richtlinie ist symptomatisch dafür, wie die Bundesregierung
mit dem Thema Verbraucherschutz umgeht: halbherzig
und ohne großes Interesse an den Belangen der Verbraucher.
({0})
Positiv zu vermerken ist: Die Widerrufsfrist bei Verträgen, die im Fernabsatz oder an der Haustür geschlossen werden, wurde von 7 auf 14 Tage erhöht. Auch einige Informationsrechte für Verbraucherinnen und
Verbraucher wurden verbessert. Auch nichtentgeltliche
Verträge, wie sie beispielsweise beim Handel von Daten
entstehen können, werden von diesem Gesetz erfasst.
Das sind alles kleine Schritte in die richtige Richtung.
Negativ zu verbuchen ist: In vielen Bereichen klaffen
Lücken, vor allem beim Mietrecht. Sie hätten die Umsetzung dieser Richtlinie nutzen können, um endlich mehr
für die Rechte von Mieterinnen und Mietern zu tun.
({1})
Hier hätten Sie ein ganzes Paket schnüren können. Der
Mietwohnungsmarkt erfährt derzeit einen rasanten Wandel. Ganze Stadtteile werden verändert, weil Menschen
nach Luxussanierungen und Mieterhöhungen aus ihren
Wohnungen vertrieben werden. Hier hätte die Regierungskoalition die Möglichkeit gehabt, die steigenden
Mieten zu deckeln und Mieterhöhungen bei Neuvermietungen auszuschließen.
({2})
Maklerprovisionen sollten grundsätzlich vom Auftraggeber und nicht vom Mieter bezahlt werden müssen.
({3})
All das haben Sie aber nicht geregelt.
Auch an anderen Stellen hat Ihr Gesetz Defizite. Das
Widerrufsrecht ist eine Aneinanderreihung von Ausnahmen, unter anderem bei Finanzdienstleistungen, Bauverträgen und auch der Lieferung von Lebensmitteln. Ähnlich ist es bei den Informationspflichten, zum Beispiel
bei den Personenbeförderungsverträgen wie auch bei
Warenautomaten. Auch dort haben Sie leider nicht nachgebessert. Unlautere Telefonwerbung dämmen Sie ebenfalls nicht ein. Außerdem kritisieren wir, dass bei telefonisch abgeschlossenen Verträgen - mit Ausnahme von
Gewinnspielen - immer noch keine bestätigende Unter31696
schrift geleistet werden muss, um den Vertrag in Kraft zu
setzen. Mit der sogenannten Bestätigungslösung hätte
man unseriösen Anbietern endlich das Handwerk legen
können. Warum die Firmen die Kunden nur bei Gewinnspielen nicht mehr übers Ohr hauen dürfen, erschließt
sich mir nicht.
({4})
In Art. 23 der Verbraucherrechterichtlinie der Europäischen Union heißt es - ich zitiere -:
Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, mit denen die Einhaltung dieser Richtlinie sichergestellt
wird.
Wie rechtfertigen Sie vor diesem Hintergrund die gnadenlose Unterfinanzierung der Verbraucherarbeit in
Deutschland? Diese Defizite mit Ihrem Gesetz auszugleichen, war nie Ihre Absicht. Und das werden Sie wohl
auch in dieser Legislaturperiode nicht mehr tun.
Des Weiteren kritisieren wir, dass Sie die Beweislastumkehr bei der Reklamation von höherwertigen Produkten nicht verbessert haben, obwohl auch dies möglich
gewesen wäre. Wieder einmal macht die Regierungskoalition nur einen halben Schritt bei verbraucherpolitischen Umsetzungen von EU-Recht. Das Gesetz ist alles
andere als ein großer Wurf für Verbraucherinnen und
Verbraucher.
({5})
Daran haben wir uns in dieser Legislaturperiode schon
fast gewöhnt; aber wir werden uns nicht damit zufriedengeben. Die Fraktion der Linken wird sich deshalb bei
Ihrem Gesetzentwurf enthalten.
({6})
Ingrid Hönlinger hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute debattieren wir über zwei Themen, die viele Menschen betreffen: das Verbraucherschutzrecht und das
Mietrecht. Das Verbraucherschutzrecht haben wir hier
im Bundestag im Jahr 2002 umfassend reformiert. Heute
entwickeln wir die Verbraucherrechte weiter. Es geht
konkret um das Widerrufsrecht für Haustürverträge und
Fernabsatzverträge. Fernabsatzgeschäfte werden zum
Beispiel per Telefon oder im Internet getätigt.
Bei genauer Betrachtung stellen wir fest, dass diese
Bundesregierung leider nur das umsetzt, was Brüssel
zwingend vorschreibt. Sie hat offensichtlich nicht den
Mut und auch nicht den Willen, die vorhandenen Spielräume zu nutzen, die die Richtlinie für einen umfassenden Verbraucherschutz eröffnet hat.
({0})
Es fehlt noch an mehr. Die EU-Richtlinie fordert für
Verstöße gegen Verbraucherschutzvorschriften Sanktionen, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend
sind.
({1})
Hier hat der Gesetzentwurf der Bundesregierung gar
nichts zu bieten. Da muss nachgebessert werden. Die
besten Verbraucherschutzrechte bringen nichts, wenn
Verstöße folgenlos bleiben.
({2})
Das Widerrufsrecht kann aber ohnehin nur ein Baustein im Gefüge der Verbraucherschutzrechte sein. Viel
bedeutender sind für die Verbraucherinnen und Verbraucher weitere Rechte, wie zum Beispiel ihre Gewährleistungsrechte.
Werfen wir einmal einen Blick auf die alltägliche
Praxis: Ein Verbraucher kauft eine Kaffeemaschine. Für
dieses Produkt hat er zwei Jahre lang Gewährleistungsrechte. Tritt nun innerhalb dieser zwei Jahre ein Mangel
an der Kaffeemaschine auf, kann der Verbraucher von
seinem Verkäufer die Reparatur oder den Austausch des
mangelhaften Produkts verlangen. Das Problem an der
Sache ist: Die sogenannte Beweislastumkehr zugunsten
des Verbrauchers gilt nur sechs Monate lang. Während
dieser Zeit muss der Verkäufer beweisen, dass er dem
Verbraucher eine mangelfreie Kaffeemaschine geliefert
hat. Nach Ablauf der sechs Monate muss hingegen der
Verbraucher beweisen, dass die Kaffeemaschine schon
kaputt war, als er sie erworben hat. Wie soll der Verbraucher das beweisen? Das ist den meisten Verbrauchern in
der Praxis nicht möglich.
({3})
Damit laufen die Gewährleistungsrechte innerhalb der
letzten anderthalb Jahre faktisch ins Leere. Wir müssen
sicherstellen, dass Verbraucher ihre volle Gewährleistungsfrist ausschöpfen können, indem wir die Beweislastumkehr zugunsten des Verbrauchers auf zwei Jahre
verlängern. Verbraucherschutz darf nicht eine leere Vokabel sein; Verbraucherschutz, meine Damen und Herren, muss den Alltagstest bestehen.
({4})
Nun hat die SPD einen Änderungsantrag zum Mietrecht eingebracht, zu Recht,
({5})
denn die Mieten schnellen überall in die Höhe. Bezahlbarer Wohnraum wird in Ballungsgebieten immer knapper. Mietpreissteigerungen von über 7 Prozent wurden
2011 in Großstädten wie Berlin und Hamburg verzeichnet; in der Studentenstadt Greifswald waren es sogar
mehr als 10 Prozent.
Die Mietpreissteigerungen treffen vor allem einkommensschwache Haushalte. Familien müssen 30 oder
40 Prozent - manchmal sogar mehr - ihres Einkommens
für die Miete ausgeben. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. Hier müssen wir endlich gesetzlich eingreifen,
meine Damen und Herren.
({6})
Wir Grünen fordern seit drei Jahren, dass Mietobergrenzen bei der Wiedervermietung von Wohnungen in
Gebieten mit Wohnraummangel eingeführt werden. Eine
solche Mietpreisbremse für Regionen, in denen die ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum
nicht mehr gewährleistet ist, müssen wir jetzt endlich beschließen. Wohnen darf nicht zum Luxusgut werden;
Wohnen ist ein Grundbedürfnis.
({7})
Eine bezahlbare Wohnung schafft Sicherheit und Stabilität für Mieter und für ihre Familien.
Wir werden deshalb dem SPD-Änderungsantrag zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Sören Bartol hat das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Mit unserem Änderungsantrag geben wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
die Sie sich jetzt alle unterhalten, heute die Chance, die
Glaubwürdigkeit Ihrer Kanzlerin bei den Mieterinnen
und Mietern in diesem Land wiederherzustellen.
({0})
Wir wollen auch in unser Programm einführen, dass
Vermieter bei Neuvermietungen nur begrenzt die
Miete erhöhen dürfen.
Das steht so nicht im Regierungsprogramm der SPD, jedenfalls nicht exakt, sondern das ist laut Handelsblatt
die Aussage von Kanzlerin Angela Merkel am 31. Mai
gegenüber einem wohnungssuchenden Studenten.
({1})
Den Themenklau bei der SPD hat die Kanzlerin inzwischen freimütig eingeräumt. Die Süddeutsche sprach sogar von dreistem Plagiat. Aber das ist in Ihren Reihen ja
schon längst hoffähig.
({2})
Dieser Satz war eine Kopie, leider eine schlechte.
Hätte die Kanzlerin unser Programm, das wir am
14. April beschlossen haben, aufmerksam gelesen, hätte
sie ihren Mitarbeitern die mühsame Korrekturarbeit der
nächsten Tage erspart. In unserem Programm ist fast
wortwörtlich der Satz zu lesen, den sie der unbedachten
Kanzlerinnenaussage eilends hinterherschickten:
Erstvermietungen von neugebauten Wohnungen
sind davon grundsätzlich ausgenommen.
Um Wohnen wieder für alle bezahlbar zu machen,
brauchen wir neben einem sozialen Mietrecht auch Neubau.
({3})
Wir brauchen neben dem öffentlichen und dem genossenschaftlichen Wohnungsbau natürlich auch den sozialen Wohnungsbau und private Investoren, die neuen
Wohnraum schaffen. Aber so tief ins Thema ist die
Kanzlerin erst gar nicht eingestiegen; ihr ging es ja nur
um die schnelle Meldung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurzfristig konnte
man meinen: Die Erkenntnis, dass die Bundesregierung
endlich etwas gegen drastisch steigende Mieten unternehmen muss, ist tatsächlich, Herr Pofalla, schon im
Kanzleramt angekommen. - Der Mieterbund freute sich
schon über die große Koalition beim Mietrecht. Zu früh
gefreut: Schon am nächsten Tag bemühte sich das
Konrad-Adenauer-Haus darum, zurückzurudern, zu konkretisieren, und nach nur zwei Wochen ist von der vollmundig verkündeten Mietpreisbremse nur noch eine
Möglichkeit auf Länderebene übrig.
({4})
Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird die Mietpreisbremse der Kanzlerin zum Rohrkrepierer.
({5})
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union, Mieterschutz von den Mehrheitsverhältnissen in
den Ländern und deren gutem Willen abhängig machen,
dann stehlen Sie sich aus der Verantwortung. Notwendig
ist endlich eine bundesweite Mietpreisbremse bei Wiedervermietungen, die die Mietpreisspirale in allen betroffenen Städten bremst.
({6})
Die Kolleginnen und Kollegen von der Union und der
FDP, die gesprochen haben, konnten vor Lachen kaum
an sich halten. Erst am 1. Mai ist Ihre unsoziale Mietrechtsreform in Kraft getreten. Ich möchte schon gerne
wissen, warum Ihnen knapp sieben Wochen später einfällt, dass es hier Nachbesserungsbedarf gibt. Sie hatten
doch alle Chancen, unsere Vorschläge im Gesetzge31698
bungsverfahren zu berücksichtigen. Sie haben an dieser
Stelle nichts, aber auch gar nichts gemacht.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
wissen doch ganz genau: Mit Ihrem Koalitionspartner
FDP ist sozialer Mieterschutz in diesem Lande nicht zu
machen.
({8})
Deswegen wird das Versprechen der Kanzlerin ein uneingelöster Scheck - den kann man niemals einlösen für die Zeit nach der Bundestagswahl bleiben. Ich frage
ganz ehrlich - vor allem die Zuhörerinnen und Zuhörer -:
({9})
Für diese Sachen wollen Sie am 22. September wirklich
gewählt werden? Das kann nicht Ihr Ernst sein.
({10})
Heute bekommen Sie noch einmal die Chance - es ist
gut, dass wir heute unseren Änderungsantrag noch einmal einbringen konnten -, das Vertrauen der Mieterinnen und Mieter zurückzugewinnen. Zeigen Sie den
Wählerinnen und Wählern, dass Sie es ernst meinen mit
dem, was Ihre Kanzlerin vollmundig vor der Wahl allen
verspricht. Stimmen Sie heute unserem Änderungsantrag
zu! Dann haben wir es geschafft, eine wirksame Lösung
für Mieterinnen und Mieter in diesem Lande zu finden.
Ich bin gespannt, wie Sie sich an dieser Stelle gleich verhalten werden.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13951, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12637
in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegt ein
Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13966 vor. Wir stimmen über den Änderungsantrag auf Verlangen der Fraktion der SPD namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Sind alle Urnen besetzt? - Es fehlt noch ein Schriftführer der Koalition. Gibt es einen Schriftführer der Koalition, der spontan bereit wäre, einzuspringen? - Das ist
heldenhaft. Jetzt fehlt keiner mehr. Nun sind alle Urnen
besetzt. Ich eröffne die Abstimmung.
Haben alle Kolleginnen und Kollegen, die das wollten, ihre Stimmkarte einwerfen können? - Es haben alle
Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkarte abgegeben.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen.
Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen
Abstimmung unterbreche ich die Sitzung.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt: Abgegeben wurden 517 Stimmen.
Mit Ja haben gestimmt 220 Kolleginnen und Kollegen,
mit Nein haben gestimmt 297 Kolleginnen und Kollegen, es gab keine Enthaltungen. Es ging um den Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung
der Wohnungsvermittlung, hier um den Änderungsantrag der Fraktion der SPD, der hiermit abgelehnt ist.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 517;
davon
ja: 220
nein: 297
Ja
SPD
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({0})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Hubertus Heil ({2})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({3})
Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Daniela Kolbe ({4})
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({5})
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel ({6})
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Manfred Nink
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({7})
Marlene Rupprecht
({8})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({9})
Bernd Scheelen
({10})
Werner Schieder ({11})
Ulla Schmidt ({12})
Silvia Schmidt ({13})
Carsten Schneider ({14})
Swen Schulz ({15})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h.c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Sabine Leidig
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Richard Pitterle
Paul Schäfer ({16})
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Jörn Wunderlich
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Volker Beck ({17})
Cornelia Behm
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({18})
Dr. Anton Hofreiter
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({19})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({20})
Krista Sager
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({21})
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
fraktionsloserAbgeordneter
Wolfgang Nešković
Nein
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({22})
Manfred Behrens ({23})
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({24})
Dirk Fischer ({25})
Axel E. Fischer ({26})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({27})
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({28})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({29})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({30})
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({31})
Dr. Michael Meister
Dr. h.c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({32})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({33})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({34})
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({35})
Anita Schäfer ({36})
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({37})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({38})
Dr. Kristina Schröder
({39})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({40})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl ({41})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({42})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({43})
Peter Weiß ({44})
Sabine Weiss ({45})
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({46})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Gerhard Drexler
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({47})
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h.c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({48})
Sibylle Laurischk
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({49})
Michael Link ({50})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Petra Müller ({51})
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
({52})
Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
({53})
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff ({54})
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? -
Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
nommen. Die Koalitionsfraktionen waren dafür, die Op-
positionsfraktionen haben sich gemeinsam enthalten,
Gegenstimmen gab es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich erheben. - Die Gegenstimmen? - Die Enthaltun-
gen? - Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung
mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorher ange-
nommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/13967. Wer stimmt für den Entschlie-
ßungsantrag? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt bei Zu-
stimmung durch Bündnis 90/Die Grünen, SPD und die
Linke; dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 15 a und 15 b auf:
ZP 15 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden
in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13079 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13402 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({55})
- Drucksache 17/13947 Berichterstattung:Abgeordneter Heinz Lanfermann
- Bericht des Haushaltsausschusses ({56}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13959 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Alois Karl-
Ewald Schurer-
Otto Fricke-
Michael Leutert-
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({57})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine überhöhten Säumniszuschläge bei
Beitragsschulden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Harald Weinberg, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Privat Versicherte solidarisch versichern Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin SengerSchäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Versorgung der privat Versicherten im Basistarif sicherstellen
- Drucksachen 17/12069, 17/10119, 17/5524,
17/13947 Berichterstattung:Abgeordneter Heinz Lanfermann
Verabredet ist es, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu haben Sie keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesregierung dem Bundesminister Daniel Bahr das Wort.
({58})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Ziel ist klar: Jeder in Deutschland soll einen Krankenversicherungsschutz für die notwendigen Leistungen
haben, unabhängig von Vorerkrankungen, Alter, Geschlecht und Einkommen. Das ist gelebte Solidarität, die
in Deutschland seit vielen Jahren gezeigt wird und um
die uns andere Länder beneiden. Die Versicherten können sich, wenn sie eine Krankheit haben oder ein großes
Risiko eingetreten ist, auf die Solidarität einer Krankenversicherungsgemeinschaft verlassen.
Es geht aber nicht nur darum, die Solidarität der anderen einzufordern. Zur Solidarität in einer Versicherungsgemeinschaft gehört es auch, dass die Solidargemeinschaft zu Recht verlangen kann und erwartet, dass
Beiträge zu einer Krankenversicherung gezahlt werden.
Die alte Regierung hatte eine Regelung eingeführt, nämlich eine allgemeine Versicherungspflicht, und wollte
dabei Anreize setzen, dass Menschen ihre Beiträge zahlen. Leider wurden damals Wucherzinsen eingeführt,
und es haben sich bei betroffenen Menschen Schuldenberge angehäuft; die Menschen sind in einen Teufelskreis von immer höheren Schulden geraten und kamen
nicht mehr heraus. Deswegen war es richtig und wichtig,
dass diese Koalition, diese Bundesregierung, gehandelt
hat und jetzt den Menschen, die von ihren Schuldenbergen nicht mehr herunterkommen, eine Perspektive gibt,
wieder einen Krankenversicherungsschutz zu erhalten.
Wir wollen, dass jeder in Deutschland über einen Krankenversicherungsschutz verfügt.
({0})
Deshalb haben wir die Säumniszuschläge, die alten Wucherzinsen, auf 1 Prozent gesenkt. Das gilt rückwirkend,
damit die Menschen, die in den letzten Jahren nicht in
ihren Versicherungsschutz zurückkamen, eine Perspektive haben, wieder ihren Versicherungsschutz zu bekommen.
Außerdem schaffen wir für einen eng begrenzten Bereich von Versicherten eine Rückkehrmöglichkeit. Wir
machen einen Schnitt, damit die Versicherten die Chance
bekommen, nach Zahlung der Versicherungsbeiträge
wieder regulär versichert zu sein.
Privat Krankenversicherten zeigen wir mit dem Notlagentarif einen Weg auf, wie auch sie einen bezahlbaren
Krankenversicherungsschutz haben können. Für die Betroffenen ist diese Regelung eine große Erleichterung.
Wir sorgen dafür, dass die betroffenen Menschen im
Krankheitsfall wieder abgesichert sind.
Der Gesetzentwurf umfasst aber noch mehr. Wir unterstützen auch die Krankenhäuser in Deutschland, die
tagtäglich eine ganz wichtige Aufgabe übernehmen.
18 Millionen Patienten werden jedes Jahr stationär aufgenommen. Wir haben eine Arbeits- und Leistungsverdichtung bei den Beschäftigten in den Krankenhäusern
zu verzeichnen. Es gibt einen Mengendruck, den Druck,
besonders viel machen zu müssen. Mit diesem Gesetz
sorgen wir für eine Entlastung der Beschäftigten in
Krankenhäusern. Für die Jahre 2013 und 2014 ist ein unbürokratischer und schnell wirkender Versorgungszuschlag vorgesehen, um Fehlentwicklungen bei der sogenannten Kollektivhaftung, die Grund für den
Mengendruck ist, auszugleichen. Bisher war es so: Wenn
eine Uniklinik in Köln mehr transplantiert, dann erhält
das kleine Krankenhaus im Sauerland für eine Blinddarmoperation eine schlechtere Vergütung. Der Versorgungszuschlag sorgt hier nun für einen Ausgleich. So
können sich die Krankenhäuser auf eine verlässliche Finanzierung einstellen.
({1})
Die Tariflohnentwicklung wird teilweise ausgeglichen. Wir schaffen endlich einen vollen Orientierungswert als Verhandlungskorridor, das heißt, die Kostenentwicklung im Krankenhaus kann besser abgebildet
werden.
Wir sorgen für bessere Qualität in den Krankenhäusern. Wir wissen, dass Deutschland noch Nachholbedarf
im Bereich Hygiene hat. In dem Gesetz ist ein Hygieneförderprogramm vorgesehen. Damit lohnt es sich für die
Krankenhäuser, in Hygiene zu investieren. Es lohnt sich
nicht, aus Kostengründen auf Hygiene zu verzichten und
damit für Keime und schwere Krankheiten im Krankenhaus zu sorgen.
Dieses Gesetz verbessert die Qualität der Versorgung
in den Krankenhäusern.
({2})
Ich habe die klare Erwartung, dass diese zusätzlichen
Mittel, immerhin insgesamt 1,1 Milliarden Euro - damit
haben wir einen Rekordwert an Ausgaben für die Krankenhäuser in diesem Jahr erreicht -, von den Krankenhäusern auch eingesetzt werden, um den Sparmaßnahmen bei der Pflege, die wir teilweise in Krankenhäusern
erlebt haben, ein Ende zu bereiten. Die Krankenhäuser
können jetzt investieren, um gerade in der Pflege neue
Stellen zu schaffen, um neues Pflegepersonal in den
Krankenhäusern einzustellen. Wir geben den Krankenhäusern diese finanziellen Möglichkeiten. Jetzt müssen
die Krankenhäuser sie auch nutzen.
({3})
Mit diesem Gesetz setzen wir das um, was uns alle im
letzten Jahr hier im Bundestag intensiv beschäftigt hat.
Wir haben uns parteiübergreifend mit dem Thema Organspende beschäftigt, weil es uns alle unzufrieden gestimmt hat, dass das Spenderaufkommen in Deutschland
so gering ist. Wir sind der Meinung, dass die Organspende ein so wichtiges Thema ist, dass man sich einmal
im Leben damit beschäftigen sollte.
Letztes Jahr haben alle Parteien in diesem Bundestag
gemeinsam die sogenannte Entscheidungslösung beschlossen. Wir haben uns damals nicht vorstellen können, dass ein Arzt, offenbar durch Mithilfe weiterer, in
Göttingen - und, wie wir erfahren haben, zuvor in Regensburg - so viel kriminelle Energie hat, dass er das
Vertrauen in die Organspende bei einigen Menschen in
Deutschland erschüttern konnte.
Heute wissen wir: Eine solche kriminelle Energie war
bei anderen Krankenhäusern nicht festzustellen. Wir haben die Überprüfung mehrerer Krankenhäuser angeordnet. Es wurden zwar teilweise Unregelmäßigkeiten festgestellt, aber eine solche kriminelle Energie haben wir
nicht noch einmal erlebt.
Wir haben mit der gemeinsamen Verabschiedung des
Transplantationsänderungsgesetzes im letzten Jahr viele
Regelungen vorgegeben. Wir können festhalten, dass es
heute auch mit krimineller Energie so nicht mehr möglich ist, Wartelisten zu manipulieren, um einigen Patienten einen Vorteil zulasten anderer Patienten zu verschaffen. Deswegen können wir mit gutem Recht und aus
Überzeugung den Menschen weiterhin raten, sich für die
Organspende zu entscheiden; denn kein Land hat so
enge Grenzen und so harte Regeln wie Deutschland.
Dieses Gesetz wird weiter zur Sicherheit beitragen. Wir
nehmen weitere Änderungen vor: Mit der Einführung einer Pflicht zur Genehmigung der Richtlinien durch das
Bundesgesundheitsministerium sorgen wir für eine stärkere politische Legitimation. Außerdem ändern wir das
Transplantationsgesetz dahin gehend, dass die Manipulation von Daten durch Ärzte strafbar ist.
Organspende ist aktive, gelebte Nächstenliebe. Organspender sind Lebensretter. Deswegen wollen wir uns
gemeinsam dafür einsetzen, dass sich wieder mehr Menschen für die Organspende aussprechen. Es dürfen nicht
diejenigen bestraft werden, die auf der Warteliste stehen
und dringend auf ein Organ warten, sondern es muss der
Arzt bestraft werden, der Fehlverhalten zeigt. Der angesprochene Arzt aus Göttingen sitzt in Untersuchungshaft. Ich gehe davon aus, dass er zu Recht eine Strafe bekommen wird; denn wir brauchen Vertrauen bei der
Organspende. Dafür setzen wir uns gemeinsam ein.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Karl
Lauterbach das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Minister hat einleitend darauf hingewiesen,
was in unserem Gesundheitssystem klappt: dass jeder einen Versicherungsschutz bekommt, unabhängig von Erkrankungen und unabhängig davon, ob er zum Beispiel
behindert ist. Das ist richtig. Das gilt aber nicht für die
von Ihnen bevorzugte private Krankenversicherung.
({0})
Da ist es nach wie vor so, dass behinderte Menschen keinen Versicherungsschutz bekommen und viele Kranke
sich die Prämie nicht leisten können. Sie wollen, dass
das so bleibt. Das System, für das Sie persönlich und
Ihre Fraktion stehen, ist ein System, das genau das kaputtmacht, was Sie am Anfang Ihrer Rede gelobt haben.
({1})
- Herr Lanfermann, bitte, Ihre Kommentare!
Bei den Schuldenbergen und den Säumniszuschlägen
ist es doch wie folgt: Die Leute, die Schulden gemacht
haben, werden doch, auch wenn ihnen jetzt kurzfristig
die Schulden erlassen werden, der Säumniszuschlag ein
bisschen reduziert wird, wieder Schulden machen. Tatsache ist doch, dass die Menschen sich diese Krankenversicherung nicht leisten können. Das gilt gerade für die
Privatversicherten. Wenn die Prämie höher ist, als meine
Rente hergibt, dann kann ich zwar formal Ihr Angebot
wahrnehmen und in die Versicherung zurückgehen;
wenn ich dann aber sofort wieder Schulden machen
muss, dann stehe ich nach allerkürzester Zeit wieder vor
dem gleichen Problem.
({2})
- Ich komme darauf noch zu sprechen. - Wollen Sie
dann erneut eine Amnestie? Derjenige, dem die Säumniszuschläge jetzt erlassen werden, kann sich die Versicherung doch weiterhin nicht leisten.
({3})
Sie machen Folgendes: Sie drängen die Menschen,
die sich die Krankenversicherung in Deutschland nicht
leisten können, in eine amerikanische Notfallversorgung. Da wird nur noch das Nötigste bedient. Mehr gönnen Sie den Menschen nicht.
({4})
Bei einer Bürgerversicherung würde sich jeder so versichern können, wie er es braucht.
({5})
Die Menschen, die Sie mit einem unwürdigen amerikanischen Notfalltarif abspeisen wollen, würden sich,
wenn Sie ihnen die Wahl lassen würden, alle für die Bürgerversicherung entscheiden.
({6})
Geben Sie den Menschen die Wahl!
({7})
Sie wissen doch ganz genau, wofür sich die Menschen
entscheiden würden, wenn Sie ihnen die Wahl zwischen
einem abgespeckten Notfalltarif, der nur das Nötigste
absichert,
({8})
und einer Bürgerversicherung, die sie komplett versorgt,
lassen.
({9})
Wofür würden die Menschen sich entscheiden? Für Ihren Notfalltarif? Würde sich irgendjemand für Ihren abgespeckten Tarif entscheiden? Sie wagen es nicht, den
Menschen die Wahlmöglichkeit zu geben. Wenn Sie das
Wahlrecht einführen würden, dann wären Ihr Notfalltarif
und Ihre Regelung der Säumniszuschläge platt.
({10})
Die Frage ist: Was wurde für die Krankenhäuser beschlossen? Herr Bahr, es ist tatsächlich so, dass die
Krankenhäuser unterfinanziert sind. Sie stellen jetzt
mehr Geld zur Verfügung, aber auf die unintelligenteste
Art und Weise, die es gibt.
({11})
Die Krankenhäuser, die mehr Pflegekräfte einstellen, haben keinen besonderen Vorteil. Die Krankenhäuser, die
bessere Qualität liefern, haben keinen Vorteil. Die Krankenhäuser, die sich spezialisiert haben, haben keinen
Vorteil. Mit der Gießkanne wird auf die Schnelle ein Betrag nachgeschüttet. Davon werden dann diejenigen besonders profitieren, denen es schon gut geht. Die anderen können sich die Krankenhauspflege nach wie vor
nicht leisten. Dieser Vorschlag wurde auf die Schnelle in
einer für Sie charakteristischen Art und Weise erstellt:
Handwerklich stimmt es vorne und hinten nicht. Sie hätten die Gelegenheit nutzen und eine Initiative für Pflege
und Qualität in die Wege leiten können. Das haben Sie
sich schlicht nicht zugetraut.
Herr Lauterbach, Herr Lindemann würde Ihnen gern
eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gern.
Bitte schön.
Herr Kollege Lauterbach, würden Sie uns in diesem
Hohen Hause vielleicht erklären, was denn in Ihrer Bür31704
gerversicherung mit denjenigen passieren soll, die dort
ihre Beiträge nicht bezahlen können?
Ganz einfach: Bei der Bürgerversicherung bezahlt jeder - ({0})
- Frau Präsidentin, soll ich die Frage beantworten,
({1})
oder soll ich auf weitere Zwischenfragen warten?
Sie haben zugestimmt, die Frage von Herrn
Lindemann gestellt zu bekommen. Es wäre schön, wenn
Sie die beantworten. Ich gehe davon aus, dass jemand,
der eine weitere Frage hat, sich meldet.
In der Bürgerversicherung bezahlt jeder nach seinen
Verhältnissen; jeder bezahlt nach seinem Einkommen.
Das heißt, dass für denjenigen, der kein Einkommen hat,
die zuständigen Träger und der Staat bezahlen. Derjenige, der ein Einkommen hat, bezahlt nach seiner Leistungsfähigkeit.
({0})
Das ist ein sicheres und gerechtes System. Jeder zahlt,
wie er zahlen kann, und keiner wird überfordert. Jeder
wird aufgenommen - unabhängig von der Vorerkrankung, unabhängig von Behinderungen,
({1})
unabhängig von der Person, unabhängig davon, ob er
verbeamtet ist oder nicht. Ein System, gerecht für alle;
jeder zahlt nach seinen Verhältnissen und seinen Möglichkeiten.
({2})
Es sind Zwischenrufe und Zwischenfragen möglich.
Ich bitte jetzt Herrn Lauterbach, fortzufahren. Oder
möchten Sie eine Zwischenfrage stellen? - Das ist nicht
der Fall. - Bitte schön, Herr Lauterbach.
Will noch jemand eine Zwischenfrage stellen? - Offensichtlich nicht.
Ich komme zum Krankenhaus zurück. Dazu gibt es
im Gesetzentwurf schlicht und ergreifend keinerlei Initiative für bessere Qualität, keinerlei Initiative für bessere Hygiene, keinerlei Initiative für bessere Pflegeversorgung. Es ist im Prinzip ein Gießkannengesetz, dessen
Wirkung vorne und hinten nicht ausreicht.
Der einzige Ansatz in Ihrem Gesetz, weshalb wir uns
später bei der Abstimmung zum Gesamtgesetz enthalten
werden,
({0})
ist die Organtransplantation, die Organspende; denn dabei sind wir mit Ihnen einer Meinung. Da respektieren
wir auch Ihr persönliches Engagement. Das ist übergreifend und einigermaßen sauber gemacht. Das würdigen
wir. Daher wollen wir, damit wir hier Schulter an Schulter stehen können, um denjenigen, die ein Organ benötigen, nicht zu schaden und das Vertrauen in das Spendeverfahren - Sie haben zu Recht ausgeführt, dass die
Dinge dort besser sind, als sie allgemein dargestellt werden - nicht zu beschädigen, durch eine Enthaltung dieses
Gesetz mittragen, das wir sonst nicht hätten mittragen
können.
({1})
Das sage ich in aller Offenheit; denn diesem Gesetz
fehlt es vorne und hinten an handwerklicher Qualität.
Wir machen das der Menschen wegen, wir machen es
nicht Ihnen zuliebe; denn das Gesetz ist weit hinter dem
zurückgeblieben, was selbst in so kurzer Zeit möglich
gewesen wäre.
({2})
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat der Kollege Johannes Singhammer für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Lauterbach, heute ist ein guter Tag
für die Menschen in Deutschland, und zwar, weil viele
Tausende Krankenversicherte künftig vor ungerechten
Beitragsschulden bewahrt und geschützt werden, weil
künftig Transparenz und Ordnung durch staatlich geregelte Richtlinien bei der Organtransplantation herrschen
und weil die Kliniken in Deutschland vor einer finanziellen Schräglage bewahrt werden.
18 Millionen Krankenhausbehandlungen im Jahr bedeuten, dass umgerechnet jeder Vierte in Deutschland in
einer Klinik behandelt wird. Darum ist es so wichtig,
dass die Behandlung weiterhin exzellent bleibt. Deshalb
helfen wir schnell. Denn wer schnell gibt, gibt doppelt.
Ab dem 1. August 2013 fließt Geld an die Kliniken, insgesamt in diesem Jahr für jede Rechnung im Zusammenhang mit den Fallpauschalen 1,65 Prozent zusätzlich,
({0})
nach einem gerechten Verfahren, nämlich dem sogenannten Fallmix. Das heißt, es wird jedem Fall entsprechend seiner Werthaltigkeit dieser Zuschlag gewährt.
Das sind in diesem Jahr 400 Millionen Euro; im kommenden Jahr beträgt der Versorgungszuschlag 500 Millionen Euro. Wir werden damit insgesamt - dazu kommen ja auch die Mittel für den wichtigen Bereich
Hygiene - auf den angekündigten finanziellen Ausgleich
in Höhe von 1,1 Milliarden Euro für die Kliniken kommen.
Wir wissen, dass ein großer Teil der Ausgabenzuwächse der Kliniken durch die Tariflohnsteigerungen bedingt sind. Zwei Drittel der Ausgaben der Kliniken sind
Lohnkosten. Wir wollen, dass die enorm aufreibende
schwierige Arbeit der Mitarbeiter in den Kliniken, von
den Ärzten bis zu den Pflegekräften, gerecht bezahlt
wird. Deshalb ist es wichtig, den Tariflohnausgleich in
dieser Gesamtsumme vorzusehen. Damit zeigen wir
auch Anerkennung für die schwierige Arbeit, die dort
geleistet wird. Die Patientinnen und Patienten in den
Kliniken wollen auch, dass diejenigen, die sich um sie
kümmern, gerecht behandelt und entlohnt werden.
({1})
Bei den Einnahmen der Kliniken ist noch eine wichtige Verbesserung vorgesehen. Galt früher, dass höchstens ein Drittel der Differenz zur Grundlohnrate angerechnet wird, so wird der Orientierungswert jetzt voll in
die Verhandlungen eingebracht werden können. Das bedeutet letztlich eine bessere Einnahmesituation der Kliniken. Also kommt es auch auf diesem Weg zu Verbesserungen.
Das alles zusammen wird dazu führen, dass die Kliniken in Deutschland auf eine bessere und sicherere finanzielle Grundlage gestellt werden. Damit haben die Kliniken Planungssicherheit, und die Patienten haben
Versorgungssicherheit. Deshalb ist dies ein guter Tag für
Deutschland.
({2})
Jetzt hat die Kollegin Kathrin Vogler das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Fast 150 000 Menschen in Deutschland sind
heute nicht krankenversichert, und weitere ungefähr
50 000 haben hohe Beitragsschulden in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Dazu kommen noch die Privatversicherten. Das ist nicht so, weil sie nicht zahlen wollen, sondern die allermeisten dieser Menschen können
sich den Versicherungsbeitrag einfach nicht leisten. Deshalb verzichten sie auf diese wichtige Absicherung.
Es waren Union und SPD, die vor Jahren gemeinsam
die Krankenversicherungspflicht eingeführt und damit
Hunderttausende in eine Schuldenfalle gelockt haben.
Denn auch wer nicht versichert ist, ist verpflichtet, nachzuzahlen, und zwar mit Säumniszuschlägen von sagenhaften 5 Prozent im Monat, 60 Prozent im Jahr. Auf
diese Problematik hat die Linke übrigens immer wieder
hingewiesen. Deshalb ist es positiv, dass wir heute hier
über Veränderungen reden können.
Leider ist die Lösung, die Sie von Schwarz-Gelb jetzt
vorschlagen, nicht wirklich gerecht. Denn wer trotz seiner Versicherungspflicht seit 2007 nicht bei einer Krankenkasse angemeldet war, soll das jetzt ohne Säumnisgebühr und ohne Beitragsschulden nachholen dürfen. Wer
sich hingegen gesetzeskonform verhalten hat, aber nicht
zahlen konnte, muss gegebenenfalls über 20 000 Euro an
Beiträgen und Zinsen für die letzten zehn Jahre nachzahlen. Das geht so nicht.
({0})
Jetzt argumentieren Sie, dass die bisher nicht Versicherten ja auch keine Leistungen erhalten hätten. Aber
das gilt doch auch für jemanden, der sich erst Anfang
dieses Jahres oder Ende letzten Jahres bei einer Krankenkasse angemeldet hat. Auch er hat von 2007 bis 2012
keine Leistungen in Anspruch genommen, muss aber
dennoch für den gesamten Zeitraum nachzahlen. Gerecht geht anders.
({1})
Für die Linke ist es nicht hinnehmbar, dass Menschen
medizinische Behandlungen verweigert werden, weil ihr
Einkommen zu gering ist. Aber genau das bleibt weiterhin der Fall für die Privatversicherten mit Zahlungsschwierigkeiten. Für diese Menschen schaffen Sie jetzt
einen Notlagentarif für etwa 100 Euro im Monat mit minimalen Leistungen. Diese Menschen haben dann nur
noch Anspruch auf Akutbehandlungen bei Schmerzen
und auf Leistungen bei Schwangerschaft und Geburt.
Dazu kommt: Diese Menschen werden leider auch
kaum eine Chance haben, jemals wieder in einen regulären Tarif zu wechseln. Denn im Notlagentarif werden
keine Altersrückstellungen gebildet, sondern verbraucht.
Das bedeutet, dass die regulären Prämien mit dem Alter
schlicht immer unbezahlbarer werden. Schwarz-Gelb
schützt damit lieber wieder die Versicherungskonzerne ({2})
die so eine Menge Außenstände aus ihren Bilanzen streichen können - als die Versicherten.
({3})
Unsere Alternative lautet: die PKV als Vollversicherung abschaffen.
({4})
Wenn Sie - damit spreche ich direkt den Kollegen
Lauterbach an - unserem Antrag heute zustimmen, dann
braucht es keine solch komplizierten Sonderregelungen.
({5})
Wenn alle solidarisch gesetzlich versichert sind, haben
alle einen bezahlbaren umfassenden Krankenversicherungsschutz.
({6})
Nun zu den Krankenhäusern. Sie haben die Mittel für
die Krankenhäuser 2010 um rund 1,4 Milliarden Euro
gekürzt. Jetzt sollen sie 1,1 Milliarden Euro davon zurückbekommen. Das ist doch, als würde man sich heftig
aufs Knie hämmern und sich dann freuen, wenn der
Schmerz nachlässt.
({7})
Den real existierenden Pflegenotstand werden Sie damit
nicht beheben; diese Erhöhung ist nämlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Diesen Teilen des Gesetzentwurfs können wir also
nicht zustimmen. Wir werden uns deshalb bei der Abstimmung über das Gesamtpaket enthalten.
Den Antrag der SPD unterstützen wir.
Jetzt aber zu dem Teil des Gesetzentwurfs, der unsere
Zustimmung erhält. Vorgestern ist es uns in einer gemeinsamen Bemühung aller Fraktionen gelungen, erste
Änderungen am Transplantationsgesetz zu vereinbaren.
Vor einem Jahr wurden die Manipulationen an den Wartelisten für Lebertransplantationen bekannt; doch noch
immer gehen viele Staatsanwälte und Operateure davon
aus, dass eine solche Manipulation lediglich eine schriftliche Lüge sei und damit nicht strafbar. Mit der nun vorliegenden Gesetzesänderung wird klar: Eine Manipulation von Patientendaten mit der Absicht, die Warteliste
zu beeinflussen, ist künftig auf jeden Fall strafbar.
({8})
Das ist ein gutes Ergebnis der intensiven Beratungen unter den Fraktionen und mit dem Bundesministerium für
Gesundheit. Ich bedanke mich ganz herzlich bei den
Kolleginnen und Kollegen des Gesundheitsausschusses
und beim Bundesgesundheitsministerium, namentlich
bei der Parlamentarischen Staatssekretärin WidmannMauz. Ich freue mich wirklich, dass diese Gesetzesänderung hier gemeinsam auf den Weg gebracht werden
kann. Wir setzen damit ein deutliches Zeichen für mehr
Transparenz und Kontrolle in diesem sensiblen Bereich.
({9})
Über weitere Schritte auf diesem Weg werden wir in
der übernächsten Woche noch diskutieren. Ich bin sicher,
dieses Thema wird uns auch in der nächsten Wahlperiode beschäftigen.
Ich bedanke mich.
({10})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt
Birgitt Bender das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Abstimmung steht heute ein sogenannter Omnibus; das
heißt, auf ein zugrunde liegendes Gesetz werden mehrere Themen aufgesattelt. In dem zugrunde liegenden
Gesetz geht es um Beitragsschulden. An dieser Stelle haben wir es - das muss man hier einmal deutlich sagen mit einer Erblast der Großen Koalition zu tun; das will
ich auch an die Freunde einer Neuauflage derselben richten. Die Große Koalition hat - das war verdienstvoll eine Versicherungspflicht für alle eingeführt, die Regelungen aber so ausgestaltet, dass, wenn Leute nicht sofort in ihre Krankenversicherung zurückgekehrt sind
oder sich die Beiträge nicht haben leisten können, durch
Wucherzinsen irrwitzige Schulden entstanden, die diese
Leute nie begleichen konnten. Dieses Problem wird erst
heute hier bearbeitet; das war überfällig.
({0})
Es ist gut - wir begrüßen das ohne Einschränkungen -,
dass die Wucherzinsen jetzt abgeschafft werden und dass
es ein Zeitfenster für eine Rückkehr in die Krankenversicherung ohne Schulden geben wird; allerdings hat
Schwarz-Gelb einige Zeit gebraucht, bis man sich endlich zu dieser umfassenden Lösung durchringen konnte.
({1})
Es ist aber durchaus auch Kritik an diesem Gesetzentwurf zu üben: Mit der Schaffung des Notlagentarifes in
der privaten Krankenversicherung wird vor allem ein
Vorteil für die PKV entstehen; denn die Altersrückstellungen der Versicherten werden verfrühstückt. Außerdem schützen Sie die PKV mit dem Gesetzentwurf wieder einmal vor Konkurrenz durch die GKV; denn de
facto machen Sie die Wahltarife der GKV platt. Da zeigt
sie sich wieder, Ihre Klientelpflege zugunsten der PKV.
Ich sage Ihnen: Wir werden dieses Problem durch die
Einführung der Bürgerversicherung lösen. Dann wird es
auch für Selbstständige leichter, die Beiträge zu zahlen:
weil sich die Beiträge dann am realen Einkommen orientieren.
({2})
Herr Singhammer hat sich sehr dafür gelobt, dass für
die Krankenhäuser jetzt viel Geld bereitgestellt wird.
Auch wir begrüßen das. Aber man muss auch einmal
über den Zickzackkurs von Schwarz-Gelb reden: Erst
habt ihr ständig an den Krankenhäusern gespart und behauptet, da sei noch Luft, und jetzt, wo ihr seht, dass
dem nicht so war, soll es wieder einen Geldregen geben,
und zwar mit der Gießkanne. Wir sehen, dass in vielen
Krankenhäusern die Arbeitsbedingungen - einmal grob
gesagt - unter aller Sau sind,
({3})
was natürlich auch die Patienten ausbaden müssen. Deswegen ist es richtig, dass es jetzt ein Notprogramm gibt;
aber es ist genau das: nicht mehr und nicht weniger als
ein Notprogramm.
Was in der nächsten Legislaturperiode ansteht, ist die
Inangriffnahme einer strukturellen Reform. Der Bund
muss sich mit den Ländern zusammensetzen, damit insbesondere das Problem der Investitionskostenfinanzierung, die jetzt häufig aus den Betriebsmitteln erfolgt, gelöst wird.
({4})
Auch die Organspende ist bereits angesprochen worden. Wir sind froh, dass Anliegen unserer Initiative in
Verhandlungen mit den anderen Fraktionen aufgenommen wurden. Es wird jetzt so sein, dass sich das Ministerium per Genehmigung in die Richtlinien für die Verteilung der Organe einmischt. Die bekommen dadurch eine
größere Verbindlichkeit. Verstöße gegen diese Richtlinien seitens der Ärzte - Manipulationen bei der
Diagnose etc. - werden strafrechtlich sanktioniert. Das
heißt, es geht nicht mehr, dass Ärzte, sei es aus Geldgier,
sei es aus falsch verstandener Hilfsbereitschaft oder aus
eigener Machtvollkommenheit, sagen: Was kümmern
mich die Richtlinien? Was kümmert mich eine richtige
Dokumentation? Ich sorge dafür, dass meine Patienten
vorzeitig Organe bekommen. - Jetzt wird angesichts der
Knappheit der Organe, die wir nie vollkommen beseitigen werden, dafür gesorgt, dass die Richtlinien wenigstens eingehalten werden.
Meine Damen und Herren, wir hätten es bei einigen
Punkten besser gemacht, aber wegen der Punkte, die wir
für positiv halten, werden wir diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({5})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt Gabriele Molitor das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Es ist schon mehrfach angesprochen worden,
dass wir uns vor einem Jahr über alle Fraktionsgrenzen
hinweg geeinigt und das Transplantationsgesetz geändert haben und uns anschließend bekannt gewordene
Manipulationsfälle dazu gebracht haben, den Kontrollprozess zu begleiten. Es ist schon etwas Besonderes,
wenn sich Fachpolitiker aller Fraktionen zusammentun
und sich gemeinsam mit Experten sowohl des Bundesgesundheitsministeriums als auch des Gesundheitssektors
treffen, um Prozesse zu begleiten und Fehler zu beheben.
Wir haben mögliche Gesetzgebungsbedarfe mit dem
Ziel geprüft, das Vertrauen in die Organspende wiederherzustellen. Es ist in der Tat selten, dass man am Ende
eine gemeinsame Initiative auf den Weg bringt, die dem
Ziel dienen soll, schwerkranken Menschen zu helfen.
Der vorliegende Änderungsantrag zum Transplantationsgesetz sieht zum einen strafrechtliche Sanktionen
vor. Damit schaffen wir auch für Ärzte einen rechtlichen
Rahmen; denn der starke Rückgang von postmortalen
Organspenden ist auch darauf zurückzuführen, dass es
eine starke Verunsicherung in der Ärzteschaft gegeben
hat. Wir wollen, dass die Ärzte demnächst wieder häufiger Angehörige von Verstorbenen ansprechen und auf
die Möglichkeit einer Organspende hinweisen. Zusätzlich haben wir uns darum gekümmert, dass die Richtlinien der Bundesärztekammer eine höhere Verbindlichkeit bekommen.
All diese Maßnahmen dienen dem Ziel, das System
der Organspende in Deutschland gegen Manipulationen
zu sichern und für mehr Transparenz zu sorgen.
({0})
Dass wir den Antrag noch vor der Sommerpause hier
einbringen, zeigt, dass uns dieses Thema besonders
wichtig ist. Wir wollen, dass die Bereitschaft zur Organspende wieder wächst, wir wollen Vertrauen im Sinne
der schwerkranken Menschen zurückgewinnen, und wir
wollen, dass wieder mehr Menschen in Deutschland sagen: Ich bin Organpate.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Marlies Volkmer das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was wir jetzt besprechen, gleicht einem Potpourri. Wir
haben drei große Themen: Erstens. Wie können wir Beitragsschuldner in der Krankenversicherung vor Überlastung schützen? Zweitens geht es um die Aufstockung der
Finanzmittel für die Krankenhäuser. Wir stimmen zu,
dass die Krankenhäuser unterfinanziert sind; aber eine
Verteilung nach dem Gießkannenprinzip halten wir nicht
für in Ordnung. Wir hätten uns vor allen Dingen auf Verbesserungen für das Pflegepersonal und die Erhöhung
der Qualität in Krankenhäusern konzentriert. Drittens
geht es um Änderungen im Transplantationsgesetz. Hierauf möchte auch ich mich konzentrieren, auch wenn das
von anderen Fraktionen schon angesprochen wurde;
denn das ist wirklich ein extrem wichtiges Thema.
Vor noch nicht einmal einem Jahr haben wir hier fraktionsübergreifend Änderungen im Transplantationsgesetz
beschlossen. Unser Ziel war es damals, das Vertrauen der
Menschen in den Organspendeprozess zu stärken.
Gleichzeitig hatten wir im Gesetz verankert, dass die
Krankenkassen alle Versicherten anschreiben, über Organspende informieren, diesem Anschreiben einen Organspendeausweis beilegen und die Menschen auffordern,
sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden.
Natürlich sind wir damals davon ausgegangen, dass
die Zahl der Organspender dadurch steigen wird; denn
wir wissen aus Umfragen, dass zwar viele Menschen
grundsätzlich bereit sind, nach dem Tode ein Organ zu
spenden, dass aber eben längst nicht alle Menschen, die
prinzipiell dazu bereit sind, einen Organspendeausweis
haben.
Dann geschah das, was hier schon beschrieben worden ist: Im Sommer wurden wir von dem Organspendeskandal in Göttingen überrascht.
({0})
Es stellte sich dann heraus, dass auch in drei anderen
von insgesamt 24 Transplantationszentren Manipulationen vorgekommen sind. Diese Aufdeckung ist auch dadurch begünstigt worden, dass wir im Transplantationsgesetz, das wir im vorigen Jahr beschlossen haben, die
Prüfungskommission und die Überwachungskommission gesetzlich verankert und diesen Kommissionen
auch größere Kompetenzen zugebilligt haben.
Dieser Skandal hat leider Gottes dazu geführt, dass
die Zahl der Organspenden weiter rückläufig gewesen
ist. Im vorigen Jahr, im Jahr 2012, sind die Organspenden gegenüber 2011 fast um 13 Prozent zurückgegangen, und dieser Trend setzt sich leider auch in diesem
Jahr fort. Im ersten Quartal gab es deutschlandweit nur
230 Organspender. Im Vorjahreszeitraum waren es noch
281. Das geht zulasten der Menschen, die dringend auf
ein Organ angewiesen sind.
So war es richtig, dass fraktionsübergreifend eine Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium getagt hat. Auch ich möchte mich ausdrücklich bei der Staatssekretärin Frau Widmann-Mauz
bedanken,
({1})
die diese Arbeitsgruppe meines Erachtens ganz toll geführt hat. Vielen Dank noch einmal.
({2})
So gibt es nun zwei weitere Änderungen im Transplantationsgesetz, die ganz wichtig sind - ich möchte
das noch einmal betonen -:
Zum einen ist verankert worden, dass die Richtlinien
der Bundesärztekammer zur Transplantationsmedizin
vom Bundesministerium für Gesundheit genehmigt werden müssen. Hier wird auch noch einmal ganz deutlich,
dass diese Richtlinien verbindlich sind und dass nicht ein
Arzt glauben kann, sich über diese Richtlinien, aus welchen Gründen auch immer, hinwegsetzen zu können.
Zum anderen war es für unsere Fraktion noch einmal
besonders wichtig, dass wir im Transplantationsgesetz
nicht nur den Organhandel strafbewehrt haben, sondern
auch Manipulationen an Patientendaten und Laborwerten und falsche Übermittlungen unter Strafe stellen. Jetzt
wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren
oder mit einer Geldstrafe bestraft, wer solche Manipulationen vornimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Menschen, die
sich mit dem Gedanken tragen, nach ihrem Tod ein Organ zu spenden, aber auch die Menschen, die auf der
Warteliste stehen, müssen sich darauf verlassen können,
dass die Organvergabe tatsächlich nur nach Dringlichkeit und Erfolgsaussicht erfolgt. Ich bin überzeugt davon, dass wir mit diesen Änderungen im Transplantationsgesetz einen Schritt in die richtige Richtung gehen.
Wir werden in der übernächsten Woche noch Gelegenheit haben, über einen umfassenden fraktionsübergreifenden Antrag zu diesem Thema zu debattieren.
({3})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt Karin Maag das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,
insbesondere Frau Kollegin Bender, Herr Kollege
Lauterbach! Mit 67 000 Arbeitslosen ist die Bürgerversicherung tot, und totgerittene Pferde sollte man nicht
noch einmal satteln.
({0})
Vor allen Dingen sollte man sich auch um die wirklichen
Probleme der Menschen in Deutschland kümmern, so
wie wir es tun. Wir kümmern uns um diese Probleme,
wir kümmern uns um die Menschen, wenn es ihnen nicht
gut geht, und wir kümmern uns insbesondere auch mit
dem Gesetz zum Schutz gegen die Überforderung durch
Beitragsschulden darum, dass unser Gesundheitssystem
nicht zur Gesundheitsfalle wird.
({1})
Liebe Kollegin Volkmer, am Rande noch eines: Es ist,
glaube ich, falsch, wenn man vom „Organspendeskandal“ redet. Es geht darum - was wir uns lange nicht vorstellen konnten -, dass Wartelisten manipuliert werden.
Das wollen wir jetzt in diesem Omnibusgesetz mit bis zu
zwei Jahren bestrafen. Ich gehe davon aus, dass wir daKarin Maag
mit das Vertrauen der Menschen in die Organspende zurückholen können.
({2})
Unser Sozialstaat verdient seinen Namen auch deshalb, weil keiner mehr Sorge haben muss, dass er den
Arztbesuch nicht bezahlen kann. Seit dem 1. April 2007
gibt es im Bereich der GKV die Versicherungspflicht.
Jeder, der einmal Mitglied in der GKV war oder ihr zuzuordnen ist, muss sich seither bei einer gesetzlichen
Krankenkasse versichern. Diese Regelung wurde 2009
auf die PKV ausgedehnt.
Tatsächlich hat die Große Koalition gemeinsam die
hohen Säumniszuschläge eingeführt, um zu verhindern,
dass es für freiwillig Versicherte attraktiv werden
könnte, zulasten der Solidargemeinschaft keine Beiträge
zu zahlen und stattdessen Schulden in Kauf zu nehmen.
Kündigung war ja ausgeschlossen. Diese Erwartungen
haben sich nicht erfüllt. Deswegen müssen wir diese Regelung ändern. Mittlerweile sind die Schulden der säumigen Beitragszahler bei der GKV auf 2,5 Milliarden
Euro angewachsen. Uns ist es wichtig, dass die Krankenversicherung nicht mit der Angst vor Schulden verknüpft
wird. Künftig wird deswegen ein regulärer Säumniszuschlag in Höhe von 1 Prozent des rückständigen Beitrags
gelten.
Mit zwei weiteren Änderungen wollen wir auch die
Stundung und den Erlass von Beiträgen deutlich vereinfachen und befördern. Kurz: Wir stellen sicher, dass die
Krankenkassen regelmäßig, regelhaft, von den Instrumenten Stundung und Erlass in jedem Einzelfall angemessen Gebrauch machen können - übrigens nicht nur
zugunsten der Versicherten, sondern auch im eigenen Interesse der Kassen, um den enormen bürokratischen
Aufwand, wie er bisher entstanden ist, zu vermeiden.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind in
Deutschland immer noch 130 000 Menschen nicht versichert. Für diese Nichtversicherten war in der Vergangenheit der Preis für den Einstieg in die gesetzliche Krankenversicherung zu hoch. Hierbei geht es nicht nur um
Säumniszuschläge, sondern vor allem darum, dass mit
Versicherungsbeginn für den Zeitraum, der ohne Versicherungsschutz war, maximal bis 2007 zurück, Beitragsforderungen entstanden sind. Im Gegenzug waren die
Kassen zwar zur Leistung verpflichtet, das hatte aber in
der Praxis kaum Auswirkungen.
Mit einer Stichtagsregelung regeln wir einen vollständigen Schuldenerlass und setzen damit einen hohen Anreiz für jene, die bislang noch nicht versichert waren,
sich endlich zu versichern. Wer sich also bis Ende dieses
Jahres bei einer Versicherung meldet, entgeht der Forderung nach rückständigen Beiträgen und Säumniszuschlägen.
Weil uns die Privatversicherten gleichermaßen am
Herzen liegen, haben wir auch für diesen Bereich ein
ähnliches System geschaffen. Auch in der PKV gibt es
Rückstände in Höhe von 745 Millionen Euro. Nichtzahler sind insbesondere junge Selbstständige, die sich bei
der Geschäftsgründung übernehmen, aber auch Kioskbesitzer und Kneipenwirte, bei denen es zu wirtschaftlichen Engpässen kommt. Genau für diese Gruppe ist es
wichtig, dass wir ihnen noch einmal eine Chance geben.
({3})
Für diese Nichtzahler gibt es jetzt den Notlagentarif,
der dazu führt, dass der bisherige Versicherungsvertrag
ruht. Die Versorgung bei akuten Erkrankungen ist selbstverständlich gesichert. Mit einem prognostizierten Beitrag in Höhe von 100 Euro, Herr Lauterbach, wird das
deutlich günstiger als der Basistarifvertrag, der bisher
bei rund 600 Euro liegt.
({4})
Frau Bender, ein Hinweis an Sie: Die angesparten Altersrückstellungen bleiben bestehen. Es werden nur
keine neuen gebildet. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied.
({5})
Wir nehmen den Neueinsteigern die Sorge vor der Überschuldung. Bisher musste schlimmstenfalls für seit 2009
nicht bezahlte Prämien mit einem Prämienzuschlag von
bis zu 15 Monatsbeiträgen gerechnet werden. Hier gilt
das Gleiche wie bei der GKV: Wer sich bis Ende des
Jahres meldet, der wird von solchen Prämienzuschlägen
befreit.
Noch eines haben wir gelernt: Anders als bei der
GKV sind bei der PKV die Kinder nicht beitragsfrei mitversichert, sondern für sie muss ein eigener Vertrag geschlossen werden. Im Falle einer vorübergehenden Zahlungsschwierigkeit der Eltern sind auch die Kinder
betroffen, wenn sie privat versichert sind. Für sie haben
wir ein eigenes Leistungspaket geschnürt, auf dessen
Grundlage alle Aufwendungen für Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen, so sie von der Ständigen
Impfkommission empfohlen werden, erstattet werden.
Insgesamt bin ich davon überzeugt, dass wir mit diesem Paket von Maßnahmen, die sich aus dem Gesetz zur
Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung ergeben, eine wirklich
umfassende Hilfestellung geben. Das Gesetz bringt uns
dem Ziel näher, allen Bürgern in Deutschland einen
Krankenversicherungsschutz zu ermöglichen und unser
gutes Gesundheitssystem bezahlbar zu halten.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin
Marlies Volkmer das Wort.
Liebe Kollegin Maag, ich nutze die Gelegenheit, zu
sagen, dass ich mich vorhin in meiner Rede in der Tat
versprochen habe. Ich wollte „Skandal“ sagen, habe aber
„Organspendeskandal“ gesagt. Es ist mir durchaus bewusst, dass das kein Skandal im Zusammenhang mit der
Spende war, sondern dass dieser Skandal im Zuge des
Vermittlungsprozesses passiert ist. Das wollte ich gerne
klarstellen.
({0})
Dann gebe ich jetzt dem Kollegen Lothar Riebsamen
das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat beinhaltet dieser Gesetzentwurf einen ganzen Blumenstrauß von Maßnahmen zugunsten
der Patientinnen und Patienten in unserem Land. Ich will
mich aber ausschließlich mit dem Thema Krankenhäuser
befassen; denn die über 2 000 Krankenhäuser mit
1,1 Millionen Beschäftigten sind natürlich eine wichtige,
wenn nicht die wichtigste tragende Säule des Gesundheitswesens in diesem Land. Nicht von ungefähr hat sich
diese Regierungskoalition in den vergangenen vier Jahren sehr intensiv mit den Problemen der Krankenhäuser
im Zusammenhang mit der Finanzierung der Personalkosten und der Sachkosten auseinandergesetzt und hat
ihr einen erheblichen Teil ihrer Arbeit gewidmet.
Ich erinnere an das Versorgungsstrukturgesetz, mit
dem wir für eine bessere Verzahnung zwischen den
Krankenhäusern und dem ambulanten Bereich gesorgt
haben. Ich erinnere an das Infektionsschutzgesetz und
widerspreche ausdrücklich Ihnen, Herr Professor
Lauterbach, dass wir nichts zur Verbesserung der Qualität getan hätten. Wir haben das Infektionsschutzgesetz
eingeführt und verbessert und werden das heute noch
einmal tun. Damit wird die Qualität in unseren Krankenhäusern noch einmal erhöht.
({0})
Darüber hinaus haben wir mit dem Psych-Entgeltgesetz im vergangenen Jahr die Krankenhäuser bei der Finanzierung der Personalkosten hinsichtlich der vereinbarten Tariferhöhungen erneut unterstützt. Es war
nachvollziehbar und auch richtig, dass die Krankenhäuser im Frühjahr dieses Jahres erneut auf uns zugekommen sind und eine Verbesserung der Finanzsituation für
den laufenden Betrieb von uns eingefordert haben.
({1})
Wir stehen dazu. Ja, es ist richtig, dass sie das getan haben, und wir liefern an dieser Stelle. Denn wir wünschen, dass die Krankenschwestern, Krankenpfleger,
Ärzte und alle anderen Berufsgruppen in einem Krankenhaus an den laufenden Lohnentwicklungen angemessen teilhaben. Denn nur so können wir die Berufsbilder,
die wir im Krankenhaus brauchen, auch für die Zukunft
sichern, und wir liefern mit diesem Gesetz an dieser
Stelle.
({2})
Es ist aber normalerweise auch so, dass die Krankenhausentgelte zu 100 Prozent für Personal- und Sachkosten zur Verfügung stehen. Nicht so aber in diesem Land,
weil die Bundesländer ihrer Verpflichtung, zu 100 Prozent für die Investitionskosten aufzukommen, nicht
nachkommen.
({3})
Ich gebe ausdrücklich der Kollegin Bender recht. Deswegen muss Schluss damit sein, dass die Länder ihrer
Verpflichtung nicht nachkommen.
({4})
1,1 Milliarden Euro: Das ist der Betrag, den die Krankenhäuser in 2013 und 2014 bekommen. Ab dem 1. August können die Krankenhäuser 1 Prozent und im nächsten Jahr noch einmal 0,8 Prozent auf ihre Rechnungen
aufschlagen und haben damit sofort Geld zur Verfügung,
das sie auch dringend brauchen. Ich habe einmal ausgerechnet, was der in dem Gesetzentwurf vorgesehene teilweise Tarifausgleich für ein Krankenhaus in meinem
Wahlkreis mit 500 Betten bedeutet: Diesem Krankenhaus stehen dadurch in diesem Jahr rund 400 000 Euro
zusätzlich zur Verfügung. Das ist ein Wort!
({5})
Ich habe das Infektionsschutzgesetz als Qualitätsverbesserungsmaßnahme schon erwähnt. Es wird nun auch
mit zusätzlichen Mitteln und einem Hygiene-Förderprogramm unterlegt. Es werden Neueinstellungen von Hygienefachkräften mit Zuschüssen in Höhe von 90 Prozent der Kosten gefördert, Neueinstellungen von
Fachärzten mit bis zu 75 Prozent und anderes mehr. Zusammengerechnet geben wir bis 2020 für eine Verbesserung der Qualität 365 Millionen Euro für die Krankenhäuser und - das sage ich noch einmal bewusst - für die
Patientinnen und Patienten aus.
Wir sind auch einer wichtigen anderen Forderung der
Krankenhäuser nachgekommen, nämlich im Bereich des
Orientierungswertes flexibler zu sein, der seit dem 1. Januar 2013 gilt. Die Krankenhäuser konnten aber nur
über einen Teil dieser Kostensteigerungen, vom Statistischen Bundesamt festgelegt, verhandeln. Sie können für
2014/2015 über den vollen Orientierungswert verhandeln. Das war eine berechtigte Forderung der Krankenhäuser, der wir nachgekommen sind.
Es geht bei dem Gesetz nicht nur um Geld, sondern
auch um die Verbesserung der Kommunikation zwischen
den Krankenhäusern und den Kostenträgern. Es ist immer wieder von Problemen bei der Abrechnung die
Rede. Mit der Einrichtung einer Schlichtungsstelle auf
Bundesebene sorgen wir dafür, dass zukünftig diese
Kabbeleien, wie ich es einmal nenne, vor Ort weitgehend zurückgedrängt werden. Denn die Dinge von
grundsätzlicher Bedeutung werden geregelt, und wir gehen davon aus, dass Streitigkeiten nicht mehr in dem
Umfang wie in der Vergangenheit auftreten.
Zusammenfassend kann ich sagen: Wir liefern sofort.
Wir helfen den Krankenhäusern, und wir bieten in dieser
Regierungskoalition auch eine Perspektive über dieses
Wahljahr 2013 hinaus, dass wir uns in der nächsten
Wahlperiode mit Strukturen und mit der Bedarfsplanung
auseinandersetzen werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Wir sind am Ende der Debatte, die ich hiermit
schließe.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ge-
setzentwurf zur Beseitigung sozialer Überforderung bei
Beitragsschulden in der Krankenversicherung. Der Aus-
schuss für Gesundheit empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13947, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 17/13079 in der Aus-
schussfassung anzunehmen.
Die Fraktion Die Linke hat beantragt, über Art. 5 d ei-
nerseits und über den Gesetzentwurf im Übrigen ande-
rerseits getrennt abzustimmen. Deswegen rufe ich zu-
nächst Art. 5 d in der Ausschussfassung auf. Ich bitte
diejenigen, die ihm so zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist
Art. 5 d einstimmig angenommen.
Jetzt stimmen wir über die übrigen Teile dieses Ge-
setzentwurfs in der Ausschussfassung ab. Ich bitte dieje-
nigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. - Die
Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit sind die
übrigen Teile des Gesetzentwurfes angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen. SPD und Linke haben sich enthalten. Gegen-
stimmen gab es keine.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, mögen sich bitte erheben. -
Die Gegenstimmen? - Die Enthaltungen? - Damit ist der
Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13947 empfiehlt der Ausschuss, den Ent-
wurf eines Gesetzes der Bundesregierung auf Drucksa-
che 17/13402 zur Beseitigung sozialer Überforderung
bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung für er-
ledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Die Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann
ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss-
empfehlungen des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 17/13947 fort.
Zusatzpunkt 15 b. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12069
mit dem Titel „Keine überhöhten Säumniszuschläge bei
Beitragsschulden“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktio-
nen waren dagegen. Es gab keine Enthaltungen.
Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/10119 mit dem
Titel „Privat Versicherte solidarisch versichern - Private
Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Ge-
genstimmen? - Die Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen bei Zustimmung durch CDU/
CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Die Linke war
dagegen. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/5524
mit dem Titel „Versorgung der privat Versicherten im
Basistarif sicherstellen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Die Gegenstimmen? - Die Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
wiederum bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen. Die Fraktion Die Linke war da-
gegen. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten.
Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 63 a und 63 b
auf:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes um Volksinitiative,
Volksbegehren, Volksentscheid und Referendum
- Drucksache 17/13873 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({0})-
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Abstimmungen des Bundesvolkes ({1})
- Drucksache 17/13874 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2})Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Das Wort für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Thomas Oppermann.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere
parlamentarische Demokratie hat - nach über 60 Jahren
können wir das feststellen ({0})
gut funktioniert. Sie ermöglicht schnelle Entscheidungen, wenn es darauf ankommt. Sie hat auch den einen
oder anderen guten Regierungswechsel ermöglicht, und
es gibt nicht den geringsten Grund, unsere parlamentarische Demokratie infrage zu stellen.
Allerdings dürfen wir nicht ignorieren, dass es Probleme gibt. Die Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein vor drei Wochen sind mit einem Negativrekord zu
Ende gegangen: Nur noch 46 Prozent der Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben. Seit Jahren sinkt
die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen. Wenn aber eine
Mehrheit der Menschen nicht mehr an den Wahlen teilnimmt, dann darf uns das nicht gleichgültig sein.
({1})
Die Bild-Zeitung hat heute ebenfalls eine Studie vorgelegt, nach der im Herbst nur jeder Zweite - jedenfalls
nach heutiger Bereitschaft - an der Bundestagswahl teilnehmen will. Sie empfiehlt im Kommentar eine Wahlpflicht. Ich meine, die Wahlpflicht ist der falsche Weg.
Wir müssen die Menschen von der Demokratie und der
Notwendigkeit des Wählens überzeugen.
({2})
Die Bertelsmann-Stiftung hat am Montag eine Studie
zur Wahlbeteiligung veröffentlicht. Sie zeigt eines ganz
deutlich: Viel zu viele Menschen fühlen sich heute von
der Politik ausgeschlossen. Sie empfinden Politik als
schwer verständlich, haben resigniert und glauben nicht
mehr daran, dass sich politisches Engagement lohnt. Ich
meine, wir dürfen diese Menschen nicht verloren geben,
meine Damen und Herren.
({3})
Allerdings geht es nicht nur um Frust oder politisches
Desinteresse. Das ist der große Irrtum der Konservativen, die jede Veränderung immer gleich als Niedergang
deuten. Tatsache ist nämlich auch, dass sich Formen des
Engagements gewandelt haben. Die Wahlbeteiligung
mag noch so niedrig sein, trotzdem ist der Wunsch vieler
Menschen, etwa bei einem Bauprojekt in ihrer Nachbarschaft mitzureden, niemals größer gewesen. Niemals zuvor waren Bürgerinnen und Bürger so gut informiert und
kompetent wie heute. Schließlich ist die Fachinformation oft nur einen Mausklick entfernt.
Im Internet diskutieren heute Millionen in Foren oder
auf Blogs. Die Ereignisse der letzten Woche in der Türkei bewegen auch in Deutschland viele Menschen. Früher hätte das vielleicht zu Solidaritätsdemonstrationen
auf den Straßen geführt. Heute bekunden Tausende ihre
Unterstützung mit Tweets und Retweets, mit YouTubeBeiträgen oder Like Buttons.
Aber auch die analoge Welt verändert sich. Denken
Sie an das Hochwasser in Halle an der Saale. Das Rote
Kreuz und die Feuerwehren mögen Schwierigkeiten haben, neue Mitglieder zu gewinnen; als aber in Halle das
Hochwasser vor den Toren stand, ist die ganze Universität ausgerückt. Tausende von Studierenden und junge
Leute haben mit angepackt und Sandsäcke geschleppt.
Das Engagement ist also da.
({4})
Diese Beispiele zeigen: Engagement wird heute viel
weniger in Institutionen und Gremien geleistet. Es ist
eher punktuell und themenbezogen. Das ist auch der
Grund dafür, warum sich an der Abstimmung über Stuttgart 21 mehr Menschen beteiligt haben als an der Kommunalwahl in Schleswig-Holstein. Das bedeutet aber
auch: Der Rückgang der Wahlbeteiligung ist nicht
zwangsläufig eine Absage an Demokratie. Er ist für uns
ein Auftrag, unsere Demokratie fortzuentwickeln und zu
modernisieren.
({5})
Die SPD ist seit jeher die Partei der modernen Demokratie. Wir haben das Dreiklassenwahlrecht abgeschafft,
wir haben das Frauenwahlrecht und auch das Wahlalter 18
eingeführt.
({6})
Jetzt schlagen wir vor, unsere repräsentative Demokratie
um Elemente der direkten Demokratie zu erweitern. Wir
wollen den Menschen auf Bundesebene ermöglichen, im
Wege der Volksabstimmungen selbst zu entscheiden.
Dabei ist klar: Wir wollen die parlamentarische Demokratie um die Möglichkeit ergänzen, zwischen zwei
Wahltagen innerhalb von vier Jahren eine Regierung, die
man ja nicht einfach abwählen kann, dennoch in wichtigen Sachfragen punktuell zu korrigieren. Diese Möglichkeit wollen wir den Bürgern einräumen.
({7})
Meine Damen und Herren, Abraham Lincoln hat das
große Versprechen der Demokratie einst so formuliert:
Demokratie ist die Regierung des Volkes durch das
Volk für das Volk.
Heute vertrauen immer weniger Menschen darauf, dass
mit Wahlen allein eine Politik für das Volk zu schaffen
ist. Die Menschen haben auch Gründe dafür. Hier im
Bundestag werden mitunter die Interessen von Minderheiten auf Kosten der Mehrheit ganz schamlos durchgesetzt. Denken Sie an die Mövenpick-Steuer oder an das
Meldegesetz, wo allein wirtschaftliche Interessen kleiner
Gruppen den Ausschlag gegeben haben.
({8})
Es gibt viele politische Streitfragen, die den Bundestag beschäftigen: etwa den gesetzlichen Mindestlohn
von 8,50 Euro, eine verbindliche Frauenquote in Aufsichtsräten, die Abschaffung des Betreuungsgeldes oder
die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften. Bei allen
diesen Themen stellen wir fest: Es gibt nicht nur demoskopisch klare Mehrheiten in der Bevölkerung für diese
Forderungen; es gibt in einigen Fällen sogar Mehrheiten
im Deutschen Bundestag, aber aufgrund von Koalitionszwängen dürfen diese Mehrheiten nicht so abstimmen,
wie sie das wünschen.
({9})
Bei allem Respekt, lieber Kollege Grosse-Brömer, bei
aller Wertschätzung der Fraktionsdisziplin:
({10})
Es muss doch die Möglichkeit geben, dass sozusagen der
Wille der Mehrheit in dieser Gesellschaft einen Weg findet, sich durchzusetzen.
({11})
Ich bin ganz sicher: Wenn wir das Instrument der
Volksabstimmung schon gehabt hätten, hätten wir in dieser Wahlperiode ganz sicher ein Bürgerbegehren gegen
das Betreuungsgeld auf den Weg gebracht,
({12})
ein Bürgerbegehren für den gesetzlichen Mindestlohn
von 8,50 Euro und ein Bürgerbegehren für die verbindliche Einführung der Frauenquote.
({13})
Ich sage Ihnen: Wir hätten in dem einen oder anderen
Fall wahrscheinlich auch gewonnen.
({14})
Wie positiv die direkte Demokratie wirken kann, haben uns vor wenigen Wochen die Schweizer gezeigt.
Dort hatte sich das Parlament jahrelang dagegen gesträubt, etwas gegen die exzessiven Gehälter von Managern zu unternehmen. Dann hat das Volk eingegriffen
und der Selbstbedienung per Volksentscheid mit großer
Mehrheit ein Ende gemacht.
({15})
Ich finde, da können wir von den Schweizern lernen.
({16})
Der Deutsche Bundestag sollte seine Macht in Zukunft mit dem Volk teilen. Wir schlagen deshalb zwei
Dinge vor:
Erstens soll das Volk das Recht haben, selbst die Initiative zu ergreifen und Gesetze per Volksentscheid zu
beschließen. Damit kann es Motor der Politik werden,
wenn wichtige Themen vom Bundestag ignoriert werden.
Zweitens wollen wir, dass das Volk eingreifen kann,
wenn es mit einem Gesetz des Bundestages nicht einverstanden ist; mit einem Referendum kann das Volk sozusagen auf die Bremse treten.
Zu den Details nur so viel: Wir halten es für angemessen, für eine bundesweite Volksabstimmung 1 Million
Unterschriften von Wahlberechtigten zu fordern. Damit
sorgen wir dafür, dass nur Themen von breitem Interesse
zur Abstimmung kommen, aber diese Hürde ist auch
nicht prohibitiv hoch.
Wir stellen außerdem sicher, dass die Rechte der Länder gewahrt bleiben. Wenn ein Gesetz die Zustimmung
des Bundesrates braucht, dann ist in der Volksabstimmung eine doppelte Mehrheit nötig. Bundesweit muss
die Mehrheit der Stimmen für das Gesetz sein, und entsprechend dem Stimmgewicht der Länder im Bundesrat
muss es auch eine Mehrheit unter den Ländern geben.
Wir sorgen außerdem für Transparenz und Chancengleichheit. Jede Kampagne für eine Volksabstimmung
muss offenlegen, wer hinter ihr steht und wer sie finanziert. Aber wir wollen eine Kostenerstattung durch den
Staat, damit auch Gruppen - und Themen - eine Chance
haben, die keine starke Organisation im Rücken haben.
Meine Damen und Herren, wir haben bei diesen Vorschlägen auch auf Erfahrungen aus den Bundesländern
zurückgegriffen. Allein seit der Wiederherstellung der
deutschen Einheit hat es 69 Volksbegehren und 17 Volksentscheide auf der Ebene der Bundesländer gegeben. In
Niedersachsen habe ich selbst 1993 bei der Verfassungsreform im Landtag mitgewirkt, als wir mit Rot-Grün die
direkte Demokratie in der Landesverfassung verankert
haben.
Wie damals geht es auch heute darum, nicht nur die
Möglichkeit der Mitbestimmung des Volkes zu stärken,
sondern auch die Mitverantwortung; denn heute machen
es sich viele Leute leicht und sagen: Die Politik kann es
nicht; die bringt es nicht. - Wenn es die Möglichkeit
gibt, politische Entscheidungen per Volksentscheid zu
korrigieren, kann man sich nicht mehr so einfach herausreden.
({17})
Deshalb stärken wir auch die Mitverantwortung.
Bei der direkten Demokratie bekommen wir -
Herr Kollege.
Darf ich noch kurz zu Ende bringen, Frau Präsidentin? Ich nehme noch eine Minute.
Sie haben ja noch einen anderen Redner auf der Liste.
Gibt es eine Frage?
Nein, es gibt keine Frage. Nach Ablauf der Redezeit
lasse ich auch gar keine Fragen mehr zu. Sie haben Ihre
Redezeit schon deutlich überschritten.
Okay. Danke schön. - Ich glaube, dass Volksentscheide in Deutschland auch die politische Kultur verändern werden. Eine Regierungsmehrheit muss stärker
begründen, was sie vorhat. Sie muss viel mehr Überzeugungsaufwand betreiben. Das geht nicht mehr so wie in
der Europapolitik, wo oft der Eindruck erweckt wird,
dass man gar nicht richtig hinter den Dingen steht, die
dort beschlossen werden. Bei politischen Entscheidungen im Parlament muss man stärker im Auge behalten,
was die Mehrheit der Bevölkerung will, und muss den
Dialog früher suchen.
Ich glaube, dass die direkte Demokratie unserer Verfassung guttut. Das wird von Ihnen in der Union seit
60 Jahren blockiert. Besonders doppelzüngig agiert die
Fraktion der CSU. Sie tritt immer dann für Volksabstimmungen ein, wenn es gegen den Euro geht.
Herr Kollege.
Wenn wir aber Volksabstimmungen für alle Themen
einführen wollen, dann sind Sie dagegen. Sie haben ein
rein taktisches Verhältnis zu Volksabstimmungen. Das
lehnen wir ab. Wir brauchen - das möchte ich zum
Schluss sagen - heute mehr Möglichkeiten zur Beteiligung und zur demokratischen Mitbestimmung. Die einen erwarten das von uns. Für die anderen ist es eine
Chance, die Menschen wieder stärker politisch zu aktivieren.
({0})
Meine dringende Bitte an Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Union: Geben Sie Ihre Blockade auf! Überwinden Sie endlich Ihre Angst! Ein Politiker, der Angst
vor dem Volk hat, ist wie ein Fisch, der wasserscheu ist.
Beide haben Ihre Bestimmung verfehlt.
Herzlichen Dank.
({1})
Helmut Brandt hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer!
({0})
- Ja, Dieter, ich gebe dir gleich die Gelegenheit, wenn du
noch eine Minute hast, nachdem der Kollege Oppermann
seine Redezeit weit überzogen hat.
Die Bundestagswahl rückt näher, und aus diesem
Grund konnte es sich die SPD-Fraktion nicht verkneifen,
das Thema Volksentscheid vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause und dem Auftakt des Bundestagswahlkampfes auf die Tagesordnung zu bringen. Ich hatte
den Eindruck, Herr Oppermann, Ihre Begründung, man
müsse einen Volksentscheid haben, um eine Regierung
möglicherweise in die Schranken zu weisen, ist ein erstes Indiz, dass Sie den Wahlkampf schon verloren gegeben haben und hoffen, uns in der nächsten Wahlperiode
auf diese Art und Weise zu reglementieren.
({1})
Sie haben als Beispiel die Schweiz genannt. Das Beispiel, das Sie genannt haben, hatte sicher positive Effekte. Es gibt aber auch in der Schweiz Volksentscheide,
die - nach meiner Einschätzung und Ihrer bestimmt
auch - ein ganz anderes, nämlich negatives politisches
Ergebnis gehabt haben.
({2})
Auch das sollte man bei der Diskussion berücksichtigen.
Diese Diskussion kann und wird nicht dazu führen,
uns als erklärte Gegner plebiszitärer Entscheidungen
darzustellen. Das ist, wie Sie selber wissen, nicht der
Fall.
Von Ihnen wurden bewusst wichtige Argumente gegen einen solchen Volksentscheid nicht vorgetragen. Ein
Volksentscheid ist ein auf einen Punkt reduziertes Verfahren, bei dem die gestellte Frage nur mit Ja oder Nein
zu beantworten ist. Die Sachverhalte, mit denen wir uns
tagtäglich hier beschäftigen, sind aber nicht einfach mit
Ja oder Nein zu beantworten und auf diese einfache Antwort zu reduzieren. Deshalb haben wir größte Zweifel,
ob Volksentscheide auf Bundesebene - ich betone: auf
Bundesebene - tatsächlich den an sie gestellten hohen
Ansprüchen gerecht werden.
Die größere Gefahr, die ich sehe, ist, dass Gesetzesvorhaben, die über Jahre durch alle Gremien gegangen
sind und von Experten begleitet wurden, dann zu Fall
gebracht werden. Das kann nach meiner Auffassung im
Einzelfall zu ganz gravierenden negativen Erscheinungen führen.
Sie müssen auch bedenken, dass bei Volksentscheidungen die Gefahr besteht, dass wichtige Sachfragen
nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden
werden, sondern danach, wie schlagwortartig und populistisch Parolen unter das Volk gebracht werden, und
dass sich Menschen in ihrer Entscheidung möglicherweise von ihrer allgemeinen Unzufriedenheit mit der
Bundes- oder Landespolitik leiten lassen. Ängste und
Widerstand lassen sich bekanntlich wesentlich leichter
mobilisieren als Begeisterung.
({3})
- Das birgt die Gefahr von Manipulationen, Michael. Die Folge wäre ein nicht auf sachliche Argumente, sondern auf Stimmungen gestütztes Ergebnis.
({4})
- Die Kanzlerin regiert, und wir kontrollieren sie gemeinsam, Michael. Das ist ja unsere Aufgabe.
Zurück zum Tagesordnungspunkt. Wenn ein Volksentscheid durchgeführt würde, wenn Ihr Gesetzentwurf
also Erfolg gehabt hätte, dann wäre das Parlament, wie
von Ihnen zu Recht gesagt worden ist, an das Ergebnis
der Abstimmung gebunden. Ein Interessenausgleich
wäre im Einzelfall gar nicht mehr herzustellen. Oft wäre
er aber nötig.
Es ist richtig, dass wir immer wieder auch unpopuläre
Entscheidungen treffen müssen. Aber langfristig haben
sich die meisten dieser Maßnahmen doch als richtig erwiesen, auch wenn - darauf weise ich hin - zum Zeitpunkt der Verabschiedung ein Volksentscheid die Maßnahme verhindert hätte. Ich erinnere an Ihre eigenen
Hartz-IV-Gesetzgebungsverfahren. Ich bin davon überzeugt: Wenn dazu damals ein Volksentscheid durchgeführt worden wäre, hätten wir diese richtigen Reformen
in dieser Form nicht auf den Weg bringen können.
({5})
- Ja, ja, Herr Hunko. Für Sie wäre das vielleicht die einzige Möglichkeit, politisch wirken zu können. Aber es
ist nicht unsere Absicht, dazu beizutragen.
Visionäre Entscheidungen, wie wir sie in der Vergangenheit immer wieder erlebt haben - ob es um das gemeinsame Europa oder um die Ostpolitik von Willy
Brandt ging -, wären damals aus dem Zeitgeist heraus
von den Bürgerinnen und Bürgern in einem Volksentscheid vielleicht abgelehnt und gebremst worden. Das
alles muss man mit bedenken.
Ich habe manchmal wirklich den Eindruck, manch einer, der mehr direkte Demokratie fordert, möchte sich in
dem einen oder anderen Fall hinter dem Ergebnis eines
Volksentscheids verstecken, weil er nicht die Kraft hat,
eine schwierige Entscheidung selbst zu treffen, wie es in
unserer repräsentativen Demokratie aber nun einmal gefordert ist. Das ist, glaube ich, ein Gesichtspunkt, der immer wieder zum Tragen kommt.
Ich habe ein Beispiel vor Augen. In Aachen ist kürzlich ein Volksentscheid durchgeführt worden, und zwar
zu einem Projekt, das von allen großen politischen Parteien, die im Stadtrat vertreten sind, also SPD, CDU und
Grünen, befürwortet worden ist. Das Ergebnis war: Das
Projekt ist abgelehnt worden, weil nur diejenigen an der
Abstimmung teilgenommen haben, die dagegen waren.
Diejenigen, die dafür waren, haben sich von der Vorstellung leiten lassen: Das Projekt wird sowieso von allen
Parteien getragen; also brauche ich an dieser Abstimmung gar nicht teilzunehmen. - Hier sieht man die Gefahr, dass ein Vorhaben auch scheitern kann, wenn man
nicht die Kraft aufbringt, es - in diesem Falle: im Rat zu beschließen.
Eine Bemerkung zu Ihrer Aussage zur Wahlbeteiligung. Auch ich bedaure die geringe Beteiligung. Sogar
bei dem Referendum, das in Stuttgart abgehalten worden
ist, lag die Beteiligungsquote trotz des großen Medienrummels und trotz all der Umstände, die uns allen noch
vor Augen sind, bei nur 48 Prozent.
({6})
Das belegt, dass es selbst ein solch wichtiges Thema
nicht geschafft hat, die Mehrheit der Wählerinnen und
Wähler dazu zu bewegen, an der Abstimmung teilzunehmen. Das Argument, dadurch könnten die zu beklagende
Unlust der Wähler und die festzustellende Demokratieerlahmung beseitigt werden, greift insofern nicht.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Wiefelspütz?
Ja, gerne. Bitte schön.
Herr Kollege Brandt, gelten Ihre Argumente auch im
Hinblick auf die, wie ich finde, bewährten Instrumente
der direkten Demokratie in Nordrhein-Westfalen, dem
Bundesland, aus dem wir beide kommen, in Bayern oder
in Niedersachsen? Was ist in diesen Ländern eigentlich
so grundsätzlich anders? Immerhin sind diese Länder so
groß, dass sie, wenn sie eigenständige Staaten wären
- rein theoretisch -, möglicherweise geachtete und wichtige Mitgliedstaaten der Europäischen Union wären.
({0})
Worin besteht eigentlich der große Unterschied? Oder
wollen Sie die Instrumente der direkten Demokratie in
Bayern und Nordrhein-Westfalen abschaffen?
Lieber Herr Wiefelspütz, sicherlich wissen auch Sie,
dass in Nordrhein-Westfalen die Einführung eines
Volksentscheids mit den Stimmen der CDU beschlossen
worden ist, sogar auf Initiative der CDU. Das belegt,
dass wir diesen Ansatz nicht grundsätzlich ablehnen.
({0})
Allerdings findet das in den Bundesländern in einem
kleineren Rahmen statt. Nordrhein-Westfalen ist mit sei31716
nen 18 Millionen Einwohnern zugegebenermaßen ein
großes Land; aber in diesem Rahmen lässt sich das noch
handhaben.
Außerdem muss man sich fragen: Welche Entscheidungen sind auf Bundesebene zu treffen? Wollen wir im
Hinblick auf diese Entscheidungen, die sich deutlich von
den Entscheidungen, die auf Landesebene zu treffen
sind, unterscheiden,
({1})
tatsächlich eine solche Möglichkeit schaffen? Wir neigen derzeit immer noch zu der Auffassung, dass das auf
Bundesebene nicht der richtige Weg ist.
({2})
- Jeder wird klüger. Das wird hoffentlich auch bei Ihnen
noch möglich sein. - Jedenfalls halten wir den Vorschlag, den Sie gemacht haben, nicht für zustimmungswürdig.
({3})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, jemand, der
sagt, Demokratie sei mehr, als alle vier Jahre zur Wahl
zu gehen, der hat natürlich völlig recht. Derjenige, der
daraus jedoch den Schluss zieht, wir bräuchten plebiszitäre Entscheidungen auch auf Bundesebene, der verkennt die zahlreichen Möglichkeiten, die unsere Demokratie im Meinungsbildungsprozess tatsächlich bietet.
Ich will von den entsprechenden Gesetzesinitiativen,
die wir in dieser Legislaturperiode auf den Weg gebracht
haben, nur ein Projekt nennen: die frühzeitige Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am Planfeststellungsverfahren im Vorfeld großer Bauvorhaben. Uns war
natürlich bewusst - dieses Problem haben wir gelöst -,
dass die Bürgerinnen und Bürger, die von einer Maßnahme betroffen sind, frühzeitig die Gelegenheit erhalten müssen und jetzt auch haben, sich bei solchen Projekten zu beteiligen. Es gibt noch vielfältige andere
Möglichkeiten, die ich Ihnen nicht alle aufzählen muss.
Ich möchte, anders als es der Kollege vor mir gemacht hat, meine Redezeit nicht überstrapazieren, sondern möchte an dieser Stelle schließen.
Es ist leicht durchschaubar, Herr Oppermann, warum
Sie gerade jetzt mit diesem Vorhaben kommen:
({4})
Es ist wirklich ein auf den Wahlkampf zugespitztes Vorhaben, das wir aber inhaltlich ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
diskutieren über zwei Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion:
Der erste will das Grundgesetz ändern, der zweite
schlägt Verfahren vor. Beide zusammen sollen zu mehr
direkter Demokratie führen, zu Volksbegehren und
Volksentscheiden auch auf Bundesebene. Mit diesen Anträgen nach dem Motto „Mehr Demokratie wagen“
schleicht sich die SPD durch offene linke Tore. Ich erinnere mich an einen entsprechenden Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke vom März 2010, also vor drei Jahren.
Insofern kann ich nur sagen, Kollege Oppermann: Willkommen im Club!
({0})
Andere würden vielleicht meinen - das klang hier
schon an -: „Spät kommt ihr - doch ihr kommt!“ Das
trifft es leider nicht. Richtig müsste es heißen: „Spät
kommt ihr - doch zu spät.“ Denn alle wissen: Bis zur
Neuwahl des Bundestages verbleiben nur noch wenige
Wochen. In dieser knappen Zeit ist dieser Wunsch in einem normalen parlamentarischen Verfahren nicht mehr
ins Werk zu setzen. Deshalb orakeln Böswillige, es gehe
der SPD gar nicht um mehr Demokratie auf Bundesebene, sondern um puren Wahlkampf. Andere meinen,
die SPD spekuliere darauf, dass die Unionsfraktion - der
Kollege Brandt zeigte sich eben wieder verlässlich - dies
natürlich wie seit Jahrzehnten blockieren wird.
Um es deutlich zu sagen: Ich kann mir nicht vorstellen, dass die SPD, die älteste Partei in Deutschland, mit
solchen Tricks arbeitet, zumal es um eine gute Sache
geht.
({1})
Aber, liebe Kollegen von der Union, wenn es doch so
sein sollte, gibt es einen Ausweg. Deshalb richte ich
mich an Sie: Ich würde mir an Ihrer Stelle - ich weiß,
„an Ihrer Stelle“ ist für uns beide nur schwer vorstellbar
- einen Ruck geben und mich nicht vorführen lassen.
Lassen Sie doch die SPD mit ihrem Kalkül einfach ins
Leere laufen und stimmen Sie zu.
({2})
Damit schlagen Sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens machen Sie den Wahlkampfstrategen der SPD einen
Strich durch die Rechnung. Zweitens können wir dann
die SPD beim Wort nehmen.
({3})
Nun aber zurück zum inhaltlichen Anliegen: mehr direkte Demokratie. Im Land Berlin wurde das gerade erfolgreich praktiziert: Mehr als eine Viertelmillion Bürgerinnen und Bürger Berlins haben gefordert, dass die
Energienetze wieder in kommunale Hand kommen und
ein Stadtwerk Berlin künftig mit ökologischer Energie
versorgt. Ich bin stolz, dass die Linke wesentlich dazu
beigetragen hat.
({4})
Auf Bundesebene sind Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksabstimmungen aber noch immer ausgeschlossen, das heißt, die Bundesrepublik ist in Fragen
direkter Demokratie tatsächlich noch ein EU-Entwicklungsland. Ich finde, das muss sich ändern.
({5})
In den letzten 25 Jahren gab es mehrere Initiativen für
mehr direkte Demokratie. Sie wurden stets ausgebremst,
und das nicht nur - das muss ich der Gerechtigkeit halber sagen - durch die Unionsfraktionen.
Die Bürgerrechtler der DDR hatten 1990 am Runden
Tisch einen Verfassungsentwurf erarbeitet. Direkte Demokratie war darin selbstverständlich vorgesehen. Er
sollte eine Mitgift der DDR für das vereinte Deutschland
sein. Dazu kam es nicht.
1991/1992 gab es im vereinten Deutschland einen
Paulskirchen-Konvent für eine neue Verfassung. Auch
dieser Entwurf enthielt Formen direkter Demokratie,
aber auch dieses Angebot wurde ausgeschlagen, dieses
Mal vom Bundestag.
2004 gab es einen erneuten Versuch, eine Volksabstimmung zu erwirken. Es ging um den Verfassungsentwurf für die Europäische Union. Der damalige Außenminister Joseph Fischer lehnte das ab. Er lasse sich seine
EU-Verfassung nicht vom Volk zerschmettern, sagte er.
({6})
Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder behauptete sogar, das Grundgesetz verbiete Volksabstimmungen.
({7})
Wir alle wissen, dass das nicht stimmt.
Das alles ist Geschichte. Aber die letzte Geschichte
zur EU-Verfassung hält noch eine besondere Erzählung
parat, die vielleicht auch Sie, Kollege Brandt, überzeugen könnte.
Der uns allen bekannte, bundesweit agile Verein
„Mehr Demokratie e. V.“ arrangierte damals mit einer
Kleinstadt in der Eifel eine Volksabstimmung über den
EU-Verfassungsvertrag. Die Bürgerinnen und Bürger
stimmten ab, natürlich unverbindlich. Dafür machten sie
sich schlau, schlauer als anderswo. Politikerinnen und
Politiker warben für ihre Position, intensiver als anderswo. Die Beteiligung an dieser Abstimmung war sehr
hoch, die Bürgerinnen und Bürger fühlten sich einbezogen, sie waren gefragt und sie entschieden sich souverän.
Übrigens votierten die Bürgerinnen und Bürger damals
- sehr zum Leidwesen meiner Partei - mehrheitlich für
die EU-Verfassung.
({8})
Dieses Beispiel zeigt, dass wir den Bürgerinnen und
Bürgern mehr zutrauen können, als Sie das gerade dargestellt haben.
({9})
Zum Schluss eine grundsätzliche Bemerkung. Art. 20
Grundgesetz besagt:
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt.
Die Bürgerinnen und Bürger sind der Souverän, niemand
sonst. Das bleiben sie auch, wenn sie eigene Entscheidungen durch Wahlen an die Volksvertreter delegieren.
Wir Abgeordnete vertreten sie, aber wir ersetzen sie
nicht als Souverän. Deshalb müssen die Bürgerinnen
und Bürger jederzeit die Möglichkeit haben, diese delegierten Entscheidungen zurückzuholen oder auch selbst
zu treffen. Das ist der urdemokratische Sinn von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksabstimmungen.
Deshalb unterstützen wir die Initiative der SPD.
({10})
Das Wort hat nun Stephan Thomae für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kollegen! Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe der SPDFraktion, die wir Liberale mit großer Sympathie und
großem Interesse studiert haben. Bevor ich zu einer kritischen Würdigung der Entwürfe komme, erlauben Sie
mir zunächst einige grundsätzliche Überlegungen.
Es stimmt: Der Begriff „Staat“ löst bei den meisten
Menschen in unserem Land leider kaum mehr ein WirGefühl aus. Das ist nicht gut. Viele Menschen erfahren
den Staat in Form von Staatsgewalten: gesetzgebende,
ausführende und rechtsprechende Gewalt. Sie erleben
ihn als den, der ihnen ein Bußgeldmandat für Falschparken an die Windschutzscheibe heftet. Manchmal erleben
sie ihn auch als einen Akteur der Wirtschaft: als feindlichen, übermächtigen, großen Konzern; sprich: sozusagen als Goliath, dem die Menschen und die Gesellschaft
als David, also als der Kleine, Schwache und Unterlegene, gegenübertreten.
Es sieht so aus, als hätten sich Volk und Staat irgendwie auseinandergelebt - das nützt keinem, das schadet
allen -, und das, obgleich es zahlreiche Mitwirkungsund Beteiligungsmöglichkeiten gibt. Aber das sind oft
komplizierte Verfahren zu komplexen Themen. Da bedarf es oft eines fachkundigen Lotsen. So führt manches,
das gut gemeint war, dann doch dazu - eben weil ein langer Atem erforderlich ist -, dass nicht mehr Begeisterung für die Politik entsteht, sondern bloß mehr Verdruss. Was eigentlich zu einem Demokratiegewinn
führen sollte, führt am Ende dann zu Demokratieverlust,
und das sollte nicht sein.
({0})
Politik ist eben eine Ausdauersportart. Manchmal ist
es erforderlich, dass man sich über Jahre hinweg mit den
Themen befasst. Das ist für den Bürger schwer zu handhaben. Er verfügt ja nicht wie ein Parlamentarier über
Mitarbeiter, die Themen aufarbeiten können. Zwar eröffnen neue Medien neue Möglichkeiten, sich zu informieren, auch sich zu beteiligen, aber leider ist es so, dass,
wenn Beteiligung stattfindet, oft zu wenige hingehen.
Das ist eines der Probleme, die wir alle gemeinsam lösen
wollen und lösen müssen.
Ich will auch ein Wort zum Thema Parlamentarismus
sagen - dazu hat der Kollege Oppermann, wie ich meine,
sehr Zutreffendes gesagt -: Wir haben in Deutschland
glücklicherweise einen nach dem Zweiten Weltkrieg gewachsenen Parlamentarismus - nach all den geschichtlichen Erfahrungen, die wir in Deutschland sammeln
mussten -, der seinesgleichen sucht. Weil das so ist, sitzt
das Parlament heute - ebenfalls glücklicherweise - fest
im Sattel. Deswegen meinen wir Liberale, dass wir keine
Angst davor haben sollten, dass mehr Bürgerbeteiligung
das Parlament irgendwie vom Thron stoßen könnte.
({1})
Die Bürger sind keine Gefahr für das Parlament. Das
sollten wir wissen. Wir müssen auch sehen, dass das Parlament nicht notwendigerweise klüger ist als das Volk.
Es ist aber auch nicht notwendigerweise andersherum.
Es gibt keine Richtigkeitsgewähr, weder für das Parlament noch für die Bürger. Das müssen wir sehen.
Nach unserer Verfassung ist es doch so: Nicht das
Parlament gewährt den Bürgern Beteiligungsrechte, sondern die Bürger wählen uns als ihre Vertreter. Sie gewähren uns Vertretungsmacht. Da ist es aus unserer Sicht logisch, dass wir den Bürgern nicht den Stuhl vor die Tür
setzen können.
Alle Staatsgewalt geht - das ist eben schon gesagt
worden - vom Volke aus. Das besagt unser Grundgesetz.
Aber irgendwie kehrt diese Staatsgewalt bis zur nächsten
Wahl nicht so recht zum Volk zurück. Demokratie ist für
uns Liberale eine Mitmachveranstaltung. Parlamentarismus und Bürgerbeteiligung widersprechen sich nicht.
Sie sind keine Gegensätze. Sie ergänzen sich.
({2})
Deswegen sind wir Liberale offen für mehr Bürgerbeteiligung. Deswegen haben wir in unseren Beschlüssen formuliert, dass wir die Demokratie stärken, beleben und
öffnen wollen und dass die Bürger über die Wahlen hinaus Einflussmöglichkeiten erhalten sollen.
Man sieht also: Die FDP ist von dem, was in den Gesetzentwürfen der SPD steht, nicht so weit entfernt.
Aber, Kollege Oppermann, die SPD ist andererseits
- jetzt komme ich zur kritischen Würdigung - auch nicht
so nah an der FDP, dass wir heute sagen könnten: Wir
stimmen einfach zu.
({3})
Beim genauen Blick in Ihre Gesetzentwürfe erkennt man
im Detail - das sind keine Kleinigkeiten - verfahrensmäßige Unterschiede.
({4})
Wir haben in der Bundestagsdrucksache 16/474, also
aus der letzten Legislaturperiode, ein Quorum für die
Volksinitiative von 400 000 vorgeschlagen. In Ihrem Gesetzentwurf ist von einem Quorum von 100 000 die
Rede. Hier gibt es also einen deutlichen Unterschied.
({5})
Was die Frist für das Volksbegehren nach einer Volksinitiative angeht, falls durch die Initiative kein Gesetz
zustande gekommen ist, fordert die SPD, dass innerhalb
von sechs Monaten ein Quorum von 1 Million erreicht
werden muss. Unser Gesetzentwurf seinerzeit sah vor:
15 Prozent der Wahlberechtigten in acht Monaten. Auch
das ist ein Unterschied.
({6})
Bei den Volksentscheiden hat die FDP in ihrem Gesetzentwurf aus der letzten Legislaturperiode ein Quorum
von 15 Prozent formuliert.
({7})
Das sind zahlenmäßige Unterschiede. Sie werden
vielleicht sagen: Gut, das sind aber nur Zahlen. - Diese
Zahlen sind aber nicht willkürlich oder unwichtig. Zu
diesen Zahlen sind wir aufgrund eigener Überlegungen
gekommen. Wir halten sie für wichtig. Das ist der
Grund, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
weshalb wir von der FDP heute Ihren Gesetzentwürfen
nicht zustimmen können.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Ingrid Hönlinger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern hatte ich in einem Parlamentsseminar Besuch
von einer Schulklasse aus Hessen. Mit 32 Schülerinnen
und Schülern im Alter von circa 16 Jahren habe ich über
das Thema Demokratie und Bürgerbeteiligung diskutiert. Die Schülerinnen und Schüler kamen direkt zur Sache und fragten: Ist die Bevölkerung eigentlich gut genug informiert, um über eine politische Sachfrage
abzustimmen? Und die Schüler fragten auch: Besteht
nicht die Gefahr, dass Bürgerbeteiligung populistisch
ausgenutzt wird? - Ich war sehr positiv überrascht, wie
nachdenklich, wie reflektiert und wie reif diese Jugendlichen aufgetreten sind.
({0})
Was können wir daraus lernen? Demokratie, meine
Damen und Herren und auch Herr Sensburg, ist nicht nur
eine Angelegenheit dieses Hohen Hauses. Demokratie
ist die Angelegenheit eines jeden einzelnen Bürgers.
Wenn wir die Bürgerinnen und Bürger informieren und
beteiligen und wenn die Bürger sich interessieren, dann
ist mehr Demokratie möglich. Demokratie lebt von Beteiligung. Ich bin überzeugt davon: Wenn viele mitdenken, dann ist das Ergebnis auch meistens besser.
({1})
Konfuzius hat diese Gedanken vor mehr als 2 500 Jahren folgendermaßen zusammengefasst: Erkläre mir, und
ich werde vergessen. Zeige mir, und ich werde mich erinnern. Beteilige mich, und ich werde verstehen.
({2})
Was hindert uns eigentlich daran, unsere Demokratie zu
einer echten Beteiligungsdemokratie weiterzuentwickeln?
({3})
Die Einführung direktdemokratischer Elemente auf
Bundesebene ist seit Jahrzehnten eine der zentralen demokratiepolitischen Forderungen der grünen Bundestagsfraktion. Seit 1990 haben wir zahlreiche Initiativen
im Bundestag vorgelegt. Diese sehen vor, dass Gesetzesvorschläge in einem dreistufigen Verfahren - Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid - von den Bürgerinnen und Bürgern zur Abstimmung eingebracht und
beschlossen werden können.
({4})
Wir stellen fest: Der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung ist in den vergangenen Jahrzehnten lauter geworden, die Menschen in unserem
Land - aber auch anderswo - sind informiert, bringen
sich mit ihrem Wissen ein und gestalten zunehmend aktiv die Gesellschaft mit. Internet, Digitalisierung und
Social Media beschleunigen diesen Prozess und ermöglichen eine rasant zunehmende und weitreichende Transparenz. Sie ermöglichen auch mehr Kommunikation und
Mitentscheidung durch informierte Bürgerinnen und
Bürger.
Wenn Bürger ihre Anliegen umsetzen wollen, geht
das manchmal blitzschnell: Schauen wir in die Türkei,
schauen wir hier auf die Blockupy-Bewegung, oder
schauen wir, wie schnell sich Bürger zusammenfinden,
um ihre Dämme in Sachsen-Anhalt und anderswo zu erhöhen, wenn ihre Häuser und Dörfer bedroht sind.
Bürgerbeteiligung und Volksabstimmungen sind ein
Gewinn für die Demokratie. Sie sind Bestandteil einer
modernen Demokratie.
({5})
Wir müssen deshalb in diesem Hohen Hause endlich die
gesetzlichen Grundlagen dafür schaffen, dass die Bürgerinnen und Bürger auch wirklich mitgestalten und mitbestimmen können.
({6})
Direkte Demokratie kann die repräsentative Demokratie sinnvoll ergänzen. Direktdemokratische Abstimmungen müssen auch die Rechte des Parlaments nicht
mindern. Nach unserem grünen Beteiligungsmodell
kann der Bundestag während des Verfahrens alternative
Regelungen verabschieden oder zur Abstimmung stellen. Dem Parlament bleibt es auch unbenommen, ein
durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz wieder zu
ändern oder aufzuheben.
Wir wollen, dass die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich über alle politischen Sachfragen abstimmen
können. Das schließt auch finanzwirksame Volksinitiativen ein. Ausgenommen sind das Haushaltsgesetz und
Abgabengesetze im Sinne der Finanzverfassungsartikel,
also Steuern, Zölle und Finanzmonopole. Ihre Änderung
soll nach unserer Überzeugung dem Parlament vorbehalten bleiben.
({7})
Die Demokratie in Deutschland und Europa voranzubringen und direktdemokratische Entscheidungen zu ermöglichen, ist seit jeher Ziel grüner Politik. Natürlich
fordern wir auch hier den Schutz der Menschenrechte
und Minderheiten. Das Volksbegehren zum Minarettverbot in der Schweiz hat uns gezeigt, dass direkte Demokratie auch für menschenverachtende Hetze, für
Diskriminierung und für den Abbau von politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Rechten einzelner Bevölkerungsgruppen benutzt werden kann.
Wir Grünen wollen vermeiden, dass Volksinitiativen
dazu missbraucht werden, Stimmung gegen bestimmte
Bevölkerungsgruppen zu machen und menschenfeindliche Ressentiments zu schüren. Wir wollen keine
Hetzkampagnen gegen Homosexuelle, Obdachlose,
Ausländerinnen und Ausländer oder gegen Menschen
unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, auch nicht
im Gewand der Volksinitiative.
({8})
Deutschland ist Teil der Europäischen Union und unterliegt deshalb besonderen politischen und rechtlichen
Verpflichtungen. Die Stellung Deutschlands als verlässlicher Partner im Rahmen europäischer Verhandlungsprozesse ist ein hohes Gut, das wir Grünen schützen
wollen. Deshalb wollen wir auch verhindern, dass direkte Demokratie für nationalistische und europafeindliche Interessen instrumentalisiert wird.
({9})
Wir setzen uns auch für eine weitere Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in der EU ein. Es geht
uns darum, den Bürgerinnen und Bürgern der EU stärkere Mitsprache- und Mitentscheidungsmöglichkeiten
bei der grundsätzlichen Ausrichtung der Europäischen
Union zu geben. Mit der Europäischen Bürgerinitiative
steht den Unionsbürgerinnen und -bürgern seit dem
1. April 2012 erstmals ein direktdemokratisches Instrument zur Verfügung.
Ich möchte hier noch einmal festhalten: Auf Bundesebene haben wir in Deutschland noch keine einzige
Möglichkeit zur Durchführung direkter Demokratie. Wir
sind also auf europäischer Ebene weiter als auf Bundesebene. Schon allein das sollte für uns Anlass sein, endlich direkte Demokratie auf nationaler Ebene zu ermöglichen.
({10})
Wenn wir mit direkter Demokratie über europäische
Angelegenheiten entscheiden, müssen wir den rechtlichen Rahmen so setzen, dass eine europäische Angelegenheit auch europäisch entschieden wird. Auf
Deutschland beschränkte Volksinitiativen zu Gründungsverträgen der Europäischen Union oder gegen den
Beitritt eines neuen Mitgliedstaates sollen aus unserer
Sicht unzulässig sein. Damit wollen wir nationale Blockaden wichtiger Reformen verhindern. Stattdessen streben wir europäische Referenden an, bei denen alle EUBürger nach europäischem Recht über wesentliche Änderungen der EU-Gründungsverträge abstimmen können.
Wir Grüne haben ein schlüssiges Demokratiekonzept.
Wir sind die Partei, die den Willen der Bürgerinnen und
Bürger ernst nimmt. Wir wollen mehr Demokratie in
Deutschland und in Europa, und wir wollen die Bürgerinnen und Bürger stärker einbeziehen. Wir sprechen
nicht nur wohlfeile Worte. Wir wissen, wie innerparteiliche Demokratie funktioniert. Wir handeln. Wir Grünen
bieten glaubwürdig eine Politik der gesellschaftlichen
Demokratie an.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Das Wort hat nun Ingo Wellenreuther für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Die Forderung nach mehr Plebisziten
auf Bundesebene wurde in diesem Haus in den letzten
Jahren schon einige Male debattiert. Ich selbst halte,
glaube ich, heute die fünfte Rede dazu. Die Argumente
sind ausgetauscht und bekannt.
Mit heißer Nadel hat die SPD trotzdem noch in dieser
vorletzten Sitzungswoche vor der Sommerpause zwei
Gesetzentwürfe gestrickt.
({0})
- Da wären Sie auch gut aufgehoben. - Erst vor drei Tagen haben Sie diese vorgelegt. Schon dadurch wird deutlich, dass es Ihnen hier nicht um eine ernsthafte Debatte
geht. Sie wollen vielmehr den Menschen vorgaukeln,
dass sich in dieser schwierigen Frage noch in dieser
Legislaturperiode etwas bewegen ließe. Aber diese
neuen Gesetzentwürfe könnten weder in den Ausschüssen sachgerecht behandelt werden - Frau Pau hat darauf
hingewiesen -, noch könnte es im Bundestag eine zweite
und dritte Lesung geben. Deswegen ist das Ganze eine
Farce, die niemandem etwas bringt. In Wahrheit geht es
Ihnen allein darum, das Thema über eine Bundestagsdebatte in den Wahlkampf einzuführen.
Schauen wir uns das Thema Volksabstimmungen trotz
allem noch einmal genauer an. In den jeweiligen Landesverfassungen und Gemeindeordnungen gibt es schon
eine Vielzahl von plebiszitären Elementen. Der Bürger
hat dort ein Mitbestimmungsrecht und kann mit seiner
Stimme Einfluss auf die jeweilige Politik nehmen.
Schauen wir uns nun einmal an, wie es die SPD, die
Grünen und die Linke bei uns im Land tatsächlich mit
dem Bürgerwillen halten und was Glaubwürdigkeit vor
allem in der Politik bedeutet. Meiner Auffassung nach
halten Sie hier im Bundestag Sonntagsreden;
({1})
doch in der politischen Praxis, dann, wenn es konkret
wird, verhalten Sie sich ganz anders.
Einige Beispiele. In Berlin stimmte das Volk 2008
über die Schließung des Flughafens Tempelhof ab. Gewiss: Die Beteiligung an dieser für Berlin ganz wichtigen Entscheidung war zu niedrig, als dass der Volksentscheid Gültigkeit hätte haben können. Der Regierende
Bürgermeister, Herr Wowereit, hatte immer bekräftigt,
dass der Senat die Absicht habe, Tempelhof zu schlieIngo Wellenreuther
ßen. Eine Woche vor dem Volksentscheid erklärte Herr
Wowereit wörtlich:
Aber wie auch immer die Abstimmung am nächsten
Sonntag ausgeht: Ihr Ergebnis ist rein rechtlich nur
eine Empfehlung.
Damit war klar, der Berliner Senat würde Tempelhof
in jedem Fall schließen - basta!
({2})
Deutlicher konnte Rot-Grün nicht zum Ausdruck bringen, dass man von der Meinung der Bürger nichts hält.
({3})
Dies kann man nicht anders als zynisch und arrogant
nennen, meine Damen und Herren.
({4})
Zweites Beispiel. In Hamburg konnten die Bürger im
Jahre 2010 über die schwarz-grüne Schulreform abstimmen. Sie lehnten diese in wesentlichen Teilen ab. Interessant war dabei die Erklärung der grünen Schulsenatorin
Goetsch. Sie hat behauptet, die Gegner der Schulreform
hätten irrationale Ängste geschürt und die Hamburger
damit verunsichert. Das passt übrigens zu den Ausführungen, die Sie gerade gemacht haben, als Sie darauf Bezug genommen haben, dass Sie eine Volksabstimmung
verloren haben. Mit anderen Worten: Weil das Ergebnis
des Volksentscheides aus Sicht der Grünen nicht zufriedenstellend ausfiel, müssen die Menschen gerissenen
Bauernfängern auf den Leim gegangen sein. - Das zeigt
überdeutlich Ihre Doppelzüngigkeit im Umgang mit
Volksentscheiden.
Noch einige Beispiele aus Baden-Württemberg. Die
grün-rote Landesregierung will zurzeit im Schwarzwald
einen Nationalpark einrichten. Das ist ein hochumstrittenes Projekt, weil es auch ökologisch nicht nur positive
Effekte mit sich bringen würde.
({5})
Deshalb haben sieben betroffene Kommunen am
12. Mai dieses Jahres eine Befragung ihrer Bürger
durchgeführt. Ergebnis: Im Durchschnitt waren rund drei
Viertel - 75 Prozent - der Bürger gegen das Projekt. Der grün-roten Landesregierung ist das egal. Sie hat vor
wenigen Tagen die Gebietskulisse für den geplanten Nationalpark vorgestellt: 85 Prozent der Gesamtfläche
liegen ausgerechnet auf dem Gebiet der Gemeinden Baiersbronn und Forbach; dabei standen gerade diese Gemeinden bei Beteiligungsquoten von über 70 Prozent
dem Projekt besonders ablehnend gegenüber: Rund
80 Prozent votierten gegen die Einrichtung des Nationalparks.
({6})
SPD und Grüne wollen dieses Projekt trotzdem gnadenlos durchziehen. Das ist Ignoranz in Reinform.
({7})
Nächstes Beispiel: der sogenannte Filder-Dialog im
Zusammenhang mit Stuttgart 21. Die Bürger sollten mithilfe dieses Dialogs an der Entwicklung von Planungsalternativen zum Filderbahnhof beteiligt werden. Schon
bei der Auswahl der Dialogteilnehmer wollte die grünrote Landesregierung die Demokratie offenbar „lenken“:
Eigentlich sollten 80 Bürger mitmachen. Von den angeschriebenen 4 500 „Zufallsbürgern“ machten am Ende
aber nur rund 40 mit. Auf der anderen Seite wurden viele
Interessierte, die sich seit Jahren mit dem Thema befasst
haben, nicht zugelassen. Fazit: Die, die wollten, durften
nicht, und die, die sollten, wollten nicht.
({8})
Bereits die Besetzung des Dialogs hatte Rot-Grün entsprechend gesteuert. Im Verlauf wurde der Bürgerwille
weiter unterdrückt und sogar zu eigenen politischen
Zwecken missbraucht. 65 von insgesamt 109 Dialogteilnehmern stimmten für die sogenannte GäubahnVariante. So etwas nennt man eine klare Mehrheit. Im
Nachhinein wurde dann bekannt, dass diese Variante den
Finanzierungsvereinbarungen widersprochen hätte.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Nein.
({0})
Die Argumente sind bekannt.
Die daraufhin favorisierte Variante „Flughafenstraße“
ließ Rot-Grün durch die Absage einer Kostenbeteiligung
platzen.
({1})
- Könnten Sie, Herr Präsident, bitte für Ruhe sorgen?
Dieses Dazwischengeblöke stört etwas meine Ausführungen.
Herr Kollege, Sie sind doch wohl mannhaft genug,
sich gegen die paar Leute durchzusetzen; Sie haben den
Vorteil des Mikrofons.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich finde, jeder sollte
der Aufgabe gerecht werden, für die er eingesetzt ist.
({0})
Der Filder-Dialog war offensichtlich kein Meinungsaustausch. Bürger ins Leere reden und abstimmen zu lassen, ist keine Bürgerbeteiligung, sondern Volksverdummung. Aber eine Bürgerbeteiligung war von Grün-Rot
auch nie beabsichtigt. Die Bürger wurden nur dazu missbraucht, einen regierungsinternen Streit zu lösen.
({1})
Ein weiteres Beispiel: die Einrichtung der Gemeinschaftsschule. Bildungsexperten zufolge gefährdet dieses Projekt die weithin bekannte ausgezeichnete Schulqualität in Baden-Württemberg. In Bad Saulgau fand ein
kommunaler Bürgerentscheid statt, der zwar das Quorum nicht erreichte, im Ergebnis aber eindeutig war:
Rund 66 Prozent stimmten gegen diese neue Schulform.
Massive Kritik von Eltern und Lehrern, von Elternverbänden, vom Deutschen Philologenverband, vom Berufsschullehrerverband usw. schmettern Grüne und Rote
ab. Sie halten ideologisch an ihrem Prestigeobjekt Gemeinschaftsschule fest. Den Schaden davon haben die
Kinder und Jugendlichen.
({2})
Ähnliches ist von einem Geothermieprojekt in Brühl
zu berichten, über das im Oktober letzten Jahres eine
Bürgerbefragung durchgeführt wurde. Das klare Ergebnis: 67 Prozent waren dagegen. Die Menschen haben
Sorgen, dass es Erdbeben geben könne, die es bei ähnlichen Projekten in Landau und in Insheim gibt. Grün-Rot
war das egal, das Projekt wird durchgezogen und der
Bürger mit seinen Bedenken ignoriert.
Das alles sind Beispiele, die das wahre Gesicht der
Opposition in der Frage der Bürgerbeteiligung zeigen.
({3})
- Ich verstehe, dass Ihnen diese Beispiele wehtun. Deswegen können Sie kaum noch an sich halten. - In der
Theorie singen Sie im Bundestag das Hohelied der direkten Demokratie, aber dort, wo Sie in der Praxis Verantwortung tragen, missachten Sie in vielen Fällen den
eindeutigen Willen der Bürger. Das nennt man Heuchelei. Sie schaffen genau damit Politikverdrossenheit zum
Schaden unseres Landes und unserer politischen Kultur.
Dazu passt im Übrigen der Leitartikel, der am Dienstag in der Badischen Zeitung erschienen ist und den Titel
trägt: „Politik des Gehörtwerdens: Grün-rote Theorie graue Praxis“. Der Autor Wulf Rüskampf schreibt darin:
Widersprechen Bürger wohlgemeinten Ideen der
Regierung, werden sie gehört, aber eben nicht erhört, wie Kretschmann sagt. Wenn es also nicht
klappt mit der Akzeptanz - ist Schluss mit Basisdemokratie und Augenhöhe. Entdeckt Grün-Rot auf
diese Weise die Vorzüge der repräsentativen Demokratie wieder?
({4})
Ich empfehle Ihnen daher: Nehmen Sie zunächst einmal die bereits bestehenden Formen und Möglichkeiten
der direkten Demokratie und Bürgerbeteiligung auf
kommunaler und Landesebene ernst, bevor Sie hier neue
Formen etablieren wollen.
Hinzu kommt - das wurde in den vergangenen Jahren
lange diskutiert -, dass erhebliche rechtliche Zweifel an
der Verfassungsmäßigkeit der hier zur Diskussion stehenden Gesetzentwürfe bestehen. Wir haben mit guten
Gründen in Deutschland ein föderales System. Die Länder haben eigene Interessen, und sie müssen Gelegenheit
haben, diese im Rahmen der Gesetzgebung geltend zu
machen. Das Grundgesetz sieht daher zwingend die
grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung vor. Dieser Grundsatz steht unter der Ewigkeitsgarantie des Grundgesetzes und ist deshalb unabänderlich.
Diese Mitwirkung der Länder darf sich nicht in einer lediglich formalen Beteiligung erschöpfen; sie muss vielmehr bestimmenden Einfluss ermöglichen.
Der Entwurf der SPD greift laut seiner Begründung
im Falle zustimmungspflichtiger Gesetze auf das Modell
des Schweizerischen Volks- und Ständemehr zurück.
Demnach soll beim Volksentscheid in Deutschland das
Ergebnis der Abstimmung in einem Land als Abgabe
seiner Bundesratsstimmen gelten. Das ist aber meiner
Auffassung nach eine rein rechnerische, formale Methodik und etwas anderes als die grundgesetzlich geforderte
inhaltliche Mitwirkung der Länder.
({5})
Das von Ihnen vorgeschlagene Modell erlaubt zwar eine
formale Berücksichtigung der Landesvölker, nicht aber
des organschaftlich gebildeten Willens der einzelnen
Länder. Allein damit wird der Einfluss der Länder in keiner Weise gesichert. Das genügt nicht den Anforderungen des Art. 79 GG.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Sofort. - Sie versuchen nun, dieses Defizit dadurch zu
heilen, dass Sie in Ihrem Bundesabstimmungsgesetz einen Paragrafen zur Wahrung der Interessen der Länder
vorsehen. Das klingt auf den ersten Blick ganz gut, hilft
aber bei genauerem Hinsehen kaum weiter. Das sind nur
Möglichkeiten, mit denen die Länder ihre Auffassung zu
den Gesetzesvorhaben äußern dürfen. Immerhin das gestehen Sie den Ländern zu. Aber das ist weit entfernt von
der verfassungsmäßig geforderten inhaltlichen Mitwirkung; denn diese muss bestimmenden Einfluss haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusammen: Der heutige Vorstoß der SPD ist erkennbar nicht
ernst gemeint und verfassungsrechtlich höchst bedenkIngo Wellenreuther
lich. Sie wollen damit die Bürger im Wahlkampf blenden. Das wird Ihnen nicht gelingen. Deswegen lehnen
wir den Gesetzentwurf ab.
Danke schön.
({0})
Herr Kollege Wellenreuther, ein Blick in die Geschäftsordnung könnte hilfreich sein. Dort wird von der
freien Rede gesprochen.
({0})
Wenn Sie sich bei dem Verlesen Ihres Manuskripts gestört fühlen, brauchen Sie sich nicht beim amtierenden
Präsidenten zu beschweren.
({1})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun
Konstantin von Notz.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege
Wellenreuther, ich kann Ihre Frustration über die Nichtregierungsbeteiligung der CDU in Baden-Württemberg
gut verstehen. Das muss ganz schlimm und hart sein.
({0})
Deswegen haben Sie sich minutenlang an diesem erfreulichen Status quo abgearbeitet. Ich finde, die Zahlen in
Baden-Württemberg sprechen für sich.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich die Grünen
bei den erfolgten Volksabstimmungen, vor allen Dingen
bei der in Hamburg, auf die Sie Bezug genommen haben, natürlich an die Voten gehalten haben, auch wenn
die Abstimmungen nicht im Sinne der Grünen ausgegangen sind. Ein demokratischer Diskurs darüber, wie solche Abstimmungen verlaufen, sollte im Sinne der freien
Meinungsäußerung auch nach Ihrer Ansicht eigentlich
zulässig sein.
Sie haben mich vorhin ja leider nicht zu Wort kommen lassen. Deswegen habe ich mich jetzt noch einmal
wegen folgender schlichter Frage an diesem Vormittag
gemeldet: Sind Sie als CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für mehr Bürgerbeteiligung oder nicht?
Das interessiert die Menschen - gerade in einem Wahljahr. Deswegen würde ich dazu gerne etwas hören.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege Wellenreuther, Sie haben Gelegenheit
zur Reaktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bedanke mich auch
ausdrücklich für Ihre Kommentierung vorhin.
Herr von Notz, natürlich bin ich persönlich für mehr
Demokratie und für eine auf verfassungsrechtlich gesicherter Grundlage durchzuführende Bürgerbeteiligung.
Die Argumente hierzu sind in den letzten Jahren ausgetauscht worden.
Mein Petitum ist nur, dass dann, wenn Bürgerbeteiligung praktiziert wird, insbesondere auf kommunaler und
Länderebene, die Ergebnisse, je nachdem, wie sie ausfallen, von der Opposition nicht so kommentiert werden,
wie das vorhin auch Frau Hönlinger getan hat, nach dem
Motto: Wenn das Ergebnis negativ ausfällt, sind die
Menschen verführt worden. - Genau das waren ja die
Bedenken im Hinblick auf Forderungen nach mehr direkter Demokratie auf Bundesebene. Diese Bedenken
sind auch von unserer Seite seit langem vorgetragen
worden. Weil ein solches Vorgehen nicht auszuschließen
ist, gibt es meiner Auffassung nach gewichtige Argumente dafür, dass die direkte Demokratie auf Bundesebene nur schwer durchsetzbar sein wird.
Ich bin aber der Auffassung, dass auf kommunaler
und Landesebene von der Bürgerbeteiligung sehr wohl
und auch sehr intensiv Gebrauch gemacht werden sollte.
Die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür liegen vor,
und ich würde es sehr begrüßen, wenn sich die Bürger
dort beteiligen könnten.
({0})
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung erhält nun
Frau Hönlinger. - Bitte schön.
Herr Kollege Wellenreuther, Sie haben gesagt, dass
ich im Zusammenhang mit den Beispielen, die ich genannt habe, zum Beispiel das Minarettverbot in der
Schweiz, ausgeführt hätte, dass es erhebliche Bedenken
aus meiner Fraktion gegen direkte Demokratie gebe.
Diese Bedenken gibt es nicht.
Wir meinen, wir müssen für die direkte Demokratie
ordnungsgemäße Regeln setzen, damit sie nicht missbraucht werden kann, um zum Beispiel eine menschenverachtende Hetze gegen Homosexuelle oder Ausländerinnen und Ausländer durchzuführen. Das lässt sich im
Rahmen direkter Demokratie aber durchaus erreichen;
das ist keinerlei Argument gegen direkte Demokratie.
Wir Grünen stehen nach wie vor zu unseren Forderungen für mehr Demokratie, das heißt, auch für direkte
Demokratie.
Danke.
({0})
Jetzt erhält Kollege Wiefelspütz für die SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hebe
an zu einer freien Rede.
({0})
Wer hier im Deutschen Bundestag redet, sollte etwas im
Kopf haben und nicht nur auf dem Blatt Papier.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
kurz vor der Bundestagswahl. Ist es deswegen verboten,
einen komplexen Gesetzentwurf zu erarbeiten und einzubringen?
({2})
Ich bitte dieses Bündnis aus Herrn Wellenreuther und
Frau Pau sehr um Verständnis. Ich finde das wirklich
reichlich oberflächlich. Frau Pau - sie hat jetzt einen anderen Termin - und Herr Wellenreuther, wir, die wir diesen Gesetzentwurf erarbeitet und eingebracht haben,
wissen ganz genau, dass dieser Gesetzentwurf nicht
morgen verabschiedet sein wird. Ich gehe davon aus und
hoffe, dass er in der nächsten Wahlperiode hier im Hause
in den geordneten Verfahren ernsthaft diskutiert wird.
Wir haben aber doch wohl das Recht, einen wirklich in
Punkt und Komma ausformulierten und ernstgemeinten
Gesetzentwurf, der in der langen Kontinuität der Willensbildung der SPD auf Parteitagen steht - im Jahre
2002 haben wir den ersten Gesetzentwurf dazu hier im
Deutschen Bundestag vorgelegt, der nicht ganz so gut
wie dieser hier war -, einzubringen, wenn er vorliegt.
({3})
Wenn das ein Wahlkampfthema wäre, dann wäre ich
ja fast froh darüber. Das wird mit Sicherheit kein Wahlkampfthema sein. Das spiegelt schon die breite Resonanz auf diesen Tagesordnungspunkt hier im Deutschen
Bundestag wider. Selbst von meiner Fraktion sind hier
nicht Hunderte anwesend. Wir haben aber doch wohl ein
Recht darauf - und darum bitte ich -, dass man sich mit
diesem Gesetzentwurf ernsthaft auseinandersetzt.
Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus; davon war
schon die Rede. Sie wird vom Volke in Wahlen und
Abstimmungen und von anderen Verfassungsorganen
ausgeübt. - Wahlen haben wir, Abstimmungen haben
wir nicht. Insoweit ist das Grundgesetz sozusagen ein
Versprechen, bei dem die Antwort fehlt. Abstimmungen
sind die weiße Stelle im Grundgesetz. Diese wollen wir
ausfüllen, nicht mit abenteuerlichen Vorschlägen, sondern, lieber Herr Wellenreuther, orientiert an der ernsthaften Verfassungspraxis ausgewachsener deutscher Bundesländer. Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg,
Bayern sind alles Länder, wo das funktioniert. In Bayern
gibt es Verfassungsänderungen durch das Volk.
({4})
- Herr Kollege Sensburg, ich habe so wenig Redezeit.
Ich freue mich, dass Sie mir Gelegenheit geben, noch etwas zusätzlich zu sagen. Bitte schön, stellen Sie Ihre
Frage.
Bitte schön, Herr Kollege Sensburg. Ihnen ist ja sozusagen schon das Wort erteilt worden.
Ich bitte um Nachsicht, Herr Präsident.
({0})
Ich möchte nicht zur Verwirrung beitragen und dem
Präsidenten einfach vorgreifen; aber wenn er mir das
Wort erteilt, frage ich sehr gerne.
Herr Kollege Wiefelspütz, Sie haben von einer völlig
weißen Stelle im Grundgesetz geredet. Sie wissen aber
schon, dass es in Art. 29 und in Art. 146 Stellen gibt, wo
von Volksentscheiden geredet wird?
Die sind kaum der Rede wert.
Eine ganz weiße Stelle gibt es also nicht. Das wollte
ich nur der Klarstellung halber erwähnen. Wenn Sie das
auch so sehen, brauchen wir gar nicht vertieft weiterzudiskutieren. Falls nicht, hätten wir einen gewissen inhaltlichen Dissens darüber, was in unserem Grundgesetz
steht.
Lieber Herr Kollege Sensburg, wir sind, wie das unter
Juristen häufig ist - ich selber bin ja auch einer -, gemeinsam Besserwisser.
({0})
Sie haben natürlich recht mit Art. 29 usw. Aber das ist
- das wissen Sie doch - wirklich alles marginal. Es geht
hier um direkte Demokratie, es geht um Volksinitiative
und Volksentscheid, es geht um Volksgesetzgebung, es
geht um Referenden, und es geht nicht um die nicht
wirklich praxisrelevante Frage der Neugliederung von
Bundesländern. Irgendwann sind hoffentlich Berlin und
Brandenburg zusammen; aber ansonsten spielt das doch
nicht wirklich eine Rolle. Sie können doch nicht ernsthaft sagen, dass das Stichwort „Abstimmungen“ im
Grundgesetz sozusagen ein blühender Baum wäre. Es ist
bestenfalls eine karge Pflanze, die wirklich ganz winzig
ist. Daraus wollen wir etwas machen.
Herr Sensburg, wir sollten gemeinsam dem Volk etwas zutrauen.
({1})
Ich finde es unglaublich, welches Misstrauen dem Volk
hier gelegentlich entgegengebracht wird, nach dem
Motto: Wir hier im Parlament sind die Oberschlauesten.
Selbstverständlich ist Deutschland eine repräsentative
Demokratie. Diese repräsentative Organisation hat sich
bestens bewährt. Das wird doch nicht infrage gestellt;
das bleibt auch so. Ein Land mit 80 Millionen Einwohnern kann sich nicht dadurch regieren, dass man diese
80 Millionen Menschen auf der Wiese vor dem Reichstag zusammenführt und sie täglich ihre Angelegenheiten
besprechen lässt.
({2})
Insoweit ist die repräsentative Demokratie etwas außerordentlich Bewährtes. Aber Volksentscheid, Bürgerbegehren und direkte Demokratie sind doch eine geniale
Ergänzung eines gut funktionierenden Verfassungssystems. Wer hat denn Angst vor dem Volke an dieser
Stelle? Wer Angst hat, soll das sagen.
Wir können Fehler machen und machen sie auch hin
und wieder; das Volk kann das bei direkter Demokratie
sicherlich auch. Demokratie ist manchmal gefährlich.
Aber erst dann meint man es ernst, wenn man Entscheidungen des Volkes auch akzeptiert - so weh das tut -,
wenn sie einem selber nicht passen, wie beispielsweise
die Entscheidung zum Minarettverbot. Das ist aber eben
Demokratie. Insoweit, denke ich, muss man das schon
wirklich ernst nehmen.
Herr Thomae, unser Gesetzentwurf ist ein ernsthaftes
Angebot. Über viele Details, über Quoren kann man reden. Ich bin der festen Überzeugung, lieber Herr Uhl,
lieber Herr Wellenreuther, lieber Herr Sensburg, dass es
für mehr direkte Demokratie hier im Deutschen Bundestag eine Mehrheit gibt,
({3})
noch keine verfassungsändernde Mehrheit, aber eine
Mehrheit. Lassen Sie uns diesen Pfad verbreitern. Es
wird nicht ausreichen, diese Debatte bis zur nächsten
Bundestagswahl zu führen, Herr Thomae. Sie sollte vielmehr in den nächsten Jahren qualifiziert, ernsthaft, flexibel und daran orientiert stattfinden, dass unsere wunderbare Demokratie mit direkter Demokratie noch ein
bisschen besser gemacht werden kann.
Schönen Dank.
({4})
Lieber Herr Kollege Wiefelspütz, Sie werden uns als
Besserwisser fehlen.
({0})
Das Wort hat nun Jimmy Schulz für die FDP-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Hause und an den
Empfangsgeräten! Lieber Herr Wiefelspütz, auch von
mir Gratulation zu Ihrer vermutlich letzten Rede vor diesem Hohen Haus.
({0})
- Der Volksentscheid wahrscheinlich nicht mehr.
Wie ist das mit dem Volksentscheid? Ich freue mich
ganz besonders, dass mir die SPD nach den Linken zum
wiederholten Male die Chance gegeben hat, zu diesem
wichtigen Thema zu sprechen; denn auch wir von der
FDP haben uns intensiv mit dem Thema beschäftigt. Gerade in der letzten Legislaturperiode haben wir auf
Drucksache 16/474 einen solchen Vorschlag mit dem
Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid in das
Grundgesetz“ eingebracht.
Wissen Sie eigentlich noch, wie Sie damals abgestimmt haben? Sie haben dagegen gestimmt. Woher
kommt denn dieser Sinneswandel? Sie haben weder unter Rot-Grün noch während der Großen Koalition für einen Volksentscheid gestimmt. In Ihrer Begründung aus
der letzten Legislaturperiode hieß es:
Die Fraktion der SPD erklärt, dass sie grundsätzlich
für eine Einführung von mehr direkter Demokratie
sei, wie dies das Grundgesetz auch prinzipiell zulasse. Man müsse allerdings vorsichtig vorgehen,
damit dies nicht dem Populismus und der Demagogie Vorschub leiste. Einem solchen Risiko müsse
man sich aber stellen. Das Volk sei schließlich nicht
dümmer als die Parlamentarier.
Aha! Sie wollten also vorsichtig vorgehen und Populismus verhindern. Dann frage ich mich, warum Sie diesen
Gesetzentwurf jetzt kurz vor den Wahlen einbringen. Im
Gesetzentwurf der FDP findet sich übrigens extra folgender Absatz: „Ein Volksentscheid ist ab drei Monaten
vor einer Bundestagswahl unzulässig.“ Das fehlt in Ihrem Vorschlag. So viel zum Thema Populismus.
Weiter heißt es in Ihrer damaligen Begründung:
Es gebe Elemente der direkten Demokratie in
16 Landesverfassungen und auch im neuen Vertrag
von Lissabon - warum dann nicht auch auf Bundes31726
ebene? Es wäre dann aber auch zu überlegen, als
Gegengewicht die Legislaturperiode auf fünf Jahre
zu verlängern.
Die Idee, die Legislaturperiode auf fünf Jahre zu verlängern, fehlt wiederum in Ihrem aktuellen Vorschlag.
({1})
Es macht sich auch nicht gut, wenn man so etwas vor
Wahlen fordert.
Letzten Endes freut es mich, dass wir dieses Thema
auf Bundesebene wieder einmal diskutieren. Ich habe
mir Ihre beiden Gesetzentwürfe ganz genau angesehen.
Der Kollege Thomae hat auf die Unterschiede in unseren
Vorstellungen schon hingewiesen: Wir fordern deutlich
höhere Schwellenwerte, damit wir vor Trivial- und Bagatellanträgen geschützt bleiben. Zur Stärke der parlamentarischen Demokratie hat der Kollege Wiefelspütz
schon Ausführungen gemacht. Für uns Liberale ist es
wichtig, dass Volksinitiativen einen breiten Rückhalt in
der Bevölkerung haben. Wir möchten, dass diese Chance
zur Mitbestimmung einen hohen Stellenwert hat.
Insgesamt begrüßen wir Ihre Initiative. Leider gibt es
in Ihren Gesetzentwürfen aber Punkte, denen wir nicht
zustimmen können. Das sind zwar nur Feinheiten, aber
diese Feinheiten machen es uns in der heutigen Abstimmung nicht möglich, für Ihre Gesetzentwürfe zu stimmen. Deshalb fordern wir: Bürgerbeteiligung ja, Gesetzentwurf der SPD in dieser Form leider nein.
Aber Bürgerbeteiligung erschöpft sich eben nicht nur
in Abstimmungen und nicht nur in Volksinitiativen. In
unserem Bürgerprogramm für die kommende Bundestagswahl haben wir festgeschrieben, dass wir auch in
Zukunft für ein fakultatives Gesetzesreferendum und die
verfassungsrechtliche Verankerung von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden sind. Das
heißt für uns Bürgerbeteiligung.
Aber es geht auch um Transparenz; denn Transparenz
schafft wiederum Verständnis.
({2})
Insbesondere in der Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ haben wir uns mit neuen Formen
der Bürgerbeteiligung und der Transparenz, revolutionär
für dieses Haus, beschäftigt, haben sie getestet und experimentell ausprobiert. Wir haben zum Beispiel beschlossen, dass alle Sitzungen der Enquete-Kommission
öffentlich sind und alle Dokumente öffentlich zugänglich sind, dass alle Sitzungen der Enquete-Kommission
live im Internet gestreamt werden.
Wir sind sogar noch einen Schritt weitergegangen,
was die Bürgerbeteiligung angeht: Wir haben mit unserem Tool „Adhocracy“, das zum Beispiel unter Demokratie.de oder Enquetebeteiligung.de erreichbar war,
versucht, mit Menschen in Kontakt zu treten, die sich aktiv an der Arbeit eines Ausschusses beteiligen wollen.
Diese Arbeit, die wir damit experimentell versucht haben, ist direkt in die Arbeit und Ergebnisse der EnqueteKommission eingeflossen.
Wir fordern einen Ausschuss für Internet und digitale
Gesellschaft, der diese Arbeit fortführen soll. Er soll
diese Transparenz weiterleben, aber auch die Bürgerbeteiligungsmethoden fortführen. Das ist eine neue Art der
Bürgerbeteiligung und vielleicht auch mehr, als wir bisher gewagt haben.
Wir bleiben dabei: Die Volksinitiative muss auf Bundesebene eingeführt werden. Ich appelliere, dass wir das
in den nächsten Jahren vielleicht alle gemeinsam hinbekommen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Kurz vor Ende der Legislaturperiode, kurz vor Toresschluss, hat die SPD endlich auch
das Thema „Mehr direkte Demokratie“ entdeckt. Sehr
geehrter Herr Kollege Wiefelspütz, natürlich ist es nicht
verboten, in der vorletzten Sitzungswoche zwei komplexe Gesetzentwürfe einzubringen; aber, mit Verlaub,
es ist populistisch.
({0})
Es ist populistisch; denn wenn es Ihnen ernsthaft um
das Thema gegangen wäre, dann hätten Sie wie die Grünen oder die Linke vor drei Jahren entsprechende Initiativen ergreifen können. Seit drei Jahren liegen die Initiativen der beiden anderen Oppositionsfraktionen auf dem
Tisch. Sie haben drei Jahre ins Land ziehen lassen und in
der Sache nichts unternommen, und in der vorletzten Sitzungswoche, obwohl Sie genau wissen, dass eine Beschlussfassung schon allein aufgrund unseres Gesetzgebungsverfahrens nicht mehr möglich ist, bringen Sie das
Thema ein.
({1})
Herr Kollege Oppermann, Sie haben die Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach und der
Bertelsmann-Stiftung erwähnt, die zu Beginn dieser Woche vorgestellt wurde. Ich ziehe aus dieser Untersuchung
eine andere Schlussfolgerung als Sie. Sehr interessant ist
nämlich - Sie haben dies unterschlagen -, dass die Studie festhält, dass die allgemeine Zufriedenheit mit der
Demokratie und dem politischen System in den letzten
zehn Jahren deutlich gestiegen ist.
Das gilt insbesondere für die neuen Bundesländer.
2003 waren lediglich 47 Prozent der ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger mit dem politischen System und
der repräsentativen Demokratie zufrieden. Inzwischen
sind es sage und schreibe 74 Prozent.
Stephan Mayer ({2})
Auch in den westdeutschen Bundesländern gab es
eine erhebliche Steigerung der Zufriedenheit in diesem
Zeitraum von zehn Jahren, und zwar von 72 Prozent auf
84 Prozent. Lediglich 11 Prozent der Bundesbürger sind
mit dem derzeitigen politischen System und der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie unzufrieden.
Ich bin mir sicher: Die Steigerung insbesondere in
den letzten vier Jahren liegt auch daran, dass die christlich-liberale Koalition hier in Berlin gut und erfolgreich
regiert hat. Auch deshalb möchte ich in aller Deutlichkeit sagen, meine Kolleginnen und Kollegen von der
SPD: Ihr Vorschlag ist ein reines Feigenblatt.
({3})
Natürlich teile ich mit Ihnen die Sorge, dass der deutliche Rückgang der Wahlbeteiligung insbesondere bei
Kommunalwahlen und Volksabstimmungen besorgniserregend ist. Aber ich habe deutliche Zweifel, dass man
dieses Phänomen, das uns mit Sicherheit alle wachrütteln muss und auch nicht ruhig sein lassen darf, damit
abstellen kann, dass man eine Initiative zur Einführung
von Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden ergreift.
({4})
Dieser Mechanismus, den Sie vorschlagen, ist hochkompliziert und unheimlich langwierig. Ich bin deshalb
der festen Überzeugung, dass diese Initiative, wenn sie
Platz greifen und umgesetzt würde, nicht zu mehr Partizipation, zu mehr Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger
führen würde, sondern genau zum Gegenteil: zu mehr
Distanz gegenüber politischen Entscheidungen und in
der Konsequenz zu mehr Politikverdrossenheit.
({5})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, es
geht natürlich darum, dass wir mehr Bürgerbeteiligung
ermöglichen. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass
keiner in diesem Hause vor dem Bürger Angst haben
muss. Ganz im Gegenteil: Ich glaube, wir alle sind aufgefordert, die Bürger in unsere Meinungsfindungsprozesse und Entscheidungsfindungsprozesse noch wesentlich intensiver mit einzubinden. Das gilt aus meiner
Sicht auch gerade angesichts der Herausforderungen, die
uns derzeit durch die Energiewende noch bevorstehen,
wenn es zum Beispiel um den Bau neuer Stromtrassen
oder um Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen geht. Hier
muss man die Bürger wirklich ernst nehmen
({6})
und von Betroffenen zu Beteiligten machen.
Aber es ist reine Symbolpolitik, wenn man hier eine
Gesetzesinitiative zur Einführung von Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheiden startet und sich um
das andere, aus meiner Sicht wesentlich wichtigere
Thema der Bürgerbeteiligung vor Ort nicht kümmert.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
bin deshalb dem Bundesverkehrsminister, Dr. Peter
Ramsauer, sehr dankbar, dass er in seinem Haus ein
Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung hat entwickeln lassen. Darin geht es ganz konkret darum, wie man
stärker, intensiver und ernsthafter den Bürgerwillen mit
einbeziehen kann, wenn es um schwierige Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen - das Stichwort „Stuttgart 21“
ist heute schon gefallen - oder insbesondere um den Bau
von neuen 380-kV-Leitungen geht.
Ein weiteres positives Beispiel für ernsthafte Bürgerbeteiligung: Der bayerische Ministerpräsident Horst
Seehofer hat angekündigt, dass er vor einer erneuten Bewerbung der Stadt München für die Olympischen und
Paralympischen Winterspiele 2022 das Volk befragen
will. Es ist angekündigt - dies wird auch durchgeführt -,
dass am Sonntag, dem 10. November dieses Jahres, in
allen Gebietskörperschaften, die von den Olympischen
und Paralympischen Winterspielen konkret betroffen
wären, eine Volksbefragung durchgeführt wird.
({7})
Wir haben nämlich festgestellt: Man kann eine derartige
Bewerbung nicht ohne die Unterstützung der Bevölkerung durchführen. Deswegen gibt es am 10. November
in der Stadt München, in Garmisch-Partenkirchen, in
den Landkreisen Berchtesgadener Land und Traunstein
Volksbefragungen. Das ist ernstgemeinte Bürgerbeteiligung.
({8})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, wenn man sich Ihre Initiative einmal genau ansieht, erkennt man: Sie ist doch unheimlich komplex.
Das geplante Verfahren würde maximal über zwei Jahre
dauern. Das entspricht in keiner Weise mehr den Verhältnissen der heutigen Zeit, in der man gesetzgeberisch,
auch wenn es um die Umsetzung von EU-Richtlinien
geht, durchaus einmal schnell handeln muss. Angesichts
dessen ist ein Zeitraum von über zwei Jahren, wie er in
Ihrem Gesetzentwurf vorgesehen ist, viel zu lang. Er ist
in keiner Weise mehr zeitgemäß und angemessen.
Ein weiterer Nachteil Ihrer Initiative ist, dass ein Gesetzentwurf, der einmal ins Verfahren eingebracht worden ist, nicht mehr geändert werden kann. Auf Ihren leider viel zu früh verstorbenen Fraktionsvorsitzenden
Peter Struck geht das sogenannte Struck’sche Gesetz zurück - jeder kennt es -: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht worden ist.“ Aufgrund unterschiedlicher Interessen, Notwendigkeiten und auch
Bedürfnisse werden Gesetzentwürfe im Rahmen des parlamentarischen Verfahrens natürlich noch einmal geändert. Genau dies wäre nach Ihrer Initiative ausgeschlossen: Ein Gesetzentwurf könnte nur so zur Abstimmung
gebracht werden, wie er zu Beginn der Initiative eingebracht wurde. Auch das ist aus meiner Sicht ein großer
Fehler.
Ein weiteres Defizit Ihrer Initiative: Sie schließen
zwar Haushaltsfragen in der Gesamtheit aus, aber nicht
im Einzelnen. Das bedeutet, man könnte jederzeit eine
Volksinitiative bezüglich eines bestimmten Einzeletats
Stephan Mayer ({9})
starten. Man findet mit Sicherheit 100 000 Bürger in
Deutschland, die bereit sind, zu unterschreiben, wenn es
darum geht, einen bestimmten Einzeletat aufgrund bestimmter Partikularinteressen zu erhöhen. Aber dies lässt
natürlich außer Acht, dass der Gesamthaushalt stimmig
sein muss. Insofern halte ich es für sehr bedenklich, dass
Sie in Ihrer Initiative Haushaltsfragen nicht gänzlich
ausschließen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir, die
CSU - sie ist heute schon angesprochen worden -, nehmen Bürgerbeteiligung wirklich ernst, insbesondere
wenn es um europapolitische Fragen geht. Wir haben auf
unserem Parteitag im Oktober letzten Jahres in München
einstimmig beschlossen, dass, wenn es darum geht, dass
Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die supranationale, europäische Ebene abgegeben werden sollen,
dies die Zustimmung durch eine Volksabstimmung
voraussetzt. Einer Volksabstimmung sollte die Frage unterliegen, ob neue Mitgliedsländer in die Europäische
Union aufgenommen werden. Ebenso sollen Fragen von
erheblicher Finanzleistung durch Volksabstimmung zu
beschließen sein. Dazu stehen wir. Diese Initiativen werden wir auch weiterverfolgen. Das ist wirklich ernstgemeinte, wichtige und richtige Bürgerbeteiligung. In diesem Sinne ist Ihrem Gesetzentwurf nur eine Absage zu
erteilen. Wir nehmen Bürgerbeteiligung wirklich ernst,
und wir führen sie durch.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun Hans-Peter Bartels für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
ein paar Wochen war ich in Glarus. Glarus ist einer von
zwei Schweizer Kantonen, wo einmal im Jahr alle Bürgerinnen und Bürger aufgerufen sind, an der „Landsgemeinde“ teilzunehmen. Die Versammlung auf dem
Marktplatz von Glarus entscheidet direkt über Gesetze,
wählt Richter und Regierung. Glarus ist klein, hat vielleicht 30 000 Abstimmungsberechtigte.
An dem schönen Frühlingssonntag, an dem ich dort
war, standen vielleicht 3 000 Glarner Bürger im Ring auf
dem Platz. Teilnehmerzahlen werden nicht bekannt gegeben. Es ist egal, wie viele Mitbürger, „Mitlandsleute“,
wie es dort heißt, anwesend sind. Alle sind eingeladen.
Wer kommt, entscheidet mit, und wer sich beschwert,
hätte ja kommen können. Verdrossenheit zählt nicht.
Was sollte das auch sein, Volksverdrossenheit? Es ist ein
wunderschönes Ritual, eingerahmt von 3 000 Meter hohen Bergen. Dieses Jahr fand es zum 626. Mal statt. Man
wird demütig vor dieser demokratischen Tradition.
Was wir heute vorlegen, ist nicht ganz so schlicht wie
die „Landsgemeinde“; aber es ist die zeitgemäße Form
direkter Demokratie in einem sehr großen Land mit
80 Millionen Einwohnern. 60 Millionen werden abstimmungsberechtigt sein. Wir formen damit unsere Demokratie nicht nach Schweizer Modell um - dafür gibt es
zu viele Unterschiede im System -, aber wir schaffen auf
Bundesebene das gleiche prinzipielle Abstimmungsrecht, das es in unseren Kommunen, in allen 16 Bundesländern und bei vielen unserer europäischen Nachbarn
gibt. Wir schließen eine Lücke im Grundgesetz.
({0})
Uns ist klar, dass das neue Recht nicht mehr in dieser
Wahlperiode Realität wird; aber es wird kommen. Die
beiden heute vorgelegten Gesetzentwürfe sind eine Einladung an alle, die vielleicht in der nächsten Wahlperiode einen Konsens zur Einführung von Volksentscheiden finden wollen - eine Einladung nicht nur an Grüne,
Liberale und Linke, sondern auch an die Union. Ich
weiß, dass es auch bei Ihnen Diskussionen in diese Richtung gibt. Das ist gut. Die Zeiten ändern sich. Sie haben
schon manches bei uns gefunden, das Sie mit uns teilen
wollen. Wir würden uns freuen.
Ich fand die Arbeit an diesen Gesetzentwürfen ziemlich vorbildlich. Wir hatten Workshops und Kongresse
dazu, haben Expertenrat eingeholt und Kritik erbeten.
Ich danke aus den Ländern besonders Olaf Scholz und
Heiko Maas, die viel beigetragen haben, Professor
Fabian Wittreck, Martin Weinert und den Experten von
„Mehr Demokratie“, der Friedrich-Ebert-Stiftung und
ganz besonders Christine Lambrecht sowie Dieter
Wiefelspütz, der seine ungewöhnlich lange Parlamentsbiografie in diesen Tagen abschließt.
Dieter, es war mir eine Freude und Ehre, mit dir zusammengearbeitet zu haben.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun als letzter Redner in dieser Debatte
Patrick Sensburg für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Bei den beiden Gesetzentwürfen der SPD stellen sich eigentlich
zwei Fragen. Die eine Frage ist: Meint es die SPD ernst
mit dem, was sie heute vorlegt? Die zweite Frage lautet:
Ist das, was hier vorgelegt worden ist, inhaltlich tauglich, um uns im Sinne der stärkeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger weiterzubringen?
Die erste Frage ist eigentlich schon von mehreren
Kollegen beantwortet worden. Die SPD beschäftigt sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen, seit 1998 mit dem
Thema. Sie hat in einer rot-grünen Regierung bis 2002
keine Vorlage gemacht. Dann hat Claudia Roth Druck
gemacht. 2002 kam ein Entwurf, der aber nicht mehr in
eine Gesetzesinitiative umgesetzt worden ist. So ging es
dann Schritt für Schritt mit der SPD weiter. Da müssen
Sie sich doch eigentlich fragen, ob Sie intern überhaupt
geschlossen auf dem Weg in Richtung Volksinitiative
sind. Das frage ich mich, wenn ich höre - Frau Kollegin
Pau hat es eben angesprochen -, wie sich der ehemalige
Bundeskanzler Schröder geäußert hat. Auch die ehemalige Bundesjustizministerin, Frau Zypries, zeigt sich
ganz aktuell auf ihrer Internetseite Bürgerinitiativen gegenüber skeptisch. Sie hat das zusätzlich noch vor einigen Tagen im Offenen Haus in Darmstadt gesagt.
Dem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück wird von
„Bürgerrecht - Direkte Demokratie“ - ich zitiere - vorgeworfen: Die SPD hat sich ein Parteiprogramm gegeben, in dem sie Volksbegehren und Volksentscheide im
Bund fordert. Von Peer Steinbrück habe ich dazu als
Kanzlerkandidat noch nichts gehört. - So äußerte sich
die Sprecherin von „Bürgerrecht - Direkte Demokratie“.
Helmut Schmidt, Ihr ehemaliger Bundeskanzler, sagte
- ich zitiere -:
Schon seit Jahrzehnten bin ich ein ziemlich strikter
Anhänger der repräsentativen parlamentarischen
Demokratie.
({0})
Ich habe … immer Vorbehalte gegenüber Volksentscheiden und Volksbegehren gehabt.
({1})
Der Grund dafür ist, dass viele Fragen viel zu kompliziert sind, um sie nach Gefühl und Wellenschlag
mit Ja oder Nein beantworten zu können.
Dazu kann ich nur sagen: Schauen Sie doch einmal, dass
Sie in Ihren Reihen eine gemeinsame eigene Meinung
finden. Dann können Sie auch wieder dementsprechend
Vorschläge machen, die vielleicht inhaltlich besser sind.
({2})
Ich komme zum zweiten Teil, zum Inhalt. Ihre Gesetzentwürfe sind fachlich - ich sage es mal gelinde sehr dünn; denn Sie beantworten viele Fragen nicht, die
zu beantworten sind, wenn wir über Volksinitiativen,
Volksbegehren und Volksentscheid reden.
Erstens. Jetzt hören Sie einmal genau zu; das ist wichtig. Wer genau stellt denn die Frage, über die abgestimmt
werden wird? Das ist sehr wichtig. Man kann zum Beispiel fragen: Ausstieg aus der Kernenergie, ja oder nein?
Man kann aber auch fragen: Ausstieg aus der Kernenergie, und wir akzeptieren, dass der Strompreis demnächst
allein durch die EEG-Umlage um 6 oder 7 Prozent
steigt?
({3})
Je nachdem, wie man fragt, kommen ganz unterschiedliche Abstimmungsergebnisse dabei heraus. Deswegen ist
bei den einzelnen Initiativen entscheidend: Wer stellt die
Frage? Diese Frage beantwortet Ihr Gesetzentwurf nicht.
({4})
Zweitens. Wie wird die Komplexität gehandhabt?
Muss die Fragestellung alle Details beinhalten, mit allen
Anlagen, oder ist es eine ganz einfache Frage, die mit Ja
oder Nein zu beantworten ist, und wer gestaltet dann
später aus? Allein gestern haben wir 59 Gesetzesinitiativen auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages
gehabt. Wie wollen Sie das in einzelnen Abstimmungen
entscheiden lassen? Auch diese Frage beantwortet Ihr
Gesetzentwurf leider nicht.
Frau Kollegin Hönlinger, Sie haben von Konfuzius
geredet. Das ist - das muss ich leider erwähnen - kein
besonders kluges Beispiel gewesen. Konfuzius geht von
einer Rollenethik aus. Er teilt den Personen ganz klare
Rollen zu. Er wird bei vielen Autoren gerade als antidemokratisch gehandelt. Ich empfehle, bei dem Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo nachzulesen. Der kritisiert
Konfuzius gerade wegen seines Demokratieverständnisses. Ein anderes Zitat wäre klüger gewesen.
({5})
Wir brauchen eine Antwort auf die Frage: Wie bekommen wir an der Stelle eine Formulierung, die es ermöglicht, dass Bürger abstimmen? Diese Antwort liefert
der Gesetzentwurf leider nicht.
Er gibt auch keine Antwort auf die Frage: Welche
Gruppen entscheiden eigentlich bei einem Volksentscheid? Sind es Minderheiten? Wenn ein Thema vielleicht die Niedersachsen und die Schleswig-Holsteiner
interessiert, aber die Baden-Württemberger und die Bayern gar nicht, welche Quoren haben wir dann? Es wird
immer die Schweiz als Musterbeispiel benannt. Gerade
ist die Landsgemeinde Glarus erwähnt worden, die ein
Kanton ist. 3 000 haben abgestimmt. In der Schweiz hat
es bei allen Volksinitiativen in den letzten Jahren eine
Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent gegeben. Kann
denn das Ziel sein, weniger Menschen zur Mitentscheidung zu bringen? Unser Ziel muss doch sein, mehr Menschen zur Mitentscheidung zu bringen.
Der Kollege Oppermann - ich sehe ihn jetzt nicht
mehr - hat eben von Stuttgart 21 gesprochen und einen
Vergleich mit Schleswig-Holstein angestellt. Vergleichen Sie doch einmal in Baden-Württemberg! Über
Stuttgart 21 haben da 12,1 Prozent weniger Menschen
abgestimmt, als bei der Landtagswahl ihre Stimme abgegeben haben. Ihre Zahlen stimmen nicht. Ihr Gesetzentwurf stimmt nicht.
({6})
Legen Sie doch etwas Besseres vor! Dann kann man
auch vernünftig darüber diskutieren.
({7})
Der Kollege Mayer hat es gerade angesprochen: Was
machen Sie denn, wenn es in einem Gesetzgebungsverfahren neue Erkenntnisse gibt? Sie nehmen sich jede
Möglichkeit, ein laufendes Gesetzgebungsverfahren zu
beeinflussen, auch im Sinne der Bürger zu beeinflussen.
Wenn in komplizierten Gesetzgebungsverfahren eine
Rechtswidrigkeit zutage tritt - im Parlament diskutieren
wir über so etwas -, haben Sie keine Möglichkeit, Sachverständige anzuhören. All das nehmen Sie sich und reduzieren es auf eine einfache Fragestellung: Ja oder
Nein?
Letzter Punkt: die Mitwirkung der Länder. Wenn man
sich § 23 Abs. 2 Ihres Entwurfs eines Bundesabstimmungsgesetzes anguckt, stellt man fest: Darin ist nichts
geregelt über die Mitwirkung der Länder - nur eine minimale Quorenregelung im einzelnen Bundesland. Ich
glaube, Sie sollten sich mit Ihren Ministerpräsidenten
einmal darüber auseinandersetzen, ob das ausreichend
ist, gerade wenn es um Finanzfragen geht.
Ich glaube, letzten Endes wird Ihre Initiative daran
scheitern, dass Sie unter dem Strich die Exekutive stärken. Sie nehmen der Bevölkerung im Grunde die Möglichkeit, sich einzubringen. Sie schwächen das Parlament. Sie schwächen die Mitwirkung der direkt
gewählten Abgeordneten.
Noch einmal das Beispiel des Kantons Glarus - dann
bin ich auch am Schluss -: Die Leitung der Versammlung übernimmt der Landrat; er heißt dort „Landammann“. Die Exekutive ist hier ganz stark an der Vorbereitung beteiligt.
All das, was Sie hier beschließen wollen, ist eine
Farce. Sie stärken nicht die Bürger, Sie stärken nicht den
Parlamentarismus; Sie stärken unter dem Strich die Exekutive, die sich sehr deutlich einbringen wird.
Lassen Sie uns doch über Gesetzesinitiativen diskutieren, die inhaltlich gut sind, die bestimmte Kompetenzen
vielleicht ausnehmen! Es könnte ein Weg sein, einmal
über die Fragen zu diskutieren, die man in Volksabstimmungen stellen kann.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
In der nächsten Legislaturperiode haben wir Zeit, darüber zu diskutieren.
({0})
Heute war es eine Wahlkampfveranstaltung Ihrerseits.
Fachlich war es leider nichts.
Danke schön.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/13873 und 13874 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 16 bis 20 auf:
ZP 16 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes in Umsetzung der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 7. Mai 2013
- Drucksache 17/13870 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({0})RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 17 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe
im Einkommensteuerrecht
- Drucksache 17/13871 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({1})RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 18 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({2}), Lisa Paus, Kai Gehring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2013 zur
Gleichstellung Eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Einkommensteuerrecht
- Drucksache 17/13872 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({3})RechtsausschussHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({4}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Recht auf Eheschließung für Personen
gleichen Geschlechts einführen
- Drucksache 17/13912 ZP 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({5}), Lisa Paus, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 und vom 7. Mai
2013 zur Gleichstellung Eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Adoptionsund Einkommensteuerrecht umsetzen
- Drucksache 17/13913 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
auch dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich eröffne die Aussprache und erteile Thomas Strobl
für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte mit einem ganz offenen Wort
beginnen: Meine Partei, die CDU, tut sich bei diesem
Thema schwer.
({0})
Bei diesem Thema ringen wir um den richtigen Weg. Ich
habe Respekt vor denen, die Argument für Argument
prüfen, die sich schwertun, die sich möglicherweise sogar quälen bei einer gesellschaftspolitischen Frage und
einer gesellschaftlichen Entwicklung, die so einfach
nicht ist.
({1})
- Wissen Sie, mir sind bei gesellschaftspolitischen Fragen manchmal diejenigen, die von Anfang an genau gewusst haben, wie es geht, nicht so sehr sympathisch, wie
diejenigen, die um das, was wichtig ist, wirklich ringen.
Ich habe in den vergangenen Monaten in meiner Partei für diesen Gesetzentwurf, den wir heute einbringen,
geworben, nicht nur mit Blick auf die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes, die selbstverständlich
immer zu respektieren und auch umzusetzen ist, sondern
weil ich in der Sache eine Überzeugung gefunden habe.
({2})
Diese Überzeugung ist, dass die steuerliche Gleichstellung von Lebenspartnerschaften ein zeitgemäßer
Ausdruck konservativer Politik sein kann, in der es um
etwas sehr Grundsätzliches geht, nämlich um die Sicherung von Freiräumen in dieser Gesellschaft, in denen unterschiedliche Lebensentwürfe verwirklicht werden können.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Mensch ist unvollkommen.
({4})
Das ist unser christliches Menschenbild. Deswegen ist
auch die Politik, die von Menschen gemacht wird, unvollkommen.
({5})
- Hören Sie doch einmal einen Moment zu.
Macht man diese Einsicht zur Grundlage von Politik,
dann bedeutet das: Demut, Bescheidenheit,
({6})
Respekt vor der Unterschiedlichkeit menschlicher Lebensentwürfe und vor allem - das würde auch Ihnen
nicht schaden -, sich zuweilen in dieser Bescheidenheit
zu üben.
({7})
Die Grenzen menschlicher Erkenntnis setzen notwendigerweise auch der Politik Grenzen, die nichts anderes
als das Werk von Menschen ist. Daraus ziehen wir einen
Schluss: Bevor der Staat tätig wird, liegt die weitestmögliche Verantwortung bei den Einzelnen, bei der Familie,
bei den Kommunen und bei gesellschaftlichen Gruppen
als diejenigen, die nach unseren Vorstellungen diese Gesellschaft tragen. Ehe, Familie, die Gemeinschaft, die
Kommunen rangieren vor dem Staat. Das ist der Kern
konservativer Gesellschaftspolitik. Das ist im Übrigen
auch der Unterschied zu den Sozialdemokraten und zu
ihren gedanklichen Ablegern, den Grünen.
({8})
Aus diesem Grund, liebe Kolleginnen und Kollegen,
glauben wir an den besonderen Wert zwischenmenschlicher Bindung und Verpflichtung. Wir glauben, dass eine
Gesellschaft stärker und auch freier wird, wenn Menschen sich freiwillig gegenseitig verpflichten, gegenseitig binden, wenn sie ein Leben lang füreinander Verantwortung übernehmen. Aus diesem Grund treten wir aus
ganzer Überzeugung für die Ehe ein. Aus diesem Grund
halten wir in der Union, im Gegensatz zu den Grünen,
auch in der Zukunft am Ehegattensplitting fest.
({9})
Aus diesem Grund stärken wir auch aus ganzer Überzeugung die Familien. Das haben wir zu Beginn der Legislaturperiode getan, indem wir das Kindergeld und den
Kinderfreibetrag deutlich angehoben haben. Wir werden
nach der Bundestagswahl hier mit der Verbesserung der
Renten für die älteren Mütter weitermachen.
Weil ich an den Wert zwischenmenschlicher Bindungen glaube, bin ich der Überzeugung: Wenn zwei Männer oder zwei Frauen eine auf Dauer angelegte und
rechtlich verfestigte Partnerschaft eingehen, wenn sie
füreinander einstehen, wenn sie ein Leben lang füreinander Verantwortung übernehmen, wenn sie die Gemeinschaft und den Staat also auch entlasten, dann sollten sie
im Steuerrecht genauso behandelt werden wie heterosexuelle Paare.
({10})
Es mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber
David Cameron hat recht: Als Konservativer kann man
für Lebenspartnerschaften eintreten, nicht obwohl, sondern weil man ein Konservativer ist.
Der Opposition wird es in dieser Debatte allerdings
noch um einen weiteren Punkt gehen: um das volle
Adoptionsrecht für homosexuelle Paare. Auch in dieser
Thomas Strobl ({11})
Frage - das sei ganz offen gesagt - gibt es in meiner Partei unterschiedliche Auffassungen.
({12})
Viele Menschen empfinden im Hinblick auf die Volladoption ein gewisses Unbehagen, und sie zögern.
({13})
Wer die Zwischenrufe der Grünen in den vergangenen
Debatten zu diesem Thema gehört hat, konnte feststellen: Sie erkennen in diesem Zögern nichts als Dummheit
oder gar ein Residuum von Homophobie.
({14})
Ich erkenne in diesem Zögern zunächst die Aufforderung: Lasst uns eine Sache auf das Allergründlichste bedenken, wenn es um das Wohl von Kindern geht.
({15})
Noch etwas sollten Sie nicht aus den Augen verlieren:
Wir sehen derzeit in Frankreich, welche Konsequenzen
eine Entscheidung im Adoptionsrecht haben kann, wenn
sie nicht von einem sehr breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird. Wir möchten auf den Straßen in
Deutschland keine französischen Verhältnisse. Wir wollen in Deutschland keine Spaltung der Gesellschaft, so
wie sie in Frankreich leider eingetreten ist.
({16})
Der Kollege Beck, der heute nicht zugegen ist,
({17})
hat in Sachen Lebenspartnerschaften seit einiger Zeit
den Vorsitzenden der britischen Konservativen als zitierwürdige Autorität entdeckt; das ist in Ordnung. Vielleicht darf ich einen Vorgänger Camerons vom Ende des
19. Jahrhunderts zitieren, der meinte: Aufgabe der Konservativen sei es - ich zitiere -, „Veränderungen zu verzögern, bis sie harmlos geworden sind“. In meinen Worten: Es geht darum, den Wandel in einer Gesellschaft so
zu gestalten, dass die Gesellschaft über ihn nicht auseinanderfällt oder gar zerbricht. Vielleicht kann man der
Überlegung zur schrittweisen, behutsamen Ausweitung
der Rechte der Lebenspartnerschaften vor diesem Hintergrund auch dann etwas Gutes abgewinnen, wenn man
ein solches Vorgehen im Grunde für falsch hält und die
Rechte am liebsten in einem Zug verwirklicht sehen
würde.
({18})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Dazu haben wir den heute vorliegenden Gesetzentwurf eingebracht. Lassen Sie uns diesen Schritt gemeinsam machen!
Danke schön.
({0})
Kollege Beck, es passiert Ihnen selten, dass Sie übersehen werden, oder?
({0})
Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPDFraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir
diskutieren heute - man hätte eben einen falschen Eindruck bekommen können - nur über Änderungen im
Einkommensteuergesetz.
({0})
Sie haben sich gerade ziemlich groß aufgeblasen, als Sie
sagten, dass Sie den richtigen Weg gesucht und ihn offensichtlich auch gefunden haben. Aber wir ändern nicht
die Gesellschaft; wir ändern nur das Einkommensteuergesetz. Das tun Sie übrigens nicht aus Überzeugung oder
deshalb, weil sie den richtigen Weg gefunden haben,
sondern weil das Bundesverfassungsgericht es Ihnen
aufgetragen hat; so viel dazu.
({1})
Auch andere große gesellschaftliche Themen sind Sie
nicht von sich aus, weil sich Ihre Überzeugung geändert
hat, angegangen. Ich nenne als Beispiel die Wehrpflicht.
Natürlich: Es gab keine Wehrgerechtigkeit mehr, und
kaum noch jemand wollte zur Bundeswehr. Was haben
Sie gemacht? Sie haben die Wehrpflicht ausgesetzt und
sich gewundert, dass plötzlich gar keiner mehr zur Bundeswehr kam.
({2})
Auch hier haben Sie nicht die richtigen Maßnahmen ergriffen. Auch dieses Thema haben Sie falsch angepackt.
Ein anderes Beispiel ist das Thema Atomkraft. Im
Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung waren Sie für
eine Laufzeitverlängerung.
({3})
Nach Fukushima haben Sie die Atomkraftwerke einfach
abgeschaltet; Sie wollten Ihren Weg finden. Das haben
Sie allerdings getan, ohne Begleitgesetze auf den Weg zu
bringen. Wir haben hier die Energiewende gesetzlich beschlossen. Dadurch ist sie aber noch nicht da.
({4})
- Jetzt komme ich zu dem Gesetzentwurf.
({5})
Auch da geht es um eine Reihe von Maßnahmen, zu denen man Sie zwingen musste, die dann aber ohne richtige Überzeugung umgesetzt werden.
({6})
Wir kommen jetzt also zur Änderung des Einkommensteuergesetzes. Ich betone: Wir von Rot-Grün haben
schon 2001 wahrgenommen - wir haben da einen guten
Draht zur Bevölkerung -, dass die Gesellschaft offener
und vielfältiger geworden ist und Menschen auch in anderen Formen leben wollten. Ich stehe auf Männer, mein
Mann steht auf Frauen; da bietet sich die Ehe an.
({7})
Aber andere Leute sind anders orientiert. Das haben wir
wahrgenommen, und wir haben gesagt: Wir machen ein
schönes, rundes Gesetz dazu. - Das haben wir 2001 gemacht. Wir sind am Bundesrat mit unserem Vorhaben
gescheitert. Wir wollten damals mehr tun, als nur ein
paar rechtliche Dinge zu ändern. Wir wollten von Anfang an auch die finanziellen Vorteile, die eine Ehe bietet, auf Lebenspartnerschaften übertragen; wir wollten
eine echte Öffnung der Ehe. Das ist damals allerdings an
Konservativen und an nicht mutigen Liberalen gescheitert; darauf muss man immer wieder hinweisen.
Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht eingegriffen endlich! Sie wollen jetzt genau das umsetzen, was Ihnen
das Bundesverfassungsgericht konkret aufgeschrieben
hat: Sie müssen unbedingt das Einkommensteuerrecht
und andere finanzielle Dinge ändern. Da sagt das Ministerium: Wir können nicht alles auf einmal machen; wir
ändern erst einmal nur das, was wir dringend ändern
müssen, ändern das Einkommensteuerrecht. - Das Bundesverfassungsgericht sagt richtigerweise: Das muss
rückwirkend bis 2001 gelten. - Da sagen Sie: Okay, wir
machen es rückwirkend. ({8})
- Ja, genau das ist der Punkt: Was bedeutet denn „offene
Fälle“? - Ich habe am Mittwoch im Finanzausschuss
nachgefragt. Es gab Bundesländer, in denen die Fälle
nach Einsprüchen offengehalten wurden, und es gab
Bundesländer - das waren vor allem die Südländer, vornehmlich Bayern und Sachsen -, die diese Fälle, die in
anderen Bundesländern offen gehalten wurden, abgeschlossen haben und die Bescheide für bestandskräftig
erklärt haben. Was kann denn jemand, der einen solchen
Einspruch in Bayern eingelegt hat, dafür, dass sein Finanzamt anders handelt als ein Finanzamt in Köln?
Ich finde, das ist eine grobe Ungerechtigkeit, gegen
die Sie nicht vorgehen.
({9})
Ich bin sicher: Wenn wir das Gesetz heute verabschieden, dann wird heute Nachmittag jemand Klage dagegen
einreichen, und er oder sie wird Erfolg haben. Ich denke,
so geht es wirklich nicht.
({10})
Wir können nicht unterschiedliche Rechtsformen in den
Bundesländern tolerieren und sie dann auch noch zur
Grundlage eines solchen Gesetzentwurfs machen.
({11})
- Nein, das haben wir nicht. Wir haben die Entfernungspauschale für alle rückwirkend geändert, egal ob ein
Einspruch eingelegt worden war oder nicht, ob ein Fall
offen oder bestandskräftig beschieden war. Wir haben es
für alle geändert. Ich denke, in diesem Fall muss man es
auch tun.
Wir reden von 34 000 Eingetragenen Lebenspartnerschaften. Gehen wir einmal davon aus, dass nicht bei allen gravierende Einkommensunterschiede vorliegen. So
teuer wird es also nicht werden; das kann nicht das Argument sein.
({12})
Ein anderes Argument darf es hier nicht geben. Ich
denke, wir müssen die Leute gleichbehandeln und dürfen es nicht davon abhängig machen, wo sie ihren
Wohnsitz hatten.
({13})
Deshalb möchte ich ausdrücklich dafür werben, jetzt
nicht nur das Einkommensteuergesetz in der Minimalvariante zu ändern, sondern es im größeren Stil zu machen.
Stimmen Sie unseren Anträgen zu und tun Sie etwas
Vernünftiges. Wenn Sie schon auf den richtigen Weg gekommen sind, dann sollten Sie den Weg bitte bis zum
Ende gehen und sich nicht von einer Bundesverfassungsgerichtsentscheidung zur nächsten hangeln. Da sollten
Sie im Sinne der Bürger handeln; das sollten Sie aufnehmen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist
ein Tag der Freude. Wir von der FDP haben uns schon
seit sehr vielen Jahren dafür eingesetzt, dass diejenigen
Menschen, die gleiche Pflichten haben, auch gleiche
Rechte bekommen. Dieser Gesetzentwurf setzt hier den
für die meisten Betroffenen wichtigsten Punkt um, nämlich eine Änderung bei der Einkommensteuer. Es ist gut,
dass wir das, was wir auch in der Koalition lange streitig
diskutiert haben - es hat lange gedauert -, jetzt mit einer
gemeinsamen Vorlage auf den Weg bringen.
({0})
Ich möchte vor allen Dingen Herrn Strobl für seine
aus meiner Sicht für die Union wirklich wegweisende
Rede danken. Das ist das erste Mal, dass ein von der
Unionsfraktion nominierter Redner hier im Plenarsaal
das ausgesprochen hat, was viele in der Unionsfraktion
schon lange gedacht haben. Sonst wurden immer Redner
ans Pult geschickt, die eine andere Auffassung vertraten.
Diesem Vortrag lag ein modernes konservatives Familienbild zugrunde. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar
dafür, dass Sie Ihre Position deutlich gemacht haben.
({1})
Die Neuorientierung der Union, die hier sichtbar
wird, wird es ermöglichen, in der nächsten Wahlperiode
die letzten Schritte auf dem Weg zur vollständigen
Gleichstellung zu gehen. Wir als Liberale werden darauf
drängen. Nach der heutigen Rede bin ich sehr zuversichtlich, dass wir dabei erfolgreich sein werden.
({2})
Es ist ein Grund zur Freude, dass die schwulen und
lesbischen Eingetragenen Lebenspartner das Ehegattensplitting nutzen können. Ein noch größerer Grund zur
Freude wäre, wenn sie es behalten könnten und Rote und
Grüne es Ihnen nicht nach der nächsten Wahl wieder
wegnehmen würden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich komme mir vor wie in einem Kinderzimmer. CDU/CSU und FDP verhalten sich wie eine Horde
von Kindern, die zwar wissen, dass sie aufräumen müssen, aber es nicht tun wollen.
({0})
Im Koalitionsvertrag hatte die CDU/CSU per Unterschrift die Gleichstellung versprochen, aber umsetzen
will sie es nicht. Da wird gequengelt, mit den Füßen gestampft und geheult - Herr Geis ist ein wunderbares Beispiel dafür -, um bloß nichts tun zu müssen.
({1})
Es wird diskutiert: Später! Später! Ich mache es später! Die paar wenigen, die es wollen - die Wilde 13 der
CDU/CSU -, werden in die Ecke gedrängt. Sie sollen ihren Mund halten und dürfen hier im Bundestag nicht reden. Das ist die Realität. Der ganze Prozess ist nervig. Es
nervt einfach, so wie es Eltern nervt, wenn Kinder permanent quengeln, obwohl sie wissen: Es ist die Norm,
dass man sein Kinderzimmer aufräumt, wenn man etwas
wiederfinden will.
Was machen Sie? Sie benachteiligen Menschen, in
dem Sie sie zwingen, in ungerechten Verhältnissen zu leben. Sie zwingen sie, Lebensenergie und Geld zu verschwenden, um zu ihrem Recht zu kommen. Immer wieder müssen die Betroffenen vor Gericht ziehen, sogar bis
zum Bundesverfassungsgericht. Dort bekommen sie
recht. Und was ist Ihre Reaktion darauf? Sie ändern nur
das, was absolut notwendig ist.
({2})
Im Finanzausschuss wird uns erklärt: Wir wollen eine
Generalklausel im Einkommensteuerrecht. - Ich frage
sie: Warum gibt es keine Generalklausel für das Steuerrecht insgesamt, zum Beispiel in der Abgabenordnung?
Wir könnten das umsetzen. Damit hätten wir die Probleme beseitigt, die wir zum Beispiel noch im Bereich
der Rürup- und Riester-Renten haben; denn hier ist der
Lebenspartner oder die Lebenspartnerin eben nicht abgesichert. Wie sieht das beim Kindergeld aus? Hat der Lebenspartner oder die Lebenspartnerin Kinder, dann bekommt man zwar den Kinderfreibetrag, aber kein
Kindergeld. Man sieht: Es gibt im Steuerrecht immer
noch eine Reihe von Lücken. Das kostet Kraft, weil es
nervt; dabei wissen Sie - zumindest bezüglich des
Einkommensteuerrechts; Sie haben es schon unterschrieben -, dass Sie die Regelungen ändern werden müssen.
Es ist gut, dass wir heute das Wenige tun, aber es ist
enttäuschend, dass Sie nicht wenigstens zum Ende der
Legislaturperiode die Kraft hatten, im Steuerrecht insgesamt reinen Tisch zu machen. Das ist ein Armutszeugnis.
({3})
Immer wieder wird gesagt, Änderungen im Adoptionsrecht seien nicht möglich. Die Lebensrealität in
Deutschland hat sich aber verändert, und wir in der Politik sind verpflichtet, die veränderten Lebensrealitäten
wahrzunehmen. Unser Bundestagspräsident Herr Lammert
hat heute früh in seiner Rede bewusst das Wort „normal“
gebraucht und herausgestellt. Aber was ist denn schon
normal? In Familien gibt es ganz unterschiedliche Konstellationen. Es gibt Ehen zwischen Männern und
Frauen, mit und ohne Kinder. Es gibt Menschen, die
ohne Trauschein zusammenleben: Männer mit Männern,
Männer mit Frauen, Frauen mit Frauen, mit und ohne
Kinder. Es gibt funktionierende Patchworkfamilien in
unterschiedlichen Modellen. In manchen Familien bleiben die Kinder immer in einer Wohnung und die Eltern
wechseln, in anderen Familien wechselt die Betreuung
der Kinder. Inzwischen gibt es Wahlverwandtschaften,
weil unsere Welt so mobil geworden ist. Das ist die Normalität. Wir stehen in der Verantwortung und haben die
Normen des Zusammenlebens der veränderten Normalität anzupassen. Das ist das, was die Bevölkerung zu
Recht von uns erwartet. Wir als Opposition haben geliefert. Sie stümpern vor sich hin.
({4})
Ich sage Ihnen eines: Ich habe im vergangenen Jahr
auf Einladung an der Segnung eines schwulen Paares
hier in Berlin teilgenommen. Ein anderes befreundetes
Paar will seine Partnerschaft erst dann institutionalisieren, wenn es heiraten darf. Ich freue mich schon jetzt darauf, auf dieser Hochzeit zu tanzen; denn die Öffnung
der Ehe steht als Nächstes an.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Frau Höll, wenn es Rot-Grün gibt,
können wir zusammen tanzen, weil es dann die Öffnung
der Ehe gibt.
({0})
- Nein, ich habe nicht Rot-Rot-Grün gesagt, sondern:
Wenn es Rot-Grün gibt.
({1})
Wir feiern die Öffnung der Ehe dann auch mit Ihnen zusammen, wenn Sie das wollen. Da sind wir gar nicht so.
({2})
Das Schöne an Familienfesten ist ja, dass die Menschen
aus unterschiedlichen Richtungen zusammenkommen,
eine Partnerschaft feiern und alle gleichberechtigt in die
Lebenswelt einbezogen werden.
({3})
Im Kern geht es darum: Gleiche Liebe, gleiche Pflichten, gleiche Rechte - nur das ist fair. Das sagt uns das
Bundesverfassungsgericht immer wieder. Zum Menschenbild: Herr Strobl, ja, wir sind alle imperfekt - zugestanden -, aber wir alle haben die gleiche Würde und die
gleichen Rechte. Das ist die Perspektive der Verfassung,
und das ist die Perspektive der Menschenrechtskonvention.
({4})
Diesen Grundsatz haben Sie notorisch verletzt, wenn es
um Schwule und Lesben ging. Alle Urteile, die das Bundesverfassungsgericht erlassen hat, waren notwendig,
weil die Union zunächst im Bundesrat und später im
Bundestag die Gleichberechtigung verhindert hat. Sie
haben Schwulen und Lesben die gleichen Rechte verwehrt und ihnen damit auch die gleiche Würde abgesprochen. Das ist skandalös. Dafür sollten Sie sich bei
den Menschen eigentlich entschuldigen.
({5})
Sie machen ja weiter so. Es hat sich nichts grundlegend verändert. Sie stümpern ein bisschen im Einkommensteuerrecht herum. Die Regelungen zum Kindergeld
sowie zur Riester- und zur Rürup-Rente gestalten Sie unterschiedlich. Das alles macht keinen Sinn. Wir sollten
vielleicht versuchen, das im Ausschuss noch zu korrigieren.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns nicht nur in
seinem Urteil zum Einkommensteuerrecht gesagt - das
sagt es uns immer wieder, bei jeder Rechtsmaterie mit
den gleichen Worten -: Die Ungleichbehandlung von
Ehegatten und Eingetragenen Lebenspartnern ist auch
unter Berücksichtigung des in Art. 6 Abs. 1 verankerten
besonderen Schutzes der Ehe und der im Recht bestehenden Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers nicht gerechtfertigt. - Das gilt für alle Punkte, um die es geht.
Zum Adoptionsrecht hat das Bundesverfassungsgericht im Februar gesagt:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht …
Das gilt nicht nur für die Sukzessivadoption. Das gilt
auch für die gemeinschaftliche Adoption. Deshalb müssen wir das jetzt umsetzen.
({6})
Volker Beck ({7})
Dazu bedarf es keiner langen Überlegungen. Unseren
Gesetzentwurf dazu gibt es seit 2010. Das Verfassungsgericht hat im Dezember Vertreter der Psychologenverbände und der Jugendämter angehört. Es hat Vertreter aller Fachorganisationen im Familienbereich angehört.
Das einhellige Sachverständigenvotum lautete: Das kann
nur gut für die Kinder sein. - Sie machen weiter antischwule und antilesbische Politik auf dem Rücken des
Kindeswohls der Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften.
({8})
Im Ausschuss liegt seit Anfang des Jahres unser Gesetzentwurf vor. Wir wollen Schluss machen mit allen
Diskriminierungen. Es ist doch ätzend, das man Gesetz
für Gesetz vorgeht: Höfeordnung,
({9})
Einkommensteuerrecht, Abgabenordnung. Immer wieder muss man nachbessern. Lassen Sie uns alles auf einmal aufräumen. Ich verweise auf unseren Gesetzentwurf
auf Drucksache 17/12676, der auf 17 Seiten 22 Artikel
beinhaltet. In diesem Zusammenhang hat Herr Krings einen bedenkenswerten Satz gesagt:
Ich halte es aber schon gesetzesökonomisch für
fragwürdig, für wenige Tausend betroffene Fälle
Dutzende von Gesetzen zu überarbeiten.
({10})
Das kann man so sehen.
({11})
Ich halte es für nicht gerichtsökonomisch, schwule
und lesbische Paare für jede Diskriminierung einzeln
nach Karlsruhe zu schicken, um die Diskriminierung zu
beseitigen und dem Gesetzgeber den Auftrag erteilen zu
lassen, abermals ein Gesetz zu erlassen.
Deshalb ist es eigentlich an der Zeit - die Gesellschaft ist so weit; die Mehrheit des Bundesrates will es
inzwischen, und auch viele Anhänger Ihrer Parteien
sind dafür -: Lassen Sie uns die Ehe öffnen! Dann ist
dieser ganze Quatsch, um jede einzelne Regelung zu
kämpfen, einfach vorbei. Darin drückt sich dann auch
die Akzeptanz aus. Solange wir unterschiedliche Rechtsinstitute haben - Lebenspartnerschaft für Homosexuelle,
Ehe für Heterosexuelle -, diskriminieren wir weiter. Das
wollen wir überwinden. Das wäre das richtige Signal.
Das wäre übrigens auch im Sinne von Herrn Krings
ziemlich gesetzesökonomisch. Deshalb werden wir,
wenn Sie das in dieser Legislaturperiode nicht machen,
im ersten Jahr von Rot-Grün die Ehe öffnen.
({12})
Das könnte schon 2014 wahr werden.
({13})
Nächster Redner ist Olav Gutting für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Manche bezeichnen die anstehende steuerliche Gleichstellung von Lebenspartnern im Einkommensteuerbereich als eine Revolution. So stand es zumindest in einer Zeitung. Revolutionäres kann ich daran allerdings
nicht erkennen; denn seit über zehn Jahren gilt das Lebenspartnerschaftsgesetz in Deutschland. Es ist gesellschaftliche Realität. Dieses Lebenspartnerschaftsgesetz
ist in weiten Teilen der Ehe nachgebildet, insbesondere
was die Pflichten angeht. Damit gilt der Grundsatz: Gleiche Pflichten, gleiche Rechte!
({0})
Die Eingetragenen Lebenspartnerschaften sind eine
institutionalisierte Verantwortungsgemeinschaft. Dieses
- laut Gesetz - Füreinandereinstehenmüssen ist selbstverständlich auch die Berechtigung für die Privilegierung im Steuerrecht. Schon im vergangenen Jahr habe
ich mich aus diesen Gründen zusammen mit zwölf anderen Abgeordneten aus meiner Fraktion für die einkommensteuerrechtliche Gleichstellung der Lebenspartnerschaften ausgesprochen. Frau Kollegin Höll, ich kann
nur sagen: Bei uns wird keiner deswegen in irgendeine
Ecke gedrängt.
({1})
Es ist schlicht eine Frage der Steuergerechtigkeit. Es ist
schlicht eine Frage des Respekts vor gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften.
({2})
Ich habe mich ein bisschen gewundert, warum ausgerechnet die Gleichstellung im Hinblick auf die gemeinsame Veranlagung so hohe Wogen schlägt. Wir haben
bereits in der Vergangenheit in weiten Teilen des Steuerrechts eine Gleichstellung erreicht: bei der Erbschaftund Schenkungsteuer, bei den Renten, im Beamtenrecht,
bei der Grunderwerbsteuer. Dennoch war es, wie ich
meine, im Rückblick und im Ergebnis richtig, vor der
Umsetzung der steuerlichen Gleichstellung zunächst den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes abzuwarten.
Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts sind
lesenswert. Insbesondere in den beiden Sondervoten
wurde ganz deutlich, dass es dem Gesetzgeber bei der
Einführung des Partnerschaftsgesetzes gerade nicht darum ging, ein der Ehe vollständig gleichgestelltes Institut zu schaffen.
({3})
Dass die Opposition nun die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes dazu nutzen will - das ist hier
gerade vorgetragen worden -, die Ehe als Gemeinschaft
zwischen Mann und Frau aufzuheben, ist schon bemerkenswert.
({4})
In der Vorlage, die Sie von Rot-Grün vorhin zitiert haben, heißt es - hören Sie einmal zu -, das „Konzept der
Geschlechtsverschiedenheit der Ehegatten“ sei überholt.
Ich dachte zunächst, das sei ein Witz, aber Sie meinen
das ernst.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Beck?
Nein, lassen Sie mich bitte fortfahren. - Die Ehe zwischen Mann und Frau, die regelmäßige Vorstufe zur Familie, die durch Art. 6 geschützte Keimzelle der Gesellschaft, die Voraussetzung für die Generationenfolge, ist
für SPD und Grüne nicht mehr schützenswert.
({0})
Nur Mann und Frau sichern den Fortbestand des Gemeinwesens. Ich weiß nicht, wann Ihnen diese Erkenntnis abhandengekommen ist.
({1})
Aber letztendlich ist das nur ein weiterer Mosaikstein
der Politik, die Sie gegen den Mittelstand und gegen Familien betreiben.
({2})
Wer das Ehegattensplitting abschaffen will, wer Kindergeld und Kinderfreibetrag so umbauen will, dass jede
dritte Familie mit Kindern zukünftig stärker steuerlich
belastet wird, wer wie Grün-Rot in Baden-Württemberg
die Grunderwerbsteuer erhöht und damit genau die jungen Familien belastet und ausnimmt wie eine Weihnachtsgans, die sich ein Nest bauen wollen,
({3})
die ein gemeinsames Eigenheim schaffen wollen, dem
kann ich hier nur attestieren: Sie legen die Axt an die
Wurzel der Zukunft unserer Gesellschaft und unseres
Staates.
({4})
Zurück zum heutigen Gesetzentwurf der Koalition.
Wir setzen den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts selbstverständlich und ohne Tränen und auch ohne
irgendwelches Gejaule konsequent um.
({5})
Dieser Schritt hin zur steuerlichen Gleichstellung ist
richtig, er ist vielleicht sogar auch überfällig. Aber wir
sagen auch ganz klar, dass dieser Beschluss des Bundesverfassungsgerichts keineswegs die Öffnung der Ehe für
gleichgeschlechtliche Paare bedeutet.
({6})
Er bedeutet gerade nicht, dass nun auch die Volladoption
von Kindern durch gleichgeschlechtliche Partner möglich ist.
({7})
Ich will jetzt hier gar nicht über das Kindeswohl schwadronieren.
({8})
Das Kindeswohl steht selbstverständlich immer im Zentrum der Überlegungen. Die Volladoption von Kindern
durch zwei Männer oder zwei Frauen lehne ich persönlich aus einem einzigen Grund ab: Es fühlt sich in meinem Herzen falsch an.
({9})
Ich bitte Sie, das zu respektieren.
Ich freue mich auf weitere gute Beratungen zu diesem
Gesetzentwurf.
({10})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegen Volker Beck.
Herr Gutting, ein Vorurteil kann man nicht respektieren. Nichts anderes als ein Vorurteil ist es, wenn Sie auf
Ihr Herz zeigen und dazu sagen, dass es sich dort falsch
anfühlt. Die Fakten aller Untersuchungen besagen, dass
es keinen rationalen Grund gibt, Schwule und Lesben
bei Adoptionsentscheidungen zu benachteiligen.
({0})
- Ja, das hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt.
Ich habe es Ihnen vorhin vorgelesen. Lesen Sie es noch
einmal nach! - Unter Randziffer 104 der Entscheidung
vom 19. Februar dieses Jahres schreibt das Gericht:
Volker Beck ({1})
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht …
Nehmen Sie sich das zu Herzen, und erzählen Sie hier
nicht großartig, Sie als Rechtsstaatspartei würden das
Verfassungsgericht immer respektieren und seine Urteile
umsetzen. Nein, Sie tun es nicht. Sie rebellieren gerade
gegen die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts
({2})
und weigern sich, das hier umzusetzen.
Ich habe mich eigentlich gemeldet, weil Herr Strobl
vorhin - das hat Herrn Kauch Hoffnung gemacht Herrn Cameron mit seiner Aussage zur Öffnung der Ehe
zitiert hat. Herr Cameron sagte: Ich bin nicht, obwohl ich
Konservativer bin, für die Öffnung der Ehe, sondern
weil ich Konservativer bin, bin ich für die Öffnung der
Ehe.
({3})
Dann sagte Herr Gutting, das sei der Untergang des
Abendlandes, die Destruktion von Ehe, Familie und Gesellschaft. Tauschen Sie sich doch einmal untereinander
aus. Geht diese homophobe Kampagne weiter, oder öffnet sich die CDU/CSU, schlau geworden durch das Bundesverfassungsgericht, endlich für die Gleichberechtigung und hat Respekt vor den lesbischen Bürgerinnen
und den schwulen Bürgern dieses Landes?
({4})
Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile
ich Kollegin Höll.
Herr Kollege Gutting, ich zählte in meiner Rede mehrere Formen von Familien auf, die es in Deutschland
gibt. Familie ist da, wo Nähe ist, wo Kinder erzogen und
betreut werden, wo Menschen gepflegt und betreut werden. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie der
Meinung sind, dass in Deutschland Kinder nur in Ehen
geboren werden? Wollen Sie mit Ihren Ausführungen
deutlich machen, dass die Millionen alleinerziehender
Mütter und Väter in Deutschland nicht in der Lage sind,
ihre Aufgaben richtig zu erfüllen? Würden Sie bitte zur
Kenntnis nehmen, dass bereits heute Tausende Kinder in
Regenbogenfamilien leben? Das heißt, es ist längst Normalität. Wir sprechen hier, wenn es um die Möglichkeit
der Volladoption geht, nur über sehr wenige Familien. Es
wäre nur der letzte Schritt einer bestehenden Entwicklung.
Ich habe von Ihnen jedenfalls nicht gehört, dass Sie
der Ansicht wären, dass zwei Frauen, die sich dafür entscheiden, zusammenzuleben, die Kinder, die sie in diese
Beziehung mitbringen oder die in dieser Beziehung geboren werden, nicht weiter betreuen dürften.
Kollege Gutting, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Ich will mich recht kurzfassen.
Herr Beck, dass Sie hier die Homophobiekarte ziehen, empfinde ich als respektlos.
({0})
Das ist eine typische Reaktion von Ihnen; Sie spielen
diese Karte ja immer wieder. Das finde ich nicht in Ordnung. Ich bin froh, dass, wenn es um das Kindeswohl
geht, nicht Sie entscheiden und auch nicht das Bundesverfassungsgericht allein. Wir werden - der Kollege
Strobel hat das vorhin deutlich gemacht - das alles in
Ruhe besprechen und uns mit entsprechenden Studien
versorgen.
({1})
Ich bitte Sie aber, unsere Meinung zu respektieren.
Frau Kollegin Höll, es ist billig, wenn Sie uns vorwerfen, wir würden uns damit gegen Alleinerziehende richten. Ich mache es Ihnen ganz einfach: Stimmen Sie einfach unserer geplanten Kindergelderhöhung und unserer
geplanten Erhöhung des Kinderfreibetrags zu! Das
kommt nämlich auch Alleinerziehenden zugute.
({2})
Dazu müssen Sie nicht die Ehe abschaffen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Johannes Kahrs für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in den letzten Jahren häufig über
dieses Thema diskutiert. Wir haben das alles in den letzten zwölf Jahren herauf und herunter diskutiert. Am
Ende geht es um die Gleichberechtigung von Lesben und
Schwulen. Wir alle werden noch erleben, dass die Ehe
geöffnet wird. Dann hat sich das Klein-Klein, das uns
die CDU/CSU in den letzten zwölf Jahren aufgezwungen hat, endlich erledigt.
Am Anfang der Debatte dachte ich: Frau Steinbach
und Herr Geis sind heute nicht da; aber die tapferen 13
stehen hier. Sie werden entsprechende Reden halten und
dann gemeinsam in diese Richtung gehen. Die Reden,
die ich hier gehört habe - gerade die Rede von Ihnen,
Herr Gutting -, zeigen allerdings, dass die Union immer
nur das zu geben bereit ist, wozu das Bundesverfassungsgericht sie zwingt.
({0})
Es nervt, dass wir hier immer und immer wieder über
dieses Thema diskutieren müssen. Wenn man mit jungen
Lesben und Schwulen spricht, weiß man, was sie bewegt: die Frage ihres eigenen Outings. Sie wissen noch
nicht genau, wie sie sich orientieren sollen, sie haben
Probleme: zu Hause, in der Schule, überall. Wer die Probleme durch Diskriminierung auf den Schulhöfen kennt,
weiß, dass wir in dieser Debatte in vielen Punkten aneinander vorbeireden.
Der erste Redner von der CDU/CSU - das muss ich
zugeben - hat es relativ geschickt gemacht: Er hat zumindest probiert, das, was man nicht erklären kann, noch
halbwegs so darzulegen, dass es sich für jemanden, der
die Vorgeschichte nicht kennt, noch ganz logisch anhört.
In der Sache ist es aber so, dass die CDU/CSU seit zwölf
Jahren vom Bundesverfassungsgericht zu jedem einzelnen Schritt genötigt und bei jedem Schritt von den hier
vertretenen Parteien - von der Linken, von der SPD, von
den Grünen und von der FDP - getragen werden musste.
Selbst dann haben Sie die Fristen gerade eben eingehalten. Sie wollen die Gleichstellung der Schwulen und
Lesben nicht. Von sich aus tun Sie nichts, um diese
Gleichstellung herzustellen; daher müssen Sie vom Bundesverfassungsgericht dazu genötigt werden. Das gibt
Anlass zum Fremdschämen.
Es gibt einige bei Ihnen, die sehen das nicht so; das ist
hoch respektabel, und das kann man nur unterstützen.
Ich kenne einige Kollegen bei Ihnen, die in der Sache
vollkommen richtig liegen. In der Vergangenheit ist die
Union hier aber immer von denjenigen vertreten worden,
die das komplett anders gesehen haben. Das Bundesverfassungsgericht muss Sie zu jedem einzelnen Schritt nötigen. Es geht nicht um uns; wir müssen das ertragen;
wir werden dafür bezahlt. Aber warum ersparen Sie
nicht denjenigen, die nicht wissen, wie sie ihr Outing
hinbekommen sollen und die in Schulen und Betrieben
diskriminiert werden, solche Debatten, die immer wieder
entsprechend kommentiert werden? Das ist das, was ich
wirklich nicht verstehe.
Politisch ergibt das Ganze überhaupt keinen Sinn.
Wenn das alles stimmt, was Sie beide gesagt haben, und
selbst wenn Sie das jahrelang hätten prüfen wollen, dann
hätten wir das schon vor zwölf Jahren, zumindest aber
vor acht oder zehn Jahren machen können. Aber die
Frage ist, warum Sie von der CDU/CSU das nicht gemacht haben. Frau Merkel hat sich zu dem Thema jahrelang gar nicht geäußert, sich aber, beginnend mit dem
niedersächsischen Landtagswahlkampf, in jedes Bierzelt
gestellt und für die Diskriminierung von Lesben und
Schwulen gestritten.
({1})
Da stellt man sich doch die Frage, warum dem so ist. Die
Frage ist relativ einfach zu beantworten: weil der ideologische Kern der CDU/CSU, das, was sie als konservativ
und rechts ausweist, inzwischen fast gar nicht mehr vorhanden ist. Sie sind gegen die Atomkraft, Sie haben die
Wehrpflicht abgeschafft, Sie sind für ein bisschen Frauenquote und auch für ein bisschen Mindestlohn. Weil Sie
immer mit so einem Wischiwaschi daherkommen, sind
viele Stammwähler verärgert. Jetzt können Sie noch ein
bisschen gegen den Beitritt der Türkei zur EU und gegen
Lesben und Schwule sein. Das ist Ihr Markenkern. Deswegen haben Sie so hart gegen die Gleichstellung gekämpft. Das ist es, was unanständig ist.
({2})
Herrn Geis und Frau Steinbach nehme ich inhaltlich
ab, dass sie von ihrer Position überzeugt sind. Frau
Merkel aber handelt aus niederer Berechnung, um einige
Prozente mehr bei der Wahl zu gewinnen. Das ist es, was
unanständig und schäbig ist.
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat der Kollege Daniel Volk das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir erleben heute wirklich eine sehr
schöne, geradezu historische Stunde mit der Vorlage des
Entwurfs eines Gesetzes zur Übertragung des Ehegattensplittings auf Eingetragene Lebenspartnerschaften. Ich
finde, so manche Wortbeiträge in dieser Debatte waren
dieser Thematik nicht angemessen.
({0})
Ich finde es nicht ehrlich und nicht redlich, dass insbesondere die Redner der Opposition so tun, als hätten sie
es schon immer gewusst.
({1})
Eines ist klar: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage der Gleichstellung Eingetragener
Lebenspartnerschaften im Steuerrecht ist in sich logisch
und zwingend konsequent. Deswegen waren wir als
FDP-Fraktion auch äußerst erfreut über diese Entschei31740
dung und haben uns dafür eingesetzt, dass innerhalb der
wenigen Wochen, die uns noch bleiben, dieses Urteil zügig umgesetzt wird.
Ich habe mich in die Geschichte der Beratungen über
die Eingetragenen Lebenspartnerschaften in diesem
Haus vertieft. Dabei habe ich einen Gesetzentwurf meiner Fraktion aus dem Februar 2004 gefunden. Darin geht
es um die Gleichstellung Eingetragener Lebenspartnerschaften im Sozialversicherungsrecht, in anderen Bereichen und im Steuerrecht. Dieser wurde von den Fraktionen der Union, der SPD und der Grünen abgelehnt.
({2})
Lieber Herr Kollege Beck, lieber Herr Kollege Kahrs,
liebe Frau Kollegin Arndt-Brauer, Sie alle drei waren damals schon Mitglieder dieses Parlaments und haben gegen die Gleichstellung im Steuerrecht gestimmt. Deshalb
dürfen Sie sich jetzt nicht hier hinstellen und behaupten,
Sie seien schon immer dafür gewesen.
({3})
Herr Volk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Volker Beck?
Nein, ich möchte gerne fortfahren. - Sechs Monate
später gab es einen Gesetzentwurf der damaligen rotgrünen Koalitionsfraktionen. Ich habe ihn mir angeschaut und sehr genau durchgelesen. Aber was fand sich
hinsichtlich einer Übertragung des Ehegattensplittings
auf Eingetragene Lebenspartnerschaften? Nichts, Fehlanzeige! Sie haben das damals in Ihren eigenen Gesetzentwurf nicht aufgenommen.
({0})
Daran zeigt sich das Unredliche Ihres Auftretens in der
heutigen Debatte.
({1})
Wenn Sie meinen, dieser Debatte einen moralischen
Impetus geben zu müssen, dann möchte ich auf einen
entscheidenden Punkt hinweisen. Es handelt sich hier
nicht nur um eine Frage der Steuergerechtigkeit, sondern
auch um eine Frage der Steuervereinfachung. Eingetragene Lebenspartnerschaften übernehmen gegenseitig
Pflichten. Deswegen müssen sie auch gleiche Rechte bekommen.
({2})
Der Splittingtarif, der jetzt nicht nur für Ehegatten, sondern auch für Eingetragene Lebenspartnerschaften gelten
wird, wird zu einer vereinfachten Veranlagung im Steuerrecht führen. Aber das Erstaunliche ist: Sie als Opposition
wollen das Ehegattensplitting auf Eingetragene Lebenspartnerschaften übertragen, gehen aber davon aus,
dass Sie im nächsten Jahr - so lauten Ihre Wahlprogramme - den Splittingtarif insgesamt - sowohl für Ehegatten als auch für Eingetragene Lebenspartnerschaften abschaffen. Ist das konsequente Politik? Was für eine inkompetente Steuerpolitik machen Sie in diesem Bereich?
Verzichten Sie hier auf solche Äußerungen!
({3})
Herr Kollege Beck, eines habe ich ja mit großer
Freude gesehen: Sie haben innerhalb der grünen Partei
darüber abstimmen lassen, welche Themen im Wahlkampf besonders stark herausgestellt werden sollen. Ich
habe mir die Liste mit der Reihenfolge nach der Abstimmung sehr lange durchlesen müssen, bis ich auf Platz 48
von 54 auf das Thema „Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften“ gestoßen bin.
({4})
Werfen Sie insofern also bitte nicht anderen Parteien
vor, dass es bei ihnen möglicherweise schwierige Meinungsbildungsprozesse gibt, sondern schauen Sie auch
einmal auf Ihre eigene Partei. Damit würden Sie hier
eine redliche und ehrliche Debatte führen.
({5})
Sie haben es aber versäumt, dem historischen Moment der heutigen Debatte gerecht zu werden.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zusatzpunkte 16, 17 und 18. Interfraktionell wird
Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksa-
chen 17/13870, 17/13871 und 17/13872 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. -
Damit sind Sie einverstanden. Dann verfahren wir so.
Zusatzpunkt 19. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13912 mit dem Titel „Das
Recht auf Eheschließung für Personen gleichen Ge-
schlechts einführen“. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen wünscht Abstimmung in der Sache. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Überweisung zur fe-
derführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur
Mitberatung an den Innenausschuss, den Finanzaus-
schuss, den Haushaltsausschuss sowie den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Nach ständi-
ger Übung stimmen wir zuerst über den Antrag auf Aus-
schussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt
für die Überweisung? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Damit ist die Überweisung so beschlossen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Somit stimmen wir heute nicht über den Antrag selbst
ab.
Zusatzpunkt 20. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13913 mit dem Titel „Die
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom
19. Februar 2013 und vom 7. Mai 2013 zur Gleichstel-
lung eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe im
Adoptions- und Einkommensteuerrecht umsetzen“. Die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Abstimmung
in der Sache. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen Überweisung zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innen-,
den Finanz- und den Haushaltsausschuss sowie den Aus-
schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Auch
hier stimmen wir zuerst über die Ausschussüberweisung
ab. Wer stimmt für die Überweisung? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Überweisung so
beschlossen bei Zustimmung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Die Oppositionsfraktionen waren dagegen, es
gab keine Enthaltungen. Auch hier stimmen wir nicht
über den Antrag in der Sache ab.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 65 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger-Schäfer,
Harald Weinberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren
- Drucksachen 17/7197, 17/13929 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Dr. Harald Terpe
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zuzahlungen für Patientinnen und Patienten
jetzt abschaffen
- Drucksachen 17/9067, 17/13067 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Martina Bunge
Hierfür ist eine halbe Stunde Debatte vorgesehen. Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann verfahren wir
so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort gebe ich dem
Kollegen Lanfermann für die FDP-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Immer
wieder freitags treffen wir uns hier zu gesundheitspolitischen Debatten, weil es ja noch ein paar überjährige Anträge abzuarbeiten gilt. Heute sind es zwei Anträge von
den Linken, über die eigentlich gar nicht so viel zu sagen
ist,
({0})
außer dass auch Sie zu diesem seltsamen Wettbewerb
zwischen den drei Oppositionsfraktionen beitragen, die
heute Morgen von der Kollegin Maag schon ermahnt
worden sind, sie möchten nicht immer das tote Pferd der
Bürgerversicherung reiten,
({1})
zumal es einigen in Ihren Reihen und auch den Gewerkschaften nicht egal ist, dass dadurch 67 000 Arbeitsplätze bei der Privatversicherung auf dem Spiel stehen
bzw. vernichtet würden.
Nun gut, Sie streiten sich über Farbe und Ausstattung
der Autos, die Sie anbieten; aber alle haben eines gemeinsam: Sie kämen gar nicht durch den TÜV, sie bekämen gar keine Betriebserlaubnis, weil sie schon aus
rechtlichen Gründen gar nicht funktionieren würden.
({2})
Sie arbeiten mit einem gut erfundenen Wort, der
„Bürgerversicherung“, einem Wort, das allerdings etwas
bezeichnet, was wesentliche Mängel hat. Es ist ein reines
Einnahmemodell. Manche sagen auch „Verbreiterungsmodell“.
({3})
- Oder „Abzocke“, natürlich. Es bringt nichts Neues bezüglich der medizinischen Versorgung.
({4})
Es bringt auch keinen Fortschritt bei dem Hauptproblem:
der demografischen Entwicklung, nämlich dass mehr
Ältere, die bekanntlich mehr Geld kosten, von weniger
Jüngeren finanziert werden müssen. Dabei steigen die
Beiträge immer weiter, wenn es beim jetzigen System
bleibt. Es gibt auch einen Rückschritt bei der Zukunftssicherung, die wir mit der Krankenversicherung betreiben müssen. Wir müssen nämlich, auch im globalen
Wettbewerb, Arbeitsplätze sichern. Wir haben die Beiträge stabil gemacht. Sie wollen sie wieder erhöhen,
({5})
nicht nur bei der Parität, sondern - so die SPD - auch
durch die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze für
die Arbeitgeberseite. Das ist eine ungeheuer schwere
Belastung und eine Gefährdung von Arbeitsplätzen. Da
zeigt sich auch schon der wesentliche Unterschied: Wir
machen eine Politik für Wachstum und Beschäftigung,
und Sie wollen mal wieder austesten, was man noch alles an Belastungen auf die Wirtschaft und die Arbeitnehmer verteilen kann.
({6})
Bei dem Wettbewerb zwischen den Krankenkassen
sieht es auch ganz düster aus. Die Linken fordern gleich
den Einheitsbeitrag,
({7})
und bei der SPD kommt etwas ganz Neues: Wir sind
klug und verzichten auf die Erhebung von Beiträgen aus
Zinsen und Mieterträgen; dafür machen wir eine große
Steuersäule. - Das sagt Herr Lauterbach und schreibt es
jetzt auch überall. Wissen Sie, das sind dieselben Abgeordneten, die uns schon wegen weniger Milliarden, die
es braucht, um zum Beispiel einen steuerfinanzierten Sozialausgleich zu finanzieren, sagen:
(Zuruf der Abg. Kathrin Vogler ({8})
Da kommt der Finanzminister; der nimmt euch das wieder weg; da kommen die Haushälter.
({9})
Aber wenn Sie die Bürgerversicherung machen, dann
kommen alle Finanzminister und Haushälter aus Bund
und Ländern und geben Ihnen die Milliarden, die bei den
Beiträgen fehlen. Das glaubt Ihnen niemand.
({10})
Bei den Grünen wird es noch absurder. Sie wollen die
Krankenkassen zu zweiten Finanzämtern machen, mit
Erhebungen, mit dem Einnehmen von Beiträgen auf
Mieten und Zinsen.
({11})
Allerdings wissen Sie nicht genau, ob dann auch die Belastungen abgerechnet werden dürfen. Das Allerperverseste - wenn ich das einmal so sagen darf - bei den Grünen ist: Bei der Steuer wollen Sie das Splittingmodell
zurückfahren, also dämpfen - natürlich zulasten der Bürger -, und bei der gesetzlichen Krankenversicherung
wollen Sie wieder ein Splittingmodell einführen, sodass
man, wenn einer oben an der Belastungsgrenze ist und
der andere nicht, dies schön zusammenzählt, damit für
die Familie insgesamt mehr Geld herauskommt. Das ist
die 90-Prozent-Lüge von Herrn Trittin, der glaubt, er
könne der Bevölkerung weismachen, sie sei nicht betroffen, da man angeblich nur bei einigen Reichen mehr
Steuern abgreift.
({12})
Die Honorare für Kliniken und Ärzte sind ein weiteres Problem. Sie wollen weismachen, es gäbe dann Einheitshonorare, wissen aber genau, woher Sie die Milliarden nehmen wollen. - Nein, das wissen Sie nicht; denn
wenn es keine PKV mehr gäbe, fehlten Ihnen mindestens 10 Milliarden Euro im System, weil dort - was bei
Ihnen ja indirekt wieder zur Zweiklassenmedizin führt bekanntlich mehr gezahlt wird und viele Praxen nur davon leben.
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit handelt es
sich um nichts anderes als um einen Systemkampf, mit
dem die PKV abgeschafft werden soll. Einige sagen das
ganz ehrlich und direkt, andere sagen: Nein, nein; es gibt
einen einheitlichen Markt. - Und der größte Trickser ist
natürlich wieder Herr Lauterbach, der sagt: Das machen
wir ganz fair; jeder kann sich aussuchen - aber nicht von
der GKV in die PKV; nein, natürlich nur umgekehrt -,
von der PKV in die GKV zu wechseln; ein Jahr hat er
Zeit dazu, er nimmt seine Rückstellungen mit, und dann
ist alles in Ordnung.
„Rückstellungen“ ist ein gutes Wort. Sie sind scharf
auf die 180 Milliarden. Die haben über die Jahre mehr
als 9 Millionen Menschen in Deutschland für ihr Alter
und für die Zukunftssicherung zusammengespart. Darauf wollen Sie zugreifen. Das Problem ist nur: Die private Versicherung ist, auch wenn Sie es nicht glauben
wollen, eine solidarische Versicherung, in der jeder darauf angewiesen ist, dass auch die anderen ihre Pflichten
erfüllen.
({13})
Das heißt - das hat der Gesetzgeber so geregelt -, dass
die privaten Krankenversicherungen Zuzug brauchen
von neuen und jüngeren Mitgliedern und dass die Mitglieder über die Rückstellungen füreinander einstehen.
Wenn Sie also einen Teil aus der privaten Versicherung
herausnehmen, belasten Sie damit die anderen, die bleiben. Deswegen ist Ihr Modell untauglich.
Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie vor dem 22. September
vor den Bürger treten und sagen: „Wir haben ein tolles
Angebot, nämlich die Bürgerversicherung“, dann ist das
ungefähr folgendermaßen: Jemand geht auf den Markt,
um sich Obst zu kaufen. Die Angebote klingen erst einmal ganz fantastisch. Dann fragt er direkt einen Obsthändler: Was haben Sie denn im Angebot? Daraufhin
sagt der Händler: Ich habe ein wunderbares Angebot:
Hier habe ich faule Äpfel, da habe ich schimmelige Apfelsinen, aber Sie können auch die Pflaumen mit den
Würmern haben. Suchen Sie sich etwas aus. - Genau so
ist das mit der Bürgerversicherung.
({14})
Ich hoffe, die Frau Präsidentin gibt mir noch ein bisschen Redezeit.
({15})
Das tue ich nicht, sondern weise Sie darauf hin, Herr
Kollege, dass Sie schon deutlich überzogen haben.
Das habe ich bemerkt, Frau Präsidentin. - Manchmal
fällt mir der Abschied auch nicht schwer, aber ich
möchte mich trotzdem in aller Form von Ihnen verabHeinz Lanfermann
schieden. Dies ist meine letzte Rede hier im Deutschen
Bundestag.
Ich habe durch meine Arbeit in der Kommunalvertretung, im Landtag, im Bundestag in verschiedenen Bereichen viel erlebt. Ich habe als Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses in Nordrhein-Westfalen an großen
Dingen mitwirken können. Ich war dann Abgeordneter
für Brandenburg. Ich bin den Parteifreunden in Brandenburg sehr dankbar dafür, dass sie mich hierher geschickt
haben, auch wenn ich aus dem Westen komme. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. In der Gesundheitspolitik haben wir auf einigen Themenfeldern viel erreicht. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihr weiteres
Schaffen und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön.
({0})
Da habe ich Sie zunächst falsch verstanden. Ich
dachte, Sie wollten mit dem üblichen Engagement auf
die Zwischenrufe eingehen. Auch ich wünsche Ihnen im
Namen des ganzen Hauses natürlich alles Gute für das,
was Sie jetzt vorhaben.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Edgar Franke für die SPDFraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Lanfermann hat eben in seiner letzte Rede
gesagt: Immer wieder freitags diskutieren wir das Thema
Bürgerversicherung. - Es ist in der Tat so, dass wir
schon ein paar Mal am Freitag auch die Anträge der Linken diskutiert haben.
Sicherlich sind die Anträge ein bisschen dem Bundestagswahlkampf geschuldet. Das hört sich, Herr
Weinberg, zunächst ganz gut an, aber gute Absicht allein
reicht nicht. Eine Bürgerversicherung für Gesundheit
und Pflege ist sicherlich der richtige Weg, aber man
muss es handwerklich ordentlich machen. Wir brauchen
keine Einheitsversicherung. Wir brauchen auch keinen
Einheitsbeitrag. Wir brauchen vielmehr Wettbewerb um
Qualität und Leistung.
Wir brauchen auch, Herr Weinberg, einen Wettbewerb zwischen den Kassen. Dabei ist aber, Herr
Lanfermann, der Wettbewerb nicht das Ziel, sondern der
Wettbewerb muss das Instrument sein, um effizientere
Leistungen für die Patienten zu ermöglichen.
({0})
Wir brauchen eine Bürgerversicherung,
({1})
die grundsätzlich einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen schafft
({2})
und damit einen fairen Wettbewerb zwischen PKV und
GKV gewährleistet. Das brauchen wir.
({3})
Herr Lanfermann, mehr als 70 Prozent der Menschen
sagen: Wir brauchen eine Bürgerversicherung, die strikte
Trennung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung
und privater Krankenversicherung ist unfair. - Gerade
gestern konnten wir lesen, was der Vorstandsvorsitzende
der AOK Graalmann gesagt hat: dass sich jeder dritte
Privatversicherte wünscht, wieder in die gesetzliche
Krankenversicherung zurückkehren zu können.
({4})
Das ist ein deutliches Zeichen, eine Abstimmung mit
den Füßen.
Warum ist das so? Die Antwort ist ganz einfach. Es
gibt heute keine gesellschaftliche Mehrheit dafür - da
sind die Menschen sehr sensibel -, dass Normalverdiener, Altersrentner und chronisch Kranke automatisch der
GKV zugeordnet werden, während sich die Gutverdiener der Solidarität entziehen können und teilweise wirklich weniger Beiträge zahlen. Das empfinden viele als
sozial ungerecht. Wie heißt es im Märchen Aschenputtel
der Gebrüder Grimm - ich bin nämlich Nordhesse -:
„Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.“ Ich glaube, das Bild zeigt, wohin die Reise geht.
Warum kann die PKV so gute Tarife anbieten? Auch
das hat einen einfachen Grund: Sie können deswegen
bessere Tarife anbieten, weil sie die im Schnitt Gesünderen und wirtschaftlich Stärkeren versichern. Insofern ist
das eben kein fairer Wettbewerb zwischen der gesetzlichen Krankenkasse und der privaten Krankenversicherung. Der diabetische Millionär, der öfter bei uns im Gesundheitsausschuss herumgegeistert ist, ist sicherlich
eher die Ausnahme.
Das heißt, die private Krankenversicherung kann die
vielbeschriebene Rosinenpickerei betreiben und anders
kalkulieren. Es besteht eben kein Kontrahierungszwang.
Aus Sicht der SPD ist die Patientenperspektive entscheidend. Grundsätzlich muss jeder den gleichen Zugang zur bestmöglichen medizinischen Versorgung haben. Das ist ein Programmsatz, für den die SPD auch in
der Regierung immer gestanden hat, liebe Freundinnen
und Freunde.
Deshalb brauchen wir einen fairen Wettbewerb zwischen GKV und PKV. Was bedeutet fairer Wettbewerb?
Fairer Wettbewerb bedeutet - ich habe es vorhin schon
gesagt - für beide Versicherungszweige einen einheitlichen Wettbewerbsrahmen. Das bedeutet im Wesentlichen drei Punkte. Es bedeutet erstens: keine Beitragsdifferenzierungen nach individuellem Gesundheitsrisiko,
also keine Risikoselektion. Es bedeutet zweitens, dass
sich die Beitragshöhe am Arbeitnehmereinkommen
orientiert. Es bedeutet drittens: Wir haben eine einheitli31744
che Honorarordnung für beide Versicherungszweige.
Dann ist die Niederlassung von Ärzten an Orten mit vielen Privatpatienten eben nicht mehr so attraktiv. Damit
kann man gleichzeitig mittelbar auch Einfluss auf die
Verteilung der Ärzte jenseits der Bedarfsplanung nehmen. Man hat also auch noch in der Hinsicht eine positive Wirkung, was die faire Verteilung von Ärzten betrifft.
Herr Weinberg, unser Bürgerversicherungsmodell unterscheidet sich von Ihrem Modell vor allen Dingen in
zwei Punkten.
Erster Punkt. Wir wissen, dass die Hauptlast unseres
Sozialversicherungssystems die mittleren Einkommensgruppen tragen. Deswegen wollen wir die Beiträge in
der Krankenversicherung stabil halten, und deswegen
wollen wir die Beitragsbemessungsgrenze gerade nicht
höher gestalten. Wir wollen den Faktor Arbeit entlasten,
was immer auch Gegenstand unserer Regierungspolitik
war. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
({5})
Zweiter Punkt. Wir wollen keine Verbeitragung von
Miet- und Kapitaleinnahmen.
({6})
Denn gerade mit einer Verbeitragung von Mieteinnahmen würden wir auch den kleinen Häuslebauer treffen.
Gerade das wollen wir ebenfalls nicht.
Herr Weinberg, soziale Umverteilung kann man nicht
mit dem Beitragsrecht in der Krankenversicherung machen; dazu braucht man das Steuerrecht. Wir haben nicht
nur die zweckgebundene Abgeltungsteuer vorgeschlagen, sondern wir haben auch ein Steuerkonzept, das es
möglich macht, dass wir mit einem erhöhten Steuerzuschuss die Beiträge in der Krankenversicherung niedrig
halten, Herr Spahn. Insofern ist das Bürgerversicherungsmodell der SPD völlig seriös durchkalkuliert.
({7})
Zurzeit geistern auch die anderen Modelle wieder
durch die gesundheitspolitische Diskussion. Frau Maag
hat heute Morgen schon das Bild vom toten Pferd gebraucht. Herr Lanfermann ist sozusagen auf ihm geritten. Aber eines ist klar: Das Pferd „Kopfpauschale“, das
Montgomery geritten hat, ist in der Tat tot, Herr Zöller.
Und wer hat es erschossen? Das war Merkel höchstpersönlich. Deswegen wird es, glaube ich, einkommensunabhängige Beiträge nicht mehr geben. Das ist auch ein
Schritt in die andere Richtung: in eine solidarisch finanzierte Bürgerversicherung.
Eines darf man auch nicht vergessen, nämlich unsere
Sozialstaatstradition. Helmut Schmidt hat einmal gesagt:
Die größte Kulturleistung im 20. Jahrhundert, die wir in
Deutschland haben, war der Sozialstaat. - Unsere gesetzliche Krankenversicherung hat zwei Weltkriege
überlebt, und sie hat Revolutionen überlebt.
({8})
- Das Umlagesystem ist so schlecht nicht, Herr
Weinberg.
({9})
Die Kapitaldeckung hat gerade in der Finanzmarktkrise
- da gebe ich Ihnen ja recht - einige Schwierigkeiten gehabt. Die Verzinsung war schlecht. Ich glaube, man hat
da das grundsätzliche Problem der privaten Krankenversicherung perspektivisch gesehen.
Letzter Punkt - meine Redezeit läuft langsam ab - ist
die Frage, wie wir es mit der Beitragsautonomie halten.
Auch das ist ein Punkt, den ich unter Wettbewerb subsumieren würde. Die Krankenkassen haben, angeregt
durch diese Regierung, viel zu hohe Beiträge festgesetzt.
Ich glaube, wir brauchen wieder Beitragsautonomie, um
diesen fairen Wettbewerb, den ich beschrieben habe, einzuleiten.
({10})
- Sehr geehrter Lars Lindemann, ich wundere mich immer, dass ihr den Einheitsbeitrag beibehalten habt, weil
ihr doch sonst immer für Wettbewerb seid.
({11})
Wenn wir Wettbewerb hätten,
Herr Kollege.
- hätten wir einen ganz anderen Beitragssatz, als wir
ihn jetzt haben.
({0})
Herr Kollege.
Ich darf vielleicht noch zwei Sätze sagen.
({0})
Der vorliegende Antrag der Linken bedeutet bezogen
auf die Zuzahlungen Mindereinnahmen im Haushalt in
Höhe von 3 Milliarden Euro.
({1})
Sicherlich sind Zuzahlungen als Steuerungselement
nicht geeignet.
Wir brauchen eine seriöse Gegenfinanzierung. Eine
seriöse Gegenfinanzierung war immer ein Prinzip der
Politik der SPD im Bereich Gesundheit.
Herr Kollege Franke.
In dem Sinne, glaube ich, müssen wir sehen, dass wir
die Bürgerversicherung langsam einführen und politische Schritte gehen,
Herr Kollege Franke.
- um die Patientinnen und Patienten besser zu versorgen.
({0})
Ich danke Ihnen.
Sie brauchen sich bei mir nicht zu bedanken. Das war
nämlich nicht freiwillig.
({0})
Ich gebe dem Kollegen Willi Zylajew jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Dieser Antrag ist der erneute Aufguss einer Tinktur, die
als Wundermittel für das Gesundheitswesen angepriesen
wird. Dieses propagierte Wundermittel soll hochwirksam sein, für und gegen alles gut. Es soll unabhängig
von jeder Prozessqualität entwickelt werden. Damit verbunden sind Heilsversprechen.
({0})
- Kollege Weinberg, die hohe Ergebnisqualität wird in
Aussicht gestellt - da gebe ich Ihnen recht -, zumindest
für den, der daran glaubt.
({1})
„Bürgerversicherung“ ist so ein Zauberwort - ich
wiederhole es -: für und gegen alles gut. Dieses Wundermittel wird in unterschiedlichen Varianten entwickelt. Es
gibt in unserer Gesellschaft bzw. im Deutschen Bundestag zurzeit verschiedene Varianten, die wir begutachten
sollen. Es entsteht der Eindruck, dass die Bürgerversicherung selbst gegen Beschwerden hilft, die man ohne
deren Einführung gar nicht hätte.
({2})
Dies wird nach meiner Einschätzung ein Stück weit
aus dem Antrag der Drucksache 17/7197 deutlich. Er
enthält die immer wieder auftauchenden Positionen.
Dennoch haben wir uns sorgfältig mit dem Thema auseinandergesetzt. Wir haben uns in einer Anhörung damit
befasst, haben alle Experten aus der Republik um ihre
Stellungnahmen gebeten, uns angeschaut, was es an
möglichen Hoffnungen in diesem Bereich gibt, müssen
im Ergebnis aber feststellen: Es ist und bleibt ein Wundermittel, dessen Wirksamkeit wir ganz erheblich in
Zweifel ziehen. Dies tun auch alle Experten. Es war niemand dabei, den man ernst nehmen muss, der deutlich
gemacht hätte, dass es hier Chancen gibt.
({3})
Ich beginne mit der Frage „Einbeziehung aller Einkommensarten“ - es ist schon von Vorrednern angedeutet worden -: Einnahmen aus Kapital, Mieten, Pachten
usw. Dazu müsste man eine neue Kranken- und Pflegeversicherung, eine Einheitskasse, einen Apparat aufbauen, der irrsinnig wäre.
({4})
Ich glaube, dieser Verwaltungsapparat würde einen
Großteil der Mittel aufzehren, sodass vermutlich demnächst die Verwaltungskosten höher wären als die Honorare, die wir an Ärzte zahlen.
({5})
Ich will darauf hinweisen, dass man diese Beitragsmittel monatsscharf einziehen müsste. Es müsste also
parallel zum Finanzamt ein Apparat aufgebaut werden.
Dazu sagt selbst der GKV-Spitzenverband - schauen Sie
sich das Protokoll der Anhörung an -: Das ist unrealistisch, unvernünftig, unverhältnismäßig und einfach nicht
praktikabel.
Ich spreche jetzt - weil es im Aufguss eine Rolle
spielt - das Thema Beitragsbemessungsgrenze an. Wir
wissen: Dagegen steht das Äquivalenzprinzip.
({6})
- Frau Dr. Bunge, auch in der Sozialversicherung müssen Beitrag und Leistung irgendwo in einem Verhältnis
zueinander stehen.
({7})
- Das ist eindeutig. Nicht nur für mich ist das nicht allein
eine juristische Frage, sondern auch eine Frage, wie die
Menschen das empfinden.
Der nächste Teil im Aufguss ist die Botschaft, dass
eine Einheitskasse - bei der mit der PKV auch die Beihilfe wegfallen würde - alles richten und regeln kann.
Die Lebenserfahrung bzw. die praktische Erfahrung
zeigt uns: Das Gegenteil ist richtig. Solch eine Einheitskasse schadet unserem Gesundheitswesen. Die gesamte
Gesellschaft erzielt aus unserer Sicht gute Erfolge durch
Wettbewerb in fast allen Lebens- und Wirtschaftsbereichen, in der Bildung, dem Sport und in der Kultur. Das
gilt auch für das Gesundheitswesen und die Pflege.
Selbst die GKV, die, was ihre Leistungen bzw. Beiträge anbelangt, geregelt ist, profitiert vom Wettbewerb
der Kassen untereinander. Die Menschen entscheiden
sich für eine bestimme Kasse - mal für die eine, mal für
die andere -, weil sie eine bestimmte Kasse als für sich
vorteilhaft empfinden. Ich finde, die Kassen müssen um
Mitglieder werben bzw. sich durch Service, Satzungsleistungen und Angebote für besondere Leistungen um
Mitglieder bemühen.
Die Einheitskasse würde zu einer Reduzierung führen. Wir sind uns auch relativ sicher: Nach der Einheitskasse, die Sie wollen - ({8})
- Natürlich wollen Sie eine Einheitskasse.
({9})
Eine Einheitsversicherung ist eine Einheitskasse; das ist
doch das Gleiche. Machen Sie sich doch nichts vor: In
Ihrem System ist kein Wettbewerb vorgesehen. Sie wollen alle Systeme abschaffen. Es soll eine Kasse geben,
die Geld einzieht. Dabei lassen Sie völlig offen, in welcher Form das geschehen soll. Dabei haben Sie sich mit
der Realität überhaupt noch nicht auseinandergesetzt.
Anschließend wird ja auch eine Einheitsversorgung
kommen. Dies muss man den Menschen auch ein Stück
weit deutlich sagen. Wenn Sie sich damit auf den Markt
stellen, werden Sie sich wundern, wie gering das Interesse sein wird, wenn Ihrer 08/15-Bürgerversicherung
dann auch noch eine 08/15-Bürgerversorgung folgt.
({10})
Wir sagen Ihnen klar und eindeutig: Wettbewerb wird
uns weiterhelfen. Wir haben bisher vom Wettbewerb profitiert. Im Gesundheitswesen und in der Pflege können
wir beachtliche Erfolge verzeichnen. Da ist Deutschland
vielen anderen Ländern weit überlegen - auch wenn wir
immer wieder ein Stück weit nachjustieren müssen. Ob
Pflege oder Gesundheitswesen: Wir als Union wollen
Qualität, wir wollen Vielfalt, wir wollen Wettbewerb, wir
wollen eine gute Versorgung im gesamten Bundesgebiet,
wir wollen gute Leistungen. Daher lehnen wir Ihren Antrag ab.
Danke sehr für die Aufmerksamkeit.
({11})
Der Kollege Harald Weinberg hat jetzt das Wort für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Erst einmal
vorab: Wir stehen für einen fairen demokratischen Wettbewerb der Ideen untereinander. Ihre Idee ist - das
wissen wir schon seit längerem - die einkommensunabhängige Kopfpauschale. Unsere Idee ist die Bürgerversicherung. Am Ende werden die Wählerinnen und Wähler
entscheiden, welche von beiden Ideen zum Zuge kommen wird. Dazu stehen wir auch, Herr Spahn; das ist so.
Zur Bürgerversicherung allgemein und insbesondere
zu unserem Vorschlag wird nicht nur, aber auch hier und
heute eine Menge Unsinn erzählt. Meine Redezeit ist
sehr kurz.
({0})
Deswegen werde ich versuchen, einige dieser Punkte
aufzunehmen und richtigzustellen.
So behaupten Union und FDP, teilweise auch SPD
und Grüne, dass unsere Vorstellungen eines solidarischen Gesundheitssystems nicht mit der Verfassung zu
vereinbaren seien, in wesentlichen Teilen verfassungswidrig seien. Gerade vor dem Hintergrund der letzten
Debatte, die wir geführt haben, muss ich sagen: Das sagen uns schon die richtigen Verfassungsexperten. Alle
diese Fraktionen haben nämlich Gesetze beschlossen,
die sich später als verfassungswidrig herausgestellt haben, und sie haben es in dem Bewusstsein getan, dass sie
verfassungswidrig sind.
({1})
- Natürlich! Klar!
({2})
Das Europa- und Bundeswahlrecht, die Sicherungsverwahrung, die Vorratsdatenspeicherung und das Splitting
bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, all das ist
durch das Verfassungsgericht wieder kassiert worden;
Sie mussten nachbessern. Das ist so. Sie wussten es teilweise schon vorher. Das ist die Faktenlage. Ich an Ihrer
Stelle würde mir überlegen, ob Sie wirklich die Berufenen sind, uns an dieser Stelle das Grundgesetz zu erklären.
({3})
Das überlassen Sie vielleicht besser anderen.
In diesen Tagen ist eine Studie des WSI, des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des Deutschen Gewerkschaftsbundes, veröffentlicht worden. Das
Institut hat sich von Ihrer Rhetorik nicht verunsichern
lassen und hat unseren Vorschlag, die Beitragsbemessungsgrenze abzuschaffen, in einem Rechtsgutachten
untersuchen lassen. Es hat sich herausgestellt: Es ist verfassungsrechtlich möglich.
({4})
Die Beitragsbemessungsgrenze - das nur noch einmal
als allgemeine Information - sorgt dafür, dass Menschen
mit hohem Einkommen prozentual weniger Krankenversicherungsbeiträge zahlen müssen als die mit mittlerem
oder geringem Einkommen,
({5})
weil die Beiträge gedeckelt sind. Das ist ungerecht, und
das wollen wir abschaffen.
({6})
Sie sagen: Das ist nicht verfassungsmäßig. Wir haben
festgestellt: Das ist durchaus verfassungsmäßig; es entspricht dem Sozialstaatsgedanken.
({7})
Jetzt kommen wir noch einmal zu dem Thema „Abschaffung der privaten Krankenversicherung“. Ich will
es verhältnismäßig kurz machen. Jedes Gesetz greift in
bestehende Verträge, in das Eigentum und gegebenenfalls auch in die Berufsfreiheit ein. Es steht außer Frage,
dass das so geschieht. Ob das verfassungsrechtlich geht
oder nicht, hängt davon ab, ob der Eingriff angesichts
des gewünschten Ziels gerechtfertigt ist oder nicht, ob
der Gesetzgeber Gestaltungsspielräume hat oder nicht.
Das Ziel, das wir mit der Bürgerversicherung erreichen
wollen, hat einen hohen Verfassungsrang. Es geht darum, die gesetzliche Krankenversicherung in der Zukunft funktionsfähig zu halten, alle Menschen in eine
hochwertige Gesundheitsversorgung einzubeziehen und
das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes zu erfüllen.
({8})
Noch einmal zu dem Thema der Abschaffung der
PKV. Die Vorstellungen der Grünen und der SPD gehen
dahin, wahlweise eine Übergangsfrist vorzusehen oder
einen Zwang für private Krankenversicherer, Bürgerversicherungskonditionen anzubieten. Das würde beides
das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherung
im Prinzip genauso kaputtmachen und letztlich nur einen
sanften Tod der privaten Krankenversicherung herbeiführen. Der Unterschied zu uns ist im Wesentlichen der,
dass wir klar sagen, was wir an dieser Stelle wollen.
({9})
Zu der Frage von Belastung von allen.
({10})
Noch einmal ganz klar: Unser Bürgerversicherungskonzept führt dazu, dass Versicherte mit einem Einkommen
von unter 6 000 Euro im Monat entlastet werden, und
Versicherte mit einem Einkommen von über 6 000 Euro
im Monat werden belastet. Wer anderes behauptet, wie
das beispielsweise in der Bertelsmann-Studie geschieht,
redet Unsinn.
({11})
Jetzt noch einmal zum Thema Arbeitsplätze, weil das
auch immer wieder angesprochen worden ist; 76 000 Arbeitsplätze. Man muss als Allererstes feststellen, dass
Sie ganz offensichtlich die Interessenvertreter des Strukturvertriebs der privaten Krankenassekuranz sind; vulgo:
Drückerkolonnen. Die Hälfte dieser Arbeitsplätze liegen
im Strukturvertrieb.
({12})
Das sind Menschen, die bis zu neun Monatsbeiträge erst
einmal für sich selber kassieren. Sie wissen, dass dieses
Geschäftsmodell nicht besonders schön ist.
({13})
Ein Weiteres.
Herr Kollege.
Ja. Vielleicht noch zwei Sätze.
({0})
Mit der Absenkung der Beiträge, die unser Konzept
beinhaltet, geht logischerweise eine Stärkung der Binnennachfrage einher.
({1})
Im Ergebnis werden mehr Arbeitsplätze geschaffen, als
verloren gehen. Das muss man real sehen.
({2})
Herr Kollege.
Was Sie machen, ist nie gewerkschaftliche Position
gewesen. Sie vertreten sozusagen den Heizer auf der ELok.
Ein Letztes. Den Menschen in diesem Lande sei gesagt: Lassen Sie sich nicht alles erzählen von denjenigen, die die Bürgerversicherung kaputtreden wollen
nach dem Motto:
({0})
Wenn man es nur oft genug sagt, dann wird schon etwas hängen bleiben. - Das sind diejenigen, die von dem
bisherigen System zu Unrecht profitieren und die Sie
verunsichern wollen.
Herr Kollege Weinberg.
Wer ein solidarisches Gesundheitswesen möchte, der
wählt die Bürgerinnen-und-Bürger-Versicherung, und
der wählt die Linke.
Vielen Dank.
({0})
Elisabeth Scharfenberg hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Allein das Wort Bürgerversicherung in den Mund
zu nehmen, reicht im Moment schon aus, um die Gemüter der Union und FDP richtig hochkochen zu lassen.
Seit Wochen machen Sie und einige sich als Verlierer
wähnende Lobbygruppen gegen das Konzept der Bürgerversicherung mobil. Das wird Ihnen aber nichts
nützen, weil die Bürgerinnen und Bürger von einer
Zweiklassenmedizin genug haben. Auch die Privatversicherten haben genug von den absolut unkalkulierbaren
Steigerungen ihrer Versicherungsbeiträge.
({0})
Die Bürgerversicherung muss kommen. Das wissen
Sie genauso gut wie wir auf dieser Seite des Parlaments.
Ich persönlich zähle dabei auf die Einsichtsfähigkeit der
Bundeskanzlerin. Ist sie doch bekannt dafür, ihr Mäntelchen schnell zu wenden, wenn der Wind aus einer ganz
anderen Richtung weht.
({1})
Doch eine Bürgerversicherung für Gesundheit und für
Pflege muss natürlich auch umsetzbar sein. Da liegen
wir Grünen und die Linken mit unseren Vorstellungen
weit auseinander. Die Linke möchte eine Einheitsversicherung. Wir nicht. Das sage ich gleich noch einmal,
falls mich der eine oder andere auf der Regierungsbank
nicht richtig verstanden hat: Eine Bürgerversicherung
bedeutet nicht, die Einheits-AOK einzuführen. Das können Sie sich als Argument für die nächsten Podiumsdiskussionen einfach abschminken. Wir Grüne wollen eine
vielfältige Kassenlandschaft, die eine Bürgerversicherung anbietet.
({2})
Die Linke möchte die Beitragsbemessungsgrenze abschaffen. Wir nicht. Abschaffen ist völlig überzogen.
Eine Anpassung an das geltende Niveau in der Rentenversicherung ist unserer Meinung nach sachgerecht.
Auch in der Pflegeversicherung will die Linke eine Bürgerversicherung, allerdings sind ihre Beitragssatzsenkungsfantasien in unseren Augen völlig unrealistisch.
Den Wertverlust und auch die Umsetzung eines neuen
Pflegebedürftigkeitsbegriffs werden sie langfristig nicht
unter 2 Prozent halten können.
Union und FDP machen es sich noch einfacher. Sie
denken gar nicht erst über den neuen Pflegebegriff nach
und auch nicht über die damit einhergehenden Beitragssatzsteigerungen, die dann umzusetzen sind. Sie reichen
die Reformbaustelle einfach an die nächste Regierung
weiter. Das ist ehrlich gesagt armselig.
({3})
Es wird dem Parlament nicht einmal mehr die Möglichkeit gegeben, sich über die Empfehlungen des Expertenbeirats auszutauschen, weil wir den Bericht gar
nicht erst in die Hände bekommen, um darüber zu diskutieren.
({4})
Den Schwarzen Peter dem Beirat zuzuschieben nach
dem Motto, er hätte nicht schnell genug gearbeitet, und
deshalb sei der Bericht nicht rechtzeitig fertig geworden,
ist nun wirklich eine Verdrehung der Tatsachen. Der
Auftrag für den Bericht kam aus dem Haus des Gesundheitsministers. Dort muss dann auch Sorge dafür getragen werden, dass der Bericht rechtzeitig fertig wird. Das
lasse ich unserem Gesundheitsminister überhaupt nicht
durchgehen.
({5})
Die grüne Pflegebürgerversicherung könnte das Problem auf einen Schlag lösen. Vielleicht denken Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition einfach
einmal nach, statt nur reflexhaft dagegen zu beißen.
Vielen Dank.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13929, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7197 abzulehnen. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung an-
genommen bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und
SPD. Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.
Ich komme zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Zuzahlungen für
Patientinnen und Patienten jetzt abschaffen“. Der Aus-
schuss empfiehlt auf Drucksache 17/13067, den Antrag
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
auf Drucksache 17/9067 abzulehnen. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Dage-
gen war die Fraktion Die Linke. Bündnis 90/Die Grünen
haben sich enthalten.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 64 a und b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Hartwig Fischer
({0}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Michael Kauch,
Helga Daub, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Millenniumsentwicklungsziele, Post-MDG-
Agenda und Nachhaltigkeitsziele - Für eine
gut verständliche, umsetzungsorientierte und
nachprüfbare globale Entwicklungs- und
Nachhaltigkeitsagenda nach 2015
- Drucksache 17/13893 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel
Kofler, Dr. h. c. Gernot Erler, Ulla Burchardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Für eine nachhaltige Entwicklungsagenda
ab 2015 - Millenniumsentwicklungsziele
und Nachhaltigkeitsziele gemeinsam gestalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Valerie Wilms, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für universelle Nachhaltigkeitsziele - Entwicklungs- und Umweltagenda zusammenführen
- Drucksachen 17/13762, 17/13727, 17/13945 Berichterstattung:Abgeordnete Sibylle PfeifferDr. Bärbel KoflerHelga DaubHeike HänselThilo Hoppe
Hierzu ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich und sehe ich keinen Widerspruch.
Dann verfahren wir so.
Ich erteile für die FDP-Fraktion dem Kollegen Harald
Leibrecht das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute lief hier in Berlin die Diskussion zu den Empfehlungen zur Post-2015-Entwicklungsagenda, die Altbundespräsident Horst Köhler als Mitglied des Beratungsgremiums des UN-Generalsekretärs für Deutschland
mitgestaltet hat. Es passt also sehr gut, dass wir heute die
Zukunft der globalen Entwicklungsagenda im Deutschen
Bundestag diskutieren.
Die Millenniumsentwicklungsziele sind ein Meilenstein hin zu einer gerechten Welt. Sie sind Ansporn und
Maßstab zugleich für die weltweiten Anstrengungen im
Kampf gegen Armut und Unterentwicklung. Dank des
großen Engagements vieler Geberländer, Nichtregierungsorganisationen und auch vieler privater Geber sind
bis heute beachtliche Fortschritte gemacht worden. Die
Zahl der Menschen, die von extremer Armut betroffen
sind, konnte halbiert werden. Die Bildungschancen haben sich vor allem auch für Mädchen deutlich verbessert. Die Zahl der Menschen ohne Zugang zu sauberem
Trinkwasser konnte ebenfalls halbiert werden.
Leider konnten in den Bereichen der Bekämpfung des
Hungers, der Verringerung der Mütter- und Kindersterblichkeit und der Gleichstellung der Geschlechter die
Ziele trotz Verbesserungen nicht erreicht werden und
bleiben weiterhin eine große Herausforderung. Die nicht
erreichten Ziele und die Bekämpfung der Armut müssen
darum Teil dieser neuen Agenda sein. Daher begrüße ich
den Vorschlag der Vereinten Nationen, die extreme Armut - sie betrifft Menschen, die mit weniger als
1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen - sowie den
Hunger in der Welt bis 2030 vollständig zu beseitigen.
({0})
Die globale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda steht vor der großen Herausforderung, die Ziele
der Armutsbekämpfung und der Nachhaltigkeit, die sogenannten Sustainable Development Goals, die SDGs,
zu vereinen. Mit der Zusammenführung der Prozesse
von MDGs und SDGs wird etwas Neues geschaffen. Wir
führen entwicklungspolitische Ziele und eine globale
nachhaltige Entwicklung zusammen. Um die weltweiten
Herausforderungen bewältigen zu können, müssen wir
weg von dem engen Denken in fachpolitischen Grenzen
und müssen hin zu einer Politik, die alle handelnden Personen, Institutionen und Handlungsfelder zusammenführt.
({1})
Schon heute enthalten die MDGs den Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit. Trotzdem stehen wir beim
weltweiten Klima- und Umweltschutz noch vor einem
Berg von Aufgaben. Die CO2-Emissionen steigen weltweit weiter an. Viele Entwicklungsländer kämpfen mit
den Folgen des Klimawandels. Die Zerstörung der Regenwälder ist vielerorts immer noch erschreckend. Im31750
mer mehr Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben
bedroht. Die Ergebnisse der Arbeit der Enquete-Kommission „Wohlstand, Wachstum, Lebensqualität“ machen deutlich, wo Umweltgrenzen überschritten werden
und dass wir das Problem der globalen Güter nur durch
globale Antworten lösen können und hierfür die Strukturen der Global Governance stärken müssen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen,
dass den Menschen ohne intakte Umwelt und ohne intaktes Klima die Lebensgrundlage genommen wird. Ich
begrüße es, dass Deutschland ab 2013 jährlich 500 Millionen Euro in den weltweiten Naturschutz und den Erhalt der Artenvielfalt investiert. Das ist ein richtiger
Schritt und ein ermutigendes Signal, das deutlich macht,
dass die Bundesregierung ihre internationalen Verpflichtungen ernst nimmt.
Ich begrüße ferner, dass der Bundestag fraktionsübergreifend beschlossen hat, dass das Parlament zukünftig
frühzeitig und umfassend über laufende und zu erwartende Verhandlungen zur Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik im Rahmen der Vereinten Nationen informiert
wird und dass dadurch seine Beschlüsse auch berücksichtigt werden. Das war leider nicht immer der Fall; wir
wurden oftmals, zum Beispiel bei Regierungsverhandlungen, vor vollendete Tatsachen gestellt.
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
bitte gestatten Sie mir zum Abschluss eine persönliche
Anmerkung. Da ich nicht mehr für den Deutschen Bundestag kandidiere und dies wohl meine letzte Rede in
diesem Hohen Haus sein wird, möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei all meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in den vergangenen elf Jahren zu tun
hatte - sei es in meiner eigenen Fraktion, sei es in den
anderen Fraktionen -, für die sehr gute, kollegiale und
freundschaftliche Zusammenarbeit zu bedanken. Ob früher im Auswärtigen Ausschuss, im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, im Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“
oder früher für viele Jahre im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“: Wir hatten jederzeit ein gutes und faires Miteinander, manchmal
hart in der Sache, aber immer herzlich im persönlichen
Umgang.
Es war und ist für mich eine große Ehre und auch eine
Freude, Mitglied des Deutschen Bundestages zu sein.
Das ist schon etwas ganz Besonderes und wahrlich keine
Selbstverständlichkeit. Nach drei Legislaturperioden
möchte ich mich wieder verstärkt dem eigenen Unternehmen widmen und mich neuen Herausforderungen
stellen. Auch wenn der Abschied aus dem Bundestag mit
etwas Wehmut einhergeht, so freue ich mich auf das,
was kommt, und ich wünsche mir etwas mehr Zeit für
meine wunderbare Frau, für meine Kinder, für meine
Freunde.
Ich danke auch meinem Mitarbeiterteam, das mich
über viele Jahre hinweg so fleißig, geduldig, immer fröhlich und engagiert unterstützt hat. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Bundestages für ihre großartige Unterstützung, die ich immer sehr
geschätzt habe.
Ich wünsche allen Mitgliedern des Bundestages alles
Gute und allseits eine glückliche Hand bei ihrer parlamentarischen Arbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
behaltet immer das Wohl der Menschen, die in diesem
wunderbaren Land leben, im Blick und vergesst nie, für
wen ihr hier in diesem Hohen Haus sitzt.
Alles Gute, auf Wiedersehen und nochmals vielen
Dank!
({3})
Herr Kollege, auch wir wünschen Ihnen alles Gute
und viel Erfolg und Freude bei dem, was Sie jetzt vorhaben.
({0})
Jetzt gebe ich der Kollegin Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute, leider zu etwas vorgerückter
Stunde am Nachmittag, über ein sehr wichtiges Thema.
Ich bin froh, dass wir auch in diesem Auditorium die Gelegenheit haben, das Thema der Millenniumsentwicklungsziele und die Frage zu diskutieren, wie wir mit dem
Prozess der Neugestaltung und Ausgestaltung der nachfolgenden Ziele zur nachhaltigen Entwicklung, den Sustainable Development Goals, umgehen.
Es ist angesprochen worden, dass die MDGs, die Millenniumsentwicklungsziele, einen großen Entwicklungsfortschritt gebracht haben, dass sie zu großen Anstrengungen vieler Länder und vieler Menschen geführt
haben und dazu beigetragen haben, Armut wirklich substanziell zu bekämpfen. Ich glaube, darüber sind wir uns
in diesem Haus weitgehend einig. Bei vielen der Ziele
sind positive Ergebnisse zu sehen. Gerade im Bereich
der Bildung ist vieles passiert, auch bei der Bekämpfung
extremer Armut ist einiges wirklich vorangegangen.
Trotzdem muss man auch im Zusammenhang mit den
MDGs erkennen, dass die regionalen Unterschiede und
Disparitäten unheimlich groß sind und nicht alle Punkte,
die für eine nachhaltige Armutsbekämpfung relevant
sind, in den acht MDGs aufgegriffen wurden. Deshalb
glaube ich, dass die Überleitung von den 2015 auslaufenden MDGs zu den SDGs von eminenter Bedeutung
ist und es ganz wichtig ist, dass wir Parlamentarier uns
in diesen Prozess einbringen. Es hat jetzt einen ersten
Zwischenbericht des High Level Panels der UN zum
Thema des Übergangs zwischen den beiden Prozessen
gegeben. Hier ist sicherlich sehr positiv anzumerken,
dass man sich einheitlich für eine Agenda globaler Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele ausgesprochen hat.
Es ist aber auch anzumerken, dass zum Beispiel VENRO
Kritik an diesem Bericht geäußert hat, die wir, glaube
ich, ernst nehmen sollten. VENRO kritisiert, dass keine
Konsequenzen gezogen werden, obwohl bekannt ist, wo
die Problemfelder liegen.
Ein Beispiel: Aus der Erkenntnis, dass ein rein auf
Wachstum basierendes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell auch negative Folgen haben kann, werden keine
Konsequenzen gezogen. Es wird angemerkt - das ist entscheidend -, dass alle Länder in den SDG-Prozess einbezogen werden sollten. Die Verantwortung darf also nicht
nur bei den Entwicklungsländern abgeladen werden,
sondern auch wir müssen unser Verhalten ändern, wenn
es zum Beispiel um Wachstum und Klimawandel geht.
Wie ist das mit nachhaltigem Wachstum? Wie gehen wir
mit Ressourcen um, mit all den negativen Konsequenzen
des Klimawandels gerade bei den Ärmsten der Armen?
Es geht aber auch grundsätzlich darum, bei unserer
Gesetzgebung Veränderungen vorzunehmen. Als Beispiel nenne ich die Debatte, die wir hier vor einigen Monaten über die Gesetzgebung zur Einführung verpflichtender Sozialstandards in der Lieferkette geführt haben.
Wir müssen mit unserer Gesetzgebung dazu beitragen,
dass die Näherin in Bangladesch zu vernünftigen Arbeitsbedingungen arbeiten kann und damit einen Beitrag
dazu leisten kann, aus der Armut herauszukommen.
Wir haben große Verpflichtungen, sowohl in unserer
nationalen Gesetzgebung als auch in der europäischen
Gesetzgebung. Wir können nicht warten und immer nur
auf die Entwicklungsländer zeigen, sondern wir müssen
selbst handeln und aktiv werden. So ist es im SDG-Prozess angelegt, und es muss ihm auch zugrunde gelegt
werden.
({0})
Wir Sozialdemokraten haben in unserem Antrag vier
Themenfelder formuliert, die für uns von großer Bedeutung sind. Diese sollten in die Zielsetzung aufgenommen
werden. Die Themen nachhaltiges Wirtschaften und Klimaschutz habe ich bereits angesprochen. Aber es gibt
zwei weitere Punkte, die von entscheidender Bedeutung
sind, bisher aber nicht ausreichend berücksichtigt worden sind.
Zum Thema soziale Sicherung und Basisschutz. Lassen Sie mich zitieren, was die ILO, die Internationale
Arbeitsorganisation in Genf, zum weltweiten Basisschutz für die Menschen sagt - ich zitiere -:
Basis-Gesundheitsversorgung ist eine besonders erfolgversprechende Methode, die Lebensbedingungen armer Menschen durch den Schutz vor untragbaren ökonomischen Risiken zu verbessern.
Er trägt also nachhaltig dazu bei, die Menschen aus der
Armut herauszuholen. Dadurch erhalten sie die Chance,
zukünftig ein besseres Leben zu führen, selbstbestimmt
existieren zu können und ihre Familien ernähren zu können.
Mein dritter Punkt ist das Thema menschenwürdige
Arbeit. Auch hierzu hat die ILO einige Ausführungen
gemacht. Wir sollten das als neuen Unterpunkt der SDGs
anerkennen und in die entsprechenden Prozesse einbeziehen.
Mein vierter Punkt. Transparenz und faire Handelsbeziehungen sind uns sehr wichtig.
Frau Kofler.
Die Anforderungen der EU-Transparenzrichtlinie
würden hier einen entscheidenden Beitrag leisten. Es
wäre wichtig, diese neuen Ansätze in den SDG-Prozess
einzubeziehen.
Ich bedanke mich.
({0})
Sibylle Pfeiffer hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den Jahren 1999/2000 waren sie plötzlich da: die
MDGs. Acht einfache Sätze, acht Zielvorgaben, einfach,
verständlich, nicht perfekt, teilweise sich in den Forderungen wiederholend, aber es waren Ziele, und alle richteten sich danach.
Plötzlich war es eine Agenda, die für alle wichtig war,
die allen zur Orientierung diente. Die Entwicklungsländer wie auch wir, die Gebernationen, richteten sich danach. Die MDGs waren Teil von High Level Forums,
von Regierungsverhandlungen, der Agenda von Staatsund Regierungschefs, von G 8, G 7, G 20, wo auch immer.
Sie hatten Auswirkungen. Sie zwangen die Entwicklungsländer, sich politisch neu zu orientieren, allein
beim Thema PRSP, Poverty Reduction Strategy Papers,
die in den Entwicklungsländern plötzlich für Good
Governance gesorgt haben. Sie haben die Agenda der
Politik nachhaltig verändert. Sie haben Veränderungen
herbeigeführt, die wir - das behaupte ich einfach einmal - ohne die MDGs nie erreicht hätten.
Die MDGs, so wenig perfekt sie auch waren, haben
dafür gesorgt, dass wir Dinge erreicht haben, die wir
sonst nie erreicht hätten. Wir haben die Ziele teilweise
erreicht. Einige haben wir noch nicht erreicht. Wir haben
aber auch noch ein bisschen Zeit. Ich finde, es ist unglaublich, was diese MDGs, die niemand verabschiedet
hat, die für niemanden verpflichtend waren, in Gang gesetzt haben.
Warum sage ich das? Die MDGs waren einfach, praktikabel und realisierbar. Darin lag der Charme der
MDGs. Daran konnte sich jeder orientieren. Als es jetzt
hieß: „Wir brauchen eine neue Agenda für die Zeit nach
2015“, bekam ich Angst. Ich hatte Angst davor, dass wir
etwas bekommen, mit dem niemand umgehen kann. Ich
hatte Angst vor dem Ergebnis, weil wir mittlerweile einen so hohen Anspruch hatten, weil die Agenda 2015 relativ erfolgreich war. Dann passierte etwas, was ich in
meinen kühnsten Träumen nicht erwartet hatte: In zwölf
einfachen, simplen, nachvollziehbaren Sätzen wurden
die Ziele formuliert. Darin wird genau das beschrieben,
was, wie ich glaube, für die Zukunft wichtig ist. Für
meine Begriffe ist darin fast alles beschrieben, was wir
brauchen: gute Regierungsführung, Arbeitsperspektiven
für Jugendliche, Klimawandel, Entwicklungsförderung,
Umwelt, Handel, Klimaschutz und der globale Anspruch. Ich glaube, die Ziele sind auch ausgewogen. Die
Entwicklungsländer werden genauso gefordert wie die
aufstrebenden Länder, die Schwellenländer China, Brasilien, Indien usw.
Es werden aber auch Aufgaben für uns formuliert.
Eine Forderung ist, dass wir die Forderungen, die wir an
die Entwicklungsländer stellen, ebenfalls erfüllen. Auch
wir sollen dem Anspruch gerecht werden, dem die sich
schnell entwickelnden Länder wie die Schwellenländer
gerecht werden sollen. Wir Geberländer sollen uns genauso an den Zielen orientieren wie alle anderen.
Ich glaube, es war gut, dass Professor Horst Köhler
Deutschland in dem High Level Panel vertreten hat. Er
hat es geschafft, für Einfachheit, Praktikabilität und Realisierbarkeit zu sorgen. Er hat mit seinem Wissen, seinem Können, seiner Sach- und Fachkompetenz diesen
Prozess eingeleitet. Ich finde, die Bundeskanzlerin hatte
eine glückliche Hand, als sie ihn dorthin geschickt hat.
Natürlich kann man ganz viel wollen. Natürlich kann
man die Latte ganz hoch hängen. Ich bin aber der Meinung, dass wir die Ziele so formulieren müssen, dass wir
sie auch erreichen können. Nur wenn das Ziel erreichbar
ist, kann man es mit Motivation, Engagement und Innovationskraft erreichen. Es ist nicht gut, die Ziele so hoch
zu hängen, dass sich keiner mehr traut, sie zu verfolgen.
Es ist auch gut, dass wir nur 12 Handlungsfelder mit
54 Unterzielen formuliert haben. Wir können daraus ein
Pamphlet mit 135 Seiten machen. Das können wir machen, aber wenn wir zehn Seiten davon gelesen haben,
haben wir keine Lust mehr. Wer will denn so etwas angehen? Nur erreichbare Ziele kann und will man angehen. So können wir erfolgreich sein.
Kollegin Kofler, natürlich müssen wir über Sozialstandards, soziale Sicherung, Arbeitsnormen und was
weiß ich sonst noch alles reden. Das ist alles richtig. Ich
will diese Punkte aber nicht in die MDGs packen, weil
daraus sonst ein hochwissenschaftliches Werk würde
und wir uns in Einzelheiten verlieren würden. Ich denke,
das ist das, was VENRO meint. Wenn wir über die Ziele
reden, brauchen wir nicht über die Konsequenzen zu reden. Wir sollten über die Ziele reden und nicht über den
Weg. Ich glaube, so sollten wir das angehen. Wir sollten
wissen, was wir wollen. Es ist richtig, dass wir über
Ziele reden und nicht über den Weg.
Nach meinem Dafürhalten können wir das vorliegende Papier unterschreiben; das würde ich mir wünschen. So wie es ist, ist es wunderbar.
({0})
Lieber Harald, dir alles Liebe und alles Gute. Es war
schön, dich kennengelernt zu haben. Gestalte deine Zukunft so, wie du es gerne hättest. Danke, dass du hier
warst!
({1})
Vielen Dank.
({2})
Kathrin Vogler hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute schon absehen können, dass die Millenniumentwicklungsziele bis 2015 nur teilweise erreicht
werden, muss man daran erinnern, dass das auch an den
gebrochenen Versprechen der Industrieländer liegt, die
einfach nicht genug Geld für die Armutsbekämpfung
ausgeben. Seit 1970 gibt es die Selbstverpflichtung, die
öffentlichen Entwicklungsausgaben auf 0,7 Prozent des
Bruttonationaleinkommens anzuheben. 2012 ist diese
ODA-Quote auf 0,38 Prozent zurückgegangen. Der Entwicklungsetat für 2013 wurde um 87 Millionen Euro
verkleinert. Auch für 2014 sind weitere Kürzungen geplant. Da hat diese Regierung einfach auf ganzer Linie
versagt.
({0})
Aber wenn wir die Ziele nicht erreichen, liegt das sicher auch am Prozess, der von vielen Bewegungen als
von oben verordnet empfunden wird, und daran, dass
eine breite Beteiligung aus der Bevölkerung derzeit einfach fehlt. Das Gleiche gilt im Übrigen für die SDGs, die
nachhaltigen Entwicklungsziele, die aus dem umstrittenen Rio-Gipfel im letzten Jahr hervorgegangen sind.
Zum letztjährigen Gipfel hat übrigens die Linke einen
Antrag gestellt, der positiv auf den Erdgipfel von 1992
verweist. 1992 ging es in Rio zum Beispiel um eine Friedensdividende. Durch Abrüstung sollten die Mittel für
zivile Entwicklung frei werden. Doch die Rüstungsausgaben sind heute höher denn je: 1 600 Milliarden Dollar
werden jährlich weltweit für Rüstung ausgegeben. Da
wundern wir uns, dass die ODA-Quote nicht erreicht
werden kann?
Im Vorfeld des Rio+20-Gipfels haben Friedensorganisationen - unterstützt durch zahlreiche Nobelpreisträger - einen Appell mit dem Titel „Abrüstung für nachhaltige Entwicklung“ herausgegeben. Dort wurde kritisiert,
dass die weltweit für Rüstung aufgebrachten Mittel um
ein Vielfaches diejenigen übersteigen, die wir für die Bekämpfung des Hungers und des Elends einsetzen. Sie forderten eine Reduzierung der jährlichen Rüstungsausgaben um 10 Prozent, um mit den dadurch frei werdenden
Mitteln Hunger und Armut zu bekämpfen. Leider geht
keiner der vorliegenden Anträge auf diese Forderung ein.
Schade!
Die SPD kümmert sich in ihrem Antrag wenigstens
um soziale Fragen und um die Arbeitsbedingungen. Deswegen unterstützen wir ihren Antrag.
Aber ich will auch noch ein paar Sätze zum Antrag
der Union und der FDP verlieren. Der Titel lautet „Millenniumsentwicklungsziele, Post-MDG-Agenda und
Nachhaltigkeitsziele - Für eine gut verständliche, umsetzungsorientierte und nachprüfbare globale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda nach 2015“. Wenn es
Ihnen um gute Verständlichkeit geht, hätten Sie vielleicht bei Ihrem eigenen Antrag anfangen sollen.
({1})
Aber wahrscheinlich haben Sie sich gedacht, mit dem
Bürokratensprech könnten Sie davon ablenken, dass Sie
gar keine klaren Ziele haben.
({2})
Ihre Forderungen bleiben oberflächlich und vage, garniert mit vielen schönen Worten.
Da schreiben Sie etwa von der gemeinsamen Verantwortung. Ich finde, wir sollten zunächst einmal über unsere eigene Verantwortung sprechen, zum Beispiel darüber, dass aus Deutschland weiterhin Kleinwaffen,
diese Massenvernichtungsmittel des 21. Jahrhunderts, in
alle möglichen Krisenregionen und eben auch in Entwicklungsländer exportiert werden.
({3})
Da war 2012 ein absolutes Rekordjahr. Die Bundesregierung genehmigte Kleinwaffenverkäufe in Höhe von
76,15 Millionen Euro - mehr als doppelt so viele wie im
Vorjahr. Verantwortung heißt für die Linke: Verbot von
Rüstungsexporten und aktive Friedenspolitik statt Militärinterventionen.
({4})
Denn Frieden und Abrüstung sind die Grundlagen für
nachhaltige Entwicklungsprozesse, auch nach 2015.
Ich bedanke mich.
({5})
Thilo Hoppe hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es war auf einer Akademietagung zur künftigen Entwicklungsagenda, als sich eine junge Afrikanerin zu
Wort meldete und uns auf dem Podium vorwarf, oft von
oben herab auf die Entwicklungsländer zu blicken,
({0})
wie ein Oberlehrer mit erhobenem Zeigefinger und dem
Vorwurf: Ihr habt eure Hausaufgaben noch nicht gemacht.
Sie drehte dann den Spieß um und wies darauf hin,
dass nicht alle, aber viele Probleme, viele globale Herausforderungen ihre Ursache in den Industrienationen
haben. Sie sagte: Nehmen wir zum Beispiel den Klimawandel. Der hat in der Sahelzone schon zu Ernteverlusten von bis zu 20 Prozent geführt; die CO2-Emissionen
Afrikas sind jedoch sehr gering und liegen unter 1 Tonne
pro Jahr und Einwohner. Ihr Deutschen, so sagte sie,
pustet mehr als zehnmal so viel CO2 in die Luft, genau
11,6 Tonnen pro Person und Einwohner. Was ökologische Nachhaltigkeit betrifft, seid ihr Deutschen in einem
Entwicklungsland.
({1})
Recht hat sie, was das Entwicklungsland Deutschland
betrifft. Doch es gilt, das eine zu tun, also auch klar auf
die hausgemachten Probleme der klassischen Entwicklungsländer hinzuweisen, und das andere nicht zu vernachlässigen. Wir in den Industrienationen müssen uns
an die eigene Nase fassen und kritisch fragen lassen,
welche Auswirkungen unsere Wirtschaftsweise, unsere
Konsummuster und unser Lebensstil auf das Weltklima
im weitesten Sinne haben.
({2})
Wir brauchen, um den Wissenschaftlichen Beirat der
Bundesregierung zu zitieren, eine große sozial-ökologische Transformation, die auch mit einer Entkarbonisierung unserer Wirtschaft verbunden sein muss. Überall
auf der Welt muss es eine Energiewende hin zu den Erneuerbaren geben. Wenn Länder wie Malawi oder Tansania, in denen der CO2-Verbrauch pro Kopf im Jahr bei
unter 0,9 Tonnen und der Elektrifizierungsgrad bei unter
10 Prozent liegen, ihre Energie zum Teil auch aus heimischer Kohle produzieren wollen, habe ich dafür Verständnis. Aber neue Kohlekraftwerke in Europa? Das
geht gar nicht.
({3})
Ich finde es sehr gut, dass in allen drei Anträgen zu
den Post-MDG-Zielen eine gemeinsame Agenda gefordert wird, also die Zusammenführung von Armutsbekämpfung und Umweltagenda. Wir alle streiten gemeinsam für nachhaltige Entwicklungsziele weltweit, für
Ziele, die auf keinen Fall weniger ehrgeizig und nicht
schwammiger sein dürfen als die MDGs. Die neuen
SDGs, die Sustainable Development Goals, müssen weit
darüber hinausgehen, umfassender, ganzheitlicher sein.
Sie müssen die Menschenrechte stärker einbeziehen und
eben auch wirklich ökologisch nachhaltig sein, also eine
wirtschaftliche Entwicklung innerhalb der planetarischen Grenzen beschreiben. Wir brauchen ehrgeizige
Ziele zur Besiegung des Hungers in der Welt, aber
ebenso zum Schutz der Ozeane, des Klimas, der Bodenfruchtbarkeit und der biologischen Vielfalt.
({4})
Wie gesagt, in den drei Anträgen, die uns heute vorliegen, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Das ist auch gut
so. Deshalb lehnen wir Grünen auch keinen dieser Anträge ab. Doch was in dem Antrag der SPD und vor al31754
lem auch in dem Antrag der Koalition fehlt und zu kurz
kommt, sind die notwendigen Veränderungsprozesse bei
uns, in unserem Land, im Entwicklungsland Deutschland. Wenn wir zu Recht für eine große Transformation
hin zu einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung streiten, dann müssen wir uns auch beherzter
und mutiger dafür einsetzen, dass der eigene ökologische Fußabdruck geringer wird. Das hat Konsequenzen
für unsere Agrarpolitik, für unsere Verkehrspolitik, für
unsere Wirtschafts- und Energiepolitik. Das hat auch einige - vielleicht schmerzliche - Konsequenzen für unseren Lebensstil und unser Konsummuster. Diese Konsequenzen hält man den Menschen in Zeiten eines
Wahlkampfes vielleicht nicht so gerne deutlich vor Augen.
Unser Antrag blendet dies nicht aus. Wir fordern universelle Ziele, die wirklich für alle Länder gelten, also
auch für Deutschland, die auch hier eine ehrgeizige
sozial-ökologische Transformation initiieren.
Herr Hoppe.
Im Angesicht von Klimawandel und einer Milliarde
Hungernder gilt nach wie vor der alte Spruch - er wurde
in den 70er-Jahren auf Kirchentagen geprägt -: Anders
leben, damit andere überleben.
({0})
Jetzt hat die Kollegin Dagmar Wöhrl das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Wir reden heute über die Millenniumsentwicklungsziele. Das ist ein großes Wort für ein großes
Vorhaben. Als ich mir ein paar Notizen für diese Rede
gemacht habe, habe ich mich an etwas anderes erinnert,
was wir alle kennen. Als Neil Amstrong am 21. Juli
1969 auf dem Mond gelandet ist, hat er gesagt: „Das ist
ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger
Schritt für die Menschheit.“
Es liegt etwa zehn Jahre zurück, dass sich 189 Staaten
gemeinsame Ziele im Bewusstsein einer globalen Verantwortung gesetzt haben. Sie haben gesagt, dass sie
diese Ziele erreichen wollen, dass sie die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angehen wollen. Ich glaube,
zur Erreichung dieser Ziele haben viele Tausende Menschen viele kleine Schritte gemacht. Es ist unwahrscheinlich wichtig, dass wir als Politiker erkennen: Wir
haben nur dann eine reale Chance, eine zukunftsfähige
Weltpolitik zu entwickeln, wenn international die Einsicht wächst, dass wir eine globale Verantwortung haben.
Wenn es jetzt um die SDGs geht, sollten wir nicht
vergessen: Die MDGs hatten viele Vorteile. Es gab ein
stabiles Koordinatensystem. Die Ziele waren zahlenmäßig begrenzt, sie waren klar formuliert, und sie waren
klar überprüfbar. Ich glaube, ich spreche auch für uns
alle, wenn ich sage: Wir haben bis 2015 viel zu tun. Das
MDG 1, also die Millenniumsentwicklungsziele, die vor
über zehn Jahren verabschiedet wurden, wird aber auch
2015 noch nicht erreicht sein; wir werden über 2015 hinaus darauf hinarbeiten müssen. Es muss weiterhin das
Leitbild unserer Entwicklungspolitik sein.
Es gibt einen Spruch, der heißt - und das stimmt
auch -: Freude gehört zu den ganz seltenen Gütern, die
sich vermehren, wenn man sie teilt. - Ich glaube, dass
man sagen kann: Wir haben viel erreicht. - Dazu hat die
Entwicklungspolitik dieser Legislaturperiode mit beigetragen. Wir haben viel erreicht: Die Zahl der Menschen,
die in extremer Armut leben, konnte schon vor dem Zieldatum halbiert werden. Der Anteil der Menschen, die
keinen zuverlässigen Zugang zu Trinkwasser haben, ist
um die Hälfte gesunken. Für über 200 Millionen Menschen in den Slums haben sich die Lebensbedingungen
verbessert. Vor allem konnten die Bildungschancen für
Mädchen im Grundschulbereich an die von Jungen angeglichen werden.
Es gibt aber immer noch genug offene Baustellen:
Immer noch leben 1,3 Milliarden Menschen in extremer
Einkommensarmut, immer noch müssen 800 Millionen
Menschen hungern, immer noch können 61 Millionen
Kinder keine Schule besuchen.
Dazugetreten sind neue Herausforderungen, an die
man vor zehn Jahren gar nicht gedacht hat: Wir ringen
um eine Neuregelung des internationalen Finanzsystems. Aufstrebende Schwellenländer setzen neue Akzente; auch sie müssen zukünftig ihren Anteil leisten.
Und es gibt immer mehr Konfliktpotenziale auf der ganzen Welt.
Ich glaube, wir alle wollen, dass unser Planet nicht
geplündert wird. Wir wollen unseren Enkeln keine Müllhalden hinterlassen, wie sie laut dem Bericht, der dem
Club of Rome vor kurzem vorgelegt wurde, drohen. Wir
alle wollen, dass die Schere zwischen Arm und Reich
nicht noch weiter auseinandergeht. Wir alle wollen, dass
die Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können und die Menschenrechte auf der ganzen Welt geachtet werden.
Die Kernfrage ist: Wie kommen wir im Hinblick auf
die Entwicklung zu einem Konsens, der sich auch umsetzen lässt? Ein Konsens, der sich in der Realität nicht
umsetzen lässt, nützt uns nichts. Wir müssen einen globalen fairen Konsens aushandeln. Dabei müssen wir die
Entwicklungsländer mit ins Boot holen. Wir dürfen nicht
den Fehler wiederholen, dass international etwas ausgehandelt wird, was den Entwicklungsländern dann übergestülpt wird. Die Entwicklungsländer müssen von Anfang an mit im Boot sein. Nur so schaffen wir es
ökonomisch und ökologisch, Wachstum und Wohlstand
für in Zukunft bald 9 Milliarden Menschen auf der Welt
zu ermöglichen.
Die Kollegin Koczy - sie ist leider nicht da - hat vor
kurzem im Zusammenhang mit der komplizierten Situation in Afghanistan etwas Wichtiges gesagt: Man braucht
strategische Geduld. - Das ist richtig. Ich glaube, da haben wir einen Konsens. Für den Erfolg braucht man aber
noch etwas mehr: Man braucht auch ein bisschen strategische Vernunft.
Wenn ich mir die Anträge anschaue, muss ich feststellen: Man könnte sie im Grunde genommen alle unterschreiben. Aber man muss sich auch fragen: Was ist realistisch, was ist umsetzbar? Überfrachten wir die Ziele
nicht mit einem Wust von allen möglichen Punkten, die
mit eingebracht werden? Wir brauchen klare, verhandlungsfähige Ziele. Ich glaube, wenn man die Trauben zu
hoch hängt, dann werden sie mit Sicherheit sauer werden, und das wollen wir nicht.
Wir brauchen schnell Ergebnisse; denn wir haben gelernt: Verhandlungszeit ist in der Politik eine der knappsten Ressourcen. Deswegen müssen wir uns vor allem um
die Umsetzung des Prozesses kümmern. Dazu müssen
wir neue Partner gewinnen: Wir müssen die Wirtschaft
mit ins Boot holen. Damit die Bevölkerung Arbeit hat,
müssen regionale Wertschöpfungsketten in den Entwicklungsländern selbst entstehen. Die Schwellenländer
müssen zukünftig ihren Teil dazu beitragen, vor allem
auch in trilateralen Projekten. Die Zivilgesellschaft muss
in diesem Bereich noch viel mehr eingebunden werden.
Wir müssen klären, welchen institutionellen Rahmen
wir für die Umsetzung der Agenda brauchen. Wir brauchen Überprüfungsmechanismen, und wir brauchen
mehr Teilhabe an diesem Prozess.
Ich persönlich und, wie ich glaube, wir alle wünschen
der Sonderveranstaltung im Herbst einen guten Erfolg.
Die Diskussionen werden danach erst losgehen. Wir als
Parlamentarier hoffen, dass wir in die Diskussion eingebunden werden.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Ganz
wichtig ist für mich, dass wir den Fokus auf Mädchen
und junge Frauen legen. Wir haben aus unseren Erfahrungen in der Entwicklungspolitik gelernt, dass sie der
Schlüssel für die Entwicklung in diesen Ländern sind.
Ihnen muss man die Chance geben, dass sie sich einbringen und Verantwortung übernehmen können.
Präsident Obama kommt nächste Woche nach Berlin.
Wir hatten die Freude, seine Schwester kennenzulernen.
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss. - Sie hat einen wichtigen
Satz gesagt: Für mich hat sich eine Tür geöffnet, und
auch ich will für andere Türen öffnen. - Ich glaube, mit
jeder Tür, die wir für Frauen öffnen, öffnen sich Türen
für uns alle.
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zu Herrn
Kollegen Leibrecht. Auch ich werde dich, lieber Harald,
sehr vermissen. Du warst ein ganz pfundiger Kollege.
Schön, dass du bei uns warst.
Karin Roth, die gleich nach mir spricht, hält ihre
letzte Rede. Liebe Karin, wir gehören zwar zu unterschiedlichen Lagern, aber unsere Ziele sind die gleichen.
Die Wege, die wir gehen, sind manchmal verschieden,
und wir haben uns auch gekabbelt, aber du warst eine
ganz pfundige Kollegin.
In dem Sinne: Vielen Dank.
({0})
Die Kollegin Karin Roth hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der Tat ist das Thema Millenniumsentwicklungsziele 2015 eine wichtige Zäsur in der internationalen
Entwicklungspolitik. Es ist gar keine Frage - das ist hier
zum Ausdruck gekommen -, dass wir bis 2015, aber
auch darüber hinaus noch viel zu tun haben. Ich freue
mich, dass es bei der strategischen Einschätzung, dass
Millenniumsentwicklungsziele notwendig waren und
weiterhin sein werden, um internationale Politik und nationale Politik zu koordinieren und uns in die Lage zu
versetzen, erreichbare Ziele zu definieren, eine große
Übereinstimmung gibt.
Insofern ist es eine große politische Chance für uns
alle, egal in welchen Parteien wir sind, dass wir unsere
internationale Verantwortung für die Globalisierung
ernst nehmen und entsprechende Maßnahmen national
wie international organisieren. Einer der entscheidenden
Punkte im Rahmen dieses Prozesses ist, dass wir nicht
nur europäisch und national denken, sondern immer
auch die Auswirkungen unseres Handelns auf die ganze
Welt mit bedenken.
({0})
Ich bin froh, dass wir im Rahmen des High Level
Panels des UN-Generalsekretärs, an dem Herr Professor
Köhler, der ehemalige Bundespräsident, mitgearbeitet
hat, zu einem gemeinsamen Ziel gekommen sind: zu
dem wichtigen Ziel der Armutsbekämpfung. Bis zum
Jahr 2030 soll kein Mensch mehr auf dieser Welt hungern oder gar wegen Hunger sterben. Das ist doch ein
großartiges Ziel.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich - Frau Pfeiffer, Sie
kennen mich - etwas ganz nebenbei sagen: Wenn Sie das
Millenniumsentwicklungsziel 1 lesen, dann sehen Sie,
dass es drei Unterpunkte gibt. Einer davon betrifft die
soziale Sicherung. Das ist ein wichtiger Punkt bei der
Reduzierung der Armut.
({1})
Karin Roth ({2})
Insofern haben die Millenniumsentwicklungsziele schon
die richtige Sprache getroffen. Dafür sind wir sehr dankbar.
({3})
Vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung
- bald werden auf der Welt 9 Milliarden oder gar 10 Milliarden Menschen leben - müssen wir sehen, was notwendig und was machbar ist. Aus unserer Sicht ist es
wichtig, die Globalisierung sozial zu gestalten, aber auch
die Umverteilung zu organisieren. Daher ist es richtig,
dass das Thema Verteilungsgerechtigkeit in den Mittelpunkt gestellt wird. Deshalb haben wir verlangt, dass wir
zum Beispiel das 0,7-Prozent-Ziel erreichen. Damit leisten auch wir unseren Beitrag zur Verbesserung der Lage
in diesen Ländern.
({4})
Wir brauchen dazu eine verbindliche Haushaltsplanung in den nächsten Jahren. Ich hoffe, dass wir nach der
nächsten Wahl auch einen entsprechenden Haushaltsplan
aufstellen und nicht nur darüber reden.
({5})
Ich darf sagen, dass die SPD jedes Jahr immerhin
1 Milliarde Euro zusätzlich fordert, um dieses Ziel zu erreichen. Das ist aus meiner Sicht mutig, aber wir werden
es tun, und ich gehe davon aus, dass wir unsere Zusagen
auch halten werden.
({6})
Ein weiterer Gedanke in diesem Zusammenhang: Die
Frage, wie die Schwellenländer und die Industrienationen in Zukunft mit den Entwicklungsländern umgehen,
welche Rolle wir diesen Ländern also als Entwicklungspartner einräumen und wie wir sie mitnehmen werden,
scheint mir sehr wichtig zu sein. Im Hinblick auf die Bevölkerungsexplosion insbesondere in Afrika befürchte
ich sehr - das will ich an dieser Stelle sagen -, dass die
Industrienationen und die Schwellenländer ihre derzeitige ökonomische Situation weiter ausbauen und nur ein
minimaler ökonomischer Ausgleich erfolgt. Wenn das
passiert - dafür sind wir dann mitverantwortlich -, dann
können schwerwiegende Konflikte, auch kriegerische
Auseinandersetzungen, entstehen.
Ich möchte uns alle davor warnen, diese Explosionsgefahr zu unterschätzen; denn der Frieden in der Welt ist
nicht in allen Bereichen gesichert. Diesen Frieden in der
Welt zu erreichen, ist aber etwas, was wir alle gemeinsam wollen, und dafür ist die Entwicklungspolitik ein
wichtiges Instrument für uns alle. Deshalb glaube ich,
dass wir die Friedensfähigkeit und die Friedensmöglichkeiten in diesen Staaten unterstützen müssen.
({7})
Frau Kollegin.
Ich komme gleich zum Schluss. - Dazu gehört aus
meiner Sicht auch, die Handelsbeziehungen so zu organisieren, dass die Einhaltung der Menschenrechte und
vernünftige Arbeitsbedingungen wirklich möglich sind
und es keine Kinderarbeit mehr gibt.
All das haben wir bei der Arbeit zur Erreichung der
zwölf Ziele, die auf den Millenniumsentwicklungszielen
aufbauen, vor uns. Diese zwölf Ziele sind gut. Lassen
Sie uns an die Arbeit gehen, und lassen Sie uns vor allen
Dingen nicht nur darüber reden, sondern finanzieren wir
dies auch und machen wir damit die entsprechenden
Konzepte wirklich wahr.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses, Frau Wöhrl, hat es
schon gesagt: Das ist meine letzte Rede hier im Deutschen Bundestag. Das freut mich einerseits, andererseits
bin ich - Sie kennen mich - leidenschaftlich dabei.
Ich bin sehr froh, dass ich in den letzten elf Jahren,
also in drei Legislaturperioden, in unterschiedlichen Bereichen gearbeitet habe: erst im Bereich Arbeit und Wirtschaft, dann als Parlamentarische Staatssekretärin im
Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und
jetzt im Entwicklungsausschuss. Ich bin sehr dankbar
dafür, dass wir diese Arbeit gemeinsam machen konnten.
Ich möchte vor allen Dingen meinen Kolleginnen dafür danken, dass wir über die Fraktionsgrenzen hinweg
einen gemeinsamen Gender-Antrag formuliert haben.
({1})
Einige haben manchmal Probleme damit gehabt, aber
ich sage Ihnen: Bei der Frauenfrage kennen wir nichts!
Da sagen wir: Die Vernunft siegt.
Das Gleiche gilt auch für das Thema „Internationaler
Mädchentag“. Wir haben dazu beigetragen, dass dieser
Internationale Mädchentag bei der UN beschlossen worden ist. Darauf dürfen wir stolz sein. Auch das gehört zu
unserem parlamentarischen Handeln.
({2})
Machen Sie also weiter so - ein wenig so, wie Frau
Wöhrl sagt: immer das Ergebnis im Kopf. Manchmal
sind die Wege verschieden, aber immerhin.
Ich danke Ihnen allen für Ihre Freundlichkeit, für Ihre
Geduld, aber vor allen Dingen für die gute Zusammenarbeit.
({3})
Frau Roth, auch bei Ihnen bedanken wir uns herzlich
und wünschen Ihnen alles Gute und eine gute Zeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13893
mit dem Titel „Millenniumsentwicklungsziele, Post-MDG-
Agenda und Nachhaltigkeitsziele - Für eine gut ver-
ständliche, umsetzungsorientierte und nachprüfbare glo-
bale Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsagenda nach
2015“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt da-
gegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag ange-
nommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen;
Linke und SPD haben dagegen gestimmt, Bündnis 90/Die
Grünen hat sich enthalten.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung auf Drucksache 17/13945 ab.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die
Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/13762 mit dem Titel „Für eine nachhaltige Ent-
wicklungsagenda ab 2015 - Millenniumsentwicklungs-
ziele und Nachhaltigkeitsziele gemeinsam gestalten“.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist angenommen bei Zustimmung durch die Koalitions-
fraktionen; SPD und Linke waren dagegen, Bündnis 90/
Die Grünen hat sich enthalten.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/13727 mit dem Titel „Für univer-
selle Nachhaltigkeitsziele - Entwicklungs- und
Umweltagenda zusammenführen“. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men. Die Koalitionsfraktionen haben zugestimmt, Bünd-
nis 90/Die Grünen dagegen, Linke und SPD haben sich
enthalten.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 67 a und 67 b so-
wie Zusatzpunkt 21 auf:
67 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Andreae, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu der Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von
Verhandlungen über ein umfassendes Handelsund Investitionsabkommen, transatlantische
Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen Union und
den Vereinigten Staaten von AmerikaKOM({1}) 136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Transatlantische Handels- und Investitions-
partnerschaft nur mit starken Standards
- Drucksache 17/13925 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Barbara
Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
zu der Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von
Verhandlungen über ein umfassendes Handelsund Investitionsabkommen, transatlantische
Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen Union und
den Vereinigten Staaten von AmerikaKOM({2}) 136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Keine weitere Liberalisierung über ein EUFreihandelsabkommen mit den USA
- Drucksache 17/13894 ZP 21 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zu der Empfehlung für einen Beschluss des Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme von
Verhandlungen über ein umfassendes Handelsund Investitionsabkommen, transatlantische
Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen Union und
den Vereinigten Staaten von AmerikaKOM({3}) 136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Die Verhandlungen mit den USA zu einem
transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen konsequent an europäischen Standards ausrichten
- Drucksache 17/13904 Hierzu soll eine halbe Stunde debattiert werden. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist dann so beschlossen.
Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort jetzt
Frithjof Schmidt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Europäische Rat beschließt heute voraussichtlich
das Mandat für die Verhandlungen über eine transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft. Dass die
Europäische Union und die USA darüber reden, die Kooperation zu verstärken, Handelsregeln zu vereinheitlichen und zu vereinfachen, Investitionen zu fördern und
Kontrollmechanismen zu etablieren, ist politisch und
wirtschaftlich sinnvoll und bietet Chancen.
Allerdings gibt es viele Befürchtungen, dass diese
Verhandlungen in der Sache falsch angelegt werden.
Bauernverbände und Gewerkschaften, Umweltschützer
und Verbraucherinitiativen, Datenschützer, Lebensmittelproduzenten und manche Industrieunternehmen, sie
alle eint die Sorge, dass als Ergebnis der Verhandlungen
wichtige Standards in der Europäischen Union ausgehebelt, verwässert oder unterlaufen werden. Wer sich die
Auseinandersetzungen um die Freihandelsabkommen
der Europäischen Union in den letzten Jahren ansieht,
der erkennt, dass diese Sorgen nicht aus der Luft gegriffen sind.
({0})
Das gilt zum Beispiel für Importverbote von Lebensmitteln, die unzulässig behandelt wurden, sei es mit Wachstumsförderern, sei es mit Chlor, für Produkte von geklonten Tieren und auch für chemische Produkte, die der
REACH-Verordnung nicht entsprechen. Das gilt für
europäische Zulassungs- und Kennzeichnungsvorschriften, für gentechnisch veränderte Organismen, und das
gilt für Datenschutzvorschriften ebenso wie für Gesundheitsstandards, um nur einiges konkret anzusprechen.
Schon im Verhandlungsmandat für die Kommission
muss in dieser Hinsicht klargestellt werden, dass der
Acquis communautaire der Europäischen Union nicht
zur Debatte steht und nicht angetastet werden darf.
({1})
Hierzu erwarten wir eine klare Haltung der Bundesregierung. Diese fehlt bisher.
({2})
Ich kann nicht nachvollziehen, warum sich die Bundesregierung nicht aktiv dafür einsetzt, dass die Bereiche
audiovisuelle Medien und Kultur von den Verhandlungen ausgenommen werden. Öffentliche Dienstleistungen, Medien und Kultur sind nicht einfach nur eine
Ware. Das steht schon so im Lissabon-Vertrag. Diese
Bereiche bedürfen eines besonderen Schutzes. Das
musste Ihnen der Bundesrat in der letzten Woche ins
Stammbuch schreiben, als er sich klar für die Herausnahme von audiovisuellen Medien und Kulturgütern
ausgesprochen hat, übrigens auch mit den Stimmen von
schwarz-gelb regierten Ländern. Und wenn Ihnen das
nicht reicht, dann lesen Sie einmal, welche Kritik der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Herr Wilhelm, Ihr
früherer Regierungssprecher, heute an der Bundesregierung übt. Wir werden das Mandat besonders daran messen, ob dieser Punkt durchgesetzt wurde.
Angesichts der Bedeutung dieses Abkommens müssen im Verhandlungsprozess neue Standards in Sachen
demokratischer Beteiligung gesetzt werden. Sie müssen
die Verhandlungen so transparent wie möglich gestalten.
Deswegen fordern wir von Ihnen: Legen Sie das Mandat
der Öffentlichkeit vor. Es darf keine geheime Verschlusssache sein.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Jetzt hat Peter Beyer für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Kollege Dr. Schmidt, Sie haben trotz der Kürze der Zeit
viele richtige Dinge aufgezählt, aber ich hätte mir gewünscht, dass Sie doch ein bisschen mehr die unglaublichen Chancen dieser transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft betonen. Ich denke, es wird jetzt
Aufgabe der Koalition sein, darauf hinzuweisen.
({0})
Sie haben es schon gesagt: Parallel zu unserer Debatte
hier treffen sich die zuständigen Ressortminister der EU,
um die nächsten Schritte zur Aufnahme von Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten zur Schaffung ebenjener
Handels- und Investitionspartnerschaft zu besprechen.
Dabei handelt es sich um einen Meilenstein in der euroatlantischen Kooperation, der die Chance in sich birgt,
ein neues Zeitalter in den transatlantischen Beziehungen
einzuläuten.
({1})
Gelingt der erfolgreiche Abschluss der Verhandlungen, entsteht nicht weniger als der größte Wirtschaftsraum der Welt. Neben der rein ökonomischen Wirkweite
der TTIP, wie wir sie nennen, beeindruckt auch ein Blick
auf die geografische Dimension. Es entsteht gewissermaßen ein Binnenmarkt vom Schwarzen Meer im Osten
bis hin an die Küste Kaliforniens im Westen. Das Beste
daran ist: Wir können daran einen bedeutenden Anteil
haben.
Worum geht es dabei konkret? Es geht im Wesentlichen um drei Dinge: Es geht um Wachstum, es geht um
Arbeitsplätze, und es geht um unseren Wohlstand. Oder
ganz simpel ausgedrückt, wie es Tim Bennett vom TBC
gesagt hat: Es geht um Jobs, Jobs, Jobs. Aus deutscher
Sicht ist dabei besonders hervorzuheben, dass gerade unser deutscher Mittelstand als Rückgrat unseres Wohlstandes und unserer Wirtschaft von der TTIP profitieren
wird. Für die kleinen und mittelständischen Unternehmen stellen die bestehenden doppelten Zulassungs-, Zertifizierungs- und Normierungsprozesse oft ein großes
Handelshindernis dar.
Doch bei aller Euphorie hinsichtlich der Chancen, die
das Abkommen bietet, ist klar, dass die Verhandlungen
nicht einfach werden. Die Herausforderungen liegen vor
allem darin, beim Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse - das betrifft Fragen nach Standards, RegulierunPeter Beyer
gen, Agrargütern, öffentlichem Beschaffungswesen und
audiovisuellen Medien - das für beide Seiten bestmögliche Ergebnis zu erzielen.
Dass es in diesen Bereichen unterschiedliche Auffassungen gibt, ist für uns nicht neu. Gerade deshalb ist es
von so überragend wichtiger Bedeutung, dass eben kein
Thema bereits im Vorfeld von Verhandlungen ausgeklammert wird, wie es insbesondere unsere französischen Freunde bei den audiovisuellen Medien, auch online, gefordert haben. Nur auf diese Weise können wir
nämlich verhindern, dass die Verhandlungen in eine Negativspirale geraten, bei der jede Seite auf ihre Ausnahmeregelung pocht.
({2})
Daher läuft auch der hier zur Debatte stehende Antrag
der Grünen leider in die völlig falsche Richtung.
({3})
Wir alle in Deutschland, in Europa und in den USA haben noch in sehr unguter Erinnerung, welches Schicksal
dem ACTA-Abkommen widerfahren ist. Die Menschen
gingen damals auf die Straße, weil sie das Gefühl hatten,
da würde gemauschelt und in Hinterzimmern ein
Abkommen verhandelt, dessen Regelungen sie benachteiligen. Deswegen - da stimme ich, lieber Herr
Dr. Schmidt, mit Ihnen überein - appelliere ich an die
deutsche Bundesregierung, sich nachdrücklich dafür einzusetzen, dass während der Verhandlungen in vertretbaren Zeitabständen Berichte an den Bundestag gegeben
werden, in denen über den Fortlauf der Verhandlungen
informiert wird. Formal sind zwar weder die nationalen
Parlamente noch das Europäische Parlament an den Verhandlungen beteiligt. Aber nur durch eine vollständige
Transparenz des Prozesses von Anfang an ist die erforderliche Akzeptanz gewährleistet, die wir benötigen, um
bei den Menschen Vertrauen in die Sache und die Kompetenz der Verhandlungsführer zu bilden.
({4})
Ich schlage darüber hinaus vor, dass wir uns im Bundestag, im Europäischen Parlament sowie im US-Kongress fraktionsübergreifend für die TTIP stark machen.
Insbesondere dann, wenn die Verhandlungen ins Stocken
geraten sollten, wird es unsere Verantwortung als Parlamentarier sein, in geeigneter Form und öffentlich auf das
große Ganze, den Zusammenhang und den Mehrwert
dieses Megaprojektes hinzuweisen.
Denjenigen, die befürchten, durch die TTIP würden
multilaterale Vereinbarungen, wie sie in der Welthandelsorganisation ausgehandelt werden, unterminiert,
möchte ich diese Sorge gerne nehmen. Die TTIP ist als
komplementäres Element zu verstehen, und zwar komplementär zu bestehenden Regelungen der Welthandelsorganisation.
Eine solche Übereinkunft könnte als Impuls dienen,
multilaterale Verhandlungen wie die Doha-Runde wiederzubeleben.
({5})
Die Entstehungsgeschichte der NAFTA - das ist vielleicht auch für Sie ein Blick zurück in die Geschichte;
dabei können Sie noch etwas lernen - zeigt uns dies in
einer Situation, die mit den heutigen Bedingungen vergleichbar ist. Es lohnt sich manchmal, sich mit der Handelsgeschichte auseinanderzusetzen.
({6})
Mit der TTIP ist es uns jetzt möglich, ein transatlantisches Abkommen zu etablieren, das gleichsam einer den
Atlantik überspannenden vertraglichen Klammer neben
die NATO tritt, die in einem anderen Bereich diese
Funktion bereits ausfüllt. Mit einiger Berechtigung
möchte ich bereits jetzt von einer Wirtschafts-NATO
sprechen. Somit besitzt eine transatlantische Kooperation mit einem erhöhten Integrationsgrad nicht nur im sicherheitspolitischen Kontext eine strategische Notwendigkeit, sondern auch und gerade im Bereich der
Ökonomie. Es gilt, unsere Spitzenposition bei der Innovations- und Technologieführerschaft zu erhalten, zu gestalten und auch weiter auszubauen. Denn nur so wird es
uns gelingen, unseren Wohlstand zu sichern.
Meine Damen und Herren, dass die EU und die USA
die weltweit produktivsten, effizientesten und am engsten miteinander verzahnten Wirtschaftsregionen sind,
kommt nicht von ungefähr. Denn Basis sowie Dreh- und
Angelpunkt unserer Beziehungen ist das Verständnis von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit des Individuums und das Prinzip der Marktwirtschaft.
Sicherheitspolitisch sind wir seit Jahrzehnten institutionell eng in der NATO verbunden. Daher ist es von besonderer Wichtigkeit, nun entschlossen die Verhandlungen über die TTIP aufzunehmen.
In der kommenden Woche - damit komme ich zum
letzten Punkt - werden wir den amerikanischen Präsidenten Obama in Berlin begrüßen können. 50 Jahre nach
der für uns Deutsche so bedeutenden Rede des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy dürfen wir von
Obama nicht weniger als eine wegweisende transatlantische Grundsatzrede erwarten.
Herr Kollege.
Ja, ich komme zum Schluss. - Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich stets und in vorderster Front
für die TTIP stark gemacht. Eine so starke Freundschaft
hält es auch aus, ja sie gebietet es sogar, dass man auch
manchmal unangenehme Dinge anspricht. Daher sage
ich: Es ist richtig, dass die Bundeskanzlerin das amerikanische Abhörprogramm Prism bei ihrer Begegnung mit
Obama thematisieren wird.
Herr Kollege.
Ich erhoffe mir dadurch auch ein Stück Klarheit über
die möglichen Auswirkungen von Prism auf die bevorstehenden TTIP-Verhandlungen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({0})
Der Kollege Rolf Hempelmann hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Beyer, ich habe gerade noch einmal im
Kürschner nachgelesen: Es ist Ihre erste Legislaturperiode in diesem Parlament. Ich denke, in der Situation
sollten Sie etwas vorsichtiger sein, statt hier eine Lehrstunde abzugeben und Ihren Kollegen zu sagen, sie sollten vielleicht einmal etwas über die Welthandelsgeschichte lesen.
({0})
Es tut mir furchtbar leid, aber gehen Sie doch einfach davon aus, dass auch Ihre Kollegen im Deutschen Bundestag in anderen Fraktionen ihren Job durchaus machen.
Ich will Ihnen aber durchaus recht geben in dem ersten Punkt, den Sie genannt haben. Das ist auch mein erster Punkt: Es ist in der Tat richtig, dass dieses transatlantische Handelsabkommen durchaus eine Menge
Chancen für beide Wirtschaftsräume bietet, für den amerikanischen Wirtschaftsraum ebenso wie für den europäischen.
Gleichzeitig ist aber zu sagen - den Zusammenhang
haben Sie angetippt -, dass das nicht bedeuten darf, dass
wir etwa den Kurs verlassen wollen, insbesondere auf
multilaterale Abkommen und auf die Weiterentwicklung
der Welthandelsrunde, der Doha-Runde, zu setzen und
insbesondere auf die Mechanismen der WTO. Sie haben
gesagt, darüber müssten wir uns keine Sorgen machen;
denn die Freihandelsabkommen seien komplementär.
Das wird in der Tat immer gesagt, und sie sollen auch so
angelegt sein. Aber wenn Sie gelegentlich bei den Parlamentarierrunden vorbeischauen, die im Zusammenhang
mit den Welthandelsrunden stattfinden, dann werden Sie
feststellen, dass der von Ihnen propagierte Glaube nicht
überall geteilt wird. Es gibt durchaus ein hohes Maß an
Skepsis, ob alle Freihandelsabkommen, die in den letzten Jahren getätigt worden sind, kompatibel mit den
multilateralen Systemen sind. Es gibt auch Vorschläge,
solche bilateralen Verträge bei der WTO vorzulegen und
ratifizieren zu lassen. Das wäre kein unkluger Weg.
Wenn man diesen Weg geht, dann kann man sicherstellen, dass bilaterale und multilaterale Konstruktionen einander nicht widersprechen.
Heute soll im Rahmen des EU-Handelsministerrates
über das Mandat entschieden werden. Insofern kommen
wir mit unserer Debatte fast schon ein bisschen spät. Es
ist kein Widerspruch, auf der einen Seite zu betonen,
dass dieses Handelsabkommen eine besondere Bedeutung hat, und sich auf der anderen Seite intensiv darum
zu kümmern, dass das Verhandlungsmandat sorgfältig
ausgestaltet und vorbereitet wird. Genau das ist unser
Anliegen. Wir wollen frühzeitig den Rahmen für die
Verhandlungen so setzen, dass es anschließend nicht zu
Verstimmungen und zu Missverständnissen zwischen
zwei wichtigen Partnern, der EU auf der einen Seite und
den USA auf der anderen Seite, kommt.
Genau aus diesem Grund hat in der vergangenen Woche die SPD-Bundestagsfraktion einen Antrag eingebracht, den Kultur- und Medienbereich aus den Verhandlungen herauszunehmen und auf diese Art das
Verhandlungsmandat einzugrenzen. Für uns sind audiovisuelle und kulturelle Dienstleistungen nicht lediglich
Wirtschaftsgüter. Es sind Kulturgüter mit einer zentralen
Bedeutung, gerade auch für die demokratische Willensbildung, für die Integration, für die Erhaltung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Das ist gerade in Europa und gerade heute von ganz überragender
Bedeutung.
Der bisherige Mandatsentwurf bezieht sich allein auf
die Regeln der WTO ohne die Verpflichtungen aus dem
UNESCO-Abkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Wir verwiesen auch in der letzten Woche bereits darauf, dass in
den Verhandlungen und im Abkommen die jeweils fortschrittlichsten Regeln - das ist eben auch vom Kollegen
Schmidt angesprochen worden - sozialer, ökonomischer,
ökologischer Standards zugrunde gelegt werden sollen.
Ich glaube, das ist sowohl im Interesse der EU als auch
im Interesse der USA; denn es ist keineswegs so, dass in
jedem Fall die EU-Standards die höheren sind. Das ist in
verschiedenen Feldern durchaus unterschiedlich. Deswegen ist das ein sinnvoller Antrag. Der Sinn dieses
Antrags wird ja durch die Tatsache belegt - auch das
ist eben angesprochen worden -, dass nicht etwa nur
A-Länder, sondern auch B-Länder genau diesem Antrag
zugestimmt haben.
In dem Antrag, den wir heute vorlegen, konkretisieren wir das weiter. Wir machen deutlich, dass wir gerade
im Bereich von Arbeits-, Gesundheits-, Umwelt- und
Datenschutz und bei den Bürger- und Verbraucherrechten diese höchsten Standards auch wirklich durchgesetzt
sehen wollen. Bedenken sind hier ja nicht unberechtigt,
und das ist auch nicht unanständig. Man greift einen
Partner wie die USA damit auch nicht in unangemessener Weise an. Es ist einfach so, dass aus Gründen, die
aus US-Sicht verständlich sein mögen, beispielsweise
ILO-Kernarbeitsnormen nicht in Gänze ratifiziert und
unterzeichnet sind, anders als in der EU. Deswegen ist
dieser Hinweis wichtig. Wir wollen nicht hinter die erreichten Standards zurückfallen.
Genauso ist es etwa bei der Zulassung ganz bestimmter Produkte, insbesondere aus dem Lebensmittelbereich. Es ist gut, dass wir in der EU fortschrittliche Standards haben, die insbesondere mit Blick auf die
Gesundheit der Verbraucher so festgelegt worden sind.
Auch hinter diese Standards dürfen wir in Zukunft nicht
zurückfallen. Insofern ist es nicht etwa so, dass wir hier
Einschränkungen des Mandats oder Konkretisierungen
bezüglich der Norm- und Standardsetzungen formulieren, die dann dazu führen sollen, dass es hier nicht zu einem Vertrag kommt. Das ist überhaupt nicht unsere Intention, im Gegenteil:
({1})
Wir wollen, dass das Ganze ein Erfolg wird. Es wird
aber kein Erfolg werden, wenn auf der Wegstrecke der
Verhandlungen alle diese Dinge zu Missstimmungen und
letztlich auch zu Verzögerungen führen.
({2})
Das muss man am Anfang klären.
Im Übrigen ist es so, dass wir als Parlament auf der
Wegstrecke - jedenfalls in der Vergangenheit - wenig
Möglichkeiten hatten, unseren Einfluss noch geltend zu
machen. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich die
Forderungen, die gerade auch vom Bündnis 90/Die Grünen gekommen sind, dass wir als Parlament auf der
Wegstrecke regelmäßig zu informieren sind. Das gilt
aber auch für eine breitere, aufgeklärte Öffentlichkeit.
Deren diesbezügliche Erwartungen sollten wir gemeinsam erfüllen.
Vielen Dank.
({3})
Martin Lindner hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren! Inzwischen stehen die USA und Europa gemeinsam für
60 Prozent der global getätigten Investitionen, für
50 Prozent des ökonomischen Outputs, für 40 Prozent
des Weltsozialproduktes und für ein Drittel aller weltweiten Patente. 71 Prozent der Auslandsinvestitionen in
den USA kommen aus Europa, und 56 Prozent der USAuslandsinvestitionen sind in Europa angelangt. Die
USA haben damit im vergangenen Jahr China als Topinvestor in Deutschland abgelöst.
Auf diesem soliden Fundament finden jetzt - in der
Endkurve - die Verhandlungen zu TTIP statt. Es ist auch
kein Zufall, dass gerade jetzt unter dieser schwarz-gelben Bundesregierung die Verhandlungen vorangetrieben
werden.
({0})
Die FDP, aber auch ihr Koalitionspartner, die CDU/
CSU, stehen dafür. Sie sehen vor allen Dingen - das unterscheidet uns von der linken Hälfte des Hauses - die
Vorteile eines solchen Abkommens für Deutschland und
Europa und nicht nur die Nachteile.
({1})
Alle können nur gewinnen. Wir haben aber eine weite
Wegstrecke zurückzulegen und vor allen Dingen gegen
einen weltweit wieder um sich greifenden Protektionismus anzukämpfen. Wenn Sie sich das heutige Handelsblatt ansehen, können Sie - dabei geht es um das Thema
„Abschied vom Freihandel“ - nachlesen, wer Protektionismus verursacht und wer sein Geschädigter ist.
Deutschland steht bei den „Tätern“ - vor allem wegen
der Abschottung - auf Platz sechs, aber bei den Geschädigten - also den Opfern von Protektionismus - hinter
China und den USA schon auf Platz drei. Protektionismus schadet gerade Ländern wie Deutschland. Wer übrigens ist noch geschädigt? Es sind - in dieser Reihenfolge Italien, Frankreich und Großbritannien. Danach kommen
noch drei weitere europäische Länder. Wir sind die Leidtragenden von Protektionismus. Deswegen wenden wir
uns - Sie nicht! - auch so entschieden gegen ihn.
({2})
Ich fasse Ihre Anträge einmal zusammen. Die SPD
will viel herausnehmen, die Grünen wollen noch mehr
herausnehmen, und die Linken wollen es gar nicht haben. Damit schaden Sie Ihrem Land. Sie glauben doch
nicht im Ernst, dass, wenn Sie hier etwas herausnehmen,
das ohne eine Antwort von der anderen Seite des Atlantiks bleibt. Wenn Sie audiovisuelle Produkte herausnehmen wollen, nehmen sie die Autos heraus. Die Franzosen nehmen dann nicht nur gentechnisch veränderte
Produkte, sondern die gesamte Landwirtschaft heraus.
Dann bleibt ein Schweizer Käse übrig. Sie mögen das
wollen, wir lehnen das ab. Wir wollen ein umfassendes
Abkommen haben, und dafür machen wir uns stark.
({3})
Bei den Verhandlungen müssen wir drei wesentliche
Punkte berücksichtigen: erstens die international immer
stärker verflochtene und diversifizierte Wirtschaft, zweitens den Aufstieg der Schwellenländer und drittens die
Bedeutung neuer Technologien für den transatlantischen
Handel. An der Stelle möchte ich daran erinnern, dass,
was den transatlantischen Handel anbelangt, im Bereich
Fahrzeugbau inzwischen bis zu 80 Prozent, im Bereich
Chemie 76 Prozent und im Bereich Maschinen- und Anlagenbau 61 Prozent der Produktion im Rahmen miteinander verflochtener Unternehmen abgewickelt werden.
({4})
Dr. Martin Lindner ({5})
Die Schwellenländer, die immer mehr in den Vordergrund rücken, werden ebenfalls profitieren. Auch Japan,
Korea oder meinetwegen China werden davon profitieren, wenn wir einheitliche Standards haben. Diese Länder haben es dann beispielsweise, was die Zuarbeit zum
Automobilbereich anbelangt, nicht mehr mit zwei oder
mehreren Standards zu tun. Wir hoffen natürlich - und
setzen auch darauf -, dass dies zu einer Wiederbelebung
des WTO-Prozesses führen wird. Wir müssen - das ist
wichtig - in der transatlantischen Partnerschaft vorangehen, meine Damen und Herren.
Der dritte Punkt betrifft die neuen Technologien wie
zum Beispiel Elektromobilität und Nanotechnologie. Ich
nenne ganz bewusst an der Stelle beispielhaft Technologien wie Fracking, das zur Shale-Gas-Gewinnung angewandt wird. Die USA gehen da voran.
({6})
Die USA werden in relativ kurzer Zeit zu einer einigermaßen autarken Selbstversorgung ihrer Bevölkerung mit
Shale Gas auf der Grundlage von Fracking kommen. Sie
können sich überlegen, welche globalen Auswirkungen
das hat.
({7})
Glauben Sie, dass die USA sich in Zukunft im Mittleren
Osten wie beispielsweise auf der Arabischen Halbinsel
genauso engagieren werden wie bisher, wenn sie lange
nicht mehr dieselben geopolitischen Interessen an den
Öl- und Gasvorkommen in Mittelost haben? Das wird
auch auf uns extreme Auswirkungen haben. Deswegen
ist es wichtig, dass wir bei Technologien wie der ShaleGas-Gewinnung zu einem Austausch mit den USA kommen und wechselseitig profitieren. Das ist für mich der
dritte und wesentliche Punkt dieses Abkommens, den
wir beachten müssen.
({8})
Die außenpolitische Bedeutung ist in Ihren Reden
überhaupt nicht vorgekommen. Ich finde es extrem
schade, dass der Kollege Klose hier heute nicht sprechen
kann, weil er das im Unterschied zu Ihnen weiß.
({9})
Es besteht durchaus eine gewisse Mattigkeit im transatlantischen Verhältnis, wenn auch - zugegebenermaßen auf hohem Niveau. Umso wichtiger ist es, dass wir mit
diesem Abkommen die Sache wiederbeleben, dass wir
der Welt auch zeigen, dass der Westen lebt und auch
heute noch in der Lage ist, sich den Herausforderungen
zu stellen, und nicht alles nach Osten blickt.
({10})
Das ist die zusätzliche außenpolitische Bedeutung dieses
Abkommens, die über das rein Ökonomische weit hinausgeht.
Liberalisierung auf breiter Front ist gefragt. Politische
Führung ist gefragt, um den Partikularinteressen auf beiden Seiten des Atlantiks die Stirn zu bieten. Wir müssen
schon deswegen weiterregieren, damit die Hasenfüße
der Opposition hier nicht den Takt verschleppen.
({11})
Wir, vor allen Dingen die FDP, stehen in der Tradition
des großen Friedrich List, des Vorkämpfers des Deutschen Zollvereins. Es gibt nur einen Unterschied: Er
musste - in Anführungszeichen - „nur“ gegen die württembergische Obrigkeit kämpfen; er hatte es noch nicht
mit der Opposition des Jahres 2013 zu tun, mit solchen
Schlappschwänzen und Hasenfüßen, wie Sie das sind,
({12})
die nur miesepetrig sind, die immer nur das Schlechte
sehen, die immer nur die Laus im Pelz sehen.
({13})
Das ist der Unterschied. Deswegen werden wir weiter
kämpfen für freien Handel, für offene Märkte, für gegenseitige Verflechtung durch Investitionen. 15 Millionen
Menschen verdanken heute ihren Arbeitsplatz dem
transatlantischen Handel. Es werden auf jeden Fall weitere hinzukommen.
Herr Lindner.
Ich komme zu meinen letzten beiden Sätzen. - Wir
werden ein transatlantisches Wirtschaftsmodell pflegen,
das globale Maßstäbe setzt. Wir zeigen der Welt, wie
eine Zukunft in Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert werden kann.
Herzlichen Dank.
({0})
Ulla Lötzer hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Kollege
Schmidt, Kollege Hempelmann, nach den Worten von
Herrn Beyer, aber insbesondere von Herrn Lindner sollten Sie wirklich noch einmal darüber nachdenken, woher
Sie die Hoffnung auf Chancen durch dieses Abkommen
nehmen, wenn es von dieser Regierung mit verhandelt
wird oder Vertreter dieser Regierung einen Einfluss darauf haben.
({0})
- Die hat aber mit Einfluss auf das Verhandlungsmandat;
das werden Sie ja nicht bestreiten.
({1})
Auch beim G-8-Gipfel wird das eine Rolle spielen.
Herr Lindner, wenn Sie von „Hasenfüßen“ und dergleichen reden: Zur Beseitigung von Schutzschranken
für Umwelt, Mensch und Natur gehört wahrlich kein
Mut. Dazu, in internationalen Verhandlungen solche
Standards aufzustellen, Sozialstandards zu schützen,
Umweltstandards zu schützen, würde Mut gehören. Alles andere ist längst Fakt. Das ist wirklich keine Kunst
mehr, für die man jemand Besonderes braucht.
({2})
Herr Schmidt hat schon viele Punkte zu den Lebensmitteln aufgeführt. Die Sozialstandards hat Kollege
Hempelmann angesprochen. Wenn Sie von Chancen auf
Beschäftigung reden, dann sage ich: Wer Sozialstandards
einreißt und nicht schützt, der erzeugt Wettbewerbsdruck
zulasten der Beschäftigten und der Arbeitsbedingungen;
der schafft keine Chancen auf Beschäftigung.
({3})
Es geht um Zulassungsvorschriften für Arzneimittel.
Es geht um die erweiterten Rechte großer Konzerne, gegen Regierungen zu klagen. Wo bleibt da der Mut, eine
demokratische Regulierung durchzusetzen? Der fehlt Ihnen völlig.
Natürlich geht es - Sie haben es auch gesagt - um
völlige Liberalisierung. Es geht um Privatisierung, Deregulierung. Es geht darum, die Daseinsvorsorge endlich
für Privatisierung und Liberalisierung zu öffnen, und das
betrifft nicht nur die audiovisuellen Dienstleistungen.
Die französische Regierung hat in dieser Woche angekündigt, sie wolle Fernsehen, Filme und kulturelle
Dienstleistungen im Interesse der kulturellen Vielfalt
ausnehmen. Die Reaktion war deutlich. Die US-Regierung hat sofort verkünden lassen: Dann gibt es keine
Verhandlungen. Wer Einschränkungen formuliert, würde
die Verhandlungen aufs Spiel setzen. In diesem Fall ist
es die Frage, ob auch nur eine Ihrer Forderungen, Kolleginnen und Kollegen der Grünen und der SPD, die wir
weitgehend teilen, nach fairen Verhandlungen und fairen
Handelsabkommen erfüllt wird. Bei dieser EU-Kommission, bei dieser US-Regierung - Obama hin oder her und bei dieser Bundesregierung hat keine Ihrer Forderungen auch nur den Hauch einer Chance auf Realisierung. Deshalb sagen wir in diesem Fall tatsächlich: Man
muss ein klares Nein des Parlaments zu einem solchen
Verhandlungsmandat sehr deutlich machen.
({4})
Es gibt noch einen weiteren Grund für die Ablehnung.
Sie haben auch gesagt, dass es eine Besonderheit gegenüber anderen Abkommen mit Lateinamerika oder einzelnen Schwellenländern gibt. Sie haben davon gesprochen,
Herr Beyer, dass sich hier die größten Wirtschaftsregionen mit den größten Industrieländern vereinigen.
({5})
Sie schotten sich damit auch gegen den Rest der Welt ab,
wenn dieses Abkommen verhandelt ist.
({6})
Das ist auch eine Form von Protektionismus: Protektionismus gegenüber dem Rest der Welt.
({7})
Ich bin einmal gespannt, was China und die anderen
Schwellenländer zu diesem Abkommen sagen. Ich
denke, sie werden es als Affront betrachten, gerade weil
Sie sich ihnen gegenüber abschotten. Ich denke, dass das
auch Folgen für den weltweiten Handel haben wird. Der
weltweite Handel mit den Schwellenländern ist inzwischen äußerst bedeutsam: auch für Deutschland, auch für
die Wirtschaft, auch für die Beschäftigung. Er wird dadurch gefährdet. Diesen Aspekt darf man in der Konsequenz nicht vergessen.
Deshalb sagen wir: Dieses Abkommen schafft keine
Leitplanken im Sinne von Schutz von Mensch und Natur. Es reißt Leitplanken ein und gefährdet internationale
Handelsabkommen, die auf fairer Grundlage entstehen.
Deswegen sagen wir diesmal einfach nur Nein zu diesem
Verhandlungsmandat.
({8})
Jetzt hat der Kollege Erich G. Fritz das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
({0})
Ich werde diese Debatten in Zukunft sehr vermissen.
({1})
Auch diese hat wieder einmal gezeigt: Mehrheit zu haben, ist nicht gleichbedeutend mit Wahrheit und Weisheit.
({2})
Aber nachgewiesen wurde heute im Saale: Umgekehrt
stimmt es schon gar nicht.
({3})
Der Umgang mit diesem Thema zu einem Zeitpunkt,
bei dem es um die Erteilung des Verhandlungsmandats
geht, ist unverhältnismäßig, liebe Ulla Lötzer. Dieses
transatlantische Freihandelsabkommen ist immer wieder
aufgetaucht wie das Ungeheuer von Loch Ness, alle paar
Jahre. In den letzten 23 Jahren habe ich es des Öfteren
erlebt. Zum ersten Mal haben wir die Chance, nach der
Initiative von Angela Merkel und der Reaktion von
Obama - nur in dieser Legislaturperiode kann er es machen -, dass es zu einem sehr weitreichendem Abkommen kommt, welches die auf der anderen Seite des Atlantiks übliche Art der Vorteilssuche auf Kosten des
anderen zu Ende gehen lässt.
({4})
Zum ersten Mal gibt es die Möglichkeit, dass dieses
Abkommen, das eminent politisch ist und nicht nur wirtschaftspolitisch zu sehen ist, dazu führt, dass die beiden
stärksten Wirtschaftsräume dieser Welt zusammenfinden, aufeinander zugehen - das muss schon sein -, ohne
dass es jemanden richtet. Es muss die Möglichkeit geben, dass dieses Abkommen zum Anlass genommen
wird für eine wichtige Erweiterung des multilateralen
Systems, die ins Stocken geraten ist. Ich könnte Ihnen
- leider haben wir die Zeit dafür nicht - an vielen Stellen
nachweisen, dass das so ist. Eines geht natürlich nicht:
Man kann solche Verhandlungen nicht beginnen, indem
jeder aufschreibt, worüber man nicht redet.
({5})
Wenn man das tut, dann will man das Abkommen in
Wirklichkeit nicht. Da ist die Haltung „Wir wollen es sowieso nicht“ eindeutiger.
({6})
Mir gefällt an der Debatte nicht, dass, wenn es um
Standards und um Verhandlungen geht, automatisch gesagt wird: Das ist gleichbleibend mit dem Schleifen und
Absenken von Standards. Warum denn eigentlich nicht
umgekehrt?
({7})
Das ist typisch. Das sind nur Reflexe. Auch die vorliegenden Anträge sind nur Reflexe und stehen für die
immer gleichen Verhaltensweisen.
({8})
Man muss bei den Standards Folgendes sehen. Bei
den Industriestandards sind die Interessen klar erkennbar. Dort gilt: Wer die Norm schreibt, hat sozusagen die
Marktführerschaft. Auf der anderen Seite handelt es sich
um unterschiedliche Kulturen. In den USA läuft vieles,
was bei uns über das Ordnungsrecht läuft, über das Haftungsrecht. Das ist zwar nicht automatisch vereinbar.
Das heißt aber noch nicht, dass die Standards unterschiedlich hoch sind. Das heißt auch nicht, dass der eine
die Standards des anderen übernehmen muss. Es heißt
vielmehr, dass wir zum ersten Mal die Chance haben,
darüber in einer Art und Weise zu reden, dass etwas Gemeinsames dabei herauskommt.
({9})
Ich vermute, die Standards werden besser sein als diejenigen, die es jetzt gibt. Wir haben Standards, die zum
Teil für die USA eine Herausforderung sind, die für sie
aber auch Vorteile bringen; Rolf Hempelmann hat zu
Recht zwei davon genannt. In den USA ist die Diskussion über Standards in bestimmten Bereichen unterentwickelt. In der Bevölkerung bzw. auf regionaler Ebene
gibt es dort aber ein sehr großes Interesse daran, in diesem Bereich weiterzukommen. Auch das kann man nutzen.
Ich möchte mit Blick auf meine Redezeit nur noch
wenige Sätze zum Antrag der Linken sagen. Die Vorstellung, dieses Abkommen diene vorwiegend der Großindustrie, ist äußerst abwegig.
({10})
Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Unternehmen
der Großindustrie sind auf beiden Seiten des Atlantiks
Marktinsider. Das heißt, sie können alle Vorteile der jeweiligen Märkte nutzen. Der Marktzugang - öffentliche
Ausschreiben etc. - ist der Bereich, aus dem unser Mittelstand heutzutage ausgesperrt ist.
({11})
Wir haben jetzt die Chance, an dieser Stelle Beschäftigung zu generieren. Die Schaffung von 400 000 neuen
Arbeitsplätzen in der EU - davon 100 000 neue Arbeitsplätze in Deutschland - hört sich vielleicht nicht nach
viel an. Daraus entsteht aber etwas: Daraus entstehen
Felder, die heute noch nicht beackert werden können,
deren Potenziale dann aber - da traue ich dem innovativen deutschen Mittelstand einiges zu - durchaus gehoben werden können.
Zur Transparenz: Ich glaube, wir haben gemeinsame
Anforderungen. Die Europäische Kommission war nicht
dazu genötigt, sondern sie hat wohl eingesehen, dass es
notwendig ist, dass sie dem Handelsausschuss des Europäischen Parlaments - dieser tagt öffentlich - in jeder
Phase der Verhandlungen die jeweiligen Ergebnisse und
Voten vorträgt.
Wir haben - Rolf Hempelmann hat diesen Prozess genauso lange begleitet wie ich - am Anfang des WTOProzesses ebenfalls Schwierigkeiten gehabt, zu erfahren,
was läuft. Aber zum Schluss gab es ein Berichtswesen
der Bundesregierung, das bei jedem neuen Schritt den
aktuellen Stand wiedergegeben hat. Die Abgeordneten
waren damit zufrieden. Nicht jeder war mit dem Ergebnis zufrieden. Das ist aber eine andere Sache.
Die Bundesregierung hat in der vergangenen Woche
im Wirtschaftsausschuss zugesagt, in gleicher Weise zu
verfahren. Im Übrigen hat es noch kein EU-Mandat gegeben, das so öffentlich entstanden ist wie dieses. Ich
habe zumindest in der Zeit, in der ich Prozesse dieser Art
verfolge - ich habe schon viele öffentliche Debatten
dazu erlebt -, niemals zuvor ein solches Mandat vorher
schriftlich in der Hand gehabt.
Wir müssen die vorliegenden Anträge leider ablehnen
- auch den SPD-Antrag -,
({12})
obwohl im SPD-Antrag viel Richtiges steht.
Herr Kollege!
Die Bundesregierung will mit den Verhandlungen weder das Grundgesetz noch den Föderalismus abschaffen
oder über das Dienstleistungsabkommen der WTO hinausgehen. Es macht nur keinen Sinn, vorher Stolpersteine aufzustellen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/13925 mit dem Titel „Transatlantische Handels- und
Investitionspartnerschaft nur mit starken Standards“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Antrag abgelehnt, bei Zustimmung durch Bündnis 90/Die Grünen und die SPD;
alle übrigen Fraktionen waren dagegen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13894 mit dem
Titel „Keine weitere Liberalisierung über ein EU-Freihandelsabkommen mit den USA“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung durch die einbringende Fraktion; alle übrigen Fraktionen waren dagegen.
Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13904 mit dem Titel „Die Verhandlungen mit den USA zu einem transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen konsequent an europäischen Standards ausrichten“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt, bei Zustimmung
durch SPD und Bündnis 90/Die Grünen; die übrigen
Fraktionen waren dagegen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 66 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der United Nations
Interim Force in Lebanon ({0}) auf
Grundlage der Resolution 1701 ({1}) vom
11. August 2006 und folgender Resolutionen,
zuletzt 2064 ({2}) vom 30. August 2012 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
- Drucksache 17/13753 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({3}) RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
halbe Stunde Aussprache vorgesehen. - Dazu sehe und
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die Bundesregierung dem Bundesminister Guido Westerwelle das
Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir können nicht
über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
UNIFIL-Mission debattieren, ohne unseren Blick auf die
Lage im Nachbarland Syrien zu richten. Die Hinweise
auf den Einsatz chemischer Substanzen in Syrien nehmen wir sehr ernst. Wir werden den Informationsaustausch über die Faktenlage intensiv fortsetzen. Wir drängen auf eine Beratung über die neu vorgetragenen
Berichte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, mit
dem Ziel, dass es zu einer gemeinsamen Position des Sicherheitsrates kommt.
Deutschland wird weiter darauf hinwirken, dass es zu
der geplanten internationalen Syrien-Konferenz kommt.
Auch wenn die Chancen einer solchen Syrien-Konferenz
derzeit nicht überragend groß sind, sollten und werden
wir unsere Bemühungen um eine politische Lösung fortsetzen.
({0})
Dauerhafter Frieden in Syrien wird nur mit einer politischen Lösung möglich sein. Wenn ich die Reaktion richtig deute, scheint dies die Auffassung des überwiegenden Teils des Hohen Hauses zu sein.
({1})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen so schnell wie möglich ein Ende der Gewalt und
den Einstieg in einen politischen Prozess.
({2})
Deutschland selbst wird keine Waffen nach Syrien liefern. Wir respektieren, wenn Partner von uns zu einer
anderen Bewertung kommen. Aber wer Waffenlieferungen ins Auge fasst, muss sicherstellen, dass diese Waffen
nicht in falsche Hände geraten. Was es für Folgen haben
kann, wenn Extremisten und Terroristen moderne Waffentechnologie in die Hände bekommen, haben wir anderswo - mit sehr ernsten Folgen - bereits gesehen.
({3})
Die Bundesregierung, meine sehr geehrten Damen
und Herren, hat inzwischen über 160 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt, das meiste davon für humanitäre
Hilfe, die den Flüchtlingen und Binnenvertriebenen zugutekommt. Deutschland ist damit einer der stärksten
Geber. Ich kann Ihnen aber versichern: Wir werden weitere Möglichkeiten der Unterstützung prüfen.
Die Gefahr eines Flächenbrandes ist real. Der Konflikt in Syrien greift immer stärker um sich. Kämpfer der
Hisbollah haben sich an den Kämpfen aufseiten des Regimes beteiligt. Im Libanon stehen erneut konfessionelle
Konfliktlinien unter Spannung. Neue Gewaltausbrüche
können nicht ausgeschlossen werden.
Die ohnehin schwierige innenpolitische Lage im Libanon wird durch die Flüchtlingsströme aus Syrien weiter verschärft. 1 Million syrische Flüchtlinge allein im
Libanon entsprechen etwa einem Viertel der Gesamtbevölkerung des Landes. Das Land kommt damit zweifelsohne immer mehr an seine Belastungsgrenze.
Inzwischen haben wir in Deutschland die Voraussetzungen für die Aufnahme von 5 000 Flüchtlingen geschaffen, die vor allem aus dem Libanon zu uns kommen
sollen. Zudem gilt für alle Menschen, die seit April 2011
aus Syrien zu uns nach Deutschland gekommen sind, ein
sogenannter Rückführungsstopp. Das betrifft allein
11 000 Asylsuchende. Niemand wird nach Syrien abgeschoben.
({4})
Die Unterstützung durch UNIFIL bei der Ausrüstung
und Ausbildung der libanesischen Streitkräfte bleibt unerlässlich. Die Mission leistet einen entscheidenden
Beitrag, um einen Flächenbrand in der Region zu verhindern. Es ist im internationalen, aber auch in unserem ureigenen Interesse, die deutsche Beteiligung an
UNIFIL fortzusetzen.
Mit der Verlängerung des Mandats entsprechen wir
auch den Wünschen Israels, des Libanon selbst und der
Vereinten Nationen. Diese haben ausdrücklich um die
Fortführung der deutschen Beteiligung gebeten. Das
Bundestagsmandat für die Beteiligung am UNIFIL-Flottenverband soll unverändert um zwölf Monate bis zum
30. Juni 2014 verlängert werden. Die Personalobergrenze bleibt unverändert bei 300 Personen.
Im Namen der Bundesregierung bitte ich Sie um Ihre
Zustimmung zu diesem Mandat.
({5})
Das Wort hat der Kollege Rolf Mützenich für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Tat: Dies sind kritische und entscheidende Tage, seitdem die US-Regierung behauptet, zweifelsfreie Erkenntnisse im Hinblick auf den Einsatz von
Chemiewaffen zu haben. Meine Fraktion ist der Meinung, dass die US-Regierung den Vereinten Nationen
ihre Kenntnisse und ihre Beweise schnellstens zur Verfügung stellen muss. Das gehört in die Vereinten Nationen.
Letztlich müssen dann die Mitgliedsländer und auch die
Mitglieder des Sicherheitsrates angemessen handeln.
Meiner Meinung nach müssen die Hinweise auch dem
Internationalen Strafgerichtshof - auch wenn er zum jetzigen Zeitpunkt nicht unmittelbar ermitteln kann - für
spätere Ermittlungen zur Verfügung gestellt werden. Das
sind wir den Menschen in Syrien und der Region insgesamt schuldig.
({0})
Herr Außenminister, auch wenn Sie zum jetzigen
Zeitpunkt keine Erkenntnisse haben, bitte ich Sie, weiterhin nach Erkenntnissen zu suchen. Wie wir aus der
Presse erfahren haben, gibt es die eine oder andere Reise
in die Region. Wir bitten Sie, sich mit den Partnern vor
Ort auszutauschen.
Es besteht kein Zweifel, dass in erster Linie das Regime Assad die Verantwortung für die Eskalation und
auch für die Brutalisierung dieses Konfliktes trägt; denn
als vor zwei Jahren friedliche Demonstranten in verschiedenen Städten in Syrien auf die Straße gegangen
sind, hat das Regime Assad innerhalb von Tagen mit
brutaler Gewalt auf die Proteste reagiert.
Wir von der SPD-Fraktion sagen eindeutig: Es gibt
keine militärische Lösung in diesem Konflikt. Hier im
Bundestag besteht ein breiter Konsens, dass Waffenlieferungen nicht der richtige Weg sind; denn in der Region
herrscht kein Mangel an Waffen, sondern ein Mangel an
Vertrauen und Diplomatie.
({1})
Deswegen haben mich die aktuellen Äußerungen Ihres Koalitionspartners überrascht, Herr Außenminister.
Ich hätte mir schon gewünscht, dass Sie darauf eingehen.
Nicht irgendwer, sondern der Kollege Schockenhoff hat
heute für die CDU/CSU-Fraktion erklärt, dass seine
Fraktion für eine Flugverbotszone in der Region eintreten wird. Ich habe hier eine entsprechende Meldung von
13.30 Uhr vorliegen. Ich finde, dass die Bundesregierung mit derartigen Erklärungen sorgfältig umgehen
muss.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Beschluss des Deutschen Bundestages, den wir gemeinsam
gefasst haben, auch mit den Stimmen der SPD-Bundestagsfraktion. Dort heißt es unter Punkt 4 - ich zitiere -:
Der Einsatz dient nicht der Einrichtung oder Überwachung einer Flugverbotszone über syrischem
Territorium.
Ich finde, dieser Konsens muss erhalten bleiben. Deswegen muss es in dieser Debatte einen entsprechenden Hinweis darauf geben.
({2})
In der Tat ist es richtig, alle Anstrengungen auf die
Genf-2-Konferenz zu konzentrieren, weil, wie gesagt,
ein Mangel an Diplomatie herrscht. Auch wenn es, wie
ich glaube, nur sehr wenig Hoffnung gibt, muss man in
den nächsten Tagen weiterhin alles unternehmen, damit
zumindest das Minimalziel, dass die Konferenz stattfindet, erreicht wird. Es wäre ein Hoffnungsschimmer,
wenn dort eine Waffenruhe vereinbart werden könnte,
zumindest für Stunden. Wir müssen den Menschen in
Syrien zumindest die Möglichkeit geben, aus den umkämpfen Zonen herauszukommen. Auf dieser Grundlage
könnte vielleicht ein weiterführendes Mandat der Vereinten Nationen erreicht werden.
Das Problem ist, dass die Bundesregierung derzeit
keinen maßgeblichen Anteil am Zustandekommen dieser
Konferenz hat. Ich finde, dass die Bundesregierung mehr
tun könnte. Insbesondere könnte sie auf den einen oder
anderen internationalen Akteur stärker einwirken, der
diese Konferenz nicht unterstützt. Ich glaube, wir haben
durchaus Gelegenheit, noch intensiver mit der russischen Regierung darüber zu reden, und zwar auch und
gerade in dieser Situation. Zwar haben Sie Länder wie
Saudi-Arabien und Katar als Gestaltungsmächte in der
internationalen Politik identifiziert, aber ich frage mich,
ob Ihre Analyse richtig ist. Denn es ist fraglich, ob diese
Länder wirklich bereit sind, an der Herstellung einer
friedlichen Ordnung mitzuwirken, und ob sie tatsächlich
verantwortliche Gestaltungsmächte sind. Das wäre nach
meinem Dafürhalten eine wichtige Frage gewesen.
Sie haben mehr humanitäre und medizinische Hilfe
angekündigt. Zumindest wollen Sie das prüfen. Ich
finde, wir sollten sie bereitstellen. Leider haben wir viel
zu lange gebraucht, um gerade einmal 5 000 Flüchtlinge
aufzunehmen. Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein immerhin -, aber insgesamt hat dieser Prozess viel zu
lange gedauert.
Ich will noch Folgendes sagen: Wir dürfen angesichts
der massiven Auseinandersetzungen und trotz des Bürgerkriegs in Syrien nicht vergessen, dass die Umbrüche
in der arabischen Welt unseren Respekt und unsere Anerkennung verdienen; denn dort tun sich Menschen zusammen, um ihren Ländern den richtigen Weg zu weisen. Ich finde, das muss auch vom Deutschen Bundestag
aus gesagt werden.
({3})
Zu UNIFIL. Wir von der sozialdemokratischen Partei
haben UNIFIL von Anfang an unterstützt, nicht nur, weil
wir das Mandat des Sicherheitsrates, das immer wieder
verlängert worden ist, für richtig erachtet haben. Wir waren und sind der Meinung, dass der Waffenschmuggel
verhindert werden muss und es dafür ein UN-Mandat geben muss. Wir sehen ja, welche Verwerfungen es zurzeit
auf den Golanhöhen gibt.
Ich glaube, mit diesem UNIFIL-Mandat war auch ein
politischer Zweck verbunden. Wir glaubten, dass wir damit den ohnehin fragmentierten Staat Libanon in Bezug
auf seine staatliche Souveränität unterstützen könnten.
Die israelische Marine hat die Quarantäne von libanesischen Häfen sehr schnell aufgehoben. Wir haben beim
Grenzmanagement geholfen, und wir haben, wie ich
glaube, auch die Konfliktparteien im Innern des Libanon
zusammengeführt. Deswegen war das UNIFIL-Mandat
mehr als die Verhinderung von Waffenschmuggel. Dieses Mandat diente insbesondere der Sicherung der staatlichen Souveränität des Libanon.
Ich finde, Deutschland und Europa haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das fragile Gleichgewicht im
Libanon nicht weiter geschwächt wird. Die Hisbollah
trägt in der Tat eine riesengroße Verantwortung für die
Eskalation des Bürgerkrieges in Syrien und damit indirekt natürlich auch der Iran als Förderer der Hisbollah.
Gleichwohl ist es wichtig, die Worte abzuwägen, um die
innenpolitische Situation im Libanon nicht weiter zu
verschärfen. Deswegen ist meine Bitte, auch an die Bundesregierung und an die Europäische Union, alle Bemerkungen in die Richtung zu unterlassen, noch stärker innerhalb des EU-Rahmens vorzugehen, solange keine
handfesten Beweise - auch gegen die Hisbollah - vorliegen.
Wir werden verantwortungsvoll in den Ausschüssen
über dieses Mandat debattieren. Ich kann für die SPDFraktion sagen, dass wir dieses Mandat verlängern werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich mich an den
mir folgenden Redner, den Parlamentarischen Staatssekretär Kossendey, wenden: Ich habe gehört, dass das
Ihre letzte Rede im Deutschen Bundestag ist. Ich möchte
mich ganz herzlich für die gute, vertrauensvolle und immer souveräne Zusammenarbeit bedanken. Das sage ich
ganz persönlich, aber auch im Namen meiner Fraktion.
Ganz herzlichen Dank!
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist in der Tat im Augenblick eine schwierige Diskus31768
sion, weil das, was wir zu UNIFIL sagen wollten, natürlich durch die Lage in Syrien überlagert wird.
Lieber Herr Kollege Mützenich, ich danke für Ihre
netten Worte. Allerdings möchte ich auf Folgendes hinweisen: Das, was zum Thema Flugverbotszone zu sagen
ist, hat der Außenminister sehr deutlich gesagt. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass da eine Änderung in der Meinung des Außenministers eingetreten ist.
Die UNIFIL-Mission - wenn ich darauf zurückkommen darf - hat den Auftrag, die militärische Eskalation
zwischen dem Libanon und Israel zu verhindern und
letztendlich auch das angespannte Verhältnis zwischen
diesen beiden Ländern zu entschärfen. Diese nun schon
sieben Jahre andauernde Mission führt, so glaube ich,
langsam und schrittweise zum Erfolg. Einige Beispiele
hat Kollege Mützenich aufgezählt, wir könnten noch andere nennen.
Libanon und - ich betone das ausdrücklich - auch
Israel haben beide darum gebeten, UNIFIL, diesen wichtigen Stabilitätsanker in der Region, zu verlängern. Sie
wollen eine weitere Präsenz der Friedenstruppen der
Vereinten Nationen, und das betrifft natürlich ausdrücklich auch den deutschen Beitrag zu UNIFIL. Unser Beitrag hat ein doppeltes Mandat. Zum einen sichern wir die
seeseitigen Grenzen des Libanon, und zum anderen
- das ist in der Öffentlichkeit häufig so nicht gesehen
worden - unterstützen wir die libanesischen Streitkräfte
beim Aufbau ihrer Fähigkeiten. Derzeit beteiligen wir
uns an UNIFIL mit der Korvette „Braunschweig“ und
dem Schnellboot „Frettchen“, mit einem nationalen Unterstützungskommando in Limassol, aber auch durch einen Anteil am UNIFIL-Hauptquartier in Naqoura.
Eine Vielzahl von Projekten, die wir da angepackt haben, ist in der Tat gut weiterentwickelt worden. Im letzten Jahr wurde mit der Inbetriebnahme der letzten Küstenradarstation der Aufbau einer Küstenradarkette
abgeschlossen. Ich glaube, dass die libanesische Marine
am Ende dieses Jahres über die Fähigkeit verfügen wird,
eine vollständige Radarüberwachung ihrer eigenen
Küste selbst sicherzustellen.
Das ist auch ein ganz wichtiger Beitrag im Sinne der
Ertüchtigungsinitiative, die wir im Dezember in den
Europäischen Rat einbringen wollen. Auch der Navigationssimulator, den wir dort installiert haben und mit
dem wir libanesische Soldaten ausbilden, ist eine ausgesprochen hilfreiche Anschaffung gewesen. Er hilft, dass
Soldaten im Libanon ausgebildet werden können. Wir
helfen übrigens auch dadurch, dass wir libanesische Kadetten bei uns in Deutschland ausbilden.
Darüber hinaus ist es natürlich wichtig, dass wir im
zivilen Bereich eine Menge tun. Auch darüber ist hier
gesprochen worden. Der Außenminister und Sie, Herr
Mützenich, haben es angesprochen. Die instabile Lage in
der Region werden wir eigentlich nur dann einigermaßen
stabilisieren können, wenn es uns gelingt, ein Gleichgewicht bei den Streitkräften zu schaffen. Dieses zu erreichen, erfordert natürlich ein Mindestmaß an Stabilität.
Deswegen werden wir die libanesische Marine auf dem
Weg weiter unterstützen, dass sie ihre nationalen Grenzen selbst schützen kann.
Der Libanon bedarf genau wie die gesamte Region einer tragfähigen Sicherheit und Stabilität. Wir brauchen
- das ist der Wunsch aller Beteiligten - dort auch weiter
internationale Präsenz. Ich bitte Sie deswegen - auch im
Namen der Bundesregierung - um Unterstützung dieses
Antrags, der vorsieht, UNIFIL für ein weiteres Jahr
300 Soldatinnen und Soldaten zur Verfügung zu stellen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies wird - Kollege
Mützenich hat es angesprochen - voraussichtlich meine
letzte Rede im Deutschen Bundestag sein. Gestatten Sie
mir deswegen ein paar kurze Anmerkungen. Vor knapp
26 Jahren, am 16. Oktober 1987, stand ich im Deutschen
Bundestag in Bonn als relativ junger Abgeordneter und
hielt meine Jungfernrede. Interessanterweise ging es dabei um den Einsatz der Bundesmarine im Mittelmeer.
Genauso wie damals werbe ich heute um Zustimmung
für einen Einsatz der deutschen Marine im Mittelmeer.
So schließen sich eben manchmal die Kreise. Vieles hat
sich seit der Rede damals verändert. Es gibt aber auch
Konstanten.
Damals hatte ich an den Anfang meiner Rede drei
Dinge gestellt: Erstens. Die Bundesrepublik ist eine
friedliebende Nation. Zweitens. Die Bundesrepublik
steht in der Solidargemeinschaft aller NATO-Länder.
Drittens. Wir sind eine Handelsnation, die in ganz besonderem Maße auf sichere Seeverbindungen angewiesen ist. - Das gilt auch nach einem Vierteljahrhundert
und auch unter veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen weiter.
Ich möchte mich am Ende meiner Arbeit im Deutschen Bundestag bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken - bei den aktiven Kolleginnen und Kollegen,
aber auch bei denen, die ausgeschieden sind -, mit denen
ich mehr als zweieinhalb Jahrzehnte zusammenarbeiten
durfte. Wir haben diskutiert, wir haben gestritten,
manchmal wurde es auch ziemlich energisch. Ich habe
mich dabei bemüht, immer hart in der Sache, aber fair
im Umgang zu sein. Ich hoffe, dass mir das in den allermeisten Fällen gelungen ist.
({0})
Schließlich will ich nach über 26 Jahren als Verteidigungspolitiker einen Dank aussprechen an unsere
Soldatinnen und Soldaten sowie an die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr, die aufopferungsvoll ihren Dienst tun, sei es in der Hitze in Dschibuti im Juli, sei es in der Kälte im Winter in Pristina, sei
es im Staub in Afghanistan, sei es im Sturm im östlichen
Mittelmeer bei UNIFIL, sei es beim Eindämmen des
Hochwassers, sei es bei Übungen in der norddeutschen
Tiefebene bei flauem Regen oder auch bei langen Tagen
am Schreibtisch oder an welchem Platz auch immer unser Land sie einsetzt. Sie leisten, finde ich, einen unschätzbaren Dienst an der Gemeinschaft. Lassen Sie uns
den Soldaten nichts anderes einreden. Ich wünsche unseren Soldatinnen und Soldaten und unseren zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie ihren Familien
Glück, Gesundheit und immer eine unversehrte Heimkehr.
Herr Präsident, ich melde mich zum Ende der Legislaturperiode ab.
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ich nehme die
Meldung entgegen und wünsche Ihnen alles Gute für Ihr
weiteres Leben.
({0})
Nun hat Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte zu Beginn dieser Debatte, die sich durch die
Vorkommnisse rund um Syrien, den Krieg in Syrien,
völlig verändert hat, zwei, drei Punkte benennen, bei denen aus meiner Sicht hier eine Übereinstimmung herbeigeführt werden kann.
Ich bin entschieden dafür, dass man nur auf eine politische Lösung setzt. Es kann und wird keine militärische
Lösung geben. Wenn man auf eine politische Lösung
setzt - das hat auch der Herr Außenminister betont -,
muss man an der internationalen Syrien-Konferenz festhalten. Wenn diese Konferenz fallengelassen wird, wird
die Waffengewalt in der ganzen Region nicht mehr zu
stoppen sein. Ich wünsche mir hier, ehrlich gesagt, auch
mehr Initiative der Bundesregierung, eine solche Konferenz zu befördern und auf Partnerinnen und Partner einzuwirken, ihre Position im positiven Sinne hinsichtlich
des Stattfindens einer solchen Konferenz zu verändern.
Die geplante Syrien-Konferenz lebt davon, dass die
USA und Russland sie mit auf den Weg gebracht haben.
Ich will Ihnen aber auch sagen: Ohne eine Teilnahme des
Irans an dieser Konferenz wird kein stabiles Ergebnis zu
erreichen sein. Zu dieser Frage hat der Außenminister
nichts gesagt. Ich bitte sehr, darauf hinzuwirken, dass
auch der Iran an dieser Konferenz beteiligt wird, auf der
man versuchen sollte, die Konfliktparteien zusammenzubringen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Ja.
Bitte schön, Kollegin Beck.
Herr Kollege Gehrcke, Sie haben auf das gemeinsame
Interesse hingewiesen, das wir alle an einer politischen
Lösung haben. Wie stehen Sie dann dazu, dass, obwohl
diese Syrien-Konferenz vorbereitet wird, Russland unter
den Augen der Weltöffentlichkeit ganz unverhohlen
seine Absicht bekannt gegeben hat, sowohl MiGs als
auch Flugabwehrraketen an das syrische Regime zu liefern?
Ich habe immer von allen Seiten verlangt, keine Waffen in die Region zu liefern.
({0})
Das gilt für Frankreich, das gilt für Großbritannien, und
das gilt genauso für Russland. Ich habe Russland in dieser Frage immer kritisiert. Ich glaube nicht, dass russische Waffenlieferungen zur Stabilisierung der Situation
beitragen. Das weiß man auch in Russland. Ich kann mit
gutem Gewissen kritisieren, weil ich alle kritisiere.
An diesem Punkt hatte die Rede von Außenminister
Westerwelle einen doppelten Boden. Er hat gesagt: Die
Bundesregierung ist gegen Waffenlieferungen; aber sie
geht partnerschaftlich mit den Ländern um, die Waffen
liefern. - Die Entscheidung von Frankreich und Großbritannien und das Versagen der Europäischen Union haben
zu einer Verschärfung der Krise beigetragen und unter
anderem auch zum Abzug der österreichischen Truppen
vom Golan geführt. Man muss die Partner klar auffordern - und mit gutem Beispiel vorangehen -, keine Waffen in den Nahen Osten zu liefern. Das kann man aber
nur fordern, wenn man selber glaubwürdig ist. Da darf
man auch keine Panzer oder anderen Rüstungsgüter an
Saudi-Arabien oder Katar liefern; durch so etwas wird
man unglaubwürdig.
({1})
Ich möchte, dass wir auf eine politische Lösung setzen, dass wir an der Syrien-Konferenz festhalten und etwas dafür tun, dass sie stattfindet. Ich habe viel mit der
nichtgewaltsamen syrischen Opposition über diese Fragen gesprochen; wir unterhalten gute und enge Beziehungen zu ihr. Von dort hören wir immer: Legt die Latte
dafür, was ihr von der Konferenz erwartet, nicht zu
hoch! Wenn es gelänge, dass einige humanitäre Verabredungen getroffen werden, wäre das in der jetzigen Situation schon ein gewaltiger Erfolg. Es wäre schon gewaltig, wenn diese Konferenz überhaupt stattfindet.
Ich befürchte - vieles erinnert mich an den Vorlauf
des Irakkrieges -, dass die Entscheidung der USA zu einem Krieg führen kann. Wenn die USA anfangen, Waffen zu liefern, bin ich einmal gespannt auf die Kritik der
USA an den Waffenlieferungen aus Russland. Den Maßstab, den Sie hier an Russland anlegen, müssen Sie dann
auch an die USA anlegen. Ich kann nur sagen: Ich finde
Obamas Entscheidung katastrophal. Es gibt keine stichhaltigen Hinweise dafür, dass die USA tatsächlich geprüft hätten, ob in Syrien Chemiewaffen eingesetzt wurden. Es entsteht vielmehr der Eindruck, dass man das als
Vorwand benutzt - diese Debatte läuft ja nicht erst seit
gestern -, um zu der getroffenen Entscheidung zu kommen. Wir werden das Obama auch sagen, wenn er nach
Berlin kommt.
({2})
- Natürlich. Ich freue mich schon auf die Demonstrationen. Obama sagt ja wie sein Vorgänger: Wir wollen
keine Kriege.
({3})
Was das UNIFIL-Mandat angeht, so habe ich hier immer vertreten: Dieses Mandat war notwendig, um den
Krieg zu beenden. - Wir wollten aber nie eine Teilhabe
deutscher Soldaten an diesem Mandat, und dabei bleibt
es. Wir werden gegen eine Verlängerung des Mandats
stimmen.
Der Libanon ist leider nicht stabilisiert worden, er ist
heute labiler denn je.
({4})
- Nicht wegen des UNIFIL-Mandats, sondern weil man
politisch nichts zustande gebracht hat. Das ist das, was
man kritisieren muss.
Lassen Sie uns gemeinsam darüber nachdenken, was
man politisch machen kann!
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Omid Nouripour für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den
letzten Jahren haben wir häufig in gewöhnlichen Bahnen
über UNIFIL diskutiert. UNIFIL leistet einen Beitrag
zum Frieden und hat dazu beigetragen, den Krieg zwischen der Hisbollah auf der einen Seite und Israel auf der
anderen Seite zu beenden. UNIFIL leistet einen Beitrag
dazu, dass auf dem Seeweg keine Waffen in den Libanon
geschmuggelt werden können. Im Rahmen von UNIFIL
wird darüber hinaus die libanesische Marine ausgebildet.
Dass die Obergrenze für dieses Mandat von
1 200 Soldatinnen und Soldaten auf 300 gesenkt werden
konnte, ist ein Beleg dafür, dass diese Mission erfolgreich ist. Ich möchte den Soldatinnen und Soldaten und
ihren Familien für ihren Beitrag dazu herzlich danken.
({0})
Die Diskussion, die heute geführt wird, ist keine normale und gewöhnliche Diskussion. Das liegt an der Situation in Syrien; das ist mehrfach gesagt worden. Gerade
weil die Situation in Syrien so ist, ist eine friedenserhaltende UN-Mission heute in der Region nicht mehr selbstverständlich. Dass es Probleme gibt, sieht man an dem
Abzug der österreichischen Soldaten vom Golan. In dieser Situation spielt UNIFIL eine besondere Rolle.
Gerade weil die Situation so besonders ist, braucht
der Libanon unsere Hilfe. Er braucht unsere Hilfe wegen
der großen Anzahl der Flüchtlinge und wegen der Bedingungen, unter denen die Flüchtlinge dort aufgenommen
werden. Ich bin froh, dass auch die Bundesrepublik bereit ist, 5 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Diese
Dimension hat der Herr Außenminister genannt. Wir
sind der Meinung, dass deutlich mehr Flüchtlinge bei
uns aufgenommen werden könnten. Aber ich freue mich
auch, dass dazu in dieser Woche im Deutschen Bundestag ein interfraktioneller Antrag verabschiedet wurde.
Darin heißt es, dass die Bundesregierung stärker überprüfen möge, ob mehr Flüchtlinge aufgenommen werden können.
Die Situation in Syrien ist tragisch. Die neueste offiziell genannte Zahl der Toten liegt bei 93 000; voraussichtlich ist ein Drittel dieser Opfer Kinder. Ich verstehe
alle Menschen sehr gut, die jetzt zu dem Ergebnis kommen: Angesichts dieser Horrorbilder und der schrecklichen Taten, die von beiden Bürgerkriegsparteien mittlerweile begangen werden, muss man doch den Mördern in
den Arm fallen. - Das Problem ist, dass kein Mensch
eine Ahnung hat, wie man diese Situation von außen militärisch entschärfen kann, ohne dass die Situation noch
schlimmer wird.
Eine Flugverbotszone würde bedeuten, dass Russland
im Sicherheitsrat übergangen wird. Das ist im Übrigen
das, was der Kollege Schockenhoff in seiner Presseerklärung fordert. Er sagt, dass man Russland übergehen
muss. Das wird nach meiner Auffassung nicht dazu führen, dass eine diplomatische Lösung einfacher wird, im
Gegenteil.
Diejenigen, die Waffen liefern wollen, müssen zwei
Fragen beantworten: Erstens. Wer sammelt diese Waffen
nach dem Konflikt wieder ein? Wir haben hier häufig
über Mali diskutiert. Diese Diskussionen hätten nicht
stattgefunden, wenn die Waffen in Libyen nach dem Konflikt hätten eingesammelt werden können. Die zweite
Frage lautet: Wie kann man, wenn man Waffen liefert,
verhindern, dass Russland und Iran nicht noch mehr Waffen als bisher nach Syrien liefern und sich die Eskalation
fortsetzt?
Alle diese Überlegungen finden vor dem Hintergrund
des möglichen Chemiewaffeneinsatzes statt. Es ist gut,
dass das überprüft werden soll. Ich bin auf die Beweise
sehr gespannt. Mir fehlt, ehrlich gesagt, bisher die Fantasie, mir auszumalen, welche Instanz unabhängig vor Ort
Proben hat entnehmen können, die belegen, dass Chemiewaffen in einem Kampf zum Einsatz gekommen
sind; denn das ist der zentrale Punkt.
Die Konfessionalisierung und Regionalisierung des
Konflikts schreiten immer weiter voran, was auch Auswirkungen auf die Situation im Libanon hat, die zunehmend instabiler wird. Es ist notwendig, dass wir alle
möglichen Anstrengungen unternehmen, damit es zu einer Verhandlungslösung kommt.
Ich muss eingestehen, dass auch bei mir selbst eine
riesige Ratlosigkeit herrscht, was Syrien betrifft. Es ist
beklemmend, wenn man sich die Bilder anschaut. In der
Situation, in der wir uns befinden, müssen wir alle Maßnahmen - und wenn sie noch so gering sind - ergreifen,
die wir ergreifen können. Das bedeutet: humanitäre
Hilfe, Hilfe für die Flüchtlinge. Dazu gehört auch, eine
Plattform zu bieten, wo über eine Lösung diskutiert
wird. Dazu dient zum Beispiel die geplante internationale Konferenz. Das ist ein kleiner Beitrag, um wenigstens halbwegs stabilisierend einzuwirken.
UNIFIL leistet einen Beitrag zur Stabilisierung des
Libanon, und dafür kann ich nur meine Dankbarkeit zum
Ausdruck bringen.
({1})
Das Wort hat nun als letzter Redner zu diesem Debattenpunkt Kollege Erich Fritz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zum Mandat selbst ist das Wesentliche gesagt worden.
Rolf Mützenich, Staatssekretär Kossendey, der Herr
Minister und Omid Nouripour haben das dargelegt. Wir
unterstützen die Mission aus den Gründen, die vorgetragen worden sind.
Als ich am 19. Dezember 1990 zur Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Bundestages dieses Haus betrat,
noch in einem anderen Zustand als jetzt, und der Rede
des Alterspräsidenten Willy Brandt zuhörte, die sehr angemessen und sehr politisch für die damalige Zeit war,
war mir nicht klar, dass ich in meiner Bundestagszeit
über so viele Auslandseinsätze abstimmen muss.
Wenn ich die Bilder von Syrien sehe, dann befällt
mich die gleiche unerträgliche Qual, die mich befiel, als
der Krieg auf dem Balkan passierte. Auf dem Balkan
hatten wir aber eine Option, nämlich den Eingriff von
außen, und man konnte einigermaßen unterscheiden, wer
auf welcher Seite stand, wer die Guten und wer die Bösen waren.
Wenn ich mir anschaue, was in Syrien geschieht, dann
ist das überwiegende Gefühl eben doch Ratlosigkeit. Ich
glaube nicht, dass es ein guter Dienst ist, wenn jetzt die
amerikanischen Vorschläge in den Mittelpunkt der Diskussion rücken oder wenn gar die vielleicht sogar nur innenpolitisch motivierten Gefechte zwischen Regierung
und Opposition in den USA bei uns aufgegriffen würden, um das eigentlich notwendige Ziel der Diskussion
bei uns aus dem Blick zu bekommen.
Der Herr Außenminister hat mit Recht gesagt: Es
kann keine Alternative zu einer politischen Lösung geben, und wir können keine Waffen liefern. - Denn jeder
von uns weiß, dass dann, wenn der hier sinnvollerweise
gemachte Vorschlag, den internationalen Kriegsverbrecherprozess schon einmal vorzubereiten, in die Tat umgesetzt würde, dort vermutlich Täter von allen Seiten sitzen müssen.
({0})
Wer in einer solchen Situation die kleinen Ansätze für
die Möglichkeit einer Konferenz, die es jetzt gab, infrage
stellt - auch wenn die Hürden dafür groß sind und die
Antworten auf die Fragen, wer wirklich zu involvieren
ist und wie das geschieht, nicht klar sind -, der, glaube
ich, versündigt sich in einer Art und Weise an einer Lösung, die man gar nicht schlimm genug beschreiben
kann; denn jeder weitere Monat, jede weitere Woche und
sogar jeder weitere Tag ist eine humanitäre Katastrophe
und führt in dieser Region zu einer weiteren Destabilisierung und zu einer Auflösung von Strukturen, die in
diesem Raum, wenn auch schwach, noch immer in der
Lage waren, politisch zu tragen und Staaten handlungsfähig zu machen - wie auch immer wir dazu standen.
Ich bin deshalb sehr für UNIFIL; aber es gibt nichts
anderes als den Appell an die Mitglieder des Sicherheitsrates, vor allen Dingen an die, die das vorantreiben müssen, aber auch an die, die jetzt nur abwarten. China
könnte eine Rolle spielen, weil es mit seinen guten Beziehungen zum Iran einen Einflusskanal wie kaum ein
anderer Staat hat. Ich sehe aber keine Aktivitäten. Wer
diesem Schauspiel weiter zuschauen kann, der gehört
nicht in die internationale Gemeinschaft, der stellt sich
abseits dieser internationalen Gemeinschaft, die in der
UN-Charta manifestiert ist.
Meine Damen und Herren, jetzt kommt ein schwerer
Übergang. Das ist nämlich meine letzte Rede im Deutschen Bundestag.
Wie man sich leicht vorstellen kann, möchte ich herzlichen Dank sagen. Zum einen möchte ich all meinen
Mitarbeitern in dieser Zeit danken, die mit großer Qualität und großer Leidenschaft geteilt haben, was ich gemacht habe. Zum anderen möchte ich mich beim ganzen
Haus und bei meiner gesamten Fraktion dafür bedanken,
dass ich so sein durfte, wie ich bin, dass sie mich bei
meinen Leidenschaften, denen ich gefolgt bin, zufriedengelassen haben und dass ich das in einer Art und
Weise tun durfte, die mir sehr entgegenkam.
Die Themen, die wir hier gemeinsam häufig besprochen haben, sind für die Menschen viel wichtiger, als sie
meinen. Es sind meistens keine Themen, die zum Beispiel im Wahlkreis eine Rolle spielen; aber es ist unendlich wichtig, dass wir in dieser Welt zu Regeln kommen,
die über die Staatsgrenzen hinaus tragen. Das gilt für fast
alle Politikbereiche.
({1})
Deshalb bedanke ich mich für das Engagement, das
gerade in diesen Fragen in diesem Haus immer wieder
zu spüren ist und auch zum Ausdruck kommt, auch
wenn wir dabei nicht immer einer Meinung sind. Es
wäre doch schlimm, wären wir bei all diesen Fragen einer Meinung. Dann brauchten wir diese Einrichtung
nicht, die so notwendig ist. Denn wie sagt Norbert
Lammert immer: Regiert wird überall; es kommt darauf
an, ob es ein Parlament gibt, in dem die Minderheit geachtet wird.
({2})
Das, so glaube ich, praktizieren wir vorbildhaft, auch
wenn es uns nicht immer gelingt.
Ich wünsche Ihnen und wünsche dem Deutschen
Bundestag für die Zukunft viel Erfolg, auf dass die Deutschen ihren erfolgreichen Weg weitergehen können, die
Menschen mit Vertrauen auf die Politik schauen und wir
auch in Zukunft dazu beitragen können, dass es Lösungen auf dieser Welt gibt und nicht nur neue Konflikte.
Vielen Dank.
({3})
Kollege Fritz, auch ich wünsche Ihnen alles Gute.
Herzlichen Dank für Ihre Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13753 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 68 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur
Beteiligung an der Multidimensionalen Integrierten
Stabilisierungsmission in Mali ({1}) auf
Grundlage der Resolution 2100 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 25. April 2013
- Drucksache 17/13754 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({3}) RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
EntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussgemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesaußenminister Guido Westerwelle das Wort.
({4})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Da ich selber zu den
etwas dienstälteren Mitgliedern dieses Hohen Hauses
zähle, möchte auch ich die Gelegenheit nutzen, Herrn
Kossendey und Herrn Fritz herzlich für die langjährige
Zusammenarbeit zu danken. Ich wünsche Ihnen beiden
viel Glück, viel Gesundheit und viel Aktivität im Unruhestand. Alles Gute!
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Februar
dieses Jahres haben wir in großer Einigkeit die deutsche
Unterstützung für die Mission der Afrikanischen Union
in Mali, AFISMA, beschlossen. Ich habe bereits damals,
als ich das Mandat eingebracht habe, darauf hingewiesen, dass die Mission AFISMA in eine Mission der Vereinten Nationen überführt werden könnte. Am 25. April
2013 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
genau das beschlossen. Jetzt sollen die Aufgaben von
AFISMA auf MINUSMA übertragen werden. Der Einsatz der internationalen Unterstützungsmission AFISMA
endet damit. Die Personalobergrenze von 150 Soldatinnen und Soldaten soll wie bisher weitergelten und überführt werden.
Mali hat erste Schritte auf dem Weg zur Rückkehr zur
verfassungsmäßigen Ordnung und zur demokratischen
Regierungsführung sowie zur nationalen Einheit unternommen. Ich betone ausdrücklich alle drei Dinge, weil
diese zusammengehören. Die Sicherheitslage hat sich im
Norden Malis im Vergleich zum Februar verbessert, aber
sie bleibt fragil.
Ein wichtiger nächster Schritt ist die Durchführung
freier, fairer, transparenter und vor allen Dingen inklusiver Präsidentschafts- und Parlamentswahlen. Hierzu bedarf es einer möglichst weitgehenden Wiederherstellung
der staatlichen Autorität auch im Norden. Ich kann Ihnen
versichern, dass sich die malische Regierung nach Einschätzung der Bundesregierung tatsächlich in intensiven
und ernsthaften Gesprächen mit Vertretern der Bevölkerungsgruppen im Norden befindet. Der Zeitplan aber ist
ehrgeizig. Die Durchführung der Wahlen wird sicherlich
nicht einfach. Der Kreis, der zu dieser Stunde der Debatte folgt, weiß, welche rein praktischen und nicht nur
politischen Probleme damit verbunden sind. Die Verschiebung der Wahlen um einige Wochen könnte nötig
werden; ich sage das ausdrücklich im Konjunktiv. Der
Wille zur baldigen Durchführung der Wahlen muss aber
klar erkennbar sein. Das ist auch unsere Botschaft an unsere malischen Partner.
Wichtig ist, dass die Wahlen auch in der Region Kidal
stattfinden können, die noch von der Tuareg-Rebellenorganisation MNLA kontrolliert wird. Der von der malischen Regierung eingeleitete Prozess des Dialogs und
der Versöhnung, den Deutschland aktiv unterstützt, wird
auch nach den Wahlen eine langfristige Aufgabe und
notwendig und sinnvoll bleiben.
MINUSMA ist vor dem Hintergrund der Herausforderungen in Mali breiter und umfassender angelegt, als
AFISMA es war. Dies umfasst die Stabilisierung wichtiger Bevölkerungszentren. Es beinhaltet die Unterstützung bei der Wiederherstellung der staatlichen Autorität
im ganzen Land und ausdrücklich auch die UnterstütBundesminister Dr. Guido Westerwelle
zung für die Umsetzung des Fahrplans für den Übergang, einschließlich des nationalen politischen Dialogs.
Der deutsche Beitrag wird geschätzt; das ist mir persönlich in der letzten Woche in New York noch einmal
versichert worden. Den Respekt und den Dank für unsere Landsleute im Einsatz möchte ich noch einmal ausdrücklich erwähnen und ihn gegenüber den Soldatinnen
und Soldaten zum Ausdruck bringen. Unsere Frauen und
Männer in Uniform, sie leisten Großartiges!
({1})
Das deutsche Engagement für Mali ist umfassend.
Anlässlich der Geberkonferenz für Mali am 15. Mai in
Brüssel hat die Bundesregierung, vertreten durch Minister Niebel, Mittel in Höhe von insgesamt 100 Millionen
Euro für 2013 und 2014 zugesagt. Wir haben diese Zusage ausdrücklich an Fortschritte im Transitionsprozess
geknüpft. Darüber hinaus unterstützt Deutschland seit
Jahren mit humanitären Maßnahmen die Menschen in
Mali wie auch malische Flüchtlinge in der Sahelzone.
Ich bin dankbar für die Einigkeit zwischen der Koalition und den überwiegenden Kräften der Opposition
über die Grundlinien der deutschen Mali-Politik. Ich
hoffe, dass uns diese Einigkeit auch bei der Beratung
und Verabschiedung von MINUSMA leitet. Ich bitte Sie
um eine breite Unterstützung für dieses Mandat.
Ich will nochmals ausdrücklich sagen - damit das hier
nicht als eine Routineangelegenheit am Freitagnachmittag verstanden wird -: Die Lage hat sich verbessert.
Aber sie bleibt unverändert fragil und ernst. Vor diesem
Hintergrund ist sich, denke ich, jeder bewusst, dass die
Überführung dieses Mandates ein ernster und verantwortungsvoller Vorgang ist. Dennoch beantragen wir sie
hier, weil wir davon überzeugt sind, dass der Einsatz
vernünftig ist, dass er erfolgversprechend ist und dass
dies ein wichtiger Beitrag ist, um die Afrikaner zu befähigen, in Afrika selbst für die Lösung ihrer Probleme die
entscheidende Verantwortung zu übernehmen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister,
dass das hier keine Routineangelegenheit ist, will ich
ausdrücklich unterstreichen. Das zeigt auch die starke
Präsenz der Bundesregierung: Drei Minister sind in der
Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt anwesend. Ich
glaube, auch das sollte einmal herausgestellt werden;
denn es macht deutlich, wie wichtig diese internationalen Fragen für uns sind.
Bei diesem Mandat, über das wir heute reden, geht es
darum - das hat der Außenminister eben dargestellt -,
eine bereits bestehende Mission in eine UN-mandatierte
Mission mit einem größeren Aufgabenbereich zu überführen. Wir sollten uns dies noch einmal kurz vor Augen
führen; denn mit diesem Einsatz und mit der Beteiligung
an MINUSMA unterstützt die Bundesregierung die Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, zur Stabilität in Afrika, insbesondere in dieser Region Afrikas, beizutragen.
Die Mission, über die wir heute reden, wird nach der
im Kongo die zweitgrößte Mission sein. Das macht, wie
ich finde, sehr deutlich, dass die Vereinten Nationen die
Bedeutung Afrikas erkennen und sich für diesen Kontinent starkmachen. Deutschland beteiligt sich derzeit mit
180 Soldatinnen und Soldaten ebenfalls an der EUTMMission, mit der Europa zur Ausbildung der malischen
Armee beitragen will und die Armee in die Lage versetzt
wird, ihre Fähigkeiten zu festigen.
Die derzeit afrikanisch geführte Mission AFISMA
wird durch MINUSMA ersetzt und wird unter Führung
der Vereinten Nationen zum 1. Juli 2013 starten. Die bisherigen Kernaufgaben - der Minister hat darauf hingewiesen - bleiben erhalten. Zusätzlich kommen weitere
Hilfen, auch logistische Unterstützung, dazu. Führungsund Verbindungsaufgaben sowie Stabsfunktionen, die
bislang nicht vorgesehen waren, werden ebenfalls in
diese Mission einfließen. Insgesamt 11 200 Soldaten und
bis zu 1 440 Polizisten, die hauptsächlich aus den
ECOWAS-Staaten rekrutiert werden, soll die neue Mission umfassen. Dagegen erscheinen 150 Beteiligte eigentlich sehr wenig. Aber ich denke - auch das sollte
man an dieser Stelle anerkennen -, Deutschland leistet in
diesen Bereichen wesentlich mehr und hat nicht zuletzt
auch die Entwicklungszusammenarbeit wieder aufgenommen, um mit dazu beizutragen, dass es den Menschen insgesamt besser geht.
Es bleibt das Ziel, Mali zu stabilisieren, um mit der
Stabilisierung Malis die Region insgesamt stabil zu halten und einen wichtigen Beitrag in Afrika zu leisten. Ich
meine aber auch und unterstreiche das ausdrücklich - es
ist eben schon gesagt worden -: Es kann nicht darum gehen, ständige militärische Präsenz aufrechtzuerhalten,
sondern es muss darum gehen, dass die politischen Probleme in Mali, die in der Region entstanden sind, wie
das mögliche Auseinanderfallen im Norden, auch politisch gelöst werden. Das wird nicht allein militärisch gehen, sondern dies schafft nur die Voraussetzung dafür.
Die Regierung Malis hat dafür einen Fahrplan beschlossen, eine sogenannte Roadmap, die es zu unterstützen gilt. In erster Linie geht es darum - auch das ist
schon angesprochen worden -, die staatlichen Autoritäten durch Wahlen zu legitimieren. Dass es sehr ambitioniert ist, bereits im Juli Wahlen durchzuführen, sehe ich
ähnlich. Man darf auch nicht darauf hoffen, dass man sie
unendlich verschieben kann. Aber man muss zumindest
sicherstellen, dass bei den stattfindenden Wahlen alle
betroffenen Gruppen einbezogen sind, dass zum Beispiel
die Flüchtlinge, die aus dem Norden weggegangen sind,
eine entsprechende Möglichkeit bekommen oder auch
diejenigen, die bislang an der Vorbereitung des Wahlprozesses noch nicht beteiligt sind. Denn nur dann, wenn
die betroffenen Gruppen auch an der Wahl beteiligt sein
können, haben sie Einfluss auf die politische Entwicklung in Bamako und damit auch auf die staatliche Autorität. Nur so erreicht man Akzeptanz für die künftige
Entwicklung in Mali selbst.
Bislang haben sich nämlich der Ausnahmezustand im
Norden und der Ausnahmezustand in Bamako wechselseitig bedungen. Nur durch die gemeinsamen Wahlen
sehe ich zumindest die Chance, hier wieder eine gemeinsame Position zu beziehen. Erst ein befriedeter Norden
und die territoriale Integrität Malis schaffen die Räume,
in denen auch unsere Entwicklungszusammenarbeit die
Früchte trägt, die wir uns von ihr erhoffen. Die EU und
Deutschland haben dies immer wieder deutlich gemacht.
Es geht auch nicht nur darum, immer nur die politischmilitärische Stabilität im Blick zu haben, sondern auch
um die Lebensqualität und die Lebenswirklichkeit der
Menschen, die in diesen Ländern leben.
Von daher bauen wir darauf, dass es mit der Roadmap
der malischen Regierung und mit der Unterstützung der
Vereinten Nationen und insbesondere der in dieser Region bzw. in der Nachbarschaft befindlichen Staaten gelingen kann, wieder ein stabiles und sich selbst tragendes
Mali herzustellen. Denn das ist wichtig für die Stabilität
in dieser Region, und das haben, glaube ich, auch die
Anrainer erkannt, die dieses Mandat entsprechend mit
unterstützen.
Wir, unsere Fraktion, unterstützen dieses Mandat,
weil wir es für notwendig halten. Es dient dem Schutz
der Zivilbevölkerung, und es wird nötig sein, um Racheakte verschiedener militanter Gruppen und von Teilen
des Militärs im Norden zu verhindern. Es muss dem
Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Vereinten Nationen dienen, genauso wie der Unterstützung und
dem Schutz derjenigen, die im Bereich der humanitären
Hilfe dort tätig sind und die ebenfalls ein sicheres Umfeld brauchen.
Dieses Mandat muss dem Erhalt des Kulturguts, das
während der Auseinandersetzung bereits teilweise zerstört wurde, dienen. Es muss Aufbauarbeiten und den
Zugang dazu wieder ermöglichen. Nicht zuletzt brauchen wir dieses Mandat für den Aufbau und die Unterstützung einer funktionierenden Justiz und eines funktionierenden Sozialsystems. Für mich trägt der Anteil, den
Deutschland in diesem Mandat leistet, mit dazu bei, dass
der Schutz und die Förderung der Menschenrechte in
dieser Region nicht nur ein Wunsch bleiben, sondern
Wirklichkeit werden können. Dieses Mandat bedeutet
für mich auch, einen wichtigen Schritt zu tun, um eine
humanitäre Katastrophe, wie sie in anderen Teilen dieser
Region stattfand, zu verhindern. Von daher werden wir
in den Beratungen den Antrag der Bundesregierung unterstützen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit auch an
diesem späten Nachmittag.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung Thomas de Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie der Außenminister möchte ich mich im Namen der
Bundesregierung herzlich dafür bedanken, dass sich eine
breite Zustimmung zu diesem Mandat abzeichnet. Das
war auch schon beim Mandat für die durch die Europäische Union betriebene Ausbildung in Mali der Fall. Das
ist, glaube ich, gut.
Immerhin geht es hier um eine Resolution der Vereinten Nationen unter Berufung auf Kapitel VII der Charta
der Vereinten Nationen, also um ein robustes Mandat.
MINUSMA wird nicht nur die Verantwortung der bisherigen afrikanischen Mission AFISMA übernehmen; dieser Einsatz ist breiter: Er reicht von der Stabilisierung
wichtiger Bevölkerungszentren über die Unterstützung
bei der Wiederherstellung der staatlichen Autoritäten im
ganzen Land, über die Unterstützung bei der Umsetzung
des politischen Fahrplans für den Übergang einschließlich des politischen Dialoges und des Wahlprozesses,
über den Schutz von Zivilpersonen und des Personals
der Vereinten Nationen, über die Förderung und den
Schutz der Menschenrechte, über die Unterstützung für
humanitäre Hilfe bis hin zur - Sie haben es gesagt, Herr
Abgeordneter Meßmer - Unterstützung beim Erhalt von
Kulturgütern. All das ist in dem Mandat der Vereinten
Nationen erwähnt. Hinzu kommt schließlich die Unterstützung für die nationale und internationale Justiz. Es
ist also ein breiter und vernetzter Ansatz, wie wir ihn immer für richtig halten. Deswegen unterstützen wir ihn
gerne.
Wir machen das in der gleichen Größenordnung wie
für AFISMA. Wir stellen also bis zu 150 Soldatinnen
und Soldaten zur Verfügung. Das bezieht sich auf Lufttransport, logistische Unterstützung, Einzelpersonen für
Hauptquartiere und Stäbe der Vereinten Nationen,
Experten für Verbindungs- und Beratungsaufgaben,
technische Unterstützung für truppenstellende Nationen
und auch auf Luftbetankung - wir haben darüber, wie
Sie wissen, im Zusammenhang mit AFISMA diskutiert -;
sie kann nun weiterhin unter den Rahmenbedingungen
der MINUSMA-Resolution stattfinden. Mit dieser Unterstützung tragen wir dazu bei, dass das neue UN-Mandat von Beginn an auf ein solides Fundament gestellt
wird.
Ich habe davon gesprochen, dass dieses Mandat unter
Berufung auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen ausgeführt wird. Wenn wir um die Zustimmung
zu diesem Mandat bitten, dann heißt das eben auch, dass
das Gründe hat: Dieser Auftrag kann risikoreich sein.
Auch der Außenminister hat davon gesprochen.
Wie bei dem Mandat für EUTM Mali, also dem Mandat für die Ausbildungsmission der Europäischen Union,
will ich darauf aufmerksam machen: Dies ist kein Spaziergang. Wir können keine verlässliche Aussage über
die Dauer dieses Mandates machen. Es ist jetzt auf ein
Jahr befristet. So sehen es auch die Vereinten Nationen.
Wir haben gelernt: Wir brauchen Geduld in Afrika. Das
wird und kann schwierig werden. Deswegen sage ich bereits jetzt: Wir haben gelernt, dass der Beginn von Missionen nicht mit überschwänglichen Erwartungen begleitet werden sollte; vielmehr müssen wir nüchtern und
realistisch auch die Chancen und Risiken, die darin bestehen, betrachten.
Umso mehr bitten wir um eine verantwortungsvolle
Beratung und dann auch um eine Zustimmung in Kenntnis und Bewusstsein, dass hier keine leichte Aufgabe
nicht nur auf die deutschen Soldatinnen und Soldaten,
sondern auf alle, die im Auftrag der Vereinten Nationen
dort tätig sind, zukommt.
Ich möchte gerne die Gelegenheit nutzen, zu Herrn
Fritz ein Wort zu sagen. Uns beide verbindet nicht nur
politisch, sondern auch fußballerisch eine Leidenschaft.
Das will ich jetzt aber nicht vertiefen. Zu Herrn
Kossendey möchte ich nur sagen: Er hat zwar jetzt seine
letzte Rede gehalten, aber seine Amtszeit als Parlamentarischer Staatssekretär ist so schnell noch nicht vorbei.
Ihnen beiden alles Gute und Gottes Segen!
({0})
Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Was
heute in Mali passiert, ist eine neue Etappe einer Politik,
die die Erbeutung der Rohstoffe des Kontinents zum Ziel
hat.“
({0})
- So kommentiert die ehemalige malische Ministerin für
Kultur, Aminata Traoré, den derzeit laufenden internationalen Militäreinsatz in ihrem Land.
Die Bundeswehr unterstützt die Armee der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich bei der dauerhaften Besetzung des Landes. Traoré sowie andere Malierinnen
und Malier wehren sich dagegen.
({1})
Wie passt die Tatsache, dass die Regierung in Bamako
erneut den Ausnahmezustand bis in den Juli hinein verlängert hat, zur positiven Bilanz, die Sie seit Beginn des
Einsatzes ziehen? Neun oppositionellen Abgeordneten
- darunter sechs aus dem malischen Norden - soll auf
Betreiben des Premiers die Immunität entzogen werden.
Sieht so eine Politik der Versöhnung aus? Wie sollen in
der Situation Wahlen stattfinden?
Die Wahrheit ist: Der Einsatz der Bundeswehr hilft
nicht der Bevölkerung, er unterstützt vielmehr ein Klima
der Repression in Mali. Das hat auch einen Grund. Wie
so oft geht es nicht um die Stabilisierung der Demokratie. Ihnen geht es um die Stabilisierung eines Regimes,
das westlichen Firmen den Zugriff auf Malis Wirtschaft
und Bodenschätze erlaubt.
Fast ganz Mali ist in rechteckige Gebiete aufgeteilt,
für die Lizenzen zur Rohstoffgewinnung vergeben werden. Es geht auch darum: Die Bundeswehr soll einen
Fuß in der Tür haben, damit die deutschen Konzerne in
Zukunft nicht leer ausgehen, wenn in der Region neue
Rohstoffquellen erschlossen werden.
({2})
Es gibt einige davon. In Mali gibt es reiche Vorkommen
an Gold, Kupfer, Eisen, Diamanten, Granat, Erdgas,
Phosphat, Bauxit und Erdöl. Aus Niger - die Förderung
findet an der malischen Grenze statt - kommen 40 Prozent des Urans für die französischen Atomkraftwerke.
Auch im malischen Boden wird Uran vermutet. Was
heißt das konkret? Beispielsweise soll in der malischen
Gemeinde Falea eine Uranmine gebaut werden. Sie
droht Landwirtschaft, Umwelt und kulturelles Erbe zu
zerstören sowie das Grundwasser zu vergiften. Dagegen
wehren sich die Einwohner Faleas.
Meine Damen und Herren, ich unterstütze die internationale Kampagne zur Rettung Faleas gegen die Bergbaukonzerne. Sie unterstützen in der Sahelzone einen
Krieg zur Sicherung der französischen Atomwirtschaft
und von Bergbaukonzernen. Das ist der Unterschied
zwischen Ihrer und unserer Politik.
({3})
Der Bundestag möchte den seit Februar laufenden
Einsatz der Bundeswehr in Mali im Rahmen des Mandats AFISMA praktisch unverändert fortführen. Es
kommt lediglich ein neues Etikett darauf, das UNOEtikett. Man könnte doch meinen, dass an dieser Stelle
einmal Bilanz gezogen wird: Was haben denn die französischen Kampfflugzeuge gemacht, die von der Bundeswehr im Einsatz aufgetankt worden sind? Welche
Ziele haben sie bombardiert? Wie viele Tote hat es gegeben? Weder im Antrag noch im Ausschuss noch hier im
Plenarsaal gab es ein Wort dazu. Da drängt sich doch der
Eindruck auf, dass es Teil Ihrer Politik ist, die Opfer des
Einsatzes zu verschweigen. Dass sich SPD und Grüne
damit zufriedengeben, finde ich erbärmlich. Sie stellen
der Bundesregierung gewissermaßen einen Freibrief für
einen Einsatz aus, von dem keiner weiß, wer oder was
genau bombardiert wird.
Aminata Traroé sagt: „Mali wird gedemütigt. Wir
werden Zeuge der Militarisierung der Gesellschaft.“ 31776
Meine Damen und Herren, an dieser Demütigung beteiligt sich die Linke nicht.
({4})
Das Wort hat nun Katja Keul für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Mit dem
MINUSMA-Mandat wird es erstmals einen weiteren
UN-geführten Bundeswehreinsatz neben UNIFIL geben.
Wir Grünen haben immer - auch in personeller Hinsicht eine stärkere Unterstützung der UNO gefordert. Wir begrüßen daher die Überführung des im Februar beschlossenen Mandats zur Unterstützung der afrikanischen
AFISMA in eine UN-Friedensmission.
Die bereits mandatierte Beteiligung der Bundeswehr
bleibt mit bis zu 150 Soldaten für Lufttransport und
Luftbetankung unverändert. Sie unterstützen die etwa
10 000 Soldaten aus den Nachbarländern Malis. Diese
Truppen sind bereits seit April auch im Norden Malis
präsent und sollen gemeinsam mit der malischen Armee
die befreiten Städte sichern, damit die Flüchtlinge aus
dem Süden und den Nachbarstaaten in ihre Heimat zurückkehren können.
Viele trauen sich noch nicht zurück, weil sie erlebt haben, dass die staatlichen Sicherheitskräfte sie nicht
schützen konnten. Viele sind traumatisiert. Die gesamte
Infrastruktur im Norden ist zerstört. Die Rückkehrer finden keinen Wohnraum, keine Elektrizität, keine Schulen
und keine staatliche Verwaltung.
Es wird für Mali eine Riesenherausforderung, die geplanten Präsidentschaftswahlen am 28. Juli so zu organisieren, dass auch die Flüchtlinge aus dem Norden daran
teilnehmen können.
Verschärft wird diese Herausforderung durch die Situation in der Region Kidal, die nach wie vor nicht unter
der Kontrolle der malischen Sicherheitskräfte steht und
zunehmend für Spannungen zwischen den Maliern und
den Franzosen sorgt. Sosehr die Malier dankbar dafür
sind, dass französische Truppen den Terror beendet haben, so wichtig ist es ihnen aber auch, dass sie die Souveränität über ihr eigenes Staatsgebiet vollständig wiedererlangen. In Kidal herrscht derzeit die MNLA, die
Anfang letzten Jahres den unabhängigen Staat Azawad
ausgerufen hatte und damit den Islamisten entscheidend
in die Hände spielte.
Nachdem die Extremisten von al-Qaida, Ansar al-Din
und MUJAO die Oberhand gewannen und die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzten, verschwand die
MNLA in der Versenkung und wäre dort auch geblieben,
wenn sie nicht ihre historisch engen Verbindungen zu
Frankreich hätte nutzen können, um nach der Befreiung
in Kidal wieder die Macht zu übernehmen. Nun stellt
sich das Problem, dass die MNLA nicht bereit ist, die
Waffen niederzulegen und sich wieder in den malischen
Staat zu integrieren.
Angesichts dieser Lage wächst im restlichen Mali die
Wut. Aus Kidal gibt es Nachrichten, nach denen Teile
der schwarzafrikanischen Bevölkerung von den hellhäutigen Tuareg misshandelt und vertrieben werden, mit der
Begründung, sie seien Spione der malischen Armee.
Hier wird Hass gesät, wo Mali dringend Versöhnung
bräuchte.
({0})
Wir haben keine Angst vor Wahlen. Aber wir wählen
gemeinsam und überall. - Das war die eindrückliche
Botschaft einer Delegation malischer Abgeordneter in
der letzten Woche hier in Berlin. Solange die malische
Armee nicht nach Kidal dürfe, so lange könne es keine
Präsidentschaftswahlen geben, hieß es.
Die Sorgen der Franzosen, es könnte zu Racheakten
der malischen Armee an den Tuareg in Kidal kommen,
sind sicherlich nicht völlig unbegründet. Immerhin war
es ein Massaker an malischen Soldaten genau in dieser
Region, das Anfang 2012 einer der Auslöser des Putsches war. Unter Einbindung der internationalen Truppen und unter dem Dach der UNO sollte das Risiko aber
beherrschbar sein. Der jetzige Zustand in Kidal ist es in
dieser Form nicht mehr lange.
Ich rege dringend an, dass die Bundesregierung gegenüber unseren französischen Partnern Stellung bezieht
und sich für eine volle Wiederherstellung der malischen
Souveränität einsetzt.
({1})
Wie wichtig es ist, das staatliche Gewaltmonopol
wiederherzustellen, wenn Frieden gelingen soll, zeigt
das Beispiel des Nachbarlandes Libyen. Dort ist es seit
Ende des NATO-Einsatzes nicht gelungen, die Milizen
zu entwaffnen. Am Montag hörten wir erstmals wieder
von Kämpfen, bei denen 30 Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Ein stärkeres ziviles Engagement
wäre dort jetzt dringend nötig. Die internationale Gemeinschaft scheint immer nur dorthin zu schauen, wo
das Militär bereits im Einsatz ist, und wundert sich, warum sie mit ihren Friedensmaßnahmen immer zu spät
kommt.
Mali kann im Gegensatz zu Libyen auf 20 Jahre demokratischer Kultur zurückgreifen: arm, aber liberal und
religiös tolerant. Hoffen wir, dass den Maliern die Versöhnung gelingt und die Menschen den Terror des Jahres
2012 überwinden lernen! Mit dem vorliegenden Mandat
wollen wir sie dabei unterstützen.
({2})
Die Parlamentarier äußerten übrigens auf Nachfrage
noch den Wunsch, Deutschland möge helfen mit Prothesen „made in Germany“ für die Menschen, denen die Islamisten Gliedmaßen amputiert haben. Das wäre doch
eine hervorragende Fähigkeit, die Deutschland hier neben der militärischen Unterstützung zur Verfügung stellen könnte.
({3})
Machen Sie’s möglich!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner des heutigen Tages ist Kollege
Hartwig Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Keul, ich teile Ihre Einschätzung in Bezug auf
Kidal. Die Delegation war auf meine Einladung hier,
eine Woche lang. Ich hatte einige aus der Delegation bereits kennengelernt. Herr Minister, ich bin Ihnen sehr
dankbar, dass Sie mich da mitgenommen hatten. So haben wir dort Abgeordnete kennengelernt.
Wir haben versucht, die Probleme mit ihnen zu besprechen und auch weiterzugeben, was die Stadt Kidal
und die Region betrifft, weil auch ich der Auffassung
bin: Wenn es dort keine gemeinsame Lösung, sondern
eine Lösung nur durch die Franzosen gibt, wird es mit
den Wahlen in der gesamten Region außerordentlich
schwierig, und dann gibt es keine staatliche Autorität in
der Region. Deshalb hoffe ich, dass die politischen Bindungen innerhalb Europas zu einer Einigung führen, damit die Malier mit beteiligt werden; natürlich nur mit
den Franzosen, damit es zu keinen Massakern kommt.
Ich spreche den zweiten Punkt an. Ja, sie möchten
gerne eine Zusammenarbeit in Bezug auf die Prothesen.
Das war der Grund, warum ich sie zu der Firma
Ottobock gebracht habe; denn ich weiß, wie die Firma
Ottobock und auch ihre Stiftung in vielen Bereichen arbeiten und mithelfen, aufzubauen. Dies haben wir nach
dem Bürgerkrieg in Angola und nach den Unruhen in
Kenia gesehen.
Im Übrigen glaube ich, dass sie auch mit den Frauen
gesprochen haben. Aminata Traoré hat uns zu dem, was
Sie behaupten, kein einziges Wort gesagt. Das erschüttert
mich schon; denn wir hatten einen offenen Dialog. Ich
habe mit Aminata Traoré auch in Bamako besprochen.
Ich werde das, was Sie behauptet haben, genau recherchieren, weil sie darum gebeten hat, dass die Malier gemeinsam mit den Franzosen und mit einer internationalen
Gruppe, insbesondere mit Ländern der Afrikanischen
Union, den Friedensprozess stabilisieren. Wir werden Sie
daran festnageln, in welcher Art und Weise Sie diese Behauptungen in die Debatte einbringen.
({0})
Wir als Fraktion unterstützen die Resolution 2100
MINUSMA. Deshalb will ich dazu nicht mehr viel sagen.
Herr Verteidigungsminister, Sie haben von Gefahren
und realistischer Einschätzung gesprochen. Deshalb
möchte ich einen kleinen Rückblick wagen. Wir haben
MONUSCO im Kongo. Vor MONUSCO hatten wir Artemis, ein klarer Auftrag, in Ituri 2003 unter französischer Führung und mit deutscher Beteiligung Sicherheit
herzustellen. Es ist uns gelungen, Ituri weitestgehend zu
befrieden. MONUSCO hat die Mandatur übernommen.
Daran sind über 50 Nationen beteiligt, und es entstehen
Kosten von über 1 Milliarde Euro. Das hat drei bis vier
Jahre funktioniert. Aber wir stellen fest, dass diese
50 Nationen zusammengewürfelt eine Befriedung im
Kongo nicht erreichen können. 4 Millionen Tote - die
höchste Zahl nach dem Zweiten Weltkrieg - sprechen
eine deutliche Sprache. Das Mandat läuft noch.
Wir haben mit 46 Nationen UNAMID, UNMISS mit
58 Nationen und mit Kosten von 1,6 Milliarden Euro im
vergangenen Jahr für Südsudan und Darfur. In Darfur
geht das Sterben und Leiden weiter.
Jetzt blickt die Welt nach Syrien. Der Kongo ist ausgeblendet. Darfur ist ausgeblendet. Das Sterben und Leiden
in Darfur und im Ostkongo wird medial nicht mehr wahrgenommen. Wenn Sie einmal die sterbenden und toten
Kinder gesehen haben, wenn Sie mit vergewaltigten, körperlich geschändeten und seelisch zerstörten Frauen gesprochen haben, dann relativiert sich für Sie vieles bei uns
in der Bundesrepublik Deutschland, in diesem Wohlstandsstaat.
Herr Minister - ich sage das an alle drei; einer ist
nicht mehr im Saal -, ich bedanke mich für die tolle Zusammenarbeit und das immer offene Ohr, das Sie hatten.
Ich glaube, dass Deutschland und Europa in Zukunft viel
mehr für die Ausbildung, die Ertüchtigung und die Ausrüstung der Afrikaner geben muss. Das wird eine gemeinsame Aufgabe sein. Wir brauchen die Ertüchtigung,
weil die Afrikaner afrikanische Lösungen brauchen,
({1})
weil sie dann die Zukunft in Frieden und Sicherheit eigenverantwortlich und nachhaltig gestalten können. Wir
sind vielleicht nur über ein oder zwei Jahrzehnte an der
Gestaltung beteiligt gewesen, die Zukunft werden sie
aber nur, von uns entsprechend ausgebildet, alleine gestalten können.
Lassen Sie mich in meiner letzten Rede noch einmal
darauf hinweisen: Ich weiß, liebe Freunde, auch bei uns
gibt es Armut. Aber die Armut, von der ich rede, ist der
Kampf um das Überleben. Schlechte Nahrung, fehlendes Wasser, vermeidbare Krankheiten und Bürgerkriege! Ich bitte Sie einfach, meine Homepage anzuklicken: www.30000-kinder-sterben-taeglich.de. Ich danke
meinen Mitarbeitern und meiner Fraktion, dass sie mich
getragen und ertragen haben. Ich gehe von Bord und mache ehrenamtlich weiter.
Vielen Dank.
({2})
Auch Ihnen, Herr Fischer, sage ich herzlichen Dank
für Ihre politische Arbeit. Alles Gute für Ihr weiteres Leben!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13754 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 26. Juni 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen ein
freundliches Wochenende.