Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.
({0})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
möchte ich dem Kollegen Christian Ströbele in absentia nachträglich zu seinem 74. Geburtstag und der Kollegin Helga Daub zu ihrem gestrigen 71. Geburtstag gratulieren. Alle guten Wünsche im Namen des ganzen
Hauses!
({1})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
CDU/CSU und FDP:
Aktuelle Situation in der Türkei({2})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Grünlanderhalt ist Klimaschutz
- Drucksachen 17/11028, 17/13148 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Johannes Röring-
Dr. Wilhelm Priesmeier-
Dr. Christel Happach-Kasan-
Alexander Süßmair-
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren-
Ergänzung zu TOP 69
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung von Steuerstraftaten
- Drucksache 17/13664 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({4})-
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Stefanie Vogelsang, Michael GrosseBrömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Dr. FrankWalter Steinmeier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Gabriele Molitor, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Dr. Martina Bunge,
Kathrin Vogler, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie
der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
System der Organtransplantation in Deutschland nachhaltig stärken: Konsequenzen aus
den Manipulationen an Patientendaten in
deutschen Transplantationskliniken
- Drucksache 17/13897 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({5})Rechtsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratung ohne AusspracheErgänzung zu TOP 70
Präsident Dr. Norbert Lammert
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Konversion gestalten - Kommunen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konversion - Zwischen Verwertungsdruck
und nachhaltigen Konzepten
- Drucksachen 17/9060, 17/9405, 17/10001 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BrackmannJohannes KahrsOtto FrickeRoland ClausDr. Tobias Lindner
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:
Haltung der Bundesregierung zu Plänen des
CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer zur Einführung einer Pkw-Maut nur für Ausländer
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Missbilligung der Amtsführung von Bundesminister de Maizière
- Drucksache 17/13899 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({7}),
Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den angekündigten Vorschlägen der EUKommission zur Bankenrestrukturierung und
-abwicklung
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Bankenunion beschleunigen statt bremsen Über eine Abwicklungskompetenz der Europäischen Kommission die Haftung der Steuerzahler beenden
- Drucksache 17/13908 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute
auf die Europäische Zentralbank ({9}) in der Fassung vom 16. April 2013Ratsdok. 7776/1/13 REV 1
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kontrollrechte des Europäischen Parlaments
bei EZB-Bankenaufsicht stärken
- Drucksache 17/13909 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute
auf die Europäische Zentralbank ({11}) in der Fassung vom 16. April 2013Ratsdok. 7776/1/13 REV 1
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
SSM-Verordnung zustimmen, keine innerstaatliche Präjudizwirkung schaffen
- Drucksache 17/13910 ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({13}), Siegmund Ehrmann,
Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Für die tatsächliche Gleichstellung von Frauen
und Männern auch im Kunst-, Kultur- und
Medienbereich
- Drucksachen 17/13478, 17/13954 Berichterstattung:Abgeordnete Monika GrüttersUlla Schmidt ({14})Reiner DeutschmannDr. Lukrezia JochimsenAgnes Krumwiede
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Krista
Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen
- Drucksachen 17/6130, 17/10880
Abgeordnete Dorothee BärUlla Schmidt ({0})Reiner DeutschmannDr. Rosemarie HeinAgnes Krumwiede
ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Antrag der Republik
Lettland, der dritten Stufe der Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion beizutreten
und den Euro als Umlaufwährung einzuführen
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. mit § 9
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/13887 ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern - Lebenslagen umfassend abbilden
- Drucksache 17/13911 ZP 14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu der
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2009 und 2010 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit- 23. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 17/5200, 17/13936 Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer ({2})-
Gerold Reichenbach-
Gisela Piltz-
Jan Korte-
ZP 15a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden
in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13079 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung
- Drucksache 17/13402 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 17/13947 Berichterstattung:Abgeordneter Heinz Lanfermann
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13959 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Alois Karl-
Ewald Schurer-
Otto Fricke-
Michael Leutert-
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, Bärbel Bas, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Keine überhöhten Säumniszuschläge bei
Beitragsschulden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Harald Weinberg, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Privat Versicherte solidarisch versichern Private Krankenversicherung als Vollversicherung abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Martina
Bunge, Dr. Ilja Seifert, Kathrin SengerSchäfer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Versorgung der privat Versicherten im Basistarif sicherstellen
- Drucksachen 17/12069, 17/10119, 17/5524,
17/13947 Berichterstattung:Abgeordneter Heinz Lanfermann
ZP 16 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes in Umsetzung der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes vom 7. Mai 2013
- Drucksache 17/13870 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({6})Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 17 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der Ehe
im Einkommensteuerrecht
- Drucksache 17/13871 31262
Finanzausschuss ({0})Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 18 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Lisa Paus, Kai Gehring, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 7. Mai 2013
zur Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Einkommensteuerrecht
- Drucksache 17/13872 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({2})Rechtsausschuss ({3})Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOFederführung strittig
ZP 19 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({4}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Recht auf Eheschließung für Personen
gleichen Geschlechts einführen
- Drucksache 17/13912 ZP 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({5}), Lisa Paus, Kai Gehring, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 und vom 7. Mai
2013 zur Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Adoptionsund Einkommensteuerrecht umsetzen
- Drucksache 17/13913 ZP 21 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zu der Empfehlung für einen Beschluss des
Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme
von Verhandlungen über ein umfassendes
Handels- und Investitionsabkommen, transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen
Union und den Vereinigten Staaten von Amerika
KOM({6}) 136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten
der Europäischen Union
Die Verhandlungen mit den USA zu einem
transatlantischen Handels- und Investitions-
abkommen konsequent an europäischen Stan-
dards ausrichten
- Drucksache 17/13904 -
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 18 d, 23, 25, 52 und 62
werden abgesetzt. Darüber hinaus kommt es zu den in
der Zusatzpunkteliste dargestellten weiteren Änderun-
gen des Ablaufs.
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? -
Das sieht so aus. Dann haben wir das hiermit so be-
schlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d auf:
a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister des Innern
Gelebte nationale Solidarität - 60 Jahre Bun-
desvertriebenengesetz
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
60 Jahre Bundesvertriebenengesetz - Erin-
nern an die Opfer von Vertreibung
- Drucksache 17/13883 -
c) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 17/10511 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7})
- Drucksache 17/13937 Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer ({8})-
Rüdiger Veit-
Serkan Tören-
Ulla Jelpke-
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Maßnahmen zur Förderung der Kulturarbeit gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes in
den Jahren 2011 und 2012
- Drucksache 17/13777 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien ({9})Auswärtiger Ausschuss InnenausschussAusschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. Ich habe den Eindruck,
dass Sie auch damit einverstanden sind. - Das ist der
Fall. Dann können wir so verfahren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Hans-Peter
Friedrich.
({10})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor 60 Jahren, im Juni 1953, trat das Gesetz
über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge in Kraft. Dieses sogenannte Bundesvertriebenengesetz kam nach langen und intensiven Beratungen zustande; denn es griff in viele Lebensbereiche und in viele
politische Zuständigkeiten - Wirtschaft, Landwirtschaft,
Wohnungsbau, um nur einige zu nennen - ein. Das Gesetz baute auf den Erfahrungen der unmittelbaren Nachkriegsjahre auf und sollte die Grundlage der Integration
von Millionen von Menschen werden. Es ist bis heute
ein Dokument für gelebte nationale Solidarität in
Deutschland.
Von den 16 Millionen Deutschen, die bei Kriegsende
in den deutschen Ostgebieten und in den ost- und südosteuropäischen Staaten lebten, wurden fast 12 Millionen
aus ihrer Heimat vertrieben. 2 Millionen fanden auf der
Flucht, bei Vertreibung oder Deportation den Tod. Die
traumatischen Erlebnisse der Vertreibung waren damals
allgegenwärtig - umso mehr, als sich das Leid auch danach fortsetzte. Denn der Zufluchtsort, die neu gegründete Bundesrepublik, war ebenfalls von Elend, Hunger
und Zerstörung gezeichnet. Jeder hatte mit sich selbst zu
tun, und nur wenige hatten freie Kapazitäten, sich um die
Flüchtlinge zu kümmern. Am Ende aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, setzte sich die mitmenschliche Solidarität, die christliche Nächstenliebe und der gemeinsame Wille, Zukunft zu gestalten, durch. Dem
nationalen Zusammenhalt in dieser schweren Zeit gilt
unser Respekt.
({0})
Der Anteil aller Flüchtlinge an der Einwohnerzahl des
Bundesgebietes betrug damals 20 Prozent. Das heißt, jeder Fünfte war ein Vertriebener. Es galt, mehrere Millionen Menschen sozial und wirtschaftlich einzugliedern.
Sie brauchten schnelle Hilfe, Kleidung und natürlich
Essen. Sie brauchten Wohnungen, Arbeit und die Möglichkeit, sich eine Existenz zu gründen. Deutschland war
damals auf sich allein gestellt; denn die Hilfe aus dem
Ausland ließ lange auf sich warten.
Vor Ort - in den Dörfern, Städten und Gemeinden wurden die Herausforderungen angenommen und bewältigt. Die Regierungen der Bundesländer hatten die große
nationale Aufgabe begriffen. So hat etwa der Freistaat
Bayern die Sudetendeutschen als seinen vierten Stamm
aufgenommen, und bis heute ist dort an vielen Stellen
und Orten die Handschrift der Sudetendeutschen erkennbar.
({1})
Meine Damen und Herren, mit anderen zu teilen, die
in Not sind, baut auf einem geistigen Fundament und einem Menschenbild auf, das Bundeskanzler Konrad
Adenauer zum Ausdruck brachte, indem er sagte: Im
Mittelpunkt allen Strebens und Handelns bleibt der
Mensch und seine Freiheit. - Die zweite Erkenntnis:
Eine Nation ist eine Solidargemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft, eine Familie - in guten wie in schlechten Zeiten. Im Bundesvertriebenengesetz wurden deshalb auch zwei Grundsätze formuliert, nämlich erstens:
Vertriebene sind voll gleichberechtigte Staatsbürger der
Bundesrepublik Deutschland. Zweitens: Notwendige
Hilfe gibt es so lange, bis die Eingliederung in das wirtschaftliche und soziale Leben erfolgt ist. Das heißt, niemand sollte bevorzugt werden; aber es sollte sichergestellt werden, dass alle die gleichen Möglichkeiten und
die gleichen Bedingungen für einen Neuanfang haben.
Nicht die Umverteilung war das Ziel, sondern Ziel war
es, jedem Menschen die Chance zu geben, sich selbst zu
entwickeln, sich einzubringen und teilzuhaben.
Das Bundesvertriebenengesetz gab Antwort auf die
drängenden Fragen. Es half dabei, die faire Verteilung
der Vertriebenen auf alle Bundesländer zu vollenden, es
linderte die Wohnungsnot. Mit besonderen Wohnungsbauprogrammen wurden 264 000 Wohnungen für umgesiedelte Vertriebene geschaffen. Für die Aussiedler
wurden in den Folgejahren über 20 Sonderwohnbauprogramme in Milliardenhöhe aufgelegt. Bis 1968 wurden
knapp 2 Millionen Menschen mit Wohnraum versorgt.
Ein weiteres drängendes Problem war die Landwirtschaft. Die Bauern hatten in besonderer Weise unter ihrer sozialen Deklassierung zu leiden. Früher selbstständige Bauern, die von Haus und Hof vertrieben worden
waren, waren nun gezwungen, sich als Landarbeiter zu
verdingen. Mit der Eingliederung der vertriebenen Landwirte galt es, für diese Menschen einen tiefen Einschnitt
in ihrem Leben, ihrem Selbstverständnis und auch ihrem
Selbstbewusstsein zu bewältigen. Gleichzeitig musste
die Ernährung der Bevölkerung sichergestellt werden.
Mit dem Bundesvertriebenengesetz schuf die Bundesregierung die Voraussetzung, dass viele vertriebene Bauern auch in ihrer neuen Heimat ihrem Beruf nachgehen
konnten. Mehrere Milliarden D-Mark hat die Bundesrepublik in den Jahren 1949 bis 1959 dafür ausgegeben.
Es wurde 100 000 Bauernfamilien geholfen. Dahinter
stand auch die Erkenntnis, dass ein Land nicht allein auf
seine Industrieproduktion setzen kann, sondern dass die
Ernährung der eigenen Bevölkerung durch landwirtschaftliche Urproduktion sichergestellt werden muss ein Grundsatz, meine Damen und Herren, der auch heute
noch gilt und den man ab und zu in Erinnerung rufen
muss.
({2})
Eine weitere wichtige Erkenntnis lag dem Bundesvertriebenengesetz zugrunde: Freiheit des Einzelnen setzt
voraus, dass er sich eine materielle Grundlage schaffen
kann, die ihm im Leben Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsfreiheit gibt. Das Bekenntnis zum Eigentum,
zur Förderung der Eigentumsbildung war ein wichtiges
Signal. Die Regelung, dass Vertriebene wegen früherer
Schulden nicht mehr in Anspruch genommen werden
durften, war wichtig; denn damit wurden sie in die Lage
versetzt, wieder Eigentum zu erwerben und damit unabhängig und frei ihr Leben zu gestalten.
Ebenso freiheitsfördernd wirkten die Hilfen bei der
wirtschaftlichen Eingliederung. Die Arbeitslosigkeit war
im Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung wesent31264
lich höher. Das Gesetz sah deswegen die Förderung von
Existenzgründungen vor. Damit wurden Anreize für
Kreativität und Innovation gesetzt, eine entscheidende
Weichenstellung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung, die Deutschland in der Folge so erfolgreich machen sollte.
Die Idee der Freiheit ist die Grundlage für Hilfe zur
Selbsthilfe und war eine Triebfeder für das deutsche
Wirtschaftswunder. Die Vertriebenen brachten gute
handwerkliche Fähigkeiten und industrielles Know-how
mit. Von der Glaskunst über die Textilherstellung bis hin
zum Instrumentenbau reichte die Vielfalt erfolgreichen
unternehmerischen Wirkens der Vertriebenen in der
neuen Heimat.
All diese Vergünstigungen und Hilfen nach dem Bundesvertriebenengesetz galten auch für den zunehmenden
Strom von Flüchtlingen aus der sowjetischen Besatzungszone. Die Regierung Adenauer hat damit auf die
aktuelle Entwicklung im Osten Deutschlands reagiert.
Übrigens, das Thema Vertreibung wurde in der DDR
schlichtweg totgeschwiegen.
({3})
Nachdem die Vertriebenen dort angekommen waren und
alles verloren hatten, wurde ihnen durch die Zuordnung
der Begriffe „Umsiedler“ und „Neubürger“ klargemacht,
dass ihre Sicht der Dinge nicht gefragt war. Die Begriffe
„Flüchtlinge“, „Vertriebene“, „Heimatlose“ waren verboten. Durch staatliche Anordnung gab es sie nicht. Die
Heimatvertriebenen hatten im politischen Geschehen
keine Stimme, kein Gesicht und in der DDR keinen Platz
zur Erinnerung und zur Aufarbeitung ihres Schicksals.
Was politisch nicht gewollt war, sollte auch nicht stattfinden, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Menschen.
Auf die kam es nicht an in der DDR. Dort stand nicht der
Mensch im Mittelpunkt, sondern die Ideologie.
({4})
In der Bundesrepublik wurden die Vertriebenenorganisationen von Anfang an politisch eingebunden. Es war
erklärtes Ziel der Regierung Adenauer, den Organisationen eine Stimme zu geben und ihnen die Mitgestaltung
zu ermöglichen. Die Rolle der Landsmannschaften und
ihrer Dachorganisation, des Bundes der Vertriebenen,
während der Aufbaujahre und des Kalten Krieges können wir nicht hoch genug einschätzen.
Die Vertriebenen haben Deutschland nicht nur materiell wieder aufgebaut, sondern sie haben auch an der
geistig-moralischen Grundlage unserer Freiheitsordnung
mitgewirkt. Für sie bedeutete Integration nicht, Ansprüche zu stellen, sondern anzupacken, mitzuhelfen, dass
die neue Heimat Bundesrepublik Deutschland eine gute
Zukunft hat.
Trotz des erlittenen Unrechts und der Trauer um die
verlorene Heimat sind sie nicht bitter und unversöhnlich
geworden, sondern haben eine große Geste des Friedens
ausgesandt. In der Charta der Heimatvertriebenen von
1950 heißt es:
Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und
Zwang leben können.
Diese Haltung verdient größten Respekt: kein Rachegedanke, sondern Versöhnungsbereitschaft. Welch eine unglaubliche menschliche Leistung!
({5})
Auf dieser Grundlage haben sich die Vertriebenen der
Aussöhnung und der Verständigung verpflichtet. Sie haben diese Verpflichtung ernst genommen und Brücken
gebaut, nach Osten, in die alte Heimat, und das lange
bevor staatliche Politik diesen Weg gehen konnte. In
schwierigen Zeiten haben sie den Weg für Verständigung
und Versöhnung offengehalten und waren dadurch Vorreiter auch der europäischen Einigung. Denn sie haben
früher als andere begriffen, dass es eine gute Zukunft aller Mitgliedstaaten und Bürger Europas nur auf der Basis
des Bekenntnisses zu gemeinsamen Werten geben kann.
Das Bundesvertriebenengesetz wurde immer wieder
an die aktuellen Entwicklungen angepasst, stets getragen
von dem Gedanken der Solidarität mit unseren Landsleuten. Ging es zunächst um eine rasche Eingliederung
der Vertriebenen und Flüchtlinge, trat später mehr und
mehr die Aufnahme von deutschstämmigen Aussiedlern
und ihren Angehörigen im damaligen Ostblock in den
Vordergrund. Sie kamen nach Deutschland, weil sie wegen ihres Deutschseins diskriminiert wurden. Die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion waren jahrzehntelang kollektiven Strafmaßnahmen ausgesetzt und
systematisch entwurzelt worden.
Im Zeitraum 1950 bis 1988 kamen insgesamt über
1,6 Millionen Aussiedler einschließlich ihrer Angehörigen zu uns. Die starke Zunahme der Zahl der Aussiedler
Ende der 80er-Jahre war Zeichen des grundlegenden
politischen Wandels in den Staaten des Warschauer
Pakts.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat als
Folge des starken Zustroms der Aussiedler das Amt des
Aussiedlerbeauftragten beim Bundesminister des Innern
geschaffen. In der Folgezeit kümmerte sich der damalige
Aussiedlerbeauftragte Horst Waffenschmidt um die Koordinierung der Aussiedlerpolitik der Bundesregierung
und übernahm den Vorsitz im Vertriebenenrat. Er wurde
zu einem wichtigen und engen Ansprechpartner der Aussiedlerorganisationen und gab wichtige politische Impulse für die Vertriebenengesetzgebung.
Heute, meine sehr verehrten Damen und Herren, haben wir im Bundesministerium des Innern mit Christoph
Bergner einen Mann,
({6})
der sich in besonderer Weise kompetent und mit Herz
der Sache der Vertriebenen und der Aussiedler, aber
auch der deutschen Minderheiten im Ausland verpflichtet weiß.
({7})
Die Schaffung des Amts des Aussiedlerbeauftragten
war außerordentlich weitsichtig. Das zeigte sich 1990,
als 400 000 Aussiedler einschließlich ihrer Angehörigen
nach Deutschland kamen. Bis zum Ende des Jahrzehnts
waren es dann jährlich durchschnittlich weitere
180 000 Aussiedler.
Dieser Ansturm brachte große organisatorische und
finanzielle Herausforderungen für Bund, Länder und
Kommunen mit sich. Wie in den Nachkriegsjahren
stellte sich zunächst die Frage, wie die Aussiedler im
Bundesgebiet verteilt werden sollten und wie sie vor Ort
untergebracht werden könnten. Aufnahmelager wurden
eingerichtet. Im Zentrum stand wieder - einmal mehr das Grenzdurchgangslager Friedland. Wieder wurde die
Glocke von Friedland zum Symbol der Freiheit, und sie
ist es geblieben bis zum heutigen Tag. Und wieder war
der Bundesgesetzgeber gefragt, Regelungen zu finden,
die den Aufnahmekapazitäten gerecht wurden. Dies gelang der Regierung Kohl 1990 mit dem Aussiedleraufnahmegesetz, mit dem erstmals ein öffentliches Aufnahmeverfahren eingeführt wurde.
Das Festhalten am Solidaritätsgedanken war allerdings nicht immer unumstritten. Eine besondere Zuspitzung der Diskussion erfolgte mit dem Spätaussiedlerstatusgesetz von 2001. Danach wurden die Spätaussiedler
zum Nachweis gezwungen, dass ihre Deutschkenntnisse
auf familiärer Vermittlung beruhen. Dies führte natürlich
in der Praxis zu großen Schwierigkeiten und hatte auch
Auswirkungen auf die Familien. Viele wurden getrennt.
Dramatische Auswirkungen hatte das 2005 verabschiedete Zuwanderungsgesetz. Es erschwerte die Mitaussiedlung von Ehegatten und Abkömmlingen der
Spätaussiedler beträchtlich.
In den letzten Jahren konnte jedoch wieder an die
Politik der nationalen Solidarität angeknüpft werden.
({8})
Es wurden viele Maßnahmen verabschiedet, die die Integration von Spätaussiedlern und ihren Angehörigen unterstützten. Das betrifft die Anerkennung von Prüfungen
und erworbenen Befähigungsnachweisen. Das betrifft
spezielle Fördermaßnahmen, die die Deutschkenntnisse
der Spätaussiedler und das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt haben.
60 Jahre nach Inkrafttreten des Bundesvertriebenengesetzes kann man hinsichtlich der Integration unserer
deutschen Landsleute von einer Erfolgsgeschichte sprechen. Die Weichenstellung der Adenauer-Regierung war
richtig. Man hat den Vertriebenen eine neue Heimat gegeben und anerkannt, dass ihre alte Heimat ein untrennbarer Teil deutscher Geschichte und Kultur bleibt.
({9})
Die Kultur und die Traditionen der deutschen Ostgebiete
sind Teil unseres deutschen Selbstverständnisses, und
auch daran mahnt und erinnert uns das Bundesvertriebenengesetz. Bund und Länder haben sich damals mit großer Überzeugung dazu verpflichtet, Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa wachzuhalten im Bewusstsein unserer Nation. Das reiche kulturelle Erbe, das die Deutschen aus ihrer jahrhundertealten Geschichte im östlichen Europa mitbrachten, ist für
unsere Nation von herausragender Bedeutung. Ob Musik, ob Malerei, ob Architektur, Philosophie oder Wissenschaft und Forschung, der Beitrag des schöpferischen
Geistes der Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten
hat unsere Nation und ihre Entwicklung mitgeprägt.
({10})
Die Bundesregierung fördert heute über den Beauftragten für Kultur und Medien Museen, Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, die sich dem deutschen Kulturerbe im östlichen Europa widmen. Ziel ist es, den
Zugang zum kulturellen Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu erhalten und seine zukunftsweisende Bedeutung sichtbar zu machen.
Breiten Raum nimmt aber auch die Zusammenarbeit
mit Gruppen der Vertriebenen und Aussiedler ein, die
sich für den Erhalt des Kulturerbes einsetzen und sich
gemeinsam mit ausländischen Partnern engagieren. Alle
Aktivitäten stehen im Zeichen der Kooperation mit den
Partnerorganisationen in den Regionen und wenden sich
verstärkt auch an die junge Generation.
Das Bundesvertriebenengesetz hat in den letzten
sechs Jahrzehnten Geschichte geschrieben, auf die es
aufzubauen gilt. Wichtig ist, die Erinnerung wachzuhalten. Mit der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
hat die Erinnerung an das Schicksal der Millionen Vertriebenen eine zusätzliche Kraft bekommen. Es geht um
unser gemeinsames Erbe. Dieses Erbe müssen wir unseren Nachfolgegenerationen vermitteln; denn Kultur und
Geschichte der Vertriebenen gehören zu unserer Identität.
Dass wir das sagen können, verdanken wir auch der
Leidenschaft und der Hartnäckigkeit der Vertriebenen,
die immer darauf gedrängt haben, dass ihre Herkunft,
ihre Tradition, ihre Bindung auch heute noch in unserem
Land lebendig sind. Die Vertriebenen, denen unermessliches Leid widerfahren ist, dürfen sich unserer Solidarität, unserer Anerkennung und des nationalen Gedenkens
sicher sein.
Vielen Dank.
({11})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ja, Herr Bundesinnenminister, in dem
Punkt stimme ich Ihnen unumwunden zu - alle Sozialdemokraten tun dies -: Die Integration der Vertriebenen
und Spätaussiedler ist eine großartige Erfolgsgeschichte
der vergangenen Jahrzehnte, an der ganz viele der Zugewanderten genauso wie der Stammbevölkerung hier in
Deutschland beteiligt waren. Anders, als Sie den Eindruck erweckt haben, wenn ich das der Vollständigkeit
halber sagen darf, war das eben auch nicht nur eine Geschichte, an der Christdemokraten beteiligt waren - Sie
haben nämlich nur die Namen von Christdemokraten genannt -, sondern auch Sozialdemokraten.
({0})
Ich nenne nur Wenzel Jaksch, der in Hessen die Aufgabe hatte, sich der Belange der Vertriebenen anzunehmen und hervorragende Leistungen erbracht hat, später
dann auch Präsident des Bundes der Vertriebenen wurde.
Ich nenne aber auch Heinrich Albertz, der im Jahre 1948
in Niedersachsen das Amt des zuständigen Ministers innehatte. Ich darf auch an unsere Kollegen Hans-Peter
Kemper und Jochen Welt erinnern, die in früheren Zeiten
das Amt des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung innehatten.
({1})
Zu den kulturpolitischen Gegebenheiten und zu Ihrer
Regierungserklärung wird nachher der Kollege Ernst
Dieter Rossmann reden. Ich will mich mit den anderen
Vorlagen befassen, die heute hier zur Debatte stehen.
Das Bundesvertriebenenrecht verlangt für die Aufnahme von Ehegatten von Spätaussiedlern oder von ihren Abkömmlingen Grundkenntnisse der deutschen
Sprache vor der Ausreise aus dem Aussiedlungsgebiet.
Dies hat in der Verwaltungspraxis der vergangenen Jahre
zu einer ganzen Reihe von - jedenfalls in dieser Form sicher nicht beabsichtigten Härten geführt. Konsequenterweise hatte daher der Bundesrat vorgeschlagen, von
diesem Erfordernis der Sprachkompetenz jedenfalls
dann abzusehen, wenn der Ehegatte oder Abkömmlinge
aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen
Krankheit oder in einem vergleichbaren Fall nicht in der
Lage sind, Grundkenntnisse der deutschen Sprache zu
erwerben. Die Bundesregierung hatte die Formulierung
„oder in einem vergleichbaren Fall“ für zu unbestimmt
und zu vage gehalten. Daher haben die Koalitionsfraktionen in ihrem Änderungsantrag diese fünf Wörter nicht
übernommen. Das ist unseres Erachtens falsch, weil man
nicht sämtliche denkbaren Fallkonstellationen vorhersehen kann, die aus nachvollziehbaren humanitären Gründen eigentlich verlangen, dass eine Familie eben nicht
auseinandergerissen wird.
Die Einfügung dieser fünf Wörter mit Bezug auf Ehegatten von Ausländern in das Aufenthaltsgesetz, wie sie
auch in dem im Ausschuss behandelten Änderungsantrag der Linken vorgeschlagen wird, wäre ebenso konsequent und geboten gewesen. Wir werden trotzdem dem
Antrag der Koalitionsfraktionen zustimmen; dem Änderungsantrag der Linken hatten wir zugestimmt.
Ich setze im Übrigen als bekannt voraus, dass unsere
grundsätzliche Kritik am Erfordernis des vorherigen
Spracherwerbs von nachzugswilligen Ehegatten, also
schon im Herkunftsland, unverändert fortbesteht. Aber
kleine Verbesserungen im Sinne einer Härtefallregelung
sind bzw. wären natürlich besser als nichts.
({2})
Der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass die Koalitionsfraktionen durch die nunmehr vorgeschlagene
Neuregelung offenbar wiederum eine Ungleichbehandlung von minderjährigen Kindern produzieren; denn die
minderjährigen Kinder der Spätaussiedler werden vom
Erfordernis der Sprachkompetenz generell befreit, während es bei den minderjährigen Kindern von Ausländern,
bei den 16- und 17-jährigen Kindern, gemäß § 32 Abs. 2
des Aufenthaltsgesetzes nach wie vor einer positiven Integrationsprognose bzw. des Vorhandenseins eines gültigen Aufenthaltstitels beider Eltern bzw. des allein personensorgeberechtigten Elternteils bedarf.
Insgesamt aber - das ist das für uns politisch Entscheidende - bejahen natürlich gerade wir Sozialdemokraten alle Regelungen, die humanitäre Härten beseitigen und das Zusammenbleiben der Familien fördern.
Dies gilt für Spätaussiedler genauso wie für Ausländer.
({3})
Nicht zustimmen können wir allerdings dem Antrag
der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „60 Jahre Bundesvertriebenengesetz - Erinnern an die Opfer von Vertreibung“. Abgesehen davon, dass dieser Antrag erst von
Dienstagabend stammt und der Titel dreimal geändert
worden ist - aber das ist Ihre Verantwortung -, bleibt er
weit hinter dem zurück, was heute geboten wäre.
Er bezieht sich im Übrigen ausdrücklich auf einen
Antrag von Ihnen zum 60. Jahrestag der Charta der deutschen Heimatvertriebenen auf der Bundestagsdrucksache 17/4193 vom 15. Dezember 2010, über den am
10. Februar 2011 hier im Bundestag debattiert wurde.
Dazu hat Wolfgang Thierse, wie ich finde, richtigerweise abschließend gesagt - ich zitiere aus dem Protokoll -:
Unsere, der Deutschen Sensibilität für die Leiden
und Opfer von Vertreibung und Flucht resultiert
nicht nur und nicht zuerst daraus, dass Deutsche
selbst Opfer gewesen sind, sondern daraus, dass
Deutsche andere zu Opfern gemacht haben. Daraus,
aus dieser doppelten bitteren Erfahrung, resultiert
unsere dauerhafte moralische Verpflichtung.
Genau diesen entscheidenden Punkt verfehlte schon
Ihr Antrag von damals. Der heute vorliegende Antrag ist
ein bisschen besser; das will ich gern einräumen.
({4})
Ich möchte Wolfgang Thierse ergänzen durch ein Zitat aus einer Rede unseres ehemaligen BundespräsidenRüdiger Veit
ten Johannes Rau, die er beim Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen im Jahr 2003, also vor nunmehr
zehn Jahren, gehalten hat:
Überall im deutschen Machtbereich sind ethnische
Minderheiten und ganze Völker verfolgt, versklavt
und vertrieben worden, sobald man sie in die Gewalt bekam: So wurden aus dem westlichen Polen
gleich nach der Besetzung binnen Monaten weit
mehr als eine Million polnische Bürger deportiert,
um Platz für Deutsche zu schaffen. Und das sollte ja
nur der Anfang sein: Die Pläne für die Vertreibung
von Millionen Polen und Russen lagen bereit. Im
„Generalplan Ost“ und im „Generalsiedlungsplan
Ost“ kalkulierte die SS allein mit mehr als dreißig
Millionen russischen Opfern dieser Landnahme. In
der Vernichtung der europäischen Juden erreichte
diese rassistische und ethnokratische Politik ihre
schrecklichste Form. Götz Aly hat Recht: Der Holocaust gehört „mitten hinein“ in die historische
Konstellation, der am Ende auch die deutschen Vertriebenen zum Opfer fielen.
({5})
Zu Ihrem Antrag von vorgestern, wie erwähnt, muss
ich sagen: Er enthält genau wie der frühere Antrag eine
Reihe von Formulierungen in einer, wie ich meine, vielleicht doch zu volkstümelnden und rückwärtsgewandten
Schattierung. Er enthält im Übrigen aber auch Forderungen, die vielleicht noch in das Entstehungsjahr des Bundesvertriebenengesetzes gepasst hätten, keinesfalls aber
in einen Antrag des Jahres 2013. Allen Ernstes sollen
wir uns, so Ihr Antrag, neben der rechtlichen auch für
eine gesellschaftliche Anerkennung des Schicksals der
deutschen Heimatvertriebenen aussprechen.
Angesichts der von uns allen - auch ich habe das getan - beschriebenen erfolgreichen Integration von mehr
als 12 Millionen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen
und von mehr als 3 Millionen Spätaussiedlern kann
diese Forderung zum heutigen Tage nur als absurd bezeichnet werden und übrigens in der gesamten Bevölkerung nur Kopfschütteln auslösen.
({6})
Andererseits stehen in Ihrem Text aber auch einige
richtige Passagen, von denen ich mir wünschen würde,
dass Sie sie in ihren wohlklingenden Formulierungen
weiter denken und umsetzen würden. Beispielsweise
heißt es:
Von übergeordneter Bedeutung ist die Versöhnung
und Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des
Nationalsozialismus und der von Deutschland ausgehenden Aggressionskriege.
Wenn dies aber richtig ist, wäre zum Beispiel eine besondere Sensibilität auch gegenüber der von Deutschland seinerzeit verfolgten Bevölkerungsgruppe der
Roma angebracht und gerade ihr eine besondere Achtung und Toleranz zu schenken.
({7})
Aber was erleben wir? Exakt zeitgleich mit der feierlichen Eröffnung des Denkmals für die ermordeten und
verfolgten Sinti und Roma am Südeingang des Reichstages mussten wir uns im Innenausschuss - dies war ebenfalls um 11 Uhr - im gegenüberliegenden Paul-LöbeHaus anhören, warum das CSU-geführte Innenministerium aus Gründen der Bekämpfung von Armutszuwanderung aus Serbien und Mazedonien stammende Roma
im Schnellverfahren ausweisen und abschieben möchte.
Kurzerhand will das Innenministerium dann auch noch
die nicht erwerbstätigen EU-Bürger aus Bulgarien und
Rumänien loswerden, obwohl dies nun einem der fundamentalen Grundsätze, nämlich dem der Freizügigkeit, in
der Europäischen Union widerspricht.
Natürlich, meine sehr verehrten Damen und Herren,
verkennen auch wir nicht die besonderen Belastungen in
einigen wenigen deutschen Großstädten, in denen sich
überdurchschnittlich viele von ihnen aufhalten. Auch
hier handelt es sich vielfach um Roma. Der Bundesinnenminister sollte aber besser den betroffenen Kommunen durch finanzielle Unterstützung bei der Versorgung
dieser Bevölkerungsgruppe helfen, anstatt den Anschein
eines politischen Aktionismus zu geben, und dies zu
Lasten einer Bevölkerungsgruppe, die in fast ganz Europa Diskriminierungen ausgesetzt ist und der gegenüber
gerade Deutschland eine historisch begründete Verantwortung wahrnehmen sollte.
({8})
Nun noch ein weiteres von mir begrüßtes Zitat aus Ihrem Antrag:
Wir nehmen das 60-jährige Jubiläum des BVFG
zum Anlass, uns dafür einzusetzen, dass Vertreibung weltweit geächtet wird. Noch immer werden
oder sind Menschen gezwungen, ihre Heimat zu
verlassen. Der jüngste Report des UN-Flüchtlingskommissariats zu Flucht und Vertreibung beziffert,
dass Ende 2011 insgesamt 42,5 Millionen Menschen von Flucht und Vertreibung betroffen waren,
viele von ihnen innerhalb ihres Heimatlandes.
Wenn Sie sich mit solchen Fragestellungen und Feststellungen selbst ernst nehmen, dann müssten Sie sich
- damit meine ich die Koalitionsfraktionen genau wie
diese Bundesregierung - in der ersten Reihe derjenigen
befinden, die im Zuge einer europaweiten Verantwortungsteilung bereit sind, in Deutschland mehr Flüchtlinge aufzunehmen,
({9})
anstatt sie nach den von Ihnen hartnäckig verteidigten
und überkommenen Grundsätzen der sogenannten Dublin-II-Verordnung in den Mittelmeeranrainerstaaten,
({10})
die mit der Aufnahme und der Verfahren allein schon
wegen der Größe des Problems völlig überfordert sind,
dahinvegetieren zu lassen.
({11})
Herr Kollege Veit, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Grindel?
Ja.
Herr Kollege Veit, Sie reden jetzt vier Fünftel Ihrer
Redezeit in dieser Debatte nicht über Vertriebene, sondern über Ausländer, über Flüchtlinge, über andere Themen. Darf ich das so interpretieren, dass Sie in Wahrheit
das Schicksal der Vertriebenen und der Aussiedler nicht
interessiert?
Dann haben Sie nicht zugehört, lieber Herr Grindel.
Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass der Kollege
Rossmann etwas zur kulturpolitischen Seite sagen wird.
Sie haben recht und insoweit richtig zugehört, dass ich
mich vier Fünftel meiner Rede mit Vertriebenen- und
Flüchtlingsfragen beschäftige. Das wird auch so bleiben.
Ich lehne mich dabei an Formulierungen Ihres Antrages
an. Ich wüsste nicht, was Sie daran stören sollte.
({0})
Der Kollege Beck würde auch gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte schön.
Vor dem Hintergrund der Intervention von Herrn
Grindel: Können Sie mir bestätigen, dass der vorliegende Antrag der Koalition ausdrücklich vorschlägt, den
internationalen Weltflüchtlingstag um das Gedenken an
die Opfer von Flucht und Vertreibung zu erweitern, dass
in diesem Zusammenhang - genau wie Sie in Ihrer Rede der Antrag auf den jüngsten Report des UN-Flüchtlingskommissariats hinweist, der auf 42,5 Millionen Flüchtlinge verweist, und Sie insofern in der Tonlage Ihrer
Rede zum Gegenstand der Debatte gesprochen haben
und Herr Grindel vielleicht etwas ewiggestrig ist?
({0})
Herr Kollege Beck, ich kann das nicht nur bestätigen,
sondern möchte in Bezug auf diese Zwischenfrage dankend sagen: In der Tat ist das das Phänomen, mit dem
wir es zu tun haben. In diesem Antrag stehen wohlklingende Worte gegenüber allen Vertriebenen und Flüchtlingen bis in die heutige Zeit. Was wir aber vermissen
- darauf komme ich noch zu sprechen -, sind die Taten.
Da muss offenbar nachgearbeitet werden, auch beim
Kollegen Grindel.
({0})
Denn - jetzt wende ich mich noch einmal an Sie, Herr
Grindel, aber nicht nur an Sie -: Ich sprach davon, dass
wir nach Dublin II zu einer europäischen Verantwortungsteilung kommen müssen. Das Gleiche gilt auch für
das sogenannte Resettlement von Flüchtlingen, die aus
ihren Herkunftsländern fliehen mussten, um Leib und
Leben zu retten. Durch die fürchterlichen Gräuel, die
derzeit den Menschen im syrischen Bürgerkrieg zugefügt werden, sind nicht nur Europa und die ganze Welt,
sondern auch wir dringend aufgefordert, Hilfe zu leisten.
Der wohl in der nächsten Sitzungswoche auf der Tagesordnung stehende gemeinsame Antrag aller Fraktionen und die auch von Ihnen, Herr Innenminister
Friedrich, betriebene Übernahme und Aufnahme von
5 000 Flüchtlingen aus Syrien sind natürlich, das verkenne ich nicht, ein anerkennenswerter Beitrag. Wir unterstützen Sie, Herr Minister, bei Ihren Bemühungen, auf
europäischer Ebene hier zu einer weiterführenden und
nachhaltigen Lösung zu kommen. Es ist aber eben nur
ein kleiner Schritt auf dem im Prinzip richtigen Weg.
Lassen Sie mich zum Schluss gedanklich in die Situation von vor über 60 Jahren in das Nachkriegsdeutschland zurückgehen. Als ich 1986 in Gießen Landrat
wurde, gehörte es von da an auch zu meinen Aufgaben,
Ehe- und Altersjubiläen wahrzunehmen und den Leuten
zu gratulieren. Dort habe ich dann gelegentlich sowohl
unter den ebenfalls anwesenden Gratulanten als auch unter den Jubilaren frühere Bürgermeister der damals noch
sehr kleinen Städte und Gemeinden getroffen. Diese haben mir berichtet, wie es unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg, war.
Unsere Kreisbevölkerung ist schlagartig um ein Drittel gewachsen. Diese kommunalen Kollegen mussten
damals von Haus zu Haus gehen und schauen, wo und in
welcher Weise dort noch Flüchtlinge untergebracht werden konnten, indem die anderen Menschen in ihren Häusern zusammenrücken. Man kann davon sprechen, dass
das eine Art Requirierung war. Sie haben sich damit
nicht unbedingt nur Freunde gemacht.
In der damaligen Zeit war aber nicht nur Wohnraum
knapp. Es gab auch nicht genügend gut bezahlte Arbeit.
Es gab nicht einmal für alle genügend zu essen. Diese
Ressourcen mussten, wie ich bereits dargelegt habe,
durch eine wesentlich größere Anzahl von Bewohnerinnen und Bewohnern geteilt werden.
Da wir heute über einen ganz anderen wirtschaftlichen Background und über eine ganz andere InfrastrukRüdiger Veit
tur verfügen, kann man sagen: Wenn das damals in dieser Größenordnung und bei dieser Notlage möglich war,
dann sollte das uns auch heute, so finde ich jedenfalls,
im Hinblick auf eine viel kleinere Zahl von Flüchtlingen
möglich sein, auch wenn sie nicht deutscher Volkszugehörigkeit sind.
Auch - ich betone ausdrücklich: auch - dieser Aufgabe müssen wir uns im Jahre 2013 stellen. Wir brauchen nicht nur wohlklingende Worte, wie in Ihrem Antrag, sondern wir brauchen Taten. Dazu fordere ich Sie
an diesem Gedenktag nachdrücklich auf.
Vielen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Serkan
Tören das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Veit, eines muss man einfach festhalten: Sie haben
in Ihrer Rede im Wesentlichen am Thema vorbei gesprochen und Dinge miteinander verglichen, die in keiner
Weise zu vergleichen sind.
({0})
In diesem Jahr wird das Bundesvertriebenengesetz
60 Jahre alt. Mit dem Bundesvertriebenengesetz stellte
die damals noch junge Bundesrepublik die Weichen für
die Aufnahme und erfolgreiche Integration von 12 Millionen deutschen Flüchtlingen aus den östlichen Teilen
Europas, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik kamen. Das Bundesvertriebenengesetz war
auch die rechtliche Grundlage für die Aufnahme von
4,5 Millionen Spätaussiedlern. Diese kamen nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik. Auch die Spätaussiedler haben wir im wiedervereinigten Deutschland
im Großen und Ganzen gut integriert.
Meine Damen und Herren, das Bundesvertriebenengesetz ist - so kann man sicherlich aus heutiger Sicht sagen - einer der Gründe, warum es der Bundesrepublik
nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich so schnell
wieder gut ging. Millionen von Menschen kamen, wenn
auch nicht ganz freiwillig, in die junge Bundesrepublik,
sind damals schnell integriert worden und haben erfolgreich am Wiederaufbau Deutschlands mitgearbeitet. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass der
Grund für die Vertreibung und das Leid von vielen Millionen Menschen gerade in Osteuropa in der deutschen
Geschichte gesucht werden muss. Ohne das Dritte Reich
wäre uns Europäern viel erspart geblieben.
Wie bereits ausgeführt, war die Integration von
12 Millionen Flüchtlingen ein voller Erfolg. Allerdings
ist dieses Kapitel der deutschen Geschichte bis heute
nicht abgeschlossen. Noch immer gibt es gerade in den
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion Deutschstämmige. Diese haben ein Recht, in die Bundesrepublik
überzusiedeln. Bei dieser Gruppe von Deutschstämmigen gibt es aber immer wieder Fallkonstellationen, die
von der aktuellen Gesetzeslage nicht erfasst sind. Eine
Übersiedlung nach Deutschland wäre in vielen Fällen
ausgeschlossen. Dies führt gerade für Familien immer
wieder zu nicht hinnehmbaren Härten. Daher hat der
Bundesrat einen Vorschlag zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes vorgelegt. Diesem Vorschlag will
die christlich-liberale Koalition in weiten Teilen folgen.
Ziel der nun vorliegenden Gesetzesänderung ist es,
unter sehr engen Voraussetzungen das Erfordernis der
Kenntnis der deutschen Sprache zu streichen. Dies soll
aber nur in den Fällen greifen, in denen der Betroffene
aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht in der
Lage ist, Deutsch zu sprechen. Die weiter gehenden Forderungen des Bundesrates, auch sogenannte vergleichbare Fälle zu berücksichtigen, lehnen wir als zu ungenau
ab. Damit würde der Tatbestand mit unabsehbaren Folgen erweitert.
Daneben wird mit der geplanten Gesetzesänderung
davon abgesehen, dass der notwendige Erwerb der deutschen Sprache nur im familiären Rahmen erfolgen darf.
Mit der vorgesehenen Änderung berücksichtigen wir,
dass in vielen Familien die deutsche Sprache aus politischen Gründen oft nur rudimentär verwendet wurde.
Wer sich in solchen Fällen aktiv um seine kulturellen
Wurzeln bemüht und außerhalb der Familie Deutsch gelernt hat, soll dadurch aus unserer Sicht keinen Nachteil
erleiden. Diese Personen sollen die Möglichkeit haben,
bei entsprechenden Deutschkenntnissen in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln.
Im Zusammenhang mit dieser sinnvollen Gesetzesänderung wurde vonseiten der Opposition auch gestern im
Innenausschuss wieder die Forderung erhoben, bei jeglichem Familiennachzug auf die Kenntnis der deutschen
Sprache zu verzichten. Meine Damen und Herren, sicherlich ist die Pflicht zum Nachweis zumindest einfachster Kenntnisse der deutschen Sprache ein Hindernis
für jeden, der nach Deutschland kommen will. Auch ist
es richtig, dass Spätaussiedler und nachziehende Familienmitglieder von hier lebenden Ausländern oder eingebürgerten Deutschen unterschiedlich behandelt werden.
Allerdings sollten wir uns bewusst sein, dass wir hier
ganz unterschiedliche Gruppen von Menschen miteinander vergleichen.
Im Fall der Spätaussiedler reden wir von Menschen,
die ihre deutschen Wurzeln nach dem Zweiten Weltkrieg
verleugnen mussten bzw. verleugnet haben, um keinerlei
Nachteile in ihrem Leben zu erleiden. Damit ist kulturelles Erbe und somit auch Kenntnis der deutschen Sprache
verloren gegangen. Bei diesen Menschen ist sehr oft die
gesamte Verwandtschaft in die Bundesrepublik übergesiedelt. Daher bestehen oft keinerlei familiäre Bindungen mehr in den Ländern, in denen die Spätaussiedler
bisher lebten. Ich frage Sie daher alle: Wollen wir diese
familiären Strukturen bewusst zerstören?
Im Fall des Familiennachzugs bei hier lebenden Ausländern oder eingebürgerten Deutschen geht es um eine
Gruppe von Menschen, die sich bewusst dafür entschieden hat, eine familiäre Verbindung nach Deutschland
aufzubauen. Das kann man natürlich nicht miteinander
vergleichen. Die für Ausländer geltenden Bestimmungen
des Aufenthaltsgesetzes und die Bestimmungen und Anspruchsgrundlagen des Bundesvertriebenengesetzes sind
völlig unterschiedlich und können dementsprechend
nicht miteinander verglichen werden.
({1})
Diese Koalition ist sich ihrer Verantwortung bewusst,
die sich aus unserer Geschichte ergibt. Daher waren die
vergangenen vier Jahre auch für die Spätaussiedler und
ihre Familien gut.
Meine Damen und Herren, gerade unter Berücksichtigung unserer Geschichte und des Schicksals der Heimatvertriebenen ist uns Deutschen bewusst, welches
menschliche Leid mit Vertreibung verbunden ist. Gerade
daher sollte es uns allen ein besonderes Anliegen sein,
weltweit jegliche Art von Vertreibung zu ächten. Der
christlich-liberalen Koalition ist es daher besonders
wichtig, den schon heute jährlich am 20. Juni stattfindenden Weltflüchtlingstag weiterzuentwickeln. Aus unserer Sicht wäre es richtig, diesen Tag auf der Ebene der
Vereinten Nationen um das Gedenken an die Opfer von
Vertreibung zu erweitern.
({2})
Dieser 20. Juni sollte für uns alle immer wieder ein Ansporn sein, uns gegen die Vertreibung von Menschen
einzusetzen.
Vielen Dank.
({3})
Ulla Jelpke erhält nun das Wort für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem Erinnern an Unrecht, das Menschen im Zusammenhang mit
dem Zweiten Weltkrieg widerfahren ist, hat sich die
Linke noch niemals widersetzt, wohl aber dem Versuch,
historische Verantwortlichkeiten zu verwischen und die
Schuld Nazideutschlands am Weltkrieg und seinen Folgen zu relativieren.
({0})
Ja, es war eine große Leistung, Millionen Menschen,
die nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verloren
hatten, zu integrieren. Das geschah übrigens nicht nur in
der BRD, wie der Koalitionsantrag suggeriert,
({1})
sondern auch in der DDR. Die Leistungen von Flüchtlingen, Ausgesiedelten und den Bewohnern der beiden
deutschen Staaten verdienen unseren Respekt.
({2})
Hunderttausende von Deutschen sind nach dem Krieg
zu Besuch in ihre alten Heimatstädte gefahren und insbesondere im westlichen Polen Menschen begegnet, die ihrerseits aus dem östlichen Polen vertrieben worden waren. Sie haben das größtenteils ohne Revanchegefühle
getan, was von der polnischen Bevölkerung sehr anerkannt worden ist.
Es ist aber wichtig, zwischen der Masse der Vertriebenen und denen, die sich als ihre Fürsprecher ausgeben
- da meine ich vor allen Dingen den Bund der Vertriebenen - zu unterscheiden.
({3})
Denn eine Bereitschaft zu einem freundschaftlichen und
respektvollen Verhältnis zu den Menschen in Osteuropa
kann man dem Bund der Vertriebenen nun wirklich nicht
nachsagen. Im Gegenteil: Es ist außerordentlich bedauerlich, dass es diesem Verein von Berufsvertriebenen
gelungen ist, sich als Repräsentant von Millionen Menschen zu inszenieren und dafür Jahr für Jahr Steuergelder in Millionenhöhe zu kassieren.
({4})
Der BdV hat, anstatt zu versöhnen - auch das muss
deutlich gesagt werden -, bei unseren europäischen
Nachbarn immer wieder Wunden aufgerissen, die deutsche Kriegsschuld geleugnet und die Nachkriegsordnung
angefochten. Zum Beispiel die Verbandschefin Erika
Steinbach hat 1991 hier im Bundestag gegen die OderNeiße-Linie gestimmt und damit gegen die polnische
Grenze.
({5})
Es ist das zweifelhafte Verdienst des BdV, eine revanchistische Parallelgesellschaft geschaffen zu haben und
weiterhin am Leben zu halten.
({6})
Schon die Charta der Heimatvertriebenen aus dem
Jahre 1950 ist einzig ein Dokument des Revanchismus.
Es heißt darin allen Ernstes bis heute - das muss man
sich einmal klarmachen -, die Heimatvertriebenen seien
die - das ist ein Zitat - „vom Leid dieser Zeit am
schwersten Betroffenen“.
({7})
Damit werden die Opfer des Raub- und Vernichtungskrieges der Wehrmacht und des Holocaust auf unglaubliche Weise verschwiegen und verharmlost.
({8})
Das ist ein Zeichen für die Linie des BdV: Naziverbrechen zwar nicht direkt zu leugnen, aber sie immer
wieder zu relativieren. Doch es ist nun einmal die historische Wahrheit: Die Aussiedlung der Deutschen aus den
Staaten Osteuropas war eine unmittelbare Folge der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges.
Weiter heißt es in der Charta - ich zitiere -: „Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung.“
({9})
Dieser Satz musste damals, fünf Jahre, nachdem die
Rote Armee den Besatzungsterror der Deutschen in Osteuropa beendet hatte, den Betroffenen als blanker Zynismus erscheinen. Schließlich handelte es sich bei den vielen Unterzeichnern, die hier großzügig auf Rache
verzichteten, um ehemalige Nazifunktionäre.
({10})
11 von 13 der damaligen Vorstandsmitglieder des BdV
waren Mitglieder der NSDAP oder der SS gewesen:
Vom SS-Obersturmbannführer bis zum Gauleiter war alles vertreten. Frau Steinbach hat diese Vorhalte noch im
letzten Jahr lakonisch mit den Worten zurückgewiesen
- ich zitiere -: „Männer mit zuvor gesammelter organisatorischer Erfahrung“ wurden gebraucht.
({11})
Solange der BdV Massenmörder und ihre Helfershelfer
derart verharmlost, verdient er keinen einzigen Cent
Steuergeld.
({12})
Vor fünf Jahren sprachen Sie, Frau Steinbach, anlässlich Ihres Tages der Heimat von - ich zitiere - „vorsätzlich geplanten und systematischen Vernichtungsaktionen“, die nach dem Krieg an den Deutschen begangen
worden seien. Im Nachkriegsjugoslawien sahen Sie einen „Völkermord“ an Deutschen in sogenannten „Todeslagern“ und „Vernichtungslagern“. Sie wissen ganz genau, was Sie damit tun: Sie setzen das zweifellos harte
Schicksal, das viele Deutsche in Osteuropa erfahren haben, mit den Verbrechen gleich, die Deutsche in Osteuropa angerichtet haben. Sie setzen die Aussiedlung der
Deutschen mit der Ermordung der europäischen Juden
durch das NS-Regime gleich. Ich sage: Wer eine solche
Gleichsetzung vornimmt, der betreibt Geschichtsrevisionismus, der relativiert die Naziverbrechen, und dem
muss man entschieden in die Parade fahren.
({13})
Meine Damen und Herren, ich habe eingangs gesagt,
dem Erinnern an Unrecht werde sich die Linke nicht widersetzen. Nun herrscht in Deutschland kein Mangel an
Erinnerung - an Denkmälern, biografischen Werken
usw. - zum Thema Vertreibung, auch wenn das der BdVLobby immer noch nicht genug ist; tatsächlich aber hat
sie ihre eigene revisionistische Sicht schon lange etabliert. Aber wenn man über Vertreibung redet, muss man
auch über die deutschen Verbrechen in Osteuropa reden
und darüber, welche politische Funktion deutsche Minderheiten vor dem Krieg hatten, beispielsweise im Sudetenland, wo sie sich zum großen Teil offen gegen die
tschechische Demokratie gestellt haben.
({14})
Die befreiten Völker in Osteuropa wollten diesen Hebel
zur Zerschlagung ihrer Staaten neutralisieren. An diese
historischen Zusammenhänge muss erinnert werden,
sonst verdreht man die Geschichte und die politischen
Verantwortlichkeiten. Aus genau diesem Grund darf die
Erinnerung an die Nachkriegsereignisse nicht dem Bund
der Vertriebenen überlassen werden.
({15})
Nun will die Koalition den Weltflüchtlingstag um das
Gedenken an Heimatvertriebene erweitern. Ich halte das,
ehrlich gesagt, für keine gute Idee; denn wer den Tag des
Flüchtlings ernst nimmt, hat schon bisher an diesem Tag
ohnehin aller Menschen gedacht, die vor Gewalt und unmenschlicher Behandlung fliehen mussten oder müssen.
Aber ganz offenbar passt es den Vertriebenenfunktionären nicht, sich gemein zu machen mit dem Somali, der
vor Gewalt und Hunger flieht, oder der Kurdin, die vor
Staatsterror und Unterdrückung flieht. Sie wollen einen
deutschen Gedenktag für deutsche Kriegsopfer.
Ich habe keinen Zweifel, was passiert, wenn Sie den
20. Juni um das spezielle Gedenken an die Heimatvertriebenen erweitern. Dann wird in Deutschland nämlich
nur noch an die Heimatvertriebenen erinnert, und das
kann ja wohl nicht sein.
({16})
Statt dem BdV seinen eigenen Feiertag zu schenken, will
die Linke, dass der 20. Juni ein Tag der weltweiten Solidarität mit Flüchtlingen bleibt, auch mit Vertriebenen,
das ist selbstverständlich. Deswegen lehnen wir diesen
Antrag der Koalition ab.
({17})
Ich komme nun zum letzten Punkt, zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes. Grundsätzlich ist unsere Haltung: Es
wäre endlich an der Zeit, das Bundesvertriebenengesetz
abzuschaffen und seine Einwanderungsregelung in den
Katalog des Aufenthaltsgesetzes zu überführen. Die
Linke ist sehr für liberalisierte Zuwanderung. Aber wir
sehen überhaupt nicht ein, dass dies nur für sogenannte
Volksdeutsche gelten soll.
({18})
Die Koalition und mehr noch der Bundesrat zeigen
jetzt endlich eine gewisse Bereitschaft, den Familiennachzug von Spätaussiedlern zu erleichtern. Wir sind dafür. Das ist nämlich im Interesse der Menschen, und das
wird von der Linken begrüßt. Der Bundesrat unternimmt
einen Schritt in die richtige Richtung, indem er einen
Härtekatalog von Fällen vorstellt, in denen auf den
Nachweis deutscher Sprachkenntnisse verzichtet werden
soll. Wir halten einen solchen Nachweis ohnehin für unangemessen. Die deutsche Sprache lernt man am besten
in Deutschland.
({19})
Aber was macht die Koalition? Sie will mit einem
Änderungsantrag die Vorschläge des Bundesrates teilweise wieder zurücknehmen und die Regelungen verschärfen. Alter, Lernschwäche, Bildungsferne und
andere Härten will sie nicht als Ausnahmegründe anerkennen, die einen Verzicht auf den Sprachnachweis begründen. Im Klartext heißt das, dass diesen Personengruppen verwehrt wird, zu ihren bereits in Deutschland
lebenden Verwandten zu ziehen. Das ist ganz klar familienfeindlich und inhuman. Deshalb werden wir uns bei
diesem Gesetzentwurf auch nur enthalten.
Wir haben stattdessen einen eigenen Änderungsantrag
zum Vorschlag der Regierungskoalition in den Innenausschuss eingebracht. Dort schlagen wir vor, diese Erleichterung für alle ins Aufenthaltsgesetz aufzunehmen. Es
geht hier, wie gesagt, um Spätaussiedler, aber es geht
nicht nur um sie, sondern es geht auch um Migranten. Es
ist überhaupt nicht einzusehen, warum diese Sprachhürden für viele Menschen aus anderen Ländern existieren
müssen.
Generell empfiehlt die Linke: Lassen Sie uns die im
Vergleich zu Nichtdeutschen großzügigen Zuwanderungsbestimmungen des Vertriebenengesetzes in den allgemeinen Regelungsbereich der Zuwanderung überführen. Gleiches Recht für alle, auch im Bereich der
Zuwanderung, statt völkisch motivierter Privilegierung.
Ich danke Ihnen.
({20})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
begehen heute in dieser Sitzung ein besonderes Ereignis.
Wir erinnern nämlich an eine großartige Erfolgsgeschichte in den letzten 60 Jahren. Mit dem Bundesvertriebenengesetz, das vor 60 Jahren im Deutschen Bundestag beschlossen wurde, haben wir die Grundlagen
dafür gelegt, dass 14 Millionen Menschen, die aus ganz
Europa vertrieben wurden, im Nachkriegsdeutschland
eine neue Heimat finden konnten. Das war eine riesige
Aufgabe, eine gewaltige Herausforderung.
Die Vertriebenen waren nicht überall und immer willkommen. Auch das gehört zur ganzen Wahrheit. Das
Land war zerbombt, es war zerstört, und jeder hatte genügend damit zu tun, sich seine Existenzgrundlage wieder aufzubauen. Dann kommen 14 Millionen Menschen
hinzu, die auch Heimat, Unterkunft und Chancen suchen.
Ich rede heute deshalb, weil ich aus einer Familie
komme, deren Eltern Vertriebene waren. Meine Eltern
als Deutsche im ehemaligen Jugoslawien kamen auf einer langen Reise nach Deutschland. Ich selbst habe mich
nie als Vertriebenen bezeichnet, weil ich 1949 in Hoffenheim auf die Welt kam. Aber ich habe, als ich in die
Schule kam, sehr wohl gemerkt, dass ich nicht von Anfang an dazugehört habe.
Welche Konsequenz hat man daraus ziehen können?
Wie wurde das Ganze dann zu dieser großen Erfolgsgeschichte? Indem wir, die Kinder von Vertriebenen, die
selber auch als Vertriebene bezeichnet wurden, uns völlig darüber im Klaren waren, dass wir selbst unseren
Beitrag leisten müssen, um in diese neue Heimat, in
diese Gesellschaft hineinzuwachsen, dass wir nicht erwarten konnten, dass diejenigen, die schon immer in diesem Land gelebt haben, ausschließlich sagen würden:
Herzlich willkommen! Die Integration ist nur geglückt,
weil die einen es wollten und die anderen alles darangesetzt haben, in dieser Gesellschaft heimisch zu werden.
({0})
Das ist ein Aspekt dieser Erfolgsgeschichte, von dem
wir auch für die heutige Zeit etwas lernen können. Ohne
den starken Willen, in diese Gesellschaft hineinzuwachsen, einen Beitrag zur Entwicklung dieser Gesellschaft
zu leisten, wäre auch mit dem Bundesvertriebenengesetz
die Integration nicht gelungen.
Die Vertriebenen haben über ihr Leid relativ wenig
gesprochen.
({1})
- Seien Sie jetzt einmal ganz schön friedlich.
({2})
Wahrscheinlich sind Sie gar nicht betroffen. Aber ich
spreche als einer, der das alles miterlebt hat. Das wird
auch einmal zulässig sein.
Ich kann dazu nur sagen: Die Väter haben über das,
was sie im Krieg erlebt haben, in der Regel nicht gesprochen. Das hat im Übrigen dazu geführt, dass Ende der
60er-Jahre eine intensive Diskussion begonnen hat. Dieser Teil der Diskussion der sogenannten 68er-Jahre war
auch völlig berechtigt, weil wir wissen wollten, was damals geschehen war.
Aber unsere Mütter haben davon gesprochen. Meine
Mutter hat immer erzählt, dass für sie das Dritte Reich
und die Nationalsozialisten das Unglück ihres Lebens
waren. Denn sie hat sich in Jugoslawien wohlgefühlt, sie
wollte gar nicht woandershin. Sie hat immer gesagt:
Wenn die Nazis nicht gekommen wären, hätten wir ein
anderes Leben führen können.
({3})
Sie hat uns, den Kindern, gesagt: Ihr müsst alles daransetzen, dass so etwas in diesem Land nicht noch einmal
passieren kann. Das war die Botschaft von Vertriebenen
aus ganz Europa.
({4})
Natürlich hat Vertreibung stattgefunden. Immer in der
Geschichte hat es Vertreibung gegeben. Aber wenn man
die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, des Nationalsozialismus, unseres Deutschlands anschaut, sieht man,
dass natürlich - da hat Kollege Veit recht - die Vertreibung damit begonnen hat, dass zunächst einmal die Juden aus ihrer Heimat vertrieben und dann in den Tod geschickt wurden. Das war der erste Akt von Vertreibung
in dieser unglaublichen Verbrechergeschichte des nationalsozialistischen Regimes. Das war Unrecht in höchstem Maße.
Aber es war auch mit viel Leid für die Vertriebenen
verbunden. Meine Mutter hatte mit dem Nationalsozialismus überhaupt nichts am Hut. Sie hat das alles verachtet. Dennoch war sie Leidtragende. Sie hat nicht nur darunter gelitten, dass sie aus ihrer Heimat vertrieben
wurde, sondern auch darunter, dass sie über ihr Leid
nicht sprechen konnte, ohne dass man ihr den Vorwurf,
der mit der Sache gar nichts zu tun hatte, gemacht hat,
dass sie das Leid von Juden und all das, was im Dritten
Reich passiert ist, relativieren wollte. Die allermeisten
Vertriebenen waren sich bewusst, wie ich am Beispiel
meiner Mutter sagen kann, was Ausgangspunkt ihres
Dramas war. Dessen waren sich alle bewusst. Dass man
ihnen aber verwehrt hat, auch über ihr individuelles Leid
zu sprechen, hat sie ein zweites Mal vertrieben.
({5})
Ich zitiere:
Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das
läßt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die
Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache
Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus
Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben,
durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg
zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck
von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.
Bundesinnenminister Otto Schily am 29. Mai 1999.
Ähnlich formuliert es Günter Grass in seiner bemerkenswerten Novelle Im Krebsgang in gleicher Richtung.
({6})
- Wissen Sie, ich will Ihnen einmal eines sagen: Es geht
nicht an, dass die Grünen glauben, allein den moralischen Anspruch gepachtet zu haben, zu wissen, was man
sagen darf und was nicht.
({7})
Ich bin das jetzt langsam leid. Ich lasse mir von Ihnen
keine Vorwürfe machen. Ich weiß, was der Ausgangspunkt der Vertreibung war: das verbrecherische nationalsozialistische Regime. Aber Leid von Menschen ist nicht
teilbar, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({8})
Wir haben mit dem Bundesvertriebenengesetz nach
dem Krieg die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass
eine Integration der Vertriebenen stattfinden konnte. Wir
vergessen nicht die Verbrechen, die Deutsche an Juden
begangen haben und die im Namen der Deutschen an Juden verübt wurden. Deshalb gehört die Union als einzige
Partei, vielleicht noch zusammen mit der FDP, zu denen,
die unverbrüchlich zu Israel stehen und die Sicherheit Israels als Teil unserer Staatsräson begreifen.
({9})
Wenn ich so manche Diskussionen erlebe, kann ich nur
sagen - ich will das niemandem abstreiten; aber bei uns
ist das so -: Wir wissen um die Verantwortung, die aus
unserer Geschichte erwächst.
({10})
Wir blicken auch nicht zurück, sondern wir sagen:
Diejenigen, die Deutsche sind, sich der deutschen Sprache auch weiterhin gewidmet haben, sollen auch in Zukunft nach Deutschland kommen können - unter ganz
genauen, festen Regeln. Ich akzeptiere selbstverständlich und bin sehr dafür - gerade weil ich für verfolgte
Christen in der ganzen Welt eintrete -, dass wir Menschen, die in Bedrängnis sind, die verfolgt werden, die
vor Bürgerkriegen fliehen, in Deutschland aufnehmen.
Der Bundesinnenminister hat da auch klare Zusagen gemacht: beispielsweise dass wir weitere 5 000 Menschen
aus Syrien aufnehmen. Aber genauso, wie ich dafür eintrete, dass Asylbewerber nach Deutschland kommen
dürfen, trete ich dafür ein, dass auch diejenigen, die
Deutsche sind und noch im Ausland leben, nach
Deutschland kommen dürfen. Da gibt es keine Unterteilung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({11})
Das Bundesvertriebenengesetz ist eine großartige Erfolgsgeschichte. Als jemand, der eigentlich bei armen
Eltern aufgewachsen ist, muss ich sagen: Ich bin diesem
Land außerordentlich dankbar. Meine Eltern, vor allem
meine Mutter, haben mir immer gesagt: Wir werden
euch nie Reichtum geben oder ein Vermögen übergeben
können; aber wir können euch Erziehung und Bildung
mitgeben, und dann könnt ihr aus eigener Kraft etwas
leisten.
Nicht allein aus eigener Kraft, sondern auch dank der
Solidarität der Deutschen haben die Vertriebenen es geschafft. Beides zusammen - die Solidarität derjenigen,
die schon immer hier gelebt haben, und der Wille der
Vertriebenen, zu dieser Gemeinschaft zu gehören - hat
dazu geführt, dass die Integration der Vertriebenen im
Nachkriegsdeutschland eine großartige Erfolgsgeschichte wurde.
({12})
Wie Sie sehen, ist der nächste Redner Volker Beck für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der selten vor Beginn einer Rede im Deutschen Bundestag so viel Beifall
hat entgegennehmen können.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Kauder, ich finde, Sie haben in diese Debatte unnötige Schärfe gebracht.
({0})
Wir sind uns einig in diesem Haus: Vertreibung ist ein
Verbrechen gegen die Menschlichkeit; das ist im deutschen Völkerstrafgesetzbuch ausdrücklich so festgehalten. Viele Opfer von Vertreibung verlieren nicht nur Hab
und Gut und Wohnsitz, sondern werden oftmals auch
Opfer schrecklicher Gewalttaten. So war das auch bei
der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen östlichen Reichsgebieten. So war es bei der Vertreibung der
Deutschen aus dem Sudetenland, das zur Tschechoslowakei gehörte, und auch aus anderen osteuropäischen
Staaten. Das dürfen wir nicht vergessen. Daran müssen
wir uns auch erinnern, aber wir müssen uns erinnern im
Kontext der Geschichte.
Der Vertreibung ging eben der verbrecherische Angriffskrieg der Nazis gegen die Völker Europas voraus.
Es gingen ein Holocaust an den Juden und ein Völkermord an den Sinti und Roma in Europa voraus. All dies
gehört zum Kontext. Es gehört auch zum Kontext, dass
zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen aus den heute zu
Polen gehörenden Gebieten vertrieben wurden, im Osten
Polens von den Sowjets Polen aus ihrem Land vertrieben
wurden, die dann dort siedelten, wo vorher Deutsche gelebt haben. Auch das gehört zu der Tragödie, die mit
dem Zweiten Weltkrieg verbunden ist.
({1})
Ich sage das hier - Frau Kollegin, ich weiß nicht, wo
Sie und Ihre Familien herkommen - als Kind einer sudetendeutschen Familie und einer österreichischen Offiziersfamilie, die am Ende jedes Weltkrieges im letzten
Jahrhundert vertrieben wurden, also zweimal, und zweimal in ihrem Leben alles verloren haben. Trotzdem darf
man nicht darüber hinwegreden, was dem vorausgegangen ist.
Herr Kauder, Sie haben eben Ihre Familiengeschichte
geschildert. Es gibt aber auch Familiengeschichten von
Vertriebenen, die zeigen, dass nicht alle Vertriebenen im
Herzen und im Geiste Widerstandskämpfer oder Gegner
des Nationalsozialismus gewesen sind. Ich habe viel im
Keller meiner Mutter gefunden - das gehörte nicht zum
Narrativ der Geschichte, weil man es nicht erzählen
wollte, weil man dabei nicht gut aussah -, zwar keine
Mitgliedsbücher der NSDAP, aber der Sudetendeutschen
Partei. Nicht alle Sudetendeutschen waren ausgemachte
Nazis. Aber was haben sie damals gemacht? - Sie haben
beim Einmarsch Hitlers gejubelt und haben die ausgestreckte Hand der Tschechen und der Slowaken in der
Vielvölkerrepublik Tschechoslowakei abgewiesen. Auch
das gehört zu der komplizierten Geschichte dazu. Das
erklärt zwar nicht die Verbrechen, aber das erklärt zunächst die Akzeptanz der Vertreibung in der Tschechoslowakei, weil sich die Deutschen eben vorher nicht
dazu bereitgefunden haben, Teil dieser Republik zu werden und an einem friedlichen Miteinander der drei bzw.
vier Völker, wenn man die Roma dazunimmt, in der
Tschechoslowakei mitzuwirken.
({2})
Wenn wir heute der Vertreibung gedenken, dann können wir nicht darüber hinwegsehen, dass gegenwärtig in
der Welt 42,5 Millionen Menschen auf der Flucht sind,
vertrieben sind, im Sudan, in Syrien, in vielen Ländern
Afrikas und Asiens. Auch das gehört dazu.
({3})
Wenn wir wirklich Empathie für die deutschen Vertriebenen haben, dann kann diese Empathie nicht bei anderen Vertriebenen in der Jetztzeit aufhören. Dann müssen
wir heute Einsatz für das Recht von Flüchtlingen und
Vertriebenen zeigen und unsere Verantwortung übernehmen.
({4})
Kurz zu einigen konkreten Punkten in Ihrem Antrag.
Sie schlagen vor - das begrüße ich -, den 20. Juni auch
zum Anlass zu nehmen, deutscher Vertriebener und Vertreibung zu gedenken. Das ist ein Vorschlag, den ich vor
längerer Zeit gemacht habe. Ich bin froh, dass sich dieser
in der Koalition gegen den Vorschlag von Frau
Steinbach durchgesetzt hat, ausgerechnet den 5. August
hierfür zu nehmen, den Tag, als die Charta der VertriebeVolker Beck ({5})
nen, auf die Frau Jelpke schon Bezug genommen hat,
verabschiedet wurde.
Diese Charta war wirklich eine Charta der Nichtanerkennung des geschichtlichen Kontexts, des Verdrehens
von Geschichte, der Selbststilisierung nur als Opfer und
nicht auch als Täter, und das bei einer langen Liste von
Unterschriften von NSDAP-Funktionären, SS-Generälen und Sturmbannführern. Dass wir uns heute von diesem Tag als Bezugspunkt für die Erinnerung an das Unrecht der Vertreibung verabschieden, ist ein gutes Signal.
({6})
Dennoch darf der 20. Juni nicht nur ein Tag zur Erinnerung an die deutschen Heimatvertriebenen sein, sondern er muss ein Tag sein, der ein Appell gegen das Unrecht von Vertreibung und für die Solidarität mit allen
Flüchtlingen und Vertriebenen ist, seien sie deutsch oder
anderer Provenienz oder Nationalität.
({7})
Ich möchte noch zwei konkrete Punkte ansprechen.
Nachher diskutieren wir über die Nachzugsregelung für
die Angehörigen von Vertriebenen. Ich finde es richtig,
dass eine Härtefallklausel bei den Sprachvoraussetzungen geschaffen werden soll, ich finde es aber völlig unplausibel, dass wir das im Aufenthaltsgesetz gegenüber
Ausländern nicht machen. Ich will Ihnen nahelegen: Das
führt am Ende zur Inländerdiskriminierung. Wenn ein
Deutscher hier aus Berlin in der Türkei eine Frau kennenlernt und heiratet, sie aber noch kein Wort Deutsch
spricht, während er gut türkisch spricht - vielleicht hat er
sogar dort unten gearbeitet und hat sie dabei kennengelernt -, dürfte er mit dieser seiner Frau aus der Türkei
nicht hierher nach Deutschland kommen, bevor sie nicht
die deutschen Sprachvoraussetzungen erfüllt. Wäre er
Spätaussiedler und käme er mit seiner Frau aus Russland
und sie wäre Russin und spräche kein Sterbenswörtchen
Deutsch, dann könnte er sie nach dieser Härtefallklausel
unter Umständen mitbringen. Das ist Inländerdiskriminierung. Das ist absurd. Lassen Sie uns das deshalb auch
im Aufenthaltsgesetz entsprechend regeln.
({8})
Ich möchte noch einen anderen Punkt der Gleichstellung hier ansprechen: das Fremdrentengesetz.
Herr Kollege Beck, darf Ihnen Herr Kollege Bergner
eine Zwischenfrage stellen?
Ja. Wenn ich meinen letzten Gedanken dann auch
noch unterbringen kann, will ich das gerne tun.
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, wir haben auch im Innenausschuss darüber gesprochen. Ich will nur vermeiden, dass
Sie jetzt von falschen Voraussetzungen ausgehen. Die
Linke fordert in ihrem Antrag, dass die unscharfe
Formulierung des Bundesratsantrags „in vergleichbaren
Fällen“ ins Aufenthaltsrecht übernommen wird. Der
Vorschlag der Koalition ersetzt aber gerade diese unscharfe Formulierung - und zwar aus rechtlichen Gründen - durch konkrete Sachverhalte, die wiederum nur in
den Kontext des Vertriebenenrechts eingebracht werden
können, und es entsteht ausdrücklich nicht die Situation,
die Sie hier zu schildern versuchten, dass automatisch
jemand, der als Spätaussiedler aus den Staaten der früheren Sowjetunion kommt, keinen Sprachnachweis erbringen muss.
Könnte es sein - das ist meine Frage -, dass Sie die
Antragstellungslage nicht richtig durchschaut haben?
({0})
Das kann selbstverständlich nicht sein. Ich habe den
Änderungsantrag, der von Herrn Uhl und dem Kollegen
der FDP unterschrieben wurde, vorhin aufmerksam gelesen. Ich habe ihn auch dabei, aber nicht hier am Rednerpult, sondern er liegt an meinem Platz. Ich habe darauf
aufmerksam gemacht, dass eine Härtefallklausel eingeführt werden soll, gemäß der in bestimmten Konstellationen auf die Sprachvoraussetzung beim Ehegattennachzug - ich halte sie ohnehin für Quatsch; aber sie ist nun
einmal Recht - verzichtet werden kann - nicht einmal
Grundkenntnisse müssen sie haben -, sodass Spätaussiedler ihre nichtdeutschen Ehegattinnen und Kinder mit einreisen lassen könnten. - So soll es geregelt werden.
Mein Punkt war: Warum soll es eine Härtefallklausel
bei Spätaussiedlern geben, die mit Russen oder Weißrussen oder Ukrainern oder - was weiß ich - mit Usbeken
verheiratet sind? Warum soll die Härtefallklausel für
diese gelten, aber für Deutsche, die mit einer Türkin verheiratet sind und aus der Türkei hier zu uns nach
Deutschland einreisen wollen, in keinem Fall?
({0})
Das ist unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. Das benachteiligt deutsche Staatsbürger in bestimmten Konstellationen gegenüber einreisenden Spätaussiedlern, und das ist meines Erachtens rechtlich nicht
haltbar und politisch tatsächlich nicht sinnvoll.
({1})
Nein, nein. Sie machen jetzt bitte nicht mehr darauf
aufmerksam, weil der Kollege Beck schon lange seine
Redezeit überschritten hat und ich nur wegen unserer
Präsident Dr. Norbert Lammert
sprichwörtlich privilegierten Verbindung Ihre Zusatzfrage zugelassen habe.
Ich möchte nur noch einen Satz sagen. Wir haben im
Fremdrentengesetz die Rentenansprüche für Spätaussiedler so geregelt, dass diese durch die Einreise nach
Deutschland keine Nachteile haben. Die gleiche Regelung sollten wir für jüdische Kontingentflüchtlinge
treffen, die zu uns gekommen sind und heute oft
Grundsicherung im Alter erhalten, weil ihre Rentenversicherungszeiten in ihrer ehemaligen Heimat nicht anerkannt werden.
Ich glaube, das sind zwei parallele Fälle, und es gehört auch zum Thema Vertreibung und Flucht,
({0})
dass wir die Integration gegenüber jüdischen Kontingentflüchtlingen genauso ernst nehmen wie gegenüber deutschstämmigen Spätaussiedlern.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Kurth für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch ich möchte mit persönlichen Familienerinnerungen beginnen, nämlich mit meinen eigenen.
Ich wurde in der DDR geboren, Frau Jelpke. Ihre Einlassungen dazu sind immer wieder interessant. Ich persönlich muss sagen, dass ich als Kind, das in der DDR
zur Schule gegangen ist, mit dem Thema Vertreibung
überhaupt nichts zu tun hatte. Ich kannte das gar nicht;
ich wusste überhaupt nichts davon. Ich war persönlich
nicht tangiert - dachte ich jedenfalls. Es wurde keine
Wissensvermittlung betrieben. Ich hatte zwar einen
Onkel, der wohl in der Tschechoslowakei, wie sie damals noch hieß, geboren war. Ich freute mich, dass er so
gut Deutsch konnte, wusste aber nicht, dass er tatsächlich Deutscher ist und welche Hintergründe das hat.
Ganz interessant ist, dass meine Großeltern ab und zu
von ihrem Dorf wenige Kilometer östlich der Oder sprachen. Kam ich also aus Polen? - Nun, diese Frage wurde
nicht thematisiert.
Ich muss sagen: Es ist ein bisschen beklemmend, zu
wissen, dass von meiner eigenen Familie - meine Großeltern standen während des gesamten Dritten Reiches als
Bauernfamilie auf dem Feld und wurden eigentlich nur
wenige Kilometer vertrieben -, die zu Beginn des Jahres
1945 noch aus fünf Familienangehörigen bestand, wenige Wochen später nur noch meine Großmutter und ihre
Mutter lebten. Ist es nicht beklemmend, zu wissen, dass
es unterlassen worden ist - auch staatlich reglementiert -,
zu fragen: „Warum? Woher? Wieso? Weshalb?“, und offen darüber zu sprechen - mit allem, was dazugehört,
zum Beispiel den Ursachen?
Warum haben wir nicht darüber gesprochen? Warum
fehlte mir das Wissen? Ich ahnte ja nicht, was dahinterstand. In der DDR war im Staatsbürgerkundeunterricht,
im Geschichtsunterricht, im Gesellschaftsunterricht oder
sonst wo nicht ein einziges Wort dazu zu vernehmen ({0})
nicht, weil es in der DDR-Bildungspolitik verschwiegen
worden ist, wie woanders möglicherweise, sondern weil
es schlichtweg untersagt war, Kenntnisse zu vermitteln.
({1})
Auch gesellschaftlich war das Thema Vertreibung
nicht etwa ein Tabuthema, wie das möglicherweise in
der Bundesrepublik in den 50er-Jahren gewesen sein
könnte, nein, es war in der DDR zum Teil bei Strafe verboten, sich zu dem Thema Vertreibung auszulassen. Die
SED hatte spätestens in den 50er-Jahren die Losung ausgegeben bzw. die klare Ansage gemacht:
Wer sich jetzt noch als Vertriebener bekennt, macht
sich der Volksverhetzung schuldig.
Diejenigen, die nach der Vertreibung im sowjetisch
besetzten Teil Deutschlands landeten, wurden, wenn sie
dazu sprachen, gewissermaßen als Staatsfeinde, Revanchisten oder Volksverhetzer bestraft. Das ging so weit,
dass sie nicht einmal „Vertriebene“ heißen durften
- Herr Minister, Sie haben es angesprochen -, sondern
verharmlosend „Umsiedler“ genannt worden sind.
Meine Damen und Herren, die Entwicklung nach
1990 zeigt, dass in der DDR diese Wunde, die man dort
mit aller Kraft zu überdecken versuchte, nicht geschlossen oder gar geheilt wurde; denn das Vertriebenenwesen
entwickelte sich dann auch in der ehemaligen DDR. Ich
will damit sagen: Dieses Vertreibungsumdeuteln im östlichen Teil Deutschlands, dieses staatlich verordnete
Schweigen, dieses Geschichtsverdrehen, diese Unaufrichtigkeit des Staates, diese Unehrlichkeit gegenüber
der eigenen Geschichte, diese Falschheit auch gegenüber
den östlichen Nachbarn stand im Gegensatz zu dem, was
in der Bundesrepublik gemacht worden ist:
({2})
nämlich ein Bundesvertriebenengesetz, das 60 Jahre
lang dazu beitrug, die Erinnerung aufrechtzuerhalten.
Ich sage ganz deutlich: Darauf kann und soll Deutschland auch stolz sein. Das ist ein guter Schritt gewesen.
({3})
- Wer von den Nazis im Vertriebenenverband spricht
und kein Wort darüber verliert, dass er Stasi-Leuten zu
Patrick Kurth ({4})
ihrer hervorragenden Geschichte gratuliert, der braucht
sich hier in der Debatte überhaupt nicht zu melden und
kann sich setzen - am besten in die letzte Reihe.
({5})
Meine Damen und Herren, ich will vor allen Dingen
nach vorne schauen. Auch mit dem Bundesvertriebenengesetz muss man nach vorne schauen. Vor allen Dingen
geht es um die Zukunft. Flucht und Vertreibung - auch
die deutsche Flucht und Vertreibung - sind eben kein
einmaliger Akt in der Geschichte. Das ist auch noch
nicht abgeschlossen. Es gab bzw. gibt seit hundert Jahren
überall auf der Welt - in Europa, auch in Deutschland Vertreibungen. Sie haben seither auch nicht aufgehört.
Mali, Darfur und Syrien sind ganz aktuelle Themen, die
auch uns in besonderer Weise betreffen. Deswegen ist
staatlich verordnetes Totschweigen oder Ähnliches an
dieser Stelle nicht geeignet, weil wir an anderer Stelle
natürlich eine klare Auffassung haben müssen.
Ich will abschließend vier Punkte nennen, auf die es
uns in der FDP, aber auch in der Koalition ankommt:
Erstens. Nie wieder dürfen Menschen ihrer Heimat
beraubt oder vertrieben werden - nirgendwo auf der
Welt. Nie wieder darf es Kollektivstrafen geben, weil es
auch keine Kollektivschuld gibt. Nie wieder darf das
passieren.
Zweitens. Nirgendwo darf die Vertreibung der Deutschen möglicherweise als Blaupause dienen oder vielleicht sogar als Rechtfertigung herangezogen werden,
wenn es um Vertreibungen in anderen Ländern auch in
aktueller Zeit geht. Das geht auf keinen Fall.
Drittens. Nie wieder darf das Unrecht der Vertreibung
von Menschen durch staatliche Stellen oder gesellschaftlichen Druck tabuisiert oder verschwiegen werden. Niemals wieder darf das offene Ansprechen von Flucht und
Vertreibung bestraft werden.
({6})
Viertens. Nie wieder darf es dazu kommen - ({7})
Nie wieder darf es dazu kommen, dass wie bei mir - ({8})
- Wieso hören Sie eigentlich auf zu reden, wenn ich Ihnen zuhöre, fangen aber an zu reden, wenn ich spreche?
Was ist denn das für eine Unhöflichkeit? Das ist eine
Garstigkeit hier im Hause! Das kann ja wohl nicht wahr
sein!
({9})
Also, letzter Punkt: Nie wieder darf es dazu kommen,
dass wie bei mir bewusst Wissen nicht vermittelt und
ganz bewusst Unwissen verbreitet wurde. Ziel war, so
viel wie möglich im Unklaren zu lassen.
Wir stehen hier vor einer großen Herausforderung.
Viele junge Leute bzw. Jugendliche haben keinen blassen Schimmer, wie man mit Vertreibung umgeht. Das
gesamte Haus steht hier vor einer großen Herausforderung; diese zu meistern ist unsere gemeinsame Aufgabe.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({10})
Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Ernst
Dieter Rossmann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Volkmar Gabert, der große sozialdemokratische bayerische Politiker und Präsident der Seliger-Gemeinde der
Sudetendeutschen, hat uns in diesem Zusammenhang
gemahnt, zum „Dialog über emotionale Gegensätze hinweg fähig zu sein“. Daran sollten wir uns, glaube ich,
auch in dieser Debatte orientieren.
Ich will Ihnen hier als Schleswig-Holsteinischer Abgeordneter zwei Zugänge zu dieser Frage - wir zollen
60 Jahren Bundesvertriebenengesetz ausdrücklich hohen
Respekt - vortragen.
Zunächst einmal aus dem Blick eines SchleswigHolsteiners. Schleswig-Holstein ist ein kleines Land, in
dem nach dem Krieg 50 Prozent der Menschen Vertriebene und Flüchtlinge aus Ostpreußen waren. Zugleich
befand sich in diesem Land der Kriegsverbrecher
Dönitz. 1955 setzten dann - damals war Kai-Uwe von
Hassel Ministerpräsident Schleswig-Holsteins; später
war er hier Parlamentspräsident - Konrad Adenauer und
der dänische Außenminister Hansen in den BonnKopenhagener Erklärungen ein erstes sichtbares Zeichen
für Aufarbeitung, Versöhnung und Anerkennung von
Minderheitenrechten. Schließlich ist Schleswig-Holstein
ein Bundesland, in dem drei der vier autochthonen
Minderheiten in Deutschland eine Heimstatt und Anerkennung gefunden haben. Dort wird jetzt auch mit einem
europäischen Institut in Flensburg ganz direkt darauf
abgehoben, zu untersuchen: Was heißt Respekt vor
Verschiedenheit und Minderheitenrechten im Europa der
Zukunft? - Das ist der eine Blickwinkel.
Ich komme zum anderen Blickwinkel. Herr Kauder,
ich möchte Ihnen - Sie haben hier Ihre Biografie vorgetragen - von der Biografie einer Person berichten, in deren Familie es keine Vertreibung gab. 1956/57 war ich
fünf bzw. sechs Jahre alt. Man merkte in zunehmendem
Maße, was eigentlich in der Nachbarschaft geschah. Es
gab da den Tischler Juderjahn aus Elbing, ein ungemein
fleißiger Handwerker. Das war seine Verbindung in die
Heimat. Da gab es den Bauern Schmidt aus einem ganz
kleinen ostpreußischen Ort, der mit seinem Rollwagen
jeden Tag 15 Kilometer hin und her fuhr, um irgendwo
zu melken. Natürlich gingen sie alle zu den Treffen der
Heimatvertriebenen. Sie kamen dorthin, weil sie sich mit
früheren Bekannten, mit Freunden treffen und mit ihnen
sprechen konnten. Sie waren nicht unbedingt deshalb
dort hingegangen, weil sie politische Kampfreden erwarteten und hören wollten. Ich habe deshalb den Tischler
Juderjahn und den Bauern Schmidt angesprochen, weil
sie etwas hatten, was sie auch vermitteln konnten, was
leider viele andere nicht hatten: Sie hatten die Fähigkeit,
zu trauern. Das war ihre große Leistung. Für diese Fähigkeit zollen wir diesen Menschen Respekt, in ihrem
persönlichen Erleben, aber auch in ihrem politischen Erleben, das sie eingebracht haben.
({0})
Den Grund für die Trauer - er wurde schon deutlich dargestellt - will ich nicht wiederholen. Aber ich will Ihnen,
Herr Kauder, eine kleine Bitte vortragen, dass nämlich
die Bemerkung von Otto Schily nicht so verstanden werden darf, als ob Willy Brandt, ein Sozialdemokrat, nicht
sehr viel dafür getan hätte, und das trotz aller Anfeindungen gegen seine Person, mit Weitblick, Beharrlichkeit und Mut dafür zu sorgen, dass Menschen zu ihrem
Menschenrecht auf Heimat, zu ihrem Menschenrecht auf
Frieden, zu ihrer Menschenpflicht auf Versöhnung kommen konnten. Den Sozialdemokraten Willy Brandt darf
man hier nicht vergessen
({1})
und darf ihn auch nicht zum Zwecke der Polarisierung
nutzen.
({2})
Dieses Gift der Polarisierung muss aus der Debatte herausgenommen werden, wenn wir die Debatte nach
vorne wenden wollen.
Der Bundesinnenminister hat die 60 Jahre Bundesvertriebenengesetz mit einem Antrag verbunden, eingebracht von CDU/CSU und FDP, in dem fünf Handlungsfelder geschildert werden: Integration der Flüchtlinge,
Integration der Spätaussiedler, Förderung der deutschen
Minderheiten, Pflege des kulturellen Erbes, früher eher
Pflege des Brauchtums, jetzt eher Pflege von Erkenntnis,
Verständnis und damit von Wissenschaft, und die weltweite Ächtung von Vertreibung.
Wir als Sozialdemokraten finden: Das kann eine Basis dafür sein, nach der positiven Geschichte von 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz nach vorne zu denken und
nach vorne Politik zu machen, und zwar durchaus in
einem Konsens. Ich möchte daran erinnern, dass es
Bundeskanzler Gerhard Schröder war, mit dem am
3. September 2000 das erste Mal in Berlin ein sozialdemokratischer Bundeskanzler auf einem Heimattreffen
der Vertriebenen sprechen konnte.
({3})
Er hat klare Worte in beide Richtungen gesprochen.
Es gab dann eine Fortsetzung mit einer sehr bemerkenswerten Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung am
3./4. September 2008, auf der die nachfolgende Bundeskanzlerin und Innenminister Schäuble herausgearbeitet
haben: Welche Pflicht erwächst aus der Geschichte? Was
ist in Zukunft die Aufgabe in Bezug auf Anerkennung
und Förderung von Minderheiten allgemein wie von
deutschen Minderheiten, aber auch die Aufgabe einer
Politik in Europa, die insgesamt Verschiedenheit und
Vielfalt von Minderheiten als Kriterium aufnimmt und
anerkennt? Wir finden es sehr gut, wenn diese Überlegungen nach vorne getragen werden.
Ich darf mir allerdings die Bemerkung erlauben: Wir
wissen, dass 60 Jahre Bundesvertriebenengesetz eine
große Sache sind, dass es aber mit diesem Bundesvertriebenengesetz nicht 60 Jahre so weitergehen kann;
vielmehr muss dieses Gesetz zu einem Gesetz der Versöhnung und der Respektierung von Verschiedenheit und
Vielfalt werden. Deshalb ist es gut, dass sich diese Entwicklung in Ihren Anträgen wiederfindet.
Ich will nicht weiter darauf eingehen, sondern nur
kurz sagen, weshalb wir uns bei der Abstimmung über
diesen Antrag enthalten werden. In diesem Antrag konnten Sie leider nicht darauf verzichten, an die unglückselige Debatte um 60 Jahre Charta zu erinnern. Kollege
Beck sprach schon von Ihrem fehlleitenden Vorschlag,
den 5. August zum Erinnerungstag zu machen. Aber Sie
haben eine Entwicklung durchgemacht. Diese geht dahin, dass jetzt der 20. Juni, der Weltflüchtlingstag der
UN, zu dem Tag werden soll, an dem wir das Flüchtlingselend politisch diskutieren und den wir mit der politischen Aufgabe verbinden, uns gegen Vertreibung
einzusetzen. Es ist auch gut so, dass das Dokumentationszentrum, wie es nach harten Diskussionen gemeinschaftlich getragen wird, diese Verbindung zwischen
Flucht, Vertreibung und Versöhnung herstellt. Das Wichtigste aber ist Versöhnung.
Ich darf an dieser Stelle noch eine Bemerkung und
eine Bitte an den Innenminister richten. Herr Friedrich,
Sie haben das sehr nüchtern und respektvoll vorgetragen
und müssen doch auch zu der von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Idee stehen, am 20. Juni an Vertreibung und Flüchtlingselend zu erinnern. Deshalb ist es
nicht so gut, wenn in Bayern noch versucht wird, statt
des 20. Juni wieder etwas Eigenes zu finden. Gerade
auch, weil Sie der Innenminister für das ganze Deutschland sind, dürfen wir nicht in die Verschiedenheit der ErDr. Ernst Dieter Rossmann
innerung verfallen. Ich spreche Sie direkt an, weil Sie in
beiden Bereichen politische Verantwortung mittragen.
Zum Schluss möchte ich - vielleicht ist das ungewöhnlich, aber ich sollte ja, wie Kollege Veit gesagt
hatte, etwas zu dem wissenschaftlichen und kulturellen
Hintergrund von Erinnerungsarbeit sagen - aus der Monografie des Historikers und Osteuropa-Vertreibungsforschers Andreas Kossert „Masuren. Ostpreußens vergessener Süden“ zitieren. Er schreibt im letzten Absatz
dieser profunden wissenschaftlichen Erinnerung - ich
darf zitieren, Herr Präsident -:
Das alte Masuren wird nicht wiedererstehen, aber
es scheint, als widerfahre den Masuren - nach einem Jahrhundert politischer Vereinnahmung - nun
erstmals historische Gerechtigkeit. Auch wenn es
die Masuren nicht mehr gibt: Endlich wird ihre
schwierige Lage zwischen Deutschen und Polen gewürdigt, endlich zollt man ihnen den Respekt, den
deutscher und polnischer Nationalismus ihnen stets
verwehrt haben.
Das ist der entscheidende Punkt: Respekt und Versöhnung für Vielfalt und Verschiedenheit. Geert Mak, der
große niederländische Publizist,
Herr Kollege.
- hat es so ausgedrückt: Im letzten Jahrhundert war
das erste halbe Jahrhundert das der Kriege und das
zweite halbe Jahrhundert das der Überwindung der
Kriegsfolgen. Er hat uns aufgegeben, das nächste Jahrhundert zu einem Jahrhundert der Versöhnung zu machen.
Wenn Respekt vor 60 Jahren Bundesvertriebenengesetz darin mündet, dass wir den Dialog über emotionale
Verschiedenheit hinweg zu Versöhnung führen können,
dann hat dieser Erinnerungstag auch im Parlament etwas
Gutes erbracht.
Danke schön.
({0})
Das Wort erhält nun Erika Steinbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Wortbeiträge haben eines deutlich gemacht: Es
gibt auch im Deutschen Bundestag viele Betroffene, die
zu denen gehören, deren Familien vertrieben worden
sind. Volker Kauder hat es sehr engagiert und emotional
geschildert. Es ist Tatsache, dass ein Viertel der deutschen Bevölkerung Vertriebene sind oder einen familiären Bezug zu dem Thema Vertreibung haben. Das macht
auch deutlich, welch gigantischer Vorgang das seinerzeit
gewesen ist und welche Aufgaben damit vor diesem
Lande gestanden haben.
Das Bundesvertriebenengesetz - es lohnt sich, dass
wir nach 60 Jahren daran erinnern - hatte den Sinn, den
Vertriebenen aus den östlichen Bereichen Europas, die
deutsch besiedelt waren, einen angemessenen Platz in
dieser Gesellschaft zu verschaffen. Es ging um die Versorgung mit den elementarsten Dingen. Es herrschte
wirklich bittere Not. Eben wurde Schleswig-Holstein angesprochen. Meine Mutter hat bis zu ihrem Lebensende
nie vergessen - wir sind über die Ostsee in SchleswigHolstein angespült worden -,
({0})
dass ihr, als sie etwas Milch für uns Kleinstkinder
brauchte, ein Bauer sagte: Ihr seid ja schlimmer als Kakerlaken. - Auf der anderen Seite sagte ihr ein Arzt, als
sie schwer verunglückte und ihm sagte: „Ich habe kein
Geld; ich kann das nicht bezahlen“: „Machen Sie sich
keine Gedanken! Das hole ich mir von den Bauern in
Schleswig-Holstein wieder.“
Es gab also so etwas und so etwas. Es gibt viele Geschichten und viele Schicksale, an die man erinnern
kann. Aber wichtig ist, dass wir gemeinsam diese
Extremsituation in Deutschland überwinden konnten.
Die Integration der vielen Heimatlosen war und ist eines
der Ziele dieses Gesetzes.
Das sind die ideellen Grundgedanken, die den Vertriebenen nicht mit bloßer Caritas, sondern in Solidarität
und Gleichberechtigung entgegengebracht werden sollten. Das unsichtbare Fluchtgepäck der Vertriebenen, wie
es die sudetendeutsche Dichterin Gertrud Fussenegger
nannte, ihr technisches Know-how, das handwerkliche
Können und die 700-jährige oder 800-jährige kulturelle
Erfahrung im Neben- und Miteinander mit den slawischen, magyarischen, baltischen oder rumänischen
Nachbarn: All das hat Deutschland nachhaltig geprägt.
Diese Erfahrungen, so wie sie sich hier in Deutschland
zusammengefunden haben, gibt es in dieser Verdichtung
in keinem anderen europäischen Land.
Aber es war auch das kulturelle Fluchtgepäck, das
mitgebracht wurde. Das war nichts, was sofort sichtbar
gewesen wäre, sondern es war etwas, was im Kopf und
im Herzen aus der Heimat hierher mitgetragen wurde. Es
war natürlich hörbar in den regionalen Mundarten, in
den Klangfarben. Das hat den Menschen die Integration
nicht unbedingt leichter gemacht. Wer in Bayern einen
ostpreußischen Dialekt hatte, für den war es bestimmt
nicht ganz einfach, kann ich mir vorstellen.
Das Gesetz machte und macht deutlich, dass das Kulturgut der Vertriebenen eine gesamtdeutsche Aufgabe
ist, ein unverzichtbarer Teil unserer deutschen Identität.
Man muss einfach einmal rekapitulieren: Das Erbe der
Karls-Universität in Prag hat unser Volk genauso geprägt
wie das der Universitäten Königsberg, Breslau, Dorpat,
Czernowitz einerseits oder Heidelberg, Tübingen, Mar31280
burg, München, Leipzig, Berlin andererseits. Das gehört
alles zusammen. Wenn man das ignorieren würde, hieße
das, geistige Wurzeln zu kappen. So war es schon sehr
weise, dass Bund und Länder der jungen Bundesrepublik
Deutschland mit diesem Gesetz die Verantwortung für
das gesamte kulturelle Erbe der Vertreibungsregionen
unabhängig von Grenzen und von staatlicher Zugehörigkeit hervorgehoben haben.
Dieser gesetzliche Auftrag ist geboren aus der Erkenntnis, dass es ein einheitliches, ein gemeinsames kulturelles Fundament gibt. Das müssen wir auch erkennen:
Die schönsten Seiten unseres Vaterlandes liegen doch in
unserem kulturellen Reichtum mit vielen unterschiedlichen Facetten und dem schöpferischen Geist, aus vielen
Jahrhunderten erwachsen und herausgebildet über Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei. All
das prägt uns, ist ein Teil von uns allen.
Vieles, was in den 1950er-Jahren sozial noch dringend und drängend gewesen ist, ist es gottlob heute nicht
mehr dank der Gemeinschaftsleistung, die die Vertriebenen, die Aussiedler und die Einheimischen gemeinsam
erbracht haben. Diese großartige Gemeinschaftsleistung
war und ist nahezu ein Wunder. Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hat die Integration der
Vertriebenen und der Flüchtlinge als die größte sozialund wirtschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die von
der jungen Bundesrepublik gemeistert worden sei. Dem
kann jeder zustimmen.
Diese Herkulesaufgabe konnte aus zwei Gründen gelingen.
Der erste Grund: Die Vertriebenen haben keine Rachegedanken kultiviert, sondern immer und immer wieder manifestiert, dass sie Verständigung wollen. Ich erinnere daran, dass der Bund der Vertriebenen mit seiner
Ausstellung „Erzwungene Wege“ die erste Institution in
Deutschland war, die im Kronprinzenpalais in Berlin an
das Schicksal der vertriebenen Polen und anderer Vertriebener in Europa erinnert hat. Dieser Verband war der
Vorreiter, als es darum ging, Anteil daran zu nehmen,
was anderen widerfahren ist, beginnend bei dem Genozid an den Armeniern.
({1})
Die Vertriebenen wollten immer Verständigung,
schon allein deshalb, weil damit ihre Heimat verbunden
war. Der Satz „Wir werden durch harte, unermüdliche
Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und
Europas“ war die Voraussetzung, dass auch die Integration gelingen konnte.
Der zweite Grund: Die Parteien der Bundesrepublik
Deutschland unterstützten die ersten zwei Jahrzehnte
praktisch einmütig die Anliegen der Vertriebenen und
waren sich ihrer Verantwortung sehr bewusst.
Frau Steinbach, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme gleich zum Schluss. - Es gab damals heftige Debatten bis zur Verabschiedung des Gesetzes, und
es wurde fast um jeden Paragrafen gerungen. Am Ende
stimmten alle zu. Wer nicht zugestimmt hat, das war die
Kommunistische Partei, die damals im Deutschen Bundestag gesessen hat.
({0})
Ihre Töne hier stehen in Kontinuität zu dem damaligen
Verhalten.
({1})
Ein Gedenktag zum Schicksal von Flucht und Vertreibung: Es hängt nicht am 5. August. Der 20. Juni ist genauso ein guter Tag; Hauptsache, dieser Gedenktag
kommt.
Danke.
({2})
Memet Kilic ist der nächste Redner für die Fraktion
der Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident Lammert! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem 60. Jahrestag des Bundesvertriebenengesetzes gedenken wir des Leides von
14 Millionen Menschen, die ihre Heimat verloren hatten.
Sie sind letztendlich zum Spätopfer von dem geworden,
was die Nazis angerichtet haben. Der 60. Jahrestag ist
nicht nur ein Grund zum Gedenken oder dafür, die Errungenschaften des Bundesvertriebenengesetzes zu feiern, sondern auch der richtige Zeitpunkt dafür, die rechtliche Grundlage zeitgemäß anzupassen.
Dieses Gesetz privilegiert Vertriebene mit deutscher
Abstammung im Vergleich zu anderen Einwanderern.
Beispielsweise werden Spätaussiedler aus Russland gegenüber anderen russischen Staatsbürgern bei der Einbürgerung und Anerkennung von Qualifikationen privilegiert, obwohl die Herkunft und Qualifikation exakt
dieselbe ist. Unter anderem wird auch bei der Einwanderung und der Rente zwischen diesen Gruppen unterschieden - und das allein wegen der Vorfahren. So eine
Unterscheidung ist nicht mehr zeitgemäß, meine Damen
und Herren.
({0})
Die Bundesregierung möchte den Nachzug von Familienangehörigen von Spätaussiedlern vereinfachen. Dazu
möchte die Bundesregierung eine Härtefallregelung einführen. Dieses Anliegen unterstützen wir.
Bereits im Jahr 2011 haben wir Grünen einen Änderungsantrag zu den geforderten Deutschkenntnissen eingebracht. Wir sind aber einen Schritt weiter gegangen als
die Bundesregierung. Wir haben gefordert, dass generell
keine Deutschkenntnisse mehr für den Nachzug gefordert werden.
({1})
Statt aber unserem Antrag zuzustimmen, haben Sie zwei
Jahre lang sozusagen auf dem Leid der Menschen gesessen und gewartet, damit Sie drei Monate vor der Bundestagswahl den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern
eine Aktion vorgaukeln können. Aber diese Menschen
haben die Nase voll von Ihren leeren Worthülsen, liebe
Koalitionsparteien!
({2})
Im Petitionsausschuss erreichen uns viele Petitionen,
in denen Familien ihr schweres Leid durch ungewollte
Trennungen vortragen. In vielen Fällen wird der Familiennachzug verwehrt, weil es an den erforderlichen
Deutschkenntnissen mangelt. Insbesondere älteren Menschen, Personen mit wenig Bildungserfahrung und Menschen aus strukturschwachen ländlichen Gebieten fällt
der Spracherwerb im Ausland oft sehr schwer. Diese Petitionen betreffen Spätaussiedler, aber nicht nur Spätaussiedler, sondern zum Beispiel auch die brasilianische
Ehefrau eines Deutschen. Die Menschen beklagen die
Härten einer jahrelangen Trennung, die das deutsche
Einwanderungsrecht ihnen zumutet.
Die Zeit ist gekommen, grundsätzlich zu prüfen, ob
so ein Gesetz mit dem Aufenthaltsgesetz verschmolzen
werden sollte. Solange diese Verschmelzung noch nicht
durchgeführt ist, müssen wir dafür sorgen, dass dieses
Gesetz zeitgemäß angepasst wird.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Brähmig für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Während der Bundestag heute über ein Gesetz debattiert, das vor 60 Jahren in Kraft getreten ist, kämpft
Deutschland weiter gegen das Hochwasser an. Wir verlieren dabei den Blick für die aktuellen Nöte der Menschen nicht aus den Augen. So bekräftigte Bundespräsident Gauck bei seinem kürzlichen Besuch in der schwer
geschädigten Stadt Halle, dass Deutschland ein solidarisches Land sei. Es ist dieser Zusammenhalt, der besonders uns Deutsche auszeichnet, und das ist ein Kernpunkt der jetzigen Debatte.
Meine Damen und Herren, gerade in diesen Zeiten
gilt es, an die Solidarität zu erinnern, mit der wir bereits
andere nationale Katastrophen bewältigt haben. Dafür
stehen die herausragenden Beispiele des Bundesvertriebenengesetzes von 1953 und des ihm vorausgegangenen
Lastenausgleichsgesetzes von 1952. Die vorbildliche
Leistung der Vertriebenen beim Wiederaufbau unseres
Landes möchte ich hierbei ausdrücklich würdigen. Es ist
eine einzigartige Erfolgsgeschichte.
Die Kriegsfolgenbewältigung war für den Deutschen
Bundestag und sämtliche Bundesregierungen stets ein
zentrales Anliegen, zu der vorrangig die Versöhnung und
Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus gehören. Dazu zählt auch die Solidarität mit
den Deutschen, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit ein
besonders schweres Schicksal erlitten haben. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion ist die einzige Fraktion, die
seit 1949 eine soziologische Gruppe eingerichtet hat, die
sich in der 17. Legislaturperiode neu aufgestellt hat. Die
Gruppe konnte ihre Mitgliederzahl verdoppeln und umfasst nunmehr 70 Abgeordnete. Wir erkennen damit
nach wie vor das Kriegsfolgenschicksal an, aus dem sich
eine Einheit aus Vertriebenen, Aussiedlern und deutschen Minderheiten ergibt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, unsere
Gruppe ist maßgeblich daran beteiligt, dass die Solidarität durch Hilfen bei der Eingliederung der 12 Millionen
Flüchtlinge und Heimatvertriebenen sowie der Aufnahme und Integration von bisher etwa 4,5 Millionen
Aussiedlern eingelöst wurde und wird.
Dass wir weiterhin zu der historisch-moralischen Verpflichtung nach Art. 116 Grundgesetz stehen, hat unsere
Koalition mit der neunten und zehnten Novellierung des
Bundesvertriebenengesetzes eindeutig unter Beweis gestellt. Beide Initiativen dienen der Vermeidung von Härtefällen bei der Familienzusammenführung von Spätaussiedlern. Hier hat sich das Amt des Beauftragten der
Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale
Minderheiten bewährt. Ich danke dem Parlamentarischen Staatssekretär Christoph Bergner und unserem
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich ganz herzlich
für die intensive Kooperation.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Koalition hat in dieser Legislaturperiode auch bei der Kulturförderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes
nachhaltig in den Erhalt und die Pflege des deutschen
Kulturerbes im östlichen Europa investiert. Der aktuelle
Bericht der Bundesregierung belegt dies faktenreich. Zudem hat der Wissenschaftsrat in einer Strukturuntersuchung im Januar 2013 festgestellt, dass die außeruniversitäre historische Osteuropaforschung, zu der die sogenannten 96er-Einrichtungen gehören, weltweit einzigartig ist und international hohes Ansehen genießt.
Es ist das große Verdienst von Staatsminister Bernd
Neumann, der übrigens aus Westpreußen stammt, dass
der Mitteleinsatz von knapp 13 Millionen Euro im Jahr
2005 auf jetzt 20 Millionen Euro angehoben wurde und
damit fast das Niveau von 23 Millionen Euro der letzten
christlich-liberalen Regierung im Jahr 1998 erreicht.
Erstmals hat unsere Gruppe alle nach § 96 geförderten Einrichtungen besucht und teilweise Modernisierungsbedarf festgestellt. Dies wird die Aufgabe der
kommenden Legislaturperiode sein. Wir haben uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass ein Sudetendeutsches
Museum in München entsteht, und wir werden uns außerdem dafür einsetzen, dass ein Museum für die Geschichte der Russlanddeutschen errichtet wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, das zentrale
Gedenkvorhaben der Bundesregierung in diesem Bereich - die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist jetzt auf einem guten Weg. Die Bundeskanzlerin hat
vorgestern mit dem Startsignal für den Baubeginn im
Deutschlandhaus einen weiteren Meilenstein zur Verwirklichung des Dokumentationszentrums gesetzt. Damit unterstreicht die Bundesregierung ihre besondere
Verantwortung für dieses wichtige Versöhnungsprojekt,
das der Initiative von Erika Steinbach und Peter Glotz zu
verdanken ist und welches von unserer Gruppe parlamentarisch begleitet wird.
Die öffentliche Reaktion auf den Baubeginn der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung hat erfreulicherweise gezeigt, dass wir in dem Erinnerungsdiskurs weitergekommen sind. So resümiert die Frankfurter Rundschau - ich zitiere -:
Es gibt wohl nur noch wenige, die die Relevanz einer Einrichtung bestreiten, die an die verheerenden
Vertreibungen vor, während und nach dem Zweiten
Weltkrieg erinnern soll. Im Kontext einer internationalen Genozidforschung wird inzwischen auch
dem Leid der deutschen Vertreibungsopfer Rechnung getragen, obwohl es ja gerade die Deutschen
waren, die den mörderischen Vertreibungswahn
auslösten und forcierten.
Meine Damen und Herren, es ist ebenso an der Zeit,
endlich die Versöhnung der Deutschen beim Thema
Flucht und Vertreibung mit sich selbst zu vollenden und
der Erlebnisgeneration noch eine Chance zu geben, ihren
Frieden schließen zu können. Daher sprechen wir uns
neben der rechtlichen auch für eine gesellschaftliche Anerkennung des Schicksals der Heimatvertriebenen aus,
getragen von einer breiten Zustimmung im Deutschen
Bundestag. Wir wollen außerdem, dass Vertreibung
weltweit geächtet wird.
({1})
Der bestehende Flüchtlingstag am 20. Juni soll daher
um das Gedenken an Heimatvertriebene erweitert und
auf nationaler Ebene begangen werden.
Die Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der
Grünen erinnere ich an ihre Äußerung zum Weltflüchtlingstag im Rahmen der Debatte im Jahr 2011 zu unserem Antrag „60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen“. Den Kolleginnen und Kollegen der SPDFraktion lege ich die Erklärung des Abgeordneten
Richard Reitzner zur Verabschiedung des Bundesvertriebenengesetzes ans Herz, der sagte, dass die sozialdemokratische Bundestagsfraktion dem Bundesvertriebenengesetz trotz Bedenken zustimme. Ich möchte aus dem
Plenarprotokoll vom 25. März 1953 zitieren. Richard
Reitzner sagte damals:
Bei ihrer Mitarbeit in den Ausschüssen und in der
zweiten und dritten Lesung ist die sozialdemokratische Bundestagsfraktion von der Absicht geleitet
gewesen, die Rechte der Heimatvertriebenen und
Sowjetzonenflüchtlinge konsequent wahrzunehmen.
Zum Abschluss möchte ich noch herzlich meinen
Kollegen Günter Krings, Hans-Peter Uhl, Patrick Kurth
und besonders Herrn Staatsminister Michael Link für die
vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Stephan Mayer,
ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir begehen heute das
60-jährige Bestehen des Bundesvertriebenengesetzes.
Ich glaube, man kann wirklich mit Fug und Recht behaupten: Das Bundesvertriebenengesetz war ein solides
und wesentliches Fundament für die erfolgreiche Integration von 8 Millionen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen, die in der damaligen Bundesrepublik Deutschland angekommen sind.
Die Voraussetzungen - das möchte auch ich noch einmal erwähnen - waren denkbar ungünstig. Es war in keiner Weise so, dass die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge willkommen waren. Ich weiß das auch von den
Schilderungen meiner Großeltern, die aus dem Sudetenland stammten. Die Heimatvertriebenen kamen in ein
Land, das materiell, ideell und moralisch am Boden lag.
Gerade die Bevölkerung in Bayern hungerte. Da war es
alles andere als angenehm, dass zusätzlich 3 Millionen
Heimatvertriebene kamen, die Arbeit, neue Chancen und
Perspektiven suchten und natürlich auch essen wollten.
1949 wollten 85 Prozent der Heimatvertriebenen wieder in die alte Heimat zurück. Selbst 17 Jahre nach dem
Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1962, wollten
52 Prozent der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in
die alte Heimat zurück. Es war noch Mitte der 50erJahre ein Drittel aller Heimatvertriebenen arbeitslos.
600 000 Heimatvertriebene waren Fürsorgeempfänger.
Man kann daher wirklich mit Fug und Recht behaupten:
Es ist eine Erfolgsgeschichte Deutschlands, dass die Integration von 8 Millionen Heimatvertriebenen in Westdeutschland erfolgreich funktioniert hat.
({0})
Auf diese Erfolgsgeschichte können alle stolz sein,
unabhängig davon, ob sie selbst einen Vertriebenenhintergrund haben oder nicht. Denn der Plan Stalins war
doch ein ganz anderer: Der perfide Plan Stalins war es,
dass die Heimatvertriebenen als Spaltpilz in der deutStephan Mayer ({1})
schen Gesellschaft wirken sollten. Ziel der Sowjetunion
war, dass die Heimatvertriebenen dazu beitragen sollten,
dass Westdeutschland kollabiert. Dass genau das Gegenteil eingetreten ist, dass die Heimatvertriebenen angepackt und entscheidend dazu beigetragen haben,
Deutschland wieder aufzubauen und unser Wirtschaftswunder zu ermöglichen, ist etwas, worauf alle stolz sein
können. Das ist ein herausragendes Kapitel unserer
Nachkriegsgeschichte.
({2})
Bedauerlicherweise war das Schicksal der 4 Millionen Heimatvertriebenen, die in die ehemalige DDR kamen, ein anderes. Deren Schicksal wurde unterminiert.
Sie wurden euphemistisch als Umsiedler oder Neubürger
bezeichnet. Jegliche Erinnerungs- und Trauerarbeit
wurde vermieden und ausgeblendet. Das, verehrte Kollegin Jelpke, ist unsäglich. Auch daran sollte man heute erinnern.
({3})
Der Bund hat durch die Mittel nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes maßgeblich dazu beigetragen, dass
die Pflege des kulturellen Erbes der Heimatvertriebenen
weiterhin ermöglicht wurde. Ich möchte an dieser Stelle
insbesondere allen Landsmannschaften und den Heimatgruppen für das, was sie in den vergangenen sechs Jahrzehnten geleistet haben, danken. Es ist eine herausragende Arbeit, die wirklich große Anerkennung und
höchsten Respekt verdient. Es war eine lebendige Kulturarbeit, die dazu beitrug, dass die Vertriebenenarbeit
nicht musealisiert wurde. Landesmuseen sind wichtig;
keine Frage. Sie sind eine wichtige Säule. Aber daneben
bedarf es auch einer lebendigen und aktiven Kulturarbeit
sowie einer aktiven Pflege des Brauchtums und der Traditionen. Dies wurde insbesondere durch die Vergabe
von Mitteln gemäß § 96 BVFG möglich.
Man muss an der Stelle auch erwähnen, meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen, dass sich ab 1998,
als Rot-Grün das Ruder übernahm, ein deutlicher Einbruch bei den sogenannten 96er-Mitteln vollzogen hat.
Der Titel der 96er-Mittel diente der rot-grünen Koalition
als Steinbruch und ist in den sieben Jahren rot-grüner
Regierungsverantwortung um sage und schreibe 45 Prozent gesenkt worden, von gut 23 Millionen Euro auf
knapp 13 Millionen Euro.
({4})
Umso erfreulicher ist es, dass es seit 2005 gelungen ist,
die 96er-Mittel sukzessive zu erhöhen. Sie betragen jetzt
20 Millionen Euro. Ich glaube, das kann sich sehen lassen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Es ist auch erfreulich, dass der lange und beschwerliche Weg zum Bau des Dokumentationszentrums der
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung jetzt erfolgreich abgeschlossen wurde. Ich darf hier sagen: Alle Bemühungen und alle Anstrengungen, so schwer und umfangreich sie auch waren, haben sich letzten Endes
gelohnt. Es ist schön, dass der offizielle Baubeginn am
Dienstag in Anwesenheit unserer Bundeskanzlerin zelebriert werden konnte. Ich glaube, es ist ein schönes
Signal, dass wir mit dem Dokumentations- und Begegnungszentrum in der Mitte Berlins eine Lücke der deutschen Erinnerungskultur schließen.
({6})
Ich verbinde mit der Grundsteinlegung und dem offiziellen Baubeginn die Hoffnung, dass dieses Zentrum als
Begegnungsstätte für die junge Generation dienen wird;
denn ich bin der festen Überzeugung, dass insbesondere
die Heimatvertriebenen und deren Nachkommen als
Brückenbauer fungieren können: Sie können Brücken
nach Osteuropa bauen und zu einer Verständigung mit
den jungen Menschen in den osteuropäischen Ländern
beitragen.
Ich möchte betonen, dass der Gedanke, dass das eine
Unrecht das andere Unrecht nicht rechtfertigt, wesentlicher
Bestandteil der Ausstellung im Begegnungszentrum sein
wird. Natürlich gab es schwerwiegende Naziverbrechen.
Aber auch ich möchte, weil es in der heutigen Debatte in
manchen Reden leider mit dem falschen Zungenschlag
begleitet wurde, betonen: Das eine Unrecht rechtfertigt
nicht das andere Unrecht.
({7})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, abschließend möchte ich hervorheben, dass es uns gelungen ist, eine zehnte Novellierung des Bundesvertriebenengesetzes voranzubringen. Wir schließen mit der
Verbesserung einer Härtefallregelung eine Lücke und ermöglichen damit, dass verbliebene Angehörige von
Spätaussiedlern jetzt ebenfalls nach Deutschland reisen
können. Da geht es nicht um 20- oder 30-Jährige, sondern um hochbetagte Menschen, die häufig krank oder
behindert sind und aufgrund dessen nicht Deutsch lernen
oder sprechen können. Wir sind zur Auffassung gelangt,
dass ihnen dies nicht zum Nachteil gereichen darf. Ich
möchte mich bei der FDP ganz herzlich dafür bedanken,
dass es jetzt noch möglich war, diese Änderung zu vollziehen. Wir setzen damit ein schönes Signal in Richtung
der Spätaussiedler und Aussiedler.
Herr Kollege.
Jetzt gibt es die Möglichkeit für noch ausstehende Familienzusammenführungen. Ein herzliches Dankeschön
dafür.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Thomas Strobl hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor zwei Tagen, am Dienstag, haben Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatsminister Bernd Neumann
den Beginn des Baus des Dokumentationszentrums der
Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Berliner
Deutschlandhaus an der Stresemannstraße eingeläutet.
Dieser Baubeginn ist im Hinblick auf die Erinnerungskultur in Deutschland ein bedeutendes Ereignis. Ich
möchte unserem Koalitionspartner und allen, die mitgewirkt haben und über viele Jahre und Debatten hinweg
einen langen Atem hatten, Danke schön sagen. Ich
möchte dem verstorbenen Sozialdemokraten Peter Glotz
und unserer Kollegin Erika Steinbach Dank sagen dafür,
dass wir den Baubeginn in dieser Woche vornehmen
konnten.
({0})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, mit der Verabschiedung des Bundesvertriebenengesetzes vor 60 Jahren haben sich Bund und Länder verpflichtet, Kultur und
Geschichte der Deutschen im östlichen Europa nicht
dem Vergessen preiszugeben. Jede Bundesregierung hat
sich dieser Aufgabe verpflichtet gefühlt. Diese Bundesregierung hat den Auftrag sehr ernst genommen und ihn
mit großer Überzeugung und Leidenschaft angenommen.
Seit der Übernahme der Regierung 2005 haben wir
die finanziellen Mittel für Pflege und Erhalt des Kulturguts Jahr für Jahr maßvoll erhöht. Der Etat des Kulturstaatsministers Neumann betrug 2006 13 Millionen Euro,
in diesem Jahr stehen mehr als 20 Millionen Euro zur
Verfügung, und das trotz aller Sparmaßnahmen und trotz
der Haushaltskonsolidierung. Das ist das Markenzeichen
dieser Regierung: auf der einen Seite Haushaltskonsolidierung und finanzielle Solidität und auf der anderen
Seite klare Schwerpunktsetzung dort, wo es uns wichtig
ist. Das haben wir in den letzten Jahren so gemacht, und
das wird eine unionsgeführte Bundesregierung in den
nächsten Jahren fortsetzen.
({1})
Für die Pflege und den Erhalt unseres kulturellen Erbes ist besonders das Angebot an junge Menschen wichtig. Jeder vierte Deutsche hat Wurzeln in den ehemaligen
deutschen Gebieten oder Siedlungsräumen, und die
nachfolgenden Generationen interessieren sich für das
Leben ihrer Vorfahren. Unsere Schwerpunktsetzung
spiegelt deshalb den Wunsch wider, Antworten gerade
auf die Fragen der jungen Generation zu geben.
Wir betreiben deshalb wissenschaftliche Nachwuchsförderung. Wir sind stolz darauf, den Wissensdurst der
Nachwuchswissenschaftler durch Stiftungs- und Juniorprofessuren, Projektförderprogramme und internationalen Austausch anfachen zu können. Die Resonanz auf
diese Angebote ist überwältigend. Die Anzahl hochwertiger Projektanträge übersteigt die Fördermöglichkeiten
bei weitem.
All das Wissen wäre aber fruchtlos, wenn es nicht
vermittelt werden würde. Deshalb stellt die Weitergabe
von gewonnenem Wissen den zweiten Förderschwerpunkt des § 96 BVFG dar. Die späteren Lehrer, Museologen, Theatermacher, Journalisten und Politikberater
sollen an den Universitäten mehr über das Kulturgut der
Deutschen im östlichen Europa erfahren, damit sie dieses Wissen weitertragen können.
Kultur und Geschichte der deutschen Minderheiten,
genauso wie Flucht und Vertreibung, werden in den
Schulen leider nur untergeordnet behandelt. Umso positiver ist die Nachricht, dass sich die Geschichtsmuseen
bei der jüngeren Generation einer wachsenden Beliebtheit erfreuen. Diesseits wie jenseits der heutigen Staatsgrenzen wächst gerade bei jungen Menschen das Interesse an der gemeinsamen europäischen Geschichte. Die
Modernisierung von Museen in Deutschland, aber auch
in den Herkunftsländern treiben wir deswegen mit Engagement voran.
Es gibt einen dritten Schwerpunkt. Wir unterstützen
mit unseren Mitteln auch in unseren Nachbarländern den
Erhalt deutschen Kulturguts; denn dort wächst ebenfalls
das Interesse am Erbe der deutschen Minderheiten, die
ihre Lebensräume nicht selten nachhaltig geprägt haben.
Mit der Restaurierung von Kulturdenkmälern oder der
Sicherung von Bibliotheken und Archiven stärken wir
darüber hinaus die Identität der heute noch dort lebenden
deutschen Minderheiten.
Wir als Union haben uns lange einen eigenen Gedenktag für die Vertreibung von 14 Millionen Deutschen
gewünscht. Wir sind fest davon überzeugt, dass die Versöhnung in Deutschland inzwischen so weit fortgeschritten ist, dass dem Schicksal von 14 Millionen Deutschen,
das sich als Folge des Zweiten Weltkrieges ergab, frei
von revisionistischen Gedanken gedacht werden kann.
Gleichzeitig sind wir uns unserer historischen Verantwortung bewusst. Wir wissen, etwa durch die Berichte
aus Syrien, dass solches Leid auch heute Millionen von
Menschen heimsucht.
Nicht alle unsere Wünsche sind in Erfüllung gegangen, aber es ist richtig, jetzt im Rahmen des internationalen Weltflüchtlingstages das Gedenken an die deutschen
Heimatvertriebenen zu begehen. Wir hoffen, dass sich
der Deutsche Bundestag mit einer breiten Mehrheit für
das Gedenken an die Vertreibung der Deutschen ausspricht. Das wäre neben dem Baubeginn des Dokumentationszentrums in dieser Woche ein schönes, parteiübergreifendes Geburtstagsgeschenk anlässlich 60 Jahre
Bundesvertriebenengesetz.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksa-
che 17/13883 mit dem Titel „60 Jahre Bundesvertriebe-
nengesetz - Erinnern an die Opfer von Vertreibung“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag angenommen
bei Zustimmung durch die CDU/CSU-Fraktion und die
FDP-Fraktion. Dagegen war die Fraktion Die Linke.
Enthalten haben sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
des Bundesrates zur Änderung des Bundesvertriebenen-
gesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13937, den Ge-
setzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/10511 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung angenommen. Die Fraktion Die Linke hat sich
enthalten. Dagegen hat niemand gestimmt. Alle übrigen
Fraktionen haben zugestimmt.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? -
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie vorher angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13777 an die Ausschüsse vorgeschla-
gen, die Sie in der Tagesordnung finden. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 o sowie
Zusatzpunkt 2 auf:
8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Festlegung nationaler Klimaschutzziele und zur Förderung des Klimaschutzes ({0})
- Drucksache 17/13757 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})-
Finanzausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf ({2}), Wolfgang Gunkel,
Ullrich Meßmer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Klimawandel gefährdet Menschenrechte
- Drucksache 17/13755 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3})-
Innenausschuss -
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend -
Ausschuss für Gesundheit -
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung -
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Dr. Hermann E. Ott, Hans-Josef Fell, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Emissionshandel stärken - Überschüssige Zer-
tifikate vom Markt nehmen
- Drucksache 17/13907 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Bärbel Höhn, Dr. Hermann E.
Ott, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erfolgreicher Klimaschutz braucht neue Maß-
nahmen
- Drucksache 17/13758 -
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Erneuerbare Energien und Energieeffizienz in
Entwicklungsländern
- Drucksache 17/13884 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Strategie für Klimaschutz im Verkehr vorle-
gen
- Drucksachen 17/4040, 17/7010 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Daniela Ludwig
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Ulrich Kelber, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Hermann E. Ott,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bangladesch bei der Bewältigung des Klima-
wandels unterstützen
- Drucksache 17/12848 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Ulrich
Kelber, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann E. Ott, Bärbel Höhn, Thilo Hoppe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Klimakonferenz Doha - Kein internationaler
Erfolg ohne nationale Vorreiter
- Drucksachen 17/11651, 17/12743 31286
Abgeordnete Andreas Jung ({0})-
Frank Schwabe-
Michael Kauch-
i) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Waltraud Wolff
({2}), Dr. Wilhelm Priesmeier, Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Herausforderung Klimawandel - Landwirtschaft 2050
- Drucksachen 17/1575, 17/4888 Buchstabe a Berichterstattung:Abgeordnete Johannes RöringWaltraud Wolff ({3})-
Dr. Edmund Peter Geisen-
Dr. Kirsten Tackmann-
j) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({4}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Dirk Becker, Ulrich Kelber,
Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Biomethan im Verkehrssektor fördern
- Drucksachen 17/3651, 17/8414 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Daniela Ludwig
k) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Ulrich
Kelber, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Ein nationales Klimaschutzgesetz - Verbindlichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der
Vorreiterrolle gerecht werden
- Drucksachen 17/3172, 17/13850 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({6})-
Dirk Becker-
Michael Kauch-
Eva Bulling-Schröter-
l) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({7}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Dirk
Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Nach Cancún - Europäische Union muss ihr
Klimaschutzziel anheben
- Drucksachen 17/5231, 17/13824 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({8})-
Dirk Becker-
Michael Kauch-
Eva Bulling-Schröter-
m) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({9}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Mit ambitionierten Verbrauchsgrenzwerten
die Ölabhängigkeit verringern
- Drucksachen 17/10108, 17/11846 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Oliver Luksic
n) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({10})
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Hermann E. Ott, Kerstin Müller ({11}),
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Initiative für transatlantische Kooperation in der Klima- und Energiepolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Hermann E. Ott, Viola von CramonTaubadel, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
China als wichtiger Partner im Klimaschutz
- Drucksachen 17/7356, 17/7481, 17/13930 Berichterstattung:Abgeordnete Andreas Jung ({12})-
Dirk Becker-
Michael Kauch-
Eva Bulling-Schröter-
o) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({13}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Daniela
Wagner, Oliver Krischer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energetische Quartierssanierung sozialgerecht voranbringen
- Drucksachen 17/11205, 17/13827 Berichterstattung:Abgeordnete Petra Müller ({14})
ZP 2 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) zu
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Grünlanderhalt ist Klimaschutz
- Drucksachen 17/11028, 17/13148 Berichterstattung:Abgeordnete Johannes RöringDr. Wilhelm PriesmeierDr. Christel Happach-KasanAlexander SüßmairCornelia Behm
Verabredet ist, hierzu eineinhalb Stunden zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort Renate
Künast für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir legen heute den Entwurf eines umfassenden Klimaschutzgesetzes für Deutschland vor. Ich muss sagen: Wir haben
nicht geahnt, wie dramatisch aktuell dieser Gesetzentwurf heute sein würde. Ich sage das, weil ich heute früh
im Radio gehört habe, dass zum Beispiel in Sachsen-Anhalt Dörfer evakuiert wurden, dass Familien, die gerade
noch das Essen für Helferinnen und Helfer in der Nähe
vorbereiteten, urplötzlich schnell eine Tasche packen
mussten, weil sie weg mussten.
Sonst erscheint Klimaschutz immer abstrakt. Man redet über das 2-Grad-Ziel oder die Reduktion des CO2Ausstoßes um 95 Prozent bis zum Jahr 2050. Das sind
alles abstrakte Zahlen. Aber am Ende und gerade jetzt ist
ganz entscheidend, ob das Haus noch steht, ob der Acker
noch fruchtbar ist, ob das Unternehmen noch funktionsfähig ist. Viele Menschen an der Donau, an der Elbe und
an anderen Flüssen erleben jetzt, was es heißt, wenn die
Natur nicht mehr beherrschbar ist, wenn zerstört wird,
was man sich erarbeitet hat.
Jetzt will ich gar nicht behaupten, dass jede Flut Folge
des Klimawandels ist; aber die Häufung der Wetterextreme, die Häufung von Dürren und Hochwasser, die
Tatsache, dass wir an der Elbe 2002, 2011 und 2013
Jahrhunderthochwasser hatten bzw. haben, das alles ist
die Folge des Klimawandels, der Klimaerwärmung; das
ist menschengemacht.
({0})
Wir alle sind von der Flut betroffen, und wir alle wollen mit aller Kraft beim Wiederaufbau helfen; das sage
ich ganz klar. Deshalb erwarte ich, dass die Kanzlerin
beim Treffen mit den Ministerpräsidenten heute Nachmittag nicht nur einen abstrakten Vorschlag für einen
Fluthilfefonds vorlegt. Ich erwarte, dass bei dem heutigen Treffen ein konkreter Vorschlag vorgelegt wird
({1})
hinsichtlich der hälftigen Aufteilung der Kosten von
8 Milliarden Euro zwischen Bund und Ländern. Ich erwarte aber auch - das sind Sie bisher schuldig geblieben -,
dass ein konkreter Plan vorgelegt wird, wie der Bund
seinen Anteil aus dem Haushalt finanzieren will und wie
der Bund den Ländern helfen will, damit sie ihren Teil
unter Beachtung der Schuldenbremse finanzieren können.
({2})
Ich sage Ihnen: Kommen Sie uns bitte heute nicht mit
einer Vertagung oder einem Verschieben, sondern machen Sie heute einen konkreten Vorschlag, damit wir bis
Ende nächster Sitzungswoche hier im Bundestag über
ein entsprechendes Gesetz entscheiden können.
({3})
- Die Länder werden auch zahlen.
({4})
Ich weiß, dass es da eine Menge Diskussionen gibt.
Trotz alledem muss der Bund an der Stelle den Ländern
helfen, es organisatorisch zu stemmen.
Aber das ist nicht die ganze Aufgabe. Die mindestens
so große Aufgabe heute - auch für diese Bundesregierung - ist es, dafür Sorge zu tragen, dass man nicht in einigen Wochen und Monaten wieder in den alten Trott zurückfällt. Der alte Trott hat bedeutet, dass seit Jahren viel
zu wenig für den Hochwasserschutz getan wurde; es
wurde genug geplant, aber zu wenig umgesetzt oder koordiniert.
An der Stelle will ich meine zweite Erwartung an
diese Bundesregierung klar formulieren. Wir wissen
- das ist die Lehre aus diesen Jahrhundertfluten -, dass
es nicht allein ausreichend ist, höhere Deiche zu bauen
und damit das Problem flussabwärts zu verlagern. Wir
brauchen Retentionsflächen, Auenwälder müssen renaturiert werden, wir brauchen ökologischen Hochwasserschutz. Wir brauchen eine Bundesregierung, die das
auch gezielt in die Hand nimmt und diese Aufgaben
nicht der Kleinstaaterei überlässt, meine Damen und
Herren.
({5})
Viele Pläne sind gemacht worden. Sachsen sollte zum
Beispiel seit 2002 über 500 Millionen Euro für Überflutungsflächen entlang sächsischer Gewässer ausgeben.
Von den 500 Millionen Euro sind am Ende nur 5 Millionen Euro wirklich ausgegeben worden. Die klare Forderung ist: Der Bund muss seiner Koordinierungsaufgabe
nachkommen. Wir brauchen einen Masterplan für ökologischen Hochwasserschutz, der zum Ziel hat, Flächenversiegelungen an den Flussoberläufen zu verhindern.
Der ökologische Hochwasserschutz muss in Zukunft
Priorität haben. Daran werden Sie gemessen.
({6})
Neben der Finanzierung, der Prioritätensetzung und
der Schaffung eines Masterplans für ökologischen Hochwasserschutz ist auch der Punkt wichtig - dieser ist Bestandteil des Gesetzentwurfs, den wir heute vorlegen -,
in Deutschland dafür Sorge zu tragen, dass es einen
Stopp beim Anstieg der CO2-Emissionen gibt. Wir müssen in den nächsten Jahrzehnten zu einer umfassenden
Reduzierung kommen. Diese Bundesregierung hat gesagt: 40 Prozent CO2-Reduzierung bis 2020 ist ein sinnvolles Ziel. - Aber es ist dann bei der Zielformulierung
geblieben. Wo sind die Taten?
({7})
Da wird der Emissionshandel an die Wand gefahren,
dicken Autos soll weiterhin Vorfahrt gewährt werden so werden wir die angestrebte Reduzierung um 40 Prozent nicht erreichen. Ich sage Ihnen klar: An den Taten,
nicht an den Worten werden Sie, werden wir gemessen.
({8})
Es reicht nicht aus, sich selbst zur Klimakanzlerin zu deklarieren oder - wie Altmaier - noch einen neuen Club
der Energiewende-Staaten zu gründen.
Heute steht auf der Tagesordnung ein nationales Klimaschutzgesetz, ein konkretes Instrument, das wirklich
zeigt, wie man die Reduktion um 40 Prozent erreichen
kann, und das ganz eindeutige Sektorziele für Strom,
Wärme, Verkehr, Landwirtschaft und Abfallwirtschaft
nennt. Einen solchen Klimaschutz sind wir den Menschen schuldig, die jetzt unter dem Hochwasser leiden,
genauso wie wir es nachfolgenden Generationen schuldig sind.
({9})
Deshalb will ich kein weiteres Gerede. Ich will auch
nicht, dass es demnächst wieder heißt: Ach, Klimaschutz, das führt wieder zu Belastungen im Alltag. - Ja,
wir werden anders produzieren, anders transportieren,
anders leben, anders wohnen und uns in Zukunft anders
ernähren müssen. Wir haben die Aufgabe, klar zu sagen:
Nur wenn wir diese Änderungen vornehmen, wenn wir
den Klimaschutz durch einen Lebens- und Produktionswandel vorantreiben, wenn wir schädliche Subventionen
abbauen und endlich auf Effizienz und Erneuerbare setzen, können wir wirklich Klimaschutz betreiben und den
Versuch unternehmen, Hochwasser, wie wir es gerade
erleben, zu verhindern.
({10})
Ich sage auch: Wir brauchen nicht nur verlässliche
Reduktionsziele, die die Energiewende begleiten, sondern wir brauchen natürlich auch Planungssicherheit für
die Wirtschaft, damit klar ist, wo der Weg langgeht.
In diesen von mir genannten Bereichen müssen wir
jetzt tätig werden. Wir müssen es endlich anpacken mit
einem Klimaschutzgesetz, durch das die Lasten fair verteilt werden.
Frau Kollegin.
Ich sage Ihnen als letzten Satz: Wann, wenn nicht in
diesen Tagen, erwarten die Menschen zu Recht von uns,
dass es jetzt endlich mit dem Klimaschutz losgeht?
({0})
Andreas Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir alle verfolgen mit Betroffenheit die Bilder aus den
Hochwassergebieten. Deshalb ist jetzt die Stunde, den
betroffenen Menschen, die in Not sind, zu helfen. Das
tut die Bundesregierung. Dafür hat sie die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
({0})
Das ist das, was jetzt getan werden muss. Natürlich
geht es auch darum, die Konsequenzen aus dieser Situation zu ziehen und zu fragen: Wo kann man noch mehr
für Hochwasserschutz tun? Was muss in Abstimmung
von Kommunen, Ländern und Bund noch mehr auf den
Weg gebracht werden? Ich glaube, es ist eine gemeinsame Aufgabe, dieses Thema anzugehen und dafür zu
sorgen, dass wir das nächste Mal besser auf solch ein
Hochwasser vorbereitet sind.
Man kann nicht bei jeder Flut - was die Kollegin
Künast zu diesem Punkt gesagt hat, ist selbstverständlich
richtig - eine Kausalität zum Klimawandel herstellen,
aber Fakt ist, dass uns die übergroße Zahl der Wissenschaftler sagt, dass es einen Zusammenhang gibt und
dass wir durch den fortschreitenden Klimawandel immer
mehr extreme Wetterereignisse haben und sich solche
Fluten häufen. Deshalb ist selbstverständlich eine Konsequenz aus dieser Katastrophe, dass wir gemeinsam den
Klimaschutz entschieden weiter voranbringen wollen.
({1})
Ich würde nur Ihrer Wortwahl widersprechen, Frau
Kollegin, wenn Sie sagen, dass wir jetzt endlich anfangen müssen. Deutschland hat schon lange mit Klimaschutz angefangen.
({2})
Andreas Jung ({3})
- Auch mit Ihnen. - Wir sind über unterschiedliche Bundesregierungen hinweg, ungeachtet der jeweiligen parteipolitischen Farbe, Vorreiter im Klimaschutz in Europa
und international.
Sie haben außerdem gesagt, dass es Ihnen nicht um
Worte geht, sondern um Taten und Fakten. Deshalb beginnen wir einmal mit den Fakten. Deutschland hat sich
im Kioto-Protokoll zu einem ehrgeizigen Ziel verpflichtet, nämlich bis 2012 die CO2-Emissionen um 21 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Damit haben wir uns
zu mehr verpflichtet als andere, und wir haben diese Verpflichtung nicht nur erfüllt, sondern wir haben sie übererfüllt.
({4})
Mit minus 25 Prozent haben wir mehr erreicht, als wir
uns vorgenommen hatten. Ich finde, da sollte man nicht
meckern, sondern man sollte sich gemeinsam darüber
freuen.
({5})
Die nächste Frage ist natürlich, wie wir jetzt darauf
aufbauen können. Es ist doch auch wahr, dass wir über
alle Bundesregierungen hinweg mit allen Parteien gemeinsam für ein international verbindliches Abkommen
geworben haben bzw. werben, bei dem alle, die USA,
China und andere Partner, mit ins Boot kommen und in
dessen Rahmen wir global diese auch nur global zu lösende Frage angehen und sagen: Ja, international machen wir engagierten Klimaschutz und gehen voran.
Es ist doch richtig - Sie haben den Club der Energiewende-Staaten angesprochen -, auf diesem Weg Partner
um sich herum zu sammeln und Verbündete zu finden.
Deshalb begrüßen wir es, dass Peter Altmaier einen Club
der Energiewende-Staaten gegründet hat und alle die mit
ins Boot geholt hat, die mit uns gemeinsam diesen Weg
gehen wollen. Das ist doch ein Fortschritt.
Sie haben einen Antrag in den Bundestag eingebracht,
in dem Sie sagen: Für die Klimapolitik müssen wir eine
Partnerschaft mit China aufbauen und verstärken. - Da
ist es doch ein Fortschritt, dass China sich bereit erklärt
hat, diesem Club beizutreten.
({6})
Andere Staaten, von denen man es nicht unbedingt erwartet hätte, sind ebenfalls beigetreten. Deutschland ist
hier führend, Deutschland drängt auf ein solches Abkommen. Ein solches Abkommen ist wichtig, auch als
Konsequenz aus der aktuellen Situation.
({7})
Kommen wir zum Emissionshandel. Ich gebe Ihnen
recht: Beim Emissionshandel müssen wir mehr machen
als bisher.
({8})
Wir müssen die Geburtsfehler des Emissionshandels beheben. Es ist richtig, wenn der Bundesumweltminister
fordert - das ist auch meine Position -, den Backloading-Vorschlag der Europäischen Kommission zu unterstützen.
({9})
Als Ultima Ratio brauchen wir einen Eingriff in den
Emissionshandel.
Die Opposition weist darauf hin, dass in der Regierung über Backloading noch diskutiert wird. Wahr ist
doch aber auch: Dort, wo Ihre Parteien Verantwortung
tragen - im Bundesrat -, führen Sie die gleichen Diskussionen.
({10})
Der Wirtschaftsminister der rot-grünen Regierung in
Nordrhein-Westfalen hat die Europaabgeordneten der
SPD angeschrieben und sie aufgefordert, gegen Backloading zu stimmen.
({11})
- Ja; aber das zeigt doch, dass Sie dieselben Diskussionen führen.
({12})
Ich finde, dass diejenigen, die hier vorangehen wollen, sich gemeinsam dafür einsetzen sollten, dass wir
beim Emissionshandel einen Durchbruch schaffen; dafür
werbe ich. Diesen Durchbruch wollen wir. Ich bin nämlich sicher: Wer eine strukturelle Reform des Emissionshandels jetzt verhindert, wird damit das marktwirtschaftlichste Instrument der Klimapolitik beschädigen und am
Ende irgendetwas bekommen, was er überhaupt nicht
will. Dann wird Ordnungsrecht herauskommen, dann
werden CO2-Steuern herauskommen, wie sie hier von einigen gefordert werden.
({13})
Deshalb müssen wir die Grundlagen dafür schaffen, dass
der Emissionshandel dauerhaft erfolgreich bleibt. Das
will Peter Altmaier, und dabei unterstützen wir ihn.
({14})
Herr Kollege, Frau Bulling-Schröter würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen? - Bitte schön.
Danke schön. - Kollege Jung, ich weiß, dass Sie sehr
für Backloading sind. Wir haben im Umweltausschuss
lange über dieses Thema diskutiert und eine Anhörung
dazu durchgeführt. Nächste Woche Mittwoch wird eine
weitere Anhörung dazu stattfinden, obwohl dieses
Thema im Umweltausschuss im Grunde ausdiskutiert
ist; denn die Mehrheit steht hinter dieser Forderung. Da
Anträge im Zusammenhang mit dieser Anhörung nicht
mehr abgestimmt werden können und laut Koalition
auch nicht mehr abgestimmt werden sollen, können wir
jetzt nicht mehr agieren. Wir müssten aber schnell handeln. Haben Sie einen Vorschlag, wie wir es schaffen,
gemeinsam schnell zu handeln?
Frau Kollegin, Sie weisen darauf hin, dass es im Umweltausschuss - auch in meiner Fraktion - die ganz klare
Auffassung gibt, dass Backloading geeignet ist, den
Emissionshandel zu verbessern. Wir alle wissen aber,
dass die strukturelle Reform des Emissionshandels, die
wir brauchen, allein mit Backloading nicht zu erreichen
ist. Wir müssen darüber hinausgehen und fragen: Welches waren eigentlich die Geburtsfehler des Emissionshandels, und wie können wir diese Geburtsfehler jetzt
beheben?
Die Kanzlerin hat einen Pflock dazu eingeschlagen.
Sie hat darauf hingewiesen: Als damals der Emissionshandel eingeführt wurde, hatte man eine bestimmte
Entwicklung des Wirtschaftswachstums vor Augen. Ausgehend von der Erwartung eines positiven Wirtschaftswachstums wurde auch die Verteilung der Emissionszertifikate vorgenommen. Diese Erwartung hat sich,
wie wir alle wissen, nicht erfüllt: Durch die Wirtschaftskrise kam es in Europa zur Rezession. Das führte dazu,
dass es ein Überangebot dieser Zertifikate auf dem
Markt gibt.
Der beschriebene Mechanismus wurde in den rechtlichen Grundlagen des Emissionshandels allerdings nicht
berücksichtigt. Deshalb gilt es jetzt, zu prüfen, was es
für den Emissionshandel bedeutet, dass sich das Wirtschaftswachstum anders als erwartet entwickelt hat und
welche Konsequenzen wir ziehen müssen: welche Regelungen wir ändern müssen und welche neuen Weichen
wir stellen müssen.
Das ist eine Frage, über die wir uns im Umweltausschuss schneller einigen können als im Bundestag insgesamt. Gesetze, Initiativen, Anträge können aber nur vom
Bundestag insgesamt beschlossen werden. Deshalb
glaube ich, dass es richtig ist, dass wir diese Frage im
Umweltausschuss noch einmal aufgreifen und Experten
anhören und ihren Rat einholen, um herauszufinden, was
wir machen können, um die Strukturen des Emissionshandels umfassend zu reformieren.
({0})
Damit komme ich zu einem weiteren Thema. Wir haben nicht nur den Emissionshandel, sondern haben gemeinsam im Konsens die Energiewende beschlossen. Es
gilt, diese zum Erfolg zu machen, wegen des Klimaschutzes, aber auch wegen der wirtschaftlichen Perspektiven, die dahinterstehen. Deshalb müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien konsequent fortführen,
den Ausbau noch effizienter gestalten und beim Netzausbau und den Speichertechnologien vorankommen.
Ich bin froh, dass wir bei der Energieforschung einen
Schwerpunkt genau auf diese Bereiche gelegt haben, um
uns mit neuen Technologien dieser Herausforderung
noch besser stellen zu können.
Auch die Bundeskanzlerin hat gestern ganz klar gesagt - darüber bin ich froh -, dass wir über die Förderung der erneuerbaren Energien sprechen müssen und
die Frage stellen müssen, wie wir den Ausbau der Erneuerbaren und die Preisentwicklung in Einklang bringen.
Sie hat dabei zwei Festlegungen getroffen: Sie hat erstens gesagt, dass es keine rückwirkenden Eingriffe geben wird. Das ist richtig, weil so die Vertrauensgrundlage für den zukünftigen Ausbau erhalten wird. Sie hat
zweitens gesagt, dass es bei dem Einspeisevorrang der
erneuerbaren Energien bleiben wird. Das ist die Grundlage für einen erfolgreichen Ausbau. Daran wird unsere
Fraktion auch in Zukunft mitarbeiten. Wir wollen dieses
Projekt zum Erfolg machen.
Frau Kollegin Künast, Sie haben gerade gesagt, dass
wir dicken Autos Vorfahrt gewähren würden. Dazu will
ich sagen: Wir stellen doch gerade mit unserer Initiative
für Elektromobilität die Weichen für nachhaltige Mobilität.
({1})
Wir haben in dieser Legislaturperiode mehr als 1 Milliarde Euro für Forschung eingesetzt, um die entscheidenden Fragen zu lösen,
({2})
die Antriebstechnologien und die Batterietechnik zu verbessern. Mit all dem soll die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass wir unsere Autos in Zukunft nicht
mehr mit Öl, Diesel oder Benzin betreiben, sondern mit
Ökostrom.
Ökostrom ist das Benzin von morgen. Das ist unsere
Leitlinie. Deshalb arbeiten wir in den unterschiedlichen
Sektoren, die auch Sie angesprochen haben, dafür, dass
wir den Klimaschutz voranbringen und die Energiewende ein Erfolg bleibt.
Vielen herzlichen Dank.
({3})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ulrich Kelber das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ja, nicht jede Dürre, nicht jeder Sturm, nicht
jede Flutkatastrophe ist Folge des Klimawandels. Ein
solcher Erklärungsversuch wäre wirklich viel zu einfach.
Aber wir wissen, dass der Klimawandel Wetterextreme
begünstigt, insbesondere bei Niederschlägen.
Wir sehen gerade wieder an der Elbe, an der Donau
und an deren Zuflüssen, welche Bedrohung, welche Krisen, welche gefährlichen Zustände ein solches Hochwasser schon in einem Industriestaat mit sich bringt. Ich
weiß, dass ich im Namen aller rede, wenn ich deutlich
mache, dass wir dort natürlich als Gesamtgesellschaft
helfen werden. Der Dank gilt all jenen, die als freiwillige
und hauptamtliche Helfer in den von Hochwasser betroffenen Gebieten im Einsatz sind.
({0})
Erlauben Sie mir, dass ich als Bonner Abgeordneter
einen besonderen Gruß den weit über 100 Bonner Freiwilligen von Freiwilliger Feuerwehr, Technischem
Hilfswerk, DLRG und anderen Rettungsorganisationen
schicke, die in mehreren Bereichen in Sachsen-Anhalt
im Einsatz sind.
Aber wenn wir schon sehen, welche Folgen solche
Katastrophen in einem Industriestaat mit bestehender Infrastruktur und einem gewissen Wohlstand haben, dann
ist natürlich umso ersichtlicher, was das für Afrika, Teile
Asiens oder Lateinamerikas bedeutet. Dort gefährdet der
Klimawandel alle Errungenschaften, die wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Kampf gegen Armut und
Hunger erreicht haben. Dort ist der Klimaschutz eine
Frage von Leben und Tod. Deswegen braucht Klimaschutz einen langen Atem. Jahrelanges konsequentes
Handeln darf nicht zugunsten anderer Themen, die gerade in Mode sind, aufgeschoben werden, wie es teilweise heute passiert.
({1})
Deutschland, Europa und die Welt brauchen eine neue
Entschlossenheit in der Klimapolitik. Die SPD setzt sich
für ein verbindliches nationales Klimaschutzgesetz mit
klar definierten Zwischenzielen ein, an denen wir die Instrumente des Klimaschutzes ausrichten können. Damit
können wir nicht nur über Etiketten, sondern auch über
Maßnahmen sprechen, mit denen diese Ziele erreicht
werden können. Die unabhängige Begutachtung der
Maßnahmenpakete der Bundesregierung, die zeigt, dass
wir das Klimaschutzziel für 2020 mit dem bisher Unternommenen nicht erreichen werden, sollte doch alle
Alarmglocken klingeln lassen.
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, sich
ohne Wenn und Aber, ohne Hintertüren und ohne Tricks
zu dem deutschen Klimaschutzziel zu bekennen, den
Ausstoß von Treibhausgasen bis 2020 um wenigstens
40 Prozent zu reduzieren, und das bei der EU als deutschen Beitrag anzumelden, damit es dort möglich ist, das
europäische Klimaschutzziel auf eine Minderung von
30 Prozent zu verbessern. Das brauchen wir dringend
vor der Klimakonferenz in Polen.
({2})
Aktuell ist es aber so, dass Deutschland im Klimaschutz zurückfällt. Die Treibhausgasemissionen Deutschlands sind 2012 wieder gestiegen, übrigens schneller als
das Bruttoinlandsprodukt. Das war nicht gemeint, als wir
von der Entkoppelung der Treibhausgasemissionen vom
Wirtschaftswachstum gesprochen haben. Damit war das
genaue Gegenteil angestrebt.
Deutschland ist in der Europäischen Union nicht bei
seiner Vorreiterrolle geblieben, die wir, unabhängig von
Parteigrenzen, einmal entwickelt hatten, sondern hat bei
der Energieeffizienz gebremst und bremst jetzt bei den
Klimaschutzzielen, indem diese nicht nach Brüssel
gemeldet werden. Die Bundesregierung versucht, den erneuerbaren Energien den Schwarzen Peter für Preissteigerungen zuzuschieben, um vom eigenen Missmanagement abzulenken. Das ist die Realität, mit der wir heute
konfrontiert sind.
({3})
Herr Kollege Jung, es war für Sie ungewöhnlich,
beim Emissionshandel einen Versuch des Angriffs zu
starten. Alle SPD-Europaabgeordneten haben im Europaparlament der Reparatur des Emissionshandels über
Backloading zugestimmt. Wenn nur wenigstens ein Viertel der CDU-Europaabgeordneten dem auch zugestimmt
hätte - sie haben nämlich fast geschlossen dagegen gestimmt -, hätten wir eine Mehrheit im Europäischen Parlament gehabt.
({4})
Es ist doch unsinnig, dass die CDU-Vorsitzende es jetzt
fordert. Als aber darüber abgestimmt wurde, hat sie nicht
mit ihren Abgeordneten gesprochen. Sie hätte nur ein
Viertel ihrer eigenen Leute überzeugen müssen. Das
wäre besser gewesen.
({5})
Deutschland hat mit seiner Vorreiterrolle immer auch
eine Vorbildfunktion gehabt. Es ist doch so: Wenn wir
zeigen, dass Klimaschutz und wirtschaftlicher Erfolg zusammengehören, wenn wir zeigen, dass Klimaschutz
und damit eine verbindliche und langfristig verlässliche
Klimapolitik gut für die Wirtschaft ist, weil neue Dienstleistungen und neue Produkte neue Jobs entstehen lassen, weil so alle Wirtschaftsleistungen effizienter
werden und somit unabhängiger von teurer werdenden
Ressourcen, dann überzeugen wir auch andere. Dies ist
natürlich auch gut für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Wenn der Energieverbrauch sinkt, wenn die
Reparaturkosten für die Schäden des Klimawandels sinken, dann ist das die beste Chance, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher langfristig bezahlbare Energierechnungen erhalten.
Alles das war schon einmal gemeinsame Einsicht im
Deutschen Bundestag, aber zumindest Teile davon hat
die Bundesregierung anscheinend vergessen. Für Merkel
ist Klimaschutz ein Modethema; es findet im Augenblick nicht mehr statt. Im Zweifelsfall lieber gegen den
Klimaschutz und für kurzfristige Interessen!
Wirtschaftsminister Rösler hat den Klimaschutz und
den Kampf gegen erneuerbare Energien zum Identifikationsthema seiner Partei gemacht, um sich von allen anderen abzusetzen. In der EU gilt er schon als „Mister
Njet“: Egal was ansteht: Es folgt ein Nein, um zu blockieren.
Bleibt der Umweltminister, der seine Aufgabe zumindest beim Klimaschutz ein wenig falsch verstanden hat.
Ein deutscher Umweltminister kämpft mit all seiner
Kraft, mit seinem Einfluss und seiner Zeit in Brüssel dafür, dass Autos in Europa auch nach 2025 noch viel Benzin verbrauchen und viele Treibhausgase ausstoßen dürfen. Ich glaube, das stand vor einem Jahr nicht in der
Arbeitsplatzbeschreibung des Umweltministers. Lieber
Peter Altmaier, so darf es in Deutschland nicht bleiben;
wir brauchen einen neuen Anlauf in der Klimapolitik.
Vielen Dank.
({6})
Michael Kauch hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte zunächst einmal meinen Dank an die Helferinnen und Helfer aussprechen, die in den Hochwassergebieten wirklich unermüdlich dafür kämpfen, dass
möglichst wenig Schaden für Mensch und Eigentum entsteht. Das ist ein toller Einsatz, den der Deutsche Bundestag anerkennt und für den wir ganz herzlich danken.
({0})
Ich begrüße es auch, dass die Bundesregierung klargemacht hat: Wir werden den Flutopfern unbürokratisch
helfen. Darauf haben sie einen Anspruch, und diesen
Anspruch wird diese Bundesregierung erfüllen.
Es ist schon angesprochen worden, dass die Wetterextreme durch den Klimawandel zunehmen werden.
Man kann zwar nicht jedes Hochwasser auf den Klimawandel zurückführen. Aber wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es eben nicht nur nötig sein wird, Klimaschutz zu betreiben. Wir müssen auch die Anpassung an
den Klimawandel in Deutschland zu einem größeren
Thema machen. Das ist nicht nur ein Thema für Bangladesch, an das wir immer denken, wenn wir Überflutungen sehen; dazu kommt es durch das Wasser aus dem Himalaja. Nein, das ist auch ein Thema für Deutschland.
Deshalb hat diese Bundesregierung in dieser Wahlperiode einen Aktionsplan zur Anpassung an den Klimawandel vorgelegt. Dieser Aktionsplan befindet sich in
der Umsetzung. Dabei geht es um Hochwasserschutz,
aber auch um viele andere Themen, zum Beispiel um
eine klimagerechte Stadtentwicklung - dazu haben wir
im Bundestag einen Gesetzentwurf durchgesetzt -, um
mehr Widerstandsfähigkeit von Verkehrsinfrastrukturen
und um solche Dinge wie die Umgestaltung der Bundesforsten hin zu stabileren Mischwäldern.
All das wurde auf den Weg gebracht. Wir sind noch
nicht am Ende, vieles könnte schneller gehen. Ich
glaube, dies erfordert die Unterstützung des ganzen Hauses. Wir, Bund, Länder und Kommunen, sollten diese
Schritte gemeinsam angehen, um uns für extreme Wettersituationen besser zu wappnen.
({1})
Meine Damen und Herren, für den Klimaschutz waren es vier gute Jahre. Wir haben unsere Verpflichtungen
gemäß dem Kioto-Protokoll zur Reduktion der Emissionen übererfüllt. Wir, die christlich-liberale Koalition,
haben ein einseitiges Reduktionsziel von 40 Prozent beschlossen und hier im Deutschen Bundestag verabschiedet. Deshalb, lieber Herr Kelber, brauchen wir hier überhaupt keine Nachhilfe von der Opposition.
({2})
Es war diese Koalition, die die Energiewende beschlossen hat.
({3})
Das war und ist das Leitprojekt für den Klimaschutz in
Europa. Andere Länder schauen auf uns, um zu sehen,
wie wir es in unserem hochindustrialisierten Land schaffen, dieses große Projekt ohne Wohlfahrtsverluste zu
stemmen. Hier sind wir auf einem guten Weg. Es ist
noch viel zu tun, aber wir werden das gemeinsam schaffen.
({4})
Nachdem mittlerweile jede vierte Kilowattstunde
Strom Ökostrom ist, geht es jetzt darum, dass wir das
System insgesamt umgestalten: hin zu mehr Produzentenverantwortung, hin zu besseren Netzen, aber eben
auch hin zu besserer Bezahlbarkeit dessen, was wir klimapolitisch wollen.
Zum Bereich Gebäudesanierung. Die Bundesregierung hat das CO2-Gebäudesanierungsprogramm auf stabile finanzielle Füße gestellt. Aus einem kurzzeitigen
Konjunkturprogramm wurde ein dauerhaftes Klimaschutzprogramm. Der Bundesrat, der von Rot und Grün
dominiert wird, hat den zweiten Förderweg, nämlich die
steuerliche Förderung der Gebäudesanierung, blockiert.
Wir werden in der nächsten Wahlperiode erneut eine Initiative für die steuerliche Förderung der Gebäudesanierung einbringen,
({5})
und dann werden wir sehen, ob die Roten und die Grünen weiterhin blockieren wollen.
({6})
Ich finde, wir müssen jetzt gemeinsam handeln: gegen
den Klimawandel und für die Gebäudesanierung. Hierzu
müssen auch die Länder ihren Teil beitragen.
({7})
Wenn wir uns anschauen, was der Bund ansonsten
macht, dann sehen wir: Wir haben die Mittel für den internationalen Klimaschutz erheblich aufgestockt. Allein
im Haushalt 2013 sind es wieder 100 Millionen Euro
mehr. Das Entwicklungsministerium gibt 1,8 Milliarden
Euro für Klimaschutz und Biodiversität in der Welt aus.
({8})
Das ist ein genauso effektiver und zugleich kostengünstiger Klimaschutz, als wenn wir alles nur hier zu
Hause machen würden. Jede CO2-Emission in den Entwicklungs- und Schwellenländern ist in Bezug auf den
Klimawandel genauso wirksam, als wenn wir hier emittieren. Deshalb müssen wir über den Tellerrand hinausblicken. Dann erkennen wir: Der internationale Klimaschutz ist genauso bedeutend wie die Energiewende und
politisch genauso zu unterstützen. Die FDP wird dies
weiter tun.
({9})
Ich begrüße ausdrücklich, dass das Auswärtige Amt
in dieser Wahlperiode zum ersten Mal eine ernsthafte
Klimaaußenpolitik betreibt, bei der in den internationalen Verhandlungsprozessen die Dinge zusammengeschnürt werden können, die ansonsten allein vom
Entwicklungshilfeministerium und vom Umweltministerium behandelt wurden. Das geschieht jetzt mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes. Auch das ist eine
positive Maßnahme, um ein globales Klimaabkommen
zu erreichen. Das ist entscheidend, wenn unsere Klimaschutzpolitik auch global wirksam werden soll.
Meine Damen und Herren, der Emissionshandel
wurde angesprochen. Er ist eingeführt worden, damit die
Klimaschutzziele umgesetzt werden. Genau das leistet
der Emissionshandel. In den Bereichen, wo wir den
Emissionshandel haben, werden die Klimaschutzziele
eingehalten. In den Bereichen aber, wo wir keinen Emissionshandel haben, zum Beispiel beim Verkehr, werden
sie verfehlt. Das zeigt: Der Emissionshandel ist ein gutes
Instrument, und wir werden weiterhin auf ihn setzen.
Vielen Dank.
({10})
Die Kollegin Eva Bulling-Schröter hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der CO2-Ausstoß ist auf 31,6 Milliarden Tonnen weltweit geklettert. Eigentlich haben wir uns an solche Meldungen schon gewöhnt; aber es sind und bleiben
Horrormeldungen. Auf diese Weise werden wir bei
4 Grad, eventuell sogar bei 5,3 Grad Erwärmung landen;
das ist Fakt. Was 5,3 Grad Temperaturveränderung bedeuten, zeigt vielleicht das Beispiel der letzten Eiszeit.
Da war es global etwa um diesen Wert kälter als heute.
Europa war mit kilometerdicken Eispanzern überzogen.
Die nicht weniger dramatischen Szenarien bei einer entsprechenden Erwärmung kennen Sie alle; das muss ich
nicht mehr erzählen.
Ich richte das nicht nur an die Adresse von Klimaleugnern im Umfeld der FDP. Auch in den Zeitungen
waren ganz seltsame Kommentare zu lesen, wie zum
Beispiel: Hamburg hat bald ein Wetter wie in Freiburg.
Prima, wo liegt das Problem? - Seltsamer Kommentar.
({0})
Mittlerweile haben wir die dritte Jahrhundertflut, allerdings innerhalb von nur elf Jahren. Ist das vielleicht die
Antwort auf diese Frage? Darum müssen wir handeln,
und zwar deutlich schneller als gegenwärtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich verstehe aber
nicht, dass, wenn die Linke auf einen Tagesordnungspunkt verzichtet, um darüber zu diskutieren, alle anderen
Fraktionen das ablehnen.
({1})
Das ist sehr seltsam. Wir hätten für eine solche Debatte
einen Tagesordnungspunkt zur Verfügung gestellt, eine
Debatte zurückgezogen. Das sollten die Leute draußen
wissen.
({2})
Heute findet wahrscheinlich die letzte Klimadebatte
in dieser Legislaturperiode statt. Deshalb ein Rückblick.
Zunächst gab es bei den erneuerbaren Energien hierzulande ein rasantes Wachstum. Das ist eine Erfolgsstory.
Der Erfolg ist im Erneuerbare-Energien-Gesetz begrün31294
det, das die jetzige Koalition von der alten nur geerbt
hat.
Deutschland lag 2012 weltweit auf Platz eins bei der
installierten Leistung von Photovoltaik, auf Platz drei
bei der installierten Windkraft und auf Platz fünf bei der
Gesamtkapazität der Erneuerbaren. Jede vierte Kilowattstunde Strom ist Ökostrom; das ist gut. Ich behaupte, das
ist ein Erfolg trotz dieser Bundesregierung und nicht wegen dieser Bundesregierung.
({3})
Die dauernden Angriffe abzuwehren, die insbesondere von der FDP gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz gestartet wurden, hat den Umweltverbänden, den
Erzeugerinnen und Erzeugern von Ökostrom, vielen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, aber auch
den Experten im Umweltbundesamt sowie in anderen
Gremien der Bundesregierung unendlich viel Kraft gekostet. Es wurden Ressourcen gebunden, die wir dringend gebraucht hätten, um das EEG für eine Welt jenseits eines Anteils von 30 Prozent Ökostrom intelligent
zukunftsfähig zu machen. Kräfte wurden verschlissen,
die nötig gewesen wären, um zügig ein neues Strommarktmodell zu entwickeln, ein Modell, das die fossile
Stromerzeugung in die Welt der erneuerbaren Energien
integriert und nicht umgekehrt, wie es gegenwärtig der
Fall ist. Es wurden Ressourcen verschleudert, die wir
nun in der nächsten Legislaturperiode aufwenden müssen, um einen zukunftsfähigen Netzausbau zu organisieren und im Bereich Energiespeicher- und Lastmanagement weiterzukommen.
Es gab dann interessante Gespräche bei Minister
Altmaier, aber letztlich wurden vor allem Fragen aufgeworfen und kaum Lösungen präsentiert. Dort, wo sie auf
der Hand liegen, etwa bei der Abschaffung der unberechtigten und teuren Industrieprivilegien, passiert
nichts. Ich sage Ihnen: Sie wollen sich einfach nicht mit
den Konzernen anlegen.
({4})
Natürlich gibt es in der Bundesregierung partiell auch
Unterstützung für die Energiewende; wir sind schließlich nicht blind. Manche Probleme sind zudem schlicht
der Tatsache geschuldet, dass niemand einen Masterplan
für eine solch umfassende Transformation in der Tasche
hat; auch das ist klar.
Aber unter dem Strich betreiben Union und FDP eine
erschreckend doppelzüngige Politik.
({5})
Während die Koalition auf der einen Seite einige Weichen in Richtung mehr regenerative Energien stellt, versucht sie auf der anderen Seite, die fossil-atomaren Konzerne weiter zu päppeln. Die Kosten zahlen die kleinen
Leute. Wer sonst?
Die zweite dunkle Seite kann man nirgends deutlicher
sehen als beim europäischen Emissionshandel. Er soll
angeblich das Hauptinstrument im Klimaschutz sein;
Herr Kauch hat das bestätigt. Seine Klimaschutzwirkung
geht aber gegen null oder ist sogar negativ. Seine Verteilungswirkung war bislang grotesk ungerecht. Deutschland hat sich in Brüssel dennoch gegen die Reparatur des
Emissionshandels gestellt, konkret gegen die Stilllegung
der überschüssigen CO2-Emissionsrechte, die das System kaputtmachen.
Das ist kein Wunder; denn in den Jahren zuvor hat die
Bundesregierung dafür gesorgt, dass diese zerstörerische
Zertifikatsflut überhaupt erst entstehen konnte, etwa
durch großzügige Möglichkeiten für Industrie und Energiewirtschaft, sich mit windigen Auslandszertifikaten
einzudecken, oder auch durch Zuteilungsregeln, mit denen den Industriefirmen viel mehr Emissionsrechte zugestanden wurden, als sie benötigten. Lasche Ziele und
Schlupflöcher groß wie Scheunentore kamen hinzu. Im
Ergebnis dümpelt nicht nur der CO2-Preis mit unter
4 Euro im Keller, obwohl er doch einmal 30 Euro betragen sollte.
({6})
Die festgesetzte CO2-Obergrenze selbst wird dabei
durchlöchert; denn hinter vielen importierten CO2-Gutschriften aus Projekten in Indien oder China stehen keine
eingesparten Emissionen, sei es infolge von Betrug oder
absurd großzügigen Regelwerken der UN. Zum Schluss
galten ja sogar Kohlekraftwerke als Beitrag zum Klimaschutz.
So wird das europäische Emissionshandelssystem
von außen mit heißer Luft aufgebläht. Allein in Deutschland gibt es 260 Millionen überschüssige Zertifikate, in
der EU fast 2 Milliarden. Ein Großteil davon sind, ökologisch gesehen, nichts anderes als Schrottpapiere, die
aus windigen Projekten im globalen Süden stammen. Es
geht also wieder einmal um Schrottpapiere. Zu Deutsch:
Wir haben mit dem allseits geliebten Emissionshandel
weniger Klimaschutz als ohne dieses System. Eine
wahrhaft erfolgreiche Bilanz, kann ich da nur sagen.
({7})
Die Energieversorger fuhren in der Vergangenheit mit
dem Emissionshandel sagenhafte Profite ein. Das müssen wir als Linke sagen. Wer sagt es denn sonst? Die
Energieversorger haben die Zertifikate vom Staat geschenkt bekommen, ihren Handelswert aber in den
Strompreis eingepreist. Zusammengefasst reden wir über
eine Maschinerie, die in Europa erstens einen zusätzlichen CO2-Ausstoß erzeugt - erst letztes Jahr sind die
Emissionen der deutschen Kraftwerke wieder gestiegen und zweitens die Kassen der Kohle- und Atomkonzerne
füllt - auf Kosten der Verbraucherinnen und Verbraucher.
({8})
Die Konzerne wurden gepäppelt und der Emissionshandel geschwächt. Bravo!
Da frage ich mich: Wo ist die Klimakanzlerin? Wir
brauchen eine Regierungschefin, die endlich einmal auf
die FDP pfeift
({9})
und sich in Brüssel für wirksame Reformen im Emissionshandel einsetzt, zuallererst natürlich für das Backloading als Voraussetzung dafür. Das tut sie leider nicht.
Das Emissionshandelssystem hätte von Anfang an
vernünftiger gestaltet werden können, aber das ist Geschichte. Änderungen sind nicht in Sicht, wie wir gehört
haben; Sie sind ja beratungsresistent. Deshalb brauchen
wir Ordnungspolitik. Davor haben Sie aber Angst wie
der Teufel vorm Weihwasser.
Ich möchte noch einmal für ein Kohleausstiegsgesetz
werben. Denn dann könnten die letzten Meiler spätestens 2040 vom Netz gehen. Wir setzen uns dafür ein.
({10})
In der nächsten Wahlperiode müssen sich Parlament
und Regierung auch endlich ernsthaft mit der Energiewende im Gebäudebereich und in der Mobilität beschäftigen. Bei beiden existieren fast keine Instrumente, die
nur annähernd die Durchschlagskraft haben wie etwa das
EEG im Strombereich.
Hier liegen zudem die größten sozialen Spannungsfelder. Denn schon heute nehmen die Heizkosten und
Kraftstoffe den ersten Platz unter den Preistreibern bei
den Energiepreisen ein, schlicht weil Öl und Gas sich
drastisch verteuert haben. Deshalb ist es nicht nur aus
Sicht des Klimaschutzes geboten, mit der Gebäudesanierung endlich voranzukommen, genauso wie mit der Mobilitätswende, die im Prinzip noch komplett aussteht.
Beides entlastet perspektivisch die Haushaltskassen. Das
ist ja wichtig.
Bei der sozialen Ausrichtung der Energiewende geht
es nicht nur um ein Energiegeld beim Wohngeld, um
ausreichende Kredite der KfW für die Gebäudesanierung
oder um angemessene Zuschüsse für die soziale Stadtentwicklung. Es geht auch schlicht um den Mindestlohn.
({11})
Denn es kann ja nicht sein, dass wir bei jeder umweltpolitischen Maßnahme, die etwas Geld kostet, Tausende
Leute zu den Ämtern treiben. Sie sind doch gegen Bürokratie. Darum freuen wir uns - hören Sie jetzt zu! -, dass
auch die Klima-Allianz - wie im Übrigen auch der Mieterbund - einen Mindestlohn und soziale Fangnetze
beim Umbau der Energieversorgung fordert.
({12})
Denn im Gegensatz zur Bundesregierung haben die darin vertretenen Organisationen begriffen: Die Energiewende funktioniert nur sozial, oder sie funktioniert gar
nicht. Dafür steht die Linke, und dafür wird sie jetzt stehen wie auch in der nächsten Legislaturperiode.
({13})
Denn die Energiewende ist dringend notwendig; ich
habe das ausgeführt. Daran kommen auch Sie von der
CSU nicht vorbei.
({14})
Für die Bundesregierung erteile ich das Wort dem
Bundesminister Peter Altmaier.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Uns eint heute Morgen selbstverständlich über
alle Fraktionsgrenzen hinweg das Mitgefühl für das Leid
und die Not der Betroffenen, die noch lange nicht überwunden sind, und auch der Respekt für die großartigen
und geradezu übermenschlichen Leistungen unserer
Hilfsdienste: Bundeswehr, Feuerwehr, THW, Rotes
Kreuz und all die anderen, die im Einsatz sind. Dafür ein
herzliches Dankeschön!
({0})
Ich will das ausdrücklich auch für das Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen auf der politischen Ebene zum Ausdruck bringen. Ich bin schon ein
paar Jahre länger dabei. Mein Eindruck ist: Im Vergleich
zu früheren Hochwasserkatastrophen hat es dieses Mal
vielleicht etwas weniger PR gegeben, aber dafür deutlich
mehr effektive und schnelle Hilfe auch aus der Politik.
Das soll auch in den nächsten Wochen und Monaten so
bleiben.
({1})
Deshalb werden wir, die Ministerpräsidenten der Länder
und die Bundeskanzlerin, heute Mittag im Bundeskanzleramt über das sprechen, was jetzt notwendig ist, um
konkrete Not zu lindern, die Schäden zu beseitigen und
Wiederaufbau zu ermöglichen.
Aber ich meine, dass wir, als ehemaliger Umweltminister Herr Trittin und als jetziger Umweltminister
meine Person, auch eine Verantwortung unter dem Gesichtspunkt der Umweltpolitik haben, nicht jetzt, wo die
Dämme noch verteidigt werden, aber dann, wenn das
Wasser sich verlaufen hat. Dann brauchen wir auch eine
Bestandsaufnahme dessen, was defizitär ist, was nicht
gemacht worden ist, was nicht umgesetzt worden ist.
({2})
- Darauf komme ich ja noch, Herr Kollege Ott.
Aber auch im Hinblick auf den Hochwasserschutz
halte ich es für notwendig, dass wir uns anschauen, was
wir ändern müssen. Im Jahre 2005 wurde ein von der
rot-grünen Koalition auf den Weg gebrachtes Hochwasserschutzgesetz verabschiedet.
({3})
Ich biete Ihnen an - wohl wissend, dass auch wir damals nicht mit allem einverstanden waren -, dass wir uns
dieses Gesetz anschauen und darüber nachdenken, was
wir verändern und weiterentwickeln können. Ich biete
auch an, dass wir darüber reden, wo Umsetzungsdefizite
sind. Wir Umweltpolitiker sollten deutlich machen, dass
wir keine Ausreden mehr haben, wenn es darum geht,
notwendige Deichverlegungen vorzunehmen und notwendige Vorfluträume zu schaffen, wenn es darum geht,
der Natur, insbesondere den Flüssen, etwas mehr Raum
zu geben. Das alles muss auch dann durchgesetzt werden, wenn es Widerstände dagegen gibt. Wenn wir es gemeinsam tun, dann werden wir unsere Ziele möglicherweise auch erreichen. Deshalb lade ich Sie herzlich ein,
mitzumachen.
({4})
Als ich seinerzeit Parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesinnenministerium war, habe ich im Auftrag meines damaligen Ministers Wolfgang Schäuble in der
Föderalismusreformkommission den Vorschlag eingebracht, dem Bund auch bei länderübergreifenden
Hochwasserlagen und Katastrophenlagen eine Zuständigkeit einzuräumen. Ich meine, auch darüber muss man
noch einmal diskutieren. Ein Hochwasser kann nämlich
nicht nur in der jeweiligen Gemeinde und in dem zuständigen Bundesland bekämpft werden. Wir sind alle in der
Verantwortung und brauchen die notwendigen finanziellen, politischen, aber auch rechtlichen Instrumente.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist richtig: Wir werden nicht wissen, in welchem Ausmaß dieses eine Hochwasser von den Klimaveränderungen beeinflusst worden ist. Aber wir wissen eines: dass die
Klimaveränderung weltweit voranschreitet und dass wir
keine Ausrede haben, wenn man in 20 oder 30 Jahren
feststellt, dass wir nicht gehandelt haben. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen im Klimaschutz national
und international verstärken.
Vorhin ist der Club der Energiewende-Staaten, Renewables Club, angesprochen worden. Ich bedanke mich
zunächst einmal für die politische Unterstützung, die ich
auch von vielen von Ihnen bekommen habe; der Kollege
Ott und andere haben sie öffentlich zum Ausdruck gebracht. Es gab aber auch hämische Kommentare, die ich,
ehrlich gesagt, nicht verstanden habe. Es ist uns gelungen, innerhalb eines halben Jahres zehn Länder - Entwicklungsländer, Schwellenländer, Industrieländer, etwa
Indien und China, Südafrika und Marokko, Tonga, Dänemark, Großbritannien, Frankreich - auf deutsche
Initiative hin dazu zu bringen, dass wir uns weltweit
politisch für den Ausbau der erneuerbaren Energien
starkmachen.
Der Klimaschutz kommt nämlich nicht voran, wenn
es nur in Deutschland, in Dänemark und in Großbritannien mehr Windräder und mehr Solardächer gibt, sondern er kommt dann voran, wenn die erneuerbaren Energien dort eingesetzt und produziert werden, wo die
klimatischen Voraussetzungen dafür gegeben sind, wo
man alte Öl- und alte Kohlekraftwerke abschalten kann
und durch eine moderne, umweltverträgliche Energieversorgung ersetzen kann. Ich möchte Sie alle einladen,
diese Initiative zu unterstützen.
Lieber Herr Ott, wir werden in einigen Monaten das
nächste große politische Treffen nutzen. In der Zwischenzeit wird einiges geschehen. Warum treffen sich
nicht Parlamentarier aus diesen zehn Energiewendeländern parallel und gemeinsam mit den Ministern, um
deutlich zu machen: „Das ist nicht nur eine Veranstaltung der Regierungen; das betrifft auch die Parlamente“?
Ich lade Sie herzlich ein, sich daran zu beteiligen.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Klimaschutz ist deshalb so schwierig, weil wir immer auch im
Einzelnen Interessenkonflikte aushalten und lösen müssen. Das ist übrigens wie beim Hochwasserschutz. Ich
hätte es um ein Haar vergessen - Frau Künast hat so nett
über die Frage „Wer zahlt was?“ gesprochen -: Liebe
Frau Höhn, wenn Sie am Wochenende nach NordrheinWestfalen kommen, dann nehmen Sie bitte mit, dass die
Bild-Zeitung am 13. Juni 2013 schreibt:
Nordrhein-Westfalen kürzt beim Hochwasserschutz
um 10 Millionen Euro. Im Haushalt 2013 sind für
den Hochwasserschutz nur noch 30 Millionen Euro
eingeplant, nach 40 Millionen im Vorjahr.
({7})
Dass man kürzen muss, weil man pleite ist, das verstehe ich ja. Aber dass es ausgerechnet beim Hochwasserschutz geschehen muss, das sehe ich nun wirklich
nicht ein.
({8})
Lassen Sie uns das gemeinsam verhindern.
({9})
Der Kollege Kelber hat zum Thema Klimaschutz auf
die CO2-Grenzwerte von Kraftfahrzeugen hingewiesen.
Ich kann mich daran erinnern, weil ich alt genug bin und
das auch erlebt habe, dass die Haltung der Bundesregierung zum Thema „CO2-Ausstoß von Kraftfahrzeugen“
seinerzeit von Bundeskanzler Schröder und Wirtschaftsminister Clement maßgeblich bestimmt worden ist.
Dieser Linie, die Herr Schröder damals mit seiner Richtlinienkompetenz bestimmt hat, fühlt sich die Bundesregierung bis heute verpflichtet - nur mit dem Unterschied, dass wir glauben, dass wir die Arbeitsplätze in
Deutschland erhalten und trotzdem etwas mehr für den
Klimaschutz tun können.
Wir müssen uns dann eben Gedanken darüber machen, wie wir verhindern, dass die guten umweltfreundlichen Tendenzen und Entwicklungen in der deutschen
Automobilindustrie zunichte gemacht werden. Gestern
hat der erste große Hersteller ein elektrisches Serienfahrzeug vom Band rollen lassen - hier in Deutschland; das
hat es in Deutschland bisher nicht gegeben -; die anderen Hersteller werden nachziehen. Ich schäme mich
manchmal, wenn ich sehe, dass in der Stadt Peking inzwischen mehr Elektrobusse und Elektrofahrzeuge im
Einsatz sind als in der gesamten Bundesrepublik
Deutschland.
({10})
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ott zulassen?
Aber gern.
Bitte schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Lieber Kollege
Altmaier, ich fände es ganz schön, wenn Sie einmal etwas zu dem von uns vorgelegten Entwurf eines Klimaschutzgesetzes sagen würden, das ja Mittelpunkt des
Themas der Debatte ist. Im Grunde müssten Sie das, was
wir da aufgeschrieben haben, als eigenen Entwurf einbringen - wir würden Ihnen das wahrscheinlich sogar erlauben -; denn das ist genau das, was Ihnen fehlt. Wir
schreiben da für alle zukünftigen Bundesregierungen
zum Beispiel vor, dass es sektorale Reduktionsziele gibt,
dass die einzelnen Ressortminister da für ihren Bereich
verantwortlich sind und dass Maßnahmen getroffen werden, falls sie diese Ziele nicht erreichen. Ich meine, das
ist wie auf Sie zugeschnitten.
Jetzt nennen Sie mir doch einmal eine Gelegenheit,
bei der Sie gegenüber Ihrem Kollegen Rösler die Oberhand behalten haben, abgesehen vielleicht einmal von
der Besetzung des WBGU, was ja auch nicht in der
Kompetenz des Wirtschaftsministers liegt. Nennen Sie
uns doch einmal einen einzigen Fall, in dem Sie in einer
Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftsminister sagen
konnten: Hier habe ich mich durchgesetzt.
Das ist doch die große Frage: Wie erklären Sie sich,
dass Ihre Kanzlerin, die Sie als Mann für das zweitwichtigste Projekt dieser Regierung, die Energiewende, eingesetzt hat - nach Schäuble für Finanzpolitik/Euro -, Sie
nicht unterstützt, dass diese Kanzlerin zwar in den Flutgebieten herumstapft und hier eine Aufmunterung gibt
und da eine kleine Flutopferhilfe zusagt,
({0})
aber nicht in dem zentralen Projekt dieser Bundesregierung tätig ist und Sie unterstützt, wo doch, wenn vernünftiger Klimaschutz betrieben würde, Katastrophen
wie die, die wir jetzt erleben, zukünftig weniger würden
und nicht mehr, wie das jetzt zu befürchten ist? Nennen
Sie uns doch einmal einen Fall!
({1})
Sehr geehrter Herr Kollege Ott, ich war heute eigentlich sehr auf Konsens eingestellt, aber eines möchte ich
Ihnen schon sagen: Ich verstehe meine Rolle in einer
Koalition nicht darin, dass ich mich ständig in einem
Klein-Klein-Krieg mit einzelnen Ministern befinde und
am Ende nichts erreiche.
({0})
Diese Regierung hat sich in allen entscheidenden Fragen
- das geht von der Energieeffizienz-Richtlinie über die
Haftung im Offshorebereich im Rahmen der Energiewende bis hin zur Reform der Photovoltaik-Förderung als handlungsfähig erwiesen. Der deutsche Bundesumweltminister hat einen erheblichen Beitrag dazu geleistet
und immer wieder mit Ideen die Diskussion vorangebracht.
({1})
Ich stelle nur einmal fest, lieber Herr Ott, dass wir
heute in Deutschland unter der Verantwortung von
Philipp Rösler und Peter Altmaier weitaus weniger CO2
ausstoßen und weitaus mehr erneuerbare Energien nutzen als seinerzeit unter der Verantwortung von Wolfgang
Clement und Jürgen Trittin.
({2})
Wir haben die Dinge vorangebracht, und wir lassen uns
diese Erfolge nicht kleinreden.
({3})
- Ich bin noch nicht fertig, Herr Kollege Ott. Sie haben
auch die Klimakanzlerin angesprochen. Bitte noch einmal kurz aufstehen!
Sie rufen ständig nach der Richtlinienkompetenz. Fragen Sie Ihren Kollegen Trittin, wie das damals war, als
Herr Schröder die Richtlinienkompetenz ausgeübt hat!
Ich sage Ihnen eines: Angela Merkel steht weltweit für
die Bemühungen, den Klimaschutz voranzubringen.
({4})
Sie war diejenige, unter deren Verantwortung das KiotoProtokoll zustande gekommen ist, und das ist bis heute
das effektivste Instrument, das wir in diesem Bereich haben.
({5})
Es ist nicht ausreichend, und wir müssen es verbessern.
Ich sage Ihnen, dass die Hoffnungen für den Klimaschutz weltweit auf den Schultern der Bundeskanzlerin
Angela Merkel ruhen.
({6})
Deshalb sollten Sie sie in diesem Bereich unterstützen.
Springen Sie über Ihren Schatten, auch wenn es vielleicht etwas schwerfällt.
({7})
Es ist öffentlich bekannt, dass ich der Auffassung bin,
dass wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit regulatorischen Eingriffen - das schlagen Sie vor - anfangen sollten. Ich glaube, dass das europäische ETS, das System
des Zertifikatehandels, ein marktwirtschaftliches System
ist, und ich glaube, dass wir kurz davor sind, diesem
System weltweit zum Durchbruch zu verhelfen: in
China, in Australien, in Korea.
({8})
In vielen Ländern dieser Welt ist ein eigener Zertifikatehandel eingeführt worden oder ist kurz davor, eingeführt zu werden.
({9})
Deshalb sollten wir nicht unsere Lösung, nur weil sie zu
rot-grünen Zeiten schlecht gestrickt worden ist, infrage
stellen.
({10})
Der deutsche Umweltminister - das ist bekannt - ist
vielmehr der Auffassung, dass wir das sogenannte Backloading machen sollten, damit wir ein Knappheitssignal
bekommen. Der deutsche Umweltminister wird weiter
dafür kämpfen. Der Unterschied zum Kollegen Duin,
lieber Herr Kollege Kelber, ist: Auch ich habe meine
Kollegen im EP angeschrieben.
({11})
Das hat immerhin sieben Kollegen dazu bewogen, dem
Backloading zuzustimmen.
({12})
Herr Duin hat auch einen Brief geschrieben. Er hat in Ihrer Partei niemanden zu etwas bewegt. Das haben Sie
eben selbst gesagt. Ich sage Ihnen eines: Widerstehen
Sie der Versuchung, dieses Thema in die parteipolitische
Auseinandersetzung zu führen.
({13})
Dass der Kollege Rösler eine andere Vorstellung vom
Backloading hat als der Bundesumweltminister,
({14})
ist nicht besonders überraschend. Ich sage Ihnen eines:
Wenn wir es gemeinsam geschafft haben, im Europäischen Parlament dafür eine Mehrheit zu erreichen, dann
wird sich diese Bundesregierung auch für die Abstimmung im Ministerrat positionieren.
({15})
Ich sage Ihnen zu, dass der Bundesumweltminister das
tut, wozu er nach seinem Amtsverständnis verpflichtet
ist, nämlich sich für eine erfolgreiche Klimapolitik einzusetzen und dafür, dass Deutschland Vorreiter und Vorbild in Europa und weit darüber hinaus bleibt.
Vielen Dank.
({16})
Jetzt hat Bärbel Kofler das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Altmaier, ich finde es schon ein bisschen perfide, wenn Sie nicht handeln, jedoch das Benennen Ihres Nichthandelns seitens der Opposition als
parteipolitisches Kalkül und Parteipolitik bezeichnen.
Wir fordern die Regierung zum Handeln auf, wenn es
zum Beispiel um die Fragen des europäischen Emissionshandels geht. Sie müssen an dieser Stelle liefern
und dürfen sich nicht hinter Ihren eigenen Koalitionsproblemen verstecken.
({0})
Eigentlich hätte ich schon erwartet, dass Sie einmal
klar sagen, wie Sie zu den CO2-Reduzierungszielen auf
europäischer Ebene stehen. Wollen Sie als Bundesregierung die 30-Prozent-Reduktion auf europäischer Ebene,
oder wollen Sie sie nicht? Wir alle wissen es nicht. Ihre
Regierung weiß es auch nicht. Diese Frage wurde von
uns vor einiger Zeit in der Fragestunde gestellt. Frau
Reiche antwortete darauf:
Die Bundesregierung hat bisher keine einheitliche
Haltung zu einer notwendigen Stärkung des europäischen Emissionshandels und prüft derzeit noch
die von der EU-Kommission vorgelegten Vorschläge.
Das ist doch kein aktives Handeln für einen der wichtigsten Partner in der Europäischen Union, wenn es um
die Frage der Vorreiterrolle beim Emissionshandel und
der Reduzierung der CO2-Ausstöße geht.
Ich glaube - Herr Kauch hat viel über die internationale Ebene gesprochen -, dass Sie mit Ihrem Nichthandeln Vertrauen auf internationaler Ebene verspielen.
Wenn man wirklich auf internationaler Ebene zur CO2Reduzierung kommen möchte, dann braucht man Partner, sei es in den Schwellenländern, aber gerade auch in
den Entwicklungsländern. Diese stehen vor unheimlichen Herausforderungen. Es muss 1,3 Milliarden Menschen, die noch keinen Zugang zu Energieversorgung
haben, geholfen werden, zu einer Energieversorgung zu
kommen. Es muss den 2,7 Milliarden Menschen geholfen werden, die lediglich eine mehr oder weniger notdürftig zusammengezimmerte Kochgelegenheit haben
und fossile Brennstoffe verwenden - mit allen Folgen
für Umwelt und Gesundheit.
Wenn Sie für diese Länder etwas tun wollen, dann treten Sie mit ihnen in einen partnerschaftlichen Dialog darüber, wie sie sich entwickeln und den Zugang zu Energie für ihre Bevölkerung verbessern können. Dabei
müssen aber auch die Grenzen unseres Planeten anerkannt werden, und es muss verstanden werden, dass die
Fehler, die wir während der Industriealisierung in der
Vergangenheit gemacht haben, nicht in anderen Ländern
reproduziert werden können.
Bevor dieser Dialog zustande kommt, bedarf es erst
einmal hier in Deutschland einer vernünftigen Haltung
mit vernünftigen Vorbildern. Dazu gehört das nationale
Ziel der CO2-Reduzierung. Dazu gehört die Haltung auf
europäischer Ebene. Dazu gehört auch Ihre Klima- und
Energiepolitik generell. An Kopenhagen erinnern wir
uns mit Grausen. Die von Ihnen viel gerühmte Energiewende lief doch nach dem Motto „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ ab. Das wird im Ausland
bemerkt.
({1})
Sie wollten am Anfang dieser Legislaturperiode doch
etwas ganz anderes. Wer hat die Laufzeiten von Atomkraftwerken denn verlängert und ganz andere Signale
ausgesendet? Erst angesichts der Katastrophe von Fukushima und der bevorstehenden Landtagswahl in BadenWürttemberg sind Sie auf andere Gedanken gekommen.
Das ist doch der wahre Hintergrund. Es geht Ihnen nicht
um die Frage, wie man den CO2-Ausstoß wirklich verringert und die Energiewende weltweit voranbringt.
({2})
Es ist bezeichnend, dass gerade zu diesem Punkt
17 Anträge zum Thema Klimaschutz - Klimaschutz bei
uns und weltweit - vorliegen. Alle sind von der SPD
oder von den Grünen eingebracht. Die Regierung hat es
offensichtlich nicht nötig, irgendetwas einzubringen.
({3})
- Die Gesetze, die Sie machen, Herr Kauch, würden wir
gerne einmal sehen.
({4})
- Das stimmt. Gerne möchten wir sie nicht sehen.
Ich halte es für dringend geboten, etwas zum internationalen Bereich zu sagen. Wir haben einen Antrag eingebracht, in dem wir uns explizit mit den Entwicklungsländern und der Frage beschäftigen, wie wir zu mehr
Energie für die Menschen kommen, aber auch Effizienz
voranbringen können. Wir wollen das Thema „Low Carbon“, wie es auf Neudeutsch so schön heißt, also weniger fossile Energien, voranbringen. Wir wollen Strategien mit den Ländern entwickeln. Wir wollen uns über
unsere Exportgarantien unterhalten und uns Gedanken
darüber machen, wie wir die Themen erneuerbare Energien und Energieeffizienz und nicht Garantien für Träger
von Atomenergie oder fossiler Energie in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen.
({5})
Es ist leider zu Recht über die Frage der Anpassungsmaßnahmen in Deutschland gesprochen worden. Ich betone das Wort „leider“. Es ist nichts Schönes, dass wir
uns darüber unterhalten müssen, dass auch bei uns mittlerweile Anpassungsmaßnahmen notwendig sind. Vom
Kollegen Kelber ist zu Recht angedeutet worden, dass in
den Ländern des Südens - ich nenne das Beispiel Bangladesch, weil die Grünen und wir gemeinsam einen Antrag dazu eingebracht haben -, also bei den Ärmsten der
Armen, in den letzten 30 Jahren 200 Extremwetterereignisse stattgefunden haben: Dürren, Überschwemmungen, Überflutungen. 180 000 Menschen haben ihr Leben
verloren. Wir machen leider keine wirklichen Angebote,
um diese Menschen, die vor Ort eine ganze Menge tun,
zu unterstützen, sei es mit dem Bau von Notunterkünften, sei es mit der Umstellung ihres Energiesystems hin
zu erneuerbaren Energien - das wollen viele -, sei es
hinsichtlich der Frage der Flüchtlingsbewegung, die
mittlerweile Druck auf die Städte und die sozialen Strukturen ausübt.
Wir müssen diese Länder anhand von Anpassungsmaßnahmen unterstützen.
Frau Kofler!
Ich komme zum Schluss. - Das wäre eine wirkliche
Hilfestellung, durch die in den anderen Ländern Vertrauen in den internationalen Klimaschutz und in ein
Handeln für eine gemeinsame Welt unter Anerkennung
der Grenzen unseres Planeten geschaffen wird.
Danke sehr.
({0})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege
Horst Meierhofer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte kurz noch etwas zum Hochwasserschutz sagen, weil ich aus Regensburg komme und wir den
höchsten Wasserstand seit mehr als 130 Jahren zu verzeichnen hatten: Es ist - wie sich mittlerweile abzeichnet - glücklicherweise so, dass die Schäden aufgrund
mobiler Hochwasserschutzelemente deutlich geringer
ausgefallen sind als in den letzten Jahren. Das zeigt also,
dass man mit Anpassung wirklich etwas bewegen kann.
Wenn man sich die Situation donauabwärts ansieht
- Richtung Deggendorf und Passau sowie Richtung
Elbe -, dann erkennt man, welche Probleme und Schwierigkeiten vorhanden sind. Eine Antwort allein wird nicht
ausreichen. Das, was Minister Altmaier gesagt hat, nämlich dass man den Flüssen mehr Raum geben muss, ist
richtig. Dafür müssen wir gemeinsam sorgen. Es gibt übrigens auch Umweltschutzverbände, die sich eingebracht
haben. Dazu gehören NABU und WWF, aber auch
BUND, die Deichrückverlegungsmaßnahmen ergriffen
haben. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Bereich. In
dem Bereich müssen wir noch mehr tun.
Allerdings - das ist die Kehrseite - geht es nicht nur
darum, Deiche zurückzuverlegen, sondern auch darum,
aktiv Hochwasserschutz zu betreiben, also auch Hochwasserdämme zu bauen. Da gibt es schon das eine oder
andere Beispiel dafür, wo von den Umweltschutzverbänden oder auch Parteien ein bisschen mehr Entgegenkommen gezeigt werden muss. Ich glaube, wir müssen uns,
wenn die Flut vorbei ist und die Probleme gelöst sind,
genauer darüber unterhalten und Akzeptanz insbesondere für aktiven Hochwasserschutz beispielsweise in
Form von Wällen und Wänden erreichen. Da muss man
von der Blockadehaltung wegkommen und ein bisschen
mehr darauf setzen, die Leute, die davon direkt betroffen
sind, zu schützen.
({0})
Ein Thema, das dazugehört, ist die Frage der Finanzierung. Als bayerischer Abgeordneter darf ich sagen:
Der Osten war vom Hochwasser 2002 natürlich deutlich
stärker betroffen; aber wenn eine Fondslösung am
Schluss dazu führt, dass ein Bundesland ungefähr
60 Millionen aus dem Fonds erhält und gleichzeitig
450 Millionen Euro einzahlt, so wie es damals im Falle
Bayerns war, dann ist es nicht der richtige Weg. Es sollte
schon so sein, dass man den betroffenen Regionen
schnell und unbürokratisch hilft. Die Bundeskanzlerin
selbst hat darauf hingewiesen, dass eine Eins-zu-einsLösung - auf jeden Euro, der von den Ländern kommt,
legt der Bund einen Euro drauf - eine Lösung sein
könnte, die uns allen hilft. Ich hoffe, dass wir da zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
({1})
In Nordrhein-Westfalen scheint es nicht ganz so gut
zu funktionieren. Minister Altmaier hat darauf hingewiesen, dass die Mittel für den Hochwasserschutz dort um
10 Millionen Euro reduziert wurden. Damit nicht genug:
Gleichzeitig wurde die Förderquote gesenkt.
({2})
Bisher war es so, dass 80 Prozent der Kosten, die von
den Leuten vor Ort für den Hochwasserschutz aufgewendet wurden, von den Ministerien, vom Land übernommen wurden. Die Landesbeteiligung wurde jetzt auf
70 Prozent reduziert, was bedeutet, dass die Betroffenen
10 Prozentpunkte mehr bezahlen müssen. Ob das in
solch einer Phase die richtige Botschaft ist, Herr Kelber,
das wage ich wirklich zu bezweifeln.
({3})
Ich komme zu den Themen, die uns heute beschäftigen. Klimaschutz im Zusammenhang mit Hochwasser
ist ein kleiner Bereich; ganz anders sieht es mit dem
weltweiten Klimaschutz aus. Ich möchte darauf hinweisen, dass unsere Regierung extrem hohe Aufwendungen
und extrem große Anstrengungen unternommen hat: Allein im Jahr 2013 werden 16,4 Milliarden Euro für den
Klimaschutz bereitgestellt. Auch was die Reduzierung
der CO2-Emissionen betrifft, gibt es einen Riesenerfolg:
Im Kioto-Protokoll haben wir uns verpflichtet, die Emissionen im Vergleich zu 1990 um 21 Prozent zu reduzieren. Ich habe gehört, dass eine Senkung um 25 Prozent
oder sogar 27 Prozent erreicht worden ist. Das reicht
nicht aus, aber es ist ein Riesenschritt.
({4})
Es ist ein schönes Ergebnis, dass wir unser Ziel übererfüllt haben. Das wollen wir gerne ausweiten.
({5})
Es taucht des Öfteren die Frage auf, ob die Bundesregierung oder die Koalitionsfraktionen bereit seien, die
Klimaschutzziele insgesamt zu erhöhen. Da sage ich:
Natürlich sind wir bereit. Deutschland hat das Ziel, die
CO2-Emissionen um 40 Prozent zu reduzieren.
({6})
Das ist ambitionierter als die Ziele, Herr Ott, die sich die
rot-grüne Regierung gesetzt hat.
({7})
Wir haben gesagt, dass wir auch bereit wären, auf europäischer Ebene das Ziel einer Reduzierung der EmissioHorst Meierhofer
nen um 30 Prozent festzulegen. Wenn wir es schaffen,
die Emissionen in Deutschland um 40 Prozent zu reduzieren, dann werden sich auch die anderen an einer stärkeren Reduzierung beteiligen. Sie können es im Nachhaltigkeitsbericht des letzten Jahres nachlesen; dort
haben wir es ganz klar niedergeschrieben. Wir werden es
auch tun.
Herr Kelber, jetzt möchte ich auf eines hinweisen. Sie
erwarten von uns, dass wir unsere Ziele, die wir ambitionierter gestalten als Sie jemals vorher, nochmals erhöhen. Und was machen Sie in den Bundesländern? Sie reduzieren die Ziele. Sie haben die Klimaschutzziele in
Baden-Württemberg und in Nordrhein-Westfalen reduziert
({8})
und darüber hinaus, was die Gebäudesanierung betrifft,
das Gegenteil von dem gemacht, was passieren sollte,
nämlich dafür gesorgt, dass im Bundesrat wirkliche Klimaschutzmaßnahmen blockiert werden. Wenn man das
macht, also Wasser predigt und Wein säuft, dann ist das
nicht besonders nachhaltig und glaubwürdig.
({9})
Dann sollten Sie die Letzten sein, die mit dem Finger auf
uns zeigen. Sie sollten sich auch einmal darüber freuen,
dass wir sehr viel erreicht haben, auch wenn Sie es uns
vielleicht nicht gönnen.
Herr Kollege.
Es waren vier sehr gute Jahre für den Klimaschutz,
für die erneuerbaren Energien und den Emissionshandel.
Vielen Dank.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Ulrich Kelber das Wort.
({0})
Fakten kann man immer in ziemlich kurzer Zeit darlegen, Herr Kollege Grosse-Brömer. - Eigentlich hätte
Herr Kauch, der aus Nordrhein-Westfalen kommt, Herrn
Meierhofer von der FDP schon einmal erklären müssen,
wie es sich mit den Klimaschutzzielen in NordrheinWestfalen verhält, die der Kollege gerade am Ende erwähnt hat. In der Tat ist das Klimaschutzziel der rot-grünen Landesregierung unterhalb des Klimaschutzzieles
der schwarz-gelben Landesregierung!
({0})
- Ich wusste, dass Sie sich freuen. Das Interessante ist
aber, hinzuschauen: Wie war denn die Entwicklung bei
den Treibhausgasen unter der schwarz-gelben Landesregierung, die sich eine Reduzierung um 30 Prozent vorgenommen hat? In den fünf Jahren ihrer Regierungszeit hat
sie es geschafft, den Ausstoß von Treibhausgasen in
Nordrhein-Westfalen zu erhöhen. Das ist eben der Unterschied zwischen Schein und Sein.
({1})
Herr Meierhofer.
Wenn Sie tagesgenau abrechnen wollen, wie viel man
auf der einen Seite im Bereich Klimaschutz erreicht hat
und wie viel Treibhausgasemissionen es auf der anderen
Seite gab, dann sollten Sie vernünftige Zeiträume angeben.
({0})
Schauen Sie sich an, was wir im Zuge des Kioto-Protokolls in den Jahren 1990 bis 2012 erreicht haben.
({1})
27 Prozent sind ein stattliches Ziel, auch wenn wir im
letzten Jahr auf nationaler Ebene mehr CO2-Ausstoß zu
verzeichnen hatten.
({2})
Übrigens wurde aufgrund des Emissionshandels europaweit weniger CO2 ausgestoßen als vorher.
({3})
- Es tut mir leid, dass ich nicht für jeden einzelnen
Wahlkreis die Ziele pro Tag und Monat definieren kann.
({4})
Aber Tatsache ist, dass der Emissionshandel funktioniert.
Folgendes ärgert mich furchtbar: Man legt Ziele auf
internationaler Ebene fest. Sie alle weisen regelmäßig
darauf hin, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern
weltweit Klimaschutz betreiben müssen. Wir haben uns
für die Erreichung der Ziele eingesetzt. Die Ergebnisse
liegen nun vor, aber Sie sagen: Schön und gut, aber bei
uns zu Hause reicht das nicht aus, darum müssen wir
jetzt etwas anderes machen. - Aber so funktioniert das
nicht.
Sie können nicht fünf Konzepte in fünf Projekten
gleichzeitig verwenden, um ein Ziel zu erreichen. Sie
müssen eine Vorgabe machen, die Sie erreichen wollen.
Nur dann schaffen Sie es. Aber genau das machen Sie
leider nicht. Sie sagen: Wir achten nur auf uns, wir brauchen die Vorreiterrolle, und es ist uns schnurzpiepegal,
was der Rest der Welt macht. So kommen wir zu keinem
Ergebnis.
Obwohl wir in einem Jahr, in dem wir Gott sei Dank
einen Wirtschaftsaufschwung zu verzeichnen haben, wie
er weltweit oder zumindest europaweit nicht vergleichbar ist, etwas mehr Emissionen haben, haben wir trotzdem unsere Klimaschutzziele auf europäischer Ebene erreicht, weil andere dafür deutlich weniger Emissionen
haben. Wenn wir es schaffen würden - Kollege Kauch
hat darauf hingewiesen, dass wir gerne dazu bereit wären -, das auch auf den Verkehrssektor und auf den
Wohnbereich auszudehnen, hätten wir eine echte
Chance, noch mehr für den Klimaschutz zu tun. Das
könnten wir vielleicht gemeinsam angehen; denn auch
Sie haben dieses Ziel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU - Ulrich Kelber [SPD]: Drei
Minuten für „Sie haben recht!“ Das ist ein
neuer Rekord! Das hätte man auch in vier
Worten sagen können.
Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir legen Ihnen hier im Deutschen Bundestag heute unseren
Gesetzentwurf zum Klimaschutz vor, weil wir das
Thema aus der tagespolitischen Debatte herausholen
wollen. Herr Meierhofer, wir wollen, dass das Thema
Klimaschutz langfristig angegangen wird und dass wir
nicht nur Ziele verkünden, sondern dass wir diese Ziele
am Ende auch erreichen. Das muss unsere Aufgabe sein.
({0})
Die deutsche Politik hat die Schuldenbremse gesetzlich verankert, weil es nicht sein kann, dass wir immer
mehr Schulden machen und nachfolgende Generationen
keinen Spielraum mehr haben. Meine Fraktion findet,
dass die Erhaltung unserer Lebensgrundlage, der Klimaschutz, eine ebenso wichtige Aufgabe ist, die wir nicht
einfach auf Kosten unserer Kinder lösen dürfen. Deshalb
brauchen wir nicht nur eine Schuldenbremse, sondern
wir brauchen auch eine CO2-Bremse, um unseren Kindern eine Zukunft zu ermöglichen.
({1})
Die Hochwasserkatastrophe erinnert uns in der Tat
daran, wie teuer nicht vorhandener Klimaschutz sein
kann. Der eine oder andere mag der Meinung sein: Der
Klimawandel ist doch gar nicht so schlimm, es wird vielleicht 2 bis 3 Grad wärmer. Wir sehen, dass genau das
eintritt, was Niclas Stern in seiner Studie gesagt hat: Wir
werden den Klimawandel nicht bezahlen können. Er
wird so teuer, dass ihn keiner bezahlen kann. - Deshalb
müssen wir uns für den Klimaschutz einsetzen. Die Flutkatastrophen zeigen, dass auch Deutschland nicht verschont bleibt.
({2})
Mir ist wichtig, dass wir beim Klimaschutz auch an
unsere internationale Verantwortung denken; denn wir,
die Industrieländer, sind für den hohen CO2-Ausstoß
verantwortlich. 80 Prozent der Emissionen werden von
den Industrieländern verursacht. Die Gewinne sind lange
eingefahren, aber die Opfer des Klimawandels, die zum
Beispiel in Bangladesch und Afrika leben, leiden immer
wieder unter den Folgen; noch viel mehr als wir hier.
Deshalb haben wir die Verpflichtung - nicht nur für die
Menschen hier in Deutschland, sondern auf der ganzen
Welt -, verlässlichen Klimaschutz zu betreiben.
({3})
Die Rolle der Kanzlerin ist mehrfach angesprochen
worden. Herr Altmaier, es stimmt: Die Kanzlerin hat damals das Kioto-Protokoll mitverhandelt. 2007 hat sie
sich, als es en vogue war und der Stern-Bericht gerade
auf dem Tisch lag, als Klimakanzlerin präsentiert. Aber
nach 2007 hat sie alle ihre Versprechungen nicht gehalten. Es waren leere Versprechungen.
({4})
2008 hat sie auf europäischer Ebene dafür gekämpft,
dass die großen Autos mehr CO2 ausstoßen dürfen. 2008
trug die Kanzlerin die Verantwortung für das verheerende Ergebnis der Klimakonferenz in Poznan und in der
Folge auch in Kopenhagen. Es kann nicht sein, dass
tolle, medienwirksame Fotos mit einem roten Anorak
vor den schmelzenden Eisbergen gemacht werden und
danach kein Klimaschutz betrieben wird.
({5})
Das darf nicht sein. Deshalb wollen wir unser Klimaschutzgesetz. Deshalb wollen wir auch, dass diese Kanzlerin endlich ihre Verantwortung wahrnimmt - denn sie
ist diejenige mit dem meisten Wissen in der Bundesregierung -, den Wirtschaftsminister endlich in die
Schranken weist und endlich dafür sorgt, dass der Klimaschutz in Deutschland ernst genommen wird und wir
eine Vorreiterrolle übernehmen, auch in der EU. Dafür
brauchen wir unser Klimaschutzgesetz.
Danke schön.
({6})
Daniela Ludwig hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Uns liegt ein bunter Strauß aus Anträgen
und Gesetzentwürfen vor. Sie nehmen es mir hoffentlich
nicht übel, wenn ich mich in meiner Eigenschaft als Verkehrs- und Baupolitikerin zunächst gerne mit den entsprechenden Anträgen beschäftigen möchte; denn zum
Klimaschutz und zu dem, was Sie sich sonst noch vorstellen, haben wir heute schon Hinreichendes gehört.
Auch die Rednerinnen und Redner nach mir werden
dazu sicherlich noch einiges ausführen.
Vorweg möchte ich etwas zur Mobilitätsstrategie der
Bundesregierung sagen: Wir sind „mit Ziel mobil“. So
möchte ich das einmal überschreiben. Wer das Gegenteil
behauptet - das war heute schon vielfach der Fall -, der
hat ganz offenkundig das Verkehrskonzept dieser Bundesregierung nicht richtig verstanden.
({0})
Wenn wir innerhalb der Bundesregierung, aber auch innerhalb der Koalitionsfraktionen manchmal über den
Weg zu den konsensualen Zielen debattieren, dann ist
das, so glaube ich, nicht unbedingt verwerflich. Das
zeigt nur: Wir sind an gesellschaftlichen Debatten über
die Energiewende und den Klimaschutz interessiert, und
wir sind daran interessiert, die Menschen, aber auch die
Industrie in unserem Land mitzunehmen.
({1})
Das möchte ich an dieser Stelle mit aller Deutlichkeit sagen. Anders funktioniert die Energiewende mit Sicherheit nicht.
Was die CO2-Reduktionsziele im Verkehrsbereich angeht, möchte ich Folgendes sagen: Das, was im Energiekonzept der Bundesregierung steht, geht weit über das
hinaus, was in den vorliegenden Anträgen gefordert
wird. Das müssen Sie schlicht und ergreifend einmal zur
Kenntnis nehmen. Wir sagen: Der Energieverbrauch im
Verkehrssektor soll bis 2020 um 10 Prozent und bis 2050
um immerhin 40 Prozent gesenkt werden. Außerdem bezieht sich das Energiekonzept dieser Regierung nicht nur
auf fossile Energieträger, sondern auch auf nichtfossile
Energieträger. Dabei sind wir auch noch technologieoffen.
Ich glaube, auch das ist wichtig; denn im Moment kann
keiner wirklich beurteilen, was sich am Markt letztlich
durchsetzen wird. Wir sollten den Markt nicht vergessen.
Bei uns geht es um Elektromobilität, bei uns geht es aber
auch um die Brennstoffzelle und um Hybride.
({2})
Ich glaube, das zeigt, dass wir auf einem relativ guten
Weg sind, wir aber auch viele Dinge gemeinsam mit der
Industrie und der Forschung weiterentwickeln müssen.
Die SPD fordert, Biomethan im Verkehrssektor zu
fördern. Ja, diesbezüglich besteht ein klarer Konsens.
Das sehen wir auch so. Allerdings ist auch das bereits
Bestandteil unseres Energiekonzeptes. Wenn Sie sich
das zu Gemüte geführt hätten, hätten Sie dieses Stichwort leicht gefunden.
({3})
Wir sind bereits dabei, diese Forderung zu erfüllen und
umzusetzen. - Frau Kofler, falls Sie es nicht verstanden
haben, wiederhole ich das gerne noch einmal:
({4})
Der Verkehrssektor ist nicht ganz unwichtig bei der
Frage, wie wir die Klimaschutzziele und die Energiewende umsetzen. Deswegen erlaube ich mir, in meiner
Rede auf die Punkte einzugehen, die aus Sicht der Verkehrspolitiker in diesem Zusammenhang nicht ganz unwichtig sind. Das müssen Sie schlicht und ergreifend
aushalten. Da müssen Sie jetzt durch. Ganz offensichtlich haben Sie ein Problem damit, wenn man hier relativ
ruhig, ohne den Schallpegel zu durchbrechen, ein paar
Fakten vorbringt und sagt, wo wir hinkommen wollen
und wie wir das erreichen wollen.
Deswegen sage ich zum Thema Biomethan: Auch
hier sind wir offen. Sie, liebe Kollegen von der SPD, haben vielleicht auch zur Kenntnis genommen, dass Biomethan bei der Biokraftstoffquote selbstverständlich anrechenbar ist. Aber auch hier gilt: Es gibt noch ein Leben
daneben. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Die Verbrauchsgrenzwerte müssen ambitioniert sein,
keine Frage. Aber uns ist schon wichtig, dass Ambitionen und Augenmaß zusammenpassen, dass das eine das
andere nicht ausschließt. Wir haben heute schon mehrfach gehört, dass wir in diesem Bereich europaweit absolute Vorreiter sind. Der Kollege Jung hat es ausgeführt, der Bundesumweltminister ebenso. Wir wissen
aber auch, dass wir Standort von vielen großen und guten Fahrzeugschmieden sind. Ich möchte hier in aller
Deutlichkeit sagen: Wir stehen dazu, dass wir in unserem Land eine herausragend gute Automobilindustrie
haben, und wir wollen auch, dass das so bleibt.
({5})
Deshalb ist es auch nicht verwerflich und nicht verboten, sich mit der Industrie darüber zu unterhalten, wie
wir ambitionierte Ziele miteinander und nicht gegeneinander erreichen können. Das ist auch ein Ziel der Verkehrspolitik der deutschen Bundesregierung. Dazu stehen wir definitiv. Wir wissen, dass wir im Bereich der
Elektromobilität noch einige Probleme zu lösen haben,
keine Frage. Wir befinden uns in einer - wie es so schön
heißt - schwierigen Marktvorbereitungssituation. Wir
verfolgen ein ehrgeiziges Ziel, und wir werden noch sehr
hart daran arbeiten müssen, lieber Kollege Jung, dieses
auch zu erreichen.
Aber es geht nicht gegen den Markt, es geht nur mit
dem Markt. Es geht auch nur mit dem Verbraucher, der
letztlich diese Autos fahren und bezahlen muss. Danach
müssen wir uns politisch richten. Deswegen gilt für uns
ganz klar: nicht nur Reglementierung, nicht ein Gegeneinander, sondern ein gutes Miteinander und ein gemeinsames Erreichen dieser Ziele. Ich glaube, dass wir tatsächlich auf einem ausgezeichneten Weg sind.
({6})
Angesichts dieser Leistungsbilanz glaube ich, dass
wir zufrieden sein können. Wir können uns nicht zurücklehnen, ganz im Gegenteil. Wir müssen noch sehr viel
dafür tun, dass wir beim Klimaschutz vorankommen.
Aber ich möchte betonen: Diese Leistungsbilanz kann
sich in der Tat sehen lassen, und sie ist durchaus noch
ausbaufähig. Das hätte ich gern in dem einen oder anderen Antrag von Ihnen gelesen, aber dafür hat es im
Wahlkampf offenbar nicht mehr gereicht.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Angelika Graf hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Präsidentin!
Frau Kollegin Ludwig, meine Lebenserfahrung sagt mir,
dass man dem politischen Gegner besser nicht unterstellen sollte, dass er dumm, uninformiert etc. ist. Ich denke,
das hat etwas mit dem Ansehen der Politik zu tun. Dem
haben Sie gerade intensiv geschadet.
({0})
Ich möchte mich mit dem Thema, das ich Ihnen heute
vorstelle, ein bisschen außerhalb der Grenzen Deutschlands bewegen; denn der Klimawandel macht eben nicht
an den Grenzen halt. Darüber haben wir heute schon länger und anhand vieler Beispiele gesprochen.
Ich möchte Ihnen von einer Delegationsreise des
Menschenrechtsausschusses, dem ich angehöre, berichten. Wir waren Anfang April in Nepal und haben uns
über die schwierige Lage vor Ort informiert. Diese hat
auf der einen Seite etwas mit den Schatten der Vergangenheit zu tun, die immer noch auf diesem Land liegen,
auf der anderen Seite aber durchaus auch mit der Klimaveränderung, die man in Nepal ganz besonders deutlich
sieht und spürt. Die Gletscher im Himalaja-Staat
schmelzen. Der UN-Klimarat schätzt, dass sie im Jahre
2035 nur noch ein Fünftel der heutigen Fläche bedecken.
Durch die Schmelze entstehen riesige Gletscherseen.
Wenn man sich anschaut, welche Flächen dort überflutet
werden, weiß man, dass die Hochwasser, gegen die wir
heute hier kämpfen und die uns wegen ihrer Ausmaße
und der Anzahl der betroffenen Menschen erschrecken,
dagegen wirklich ein Klacks sind. Die Folge ist - so absurd es klingt -, dass die Trinkwasserversorgung für
rund 1,3 Milliarden Menschen in den umliegenden Ländern stark gefährdet ist. Die Menschen sind somit sehr
stark in ihrem Recht auf Wasser beeinträchtigt.
Um auf die Folgen der Erderwärmung aufmerksam zu
machen, hat die Regierung von Nepal im Jahre 2009 am
Mount Everest in 5 262 Metern Höhe getagt. Ich frage
jeden, der hier ist, ob er das zur Kenntnis genommen hat,
ob uns allen bekannt ist, wie verzweifelt die Lage in diesem Land ist.
Ich finde es gut, dass Nepal bei der diesjährigen Klimakonferenz in Polen eine besondere Rolle einnimmt. Nepal ist derzeit der Sprecher der Gruppe der Least Developed Countries. Damit hat Nepal die schwierige
Aufgabe, die Interessen und Bedürfnisse derjenigen
Menschen zu vertreten, deren Rechte durch die Folgen
des Klimawandels am stärksten gefährdet sind.
Bisher standen die Rechte der Menschen bei den Debatten der internationalen Klimaverhandlungen eben
nicht im Zentrum des Interesses. Mittlerweile diskutieren die Regierungen und auch die Großen der Weltwirtschaft über geeignete Anpassungsstrategien - das ist in
Ordnung -, streiten über einen transparenten Emissionshandel - auch das ist prima - und über das 2-Grad-Ziel.
Wir haben heute mehrfach gehört, dass wir dieses wohl
nicht erreichen können; es ist aber gut, dass dies ein
Thema ist.
Eines vermisse ich jedoch bei all diesen Diskussionen
- das ist meiner Meinung nach das Wichtigste -, nämlich
die Rechte der Menschen. Es geht darum, den Menschen
nicht als hilfloses Opfer, sondern als Träger von Rechten
zu sehen und diese Thematik mehr in die Debatte um
den Klimawandel einzubringen.
({1})
Dies umfasst das Recht auf Wohnen, das Recht auf Wasser, das Recht auf Gesundheit und zum Beispiel auch
- da schließe ich an das an, über das wir vorhin debattiert haben - das Recht, nicht vertrieben zu werden, nicht
vom Wasser und auch nicht von anderen Menschen, die
mehr Geld haben und sich infolgedessen sozusagen in
dem Land einkaufen, wo andere Menschen vorher gelebt
haben.
Die Verbindung zwischen der Verletzung von Menschenrechten und dem Klimawandel ist, wie das eingangs beschriebene Beispiel Nepal gezeigt hat, offensichtlich. Dennoch ist auf internationaler Ebene bisher
keine Verknüpfung dieser beiden Rechts- und Politikbereiche erfolgt. Auf der einen Seite haben wir das internationale Menschenrechtssystem mit den UN-Pakten,
der Genfer Flüchtlingskonvention und mit seinen individuellen Möglichkeiten der Beschwerde. Auf der anderen
Seite haben wir die internationalen Klimaverhandlungen
unter dem Dach der Klimarahmenkonvention.
Hier setzt unser Antrag an. Wir sind der Meinung,
dass die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels
ausschließlich in Verbindung mit der Verletzung oder
Gefährdung der Rechte der Menschen gesehen werden
Angelika Graf ({2})
können und sollen und dass wir die Einbindung der
Menschenrechte in die Klimadiskussion brauchen, um
nachhaltige und für die Menschen angepasste und wichtige und richtige Lösungen zu finden.
({3})
Ein menschenrechtsbasierter Ansatz in der Klimapolitik
würde aus unserer Sicht die internationalen Diskussionen neu ankurbeln und den besonders Betroffenen eine
wichtige Stimme verleihen.
Erstens ist in den UN-Pakten die Pflicht, international
zu kooperieren, fest verankert. Zweitens würde der Fokus dadurch besonders auf verwundbare Bevölkerungsgruppen, also zum Beispiel ethnische Minderheiten, gelegt. Drittens könnte ein menschenrechtsbasierter Ansatz
Standards und Mechanismen für die Klimapolitik bereitstellen, die den Klimawandel mit seinen Folgen auf vertraglich vereinbarter Grundlage politisch und rechtlich
bewerten.
Wir fordern daher diese und die kommenden Bundesregierungen auf, diesen Ansatz im Menschenrechtssystem und bei den Klimaverhandlungen sowie im Flüchtlingsschutz
Frau Kollegin.
- ich bin sofort fertig - und der bi- und multilateralen
Entwicklungspolitik entsprechend zu integrieren. Herr
Kauch, vom Außenministerium - Sie sind mir nicht böse habe ich diesbezüglich noch nichts gehört.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Klaus Breil.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und
Kollegen! In tiefer Betroffenheit möchte ich mich den
Worten des Kollegen Horst Meierhofer zur Hochwasserkatastrophe, vor allen Dingen mit dem Bezug zu Bayern,
anschließen.
Angesichts der Anzahl der Beschlussempfehlungen
und Anträge möchte ich mich auf die zwei Punkte
„transatlantische Kooperation“ und „China als Partner“,
die sich vor allem in zwei Anträgen der Grünen finden,
konzentrieren. Dabei möchte ich die Damen und Herren
der Opposition um eines bitten. Allzu oft führen Sie die
Vorreiterrolle Deutschlands als Begründung für die Einführung von Zwangsmaßnahmen an. Ich möchte Ihnen
in dieser Sache eines mitgeben: Nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass Fingerzeige von uns auf China oder die
USA als diejenigen, die Nachhilfe von uns brauchen,
nicht notwendig sind.
({0})
Niemand braucht oder mag uns Deutsche als Besserwisser, die stets nach einer Eins mit Sternchen lechzen.
Beide Länder - das mag für den einen oder anderen hier
neu sein - kümmern sich sehr wohl um den Klimaschutz
innerhalb ihrer Staatsgrenzen. Beide Länder tun dies auf
ihre eigene Art. Beide Länder nehmen andere Wege als
wir in Deutschland.
Da Sie mir das nicht glauben, möchte ich Ihnen zwei
Beispiele aus meiner jüngsten persönlichen Erfahrung
nennen. Ende Mai war ich in Washington D. C. auf dem
Energy Efficiency Global Forum, einer internationalen
Konferenz zur Energieeffizienz. Dort war es fast schon
eine Selbstverständlichkeit, dass ein Deutscher, nämlich
der Unternehmer Heinz Dürr, mit einem Preis für sein
Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Deutschland steht
wie kein anderes Land für Effizienz, so auch für Energieeffizienz.
({1})
Die Amerikaner verfolgen bei ihrer Energiewende
einen anderen, einen eigenen Ansatz: Sie agieren marktbezogen. Sie setzen auf Energieeffizienz sowohl in der
Industrie als auch in den privaten Haushalten. Großen
Einfluss auf die Steigerungsraten bei der Energieeffizienz bzw. bei der Produktivität haben in den USA Produktzyklen: die Zeiträume, in welchen Maschinenparks
oder Geräte ausgetauscht werden. Bei diesem Weg
möchte ich einem souveränen Staat nicht hereinreden.
Den Ansatz der Chinesen zum Klimaschutz konnte
ich auf der letzten Delegationsreise des Wirtschaftsausschusses wieder erleben: Dort werden - das ist zugegebenermaßen eine Spur mehr Planwirtschaft als bei uns Fünfjahrespläne aufgestellt. Diese haben unter anderem
das Ziel, die Effizienz in den Unternehmen zu steigern
und den Einsatz von Ressourcen zu verringern. Für mich
ist das eine klare Ansage und nicht neu: Auch im letzten
Fünfjahresplan wurde das Projekt Energieeffizienz angegangen, und zwar für die chinesische Stahlindustrie.
Durch strenge Vorgaben wurden in China in diesem Bereich die größten Verschmutzer vom Markt genommen.
({2})
Ihnen wurde einfach die Genehmigung zur Produktion
entzogen. Das ist der chinesische Weg.
({3})
Unser Weg liegt zwischen dem amerikanischen mit
viel Markt und dem chinesischen mit Plänen. Mit Verlaub: Wir könnten ein wenig mehr Markt gebrauchen;
aber das gehen wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner in der kommenden Legislaturperiode an.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat der Kollege Johannes Röring das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Koalition steht ohne Wenn und Aber zum Klimaschutz.
Keine Regierung hat so viel für den Klimaschutz getan
wie die christlich-liberale Koalition unter Angela
Merkel.
({0})
Der Maßnahmenkatalog reicht von der Förderung der
erneuerbaren Energien bis hin zur Förderung der energetischen Gebäudesanierung. Die Reduktion von Treibhausgasen um 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent
bis 2050
({1})
ist keine leere Worthülse, sondern sie ist Realität.
({2})
Meine Damen und Herren, in einem der siebzehn Anträge, über die wir hier diskutieren, geht es auch um die
Landwirtschaft. Deswegen möchte ich ein wenig näher
darauf eingehen. Wie jeder andere Sektor ist auch die
Landwirtschaft bereit, ihren Beitrag zum Erreichen der
Klimaschutzziele zu leisten. Die Bauern selbst haben ein
großes Interesse am Klimaschutz.
Ich möchte in diesem Zusammenhang die Starkregenfälle der letzten Wochen erwähnen, die viele Dörfer und
viele meiner Berufskollegen stark in Mitleidenschaft gezogen haben. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen
Helferorganisationen bedanken und äußerst loben, dass
dort so viel Einsatz gezeigt wurde. Mein Dank gilt auch
den vielen Landwirten, die mit ihren Maschinen, mit ihrer Technik mitgeholfen haben.
Ich sage der Opposition an dieser Stelle sehr deutlich:
Die Landwirtschaft ist - anders als das manchmal
behauptet wird - bereit, ihren Beitrag zu leisten, auch in
der Frage von Retentionsflächen. Wir sehen allerdings
nicht ein, warum diese Flächen nicht bewirtschaftet werden sollen. Ich sage an dieser Stelle noch einmal: Die
Landwirtschaft lässt mit sich reden.
({3})
Wenn es um notwendige Deichbaumaßnahmen geht,
sage ich Ihnen allerdings sehr deutlich: Da ist mir der
Mensch wichtiger als die Libelle.
Land- und Forstwirtschaft sind die einzigen Wirtschaftszweige, in denen durch den Anbau von Pflanzen
und durch Humusanreicherung in den Böden sogar CO2
gebunden werden kann. Die originäre Aufgabe der
Landwirtschaft ist nämlich Erzeugung von hochwertigen
Nahrungsmitteln für die Menschen.
Um weiterhin genügend gute und bezahlbare Nahrung zu produzieren, brauchen wir eine hocheffiziente
und intensive Landwirtschaft.
({4})
Diese wird aber immer öfter von einigen als industrielle
Landwirtschaft beschimpft, und das vor dem Hintergrund einer sich noch vergrößernden Weltbevölkerung.
Deswegen glaube ich, dass eine extensive Landwirtschaft und Ökoanbau allein die Menschen auf der Welt
nicht satt machen werden.
({5})
Die Landwirtschaft ist zwar durch Emissionen wie
CO2, Methan und NO2 am Klimawandel beteiligt, aber
ein Verzicht oder eine Verlagerung von Produktion in
andere Länder - das wäre die zwangsläufige Folge wäre überhaupt keine Alternative.
({6})
Zum Beispiel ist ohne den Einsatz des Hauptnährstoffes
Stickstoff kein Anbau von Früchten möglich. Aber die
Landwirtschaft ist bereit, sich durch ständige Anpassung
der guten fachlichen Praxis wie emissionsarme Düngung
und Düngerausbringung zu verbessern. Die Formel
heißt: Mit weniger mehr erzeugen. Betrachtet man nämlich den CO2-Fußabdruck als Messlatte für Klimabeeinflussung, dann sieht man ganz deutlich, dass der Ausstoß
pro Tonne Getreide, pro Liter Milch und pro Kilo
Fleisch, also pro Einheit, bei der modernen Landwirtschaft erheblich geringer ist. Deswegen ist Bio nicht immer gleich Öko.
Forderungen der Opposition zum Klimaschutz in der
Landwirtschaft sind ein Versuch, die beiden Bewirtschaftungsformen gegeneinander auszuspielen. Effiziente Landwirtschaft in Deutschland bedeutet doch
effizienten Klimaschutz, meine Damen und Herren. In
Sachen Klimaschutz sind wir nämlich auch in der Landwirtschaft in Deutschland Vorreiter.
({7})
Diesen Weg wollen und werden wir weitergehen. Das
funktioniert aber nicht, indem man die Landwirtschaft
immer mit weiteren Regeln und Verboten gängelt. Das
führt nämlich zur Verzerrung des Wettbewerbs und vor
allen Dingen zur Schwächung unserer klimaeffizienten
Landwirtschaft. Die Folge ist ganz einfach: Sie bevorteilen Klimasünder in anderen Ländern, weil die Produktion dorthin auslagert wird, und Sie gefährden die
Arbeitsplätze bei uns vor der Tür. Klimaschutz ist nämlich eine internationale Aufgabe. Durch nationale Alleingänge werden die Probleme nur verschoben, aber
nicht gelöst. Deutschland ist deshalb Gründungsmitglied
der Globalen Forschungsallianz zu landwirtschaftlichen
Treibhausgasen.
Die christlich-liberale Koalition steht für eine klimaeffiziente Landwirtschaft, die dem Ernährungsauftrag
auch in Zukunft gerecht werden will.
({8})
Dazu gehören natürlich auch Vorgaben und Leitplanken
für die Landwirtschaft. Gebote und Verbote erfordern
jedoch das richtige Augenmaß. Ihre Vorschläge, meine
Damen und Herren von der Opposition, sind gekennzeichnet von Regelungswut und maßlosen Vorgaben.
Klimaschutz geht nur mit den Bauern und nicht gegen
sie. Ihre Anträge sprechen eine andere Sprache. Deswegen lehnen wir sie ab.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt hat die Kollegin Gabriele Groneberg das Wort
für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu der Aktualität dieser Debatte ist heute schon viel gesagt worden. Dem kann ich mich in großen Teilen nur
anschließen. Mir geht es in dieser Debatte wie Ihnen,
Herr Röring, um die Belange der Landwirtschaft. Aber
ich glaube, das ist so ziemlich das Einzige, was wir bei
dieser Debatte gemein haben.
In der Tat: Die Landwirtschaft ist ganz besonders betroffen von den künftigen Auswirkungen des Klimawandels. Und: Unsere Landwirtschaft ist nicht klimaneutral.
Sie ist Opfer, aber sie ist eben auch Verursacher. Die
Abholzung von Wäldern, der Umbruch von Grünland
und Brachflächen, der intensive Ackerbau mit engen
Fruchtfolgen und Monokulturen, der starke Einsatz von
synthetischen Düngemitteln und die intensive Tierhaltung tragen nachweislich zum Klimawandel bei. Wohlgemerkt geht es hier nicht darum, die Landwirtschaft als
Klimakiller zu diffamieren; aber selbst nach Angaben
dieser Bundesregierung ist die Landwirtschaft an den
Treibhausgasemissionen mit einem Anteil von 11 bis
15 Prozent beteiligt.
In der Nachhaltigkeitsstrategie dieser Bundesregierung ist der Handlungsdruck durchaus formuliert: Die
Indikatorberichte sagen aus, dass es für den Bereich der
Landwirtschaft zwingend notwendig ist, den Stickstoffüberschuss zu verringern, was bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, offensichtlich verdrängt wird. Herr Röring, Ihre Ausführungen dazu
waren auch nicht sehr erbaulich. Mit unserem Antrag
hingegen haben wir Sie bereits vor zwei Jahren aufgefordert, den Stickstoffüberschuss auf 50 Kilogramm pro
Hektar zu begrenzen.
Dass wir ein Problem mit dem Nährstoffüberschuss
haben, ist ja nicht neu; es gibt Regionen in diesem Land,
wo dringender Handlungsbedarf besteht. Das wissen wir
seit längerem. Dort schlagen vor allem auch die Wasserverbände Alarm, weil die Nitratwerte im Grundwasser
beunruhigend ansteigen. Wir finden: Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Ihre einzige Antwort ausweislich der Bundestagsdrucksache 17/4888 ist - jetzt kommt es -:
Die Vorwürfe, es werde nicht genug kontrolliert,
träfen nicht zu. Erst vor kurzem habe es eine erhebliche Verschärfung der Verbringungsverordnung
gegeben. Auf der Grundlage dieser Verbringungsverordnung werde jedes Kilogramm Stickstoff,
Phosphor und Kali registriert und kontrolliert. Deswegen sei auch die Forderung nach einer Verschärfung der geltenden Regelungen der Düngeverordnung der falsche Weg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
merken doch offensichtlich überhaupt nicht, was da
draußen passiert. Es gibt definitiv nicht genug Kontrollen.
({0})
Wir haben neben diesem Antrag einen weiteren Antrag eingebracht, in dem wir fordern, die Düngeverordnung zu novellieren und zu verschärfen. Wir wollen über
die Reduzierung des Stickstoffüberschusses hinaus mit
einer Stickstoffbilanz eine zielgenaue, bedarfsgerechte
und standortangepasste Düngung erreichen. Diese erfolgt in Teilen zurzeit nicht.
Wir wollen Schulungs- und Beratungsprogramme intensivieren. Es muss eine wirksame Düngeverordnung
geben. Diese muss konsequent eingehalten werden, und
dafür müssen Kontrollen ebenso wie wirksame Sanktionen sorgen. Und es gilt, den Grünlandumbruch zu
unterbinden, um auch damit die Stickstoffüberschüsse zu
begrenzen.
In diesem Zusammenhang haben Sie es versäumt,
klare Regelungen zur intensiven Tierhaltung und zum
Tierschutz in der landwirtschaftlichen Tierhaltung auf
den Weg zu bringen.
({1})
Nach langen Verhandlungen in diesem Hause konnten
wenigstens einige Regelungen von uns durchgesetzt
werden, die vor allem die kommunale Planungshoheit in
den ländlichen Räumen, zum Beispiel in Bezug auf die
überbordende Bebauung mit Ställen, sichern sollen.
Aber es gibt noch weitere Handlungsfelder, auf denen
Sie in den letzten Jahren ständig untätig geblieben sind
und bei denen Sie sich wirksamen Maßnahmen zum
Schutz des Klimas und der Landwirtschaft schlichtweg
verweigern. Als Stichworte nenne ich nur das Waldgesetz, Maßnahmen auf EU-Ebene und zum ökologischen
Landbau und natürlich auch unseren Antrag zur Verwendung von Pflanzenölen in der Landwirtschaft. Nichts ist
von Ihnen hier akzeptiert worden. Bei allem haben Sie
„njet“ gesagt.
(Michael Grosse-Brömer ({2}):
Würden wir nie tun!
Da sind die Herausforderungen der Ernährung einer
immer größer werdenden Bevölkerung, Herr Röring.
Diese unter Inkaufnahme einer Vernachlässigung von
ökologischen Faktoren sicherzustellen, ist geradezu
sträflich und rächt sich. Es rächt sich vor allem da, wo
Natur und Umwelt nachhaltig Schäden erleiden und damit letztendlich den Menschen schaden. An dieser Stelle
muss auch einmal deutlich gesagt werden: Wir wollen
die Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland sichern.
Dafür muss man aber weiter denken als Sie zurzeit in
dieser Koalition. Ein Weiter-so, ein „immer intensiver“
ist letztendlich der Todesstoß für viele Landwirte in unserem Land. So wie Sie nicht auf Herausforderungen der
Zukunft zu reagieren, nicht zu reagieren auf den Klimawandel, bedeutet das Aus für eine gute Landwirtschaft.
Das muss man den Menschen draußen auch sagen. Wir
werden das tun.
({3})
Jetzt hat der Kollege Christian Hirte für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
haben jetzt eine Vielzahl von Reden gehört. Als letzter
Redner der Debatte habe ich die besondere Freude, zu
schauen, was übrigbleibt, und zusammenzukehren, was
aus der Debatte dauerhaft Bestand haben soll.
Viele meiner Vorredner haben schon darauf hingewiesen, dass Klimaschutz nicht allein eine nationale
Aufgabe ist, sondern dass Klimaschutz nur im internationalen Kontext vernünftig organisiert werden kann.
Ich glaube, uns allen ist klar, dass wir die Welt allein
mit der von uns hier in Deutschland betriebenen Klimaschutzpolitik nicht retten können. Daher müssen wir alles daransetzen, zunächst europäisch, aber auch international dafür Sorge zu tragen, dass ein vernünftiger Weg
eingeschlagen wird. Wir müssen als Deutsche dabei einen Spagat vollbringen, indem wir auf der einen Seite
den Weg, den wir hier ja schon beispielhaft beschrieben
haben, weiter vorangehen, auf der anderen Seite unsere
Bürger und unsere Wirtschaft aber nicht überfordern.
Wir wollen in dieser Bundesregierung - in der Koalition aus CDU/CSU und FDP - Ökonomie und Ökologie
unter einen Hut bringen. Wir sind - das wird übrigens
weltweit bestätigt - Vorreiter in der Klimaschutzpolitik.
Die Wahrnehmung, die Sie in der Opposition möglicherweise haben, entspricht nicht der unserer Bürger in
Deutschland und schon gar nicht der, die international
vorherrscht, wenn man dort schaut, was wir in Europa
und vor allem aber auch in Deutschland schon auf den
Weg gebracht haben.
({0})
Es mag nett sein, über Klimaschutzziele und deren
Definition und Festschreibung zu debattieren. Entscheidend ist aber, was am Ende tatsächlich praktisch umgesetzt wird. Wir haben gerade am Anfang der jetzigen Legislaturperiode mit dem Energiekonzept erstmals eine
langfristige konkrete Vision aufgestellt,
({1})
die für den Zeitraum bis 2050 konkrete Ziele und Maßnahmen dafür definiert, dass der Energieverbrauch bei
uns in Deutschland insgesamt gemindert wird.
({2})
Ich glaube, hier können wir durchaus - das will ich
wohlwollend in Richtung der Opposition sagen - auch
auf gemeinsame Erfolge in der Vergangenheit zurückblicken, auf die wir aufsatteln konnten.
Der Ausbau der Erneuerbaren war in der jetzigen Legislaturperiode so erfolgreich wie nie. Der Anteil der erneuerbaren Energien im Strommarkt liegt mittlerweile
bei etwa 25 Prozent. Ich glaube, das ist ein beeindruckender Erfolg.
({3})
Deswegen verfängt es doch überhaupt nicht, dass Sie
den Anschein erwecken wollen, dass wir mit unserer
Klimaschutzpolitik und unserer Politik für die erneuerbaren Energien nicht erfolgreich vorankommen.
({4})
Das tun wir im Übrigen nicht nur, indem wir hier Klimaschutzdebatten führen, sondern indem wir auch praktisch Geld in die Hand nehmen, zum Beispiel für den
deutlichen Ausbau der Forschung, etwa für die Forschung an Netztechnologien und dem Ausbau von Speichern.
({5})
Das sind sehr wichtige Themen, wenn wir den Ausbau
der erneuerbaren Energien langfristig erfolgreich voranbringen wollen; denn jedem von uns hier im Hause ist
klar, dass der Ausbau der Erneuerbaren nur dann erfolgreich sein kann, wenn die volatilen Energien abgepuffert
werden können.
Als Mitglied des Koordinationskreises Elektromobilität will ich auch sagen,
({6})
dass wir insbesondere im Bereich Elektromobilität sehr
viel erreicht haben, indem wir mittlerweile etwa 1 Milliarde Euro in die Forschung investiert haben.
({7})
Es ist auch gut, dass wir zunächst Forschungsmittel in
die Hand nehmen und anders als andere Staaten nicht
unmittelbare Anreize für den Kauf von Autos setzen.
({8})
Das würde nämlich dazu führen, dass man keine deutschen, sondern französische oder japanische Fahrzeuge
kaufen würde.
({9})
Ich halte es deswegen für richtig, dass wir den Weg beschreiten, zunächst die Technologie so zu entwickeln,
dass wir am Ende nicht nur Leitmarkt, sondern vor allem
Leitanbieter in einem so wichtigen Bereich werden können.
Herr Kollege, Sie haben gesehen, dass es den Wunsch
zu einer Zwischenfrage gibt. Ich mache aber darauf aufmerksam, dass Ihre originäre Redezeit gleich abläuft.
Dann will der Kollege Ott sie wahrscheinlich verlängern.
Prima, gut. Hiermit ist sie zugelassen.
({0})
Herr Kollege, ich wollte Ihren Kollegen Röring eben
nicht unterbrechen, weil ich nicht wusste, ob er meine
Frage hätte beantworten können. Bei Ihnen setze ich
doch etwas Sachverstand voraus.
({0})
Sie sagen, dass Sie die Elektromobilität fördern wollen. Erzählen Sie uns doch einmal, was Sie dafür wirklich tun. Ich komme in diesem Zusammenhang mit vielen Leuten zusammen - mit Entwicklern von diesen
Fahrzeugen und solchen, die diese Fahrzeuge dann tatsächlich absetzen wollen -, und wir kommen einfach
nicht weiter. 1 Million Elektroautos wollte Ihre Regierung bis 2020 auf die Straße bringen. Ein paar Tausend
sind es bis jetzt geworden. Das wird also niemals gelingen.
Jetzt sagen Sie uns doch: Mit welchen Maßnahmen
wollen Sie den Absatz von Elektrofahrzeugen fördern?
Sie sagen: Wenn wir jetzt eine Prämie für den Kauf einführen, dann werden nur französische Autos gekauft.
Damit geben Sie doch zu, dass Anreize für die deutsche
Industrie fehlen, solche Fahrzeuge tatsächlich zu entwickeln. Gerade deshalb brauchen wir Kaufanreize, damit
Elektrofahrzeuge diese Hürde nehmen können.
Lieber Kollege Ott, zunächst herzlichen Dank für die
Blumen, was meine Kompetenz angehen soll. Die kann
ich leider nicht zurückgeben.
({0})
Wir befinden uns momentan noch in einer ganz frühen
Phase des Markteintritts von Elektromobilen, in der wir
uns teilweise noch im Konzeptbereich bewegen und
ganz viel forschen müssen. Es fängt jetzt gerade erst an,
dass langsam auch in der Breite nutzbare Fahrzeuge auf
den Markt kommen.
({1})
Der Bundesminister Altmaier hat gerade gesagt, dass in
dieser Woche das erste deutsche Serienfahrzeug vom
Band gelaufen ist und dass in diesem Jahr zum Beispiel
noch andere - auch deutsche - Automobilhersteller
nachziehen werden. Wenn Sie meinen, dass wir im Bereich Elektromobilität noch nicht vorangekommen sind,
nehme ich Ihnen das nicht so recht ab, weil ich glaube,
dass Sie wissen müssten, dass wir neben den Forschungsmitteln, die wir auf den Weg gebracht haben,
auch mit den Modellregionen Erfolge verzeichnen können, dass wir bei den Zulassungen jetzt beeindruckende
Zahlen haben
({2})
- ich bin mit dem Thema Elektromobilität noch nicht
fertig -, die besagen, dass allein im letzten Jahr die Zulassung rein elektrisch betriebener Fahrzeuge von 4 500
auf 7 200 gestiegen ist. Bei Hybridfahrzeugen gab es
eine Steigerung von 12 000 auf 21 000 Fahrzeuge. Das
geschah in einer ganz frühen Phase der Markteinführung.
Wenn wir jetzt nach und nach mit unseren deutschen
Produkten auf den Markt kommen, bin ich nicht so pessimistisch wie Sie, sondern glaube, dass es nach wie vor
durchaus erreichbar ist, dass wir in den Jahren 2017 bis
2019 jährliche Produktionsmengen von ein paar Hunderttausend Fahrzeugen erreichen können, womit wir
das von unserer Regierung gesetzte Ziel erreicht hätten.
({3})
Herr Kollege Hermann Ott, Sie wissen, was im Hause
üblich ist. Sie haben sich da nicht so verhalten; aber jeder ist ja immer für sich selbst verantwortlich.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, abschließend möchte ich sagen, dass wir nicht starr wie die Maus
vor der energie- und klimapolitischen Katastrophenschlange sitzen und warten, was passieren möge. Wir haben gehandelt, wir haben Erfolge vorzuweisen. Ich
glaube, jeder, der das mit ein wenig Wohlwollen und
auch Sachverstand verfolgt, kann das bestätigen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Unser Kollege Christian Hirte war der letzte Redner
in dieser Aussprache.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zu
einer Reihe von Abstimmungen.
Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen
17/13757 und 17/13755 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkt 8 c. Wir kommen zum Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13907
mit dem Titel „Emissionshandel stärken - Überschüs-
sige Zertifikate vom Markt nehmen“. Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen wünscht die Abstimmung in der
Sache, die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-
schen die Überweisung zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit. Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über
den Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage des-
halb: Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? -
Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshal-
ber: Enthaltungen? - Niemand. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen. Damit stimmen wir heute über den
Antrag auf Drucksache 17/13907 nicht ab.
Tagesordnungspunkt 8 d. Antrag der Fraktionen der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13758
mit dem Titel „Erfolgreicher Klimaschutz braucht neue
Maßnahmen“. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Abstimmung in der Sache, die
Fraktionen von CDU/CSU und FDP wünschen Überwei-
sung zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Auch hier
stimmen wir zuerst wieder über den Antrag auf Aus-
schussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt
für die beantragte Überweisung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind alle
drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltun-
gen? - Niemand. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen. Damit stimmen wir heute über den Antrag auf
Drucksache 17/13758 nicht ab.
Tagesordnungspunkt 8 e. Abstimmung über den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13884 mit
dem Titel „Erneuerbare Energien und Energieeffizienz in
Entwicklungsländern“. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Das sind alle drei Oppositionsfraktionen. Wer stimmt da-
gegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltun-
gen? - Niemand. Der Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 8 f. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Strategie für Klimaschutz im Verkehr vorle-
gen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/7010, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/4040
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Das ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-
gen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Die Be-
schlussempfehlung ist infolgedessen angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 g. Abstimmung über den An-
trag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/12848 mit dem Titel „Bangladesch bei
der Bewältigung des Klimawandels unterstützen“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Das sind alle drei Opposi-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Der
Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 8 h. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Klimakonferenz
Doha - Kein internationaler Erfolg ohne nationale Vor-
reiter“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12743, den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11651 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Die Fraktionen der Sozialdemokra-
ten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? -
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.
Tagesordnungspunkt 8 i. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Herausforderung Klimawandel - Landwirt-
schaft 2050“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4888,
den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1575
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bünd-
nis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 j. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Biome-
than im Verkehrssektor fördern“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/8414, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/3651 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Fraktion der Sozialdemokraten. Ent-
haltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Eduard Oswald
Tagesordnungspunkt 8 k. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Ein nationales Klimaschutzgesetz - Verbindlich-
keit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der Vorreiterrolle
gerecht werden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13850, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3172 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Frak-
tionen der Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grü-
nen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 l. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Nach Cancún - Europäische Union muss ihr Kli-
maschutzziel anheben“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13824, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5231
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? -
Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 m. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Mit ambitionierten Verbrauchsgrenzwerten die
Ölabhängigkeit verringern“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11846,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/10108 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktio-
nen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegen-
probe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Ent-
haltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 n. Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 17/13930.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7356
mit dem Titel „Neue Initiative für transatlantische Ko-
operation in der Klima- und Energiepolitik“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 8 n. Unter
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/7481 mit dem Titel „China als wichtiger Part-
ner im Klimaschutz“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Links-
fraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 o. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Energetische Quartierssanierung sozialge-
recht voranbringen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13827, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/11205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das waren die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfrak-
tion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 2. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Grünlanderhalt ist Klimaschutz“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13148, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11028 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Alle drei
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 69 a bis 69 g sowie
die Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
69 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Suche
und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive
Abfälle und zur Änderung anderer Gesetze
({0})
- Drucksachen 17/13833, 17/13926 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. April 2013 über den Waffenhandel
- Drucksache 17/13834 Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss ({2})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Verteidigungsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({3}), Kerstin Andreae, Sven-Christian
Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bundesvermögen transparent bilanzieren
- Drucksache 17/13759 Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss ({4})-
Verteidigungsausschuss-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Vizepräsident Eduard Oswald
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Agnes Krumwiede, Daniela Wagner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stärkung von Baukultur und Denkmalschutz
- Drucksache 17/13914 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})-
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Dorothea Steiner, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Geplanten Verschleiß stoppen und die Langlebigkeit von Produkten sichern
- Drucksache 17/13917 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({6})-
Rechtsausschuss -
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn, Dr. Anton
Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Straßen- und Schienenlärm wirksam reduzieren
- Drucksache 17/13915 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit -
Haushaltsausschuss
g) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({8}) gemäß § 56 a GO-BT
Technikfolgenabschätzung ({9})
Regenerative Energieträger zur Sicherung der
Grundlast in der Stromversorgung
- Drucksache 17/10579 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung -
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 3 a)Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der
Bekämpfung von Steuerstraftaten
- Drucksache 17/13664 Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss ({11})-
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens
Spahn, Stefanie Vogelsang, Michael GrosseBrömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Dr. FrankWalter Steinmeier, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Gabriele Molitor, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
sowie der Abgeordneten Dr. Martina Bunge,
Kathrin Vogler, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der
Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
System der Organtransplantation in Deutschland nachhaltig stärken: Konsequenzen aus
den Manipulationen an Patientendaten in
deutschen Transplantationskliniken
- Drucksache 17/13897 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit ({12})Rechtsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 70 a bis 70 v sowie
Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 70 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Abkommens vom 20. März
1995 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Erhaltung der Grenzbrücken im Zuge der deutschen Bundesfernstraßen und der polnischen
Landesstraßen an der deutsch-polnischen
Grenze
- Drucksache 17/13418 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({13})
- Drucksache 17/13779 Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Joachim Hacker
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13779, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/13418 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. EnthaltunVizepräsident Eduard Oswald
gen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Die jetzt noch stehen, haben andere Gründe. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
13. Januar 2013 über die Vorrechte und Immunitäten der Internationalen Organisation
für erneuerbare Energien
- Drucksache 17/13416 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({14})
- Drucksache 17/13828 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Maria FlachsbarthDirk BeckerMichael KauchDorothée MenznerHans-Josef Fell
Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13828, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/13416 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es haben sich alle
erhoben. Ob dies auch richtig ist, schauen wir: Wer
stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 c:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Elvira Drobinski-Weiß,
Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Grünland effektiv schützen
- Drucksache 17/13895 Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die drei
Oppositionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Der Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 70 d:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({15}), Tom Koenigs, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transnationale Unternehmen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen
- Drucksache 17/13916 Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Wer
stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen.
Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Der Antrag ist abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 70 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({16}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ökologische Baustoffe - Klima schützen,
Energie sparen und Ölabhängigkeit reduzieren
- Drucksachen 17/11380, 17/12592 Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel ({17})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12592, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11380 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der
Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({18})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bärbel Bas,
Johannes Pflug, Michael Groß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Duisburger Hafen muss in öffentlicher
Hand bleiben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
Dr. Barbara Höll, Sahra Wagenknecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Duisburger Hafen AG in öffentlichem
Eigentum erhalten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Bärbel Höhn, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Privatisierung des Duisburger
Hafens
- Drucksachen 17/8140, 17/8349, 17/8583,
17/12921 Berichterstattung:Abgeordneter Matthias Lietz
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Vizepräsident Eduard Oswald
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8140 mit dem Titel
„Duisburger Hafen muss in öffentlicher Hand bleiben“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind alle
drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 70 f. Unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/8349 mit dem Titel „Duisburger Hafen AG in öffentlichem Eigentum erhalten“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/8583 mit dem Titel „Keine Privatisierung des
Duisburger Hafens“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 g:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({19}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Valerie
Wilms, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hinterlandanbindung der ZARA-Häfen verbessern
- Drucksachen 17/12194, 17/13151 Berichterstattung:Abgeordneter Hans-Werner Kammer
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13151, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 70 h:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({20})
zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Markus Kurth, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Menschen mit Behinderungen in
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
sichern und Inklusion weltweit ermöglichen
- Drucksachen 17/12844, 17/13365 Berichterstattung:Abgeordnete Sabine Weiss ({21})Karin Roth ({22})Helga DaubNiema MovassatUwe Kekeritz
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13365, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12844 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das
sind alle drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 i:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Omid
Nouripour, Memet Kilic, Volker Beck ({24}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesellschaftliche Vielfalt in der Bundeswehr
anerkennen
- Drucksachen 17/13095, 17/13621 Berichterstattung:Abgeordnete Markus GrübelLars KlingbeilBurkhardt Müller-SönksenPaul Schäfer ({25})Omid Nouripour
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13621, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13095 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 j:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({26}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Wiedereingliederung fördern - Gefangene in
die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung
einbeziehen
- Drucksachen 17/13103, 17/13806 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß ({27})
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13806, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/13103 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die
Vizepräsident Eduard Oswald
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 k:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({28}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Änderung der Vorschriften
über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren
- Drucksachen 17/13421, 17/13580 Nr. 2.1,
17/13835 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulDirk BeckerJudith SkudelnySabine StüberSylvia Kotting-Uhl
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13835, der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/13421 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 l:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({29}) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Sechsundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 17/13422, 17/13580 Nr. 2.2,
17/13792 Berichterstattung:Abgeordnete Ulla Lötzer
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13792, die Aufhebung der Verordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/13422
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Niemand.
Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir kommen nun zu
den Tagesordnungspunkten 70 m bis 70 v. Es handelt
sich um die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 70 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 598 zu Petitionen
- Drucksache 17/13738 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Sammelübersicht 598 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 599 zu Petitionen
- Drucksache 17/13739 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und SPDFraktion. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Sammelübersicht 599
ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 o:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 600 zu Petitionen
- Drucksache 17/13740 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Linksfraktion. Sammelübersicht 600 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 601 zu Petitionen
- Drucksache 17/13741 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die
Sammelübersicht 601 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 602 zu Petitionen
- Drucksache 17/13742 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Linksfraktion. Sammelübersicht 602 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 r:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 603 zu Petitionen
- Drucksache 17/13743 Wer stimmt dafür? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 603 ist angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 604 zu Petitionen
- Drucksache 17/13744 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 604 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 t:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 605 zu Petitionen
- Drucksache 17/13745 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Bündnis 90/Die
Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 605 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 u:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 606 zu Petitionen
- Drucksache 17/13746 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Sammelübersicht 606 ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 70 v:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 607 zu Petitionen
- Drucksache 17/13747 Wer stimmt dafür? - Koalitionsfraktionen. Wer
stimmt dagegen? - Alle drei Oppositionsfraktionen. Vorsichtshalber: Enthaltungen? - Niemand. Sammelübersicht 607 ist angenommen.
Zusatzpunkt 4:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Rainer Arnold, Dr. HansPeter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Konversion gestalten - Kommunen stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Wagner, Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Konversion - Zwischen Verwertungsdruck
und nachhaltigen Konzepten
- Drucksachen 17/9060, 17/9405, 17/10001 Berichterstattung:Abgeordnete Norbert BrackmannJohannes KahrsOtto FrickeRoland ClausDr. Tobias Lindner
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9060 mit dem Titel
„Konversion gestalten - Kommunen stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten,
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9405 mit dem Titel „Konversion Zwischen Verwertungsdruck und nachhaltigen Konzepten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben, wir sind am Ende dieser Abstimmungen.
({5})
- Ja, ich weiß. Die Kondition wird noch reichen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zu Plänen des
CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer zur Einführung einer Pkw-Maut nur für Ausländer
Ich eröffne nun die Aussprache.
({6})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind wieder ganz
bei der Sache.
({7})
Erster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist unser
Kollege Florian Pronold für die Fraktion der Sozialdemokraten.
({8})
Sehr geehrter Herr Präsident! Wenn viele Kollegen
diesem Vorschlag des Herrn Seehofer nicht mit Ernsthaftigkeit folgen wollen, kann ich es verstehen; denn ernst
gemeint kann er nicht sein. Es ist eine dreiste Lüge, zu
behaupten, man könnte eine Pkw-Maut auf deutschen
Straßen allein für ausländische Pkw erheben.
({0})
Wenn eine Pkw-Maut eingeführt würde, dann wären die
Leidtragenden die Pendlerinnen und Pendler, alle die,
die auf das Auto angewiesen sind. Das sind überwiegend
Menschen, die in Deutschland leben. Man kann lügen,
indem man die Wahrheit verschweigt. Darum wollen wir
uns der Wahrheit ein bisschen nähern.
Ich finde es spannend, wer heute redet und wer nicht
redet. Spannend ist vor allem, wer nicht redet. Wo ist die
Kanzlerin, die die Pkw-Maut ablehnt?
({1})
Wo sind die Kolleginnen und Kollegen der CDU, die die
Pkw-Maut ablehnen? Es sind die Kollegen der CSU da.
Auf der Rednerliste stehen nur Redner von der CSU,
sehr spannend. Aber der Kollege Max Straubinger fehlt
mir,
({2})
mein Freund aus dem Wahlkreis, mit dem ich vor kurzem ein Pro und Kontra in der örtlichen Zeitung zum
Thema Pkw-Maut hatte. Die Argumente konnte man
überhaupt nicht unterscheiden. Herr Straubinger hat vor
Ort deutlich gemacht: Nein, die Pkw-Maut allein für
Ausländer geht nicht. Zweitens hat er deutlich gemacht,
dass es am Schluss nur den Pendlerinnen und Pendlern
schadet. Schade, dass Sie Herrn Straubinger heute nicht
als Redner benannt haben.
({3})
Jetzt kommen wir zu der Frage, wie das denn gehen
soll. Die Bundesregierung ist von der SPD im letzten
Jahr befragt worden, ob es möglich ist, dass man eine
Pkw-Maut erhebt und dass unter dem Strich nur die ausländischen Autofahrer zahlen. Die klare Antwort der
Bundesregierung im letzten Jahr in diesem Haus - Peter
Ramsauer ist, glaube ich, Teil dieser Bundesregierung war: Das geht nicht. - Warum geht das nicht? Weil es ein
europarechtliches Diskriminierungsverbot gibt. Jetzt
stellen wir uns ganz kurz vor, dass es tatsächlich ginge.
Ich will nur eine Minute Zeit darauf verschwenden, dass
man unterstellt, Herr Seehofer könnte recht haben und es
ginge. Dann muss man aber einige Fakten zur Kenntnis
nehmen.
Nur 5 Prozent der Pkw auf deutschen Straßen sind
ausländische Pkw. In Österreich gibt es das Pickerl.
Viele in Niederbayern ärgern sich, wenn sie nach Österreich fahren, weil Sie dort Maut zahlen müssen und es
umgekehrt nicht so ist. Die Verwaltungskosten machen
9 Prozent der Einnahmen durch das Pickerl aus. 9 Prozent der Einnahmen der österreichischen Pkw-Maut gehen an den Betreiber. Das sind die öffentlichen Auskünfte, die dort zu erhalten sind.
({4})
Sie brauchen nicht zu schreien und zu jammern: Das ist
so. Wenn nur 5 Prozent der Pkw auf deutschen Straßen
aus dem Ausland sind, dann zahlen die ausländischen
Pkw nichts anderes als die Verwaltungskosten. Die, die
geschröpft werden, sind die deutschen Autofahrer. Das
ist Ihr tatsächlicher Plan.
({5})
Sie wollen die Angaben der Bundesregierung nicht
zur Kenntnis nehmen. CSU-Abgeordnete haben den
Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages
befragt und sich ein Gutachten erstellen lassen. Das Ergebnis war dasselbe: Es geht nicht.
({6})
Ich frage Sie: Warum stellen Sie diese Lügen in den
Raum? Wenn man sagt, dass nur die Ausländer zahlen
sollen, dann bekommt man Zustimmung; das ist klar.
Die Wahrheit ist: Zum Schluss zahlen es die deutschen
Autofahrerinnen und Autofahrer.
Fließt das Geld überhaupt in die Straße? Diese Forderung beinhaltet doch, dass der Herr Ramsauer von seinem eigenen Versagen ablenken will. 1,5 Milliarden
Euro werden jedes Jahr für den Verkehrsetat an zusätzlichen Steuern erhoben. Wurde mehr Geld in die Straße
investiert?
({7})
Nein. Nichts hat sich verändert. Warum soll das denn mit
der Pkw-Maut funktionieren? Das glaubt Ihnen doch
niemand.
Wir brauchen tatsächlich eine stärkere Reparatur der
Infrastruktur. Es gibt marode Brücken. Schwarz-Gelb
hat dagegen nichts gemacht.
({8})
30 Prozent der Lkw auf deutschen Straßen sind ausländische Lkw. Diese Lkw machen jede Straße 60 000-mal
mehr kaputt als jeder Pkw. Deswegen muss man die tatsächlichen Verursacher der Kosten heranziehen,
({9})
die Lkw-Maut ausweiten und nicht die Menschen, die in
ihrer Heimat leben wollen und jeden Tag lange Wege zur
Arbeit auf sich nehmen, zur Kasse bitten. Deswegen lehnen wir im Kontext mit der FDP, mit der Bundeskanzlerin, mit der CSU, mit Herrn Straubinger von der CSU,
diese Wahllüge der CSU ab.
({10})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion von CDU/CSU unser Kollege Alexander
Dobrindt. Bitte schön, Kollege Alexander Dobrindt.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht um eine Frage
der Gerechtigkeit auf deutschen Straßen.
({0})
Überall im Ausland werden die deutschen Autofahrer
zur Kasse gebeten, und die ausländischen Autofahrer in
Deutschland fahren gratis. Das ist keine faire Infrastrukturfinanzierung in Europa.
({1})
Schauen wir uns doch einmal in Europa um: Polen,
Tschechien, Slowakei, Österreich, Italien, Schweiz,
Frankreich, in nahezu allen Staaten um uns herum wird
der deutsche Autofahrer abkassiert. Mittendrin in Europa, in Deutschland, das das am besten ausgebaute Autobahnnetz hat, dürfen alle unsere Nachbarn kostenlos fahren. Das kann auf Dauer so nicht aufrechterhalten
werden. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass mehr
Gerechtigkeit auf den Straßen in Europa herrscht.
({2})
Das heißt, dass alle den Ausbau und die Instandhaltung
der Infrastruktur mitfinanzieren müssen.
({3})
Wenn Sie mit dem Auto von München nach Verona
fahren, fallen in Österreich und Italien Mautgebühren
von über 30 Euro an. Wenn Sie von Köln nach Bordeaux
fahren, zahlen Sie in Frankreich fast 70 Euro an Mautgebühren. Von Stuttgart nach Nizza zahlen Sie in der
Schweiz und in Frankreich über 60 Euro. Von Rotterdam
nach Garmisch-Partenkirchen zahlen Sie auf deutschen
Autobahnen null Autobahngebühr. Das ist nicht fair.
({4})
Herr Pronold, Sie sollten vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass in der letzten Woche das Emnid-Institut in einer
repräsentativen Umfrage gemessen hat, dass 88 Prozent
der Menschen in Bayern dafür sind, dass auch ausländische Pkw Maut bezahlen.
({5})
- Schön, dass Sie danach fragen. Ich kann Ihnen mitteilen, wie die SPD-Wähler dies sehen. 79 Prozent der
SPD-Wähler in Bayern sind für die Pkw-Maut für ausländische Autofahrer.
({6})
Die Grünen haben recht, dass sie sich etwas zurückhalten. Sie wissen auch genau, warum. Das liegt daran,
dass 86 Prozent der Anhänger der Grünen in Bayern dafür sind, dass es eine Pkw-Maut für ausländische Autofahrer gibt. Im Rest von Deutschland sieht es nicht sehr
viel anders aus.
({7})
Herr Pronold, Sie haben für Ihre Politik schlichtweg
keine Mehrheiten, und deswegen kommt von Ihnen immer gerne der Populismusvorwurf. Ihnen fällt nichts anderes ein. Sie bestätigen, dass Sie keine Mehrheit haben,
indem Sie anderen Populismus vorwerfen. Ganz ehrlich:
Es ist schon Einfallslosigkeit, die Sie, Herr Pronold, an
den Tag legen, wenn Sie sagen, es gebe europarechtliche
Bedenken.
({8})
Sie kapitulieren ja schon, bevor die Diskussion mit der
Kommission beginnt.
({9})
Wenn es überall in Europa möglich ist, warum dann
nicht in Deutschland?
({10})
Wissen Sie, vielleicht haben Sie einfach keinen
Mumm, sich für die Interessen der deutschen Steuerzahler einzusetzen, weder SPD noch Grüne.
({11})
Bei den Grünen ist es vielleicht etwas leichter zu erklären: Sie sind halt doch die alte grüne Antiinfrastrukturpartei, die Sie in der Vergangenheit waren. Sie wollen
Mobilität verhindern statt ermöglichen und deswegen
auch kein weiteres Geld für die Infrastruktur ausgeben.
({12})
Ich will aus der FAZ den Ministerpräsidenten von BadenWürttemberg, Kretschmann, zitieren,
({13})
der gesagt hat:
Aus dem freien Gut Straße muss das knappe Gut
Straße werden.
Sie wollen Freiheit knapp machen. Das ist die Politik der
Grünen.
({14})
Schön, dass Sie das offensichtlich zu Zwischenrufen
anregt. Das gibt mir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen,
dass Sie im Landtagswahlprogramm der bayerischen
Grünen aufgeschrieben haben:
Auf den Bau neuer Straßen wollen wir verzichten.
Sie wollen also die Freiheit der Straße zum knappen Gut
der Straße machen. Das ist die Politik der Grünen.
Sie wollen in einem Land, in dem Mobilität ein wesentlicher Faktor für Wirtschaft und Wohlstand ist, genau
diese Mobilität verknappen. Sie wollen den ländlichen
Raum von der Zukunft und vom Wohlstand abschneiden.
Das ist die Politik der Grünen.
({15})
Wenn Sie sich schon aufregen, Herr Hofreiter: Was
Sie auch verschweigen, ist, dass die Grünen natürlich
eine Maut einführen wollen. Sie wollen keine Autobahnmaut für ausländische Autofahrer; aber Sie wollen eine
City-Maut einführen. Im Landtagswahlprogramm der
bayerischen Grünen ist aufgeschrieben:
Die Einführung einer allgemeinen PKW-Maut lehnen wir … ab. Die Einführung einer City-Maut als
Steuerungsinstrument und als neues Finanzierungsmodell … wollen wir prüfen.
Im Klartext: Sie sagen, ausländische Autofahrer sollen
weiterhin kostenlos auf unseren Autobahnen fahren; die
deutschen Autofahrer sollen nach Ihren Vorstellungen
stärker belastet werden. Das ist die Realität der grünen
Politik.
({16})
Sie können sich einmal überlegen, ob das, was Sie an
dieser Stelle vorhaben, vielleicht Inländerdiskriminierung ist.
Auf jeden Fall wollen Sie die Belastungen der Autofahrer erhöhen. Sie wollen keine Straßen bauen, Sie wollen Mobilität einschränken, und Sie wollen, dass ausländische Autofahrer weiter kostenlos auf unseren Straßen
unterwegs sind. Wir wollen mehr Mobilität, mehr Freiheit und Gerechtigkeit auf den deutschen Straßen. Das
sind die Alternativen in Deutschland, meine Damen und
Herren.
({17})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus aktuellem Anlass weise ich darauf hin, dass bei Aktuellen Stunden
keine Zwischenfragen möglich sind. Ich habe ein paar
Meldungen gesehen, aber deswegen wird die Geschäftsordnung auch bei einer solchen Aktuellen Stunde nicht
geändert.
Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Sabine Leidig. Bitte schön, Frau Kollegin
Sabine Leidig.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
wurde gerade gefragt, ob ich das Niveau meiner Rede an
das Niveau der Rede von Herrn Dobrindt anpassen kann.
({0})
Das ist mir leider nicht möglich, weil Herr Seehofer und
Herr Dobrindt offenbar auf allerunterstem Stammtischniveau punkten wollen
({1})
und wieder einmal die Ausländerkarte ziehen, dieses
Mal beim Thema Pkw-Maut. Das ist wirklich unglaublich.
Angeblich nutzen unsere Nachbarn die Deutschen
aus. Diese Behauptung ist nicht nur schäbig, sie ist auch
falsch. Auch wenn es in den Ferien manchmal anders
aussieht: Tatsächlich machen ausländische Autos - darauf wurde bereits hingewiesen - auf deutschen Autobahnen im Jahr ungefähr 5 Prozent des gesamten PkwVerkehrs aus. Und sie tanken in Deutschland. Dadurch
sind die Einnahmen aus der Mineralölsteuer ungefähr
doppelt so hoch wie die Infrastrukturkosten, die die ausländischen Autofahrerinnen und Autofahrer verursachen.
({2})
Das sind Zahlen vom ADAC, die Sie natürlich auch kennen, aber Sie wollen hier eine ausländerfeindliche Nummer abziehen. Das ist wirklich eine Sauerei.
({3})
Im Bereich Lkw sieht es völlig anders aus. Ich finde
es ausgesprochen spannend, dass Sie dieses Thema nicht
ansprechen. Tatsächlich kommen 30 Prozent der Lkws,
die auf unseren Autobahnen fahren, aus dem Ausland,
darunter viele von Tochterfirmen deutscher Konzerne.
({4})
Sie tanken sehr selten bei uns. Fakt ist auch, dass ein
40-Tonner die Straße so stark belastet wie 160 000 Pkw.
({5})
Warum gehen Sie hier nicht heran? Darauf müssen wir
noch einmal zurückkommen, das werde ich auch gleich
tun.
Herr Ramsauer will die Pkw-Maut für alle, damit es
endlich mehr Geld für den Straßenbau gibt. Herr
Pronold, ich finde es echt schade, dass auch Sie es klasse
finden, dass man mehr Geld für den Straßenbau bekommt.
Was Herr Ramsauer macht, ist schäbig und falsch.
Erstens. Die Autofahrerinnen und Autofahrer bezahlen
über Kfz-, Mineralöl- und anteilige Mehrwertsteuer jeden Euro, den inländische Pkw an Wegekosten verursachen, mehrfach, konkret: vierfach.
Zweitens. Würde die Pkw-Maut über eine Vignette
erhoben werden - das ist eine Variante -, wäre das ungerecht, ökologisch unsinnig und unsozial, weil alle in einen Topf geworfen werden: diejenigen, die viel fahren
und diejenigen, die wenig fahren, diejenigen, die große
Autos fahren, und diejenigen, die ganz kleine, sparsame
Autos fahren. So etwas kann nicht in Ordnung sein.
({6})
Die zweite Variante wäre, 40 Millionen deutsche Pkw
mit Erfassungsgeräten auszustatten. Das wäre für ein
paar Elektronikhersteller natürlich ein Riesengeschäft.
Aber nicht nur wir, sondern auch die meisten Datenschützerinnen und Datenschützer lehnen diesen Überwachungsapparat ab. Auch das kann nicht wirklich Ihr
Ernst sein.
Apropos Geschäft: Das ist der Kern, worum es Herrn
Ramsauer eigentlich geht. Er will den Straßenbau privatisieren - das sagt er ja auch -, weil - auch das sagt er das Geld im Verkehrsetat nicht reicht. Aber die großen
Baukonzerne lassen sich auf so etwas, wie eine Autobahn zu bewirtschaften, nur ein, wenn ordentlicher Gewinn dabei herausspringt. Der sprudelt am besten, wenn
alle Autofahrerinnen und Autofahrer zur Kasse gebeten
werden. Darum geht es Ihnen in Ihrem Modell: Sie wollen den großen Bauunternehmen Geschäfte zuschustern,
und die kleinen Leute sollen es zahlen. Dazu ein klares
Nein von unserer Seite.
({7})
Wir brauchen eine Ausweitung der Lkw-Maut. Es
muss Schluss sein mit der Begünstigung von Unternehmen, die Waren auf Teufel komm raus durch ganz Europa karren, auch wenn es überhaupt nicht nötig ist, weil
zum Beispiel Milch oder Autoteile in der Region hergestellt werden und dort verbraucht werden könnten.
Der Güterverkehr muss endlich die Kosten tragen, die
diese enorme Zahl von Lastwagen verursacht. Die Kommission zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, die
die Bundesregierung selber eingesetzt hat, hat jetzt die
Vorschläge durchgerechnet, die wir Linke schon vor
zwei Jahren als Antrag in den Bundestag eingebracht haben: Lkw-Maut auf allen Straßen und bereits für Lastwagen ab 3,5 Tonnen. Dann kommen jedes Jahr zusätzlich
4,4 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen. Mit diesem Geld könnten die Kommunen, die Länder und der
Bund die dringend benötigten Renovierungen von Brücken und Straßen bezahlen.
Noch wichtiger: Mit diesem Geld kann man den Einstieg in die Verkehrswende finanzieren. Die ist nämlich
nötig: mehr Bahn, mehr Bus, grünere Städte und weniger
Verkehr.
({8})
Wir sind nicht der Meinung, dass mehr Beton die Lebensqualität der Menschen hierzulande verbessert. Für
mehr Gerechtigkeit, auch für mehr Umweltgerechtigkeit,
müssten Verkehrsverhältnisse geschaffen werden, die es
möglichst vielen leicht machen, auf das eigene Auto zu
verzichten. Dazu braucht es umweltverträgliche und
preisgünstige Alternativen.
Die Abzocke von Autofahrern, ob sie in Deutschland
wohnen oder nicht, ist jedenfalls der falsche Weg, und
die Pkw-Mautdebatte ist nichts anderes als ein böser
Spuk, mit dem die Wählerinnen und Wähler hoffentlich
im September Schluss machen.
({9})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Oliver Luksic. Bitte
schön, Herr Kollege.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Die SPD redet viel über die
Pläne von anderen, ich glaube, auch um ein bisschen von
den eigenen Problemen abzulenken. Der Schattenminister hat ja gerade gesprochen. Im Schattenkabinett erwarten wir keine Lichtgestalten, in dieser Rede des Kollegen
Pronold war aber wirklich sehr viel Schatten und wenig
Licht.
({0})
Die Programme von SPD und Grünen zeigen, dass sie
sehr erfindungsreich sind, wenn es um neue Abgaben
und neue Steuern geht, gerade im Bereich Verkehr. Deswegen ist Ihre Empörung über eine neue Belastung für
die Autofahrer ein Stück weit fehl am Platze. Sie wollen
die City-Maut einführen,
({1})
Sie wollen die Verkehrsinfrastrukturabgabe - ich bin gespannt, was das sein soll; wahrscheinlich eine PkwMaut, nur anders -, Sie wollen eine Logistikabgabe, Sie
wollen die Kfz-Steuer erhöhen, und Sie wollen eine
Ausweitung der Lkw-Maut. Das ist das rot-grüne Programm für die Bürgerinnen und Bürger.
({2})
Und dann fordert der SPD-Vorsitzende, Herr Gabriel,
auch noch Tempo 120 auf deutschen Autobahnen. InsoOliver Luksic
fern sage ich: Passen Sie lieber ein bisschen auf. Sie
wollen den Verkehr verteuern, wir wollen das nicht.
({3})
Jetzt hat die CSU - das ist eine eigenständige Partei ({4})
die Maut vorgeschlagen. Die Gedanken sind frei.
({5})
Ich weiß nicht, wo die Umfrageergebnisse, von denen
wir eben gehört haben, herkommen. Die Pendler, die ich
kenne, die Arbeitnehmer, die ich kenne, die wollen keine
Maut zahlen.
({6})
Vor dem Hintergrund der Belastung, die wir schon haben
- die Zahlen wurden ja eben genannt; diese Zahlen waren richtig -, ist klar festzuhalten: Liberale wie übrigens
auch die Kollegen der CDU wollen keine Maut, auch,
weil das Argument, dass nur Ausländer zur Kasse gebeten werden, nicht verfängt. Deren Anteil liegt in der Tat
bei 5 bis 10 Prozent. Das würde, wenn überhaupt, reichen, um die Systemkosten auszugleichen.
({7})
Vor allem werden die Autofahrer schon heute über die
Steuer mit 53 Milliarden Euro zur Kasse gebeten. Deswegen sind wir gegen die FDP-Maut,
({8})
gegen die Pkw-Maut; denn das wäre ganz klar eine Belastung.
Der springende Punkt ist, dass eine Differenzierung
zwischen In- und Ausländern europarechtlich nicht zulässig ist. Für die Verankerung des Rechts auf Nichtdiskriminierung ist übrigens auch Deutschland eingetreten.
Das ist EU-Recht. Die Leitlinien, die wir in Europa für
Straßenbenutzungsgebühren beschlossen haben, wurden
übrigens von der Vorgängerkoalition so beschlossen. Der
Vorschlag, nur Ausländer zahlen zu lassen, ist unrealistisch. Genauso realistisch wäre es, zu fordern, auf bayerischen Straßen müssten nur Preußen zahlen. Das geht
einfach nicht. Das ist unrealistisch.
({9})
Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht. Wir haben die Zweckentfremdung der Lkw-Mautmittel, die
Rot-Grün zu verantworten hat, zurückgenommen.
({10})
Die Einnahmen fließen jetzt in den Finanzierungskreislauf Straße. Kollege Pronold, das ist nun einmal so. Wir
haben ein Mautmoratorium eingeführt; das war richtig.
Wir haben vor allem, wie Sie selber sagen, mehr Geld
für die Straße besorgt.
({11})
Wir haben 1,5 Milliarden Euro zusätzliche Mittel besorgt. Das ist ein Erfolg dieser Koalition im Bereich der
Infrastrukturfinanzierung.
({12})
Der Bund verfügt über Einnahmen in Höhe von über
300 Milliarden Euro. Wir haben Rekordsteuereinnahmen. 53 Milliarden Euro kommen aus dem Bereich Verkehr.
Wir sind der festen Überzeugung, dass wir in der
nächsten Legislaturperiode den Schwerpunkt auf die Infrastruktur legen müssen. Wie wir in dieser Legislaturperiode den Schwerpunkt auf Bildung und Forschung gelegt haben, müssen wir in der kommenden Wahlperiode
noch mehr beim Thema Infrastrukturfinanzierung tun.
Die EU-Kommission hat in ihrem Bericht klar darauf
hingewiesen, dass hier weiterer Bedarf besteht. Dem
stellen wir uns.
Ihre Forderung nach immer neuen Abgaben - das ist
ganz klar - ist falsch. Pauschale Vorwürfe helfen nicht
weiter, zumal Sie selbst an anderer Stelle den Verkehr
weiter verteuern wollen. Wir Liberale sagen ganz klar:
Der Autofahrer zahlt bereits mehr als genug Steuern.
Wir wollen den Verkehr nicht weiter verteuern. Das sieht
die FDP so und auch die CDU.
({13})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Anton Hofreiter. Bitte schön, Kollege Dr. Hofreiter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Dobrindt, es sind diese Auftritte, die
Politik insgesamt in Verruf bringen.
({0})
Es sind diese Auftritte, die letztendlich dem Ansehen
von Politik insgesamt schaden, weil es offensichtlich ist,
dass es nicht stimmt, was Sie hier sagen, und auch nicht
stimmen kann.
({1})
Sie haben von einer Gesetzgebung gesprochen, die
diskriminierend nur für eine bestimmte Gruppe gilt. Man
braucht gar nicht EU-Recht anzuführen, da können Sie
ganz simpel einfach einmal ins deutsche Grundgesetz
schauen, dann stellen Sie fest, dass es Gleichbehandlungsgrundsätze gibt. Die gelten interessanterweise auch
für Vorschläge der CSU.
Deshalb unterlassen Sie diese Art von Debatte; denn
das frustriert die Leute am Ende nur, auch wenn es vielleicht zwischenzeitlich kurz Aufmerksamkeit bringt. Es
wissen alle, dass es am Ende nicht funktionieren wird.
Es wird nicht kommen, und es stimmt nicht, was Sie behaupten.
({2})
Wenn dann die Frage kommt: „In ganz Europa geht
das, und warum nicht bei uns?“, dann ist das eben auch
die Unwahrheit; denn in ganz Europa zahlt die Gesamtbevölkerung, die diese Straßen nutzt, Pkw-Maut, und
nicht nur eine bestimmte Gruppe von Menschen, die
nicht Staatsangehörige dieses Landes sind. Deshalb unterlassen Sie so etwas, denn es schadet der demokratischen Kultur insgesamt.
({3})
Es ist einfach peinlich, solche Reden im Plenum zu halten.
({4})
Aber vielleicht zu den inhaltlichen Fragen. Warum
lehnen wir eine Pkw-Maut ab? Die Modelle, die es für
eine Pkw-Maut gibt, schauen letztendlich alle so aus,
dass man für eine Vignette zahlt. Bei der Vignette zahlt
derjenige, der ein großes Auto hat, genauso viel wie jemand, der ein kleines Auto hat, es zahlt derjenige, der
viel verdient, genauso viel wie jemand, der wenig verdient. Was ist das? Die Vignette in dieser Form ist sozial
ungerecht, deshalb lehnen wir sie ab.
({5})
Was ist ein weiterer Grund, aus dem wir die Vignette
ablehnen? Es zahlt derjenige, der wenig fährt, genauso
viel wie derjenige, der viel fährt. Ein Rentner, der ab und
zu mal - alle paar Wochen - auf die Autobahn fährt,
zahlt, wenn es eine Jahresvignette ist, genauso viel wie
jemand, der sie ständig benutzt. Das heißt, sie ist auch
noch ökologisch blind.
Warum lehnen wir sie des Weiteren ab? Wir sind nicht
der Meinung, dass man in ein System als allererstes
mehr Geld hineinstecken sollte, sondern man sollte sich
überlegen, ob dieses System effizient ist, ob mit dem
Geld der Steuerzahler, ob mit dem Geld der Unternehmen, wenn wir an die Lkw-Maut denken, wirklich effizient umgegangen wird. Ich finde es spannend, dass immer einfach nur gefordert wird, erst einmal mehr Geld in
das System zu schütten und dann zu schauen, ob man es
anpassen kann. Nein, unser Weg ist ein völlig anderer.
({6})
Der Weg muss sein: Man muss das System anschauen
und sich fragen, ob das Geld effizient ausgegeben wird
oder nicht.
({7})
Das Geld wird leider in vielen Fällen nicht effizient
ausgegeben, was man allein an den Wunschlisten, die für
den Bundesverkehrswegeplan abgegeben werden, erkennen kann.
({8})
Wir haben als eine der ersten Wunschlisten die Wunschliste aus Bayern erhalten, von der CSU-Staatsregierung
so beschlossen. Man glaubt gar nicht, dass so etwas von
einem Kabinett beschlossen wird.
({9})
Darin sind 398 Projekte mit einem Finanzvolumen
von 17 Milliarden Euro enthalten. Dankenswerterweise
haben Sie die Zahl mitgeliefert. Die ist zwar zu niedrig,
weil bei Bauprojekten gern eine zu niedrige Zahl angegeben wird, aber wir nehmen einfach nur einmal die
17 Milliarden Euro. Jetzt schauen wir uns an, wie viel
Geld im Schnitt pro Jahr für den Aus- und Neubau in
Bayern von einem CSU-geführten Bundesverkehrsministerium zur Verfügung gestellt wird. Da kommen wir
im Schnitt auf 105 Millionen Euro. Jetzt teilen wir die
17 Milliarden Euro durch 105 Millionen Euro, dann
kommen wir auf 160 Jahre. Das bayerische Kabinett hat
allen Ernstes eine Liste beschlossen, die unter den jetzigen Finanzierungsbedingungen 160 Jahre brauchen
würde, um abfinanziert zu werden. Das ist eine Frechheit, das ist unseriös. Genau in dieses komische System
gedenken Sie Ihre Pkw-Maut hineinschütten zu können.
So geht es schlichtweg nicht.
({10})
Vernünftige Verkehrspolitik und vernünftige Straßenbaupolitik halten sich an ein paar Grundsätze. Erst einmal erhält man das, was man hat.
({11})
Das heißt, man sorgt dafür, dass die vorhandene Infrastruktur unterhalten wird. Das passiert nicht, insbesondere im Verantwortungsbereich der CSU nicht, weil sie
Jahr für Jahr Mittel, die der Bund für den Unterhalt zur
Verfügung stellt, für Neubau umwidmet und damit dafür
sorgt, dass die wertvolle Infrastruktur zu teuren Schlaglochpisten wird.
({12})
Das ist eine Frechheit. Das muss der Bund endlich unterbinden. Das ist der erste Grundsatz. Hier wird nämlich
wie folgt gehandelt: Man fragt sich zuerst, ob man ein
Dach, durch das es reinregnet, abdichten soll oder nicht,
und beschließt dann, dass man das Dach nicht abdichtet,
sondern es weiter reinregnen lässt. So kann man mit Infrastruktur nicht umgehen.
({13})
Wenn der Unterhalt sichergestellt ist, muss man angesichts des knappen Geldes dafür sorgen, dass man vernünftig priorisiert und zuerst die Maßnahmen ergreift,
die am dringendsten notwendig sind. Von solch einer
vernünftigen Prioritätensetzung sind Sie ganz weit entfernt. Machen Sie erst einmal richtig Ihre Hausaufgaben,
bevor Sie hier solche unglaublichen Reden halten.
({14})
Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer. Bitte
schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Hofreiter, Sie haben für Ihre Rede eine
sehr ethisch-moralische Einleitung gewählt. Nun muss
ich Ihnen das vorwerfen, was Sie meinem Kollegen
Dobrindt - übrigens zu Unrecht - vorgeworfen haben:
Sie haben gelogen. Denn wenn Sie sich die genauen
Zahlen im jetzigen Bundesetat und die Quoten, die wir
für Erhalt und Neubau haben, anschauen,
({0})
dann sehen Sie, dass es eine klare Umschichtung und
eine klare Prioritätensetzung durch Bundesminister
Ramsauer gibt, nämlich Erhalt vor Neubau. Das wissen
Sie genau.
({1})
Sie haben Ihre Rede moralisch begonnen. Wenn Sie
hier zum Besten geben, was aus Ihrer Sicht unmoralisch
ist, erwarte ich aber auch, dass Sie gute Argumente akzeptieren.
({2})
So ist es gut, dass die Zeit von SPD-Bundesverkehrsministern endlich vorbei ist, in der auf Verschleiß unseres
Netzes gefahren wurde. Nehmen Sie als Beispiel nur
einmal die Ansätze für die Brücken. Wir haben diese
Mittel von 300 Millionen Euro auf fast 700 Millionen
Euro erhöht.
({3})
Sie hatten die Erhaltungsnotwendigkeiten nicht gesehen.
({4})
Wir haben jetzt diese Korrektur vollzogen.
({5})
Noch ein Thema. Herr Kollege Hofreiter, Ihr Vorgänger im Amt als Vorsitzender des Verkehrsausschusses
des Deutschen Bundestages, Winfried Hermann, mein
geschätzter Kollege,
({6})
der jetzt Minister in Baden-Württemberg ist, verantwortet eine Anmeldeliste für Baden-Württemberg, die die
Bedarfe aus den Stimm- und Wahlkreisen beinhaltet.
Diese zeigt die verkehrspolitische Notwendigkeit auch
für Neubauten und Ausbauten zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von Lärm und Abgasen und zur
Verstetigung und Steigerung der Verkehrssicherheit.
Winfried Hermann sagt in jedem seiner Grußworte anlässlich von Spatenstichen oder Eröffnungen neuer
Verkehrswege, dass er die Pkw-Maut will, und zwar am
besten auf allen Straßen, und, wenn möglich, die CityMaut noch dazu.
({7})
Wo besteht da der Zusammenhang, wenn Sie das eine
behaupten und Ihr Kollege in Baden-Württemberg das
andere? Die Politik der Grünen ist in dieser Frage nicht
stringent. Das muss man hier konstatieren.
({8})
Ich will meine Ausführungen zur Unterfinanzierung
der Infrastruktur mit einer grundsätzlichen Vorbemerkung einleiten. Die gesamte Verkehrspolitik in Bund und
Ländern hat sich doch schon längst darauf geeinigt, dass
die Infrastruktur in Deutschland - das betrifft die Landesstraßen genauso wie die Bundesfernstraßen - klassisch unterfinanziert ist. Deswegen haben die Länderverkehrsminister die Einsetzung einer Kommission erwirkt
- vorher gab es die Daehre-Kommission, jetzt die
Bodewig-Kommission, benannt nach einem ehemaligen
SPD-Bundesverkehrsminister -, die Vorschläge für den
Bund erarbeiten soll, wie man die Unterfinanzierung der
Infrastruktur beheben und mehr Mittel aufbringen kann.
Auch die Finanzierung durch Nutzer ist in dieser
Bodewig-Kommission ein wichtiger Punkt. Das heißt,
im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von
der SPD-Bundestagsfraktion, haben die Länderverkehrsminister von der SPD längst begriffen, was Nutzerfinanzierung und Pkw-Maut miteinander zu tun haben.
({9})
Jörg Vogelsänger - als brandenburgischer Verkehrsminister Sprecher der Länder - beispielsweise hat sich ganz
klar geäußert, indem er gesagt hat, dass eine Pkw-Maut
es erlauben würde, die Mittel für die Infrastruktur aufzustocken und sie zu verstetigen.
Ich denke, dass die Parteien in den Tagen des Wahlkampfes - ab Juli/August - Gelegenheit haben werden,
die verschiedenen Konzepte zur Diskussion zu stellen.
Die Bürgerinnen und Bürger werden am 22. September
darüber abstimmen.
({10})
Kollege Dobrindt hat die Umfragewerte erwähnt:
88 Prozent der bayerischen Wählerinnen und Wähler
wollen eine Pkw-Maut. Und, Herr Kollege Pronold,
nachdem Sie den geschätzten Kollegen Straubinger angesprochen haben, muss ich Ihnen sagen: Er ist der Abgeordnete, der bei der letzten Bundestagswahl in Ihrem
Wahlkreis mit 53,6 Prozent der Stimmen das Direktmandat errungen hat, während Sie gerade einmal 17,5 Prozent der Stimmen erringen konnten.
({11})
Auch da sind die Mehrheitsverhältnisse ganz klar geregelt. Ich denke, die CSU ist mit diesem Vorschlag wiederum viel näher an den Menschen. Deswegen werden wir
diesen Vorschlag in den Bundestagswahlkampf einbringen.
({12})
Es wird immer wieder behauptet, dass durch eine
Pkw-Maut nur für Ausländer höchstens 250 bis 300 Millionen Euro eingenommen werden könnten. Die Verkehrsbelastung ist aber erheblich gestiegen. In einer aktuellen Studie rechnet die Ages uns vor, dass durch eine
Pkw-Vignette für ausländische Durchfahrer fast 1 Milliarde Euro erwirtschaftet werden könnten.
({13})
Sollen wir auf diese 1 Milliarde Euro einfach so verzichten? Ich fordere die SPD auf, endlich Mumm zu zeigen,
diese europapolitische Hörigkeit abzulegen und an einer
Änderung des Europarechts - klar, das ist vorher notwendig - mitzuwirken. Es gibt diese Modalitäten; aber
wir wollen nicht akzeptieren, dass die Ausländer umsonst durchfahren und wir auf die 1 Milliarde Euro, die
wir für die Finanzierung der Infrastruktur dringend brauchen, verzichten sollen.
({14})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat diese Europahörigkeit schon in der letzten Legislaturperiode beim Feuerwehrführerschein an den Tag gelegt. Bundesminister
Ramsauer hat es geschafft, für den Feuerwehrführerschein eine Regelung zu schaffen, die europarechtlich
trägt. Wo stünden die vielen ehrenamtlichen Helfer, die
jetzt bei der Hochwasserkatastrophe helfen, wenn der
deutsche Feuerwehrführerschein keine europarechtliche
Akzeptanz gefunden hätte? Das ist nur ein Beispiel, das
zeigt, dass Sie mutiger werden sollten und, anstatt auf
das Europarecht zu verweisen, Ihren Kollegen in Brüssel
gegenüber klarmachen sollten, dass Deutschland will,
dass durchfahrende Ausländer an der Finanzierung der
Bundesfernstraßen beteiligt werden. Die Einnahmen in
Milliardenhöhe wollen wir in die Bundesinfrastruktur
reinvestieren. Das wäre das richtige Rezept.
({15})
Unterstützen Sie uns dabei! Zeigen Sie endlich Aktivität! Machen Sie sich Gedanken, und verwenden Sie Ihr
Gehirnschmalz darauf, Lösungen zu finden.
({16})
- Herr Kollege Pronold, es wird seinen Grund haben,
dass die Medien im Hinblick auf die Mannschaft, mit der
die SPD nach der Wahl regieren möchte, nicht von einem Kompetenzteam, sondern von einem Schattenkabinett sprechen. Sie zeigen, dass Sie sich in Ihr Schicksal
ergeben.
({17})
Die CSU möchte, dass die Ausländer nicht einfach
nur durchfahren und Müll und Unrat auf unseren Parkplätzen lassen. Mittlerweile, Frau Leidig, tankt auch keiner mehr in Deutschland: weil das Spritpreisniveau zu
hoch ist.
({18})
Wir wollen also diese Pkw-Maut einführen,
({19})
um auch von unseren europäischen Mitbürgern einen
Beitrag zur Finanzierung des deutschen Bundesfernstraßensystems zu bekommen.
({20})
Meine Damen und Herren von der SPD, schauen Sie
sich bitte die Ages-Studie an! Sie ist sehr aktuell. Ich
lade Sie ein - auch wenn die Diskussion heute ein bisschen lebhafter war -, sich mit uns ohne Scheuklappen
Gedanken darüber zu machen, wie wir die Infrastrukturfinanzierung auf eine zukunftsfähige Grundlage stellen
können. Die verschiedenen Konzepte liegen auf dem
Tisch. Die Bürgerinnen und Bürger können am 22. SepParl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
tember entsprechend ihr Kreuzchen machen. Bei 88 Prozent Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger in Bayern
zur Pkw-Maut ist mir nicht bange, dass wir uns in dieser
Regierungskonstellation auch in der nächsten Legislaturperiode wunderbar wieder treffen.
Herzlichen Dank.
({21})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Uwe
Beckmeyer. Bitte schön, Kollege Uwe Beckmeyer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Scheuer, Ihnen persönlich herzlichen Glückwunsch zur Vaterschaft.
Ich habe mich, wie auch meine Fraktion, eben die
ganze Zeit gefragt: Wen vertreten Sie eigentlich? Die
CSU-Landesgruppe oder die Bundesregierung? Ich
denke, Sie sitzen auf der Regierungsbank am falschen
Platz. Sie müssten eigentlich in den Reihen der CDU/
CSU sitzen, wenn Sie hier so sprechen wollen. Dann hätten Sie allerdings auch keine neun Minuten Redezeit,
sondern nur fünf.
({0})
Ich finde es unerhört, was hier abgeht: Die Bundeskanzlerin erklärt für diese Bundesregierung ganz klar,
dass es in Deutschland keine Pkw-Maut geben soll; der
Staatssekretär des Fachministeriums erklärt das Gegenteil.
({1})
Sie sollten sofort demissionieren. Holen Sie sich Ihre
Abdankungsurkunde beim Bundespräsidenten ab, und
gehen Sie wieder in Ihre Fraktion zurück!
({2})
- Herr Dobrindt, kennen Sie den EU-Vertrag?
({3})
In Art. 2 ist unter anderem die Gleichheit der europäischen Bürger festgelegt.
({4})
Kennen Sie unser Grundgesetz? Toni Hofreiter hat es
eben zitiert. Herr Ramsauer spricht davon, dass es in der
hintersten Ecke irgendwelche Fußnoten geben solle, die
man nur ändern müsse, um die Pkw-Maut für Ausländer
in Bayern und in Deutschland einführen zu können. Was
ist das für ein Minister, der die Leute so hinters Licht
führt? Für wie dumm halten Sie eigentlich Ihre bayerischen Wähler, dass Sie mit einer solchen Klamotte vor
den Deutschen Bundestag treten und behaupten, das sei
möglich?
({5})
Die Wahrheit ist eine ganz andere: Sie wollen die
Pkw-Maut auf ganzer Linie. Die Pläne zur Pkw-Maut
sind schon vor sechs Monaten in der Bild-Zeitung dokumentiert worden. Die Pkw-Maut, die Sie wollen, belastet
jeden deutschen Pkw-Fahrer mit 80 bis 365 Euro pro
Jahr. Das ist die Wahrheit.
({6})
Das müssen Sie dementieren, wenn Sie das nicht wollen.
Aber Sie können das nicht dementieren, weil Sie eine
andere Variante gar nicht durchsetzen können. Dann sind
es am Ende wieder die bösen Europäer gewesen, die Ihnen das leider vermasselt haben. Sie werden für die bayerische CSU sagen: Wie schade, dass es leider Gottes mit
der Durchsetzung in Europa nicht geklappt hat. - Man
kann das wieder auf Europa abladen.
({7})
Diese Bauernschläue ist im Grunde das tragende Element Ihres ganzen Wahlkampfes. Sie wollen mit irgendeinem neuen Thema von Ihrer Amigo-Affäre ablenken,
({8})
über das sich die Republik dann aufregen soll. Aber mit
dieser Nummer kommen Sie nicht durch.
({9})
Wenn man Ihre Variante weiterdenkt, dann müssten
wir den Italienern demnächst auch für Pasta- und Pizzaverzehr in Deutschland Steuern zahlen oder Freibier für
alle. Solche Dinge sind doch unsinnig in der Politik. Das
muss man so feststellen.
({10})
Es ist doch sonnenklar: Mit einer derart formulierten
Politik betreiben Sie in Deutschland am Ende Scharlatanerie. Der Seehofer ist am Ende der Münchhausen dieser
Republik, und Sie sind sein Assistent. Was ist das eigentlich für eine Politik, die so formuliert wird? Glauben Sie
tatsächlich, dass in Deutschland so etwas durchgesetzt
werden kann? Hirnrissiger geht es doch nimmer.
({11})
Der Staatssekretär tutet in das gleiche Horn und erklärt
diesem Parlament ebenfalls, dass das machbar sei.
({12})
Wen wollen Sie eigentlich noch hinters Licht führen? Jeder Rechtskundige weiß, dass das nicht geht. Dennoch
wird es versucht.
Sie machen doch im Grunde eine lautstarke Minderheitenpolitik aus Bayern, damit sich bei Ihnen die Leute
in den Bierzelten auf die Schenkel schlagen und sagen:
Jawohl, Pkw-Maut für Ausländer, das brauchen wir jetzt
noch, damit die Straßen ordentlich finanziert werden
können. - Jeder Kundige im Verkehrsausschuss weiß,
dass die Systemkosten die Einnahmen, die da erwirtschaftet werden und ganze 5 Prozent des Straßenetats
ausmachen sollen, vollkommen auffressen. Am Ende
werden Sie keinen Cent zusätzlich übrig haben für die
Finanzierung der Infrastruktur.
Was Sie brauchen, ist eine Antwort auf das Problem,
das Herr Scheuer genannt hat. Uns fehlen in Deutschland 4 Milliarden Euro pro Jahr für Investitionen in die
Infrastruktur. Darauf haben Sie keine Antwort. Eine
ganze Wahlperiode lang hat dieses Ressort nichts zustande gebracht. Herr Ramsauer hat auf ganzer Linie
versagt.
({13})
Wir müssen im Hinblick auf die Bundestagswahl festhalten: Diese CSU ist mit ihren Ministern im Grunde
nicht in der Lage, die Verkehrspolitik in Deutschland ordentlich zu organisieren.
Machen Sie sich also nicht über ein Schattenkabinett
lustig. Sie sind eine C-Mannschaft, nicht einmal eine BMannschaft.
Ganz herzlichen Dank.
({14})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der FDP unser Kollege Patrick Döring.
Bitte schön, Kollege Patrick Döring.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
für den Fall, dass das unklar geblieben ist: Die Fraktionen, die diese Bundesregierung tragen, haben für diese
Wahlperiode keine Pkw-Maut verabredet, und wenn es
nach der FDP und nach der Frau Bundeskanzlerin geht,
werden wir so etwas auch in der kommenden Wahlperiode nicht verabreden.
({0})
Dafür werden wir Liberale werben und streiten. Die Debatte jetzt läuft ja ein wenig nach dem Muster ab: Wer
wenig weiß, muss mehr glauben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lieber Uwe
Beckmeyer, selbstverständlich ist es lohnenswert, darüber zu diskutieren, wie wir mehr Geld ins System bekommen. Ich will darauf hinweisen, dass es Abgeordnete von CDU/CSU und FDP waren, die es geschafft
haben, dass für 2012 und 2013 über 1,7 Milliarden Euro
zusätzliche Mittel für Investitionen zur Verfügung stehen.
({1})
Auch erlaube ich mir den Hinweis, dass keine CDULandtagsfraktion und keine FDP-Landtagsfraktion in
Koalitionsverträgen mit dem Partner verabredet hat,
keine weiteren Straßen zu bauen, so wie es die SPD in
Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und in SchleswigHolstein verabredet hat. Der Eindruck, den Sie zu erwecken versuchen, Sie seien der Schutzpatron der Infrastruktur, ist nun wahrlich durch die Wirklichkeit widerlegt.
({2})
Entscheidend ist, dass man, wenn man die zutreffenden Rechtsgrundsätze, die Uwe Beckmeyer genannt hat,
und das Diskriminierungsverbot ernst nimmt, am Ende
eine Vignettenpflicht für alle einführen müsste. Für Inländer müsste man dann kunstvoll versuchen, ihnen die
erhobenen Gebühren zurückzuerstatten. Ich erlaube mir
den Hinweis, dass wir all das bei der Lkw-Maut auch
schon diskutiert und dabei festgestellt haben, dass das in
Europa aus guten Gründen so einfach nicht möglich ist.
Wir Liberale werden nicht die Hand für die Übernahme
von Systemkosten reichen. Ich bin nach der Erfahrung
mit der Lkw-Maut sicher, dass wir das teurer machen
würden als die Österreicher, dass wir ein System aufbauen würden, das 10 Prozent bis 20 Prozent Systemkosten produzierte; und dann müssten wir noch irgendwo ein Pkw-Vignetten-Rückvergütungsamt für die
Deutschen einrichteten. Diesen bürokratischen Aufwand
werden wir Liberale jedenfalls nicht mitgehen. So etwas
wollen wir nicht.
({3})
Denn die Autofahrerinnen und Autofahrer in Deutschland zahlen genug Steuern, Mineralölsteuer und KfzSteuer.
Wenn man sich die Geschichte der Infrastrukturfinanzierung anschaut, dann sieht man, wie skeptisch und
misstrauisch die Deutschen aus gutem Grund bei dieser
Debatte sind; denn unsere Vorgänger haben in den 60erund 70er-Jahren mehrfach Mineralölsteuererhöhungen
vorgenommen und ins Gesetz geschrieben: Dieses Geld
wird auf Dauer ausschließlich für die Finanzierung der
Straße verwendet. Wir alle hier setzen diese gesetzlichen
Regelungen mit jedem Bundeshaushalt wieder außer
Kraft. Die Deutschen wissen genau, dass das Versprechen, neue Abgaben würden zweckgebunden eingesetzt,
selten gehalten wird. Wir haben es bei der Lkw-Maut unter Rot-Grün erlebt und würden es auch bei einer PkwMaut erleben. Auch darum wollen wir Liberale kein
neues Abkassierinstrument einführen.
({4})
Nein, wir müssen schlicht dafür sorgen, dass in diesem Parlament durch überzeugende Argumente mehr
Geld aus dem Kfz-Steuer- und MineralölsteueraufkomPatrick Döring
men für die Infrastrukturfinanzierung erkämpft wird, damit wir die Unterdeckung beseitigen.
({5})
Ich finde es aber bemerkenswert, dass die Redner beider Oppositionsfraktionen, die hier gesprochen haben,
offengelegt haben, dass sie höhere Belastungen für all
jene, die nicht Pkw fahren, planen, nämlich mit einer
Güterverkehrsabgabe auf allen Bundesstraßen in Deutschland, für alle Fahrzeuge schwerer als 3,5 Tonnen und damit für jeden Handwerker, für jeden Landwirt, für jeden
Möbelspediteur.
({6})
Das ist die Abzocke von Mittelstand und heimischem
Gewerbe, und die werden wir auch nicht mitmachen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, weil regionale
Wirtschaftsverkehre nicht zusätzlich belastet werden
sollen.
({7})
Deshalb reden wir vielleicht weniger über neue Belastungen für die Menschen und eher darüber, wie sie
mit ihrem eigenen Geld ihr Leben gestalten können.
({8})
Und sorgen wir dafür, dass wir die über 50 Milliarden
Euro, die die deutschen Verkehrsteilnehmer aufbringen,
dass wir die 4 Milliarden Euro Lkw-Maut, die alle inländischen und ausländischen Lkw bezahlen, richtig einsetzen und dass wir am Ende eine auskömmliche Infrastrukturfinanzierung haben! Wir brauchen keine neuen
Finanzierungsinstrumente, die hohe Verwaltungskosten
verschlingen; wir brauchen den Menschen auch nicht
mit xenophoben Argumenten Sand in die Augen zu
streuen.
({9})
Das Einzige, was wir brauchen, ist eine durchsetzungsfähige Mehrheit, die viel mehr Geld für die Infrastruktur
beschafft. Die Fraktionen von Union und FDP haben in
der Auseinandersetzung mit dem Parlament und mit dem
Haushaltsausschuss bewiesen, dass sie das können; so
werden wir auch weiter vorgehen.
Es waren vier gute Jahre für die Infrastrukturfinanzierung, und wir werden vier gute Jahre anschließen.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Rita Schwarzelühr-Sutter. Bitte schön, Frau Kollegin
Schwarzelühr-Sutter.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Was für ein Schauspiel heute!
({0})
Man könnte fast meinen, die Augsburger Puppenkiste ist
wieder auf Tournee.
({1})
Auf dem Programm stehen Wahlversprechen aller Art.
Angekündigt ist eine hundertprozentige Befriedigung
der Wählerinnen und Wähler und ihrer Wünsche.
In Bezug auf den Handlungsablauf befinden wir uns
gerade in einem retardierenden Moment: Hochdramatisch meldet sich einer der Kronprinzen zu Wort, widerspricht der Königin und droht gar mit Auszug aus dem
Schloss, wenn nicht Wegezoll für Fremde verlangt wird. Sie wissen, wen ich meine. Wir, das mehr oder weniger
geneigte Publikum, wissen dennoch, dass das Unvermeidliche folgen wird; denn die Puppenspielerin wird
am Ende des Stücks das Krokodil Horst und den Kasper
Peter wieder zurück in die Kiste stecken und zum nächsten Auftrittsort weiterreisen.
({2})
Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer fordert eine Pkw-Maut für Ausländer und will damit die
Hoheit über die Stammtische wiedergewinnen. Ich frage
mich manchmal wirklich, warum es eigentlich keine
Maut für politische Geisterfahrer gibt.
({3})
Pkw-Maut als Wunderwaffe für blasse Verkehrsminister!
Ich denke hier nur an die Helmpflicht für Radfahrer, an
das Punktesystem und anderes.
({4})
Sie sagen dann auch noch, es gehe Ihnen um mehr
Gerechtigkeit und mehr Geld für den Straßenbau - und
das wollen Sie natürlich nur von den Ausländerinnen
und Ausländern, Europarecht hin oder her. Das Europarecht scheint wenigstens in den Augen des Ministers
Seehofer nur eine Nebensächlichkeit zu sein; aber ich
sage Ihnen eines: Das drückt bei allem Spaß aus, welches Rechtsverständnis Sie haben, wie Sie zu Recht und
Gesetz stehen und welche Haltung Sie in Europa einnehmen.
Wir lehnen die Pkw-Maut ab, weil die Fahrerinnen
und Fahrer von Pkw, wie schon gesagt, bereits eine
Menge Geld zahlen, nämlich 53 Milliarden Euro pro
Jahr. Aber nur 17 Milliarden Euro pro Jahr werden in
den Straßenverkehr investiert. Glauben Sie wirklich,
dass Ihnen jemand abnimmt, dass Ihre Pkw-Maut on top
kommt? Sie versprechen dem Handwerker und dem
Pendler im ländlichen Raum, dass sie da das El Dorado,
das Paradies, für Straßen finden. Das ist doch wirklich
nicht die Wahrheit; vielmehr hängen Sie den Menschen
eine goldene Karotte bzw. eine Wurst vor die Nase.
({5})
Enttäuscht müssen Handwerker und Pendler vor allem deswegen sein, weil das doch eigentlich Ihr Klientel
ist. Haben Sie sie vor lauter Eifer in Ihrem Wahlkampf
vergessen? Sagen Sie ihnen, wenn die Maut ausgeweitet
wird, doch auch einmal, wo der Verkehr dann hinfließt
und welche Umverkehre entstehen. Der Verkehr flutet
dann doch auf die Landstraßen, und unsere schönen Autobahnen werden dann gar nicht mehr genutzt.
Die eigentlichen Verursacher lassen Sie außen vor.
Hier haben Sie in dieser Legislaturperiode richtig viel
Geld verschleudert. Sie haben keine Mautspreizung vorgenommen, und Sie haben keinen Anreiz für mehr Euro6-Lkw geschaffen. Der Verkehrsminister hat sich vielmehr darauf zurückgezogen, dass er erst ein lupenreines
Wegekostengutachten brauche, bevor er so etwas jemals
noch einmal unternimmt.
({6})
Sie haben kein Herz für Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern Sie versuchen, sie gnadenlos abzuzocken.
({7})
Maut heißt nur, noch mehr Geld von inländischen
Autofahrern abzukassieren.
Ich zitiere Herrn Meyer vom ADAC.
({8})
- Keine Aufregung, Herr Kauder.
Maut-Vorschläge sind an Einfallslosigkeit kaum zu
überbieten.
Recht hat der Herr Meyer vom ADAC.
Die Kanzlerin und die Bundesregierung haben versprochen, dass es keine Pkw-Maut gibt. Deshalb frage
ich mich: Was sind die Versprechen dieser Bundesregierung eigentlich wert?
({9})
Es war bezeichnend, dass ein Staatssekretär nicht für die
Bundesregierung, sondern eigentlich für die CSU gesprochen hat. Oder hat er doch für die Regierung gesprochen? Wir werden versuchen, das einzuordnen. Der Bürger vor Ort aber weiß jetzt, woran er ist: Er wird
abkassiert und abgezockt. Die eigentlichen Lkw-Dreckschleudern aus dem Osten - oder was weiß ich, woher werden Sie aber weiter fröhlich durch das Land ziehen
lassen. Sie halten sich lieber an die Verbraucher, die Bürgerinnen bzw. Bürger, die am Ende die Zeche bezahlen.
Glück auf!
({10})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion von CDU/CSU unser Kollege Karl
Holmeier. Bitte schön, Kollege Karl Holmeier.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich kann, ehrlich gesagt, die ganze Aufregung der Opposition über die Äußerungen unseres bayerischen Ministerpräsidenten nicht verstehen.
({0})
Er hat gesagt, er will eine Maut, die deutsche Autofahrer
nicht belastet - nicht mehr und nicht weniger. Zum
Thema Pkw-Maut gibt es einen Parteitagsbeschluss aus
dem Jahr 2011. Die Aussage unseres Ministerpräsidenten Horst Seehofer in der Bild am Sonntag gibt nichts
anderes als das wieder, was bereits vor zwei Jahren beschlossen wurde.
({1})
- Es ist doch besser. Wenn Sie es wollen, stelle ich das
für die Opposition noch einmal klar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden nach
der Bundestagswahl 2013 eine Pkw-Maut in Deutschland einführen. Das ist schlicht und einfach eine Frage
der Gerechtigkeit.
({2})
- Wir werden sie einführen, weil wir auch nach der Wahl
die Regierung stellen werden. Warten Sie es ab, Frau
Schieder.
({3})
Wenn deutsche Autofahrer in Österreich, in Italien, in
der Schweiz und in Tschechien Maut bezahlen, dann
sollten dies auch die Reisenden, die durch Deutschland
fahren, machen. Es ist unserer Ansicht nach nur gerecht,
wenn die vielen Abgaben, welche die deutschen Autofahrer an den Staat leisten, sich am Ende auch bei den
Straßen unseres Landes widerspiegeln.
({4})
Die Realität, Herr Beckmeyer, sah nach elf Jahren roter
Regentschaft im Bundesverkehrsministerium ganz anders aus. Die CSU arbeitet mit unserem Verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer daran, das zu ändern. Um mehr
geht es nicht.
({5})
Weder der bayerische Ministerpräsident noch die
CSU möchten Ausländer diskriminieren oder die Grundsätze und Errungenschaften der Europäischen Union
über den Haufen werfen.
({6})
Wir wollen keine Diskriminierung, wir wollen nur Gerechtigkeit auf Deutschlands Straßen. In unserem Parteitagsbeschluss heißt es - ich zitiere das wörtlich -:
Kaum ein Industrieland in Europa stellt seine Straßen gebührenfrei jedem Autofahrer … zur Verfügung - mit Ausnahme des größten europäischen
Transitlandes Deutschland.
({7})
Es ist daher ein Gebot der Fairness, dass sich ausländische Autofahrer künftig in Deutschland an den
bei uns entstehenden Kosten beteiligen.
Und das wollen wir.
({8})
- Sie stehen im Schatten, Herr Pronold, und werden auch
nach der Bundestagswahl im Schatten stehen. - Ich kann
darin beim besten Willen keine Ungleichbehandlung erkennen. Im Gegenteil: Das ist eine Forderung nach gleichem Recht für alle.
({9})
Um die ohnehin schon genügend strapazierten Geldbeutel der deutschen Autofahrer nicht noch mehr zu strapazieren, haben wir auf unserem Parteitag 2011 auch beschlossen, dass es mit der Einführung der Maut eine
Kompensation - ich wiederhole: eine Kompensation für die deutschen Autofahrer geben muss.
({10})
Daran ist nichts Verwerfliches zu erkennen - auch nicht
für Sie, Herr Pronold. Im Gegenteil: Alle, die eine andere Meinung vertreten, sollten den Autofahrern klaren
Wein einschenken.
({11})
Wir wollen nicht, dass unsere Autofahrer künftig noch
mehr belastet werden. Wir wollen keine Mehrbelastung
für unsere Autofahrer, sondern eine verlässliche Finanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur, ohne die Autofahrer - vor allem die Pendler auf dem Land - noch zusätzlich zu belasten.
({12})
Fakt ist, meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass der Verkehrshaushalt seit Jahren unterfinanziert ist.
Die Kehrtwende zum Positiven wurde in den letzten Jahren unter CSU-Minister Peter Ramsauer vollzogen.
({13})
Vorher war es ein Riesenproblem. Zuvor haben die SPDVerkehrsminister über elf Jahre hinweg den Verkehrshaushalt sträflichst vernachlässigt. Sie haben zuerst die
Lkw-Maut verstolpert und nach deren Einführung die
Haushaltsmittel im Einzelplan 12 abgesenkt. Den Finanzierungskreislauf Straße, der die Kehrtwende zu mehr
Unabhängigkeit vom Verkehrshaushalt markiert, hat erst
unser Verkehrsminister Peter Ramsauer eingeführt.
({14})
- Hören Sie zu, Herr Pronold! - Unser Ziel lautet: Straße
finanziert Straße. CSU-Minister Ramsauer war es auch,
mit dem wir es geschafft haben, im Jahr 2012 1 Milliarde Euro und im Jahr 2013 dann noch einmal 750 Millionen Euro zusätzlich für den Straßenbau zu erhalten.
Genau diesen Weg wollen wir nach der Bundestagswahl fortführen. Wir werden ihn auch fortführen: mit der
Einführung einer Pkw-Maut, mit der finanziellen Beteiligung der Autofahrer aus unseren Nachbarländern, die
unsere Straßen benutzen.
({15})
Dafür steht die CSU. Wir stehen für Gerechtigkeit und
intakte Straßen in Deutschland.
({16})
Vielen Dank.
({17})
Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion der SPD unser Kollege Martin Burkert. Bitte schön, Kollege Martin Burkert.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hätten Sie
nicht 10 Milliarden Euro bei der Bayerischen Landesbank versenkt, bräuchten wir heute keine Diskussion
über die Pkw-Maut.
({0})
Allein während dieser Aktuellen Stunde müssen dafür
40 000 Euro Zinsen aufgebracht werden. Herzlichen
Glückwunsch, Herr Dobrindt. So viel dazu.
Stellen Sie sich ein Fußballstadion vor. Alle drücken
der Mannschaft die Daumen, und ein kleiner Block Unverbesserlicher zündet bengalische Feuer. So ungefähr
kommt mir die Diskussion um die Pkw-Maut vor. Eine
große Mehrheit aus SPD, Grünen, Linken und CDU ist
gegen die Maut. Es gibt einen Parteitagsbeschluss und
klare Worte der Kanzlerin dazu. Ronald Pofalla - ja,
Herr Kauder, das ist so - und auch die FDP sind hier anderer Meinung. Gut, Herr Döring, wir müssen konstatieren: die bayerische FDP, aber das sind ja nur ein paar
Hanseln, und das auch nicht mehr lang.
({1})
Ich nenne hier auch die ablehnende Haltung der Freien
Wähler, des ACE und des ADAC zur Pkw-Maut. Eine
Umfrage des ADAC vom März dieses Jahres hat ergeben: Mehr als drei Viertel der Auto- und Motorradfahrer
lehnen eine Pkw-Maut ab.
Herr Dobrindt, wir wissen, wie die CSU in Bayern
Umfragen macht. Mit solchen Umfragen brauchen Sie
gar nicht erst zu kommen. Ich sage Ihnen: Wir alle lehnen eine Pkw-Maut in aller Deutlichkeit heute ab.
({2})
- Sie fürchten zu Recht die bayerische Landtagswahl. Es gibt nur diesen kleinen Block von Unruhestiftern, die
CSU und die Piratenpartei. Da haben sich zwei gefunden.
({3})
Ich sage Ihnen: Natürlich brauchen wir neue Einnahmen, Herr Staatssekretär. Ich zitiere den Minister
Ramsauer:
Die nächste Bundesregierung wird zwingend sagen
müssen, wie man die Unterfinanzierung des Verkehrsetats anpackt.
Ich kann darauf nur antworten: Wir haben Vorschläge
gemacht, wie eine zukunftsfähige, nachhaltige und solide Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur aussehen
soll.
({4})
Wir haben die Arbeit gemacht, die der Minister in dieser
Legislatur hätte machen müssen. Sie gestehen ja selbst
ein, dass Sie keine Antworten gegeben haben.
Was machen Sie denn eigentlich, wie schon zu Recht
gefragt wurde, mit den über 50 Milliarden Euro Steuereinnahmen von den Autofahrern? Reichen die nicht aus?
Reden Sie mit Ihrem Bundesfinanzminister. Stichwort
„Finanzierungskreislauf Straße“: Das heißt nach Ihrem
Verständnis: Umgehungsstraßen in Bayern, aber dafür
den ländlichen Raum belasten.
Wir lehnen die Pkw-Maut ab: aus datenschutzrechtlichen Gründen, aus ökologischen Gründen, aus Gründen
der Verkehrssicherheit und aus sozialen Gründen.
({5})
Mit der Pkw-Maut würden gerade die Pendler getroffen,
die im ländlichen Raum täglich auf die Nutzung von
Fernstraßen und Autobahnen angewiesen sind.
Sie können sich Nachhilfe bei YouTube holen. Der
ADAC hat im Oktober 2010 ein 15-minütiges Video mit
dem Titel „Irrtum Pkw-Maut“ hochgeladen. Bis heute
wurde dieses Video etwa 11 500 Mal angeschaut. Ein
CSUler war offenbar nicht dabei und ein Pirat anscheinend auch nicht.
({6})
Ganz nebenbei frage ich mich, was die den ganzen Tag
im Internet machen; aber das nur am Rande.
Wir sagen ganz klar: Pkw-Maut nein, Nutzerfinanzierung ja. Dafür müssen aber vier Kriterien erfüllt sein:
Umwelt- und Lärmschutz sowie effiziente Lenkung der
Verkehrsströme; jegliche Datenerfassung muss mit dem
Datenschutzrecht in unserem Land im Einklang stehen
- denken Sie an die Debatte in den USA -, und Pendler
dürfen nicht benachteiligt werden, um das als Franke
und als Bayer deutlich zu sagen, Herr Dobrindt.
({7})
Diesen vier Kriterien wird Ihre Pkw-Maut nicht gerecht. Ich bin ganz bei den Grünen, lieber Toni: Man
kann ernsthaft darüber nachdenken, ob man nicht eine
Erhöhung der Mineralölsteuer ins Auge fasst,
({8})
um damit die Kfz-Steuer abzuschaffen. Auch das hätte
eine lenkende Wirkung.
Die Behauptung des Herrn Ministerpräsidenten und
seines Ministers in Berlin, Ramsauer, eine Pkw-Maut in
Deutschland würde nur ausländische Autofahrer treffen,
ist dreist und falsch - das wissen Sie -, und sie ist auch
unzulässig. Ich denke nur an Ihren Parteitag: Wenn Ihre
Abgeordneten den Wissenschaftlichen Dienst beauftragen und sich das noch einmal schwarz auf weiß geben
lassen, dann sage ich, Herr Seehofer: Das ist EuropaMartin Burkert
recht für Anfänger. Das sollten Sie wissen, Herr Ministerpräsident.
Unterm Strich sage ich Ihnen: 15 von 16 Autos auf
deutschen Autobahnen haben ein deutsches Kennzeichen. Die wollen Sie alle belasten.
({9})
Sie wollen den deutschen Autofahrer mit hineinziehen
und den Europäern wieder die Schuld geben.
Ich zitiere heute im Deutschen Bundestag Hubert
Aiwanger - die Freien Wähler wollen ja kommen -:
Seehofer träumt … von schwarzen Weißwürsten
und überschätzt deutlich seine Macht. Ich wünsche
ihm viel Erfolg dabei, das EU-Recht zu ändern …
Ich sage Ihnen: Wir freuen uns. Wir haben kein Problem, wenn Herr Seehofer sagt, er wolle seinen Koalitionsvertrag danach ausrichten. Dem steht nichts im
Weg. Denn Dissens zwischen Grünen, SPD und den
Freien Wählern gibt es nicht. Wir werden den Koalitionsvertrag in Bayern dementsprechend machen. Wir
freuen uns auf die Landtags- und Bundestagswahlen am
15. und 22. September dieses Jahres. Bei aller Freundschaft, Herr Scheuer, nach Ihrer Rede hoffe ich,
Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.
- dass Sie dem Kabinett danach nicht mehr angehören.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin in unserer Aktuellen Stunde ist für
die Fraktion von CDU und CSU unsere Kollegin Daniela
Ludwig. - Bitte schön, Frau Kollegin Daniela Ludwig.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wenn jemand Hubert Aiwanger zitieren muss
und ihn als Kronzeugen braucht, dann fehlt es schon an
einigem, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von
der SPD.
({0})
Ich stelle eines voran: Wir sind nicht nur in einer
Mautdebatte, sondern in einer Verkehrsdebatte im Allgemeinen. Ich höre von Ihnen immer: Geht nicht. ({1})
Das stimmt: Unter Ihren Verkehrsministern ist vieles
nicht gegangen.
Es ging los mit dem Erhalt der Infrastruktur: Das ging
bei Ihnen nicht. Das arbeiten wir jetzt gerade mühsam
ab, Brücke für Brücke, Straße für Straße.
({2})
Den Verschleiß dieser rot-grünen Bundesregierung baden wir bzw. die deutschen und bayerischen Autofahrer
aus. Schade, das ging bei Ihnen leider nicht.
Bei Ihnen ging auch das nicht, was Sie jetzt so preisen, Herr Burkert: die Nutzerfinanzierung.
({3})
Straße finanziert Straße: Das ging bei Ihnen auch nicht.
Dafür mussten erst wir kommen. In unserer Verkehrspolitik geht das.
Jetzt sagen Sie: Wir sind für Nutzerfinanzierung, aber
gegen die Pkw-Maut. - Erklären Sie das einmal zu
Hause in Ihrem Wahlkreis!
({4})
Das geht bei Ihnen also auch nicht.
Sie werfen sich immer in vorauseilendem Gehorsam
vor der Europäischen Union in den Sand in dem Glauben, Sie müssten sich direkt wegducken und hinter dem
EU-Recht verstecken, wenn Sie irgendetwas nicht wollen. Es ist bitter für Sie. Die Umfragen sind relativ eindeutig - und Ihre langen Gesichter waren vorhin auch
ziemlich eindeutig -, dass die ganz große Mehrheit der
bayerischen SPD-Wähler - viele sind es ja nicht mehr in der Tat für eine Vignette ist. Bitter für Sie, dass erst
wir Sie darauf bringen müssen und dass die CSU wieder
einmal ihrem politischen Motto gerecht wird. Wir sind
nämlich schlicht und ergreifend näher am Menschen und
wissen, was die bayerischen Menschen wollen.
({5})
Auch das ist relativ eindeutig.
Wir sind ein Transitland. Mein Wahlkreis ist eine
klassische Transitregion. Ich kann Ihnen schon jetzt die
Szenarien ausmalen, wenn demnächst die Sommerferien
beginnen: Wir werden Schlangen über Schlangen von
deutschen, aber auch von ausländischen Pkw auf unseren Autobahnen haben, die Sie, wie gesagt, in der letzten
und vorletzten Legislatur verschlissen haben. Die Menschen in meinem Wahlkreis fragen sich schlicht und ergreifend: Wie kann es angehen, dass wir in Österreich
für eine Vignette zahlen müssen, dass wir in Italien
- was ja eigentlich fast noch schlimmer ist - eine streckenbezogene Maut zahlen müssen? Dann müssen wir
noch eine Extraabgabe zahlen, wenn wir über den Brenner fahren, weil dies offenbar besonders gefahrenträchtig
ist.
({6})
Aber bei uns tuckert man in aller Seelenruhe durch, stellt
sich in unsere Staus, verpestet unsere Luft, lädt seinen
Müll bei uns ab; nur tanken tut man nicht mehr - dieses
Geschäft nehmen wir leider nicht mehr mit -, und zahlen
tut man auch nicht.
({7})
Ich kann Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Was Horst
Seehofer hier fordert, ist richtig. Wir werden diese Forderung weitertreiben. Wir halten nichts von vorauseilendem Gehorsam gegenüber der Europäischen Union, sondern wir stellen eine Forderung auf und werden sie auch
durchsetzen.
({8})
Sie haben unter anderem die Pendler angesprochen.
Auch in meinem Wahlkreis leben viele Pendler. Ich weiß
nicht, mit wem Sie sprechen.
({9})
Wahrscheinlich sprechen Sie mit niemandem, sondern
schauen YouTube.
({10})
Mir ist es lieber, mit den Bürgern zu sprechen und mir
dort Rückmeldung für meine Politik zu holen. Diese
Rückmeldung habe ich letzte Woche wieder relativ klar
durch unsere 50-köpfigen Besuchergruppen erfahren.
({11})
Es vergeht keine Woche, in der nicht eine Besuchergruppe hier ankommt und ich mit fassungslosem Gesicht
angeschaut werde,
({12})
wenn ich versuche zu erklären, warum viele europäische
Länder eine Maut und ein paar wenige eine Vignette haben und wir mittlerweile fast das einzige europäische
Land sind, in dem man für die Benutzung der Infrastruktur überhaupt nichts zahlen muss.
({13})
Meine Wähler zu Hause verstehen das nicht mehr. Weil
sie es nicht verstehen, haben wir die hohe Verpflichtung,
diesen Zustand endlich zu ändern.
Vielen herzlichen Dank.
({14})
Letzter Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die
Fraktion von CDU und CSU unser Kollege Ulrich
Lange. - Bitte schön, Kollege Ulrich Lange.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Pronold, was Sie heute veranstaltet haben, ist der Offenbarungseid der SPD-Verkehrspolitik.
({0})
Wenn Sie für eine Aktuelle Stunde nicht mehr zu bieten
haben als einen Parteitagsbeschluss der CSU aus dem
Jahr 2011, wenn Sie keine eigenen Ideen haben, dann
sind Sie kein Kompetenzmann; Sie sind nicht einmal die
Wurzel aus Kompetenz.
({1})
Ihm passt ja nichts, aber er hat nichts zu bieten; es kommen keine neuen Ideen.
Herr Kollege Burkert, das war wenigstens ehrlich.
Das war ehrlich wie 2005, als es hieß: Mit uns keine
Mehrwertsteuererhöhung. Maut: Nein. Nutzerfinanzierung: Ja. - „Steinbrück-Steuer, das wird teuer“: Das ist
der Satz, der auf Sie heute ganz besonders zutrifft.
({2})
Eine gute Infrastruktur, eine gute Verkehrspolitik haben wir in den letzten vier Jahren weiß Gott gemacht.
({3})
Ich glaube, es ist Ihnen sehr wohl bewusst, dass wir elf
Jahre auf Verschleiß gefahren sind; das gilt für Brücken
wie für Straßen. Aber der Staatssekretär hat ganz richtig
gesagt: Wir haben umgeschichtet.
({4})
Diese Umschichtung war notwendig. Wir haben auch bei
der Schiene umgeschichtet. Auch das war notwendig.
Nur, insbesondere im Gegensatz zu den Grünen, lieber
Kollege Hofreiter: Der neue Bundesverkehrswegeplan
ist kein „Wünsch dir was“. Ortsumfahrungen im ländlichen Raum bedeuten weiterhin Lebensqualität für Menschen, die an belasteten Straßen leben. Dafür brauchen
wir auch in Zukunft Geld, und zwar mehr Geld als bisher.
({5})
Dass die Verkehrsinfrastruktur in Zukunft viel Geld
kosten wird, sollten wir auch den Wählerinnen und
Wählern heute schon sagen. Es wird ja von niemandem
bestritten, auch von Ihnen nicht.
({6})
- Es wird auch von Ihnen nicht bestritten. - Nur, Herr
Pronold, schaffen Sie es? Schauen Sie als Verkehrspolitiker vielleicht auch einmal bei den Mitgliedern des Ausschusses für Arbeit und Soziales vorbei? Schaffen Sie
es, in diesem Bereich irgendwelche Ausgaben zu kürzen? Denken Sie an die Ökosteuer, die Sie, Rot-Grün,
eingeführt haben. Sie wissen doch ganz genau, wohin
die Einnahmen aus der Ökosteuer fließen: Sie landen im
Topf des Haushaltes für Arbeit und Soziales.
({7})
Sie sollten nicht so tun, als ob Sie das nicht wüssten; Sie
sind doch schon lange dabei.
({8})
Nachzudenken über weitere Finanzierungsmöglichkeiten, ist legitim. Abkassieren ist grundsätzlich Ihre
Idee. Da ist die FDP nicht so dabei; das haben wir vorhin
schon mitbekommen, Kollege Luksic.
({9})
Eines ist klar: Die Finanzierung der Infrastruktur
ohne Mittel durch die, die sie nutzen, nämlich auch die
ausländischen Pkw, wird auf Dauer nicht funktionieren.
Wie die Kollegin Ludwig gerade zu Recht gesagt hat:
Erklären Sie einmal, warum man in Österreich eine
Vignette kauft und in Italien kilometerbezogen zahlt!
Das ist doch kein Problem. Sie kaufen die Vignette; ich
kaufe sie auch. Ich habe Verständnis dafür. Vielleicht
sollten Sie auch Verständnis dafür aufbringen, dass die
Österreicher auf diese Weise Geld einnehmen.
({10})
Ich möchte auf guten Straßen durch Österreich fahren.
Dafür zahle ich. Nichts leichter als das!
({11})
Dann tun wir das doch genauso.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Einführung einer Vignette bei gleichzeitiger Kompensation für Inländer ist eine legitime Möglichkeit zur Finanzierung unserer Infrastruktur.
({12})
Wir werden diese Gerechtigkeitslücke schließen. Wie ist
vorhin so richtig festgestellt worden? Die CSU ist eine
eigenständige Partei. Das ist gut so.
({13})
Damit sind wir auch Partner in Koalitionsverhandlungen. Eine Koalition mit der CSU heißt: mehr Geld für
die Infrastruktur,
({14})
Schließung der Gerechtigkeitslücke und weiterhin Straßenbau.
({15})
Danke schön.
({16})
Kollege Ulrich Lange war der letzte Redner in unserer Aktuellen Stunde, die nun auch beendet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Antisemitismus entschlossen bekämpfen, jüdisches Leben in Deutschland weiterhin nachhaltig fördern
- Drucksache 17/13885 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind alle damit einverstanden. Dann haben wir dies gemeinsam so
beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Als Erster hat das
Wort der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner. - Bitte schön, Kollege Dr. Christoph Bergner.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir die Lehren aus der Geschichte der Weimarer Republik ziehen, so wird deutlich, dass die Gefahren, die vom Antisemitismus ausgehen, nicht nur
Gefahren sind, die jüdische Gemeinden und jüdisches
Leben betreffen - dies allein wäre schon gefährlich genug -; die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, dass
Antisemitismus in viel allgemeinerer Weise auch eine
Gefahr für die Demokratie insgesamt darstellt.
Deshalb hat für die Bundesregierung die Bekämpfung
extremistischer Bestrebungen jeglicher Couleur politische Priorität. Antisemitismus ist ein alle Strömungen
des Rechtsextremismus verbindendes Ideologieelement
und ein festes Themenfeld in der rechtsextremistischen
Propaganda. Diese Ideologie gilt es zu identifizieren. Es
gilt, sich mit ihr präventiv auseinanderzusetzen und sie
in ihren menschenverachtenden Wirkungen zu bekämpfen.
Es darf nicht sein, dass sich in deutschen Städten Bereiche bilden, in die man sich nicht mehr traut, wo Juden
oder Moslems oder Menschen mit heller oder dunkler
Hautfarbe nicht mehr sicher sind. Bei der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und dem Rassismus
sind also alle Teile der Gesellschaft gefragt: vom Staat
über die Sportvereine und die Erzieher bis hin zu den
Religionsgemeinschaften. Wir müssen uns dabei der Tatsache stellen, dass antisemitische und rassistische Vorurteile in unserer Gesellschaft vorhanden sind. Sie bilden
den Nährboden für verschiedene extremistische und zum
Teil gewaltbereite Gruppen am Rande unserer Gesellschaft.
Die von den Experten des unabhängigen Expertenkreises im Antisemitismusbericht seinerzeit ausgewerteten demoskopischen Untersuchungen geben übereinstimmend eine Größenordnung von etwa 20 Prozent
latentem Antisemitismus an. Die Quote mag in der Diskussion stehen. Je nach wissenschaftlicher Methode, erkenntnisleitendem Interesse, Fragebogendesign und anderem können solche Ergebnisse natürlich variieren.
Aber unabhängig von der Festlegung auf eine bestimmte
Zahl: Die Bundesregierung nimmt die Ergebnisse dieses
Antisemitismusberichtes ernst. Sie sieht sich weiterhin
veranlasst, den Antisemitismus in der Gesellschaft nachhaltig zu bekämpfen.
({0})
Im ersten Quartal 2013 wurden insgesamt 203 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund gemeldet. Davon
waren 8 Gewalttaten und 48 Propagandadelikte. Meine
Damen und Herren, jede einzelne dieser Straftaten ist
eine zu viel.
({1})
Werte wie Respekt, Toleranz und Demokratie fallen
nicht vom Himmel. Sie sind keine Naturereignisse. Sie
müssen täglich neu vermittelt werden. Hier sind alle demokratischen Institutionen, Staat und Zivilgesellschaft
gleichermaßen gefordert, sich auch und gerade dem Antisemitismus überall entschlossen entgegenzustellen. Die
Bedeutung des Schutzes dieser Werte muss nicht zuletzt
auch vor dem Hintergrund der Aufdeckung der terroristischen Mordserie des NSU im November 2011 gelten, die
unsere Gesellschaft bis heute noch schwer erschüttert.
Dies zeigt uns leider, dass wir angreifbar und verletzlich
sind. Deshalb ist es wichtig, unsere demokratischen
Werte gegen jede extremistische Hetze und gegen Gewalttäter zu verteidigen. Dies ist zwingender Konsens
aller freiheitlichen Demokraten.
Neben spezifischen Maßnahmen, wie zum Beispiel
dem Schutz jüdischer Einrichtungen, bedeutet für uns
die Bekämpfung antisemitischer Straftaten nach wie vor,
vor allem die politisch rechts motivierte Kriminalität zu
bekämpfen. Dies wird als eine Daueraufgabe angesehen,
der wir uns, immer wieder angepasst an neue Gegebenheiten, stellen.
Alle gemessenen Quantitäten antisemitischen Einstellungspotenzials in unterschiedlichsten Erscheinungen
- zum Beispiel antisemitische Ressentiments, Klischees,
Verschwörungstheorien etc. - sind mit den Werten einer
freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar.
({2})
Seit vielen Jahren werden zahlreiche Modellprojekte
zur Prävention von Antisemitismus in den Bundesprogrammen gefördert. Dies wird vom Antisemitismusbericht ausdrücklich hervorgehoben und grundsätzlich
positiv gewürdigt.
Die Auswertungen der Modellprojekte durch die wissenschaftlichen Begleitungen haben gezeigt, dass diese
Projekte in den verschiedenen Förderperioden einen
wichtigen Beitrag im Kampf gegen antisemitische Tendenzen geleistet haben. Die Projekte haben zahlreiche
innovative Ideen für die Auseinandersetzung mit historischem und aktuellem Antisemitismus entwickelt. Dabei
war und ist es eine besondere Herausforderung, Strategien und Maßnahmen zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus so zu entwickeln, dass sich insbesondere Jugendliche von den angebotenen Aktivitäten erfassen und
begeistern lassen und die angestrebten positiven Veränderungen dann auch tatsächlich eintreten.
Die Tatsache, dass die jüdische Gemeinschaft in
Deutschland heute die am stärksten wachsende in Europa ist, zeigt, dass sich hier starkes und lebendiges jüdisches Leben wieder dauerhaft etabliert. Wir sollten
dankbar dafür sein. Es ist ein zentrales Anliegen der
Bundesregierung, dass dies auch weiterhin ermöglicht
werden kann.
Auch deshalb fördert die Bundesregierung eine Vielzahl von überregionalen bedeutsamen jüdischen Einrichtungen. Ich erwähne die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, das Zentralarchiv für Erforschung der
Geschichte der Juden in Deutschland, das AbrahamGeiger-Kolleg mit dem ihm angegliederten Jewish Institute of Cantorial Arts in Potsdam und das Leo-Baeck-Institut. In diesem Zusammenhang ist auch die institutionelle Förderung des Internationalen Auschwitz Komitees
zu nennen, das sich die Weitergabe der Erinnerung an
den Holocaust an die jüngere Generation zur Aufgabe
gemacht hat. Darüber hinaus wird als Ausdruck der kontinuierlichen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und der jüdischen Gemeinschaft deren Dachorganisation, der Zentralrat der Juden in Deutschland,
seit 2012 mit einer jährlichen Staatsleistung in Höhe von
10 Millionen Euro gefördert.
Der gesellschaftliche Konsens einer nachhaltigen Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus wird dadurch unterstrichen, dass der vorliegende parteiübergreifende Antrag „Antisemitismus entschlossen bekämpfen,
jüdisches Leben in Deutschland weiterhin nachhaltig
fördern“ hier und heute zur Beschlussfassung vorliegt.
Die Bundesregierung begrüßt und unterstützt diesen Antrag und wird auch weiterhin das ihr Mögliche tun, gemeinsam mit allen freiheitlich-demokratischen Kräften
in der Gesellschaft die Ächtung und Bekämpfung des
Antisemitismus voranzutreiben.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau
Gabriele Fograscher. - Bitte schön, Frau Kollegin
Fograscher.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Bergner, die Lehren, die wir zu ziehen haben, sind
nicht die Lehren aus der Weimarer Republik. Es sind vor
allen Dingen die Lehren aus den Verbrechen der Nationalsozialisten.
({0})
Zu dem Antrag, den wir heute hier vorlegen, kann
man nur sagen: Was lange währt, wird endlich gut. Wir
haben lange verhandelt. Ich bin froh, dass es uns gelungen ist, uns auf den vorliegenden Antrag zu einigen. Der
Antrag ist ein Signal, dass wir Antisemitismus weiterhin
gemeinsam und entschlossen bekämpfen und jüdisches
Leben weiterhin fördern wollen.
Das Expertengremium, das wir in der letzten Wahlperiode eingesetzt haben, hat seinen Bericht im November
2011 vorgelegt. Wir haben ihn dann leider erst im Oktober 2012 hier im Plenum beraten. Dieser Bericht ist eine
gründliche und fundierte Analyse des Antisemitismus in
Deutschland. Dafür noch einmal meinen Dank an die
Expertinnen und Experten.
({1})
Im Bericht wird festgestellt, dass es bei 20 Prozent
der deutschen Bevölkerung, quer durch alle Bevölkerungsgruppen, antisemitische Einstellungen gibt. Mit
dieser erschreckend hohen Zahl wollen und werden wir
uns nicht abfinden. Im Bericht wird ebenfalls festgestellt, dass es eine weitverbreitete Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken in der Mitte
der Gesellschaft gibt.
Der Rechtsextremismus ist immer noch der wichtigste Träger von antisemitischen Einstellungen. Neue
Phänomene treten allerdings hinzu. Der in dieser Woche
vorgestellte Verfassungsschutzbericht 2012 zeigt uns
deutlich, dass wir in unserem Engagement nicht nachlassen dürfen. Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten
Straftaten mit antisemitischem Hintergrund stieg im Jahr
2012 auf 1 286. Das sind 124 mehr als im Vorjahr. Die
Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten
mit antisemitischem Hintergrund stieg von 22 auf 36.
Antisemitismus ist zwar ein fester Bestandteil der
rechtsextremistischen Ideologie. Wir müssen Antisemitismus aber auch als eigenständiges Phänomen außerhalb des Rechtsextremismus wahrnehmen.
Der Antrag ist ein Kompromiss. Für uns, die SPDBundestagsfraktion, waren folgende Punkte wichtig:
Im ursprünglichen Entwurf der Koalitionsfraktionen
war vorgesehen, dass das Bundesinnenministerium dem
Deutschen Bundestag einen regelmäßigen Bericht vorlegt. Das war uns zu wenig. Für uns war und ist es wichtig, dass unabhängige Sachverständige aus Theorie und
Praxis, deren Benennung in Abstimmung mit den Fraktionen erfolgen soll, dem Deutschen Bundestag zu spezifischen Schwerpunkten aus dem Themenkomplex Antisemitismus in Deutschland berichten.
({2})
Der Bericht soll Empfehlungen enthalten, die auf Bundesebene umgesetzt werden können.
Ein weiterer unverzichtbarer Punkt ist für uns die längerfristige Implementierung von Programmen gegen den
Antisemitismus. Den ursprünglichen Finanzierungsvorbehalt haben wir aus dem Antrag gestrichen. Das ist gut
und richtig, denn erfolgreiche Projekte müssen unter
Einbeziehung der Evaluationsergebnisse weitergeführt
werden.
({3})
Wir würden sonst viel Sachverstand verlieren, Engagement behindern und Erfolge im Kampf gegen Antisemitismus konterkarieren. Diese Forderung war bereits im
interfraktionellen Antrag von 2008 enthalten. Sie ist aber
leider nicht umgesetzt worden. Herr Bergner, auch zu
diesem Thema, das eigentlich zum Aufgabenbereich Ihrer Bundesregierung gehört, haben Sie in Ihrem Statement hier nichts gesagt. Wir müssen das in der nächsten
Wahlperiode nachholen.
Zusätzlich wollen wir neue und innovative Ansätze
für die Stärkung der demokratischen Kultur und gegen
Antisemitismus verfolgen. Diese dürfen nicht an einer
fehlenden Kofinanzierung durch andere staatliche Ebenen scheitern. Das ist auch eine Forderung des Zentralrats der Juden und des American Jewish Committee.
Ein weiterer Punkt, der wichtig ist: Wir werden künftig Hemmnisse beseitigen, die demokratische Gruppen
der Zivilgesellschaft in ihrem Engagement behindern.
Wir verstehen darunter unter anderem die Abschaffung
der sogenannten Extremismusklausel.
({4})
Wir begrüßen es, dass der Deutsche Bundestag dem
Staatsvertrag zwischen dem Zentralrat der Juden und der
Bundesrepublik Deutschland zugestimmt hat. Die Erhöhung der Mittel leistet einen wichtigen Beitrag zur Förderung des jüdischen Lebens und der jüdischen Kultur in
Deutschland.
Jüdisches Leben und jüdische Kultur gehören zu
Deutschland. Anlässlich der Einweihung der Neuen Synagoge in Ulm im Dezember 2012 sagte
Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass jüdisches Leben, dass jüdische Menschen nach all diesem Schrecken und all diesem
himmelschreienden Unrecht wieder in Deutschland
Heimat gefunden haben. Gemeinden sind wieder
gegründet und belebt worden, es gibt jüdische Kindergärten, Schulen, Altenheime.
Ich glaube, da hat er uns aus dem Herzen gesprochen.
({0})
Wir hätten uns gewünscht, unter Punkt 4 des Antrages
aufzunehmen, dass Jüdische Studien an den Hochschulen interdisziplinär gestärkt und weiter ausgebaut werden sollen. Damit könnte das Wissen um jüdisches
Leben und jüdische Geschichte in der Hochschulausbildung fächerübergreifend gefördert werden.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, solange jüdische
Einrichtungen rund um die Uhr bewacht werden müssen,
jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger sich Pöbeleien
und tätlichen Angriffen ausgesetzt sehen, Hasstiraden im
Internet verbreitet werden und Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden in der Mitte der Gesellschaft verbreitet
sind, so lange müssen wir uns hier im Deutschen Bundestag, in den Länder- und Kommunalparlamenten und
in der Zivilgesellschaft damit auseinandersetzen. Wir
müssen um gemeinsame Positionen ringen und uns auf
wirkungsvolle Maßnahmen verständigen. Die heutige
Abstimmung über diesen Antrag ist deshalb nicht das
Ende der Beratungen. Sie ist ein weiterer Schritt auf dem
Weg zu einer umfassenden Gesamtstrategie gegen Antisemitismus. Es gibt etwas, „was wir nie wieder aufs
Spiel setzen wollen“, wie Joachim Gauck es formulierte,
nämlich die „Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in
Deutschland“.
Ich danke den Berichterstattern und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie den Referentinnen und
Referenten der Fraktionen und den vielen Kolleginnen
und Kollegen, die konstruktiv an diesem Antrag mitgearbeitet haben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den 80er- und 90er-Jahren hatten Pädagogen und
diejenigen, die sich mit dem Holocaust und der Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland beschäftigt haben,
die Hoffnung, dass man dem Antisemitismus in
Deutschland durch eine sogenannte Vergangenheitspolitik, durch Aufklärung und Bildung weitgehend zu Leibe
rücken könnte.
Leider haben sich diese Hoffnungen nicht erfüllt.
Mittlerweile ist zu konstatieren, dass das Phänomen des
Antisemitismus eher Wellenbewegungen folgt und in
unserem Land keinesfalls im Abnehmen begriffen ist.
Das müssen wir sehr ernst nehmen. Denn alle Bemühungen, durch die adäquate Auseinandersetzung mit unserer
Vergangenheit zu einer endgültigen Lösung dieses Problems zu kommen, sind gescheitert.
90 Prozent der Straftaten gegen jüdisches Leben in
Deutschland kommen aus dem Bereich des Rechtsextremismus. Das ist natürlich eine dramatische Zahl. Aber
wir würden es uns zu leicht machen, wenn wir den Antisemitismus mit Rechtsextremismus gleichsetzen würden. Der Antisemitismus ist leider bis in weite Teile des
Bürgertums, der Mitte unserer Gesellschaft und in Menschen aller Parteien - leider würde ich fast keine Partei
davon ausnehmen wollen - verwurzelt. Insofern gibt es
nach wie vor einen erschreckend hohen latenten Antisemitismus; Herr Bergner hat einige Kennzahlen genannt.
Das wird auch aus Antworten auf die Frage, ob Juden zu
viel Einfluss in diesem Land haben, deutlich. Entsprechende Aussagen kommen keinesfalls nur vom rechten
Rand der Gesellschaft, wo Antisemitismus schwerpunktmäßig zu finden ist.
Ich habe den Antisemitismusbericht in jüdischen Gemeinden, am Fritz-Bauer-Institut und anderen Orten vorgestellt und diskutiert. Die Reaktionen waren: Es ist gut,
dass eine unabhängige Kommission aus Wissenschaftlern das Thema aufgearbeitet hat und dass wir nun empirische Erkenntnisse haben. - Bemängelt wurde allenfalls
ein wenig, dass wir erst noch Handlungsansätze daraus
entwickeln müssen und angesichts der vorliegenden Tatbestände erst noch aktiv werden müssen. Im nächsten
Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages
sollte neben einer genauen Betrachtung des Istzustandes
auch Wert auf die Konsequenzen gelegt werden, die zu
ziehen sind.
({0})
Mir scheint, dass die ausgewählte Didaktik - auch das ist
ein Befund des Berichtes - bisweilen nicht geeignet ist,
um dem Phänomen Antisemitismus ausreichend zu
Leibe zu rücken.
Jüdisches Leben in Deutschland ist nach wie vor
keine Normalität, aber zum Glück eine sichtbare und erfreuliche Selbstverständlichkeit. Es ist ein anderes jüdisches Leben als das, was wir vor 1933 in Deutschland
hatten. Als Rechtshistoriker im Max-Planck-Institut für
europäische Rechtsgeschichte bin ich immer wieder erschrocken darüber, wie das Fachgebiet der Romanistik,
also die Auseinandersetzung mit dem Römischen Recht
- eine fast nur von jüdischen Deutschen betriebene Disziplin -, durch den Holocaust gleichsam ausgerottet
wurde und wie Kenntnisse und Traditionen des deutschen Bildungsbürgertums jüdischer Prägung für
Deutschland verloren gegangen sind. Das jüdische Leben heute ist ein anderes, ein erfreulich plurales und
auch ein lebendiges, das manchmal durch ein unter sich
streitendes und debattierendes Judentum gekennzeichnet
ist. Darüber können wir uns ausgesprochen freuen.
Wir alle sollten gemeinsam an der Bekämpfung des
Antisemitismus arbeiten. Deswegen verzichte ich in
meiner Rede auf jede parteipolitische Zuordnung. Auch
Frau Pau bemüht sich als Berichterstatterin in ihrer Fraktion redlich, dieses Thema aktiv anzugehen; ich würde
sagen: mit wechselndem Erfolg. Ich kann Ihnen nur alles
Gute wünschen, Frau Pau, weil das Thema auch in der
Linksfraktion weiter bearbeitet werden sollte.
({1})
- Sie alle kennen die Beschreibungen von sekundärem
Antisemitismus. Sie alle wissen, dass es auch in Ihren
Kreisen Menschen gibt, die Israel anders kritisieren als
andere Staaten dieser Welt, die eine andere Wortwahl benutzen, wenn es um Israel geht, als wenn es um einen
anderen Staat geht. Von daher haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion, durchaus noch viel
zu tun.
({2})
Ich finde es richtig, dass wir die Gespräche über das
Thema nun fortsetzen, dass wir uns auch in der nächsten
Legislaturperiode dieses Themas annehmen, dass wir
Handlungsoptionen entwickeln und nicht nur beschreiben. Ich finde es richtig, dass wir mit den Jüdinnen und
Juden in Deutschland weiterhin ins Gespräch kommen.
Allein in dieser Legislaturperiode haben die Haushälter
viel für jüdisches Leben in Deutschland getan: die Unterstützung der Barenboim-Said-Akademie und die Aufstockung der Mittel für den Zentralrat der Juden. Ich
glaube aber, es darf nicht nur um Finanzen gehen, sondern es muss auch um das regelmäßige Gespräch und die
Bekämpfung des Antisemitismus an den Stellen gehen,
an denen er auftaucht: in den eigenen Reihen und am
rechten Rand der Gesellschaft. Dann geht es mit dem
Antisemitismus, der ja leider in Wellenbewegungen vorkommt, hoffentlich wieder abwärts. Ich glaube, wir werden das Phänomen in Deutschland nie endgültig beseitigen können.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat nun Petra Pau für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag, über den wir beraten und über den wir danach
abstimmen, hat eine Vorgeschichte. Sie begann vor fünf
Jahren, im Jahr 2008. Damals beschloss der Bundestag,
einen Antrag mit der Überschrift „Den Kampf gegen
Antisemitismus verstärken, jüdisches Leben in Deutschland weiter fördern“ anzunehmen. Der Beschluss wurde
damals letztlich von allen Fraktionen gefasst. So wurde
er zu einer Botschaft in die Gesellschaft.
Ich finde ohnehin: Bei menschenfeindlichen Themen
wie Rechtsextremismus oder Antisemitismus sollten Demokraten aller Couleur immer das Gemeinsame im
Trennenden suchen und nicht das Trennende im Gemeinsamen.
({0})
Das ist jedenfalls meine Lehre aus der deutschen Geschichte; denn die Nazis kamen 1933 nicht an die Macht,
weil die NSDAP so stark war, sondern weil die Demokraten zu zerstritten waren und der Propagierung von
Feindbildern freien Lauf ließen.
Der Antrag von 2008 war auch eine Willensbekundung des Bundestages. Er enthielt sieben konkrete Aufträge an die Bundesregierung. Die Bundesregierung
wurde zum Beispiel aufgefordert, eine Expertenkommission zu berufen. Diese wiederum sollte eine aktuelle
Analyse zum Antisemitismus in Deutschland erarbeiten.
Die Kommission legte 2011 ihren Bericht vor. Er bestätigt, dass Antisemitismus ein akutes gesellschaftliches
Problem ist. Am 17. Oktober 2012 haben wir hier im
Plenum über die umfassende Expertise debattiert. Das
war übrigens eine weitgehend sachliche Debatte, aber auch das ist normal und demokratisch - sie hat auch Differenzen offenbart. Ich will an einige erinnern:
Erstens. Die SPD, die Linke und Bündnis 90/Die Grünen forderten, dass diese Kommission unter verbesserten
Arbeitsbedingungen ihre Arbeit fortsetzt. Der Kollege
Uhl äußerte sich für die CDU/CSU-Fraktion verhaltener
und befand, der Bericht sei dünn, wenn es um konkrete
Vorschläge für die Politik gehe. Unsere Kollegin
Flachsbarth warnte davor, ein weiteres Gremium zu verstetigen. Im selben Sinn hat sich Bundesinnenminister
Friedrich damals geäußert. Seitdem war klar: Wir haben
einen Konflikt. Soll die Bundespolitik, wie 2008 vom
Bundestag beschlossen, beständig von externen Experten beraten werden oder nicht? Damals sagte die Union
Nein, die anderen Fraktionen meinten Ja.
Wenn ich den nun vorliegenden Antrag von aller
Prosa entkleide - die Kollegin Fograscher hat das auch
schon gemacht -, dann steht darin ein Nein zur beständigen Weiterführung dieses Gremiums. Damit entpuppt
sich der Dank an die Expertinnen und Experten als Abgesang an diese. Dem stimmt die Linke nicht zu.
Zweitens. Der Bericht der Experten enthält übrigens
22 dringende Empfehlungen an die Politik, an die Gesellschaft, an die Wissenschaft.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Schröder von der CDU/CSU-Fraktion?
Ja, natürlich.
({0})
Ich bin nicht Abgeordnete geworden, sondern ich bin
schon seit einigen Jahren Abgeordnete.
Frau Kollegin Pau, ich möchte mit Ihrer Hilfe meine
Erinnerung abgleichen. Sie erwähnten eben den Antrag
von 2008 und sagten, den hätten damals letztlich alle
Fraktionen verabschiedet. Wenn ich mich richtig erinnere, war es damals so, dass dieser Antrag von der CDU/
CSU, der SPD, den Grünen und der FDP eingebracht
wurde und die Linke einen wortgleichen Antrag eingebracht hat.
Es war aber auch so, dass etwa zehn bis zwölf Abgeordnete der Linken demonstrativ den Saal verlassen haben, weil sie nicht bereit waren, diesem Antrag zuzustimmen.
({0})
Medial haben sie dann geäußert, dass dies vor allen Dingen auch etwas damit zu tun hatte, dass in dem Antrag
gestanden hat, die Solidarität mit Israel gehöre zur
Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland und die
Teilnahme an Demonstrationen, auf denen Israel-Flaggen verbrannt würden, könne nicht zur legitimen Kritik
an Israel dazugehören. Teilen Sie diese Erinnerung?
Es ist gut, dass Sie mir durch diese Zwischenfrage die
Gelegenheit geben, hier ein bisschen Geschichtsaufarbeitung zu betreiben.
Aus allen Fraktionen sitzen hier Kollegen, die sich
- beginnend im November 2007 - mit dem Ziel, einen
gemeinsamen Antrag aller Fraktionen mit Blick auf den
9. November 2008, also auf das Gedenken an die
Reichspogromnacht, zu erarbeiten, und im Bemühen, jüdisches Leben tatsächlich zu befördern, zusammengefunden hatten. Es waren also alle Fraktionen vertreten.
Die Kollegin Connemann und der Kollegen Beck - sie
sind hier anwesend - waren auch dabei.
Dann übernahmen die Machtpolitiker einer Fraktion
dieses Hauses die Initiative, sie legten einen neuen Antrag mit ganz offensichtlich falschen Aussagen mit Blick
auf die Geschichte und den Umgang mit Jüdinnen und
Juden nach 1945 vor, zum Beispiel in der DDR, womit
ich aber das, was in der DDR geschehen ist, und auch
die Verantwortung der SED für falsche politische Entscheidungen nicht kleinreden will. Dieser neue Antrag
ging dann sowohl der SPD als auch Bündnis 90/Die
Grünen und - so erinnere ich mich - auch Vertretern der
FDP zu weit; denn nun lag die Zumutung auf dem Tisch,
einen Antrag mit offensichtlich falschen Behauptungen
zu beschließen.
Es wurde also unter den Fraktionen unter Ausschluss
der Linken weiterverhandelt. Das Ergebnis lag dann vor.
Die Fraktion Die Linke wäre bereit gewesen, obwohl sie
am Verhandlungsprozess und damit an der Kompromisssuche nicht beteiligt war, diesem Antrag beizutreten, das
heißt, auch innerparteiliche und innerfraktionelle Auseinandersetzungen zu diesem Kompromiss zu führen.
Dazu wiederum war die Unionsfraktion nicht bereit.
Daraufhin hat die Fraktion Die Linke unter Zurückstellung ihrer eigenständigen Vorschläge, die sie gern
noch in den Verhandlungsprozess eingebracht hätte, gesagt: Wir wollen ein starkes Signal senden, deshalb bringen wir den Antrag, den die anderen Fraktionen des
Hauses hier eingebracht haben, wortgleich - ich erinnere
mich sogar an einen übernommenen Fehler in der Interpunktion - hier ein. - Der Bundestagspräsident ließ über
beide Anträge abstimmen.
Auch aus meiner Erinnerung ist richtig, dass sich
zehn Abgeordnete enthalten bzw. nicht an dieser Abstimmung teilgenommen haben, da sie insbesondere mit
dem Thema Staatsräson ihre Probleme hatten.
({0})
Sie haben aber nicht gegen diesen Antrag gestimmt. Wir
haben dazu in der Folge weitere Debatten geführt. Ich
weiß, dass es durchaus auch in anderen Parteien und
Fraktionen zum Begriff der Staatsräson, wenn es um das
Verhältnis zu Israel geht, unterschiedliche Auffassungen
gibt. Aber es ist nicht so, dass wir die anderen guten und
richtigen Dinge, die in diesem Antrag standen, ablehnen.
So war die Geschichte 2008.
({1})
Dass ich das alles noch einmal ausgepackt habe, haben
Sie mit Ihrer Frage provoziert.
Wie gesagt: Der Bericht der Experten enthält 22 dringende Empfehlungen an die Politik, an die Gesellschaft
und an die Wissenschaft. Mich bewegt das Generalfazit
der Kommission. Es lautet nämlich: Es gibt kein stimmiges Gesamtkonzept im Kampf gegen Antisemitismus.
Zugleich boten die Wissenschaftler dem Deutschen Bundestag an, Leitlinien für ein solches Konzept zu entwickeln. Mit dem jetzt vorliegenden Antrag nehmen wir
dieses Angebot erst einmal nicht an. Ersatzweise wird in
einem Nebensatz die Klugheit der Bundesregierung gepriesen. Ich finde, das kommentiert sich selbst.
Drittens. Ein weiteres Hemmnis wurde erneut bestätigt: Die gesellschaftlichen Initiativen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus brauchen
mehr Zuspruch und Förderung. Sie leisten Unverzichtbares vor Ort und in den Regionen, aber sie hängen am
Tropf. SPD, Linke und Bündnis 90/Die Grünen verlangen seit Jahren von der Bundespolitik ein neues Fördermodell. Im vorliegenden Antrag des Bundestages bleibt
davon eine unverbindliche Bitte um Prüfung an die Bundesregierung übrig. Ich finde, das ist zu wenig.
Schließlich - das wurde durch meine Antwort auf die
Zwischenfrage der Kollegin Schröder eben schon dokuPetra Pau
mentiert; aber ich will es trotzdem für das Protokoll festhalten - wurde beim vorliegenden Antrag gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben die Linke erneut
ausgeschlossen. Alle anderen Fraktionen machen mit.
Wir haben im NSU-Untersuchungsausschuss zu diesem
Neonazi-Mord-Desaster erlebt, dass es auch anders geht,
dass man sachlich und fraktionsübergreifend zusammenarbeiten kann. Insofern ist der heutige Vorgang auch aus
dieser Sicht ein Rückfall. So kommen wir grassierendem
Antisemitismus nicht bei und befruchten auch nicht gemeinsam jüdisches Leben in der Bundesrepublik.
Ich finde, heute steht eine verpasste Chance zur Abstimmung.
({2})
Das Wort hat nun Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Antisemitismus ist trauriger deutscher Alltag. Mindestens zweimal täglich gibt es in Deutschland antisemitische Straftaten. Im Jahr 2012 waren es 865 Taten. Sosehr man es
sich wünscht: Auch 70 Jahre nach der Befreiung von
Auschwitz kann von Normalität für jüdisches Leben in
Deutschland keine Rede sein. Sie bleibt aber unser Ziel.
Dieses Ziel ist aber nicht erreicht, solange wir vor Synagogen, vor jüdischen Kindergärten und Schulen sowie
Altenheimen einen besonderen polizeilichen Schutz
brauchen, weil die Sicherheitslage es erfordert. So
selbstverständlich es uns heute erscheint, dass man eine
jüdische Einrichtung am Polizeiauto vor der Tür erkennen kann, so sehr widerspricht es eben einer Selbstverständlichkeit von jüdischem Leben.
Zur Wahrheit gehört, dass diese Bedrohungen aus
ganz unterschiedlichen Lagern kommen. Sie kommen
häufig, zu über 90 Prozent, aus der rechtsextremen
Szene. Sie kommen aber auch von muslimischen Organisationen, islamistischen Gruppen, und sie kommen
auch von der linken Seite und aus der Mitte der Gesellschaft.
({0})
Das gehört zur Ehrlichkeit dieser Debatte dazu. Deshalb
fand ich manche Tonlage hier und das Zeigen auf andere
nicht angemessen.
Wir haben in allen Parteien, in allen gesellschaftlichen Großorganisationen Probleme mit unterschiedlichen Formen von Antisemitismus. Es gibt den christlichen
Antisemitismus. Es gibt den politischen Antisemitismus.
Es gibt auch Antisemitismus in Form von antiisraelischer Politik. Hierbei wird das Existenzrecht Israels
ignoriert. Es wird argumentiert, man müsse - angeblich
ist es ein Tabu - doch auch einmal Kritik äußern dürfen.
Dabei kann man die Spiegel-Titel mit Kritik - zum Teil
auch berechtigter Kritik - an konkreten Aktionen der israelischen Regierung oder Armee meterweise übereinanderlegen. Zu behaupten, hier müsse jemand ein Blatt vor
den Mund nehmen und es gebe ein gesellschaftliches
Tabu, ist eine Selbstinszenierung der Antisemiten als
Opfer einer vermeintlichen politischen Korrektheit.
({1})
Ich möchte zu dem Antrag kommen. Es war wichtig,
durchzusetzen - das war nicht ganz einfach; Frau Kollegin, ich hätte Sie bei diesem Termin gerne an meiner
Seite gehabt; das wissen Sie -, dass wir die Arbeiten mit
diesem Expertengremium fortsetzen. Es wird wieder
Sachverständige geben, die von der Bundesregierung bestellt werden und an der Erstellung dieses Berichts sitzen
werden. Für den letzten Bericht möchte ich stellvertretend Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung - sie sitzt hier auf der Tribüne - danken. Ich
denke, diese gute Arbeit sollte fortgesetzt werden. Wir
sollten diesen Bericht dann aber auch ernst nehmen;
({2})
denn darin stehen konkrete Empfehlungen. Bislang haben wir davon nichts politisch umgesetzt.
In dem Antrag steht, dass erneut geprüft werden soll,
wie mit den Fördermaßnahmen umgegangen wird. Wie
das erfolgen sollte, ist eigentlich klar. Es macht mich
schon etwas ungeduldig, Frau Schröder, wenn Sie die
Kollegin Pau auf das Abstimmungsverhalten irgendwelcher Abgeordneter - welches auch ich nicht verstehen
kann - aufmerksam machen. Sie sollten sich vielmehr
einmal die Empfehlungen durchlesen. Das betrifft nämlich Ihr Haus: Schaffen Sie die Extremismusklausel ab!
({3})
Finden Sie endlich eine Lösung für die Verstetigung der
Arbeit dieser Projekte!
Wenn wir uns darauf beschränken, nur davon zu träumen, dass es das Problem nicht mehr gibt, wird dieser
Traum nie wahr werden. Es ist ein Problem, dass Modellprojekte gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus
immer nur auf drei oder vier Jahre angelegt werden können. Wir brauchen dafür eine Lösung. Es muss entweder
eine Stiftung errichtet werden, oder der Bund muss den
Mut haben, gegenüber dem Bundesrechnungshof zu vertreten, dass für diesen Bereich eine dritte Art der Finanzierung - zwischen Projektförderung und institutioneller
Förderung - eingerichtet wird. So wie bisher können wir
nicht weitermachen; damit werfen wir denen, die sich
engagieren, Knüppel zwischen die Beine.
Nachgedacht werden muss auch über die Kommunalbindung dieser Projekte. In den Bereichen, wo es gesellschaftlich besonders große Probleme gibt, sind manche
Kommune und mancher kommunale Entscheidungsträger nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.
Manchmal können die Rechtsextremen nur deswegen
gesellschaftlichen Raum einnehmen, weil ihnen dieser
Raum unwidersprochen überlassen wird. Deshalb darf
die Förderung nicht darauf aufbauen, dass bereits alle
Beteiligten verstanden haben, worum es geht.
Volker Beck ({4})
Meine Damen und Herren, die Angriffe auf Rabbiner
in Berlin - so auch auf Stephan Kramer, der auf der Tribüne sitzt und den ich begrüße ({5})
oder kürzlich in Offenbach zeigen, dass der Kampf gegen Antisemitismus eine Aufgabe für uns alle ist. Die
Fragen, die parallel auf der am Alexanderplatz stattfindenden OSZE-Konferenz über Jewish Security behandelt werden, zeigen, dass wir uns diese Fragen europaweit stellen müssen: Die Situation in Ungarn ist mehr als
alarmierend und verlangt klare Signale der Europäischen
Union; denn der Antisemitismus steht im Kern im Widerspruch zu der Idee eines friedlichen und demokratischen Europas, das ja eine Antwort sein soll auf die
schrecklichste Phase des Antisemitismus: als unter den
Nationalsozialisten in unserem Land und in den europäischen Nachbarländern massenhaft jüdische Bürgerinnen
und Bürger ermordet wurden.
Ich denke, wir müssen hier energischer vorgehen und
uns diese Fragen zu Herzen nehmen. Herr Bergner, da
muss ich eine deutlich andere Tonlage wählen als Sie in
Ihrer Rede: Es reicht nicht, wenn die Strafverfolgungsorgane gegen antisemitische Straftaten vorgehen; das muss
eine Selbstverständlichkeit sein. Entscheidend dafür,
dass wir dabei vorankommen, die Zahl dieser Taten zu
minimieren, ist jedoch das gesellschaftliche Klima. Wir
brauchen eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft, und
wir brauchen in allen Bereichen eine Sensibilisierung
dafür, was Antisemitismus ist. Wir sollten uns dabei, wie
ich eingangs gesagt habe, nicht immer so sicher sein,
dass unsere Organisationen bei allen Fragen auf der richtigen Seite sind. Wir müssen weiter aufmerksam bleiben
und darauf achten, wenn entsprechende Äußerungen
auch in unseren Kreisen gemacht werden.
Zum Schluss möchte ich allen Menschen in der Gesellschaft danken, die sich in entsprechenden Initiativen,
die nur wenig Geld bekommen, engagieren. Für großen
Frust sorgt dabei auch, dass wir bestimmte Sachen, die
schon lange klar sind, einfach nicht anpacken. Stellvertretend für die vielen Tausende von Menschen, die sich
vor Ort engagieren, möchte ich Ulla Scharfenberg von
der Amadeu-Antonio-Stiftung und Fabian Weißbarth
vom American Jewish Committee danken. Wir brauchen
Ihr Engagement. Geben Sie nicht auf! Irgendwann wird
es uns gelingen, das, was wir mit dem heutigen Beschluss zum zweiten Mal versprechen - dass wir Ihnen
bei Ihrer wichtigen Arbeit keine Hürden in den Weg stellen -, politisch durchzusetzen.
({6})
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Dass wir heute über wiedererstarkendes jüdisches Leben in Deutschland debattieren können, ist eine
der glücklichsten und wohl auch erstaunlichsten Entwicklungen in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland. Diese Entwicklung ist alles andere als
selbstverständlich, auch fast 70 Jahre nach dem Ende
von Rassenwahn und NS-Herrschaft. Wir sollten heute
nicht das Trennende herausarbeiten - das gilt auch für
Sie, Herr Beck -, sondern sollten zufrieden sein, dass es
uns gelungen ist, einen gemeinsamen fraktionsübergreifenden Antrag zu formulieren, der Ausdruck der Entschlossenheit dieses Parlamentes ist, gemeinsam jede
Form von Antisemitismus zu bekämpfen.
Ich meine, es ist nicht ganz so gewesen, wie es Frau
Kollegin Pau dargestellt hat hinsichtlich der Abfassung
des letzten Antrags im Jahre 2008; es würde jetzt zu weit
führen, das alles herauszuarbeiten.
({0})
Ich möchte an die Rede Ihres damaligen Parteivorsitzenden Gysi erinnern, die er vor der Rosa-LuxemburgStiftung gehalten hat, in der er Ihre Partei ermahnt hat,
dass sie in der politischen Parteienlandschaft Deutschlands erst dann Fuß fassen könne, wenn sie ihr Verhältnis zum Judentum und zum Staate Israel ins Reine gebracht habe. Das ist die Botschaft einer großen und
guten Rede von Gregor Gysi, adressiert an Ihre eigenen
Parteifreunde.
({1})
Da ist etwas aufzuarbeiten. Das sollten Sie hier nicht
kleinreden.
Meine Damen und Herren, es muss uns allen aber
auch klar sein, dass man Antisemitismus nicht mit Papieren oder politischen Bekenntnissen bekämpfen kann;
man muss sich vielmehr die Mühe machen, auf lokaler
Ebene ganz gezielte Maßnahmen zu ergreifen. Dort, wo
Antisemitismus anzutreffen ist, muss er bekämpft werden. Damit sind wir Parlamentarier im Bundestag natürlich nicht die erste Adresse. Das muss über die Länder
auf die Ebene der Kommunen heruntergebrochen werden und zum Beispiel in den Schulen angegangen werden, also überall dort, wo man Antisemitismus antreffen
kann.
Der Bericht, den wir bekommen haben, ist eine umfassende wissenschaftliche Darstellung aller Formen von
Antisemitismus. Er liest sich wie ein Kompendium.
Aber das ist nicht die Lösung. Wir müssen uns auf der
Basis dieses Berichtes ganz konkrete Maßnahmen ausdenken.
({2})
Es gibt auch neue Formen des Antisemitismus; darauf
haben die meisten Redner hingewiesen. Auch das gilt es
zu beachten: Neben dem Schwerpunkt des Antisemitismus im Rechtsextremismus - ganz selbstverständlich Dr. Hans-Peter Uhl
gibt es eben auch in Teilen der Migrationsgemeinde in
Deutschland neue Formen des Antisemitismus. Dies
muss beachtet werden, muss bekämpft werden. Es muss
hinterfragt werden, wie es dazu kommen konnte. Wir
alle sind dazu aufgerufen, wachsam zu sein.
Die Anschläge auf die Rabbiner möchte ich jetzt nicht
noch einmal ausführlich darstellen; sie wurden schon erwähnt. Vielmehr möchte ich auf Sender wie Al-Aqsa,
der von der Hamas betrieben wird, oder den libanesischen Hisbollah-Sender Al-Manar hinweisen, über die
Antisemitismus aus der Ecke des Islamismus in unsere
Wohnzimmer und in die muslimischen Gemeinden in
Deutschland hineingetragen wird und vor allem bei der
Jugend ankommt. Dadurch erklärt sich auch der eine
oder andere Übergriff aus diesem Milieu auf Juden in
Deutschland. Es ist auch unsere Aufgabe, hier gegenzusteuern, diese Szene zu beobachten, weil es eine große
Population gibt, die dafür anfällig sein könnte.
({3})
Das heißt, der ungelöste Nahostkonflikt spielt auch hier
eine große Rolle. Es muss in den Schulen aufgeklärt
werden und alles dafür getan werden, um hier keinen
neuen Antisemitismus in Deutschland entstehen zu lassen.
Toleranz, Miteinander in den Kommunen, das muss
den jungen Menschen beigebracht werden. Die Frage,
wie wir dies tun können, ist schwierig zu beantworten.
Lassen Sie mich kurz berichten. Ich war in den
Pfingstferien wieder mit zwei befreundeten jüdischen
Familien privat in Israel und Jerusalem und - natürlich auch wieder einmal in Yad Vashem, wie sicherlich viele
von Ihnen auch schon in Yad Vashem waren. Man muss
dieses Monument und Museum der entsetzlichen deutschen Geschichte, des Holocausts auf sich wirken lassen.
Das beginnt schon mit der architektonischen Wucht dieses Museums. Es wurde wie die Klinge eines Messers,
mit der Spitze nach oben, auf einem Höhenrücken errichtet. Darin wird man durch die Dunkelheit der deutschen Geschichte der Nazizeit geführt, übrigens nicht
beginnend mit Hitler, sondern mit der Epoche und den
Jahren davor, die zu Hitler geführt haben. Das ist auch
sehr interessant zu sehen. Da hängt ein Plakat aus der
Weimarer Zeit, auf dem steht: „Jetzt kann nur noch
Adolf Hitler helfen!“, um die Stimmung aus den 20erJahren aufzugreifen. Man erfährt auch, dass Hitlers Mein
Kampf, wo alles angekündigt wurde, nicht gelesen
wurde, weil man glaubte, jetzt könne nur noch er helfen.
Wie es dazu kam, wird eindrucksvoll dargestellt. Dann
geht es weiter durch die 30er-Jahre in Wort und Ton, auf
erschütternde, ergreifende Weise.
Ich glaube, wer dieses Museum in seinem Leben auch
nur einmal gesehen hat, dem brennt sich in die Seele ein,
dass es in Deutschland niemals wieder solches Gedankengut geben darf. Deswegen sollte man alle zu einem
Besuch aufrufen. Yad Vashem ist ein Muss für jeden
Deutschen. Das muss man auf sich wirken lassen.
({4})
Diese Architektonik ist auch deswegen so beeindruckend, weil sich, wenn man durch diese dreieckige Betonschlucht hindurchgegangen ist, am Ende die Betonmauer öffnet und man vor einem weiten, grünen Tal
steht - und über einem der blaue Himmel. Es öffnet sich
der Weg in eine bessere Welt, in eine Welt ohne Antisemitismus. Dafür sollten wir alle miteinander arbeiten.
({5})
Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestern, am 12. Juni, war der 84. Geburtstag von Anne
Frank, des jüdischen Mädchens, geboren in Frankfurt am
Main, mit der Familie geflüchtet nach Amsterdam, versteckt im Hinterhaus, ermordet in Bergen-Belsen. Dieses
Mädchen und seine Geschichte kennen wir alle. Wahrscheinlich geht es vielen von Ihnen so wie mir: Das Lesen des Tagebuchs als junge Jugendliche, als Kind, war
der Anlass, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. Für
viele ist dieses Mädchen auch eine Identifikationsfigur.
Auch heute lesen viele Schülerinnen und Schüler das Tagebuch.
Wenn allein das Wissen über die Geschichte Antisemitismus verhindern könnte, müssten wir heute nicht darüber debattieren, warum es so erschreckend ist, dass
sich der Antisemitismus in den letzten Jahren sogar noch
verstärkt hat. Herr Kollege Ruppert hat auf die didaktischen Diskussionen hingewiesen. Ich habe selber viele
Jahre in einer Gedenkstätte für die NS-Opfer gearbeitet.
So einfach macht es sich, glaube ich, niemand, zu denken, dass durch das Wissen über die Geschichte Antisemitismus per se verhindert wird.
Dass Antisemitismus sogar zugenommen hat, wissen
wir aus dem Antisemitismusbericht. Auch ich danke
noch einmal sehr herzlich jenen, die an diesem umfassenden und wichtigen Bericht mitgewirkt haben und
heute hier sind. Aus ihm geht hervor, dass bestimmte
Aussagen Zustimmung finden. Das hat Professor
Heitmeyer mit seiner Arbeitsgruppe „Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit in Deutschland und Europa“ immer wieder untersucht. Zum Beispiel stimmen 12,6 Prozent der Befragten voll oder ganz dem Satz zu: „Durch
ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig.“ So viel zum Thema Antisemitismus in der
Mitte der Gesellschaft.
Wie passt das zusammen - auf der einen Seite diese
hohe, auch emotionale Identifikation, dieses große Interesse an dem jüdischen Mädchen Anne Frank und auf
der anderen Seite solche Meinungen?
Was ich bei allen Studien, die wir über dieses Thema
lesen und kennen, auffällig finde, ist, dass die Ausländerfeindlichkeit dort am größten ist, wo am wenigsten
Ausländer leben. Der Antisemitismus ist dort am größten, wo die Menschen am wenigsten Jüdinnen und Juden
kennen oder mit ihnen gar nicht in Kontakt kommen.
Das sollte uns zu denken geben. Das sollte uns auch zu
denken geben, wenn wir über Konsequenzen für die pädagogische Arbeit, für die Prävention von Rassismus
und Antisemitismus diskutieren. Denn die Bekämpfung
des Antisemitismus ist nicht Aufgabe der Juden in
Deutschland, sondern dies ist Aufgabe der ganzen Gesellschaft und zuvorderst auch der Politik.
({0})
Wir haben es heute schon mehrfach gehört: Der weitaus größte Teil - etwa 90 Prozent - der antisemitischen
Straftaten wird im rechtsextremen Spektrum verübt. Es
ist sogar ein Anstieg zu verzeichnen. Das Bundesinnenministerium hat neulich für 2012 einen Anstieg der antisemitischen Straftaten um 10,6 Prozent bekannt gegeben. Wir hören ja auch immer wieder von Fällen, wie
hier in Berlin, dass Stolpersteine beschmiert werden,
dass Rabbiner angegriffen werden, dass sich junge Juden, jüdische Studenten nicht mehr trauen, eine Kippa zu
tragen.
Wir erleben diesen rassistischen Antisemitismus, diesen alten Antisemitismus, der auf den christlichen Antijudaismus des Mittelalters zurückgeht, der im Nationalsozialismus sein Extrem fand. Aber wir erleben auch
sekundären Antisemitismus. Interessant ist, dass in dem
erwähnten Bericht auch die Rede von diesem sekundären Antisemitismus ist. Abgefragt wurde zum Beispiel
die Zustimmung zu dem Satz: „Viele Juden versuchen,
aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren
Vorteil zu ziehen.“ Diesem Satz haben 39,5 Prozent der
Befragten zugestimmt. Das muss man sich einmal vorstellen. Ich finde das beschämend.
({1})
Wir erleben auch islamistischen Antisemitismus und
solchen von links; auch das ist hier schon gesagt worden.
Gerade deshalb will ich auch einmal den vielen Initiativen im interreligiösen Dialog ein Dankeschön sagen, die
sich gerade darum bemühen, dass die drei Weltreligionen ihre friedvollen Gemeinsamkeiten finden und daran
auch festhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns sicher
alle einig, dass wir aufgrund unserer Geschichte immer
besonders sensibel mit Antijudaismus und Antisemitismus umgehen müssen. Aber heute müssen wir auch konkret über die Konsequenzen aus dem Antisemitismusbericht sprechen. Es ist schon darauf hingewiesen worden:
Darin gibt es sehr konkrete Empfehlungen. Ich will nur
zu zwei Bereichen etwas sagen, nämlich zur Bildungsarbeit und zu dem Programm gegen Rechtsextremismus.
Zur Bildungsarbeit. Wir haben auch in Deutschland
- Herr Kollege Uhl hat beeindruckend Yad Vashem beschrieben - sehr beeindruckende Gedenkstätten an den
historischen Orten. Ich kann nur immer wieder sagen:
Auch hier lohnt sich ein Besuch. Diese Gedenkstätten
erfüllen mit ihrer pädagogischen Arbeit und ihrer Bildungs- und Präventionsarbeit eine wichtige Aufgabe.
Hier in Berlin gibt es das Anne-Frank-Zentrum. Auch
bundesweit gibt es viele Initiativen, zum Beispiel
„Schule ohne Rassismus“, das Netzwerk für Demokratie
und Courage und sehr viele andere. Diesen Initiativen,
von denen auch Vertreter heute hier sind, will ich
danken. Sie alle sind sehr wichtig; sie müssen weiter unterstützt werden. Auch die Gedenkstätten an den historischen Orten hier in Deutschland müssen wir unterstützen.
Unsere Erinnerungskultur verändert sich schon seit
einigen Jahren; auch das hatte Kollege Ruppert angesprochen. Ich will aus eigener Erfahrung sagen, dass es
wichtig ist, dass die jungen Menschen von heute, die
sich mit der Geschichte beschäftigen, ihre eigenen Fragen stellen können. Viele von ihnen können Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht mehr erleben. Unsere Generation haben diese Zeitzeugen so nachdrücklich geprägt
wie kaum andere Menschen.
Die Jugendlichen von heute stellen das Lernen aus
der Geschichte in ihre eigenen lebensweltlichen Zusammenhänge, und das ist auch gut so. Insofern bekommen
die Gedenkstättenarbeit und das Lernen aus der Geschichte eine immer mehr universal menschenrechtliche
Dimension, wie das in den USA übrigens schon länger
der Fall ist.
Wenn Jugendliche einen solchen historischen Ort
oder hier in Berlin das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas besuchen, dann bedeutet das für sie immer
auch eine Auseinandersetzung damit, was Toleranz
heute bedeutet, wie mit Menschen verschiedener Herkunft, Religion oder Hautfarbe umgegangen wird, und
das ist gut. Denn die Auseinandersetzung mit Antisemitismus im Jahr 2013 ist immer auch eine Auseinandersetzung mit moralischen Standards und der Frage, wie
wir unser Zusammenleben gestalten.
({2})
Eine ganz wichtige, eindeutige Konsequenz aus dem
Antisemitismusbericht ist: Erfolgreiche Projekte und Initiativen gegen Rechtsextremismus müssen längerfristig
gefördert werden. Auch ich habe hier eine gewisse Ungeduld, weil ich mich inzwischen seit vielen Jahren damit beschäftige und mich ärgere, dass wir das noch immer nicht hinbekommen.
Es gibt viele gute Programme und viele engagierte
Menschen. Wir verärgern sie ganz besonders mit der Extremismusklausel, mit der wir sie unter Generalverdacht
stellen. Das ist vollkommen überflüssig und behindert
die Arbeit.
({3})
In der Empfehlung des Antisemitismusberichts heißt
es so schön: „vom Modell zur Regelpraxis“. Das heißt,
wir müssen endlich einen Weg finden, dass wir nicht immer nur dreijährige Modellprojekte fördern, die dann,
wenn sie angelaufen sind und hervorragende Arbeit leisten, wieder beendet werden, sondern dass wir gute Organisationen und deren Arbeit auch längerfristig fördern.
Ich scheue mich auch nicht davor, sie institutionell zu
fördern.
Ganz konkret heißt das für den Haushalt 2014 aber
auch - ich spreche hier die zuständige Ministerin an -,
dass für viele Projekte noch nicht geklärt ist, wie es weitergeht. In etwa drei Vierteln der Projekte gibt es keine
Verpflichtungsermächtigungen. Bei etwa drei Vierteln
der Projekte weiß man nicht, wie es ab Frühjahr 2014
weitergeht, und es wäre schädlich, diese Arbeit zu beenden. Wir brauchen dort mehr Kontinuität.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will mit einem
beeindruckenden Zitat von Anne Frank enden, nachdem
ich auch schon mit ihr begonnen habe, nämlich einem
Tagebucheintrag vom 15. Juli 1944. Dort schreibt die
gerade 15-Jährige:
Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen
aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz
allem, weil ich noch immer an das Gute im Menschen glaube.
Das hat mich sehr bewegt und beeindruckt, und in
diesem Sinne wünsche ich mir, dass wir in der nächsten
Legislaturperiode alle gemeinsam alles dafür tun, die
Menschen, die Ideen, die Projekte, die Arbeit gegen
Rechtsextremismus und Antisemitismus voll und ganz
zu unterstützen, und uns selbst im Bundestag und in der
Politik auf die Fahnen schreiben, dass wir Antisemitismus in unserem Land nicht dulden und entschieden bekämpfen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Patrick Kurth für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bei den allermeisten Themen gibt es im demokratischen Meinungskampf mehrere akzeptable Ansichten.
Allein heute streiten wir im Deutschen Bundestag zum
Beispiel über das Auslandsschulgesetz und die PkwMaut. Wir reden über die Tourismuspolitik. Ich erinnere
an die lebhafte Debatte von heute früh, als wir über das
Vertriebenengesetz gesprochen haben.
Bei einigen wenigen Themen jedoch darf es unter Demokraten keine zwei Meinungen geben; das ist und
bleibt ein gesamtgesellschaftlicher Grundkonsens. Dazu
gehört das Thema Antisemitismus. Gerade Deutschland
verbindet mit diesem Ungeist eine schuldbeladene Vergangenheit, die nur ein Urteil zulässt: die entschiedene
Ablehnung jeder Form des Antisemitismus. Dies muss
zur politischen DNA unseres Landes, zur politischen
DNA dieses Parlamentes und zur politischen DNA aller
Parteien gehören.
({0})
Dass der vorliegende Antrag bei allen politischen Differenzen gemeinsam von der Union, der FDP, den Grünen
und der SPD eingebracht worden ist, belegt dies. Auf
den Zusammenhalt in dieser Frage können, müssen und
dürfen wir auch ein Stück weit stolz sein.
In dieser Debatte wurde viel Richtiges gesagt. Ich
möchte kurz auf uns eingehen. Liebe Kollegen, ich verstand die Unruhe nicht, als Herr Ruppert mit Samthandschuhen darauf aufmerksam machte, dass es in dieser
Legislatur einige Ereignisse gab, bei denen sich durchaus Fragen stellten. Diese Fragen, liebe Frau Pau, stelle
ich nicht Ihnen. Wir arbeiten lange genug zusammen.
Ich weiß, dass Sie eine klare Auffassung haben. Ihre
Fraktion aber hat sich in dieser Legislatur, auch hier im
Plenum, hin und wieder auf eine Art und Weise eingelassen, die diese Klarheit, von der ich am Anfang sprach,
nicht immer belegte.
({1})
Ich will hierzu die deutliche Frage stellen: Warum haben Sie, warum hat sich Ihre Fraktion oder Ihre Fraktionsführung nicht sehr entschieden dagegen verwahrt,
dass am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, am
27. Januar 2010, als Schimon Peres hier im Deutschen
Bundestag sprach, einige hochrangige Linke - darunter
Sahra Wagenknecht - sitzen blieben? Warum haben Sie
sie nicht öffentlich in die Schranken gewiesen?
({2})
Kollege Uhl zeigte 2010 hier im Deutschen Bundestag ein Flugblatt Ihres Duisburger Kreisverbandes, auf
dem ein Davidstern verschlungen mit einem Hakenkreuz
dargestellt war. Warum haben Sie das nicht mit aller
Deutlichkeit zurückgewiesen? Warum haben Sie, als im
Jahr 2010 Abgeordnete der Linksfraktion, türkische Aktivisten und radikal-islamische Gruppierungen mit einer
Flottille nach Gaza fuhren, in der damals diesbezüglich
stattfindenden Aktuellen Stunde nicht ganz deutlich und
klar Position bezogen? Wenn es die von mir angesprochene politische DNA in unserem Lande bzw. in unserem Hause gibt, dann gehört dazu auch, dass man in dieser Frage Klarheit herstellt.
Im Juni 2011 wurde in Ihrer Fraktion ein Beschluss
gegen Antisemitismus - einstimmig, wie es hieß - herbeigeführt. Hinterher kam heraus, dass 76 linke Parlamentarier dafür waren. Der Rest nahm nicht teil oder
verließ die Sitzung.
({3})
Patrick Kurth ({4})
- Ich habe mich verlesen. Sie kennen die Zahlen und den
Vorgang. Das ist auch kein vertrauenerweckendes Beispiel.
Liebe Kollegen, man darf gespannt sein, wie Sie auf
den heute vorliegenden Antrag reagieren. Sie haben ja
angedeutet, wie Sie sich verhalten werden. Ich kann Sie
jetzt nur noch einmal einladen: Stellen Sie es klar, machen Sie es deutlich und stimmen Sie diesem Antrag zu.
Das wäre ein klarer Beleg am Ende der Legislatur.
Ich möchte ganz am Ende noch auf eines aufmerksam
machen: Neben dem Alltagsantisemitismus gibt es noch
etwas sehr Schwieriges, den Alltagsrassismus. Gerade
wir von der FDP haben in den letzten Wochen - auch in
den sozialen Medien - eine ungeheure Flut an Unterstellungen und Knietritten gegen unseren Bundesvorsitzenden erlebt. Man kann nicht glauben, dass das im
21. Jahrhundert in einer aufgeklärten Gesellschaft geschieht. Ich fordere Sie auf - Sie persönlich haben daran
keinen Anteil, aber Sie tragen ein Stück weit Verantwortung für Ihre Anhänger -, in Ihren Reihen für Klarheit zu
sorgen. Dieses Verhalten muss aufhören.
Wir befinden uns hier in einem aufgeklärten Hause.
Diese rassistischen Äußerungen, die einem Tritt gegen
das Knie gleichen, gehen auf keinen Fall. Ich bitte Sie,
hier aktiv zu werden.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat Franz Josef Jung für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Antisemitismus wird nach herkömmlicher Definition als nationalistische, sozialdarwinistische oder rassistische Judenfeindlichkeit verstanden. Antisemitismus
ist nicht nur ein Thema für die jüdischen Gemeinden.
Vielmehr berührt es unser gesamtgesellschaftliches Zusammenleben. Es berührt unsere Grundwerte von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Deshalb ist Antisemitismus, in welcher Form auch immer, von uns mit
aller Entschiedenheit zu bekämpfen.
({0})
Das ist die Aufgabe von Politik, von Bund, Ländern
und Gemeinden, aber das ist auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gerade vor dem Hintergrund der
millionenfachen Ermordung der Juden ist das für uns
eine besondere Verpflichtung. Der Kollege Uhl hat auf
die Gedenkstätte Yad Vashem hingewiesen. Wer durch
den Raum für die ermordeten Kinder geht, der kann
diese Stätte nicht ohne innere Bewegung verlassen.
Es ist wichtig, dass wir uns dieses Themas annehmen,
zumal der Expertenkreis festgestellt hat - darauf wurde
hingewiesen -, dass immerhin ein Anteil von etwa
20 Prozent der Deutschen offen oder latent antisemitisch
ist. Man kann das im Hinblick auf die historische Situation nicht nachvollziehen. Aber deshalb ist es umso
wichtiger, dass wir dieser Haltung entschieden entgegentreten.
In dem Bericht des Expertenkreises wird festgehalten,
dass das rechtsextremistische Lager nach wie vor der bedeutendste Träger des Antisemitismus ist. In dem Bericht wird aber auch darauf hingewiesen, dass der Islamismus als neuer Träger hinzugekommen ist. Es wird
weiterhin festgehalten, dass es auch unter den Linken
Positionen gibt, die einen antisemitischen Diskurs befördern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Bitte sehr.
Lieber Herr Kollege Jung, es käme niemand hier in
diesem Haus auf den Gedanken, sich aus dem Konsens
auszuklinken, dass wir alle den Antisemitismus mit ganzer Kraft bekämpfen wollen. Die Schwierigkeit, mit der
wir uns auseinanderzusetzen haben - ich finde, dies sollten wir hier nicht unter den Tisch fallen lassen -, besteht
darin, dass die an sich klare Definition von Antisemitismus im Alltag nicht immer greift.
Vor einigen Tagen ist eine sehr saubere linguistische
Analyse „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ von der Technischen Universität Berlin vorgestellt worden, wo über 15 000 Blog-Einträge, journalistische Einträge und Kommentare auf die Frage hin
analysiert worden sind: Wo gibt es Stereotype, die in den
Grenzbereich zum Antisemitismus hineinreichen? Wo
handelt es sich ganz offensichtlich um Antisemitismus?
Dass wir uns mit dieser Grenzziehung schwertun, das
zeigen doch die Debatten um Martin Walser, Günter
Grass und auch Jakob Augstein, alles gut Gebildete und
Intellektuelle unserer Gesellschaft, sogar Meinungsführer.
Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch diesen offensichtlich schwierigen Herausforderungen, dieser Facette des Antisemitismus, die davon geprägt ist, dass die
Definition von Antisemitismus bzw. eine Grenzziehung
so klar nicht vorzunehmen ist und dass Antisemitismus
nicht nur den Ungebildeten zugewiesen werden kann
oder denen, die noch nicht in Yad Vashem waren, sondern dass er offensichtlich sogar, wie diese Studie belegt,
bei Akademikern und Gebildeten ganz besonders ausgeprägt ist, mit aller Hingabe zuwenden.
({0})
Besten Dank, Frau Kollegin Beck. - Ich kann das nur
unterstreichen und weise noch einmal darauf hin, dass
ich meine Rede mit der Definition von Antisemitismus
begonnen habe und genau das mit impliziert habe, was
jetzt Ihre Überlegungen darstellen. Wenn ich mir den
Bericht im Einzelnen anschaue, dann denke ich, das
kommt darin auch ziemlich deutlich zum Ausdruck. Es
wird auch deutlich gemacht, dass wir aus der historischen Verantwortung die Solidarität mit Israel zu Recht
als einen integrierten Bestandteil unserer Staatsräson ansehen und dass jemand - so steht es in dem Bericht -,
der an Demonstrationen teilnimmt, bei denen Israel-Fahnen verbrannt oder antisemitische Parolen gerufen werden, kein Partner im Kampf gegen den Antisemitismus
ist.
({0})
Es steht auch in dem Bericht - das trifft auf Abgeordnete
dieses Hauses zu -, dass die Solidarisierung mit terroristischen und antisemitischen Gruppen wie der Hamas
oder der Hisbollah nicht zählt, wenn es um den Kampf
gegen Antisemitismus geht.
({1})
Meine Damen und Herren, der Parlamentarische
Staatssekretär Bergner hat auf die Leistungen der Bundesregierung hingewiesen, um eine Verbesserung zu erzielen. Ich will noch die Verdoppelung der finanziellen
Mittel auf 10 Millionen Euro für den Zentralrat der Juden, die Erhöhung der Mittel für die Bundeszentrale für
politische Bildung und das Programm zur Bekämpfung
des Rechtsextremismus erwähnen.
Ich denke - darüber sind wir uns in dem Antrag einig -,
dass wir weiterhin einen Sachverständigenbericht brauchen, der die Programme entsprechend evaluiert, um im
Kampf gegen den Antisemitismus noch weiter erfolgreich zu sein. Hinzu kommt die Aufklärung an den Schulen und an außerschulischen Bildungseinrichtungen.
Dazu zählt auch, die Lehrpläne zum Thema jüdisches
Leben zu erweitern, und dazu zählt auch - es ist auf die
aktuelle Debatte hingewiesen worden - die Sensibilisierung von Polizei, Strafverfolgungsbehörden und Nachrichtendiensten in diesem Bereich. So steht es in unserem Antrag.
Jüdisches Leben hat in Deutschland zum Glück wieder einen hervorragenden Aufschwung genommen. Es
ist überall festzustellen, dass dies in sehr positiver Art
und Weise stattfindet. Man kann eigentlich nur dankbar
sein, dass dies nach dem Grauen der Shoah in Deutschland wieder möglich ist. Aber deshalb ist es auch unsere
Verpflichtung - ich bin all denjenigen in den Fraktionen,
die diesen Antrag mittragen, dankbar -, dass wir gemeinsam zusammenstehen, wenn es darum geht, Antisemitismus entschieden entgegenzutreten und alles dafür
zu tun, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
auch in Zukunft als Grundwerte in unserer parlamentarischen Demokratie von entscheidender Bedeutung bleiben.
Besten Dank.
({2})
Letzte Rednerin zu diesem Debattenpunkt ist Kollegin Gitta Connemann für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Ich habe
ja nichts gegen Juden, nur: Wieso sind Juden immer so
böse?“ Das ist keine Frage, die in einem NPD-Forum gestellt würde; nein, diese Frage steht seit zwei Jahren auf
dem Onlineportal gutefrage. Für eine Löschung sahen
die Betreiber keinen Anlass. Na ja, was ist schon so
schlimm daran? Das hat doch eine ganz andere Qualität
als ein aktueller Kommentar auf YouTube: „Ihr tut unserer Ehre weh, unsere Antwort Zyklon B.“ Zwei Wochen
alt ist dieser Kommentar.
Die Antwort lautet: Antisemitismus hat viele Facetten. Gerade der relativierende Halbsatz „Ich habe ja
nichts gegen Juden, aber …“ sollte die Alarmglocken
läuten lassen. Ich denke, dass jeder von uns diesen Satz
schon einmal gehört hat. Antisemitismus ist kein
Randphänomen. 20 Prozent der Menschen in unserem
Land sind offen oder latent antisemitisch. Sie sind der
Ansicht: „Die Juden sind doch selber schuld.“
Frau Professor Schwarz-Friesel wies in dem schon
von der Kollegin Beck angesprochenen Vortrag am vergangenen Montag unter anderem auf die ebenfalls aktuelle Einlassung eines Berliner Journalisten hin: Warum
werden die Juden seit Jahrhunderten immer wieder verfolgt? Das müssen sie sich schon selber fragen.
In diesem Vortrag hat sie übrigens mit einem Vorurteil
aufgeräumt: Es ist nicht so, dass alle Antisemiten in
Zwickau sitzen, Springerstiefel tragen, sich im Internet
verstecken und eklig sind. Antisemitismus gibt es nicht
nur bei islamischen Migrantenkindern, die vom arabischen Fernsehen getrieben werden. Nein, Antisemiten
sind in der Mitte unserer Gesellschaft anzutreffen, übrigens auch in humanistischen Kreisen, in Presseklubs, bei
Friedensdemonstrationen. Antisemitismus ist salonfähig
geworden, und das macht uns in unserer Fraktion Angst.
({0})
Denn jetzt kommt der Antisemitismus gepflegt und intellektuell daher. Unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit und der legitimen Kritik an Israel werden antisemitische Verunglimpfungen artikuliert, oder es heißt:
Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. - Der Kollege
Beck hat darauf hingewiesen. Aktuelles Beispiel: Jakob
Augstein. Er bedient sich regelmäßig antisemitischer
Denkmuster. Er schwadroniert von der Allmacht Israels.
Streiche „Israel“, setze ein „Juden“. - Die Stereotype ändern sich nicht. Worte sind Waffen.
Die Folgen ändern sich übrigens auch nicht. Der Kollege Uhl hat auf den Angriff auf einen Rabbiner in der
vergangenen Woche in Offenbach hingewiesen. Das Per31346
fide: Die privaten Sicherheitsleute halfen dem Rabbiner
nicht, sondern ergriffen Partei für die Angreifer.
„Du Jude“ ist ein Schimpfwort an deutschen Schulen.
Oder wagen Sie doch noch einmal den Blick auf YouTube. Ich habe es getan, und es war widerwärtig. Ein
Beispiel gefällig?
Der Rabbi, dieses alte Schwein, der kommt dann in
den Ofen rein … Fiderallala
Dieser Kommentar ist eine Woche alt.
Es widert mich unglaublich an, und es macht mir
Angst. Ich frage mich: Wie sollen Jüdinnen und Juden in
einem solchen Umfeld hier bei uns leben? Wollen wir
uns damit abfinden, dass alle jüdischen Einrichtungen in
Deutschland unter Polizeischutz stehen? Wo bleibt der
Aufschrei der Öffentlichkeit und der Medien? Ich frage
mich auch immer wieder: Weshalb? Offensichtlich gibt
es ein kollektives Gedächtnis. Antisemitismus gibt es
seit Anbeginn der Zeit. Seine Denkmuster haben sich offensichtlich tief eingebrannt und wirken bis heute.
Was können wir tun? Wir haben in dieser Legislaturperiode erstmals verlässliche Daten und Fakten über Antisemitismus in Deutschland erhalten, dank des Antisemitismusberichtes, den das Bundesinnenministerium auf
unsere gemeinsame Initiative hin in Auftrag gegeben
hat. Denn nur ein Problem, dessen Ausmaß und Ursache
wir kennen, können wir angehen.
Und weiter? Vieles ist genannt worden, und vieles ist
noch zu tun. Dies wurde auch bei der Erarbeitung dieses
Antrages deutlich, bei der wir übrigens stark flankiert
wurden vom Zentralrat der Juden. Stephan Kramer, insoweit vielen Dank. Mein Dank gilt auch dem AJC, insbesondere an Deidre Berger.
({1})
Es wird unabhängige Sachverständige geben, damit
antisemitische Tendenzen frühzeitig erkannt und damit
rechtzeitig begegnet werden kann. Es braucht Aufklärung, übrigens auch bei Behörden der Länder und des
Bundes.
Und es braucht Bildung, Bildung, Bildung.
({2})
Das betrifft nicht allein den Geschichtsunterricht. Es
muss über die Toten geredet werden, aber gerade auch
über die Lebenden. Schülerinnen und Schüler müssen
ein Gefühl dafür bekommen, wie bunt und vielfältig jüdisches Leben in Deutschland heute wieder ist - ein Umstand, über den ich zutiefst froh bin -, aber auch dafür,
wie bedrückend es sein kann, ein Jude in Deutschland zu
sein. Wir brauchen die pädagogische Auseinandersetzung, übrigens bereits bei der Erziehung und Ausbildung
von Erziehern und Lehrern selbst, damit sie ihre Stereotype nicht entsprechend übertragen.
Eines ist klar: Es gibt weder die Juden noch den prototypischen Ausländer, sondern es gibt nur Menschen,
die entweder schlau oder dumm sind, gut oder böse, geschickt oder ungeschickt, und das sollten wir wissen.
Frau Connemann, Sie müssen zum Schluss kommen.
In dieser Woche ist das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus fünf Jahre alt geworden. Der Mitinitiator Levi Salomon hatte einen einzigen
Wunsch: dass unsere Arbeit irgendwann nicht mehr notwendig sein wird. Ich hoffe, dass dieser Antrag einen
Beitrag dazu leistet.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/13885 mit dem Titel
„Antisemitismus entschlossen bekämpfen, jüdisches Leben in Deutschland weiterhin nachhaltig fördern“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
10 Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Rolf
Mützenich, Dr. Hans-Peter Bartels, Rainer
Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Haltung der Bundesregierung zum Erwerb
und Einsatz von Kampfdrohnen
- Drucksachen 17/11102, 17/13655 ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Missbilligung der Amtsführung von Bundesminister de Maizière
- Drucksache 17/13899 Zu der Beratung der Antwort auf die Große Anfrage
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
Hans-Peter Bartels für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister de Maizière, Sie haben gesagt, Sie verbäten sich, dass man Ihnen vorwirft, dass Sie die Unwahrheit sagen.
({0})
Ich trage Ihnen jetzt noch einmal Ihre unterschiedlichen
Versionen der Wahrheit vor:
Sie haben in Ihrer persönlichen Erklärung am 5. Juni
behauptet, vor dem 13. Mai niemals etwas Schriftliches
zu der Euro-Hawk-Problematik vorgelegt bekommen zu
haben.
({1})
Ich zitiere:
Es gab zuvor keine Vorlage an den Minister mit einer Beschreibung der Zulassungsprobleme oder
überhaupt zum Gesamtproblem.
Keine Vorlage!
In der Ausschusssitzung vom 5. Juni haben Sie diesen
Eindruck der völligen Ahnungslosigkeit noch verstärkt,
als Sie drei Varianten einer korrekten Ministerinformation unterschieden: erstens eine an den Minister ausgezeichnete Vorlage, zweitens den Vortrag eines Staatssekretärs und drittens die Erörterung in der Leitungsrunde.
Zum Thema „Euro Hawk“, so sagen Sie dann ausdrücklich, seien - abgesehen von der allgemeinen Rüstungsklausur am 1. März 2012 und einer G-10-Vorlage - alle
drei Varianten nicht zum Tragen gekommen. Warum behaupten Sie das so? Glaubten Sie, als Sie es sagten, dass
das die Wahrheit ist: „keine Information“?
Am nächsten Tag erfahren wir dann von Ihrem Gespräch beim Donaukurier am 7. Mai, also vor dem
13. Mai. Am 7. Mai wussten Sie schon, so werden Sie
zitiert, dass der Euro Hawk nicht für die Bundeswehr
fliegen wird. Zitat: „Im Moment sieht es nicht so aus.“
Wenn Sie nichts Genaueres wussten, woher wussten Sie
dann das Ergebnis schon, sodass Sie sich gegenüber der
Presse äußern konnten? Machen Sie das immer ohne Informationen?
({2})
In derselben Nacht schiebt Ihr Ministerium eine Erklärung nach. Da heißt es, Ihre Aussage beruhe auf Hintergrundinformationen, die Sie in der allgemeinen Besprechung am 1. März 2012 sowie auch später erhalten
hatten. „Sowie auch später“! Erwähnt wird in der Presseerklärung ein Schreiben von Staatssekretär Kossendey
an mich vom 20. März 2013. Erwähnt wird nicht, ob Sie
es gelesen hatten. Sie hatten sich ja festgelegt: „keine
Vorlage“. Aber Briefe, die dem Minister vorgelegt werden, sind Vorlagen, oder?
({3})
Am Wochenende lesen wir von „Flurgesprächen“ im
Ministerium, die es dann doch gegeben haben könnte.
Aber Hörensagen bedeutet Ihnen nichts. Sie sagen: „Der
geordnete Geschäftsbetrieb eines jeden Ministeriums
findet bestimmt nicht auf dem Flur statt.“ - Das ist wahr.
Aber was wollen Sie damit sagen? Dass es keine Vorlage
gab, oder? Keine Vorlage!
Am Montag geben Sie schließlich zu: Doch, für den
Besuch beim Euro-Hawk-Partner EADS in Manching
am 10. Dezember 2012 gab es natürlich eine Vorlage für
den Minister, schriftlich, auf dem Dienstweg.
Und natürlich hatten Sie den Brief von Staatssekretär
Kossendey gelesen. Zur Frage nach dem Donaukurier
verwiesen Sie in der Bundespressekonferenz am Montag
ausdrücklich auf diesen Brief, der Ihnen vorgelegt worden ist: schriftlich, auf dem Dienstweg, nicht auf dem
Flur. Und wie ich das Ministerium kenne, werden Ihnen
sogar auch täglich sogenannte Pressespiegel vorgelegt.
Am 21. März hieß es bei tagesschau.de: „Keine neuen
Drohnen für die Bundeswehr“. Die Frankfurter Rundschau schrieb am 23. März: „Euro Hawk vor dem Absturz“. Und der Kommentar in der Berliner Zeitung lautete: „Dilettantismus mit Drohne“.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner?
Nein, ich möchte fortfahren.
({0})
Natürlich haben Sie das mitbekommen. Deswegen
wussten Sie ja auch schon bei Ihrem Besuch beim Donaukurier, was Sache ist. Natürlich gibt es auch weitere Vorlagen - schriftlich, dienstlich - aus dem Jahr 2012. Ich
frage mich, und ich glaube, die ganze deutsche Öffentlichkeit tut das: Warum um Himmels willen wollen Sie
von dem sich anbahnenden Drohnendesaster nichts gewusst haben? Was wäre denn so schlimm, wenn Sie auch
ein Stück Verantwortung gehabt hätten? Warum müssen
Sie alle Verantwortung auf Ihre Mitarbeiter schieben?
({1})
Was ist gut daran, sich als ahnungsloser Minister zu inszenieren? Das ist keine gute Rolle, die Sie spielen, Herr
Minister.
({2})
Ihre Glaubwürdigkeit ist völlig ruiniert. Was ist Ihr Wort
wert? Sie können Ihr Amt nicht mehr frei wahrnehmen.
({3})
Sie müssen sich vor Indiskretionen von Mitarbeitern aus
Ihrem Ministerium fürchten,
({4})
denen Sie ganz pauschal mit personellen Konsequenzen
gedroht haben.
({5})
Ich hoffe, Sie wissen, was Sie Ihrem Amt, Ihrem Ruf
und den Streitkräften unseres Landes schuldig sind. Sie wissen es.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Bundesminister Thomas de
Maizière.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Bartels, es ist interessant, dass Sie jetzt
hauptsächlich zu dem Zusatzpunkt, dem Antrag der Linken, gesprochen haben. Das finde ich für Sozialdemokraten ungewöhnlich.
({0})
Davon abgesehen, haben Sie als Sozialdemokraten
die Entscheidung getroffen, einen Untersuchungsausschuss zu beantragen. Das ist Ihr gutes Recht. Ich sehe
dem gelassen entgegen.
({1})
Das führt natürlich dazu, dass ich die Antworten auf alle
Fragen, die Sie hier stellen, in meiner Zeugenaussage im
Untersuchungsausschuss sorgfältig und gründlich vortragen werde. In der Zwischenzeit werde ich natürlich
meine Amtspflichten erfüllen und Ihnen nicht auf den
Leim gehen.
({2})
Deswegen erlauben Sie mir, dass ich auf die Antwort
der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD
zum Thema Drohnen eingehe. Das haben Sie auf die Tagesordnung gesetzt. Deswegen will ich es Ihnen gerne
erläutern.
In ihrer Antwort hat die Bundesregierung festgehalten, dass wir eine breite gesellschaftliche Debatte über
den Einsatz von Drohnen für notwendig halten. Wir führen sie auch. Wie Sie wissen, habe ich sie selbst vor einem Jahr eröffnet.
({3})
In der Antwort auf die Große Anfrage stellt die Bundesregierung fest:
Eine abschließende Entscheidung zur Beschaffung
bewaffneter UAS ist von der Bundesregierung noch
nicht getroffen worden.
Eine Debatte darüber gehört natürlich ins Parlament. Ich
habe im Januar in einer Aktuellen Stunde sieben Gründe
formuliert, die aus meiner Sicht für die Beschaffung von
Drohnen, auch bewaffnungsfähigen Drohnen, sprechen.
Ich will sie heute nicht alle wiederholen.
Derzeit prägt natürlich - das haben Sie durch eine
Personalisierung gemacht; das ist okay - die Diskussion
über die Entscheidung zur Nichtanschaffung der EuroHawk-Serie den Hintergrund für unsere Beratungen. Für
alle, die nicht im Verteidigungsausschuss sind und mit
den Dingen nicht so vertraut sind, will ich gerne noch
einmal festhalten: Der Typ Euro Hawk fliegt sehr hoch.
Er ist unbewaffnet und dient der Aufklärung. Das, was
Gegenstand der Großen Anfrage ist, sind Drohnen, die in
mittlerer Höhe fliegen, die ebenfalls aufklären und bewaffnungsfähig sein können. Dann gibt es Drohnen, die
in niedriger Höhe fliegen. Diese hat die Bundeswehr seit
Jahrzehnten, völlig unstreitig. Im Übrigen haben auch
unsere Verbündeten Drohnen: auch alle drei Typen.
Frankreich zum Beispiel hat gerade eine Serie von Drohnen vom Typ Predator in den USA bestellt.
Sie sehen: An diesem Thema kommt niemand vorbei.
Wir brauchen diese Debatte.
Am Anfang jeder militärischen Beschaffung steht ein
ermittelter und belegter Bedarf. Das ist ein wesentliches
Prinzip auch unseres neuen Beschaffungsprozesses. Wir
kaufen, was wir brauchen, und nicht, was uns angeboten
wird. Der militärische Bedarf ist auch im Falle bewaffneter unbemannter Luftfahrzeuge mittlerer Höhe vom
Generalinspekteur klar formuliert. Wir brauchen die damit verbundenen Fähigkeiten zum Schutz unserer Soldaten und zum Schutz unserer Verbündeten.
Es geht zunächst um fünf bewaffnungsfähige unbemannte Systeme ab etwa 2016. Sie sollen eine Überbrückungslösung sein bis zur Beschaffung eines neuen,
möglichst europäischen Systems ab Mitte des nächsten
Jahrzehnts. So habe ich Sie, Herrn Arnold, und andere
immer verstanden: Über das Erfordernis der Entwicklung einer europäischen Drohne bestand mit den Sozialdemokraten bisher immer Einigkeit.
({4})
Ich hoffe, das gilt auch weiterhin.
Derzeit werden verschiedene auf dem Markt verfügbare und einsatzerprobte Systeme untersucht. Eine abschließende Entscheidung ist noch nicht getroffen worden. Aber wer eine Debatte will, der braucht eine
Diskussionsgrundlage. Eine Auswahlentscheidung kann
Ende des Jahres gefällt werden, sodass sie dem neu gewählten Bundestag zur Bewilligung vorgelegt werden
kann. Die Erfahrungen im Hinblick auf die Probleme bei
der Zulassung des Euro Hawk fließen natürlich in die
Prüfung der Optionen ein. Es gibt dabei einen wesentliBundesminister Dr. Thomas de Maizière
chen Unterschied zwischen dem Entwicklungsvorhaben
Euro Hawk und den aktuell für die Beschaffung zu prüfenden Optionen. Die jetzt zu prüfenden Systeme, etwa
aus Amerika oder aus Israel, werden heute bereits von
mehreren alliierten Partnern im Einsatz geflogen, nicht
zuletzt auch zum Schutz deutscher Soldaten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich etwas zu dem Hauptpunkt unserer Debatte rund um das
Thema Drohnen sagen: zur Bewaffnung. Auf die damit
verbundenen ethischen, rechtlichen, politischen Fragen
müssen wir als Gesellschaft, als Regierung, als Parlament eine Antwort finden wie auf jede einzelne Anfrage
zum Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte auch.
({5})
Es macht natürlich einen Unterschied, ob ein Luftfahrzeug bewaffnet ist oder nicht. Ob es hingegen bemannt
oder unbemannt ist, kann militärisch einen großen Unterschied machen. Das ist zur Beurteilung der Rechtsfragen jedoch nicht entscheidend. Denn das Luftfahrzeug
selbst steht nicht im Mittelpunkt der rechtlichen, der
politischen oder der ethischen Prüfung, sondern im Mittelpunkt steht stets derjenige, der es steuert, stehen diejenigen, die ihm dazu den Befehl geben, und die Grenzen,
in denen dies geschieht.
({6})
Wir müssen darüber diskutieren, in welchen Fällen, unter welchen Bedingungen, mit welchem Auftrag und mit
welchen Einschränkungen wir den Einsatz militärischer
Gewalt für richtig halten oder ablehnen.
({7})
Das gilt dann auch für Einsätze von bewaffneten Drohnen.
({8})
Unser Kollege Steinbrück hat nun kürzlich festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland keine bewaffneten Drohnen braucht.
({9})
Herr Kollege Oppermann, ich habe das einmal in Ihrem
Wahlprogramm nachgelesen. Da finde ich diesen Satz
nicht. In Ihrem Wahlprogramm heißt es:
({10})
Eine überstürzte Entscheidung zur Beschaffung von
Kampfdrohnen lehnen wir ab.
({11})
Wir fordern, dass vorher alle sicherheitspolitischen,
völkerrechtlichen und ethischen Fragen umfassend
beantwortet werden.
({12})
Deswegen stehen wir hier und diskutieren darüber. Aber
wir nehmen das Ergebnis nicht vorweg, wie Herr
Steinbrück es getan hat.
({13})
Meine Damen und Herren, eine namhafte überregionale Zeitung kommentierte die Rede von Herrn
Steinbrück übrigens dahin gehend - an anderen Teilen
der Rede gibt es nicht viel zu kritisieren -, dass jeder
Leutnant, der schon einmal eine Patrouille in unsicheres
Gebiet führen musste, erklären könne, warum es doch
gut wäre, wenn die Bundeswehr über bewaffnete Drohnen verfügte.
({14})
Dazu genügt ein Blick in unsere Einsatzrealität. Mit
unseren unbewaffneten Drohnen vom Typ Heron 1 kann
eine Besatzung von Masar-i-Scharif aus einen Patrouillenführer bei Kunduz unterstützen, der in einen Hinterhalt Aufständischer geraten ist. Sie kann ihm über Funk
mitteilen, wo sich die Angreifer befinden. Sie kann ihn
warnen, wenn sich weitere Aufständische nähern, und
ihm mitteilen, von wo sie angreifen. Kurz: Die Besatzung kann aus großer Höhe den Überblick behalten und
die eigenen Kräfte am Boden mit Aufklärung in Echtzeit
unterstützen. Aktiv ins Geschehen eingreifen kann das
Heron-Bedienpersonal hingegen nicht, denn der Heron 1
ist unbewaffnet. Er kann bei andauernden Angriffen
nicht das Leben deutscher Soldaten schützen und retten,
indem er die Angreifer mit einem Warnschuss abschreckt oder in letzter Konsequenz auch gezielt bekämpft. Es kann nicht sein, dass wir Soldaten in Einsätze
schicken
({15})
und dann nicht willens sind, ein System einzuführen, das
unsere Soldaten bei der Erfüllung ihres Auftrages unterstützt, schützt und ihr Leben retten kann.
({16})
Derzeit sind unsere Soldaten in einer solchen Situation auf die Luftnahunterstützung durch bemannte
Kampfflugzeuge oder bewaffnete unbemannte Luftfahrzeuge unserer Partner angewiesen; Sie alle kennen das:
Close Air Support. Allerdings ist dies in der Regel mit
einem deutlichen Zeitverzug verbunden, der entscheidend sein kann, und wir sind bisher zumeist auf Verbündete angewiesen. Der Einsatz von Drohnen mittlerer
Höhe ist aufgrund ihrer Verweildauer und Präzisionsfähigkeit oftmals die einzig erfolgversprechende Möglichkeit, eigene Kräfte zeitnah und wirksam zu unterstützen.
({17})
Das kann auch bei einem Einsatz nötig sein, der keinen
Kampfauftrag mehr enthält, wie in Afghanistan ab 2015.
({18})
Denn der Schutz der eigenen Soldaten bleibt natürlich
notwendig.
Wie bei allen anderen Mitteln der Anwendung militärischer Gewalt sind bei einem Einsatz von Drohnen die
im Einzelfall geltenden verfassungs- und völkerrechtlichen Rahmenbedingungen und das humanitäre Völkerrecht zu beachten. Wir haben uns dazu verpflichtet, und
das gilt für jeden Einsatz der Bundeswehr, mit welchen
Mitteln auch immer. Es würde auch für den Einsatz bewaffneter Drohnen gelten. Wir sollten, liebe Kolleginnen
und Kollegen, so selbstbewusst sein, nicht von der Einsatzmethode anderer Staaten auf diejenige der Bundeswehr oder des Einsatzmittels insgesamt zu schließen.
({19})
Nun sagen viele, es gebe bei Drohnen eine emotionale
Ferne; sie setzten die Hemmschwelle zur Anwendung
von Gewalt herab. Das ist ein gewichtiges Argument;
ich habe es im Januar schon vorgetragen. Eine größere
emotionale Distanz unserer Besatzungen zum Geschehen im Einsatzland lässt sich aber nicht belegen. Jeder
von Ihnen, der unsere Truppen in Afghanistan schon besucht hat, weiß: Die Besatzungen unserer unbemannten
Luftfahrzeuge dienen vor Ort; sie nehmen in Masar-iScharif an Trauerveranstaltungen für gefallene Kameraden teil, sie stehen Spalier für die Särge auf dem Weg zur
Transall. Diese Soldaten sind sich der ethischen, rechtlichen und moralischen Dimension ihres Handelns vollkommen bewusst.
({20})
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - In einem
sind wir uns sicher einig: Wir wollen keinen Automatenkrieg. Die Waffen dürfen sich nicht von Entscheidungen
durch Menschen lösen und verselbstständigen. Mit bewaffnungsfähigen Drohnen sind wir weit davon entfernt.
Erhalten wir uns bitte die Kraft zur Differenzierung, insbesondere wenn wir über Wert und Unwert von Waffen
reden. Im Mittelpunkt der Debatte sollte stehen, was die
Bundeswehr zur Erfüllung ihres Einsatzes braucht.
({21})
Die Bundeswehr besteht aus Menschen, die verantwortungsvoll und im Rahmen der Gesetze handeln. Ihr
Schutz ist uns Verpflichtung.
({22})
Das Wort hat nun Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema „Drohnen und Kampfdrohnen“ erregt die Öffentlichkeit, und das völlig zu Recht. Auf den Euro Hawk
komme ich noch zu sprechen; ich komme zunächst zu
den bewaffneten Drohnen. Da gibt sich die Regierung ja
doch einsilbig und drückt sich eigentlich um eine klare
und eindeutige Positionierung herum. Jetzt haben wir es
wieder gehört: Es bestehe bis Ende des Jahres noch gar
kein Entscheidungsbedarf. Es wird also auf die Zeit nach
dem 22. September verwiesen. Ein Schelm, wer Böses
dabei denkt!
Zugleich werden aber die Weichen gestellt: Ich meine
die Entwicklungsprojekte und dass man in den USA angefragt hat, ob man dort Kampfdrohnen kaufen kann.
Auch das, was der Minister hier gesagt hat, diente eigentlich dazu - zu nichts anderem -, das Feld zumindest
propagandistisch vorzubereiten. Herr Minister, in Ihrer
Rede Ende Januar haben Sie bereits erklärt, warum man
Drohnen jeglicher Art dringend brauche. Es war davon
die Rede, dass der unbemannten Luftfahrt die Zukunft
gehöre. Das wurde von der Kernenergie auch behauptet,
und doch sind wir dabei, auszusteigen. Dieses Argument
ist insbesondere nicht koscher, wenn es umstandslos auf
die bewaffneten Kampfdrohnen übertragen wird. Ja, sie
werden eingesetzt, und viele Staaten sind drauf und dran,
sich welche zuzulegen, aber noch kann man dieser Entwicklung Einhalt gebieten.
({0})
Die Friedensforschungseinrichtungen haben in ihrem
diesjährigen Friedensgutachten ihre Forderung wiederholt, Kampfdrohnen international zu ächten.
({1})
Der Entwicklung dieser Waffensysteme müsse dringend
ein Riegel vorgeschoben werden - ich zitiere -, „bevor
sie eine fatale Eigendynamik entfaltet“. Genau darum
geht es. Jetzt ist die letzte Gelegenheit, diese Entwicklung zu stoppen. Wir müssen sie nutzen. Das fordern wir
in unserem Antrag.
({2})
Unsere Positionen: Erstens. Für die Verteidigung unseres Landes werden keine mit Raketen bestückten
Drohnen benötigt. Sie sind vor allem für militärische
Operationen außerhalb des NATO-Territoriums geeignet. Diesen Interventionismus wollen wir nicht.
({3})
Wir wollen auch nicht, dass der Drohnenkrieg von deutschem Boden aus geführt wird, weder von der Airbase
Ramstein noch vom Africa Command der USA in Stuttgart.
({4})
Paul Schäfer ({5})
Zweitens. Die bisherige Einsatzpraxis ergibt ein eindeutiges Bild. In Afghanistan, Pakistan, aber auch Somalia, Jemen oder Palästina geht es vor allem darum,
Einzelpersonen oder kleine Gruppen von Menschen
schnell und ohne Zeugen zu töten. Obwohl sich die USA
nicht in einem bewaffneten Konflikt mit Pakistan befinden, wurden nach Schätzungen des Bureau of Investigative Journalism seit 2004 dort mehr als 2 500 Personen
getötet, davon mindestens 400 unschuldige Zivilisten.
({6})
Das ist eine sehr konservative Schätzung. In Wirklichkeit sind es sehr viel mehr, vor allem Frauen und Kinder.
({7})
Drohnen mögen aus Ihrer Sicht militärisch praktisch
sein, in ihrer Konsequenz können sie barbarisch wirken,
weil sie zu gezielten Tötungen von Menschen ohne vorherige Gerichtsverhandlung verleiten, aus sicherer Distanz, wenn es darauf ankommt auch grenzüberschreitend, ohne dass es jemand merkt, unter Bruch des
Völkerrechts.
({8})
Nun sagt der Minister - ich habe genau zugehört -,
die Bundeswehr werde die Drohnen gewiss nicht in diesem Sinne einsetzen, es entspräche nicht unserer Militärkultur.
({9})
Das mag heute zutreffen, aber was wird morgen sein?
Kampfdrohnen werden doch für gezielte Tötungen eingesetzt, weil sie dafür besonders geeignet sind.
({10})
Wird man dieser Versuchung wirklich widerstehen,
wenn man diese Mordwaffe erst einmal hat? Ich glaube:
Nein!
({11})
Drittens. Kampfdrohnen verbreiten in den genannten
Ländern Angst und Schrecken, sie verstärken Ohnmachtsgefühle, und - weil sie allzu oft die Falschen treffen - sie nähren Hass und Gewaltbereitschaft. Hören Sie
doch einmal genau zu: Sie sind dabei, die Drohnen zu einem Sinnbild für die Hightechkriege der führenden Industriemächte zu machen, gegen die sich die Underdogs
dieser Welt mit archaischen Gewaltformen zur Wehr setzen. Asymmetrischen Krieg nennen wir das, in der Konsequenz: robotisierte Kriegsführung versus Selbstmordattentate. Wohin soll das führen? Es ist doch ein
elementares Gebot politischer Klugheit, die Dinge vom
Ende her zu betrachten. Das sollten Sie an dieser Stelle
tun.
({12})
Viertens. Die Bewaffnung mit Kampfdrohnen senkt
die Hemmschwelle, Gewaltmittel einzusetzen. Dabei
geht es nicht um diejenigen, die diese Waffen unmittelbar führen. Das ist doch Nebelkerzenwerferei. Ein
Kampfpilot unterscheidet sich in der Tat nicht von einem
Soldaten, der die Drohne steuert. Das habe ich nie behauptet, und das würde ich auch nie behaupten. Aber darum geht es auch gar nicht.
Die Drohnen verändern - so hat es ein renommierter
US-Informatiker gesagt - unsere Sicht auf den Krieg.
Genauer gesagt: Es geht um die politischen Entscheidungsträger und die Versuchungen, die diese neue Technologie für die Politik bedeuten. Darüber sagen Sie
nichts, davon lenken Sie nur ab. Das ist der Punkt.
({13})
Die Vollautomatisierung des Krieges ist nur der theoretische Endpunkt einer solchen beunruhigenden Entwicklung.
Fünftens. Mit der Einführung der Kampfdrohnen wird
ein neuer Rüstungswettlauf eingeleitet. Auch hier müssen wir uns fragen: Wohin soll das führen? Unsere Antwort ist klar: Rüstungskontrolle und Abrüstung, nicht
qualitative Aufrüstung - das ist angesagt.
({14})
In den letzten Wochen hat uns die Entwicklung des
Euro Hawk beschäftigt. Ja, es geht nicht nur um Kampfdrohnen, auch die Aufklärungsdrohnen müssen kritisch
unter die Lupe genommen werden. Das unschönere Wort
dafür heißt Spionage. Sie sind also auch dafür vorgesehen, bei Militärinterventionen für eine Informationsüberlegenheit zu sorgen. So harmlos sind sie also nicht.
Man muss sich mit dem Thema zumindest kritisch auseinandersetzen. Daher ist es schlimm, dass alle Parteien
dieses Drohnenprojekt auf den Weg gebracht haben und
dem Prestigeprojekt Euro Hawk nicht widerstehen wollten - nur die Linke hat widerstanden, und sie wird es
weiter tun.
({15})
Besonders schlimm wird es, wenn bei solchen Großprojekten die politische Kontrolle versagt. Genau darum
geht es. Der Minister der Verteidigung hat am Anfang
seiner Amtszeit den Eindruck erweckt, er wisse um die
strukturellen Probleme. Er hat verkündet: Alle großen
Rüstungsvorhaben müssen auf den Prüfstand. Für den
Euro Hawk jedenfalls galt das nicht.
({16})
Paul Schäfer ({17})
Er hat damals harte Gespräche mit der Industrie angekündigt, sich dann aber doch von den Rüstungsfirmen
einlullen lassen. Anders ist das Debakel doch gar nicht
zu erklären.
Die Ausrede, bis auf Verfahrensfehler sei alles richtig
gelaufen, lassen wir nicht gelten. Das alles muss in einem Untersuchungsausschuss geklärt werden. Es geht
um persönliche und politische Verantwortlichkeiten,
aber auch um die strukturellen Bedingungen für das
Euro-Hawk-Debakel. Ich meine das dichte Beziehungsgeflecht zwischen Rüstungsindustrie, Streitkräfteführung und Ministerium.
Die Verschleuderung von Steuergeldern ist das eine.
Wenn dann aber auch noch Parlament und Öffentlichkeit
desinformiert und hintergangen werden - das kann man
Schwarz auf Weiß belegen -, dann muss gesagt werden:
Das ist schlicht nicht hinnehmbar.
({18})
Aus genau diesem Grund beantragt meine Fraktion, Die
Linke, dass der Bundestag dieses Vorgehen missbilligt
und die Kanzlerin auffordert, die nötige personelle Konsequenz zu ziehen - nicht mehr und nicht weniger.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Das Wort hat nun Rainer Erdel für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin entsetzt.
({0})
Kollege Schäfer, Sie haben eben ein Bild vom Deutschen Bundestag gezeichnet, als seien die Abgeordneten
dieses Hauses eine mehr oder minder fahrlässig vorgehende Räuberbande, die letztendlich nur Rüstungsgüter
beschafft, um sie genauso fahrlässig vorgehenden Soldaten zur Verfügung zu stellen, die dann damit machen
können, was sie wollen.
({1})
Herr Schäfer, hier muss ich Ihnen ganz entschieden widersprechen.
({2})
Wir reden über den Einsatz, über den Erwerb von
Kampfdrohnen. Unter diesem Tagesordnungspunkt beschäftigen wir uns auch mit Ihrem Antrag auf Missbilligung der Amtsführung von Bundesminister de Maizière
und Entlassung des Ministers nach Art. 64 Abs. 1 des
Grundgesetzes. In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass das
Ministerium, dass der Bundesminister eine gesellschaftliche Diskussion über den Einsatz von Drohnen bisher
verhindert hat. Gerade das ist nicht der Fall. In seinem
Redebeitrag vor wenigen Minuten hat der Minister noch
einmal sehr deutlich auf die Notwendigkeit, aber auch
auf die Grenzen solcher Projekte hingewiesen.
({3})
Sie, Herr Kollege Schäfer, haben die Diskussion, die
darüber stattfindet, als Propaganda bezeichnet, dazu
muss ich sagen: Ich weiß nicht, auf welcher Plattform
eine Diskussion stattfinden soll, wenn sie von Ihrer Seite
gleich als Propaganda bezeichnet wird. Ich denke, die
gesellschaftliche Diskussion über den Einsatz von Drohnen, auch von Kampfdrohnen, ist notwendig. Dabei ist
es wichtig, die Unterscheidung zu kennen. Wenn wir
über Flugzeuge reden, unterscheiden wir sehr wohl zwischen Segelflugzeugen, Passagierflugzeugen und
Kampfflugzeugen.
({4})
Ich glaube, in Ihren Diskussionsbeiträgen zum Thema
Drohnen vermischt sich so einiges. Ich musste leider
feststellen, dass auch der Kollege Bartels in seinem Beitrag einiges vermischt hat.
({5})
Er hat zwar über Aufklärungsdrohnen geredet, aber er
hat möglicherweise Kampfdrohnen gemeint. So ist manches unscharf geblieben.
Tatsache ist: Wir müssen bei der Beschaffung und vor
der Beschaffung, wir müssen im gesamten Prozess über
die sicherheitspolitische Begründung nachdenken. Wir
müssen darüber reden: Ist es notwendig, dass dies Teil
unseres Fähigkeitsspektrums ist? Sind Drohnen ein notwendiger Teil des Fähigkeitsspektrums der NATO, in die
wir eingebunden sind? Ist es notwendig, dass wir uns zur
Landesverteidigung eine bestimmte Bewaffnung zulegen? Es ist schon interessant, dass der Kanzlerkandidat
der SPD darauf hingewiesen hat, dass Deutschland keine
Drohnen braucht,
({6})
er vor wenigen Jahren als Finanzminister aber mehrere
Hundert Millionen Euro für dieses Drohnenprojekt zur
Verfügung gestellt hat. Herr Bartels, Sie haben auch in
diesem Kontext gesprochen.
({7})
Genauso interessant ist es, wenn ein SPD-Politiker,
der in Bayern Ministerpräsident werden will, darauf hinweist, dass bei den Vorgängen um den Euro Hawk nicht
der geringste militärische Nutzen entwickelt worden sei
und dass drei CDU/CSU-Minister verantwortlich gewesen seien. Ja, drei Minister der CDU/CSU waren verantwortlich, es waren aber auch zwei Minister der SPD
verantwortlich. Ein solches Rüstungsprojekt, das über
mehr als zehn Jahre entwickelt wird, verdient es auch,
dass man es von Zeit zu Zeit wieder bewertet und
entscheidet, ob man ein solches Projekt fortsetzt, oder ob
man an den Punkt kommt, ein solches Projekt zu
beenden. Genau diese Entscheidung hat der Minister getroffen.
({8})
Ich weiß jetzt nicht, was daran bei Ihnen als so falsch
empfunden wird, denn der Minister hat im Jahr 2011 darauf hingewiesen:
({9})
Alle Rüstungsprojekte kommen auf den Prüfstand. ({10})
Wir kommen zum Einsatz. Der Einsatz von Drohnen
ist klar umrissen. Der Einsatz von Drohnen ist sowohl in
Deutschland, was die Möglichkeiten der Ausbildung betrifft, als auch in den Einsatzgebieten in den sogenannten
Rules of Engagement umrissen. Der Einsatz von Drohnen - so wäre es auch bei Kampfdrohnen, wenn wir
denn welche hätten - ist keinerlei Willkür unterworfen,
sondern unterliegt klaren Regeln und hängt von den jeweiligen Einsatzszenarien ab.
Wenn Sie die Wirkung und Bedeutung von Drohnen
so grundsätzlich infrage stellen, dann rate ich Ihnen: Besuchen Sie doch einmal die Soldaten und reden Sie mit
ihnen.
({11})
Reden Sie mit den Soldaten in den Aufklärungsbataillonen darüber, welche hervorragenden Ergebnisse Drohnen liefern können. Reden Sie mit den Soldaten in den
Einsatzgebieten, die dort das System Heron nutzen. Die
werden Ihnen sagen, wie außerordentlich wichtig die
Erkundungs- und die Aufklärungsergebnisse sind.
({12})
Dann bitte ich Sie, die Situation neu zu bewerten.
Die jüngsten Ergebnisse zeigen uns, dass man vielleicht auch über die zivile Nutzung der Drohnen nachdenken kann. Wir setzen zurzeit Hubschrauber und Aufklärungsflugzeuge der Bundeswehr ein, um die Situation
an unseren Deichen festzustellen.
({13})
Ich glaube, das wäre kostengünstiger und vielleicht auch
rund um die Uhr möglich, wenn wir Drohnen hätten.
({14})
Ich komme zu Ihrem zweiten Antrag: Missbilligung
der Arbeit des Ministers. Sie haben diesen Antrag in drei
Zeilen begründet. Ich bin der Meinung, wir haben einen
Verteidigungsminister, der das Ministerium in einer
äußerst schwierigen Phase führt. Wir haben insgesamt
13 Auslandseinsätze auf drei Kontinenten. Wir führen
eine Strukturreform durch. Es gibt Beschaffungsvorhaben, die sehr langfristig laufen, teilweise bereits über
zwanzig Jahre, und die jetzt auf dem Prüfstand stehen.
Es hat in der Geschichte übrigens immer Beschaffungsvorhaben gegeben, die gestoppt wurden. Sie können die
Ergebnisse in verschiedenen Museen besichtigen. Da
gab es senkrecht startende Transportflugzeuge, die zehn
Jahre lang entwickelt wurden.
({15})
Da gab es senkrecht startende Düsenflugzeuge. Es ist
notwendig, diese Beschaffungsvorhaben immer wieder
neu zu bewerten.
Sie bemängeln die Information durch den Minister.
Ich habe einen anderen Eindruck: Der Minister informiert, das Ministerium informiert über die Lage in den
Einsatzgebieten. Der Minister hat in der letzten Sitzung
durchaus zugestanden, dass wir vielleicht künftig auch
eine Information über die Lage bei den Rüstungsprojekten einführen müssen. Warum nicht? Ich denke, das ist
ein Prozess, der der Strukturreform zu verdanken ist, die
von dieser schwarz-gelben Koalition angeschoben
wurde.
Ich glaube, der Minister und die Staatssekretäre, der
Generalinspekteur und die Inspekteure nehmen ihre
Aufgabe, Verantwortung gegenüber dem Parlament und
gegenüber den Abgeordneten des Bundestages zu zeigen, sehr ernst. Sie schreiben in Ihrem Antrag, der
Minister und das Ministerium würden das Parlament mit
Desinformation versorgen - Desinformation ist bewusste Fehlinformation -,
({16})
das muss ich zurückweisen. Wenn Sie mit Ihrem Antrag
jetzt bereits den Vollzug eines Urteils fordern, das Verfahren aber von Ihnen erst im Untersuchungsausschuss
nachgeschoben werden soll,
({17})
dann ist dieses zu missbilligen: nicht zuerst das Urteil
und die Vollstreckung und das Gerichtsverfahren hinterher. Deswegen missbilligen wir Ihren Antrag, und wir
werden Ihre beiden Anträge ablehnen.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich
Heidemarie Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich beziehe mich
auf diejenigen, die die Frage der Kampfdrohnen angesprochen haben. Ich muss schon sagen: Angesichts des
Versagens des Verteidigungsministers bei der Beschaffung von Euro Hawk erstaunt es sehr, dass der Mut
besteht - abgesehen davon, dass der 22. September davor ist -, dass man über die Frage bewaffneter Kampfdrohnen diskutieren und entscheiden will. Ich möchte
daher auf etwas hinweisen, das man bei einer Debatte,
die die ethischen Aspekte berücksichtigt, erwarten
würde.
({0})
- Durch Schreien wird es nicht besser.
({1})
Die Friedensforschungsinstitute haben in ihrem Gutachten vor einer Woche Folgendes konstatiert:
Erstens. Es droht ein Rüstungswettlauf bei den bewaffneten Systemen. Nicht nur die USA verfügen über
solche Systeme, sondern zum Beispiel auch China.
Zweitens. In der Tendenz besteht die Gefahr - die
Friedensforschungsinstitute formulieren das so - einer
im Verborgenen stattfindenden Kriegsführung, die die
generelle Ächtung des Krieges im Völkerrecht unterläuft. Krieg würde unterhalb der Wahrnehmungsschwelle geführt, und damit würde Krieg banalisiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gefahr einer
solchen Entwicklung muss man in einer solchen Debatte
ansprechen. Das tue ich.
({2})
- Herr Lindner, Sie kennen wir schon.
({3})
- Ja, das muss man. Sie werden in jedem Wahlkreis gefragt werden, wie Sie dazu stehen, dass Sie bewaffnete
Kampfdrohnen beschaffen und einführen wollen.
({4})
Dann müssen Sie wissen, was Sie antworten.
Die Friedensforschungsinstitute sagen auch: Angesichts der Tatsache, dass die Gefahr einer Automatisierung und Verselbstständigung derartiger Systeme besteht, ist nicht die Beschaffung von Kampfdrohnen
notwendig, sondern die Ächtung solcher Systeme. Dazu
fordere ich uns alle auf. Das werden wir auch erleben.
({5})
Herr Kollege Erdel, wollen Sie darauf reagieren? Bitte schön.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, ich zitiere aus einer
Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages:
Kampfdrohnen sind völkerrechtlich nicht verboten.
Der Einsatz von Drohnen steht aber unter dem
Vorbehalt der strikten Einhaltung des geltenden
Völkerrechts sowie des verfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehaltes.
({0})
Nichts anderes hat der Minister und nichts anderes habe
ich angemerkt.
Danke.
({1})
Das Wort hat nun Agnes Brugger für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fehler
sind da, um wiederholt zu werden.
({0})
So könnte man den Grundsatz der Beschaffungspolitik
im Bundesverteidigungsministerium zusammenfassen,
wenn man sich die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage der SPD zum Erwerb und Einsatz von
Kampfdrohnen durchliest. Diese Antwort wurde am
29. Mai per Kabinettsbeschluss einfach abgenickt. Völlig unbeeindruckt vom Euro-Hawk-Desaster kündigt die
Bundesregierung darin die Beschaffung von fünf
Kampfdrohnen bis 2016 an und hält sich gleich einmal
offen, noch elf weitere zu erwerben.
Es ist doch kaum zu fassen.
({1})
Wie kann es eigentlich sein, dass diese Bundesregierung
trotz der massiven Probleme bei der Zulassung des Euro
Hawk gleich die nächste Staffel Drohnen ordern will,
({2})
und zwar nicht Aufklärungsdrohnen, sondern gleich
Kampfdrohnen, die zu Recht hoch umstritten sind? SpäAgnes Brugger
testens jetzt müssten Sie doch die Risiken, die mit der
Beschaffung von Drohnen verbunden sind, erst einmal
gründlich prüfen, bevor Sie einen solchen Beschluss fassen. Doch weit gefehlt: Drohnenminister de Maizière
und Merkels Kabinettstruppe halten nicht einmal eine
Diskussion darüber für nötig.
({3})
So beschließen Sie mitten im Skandal gleich den nächsten Skandal.
({4})
Der Kabinettsbeschluss zur Beschaffung von Kampfdrohnen offenbart, mit welcher Verantwortungslosigkeit
Schwarz-Gelb beim Kauf von Waffensystemen entscheidet. Die Probleme bei der Zulassung spielen für Sie trotz
des Milliardendesasters beim Euro Hawk keine Rolle.
({5})
Klar ist: Der Erwerb und die Verwendung von
Kampfdrohnen drohen die Hemmschwelle zum Einsatz
von bewaffneter Gewalt insgesamt zu senken und die
Kriegsführung grundlegend zu verändern. Vor allem die
USA greifen in ihrem sogenannten Kampf gegen den
Terror systematisch auf dieses Waffensystem zurück und
verstoßen mit gezielten Tötungen in Pakistan, im Jemen
und in Somalia gegen das Völkerrecht.
({6})
Die Bundesregierung darf diese Praxis nicht einfach
stillschweigend hinnehmen! Warum drücken Sie sich davor, diesen offensichtlichen Bruch des Völkerrechts
({7})
offen zu kritisieren?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Spatz von der FDP-Fraktion?
Sehr gerne.
({0})
Frau Brugger, Sie wollen mit Beispielen aus anderen
Ländern belegen, dass bei denen, die über solche Waffensysteme verfügen, die Hemmschwelle sinke. Ist
Ihnen klar, dass Sie damit uns alle - und unsere Nachfolger - anklagen? Denn wir wären es, die einen entsprechenden Einsatz, bevor er durchgeführt werden könnte,
genehmigen müssten.
({0})
Ich klage niemanden an, sondern ich weise auf die
Gefahren hin.
({0})
Am Fall der USA, die ja ein wichtiger Verbündeter sind,
sieht man, dass diese Befürchtungen nicht unbegründet
sind: Ein Friedensnobelpreisträger nutzt diese Systeme
und höhlt damit das Völkerrecht aus - auch weil diese
Bundesregierung zum Beispiel kein einziges Wort darüber verliert.
({1})
Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung das
einmal zur Sprache bringt.
Ich finde, man muss auch selbstkritisch damit umgehen. Man müsste sich an dieser Stelle auch das Parlamentsbeteiligungsgesetz noch einmal anschauen. Sie
kennen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Mit
einer unmittelbaren Gefährdung der Soldatinnen und
Soldaten zu argumentieren, würde zur Mandatierung eines Einsatzes bewaffneter Drohnen nicht ausreichen. Ich
bitte Sie, sich mit diesen Fragen noch einmal gründlich
auseinanderzusetzen.
({2})
Sie blenden die mit Kampfdrohnen verbundenen Gefahren für den Frieden und die weltweite Einhaltung der
Menschenrechte einfach aus.
Wir Grüne haben uns mit einem Antrag klar positioniert: Wir lehnen die Beschaffung von Kampfdrohnen
für die Bundeswehr ab.
({3})
Wir freuen uns darüber, dass inzwischen auch die
SPD - per Beschluss des Parteivorstands - diese Position mit uns teilt und sich den verantwortungslosen Beschaffungsplänen von Minister de Maizière entgegenstellt.
Dem Rüstungswettlauf muss Einhalt geboten werden,
bevor immer mehr Staaten über solche Waffensysteme
verfügen und sie weiter exportieren. Wir Grüne wollen
internationale Regelungen - auf der Ebene der Vereinten
Nationen - und Begrenzungen für bewaffnete unbemannte Systeme. Wir setzen uns auch für eine völkerrechtliche Ächtung von autonomen bewaffneten Drohnen
ein; denn es darf nicht zur Entwicklung von Robotern
kommen, die selbstständig über Leben oder Tod von
Menschen entscheiden.
({4})
Herr Minister de Maizière, Sie haben gesagt, Sie wollen keine autonomen Systeme. Da frage ich Sie: Wo sind
denn Ihre Initiativen auf internationaler Ebene zur Ächtung dieser Systeme?
({5})
Der erste Schritt wäre der eigene Verzicht auf Kampfdrohnen; aber wie es scheint, ist dieser Verteidigungsminister von seinen Drohnenprojekten nicht mehr zu trennen. Schwarz-Gelb im Drohnenfieber,
({6})
freuen kann sich hierüber nur die Rüstungsindustrie mit
ihren Verbandlungen ins Verteidigungsministerium.
({7})
Meine Damen und Herren, es muss endlich Schluss
sein mit der kostspieligen und planlosen Beschaffungspraxis des Verteidigungsministeriums.
({8})
Die Beschaffungspolitik darf sich nicht nach den Interessen der Rüstungsindustrie und der Logik des Wettrüstens
richten. Grundlage müssen eine sicherheitspolitische Bedarfsanalyse und eine friedenspolitische Einhegung sein.
Herr Minister de Maizière, nach den gravierenden
Fehlern, die bei der Entwicklung des Euro Hawk gemacht wurden, dürfen und können Sie sich nicht einfach
taub stellen und wegdrehen. Ihre Strategie, Herr Verteidigungsminister - ich weiß von nichts und reagiere nur
auf offizielle schriftliche Vorlagen aus meinem Ministerium; diese habe ich erst am 13. Mai 2013 erhalten -,
war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
({9})
Mit Bekanntwerden der von Ihnen persönlich quittierten Infomappe zum Euro Hawk, die Sie für Ihren Besuch
bei Cassidian - wohlgemerkt am 10. Dezember 2012 samt Schilderung der Zulassungsproblematik erhalten
haben, ist klar geworden: Sie wussten sehr wohl Bescheid und haben gelogen.
({10})
So spärlich Ihre Antworten auf die vielen Fragen auch
waren: Selbst mit den wenigen Worten haben Sie es geschafft, sich auch noch in große Widersprüche zu verheddern.
({11})
Erst hieß es, Sie seien nicht informiert worden und Ihr
Haus sei schuld. Dann fiel Ihnen ein, dass Sie als Minister doch irgendwie für das Verantwortung tragen, was in
Ihrem Haus abläuft. Wirkliche Verantwortung wollten
Sie trotzdem nicht übernehmen, da man Sie nicht schriftlich über das Problem informiert habe. Auch von diesem
Standpunkt mussten Sie sich zurückziehen.
({12})
Jetzt versteifen Sie sich darauf, dass in der schriftlichen
Vorlage nicht von unlösbaren Problemen die Rede war.
Herr Minister, hören Sie auf mit dieser Haarspalterei,
und übernehmen Sie Verantwortung.
({13})
Nein, es ist nicht alles richtig gelaufen und entschieden
worden. Nein, es stimmt einfach nicht, dass Sie erst am
13. Mai 2013 eine schriftliche Vorlage zu den Schwierigkeiten bei der Zulassung erhalten haben. Ersparen Sie uns
und sich selbst Ihre pseudophilosophischen Einlassungen über das Lösbarkeitspotenzial von Problemen, deren
Existenz Sie jetzt fleißig über den Pressestab Ihres Verteidigungsministeriums verbreiten lassen.
({14})
Wir lassen Ihnen Ihre Ausflüchte und plumpen Täuschungsmanöver nicht einfach durchgehen.
({15})
Es ist schon sagenhaft, welche Naivität Sie der Öffentlichkeit und dem Parlament unterstellen, wenn Sie glauben, sich mit diesen Verdrehungen so einfach heraustricksen zu können.
Herr Minister, Sie müssen dafür sorgen, dass Sie und
die politische Führung Ihres Ministeriums die Informationen erhalten, die für eine frühzeitige und realistische
Einschätzung notwendig sind.
({16})
Das Chaos um die Euro-Hawk-Beschaffung offenbart
ein eklatantes Führungs- und Organisationsversagen im
Verteidigungsministerium, das Sie, Herr Minister, zu
verantworten haben.
({17})
Um hier für eine lückenlose Aufklärung zu sorgen,
werden wir gemeinsam mit der SPD die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragen.
({18})
Ich bin gespannt, in wie viele Sackgassen Ihr Labyrinth
aus Widersprüchen noch führen wird.
({19})
Doch schon jetzt ist klar: Das Maß an Widersprüchen
und Unwahrheiten ist voll. Deswegen werden wir auch
dem Missbilligungsantrag der Linken zustimmen.
({20})
Herr Minister, Sie geben sich als tadelloser Bürokrat,
bezeichnen sich selbst gar als Büroklammer. Sie sind
aber der einzige Minister dieses schwarz-gelben Chaoskabinetts, an dessen Akte ein Missbilligungsantrag und
ein Untersuchungsausschuss haften.
({21})
Es ist Zeit für eine neue und kritische Politik im Umgang mit Drohnen, die sich eben nicht nur von technologischen Verheißungen und Versprechungen der Rüstungsindustrie leiten lässt, sondern sich gerade auch mit
den Risiken dieser neuen Militärtechnologie auseinandersetzt. Hier ist Verantwortungsbewusstsein gefordert.
Wer dieses Verantwortungsbewusstsein nicht hat, der
sollte auch kein Ministerium leiten.
({22})
Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da
der Minister in sehr sachlicher Art und Weise ausgeführt
hat, warum die Überlegungen zur Anschaffung bewaffneter Drohnen sinnvoll sind, kann ich mich jetzt zunächst einmal darauf konzentrieren, mich mit den beiden
schockierendsten Wortmeldungen des heutigen Tages
auseinanderzusetzen: der des Kollegen Bartels und der
der Kollegin Brugger.
({0})
Lieber Kollege Bartels, am vergangenen Mittwoch
hat eine Ausschusssitzung stattgefunden. In dieser Ausschusssitzung hat der Minister mit keinem Wort irgendeine Verantwortung und irgendeine Schuld auf irgendeinen Untergebenen geschoben.
({1})
Während die Sitzung lief, hat die SPD bereits über die
Presse verbreitet, er hätte die Schuld auf Staatssekretäre
geschoben. Der Minister hat das Ganze zwei Stunden
später hier in der Aktuellen Stunde klargestellt.
({2})
Dass Sie diesen perfiden Vorwurf, von dem Sie wissen,
dass er einen Ehrenmann in besonderer Weise treffen
muss, hier heute wiederholen, ist, gelinde gesagt, eine
Sauerei.
({3})
Liebe Kollegin Brugger, wir mussten uns am Wochenende unsägliche Kommentare anhören: Lüge,
dreiste Lüge, doppelte Lüge.
Am Montag hat der Verteidigungsausschuss vier
Stunden getagt. In dieser Sitzung haben wir uns mit dieser Frage befasst. In diesen vier Stunden ist nicht von einem Mitglied der Opposition der Vorwurf der Lüge erhoben oder gar bewiesen worden. Und draußen stellen
Sie sich hin und wiederholen das. Das ist Verarschung
der Öffentlichkeit.
({4})
Das, was wir in der letzten Woche und in dieser Woche von der rot-grünen Opposition erlebt haben, ist für
mich der Wendepunkt in diesem Wahlkampf. Sie haben
sich entschieden, mangels Inhalten und Zielen einen
Schmutzwahlkampf zu machen.
({5})
Ich kann Ihnen sagen: Wenn Herr Bebel, Herr
Schumacher und Herr Brandt erleben müssten, wie die
SPD im Jahr 2013 meint die Bundestagswahl gewinnen
zu müssen, würden sie sich im Grabe umdrehen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bartels?
Nein, danke.
Ich möchte zum Thema bewaffnete Drohnen sprechen. Ich kritisiere den Verteidigungsminister ungern;
aber Herr Steinbrück hat in der Rede von Drohnen gesprochen. „spd.de“ kann ich nur jedem empfehlen.
Schauen Sie sich dort das Original der Rede an. In dem
verbreiteten Manuskript ist in der Tat von bewaffneten
Drohnen die Rede. Ich will einmal nicht unterstellen,
dass das jemand hinterher noch in das Manuskript „hineingeflickt“ hat. Ich glaube eher, dass Herr Steinbrück
schlicht nicht wusste, wovon er redet.
({0})
Wir haben in der Bundeswehr seit den 70er-Jahren
Drohnen. Sie sind im Übrigen von Verteidigungsministern der SPD in Auftrag gegeben worden.
({1})
Zurzeit gibt es über 300 Drohnen bei der Bundeswehr; keine davon ist bewaffnet. Einige Dutzend davon
befinden sich im Augenblick in einem sinnvollen und
guten Einsatz in Afghanistan und an anderen Einsatzorten der Bundeswehr.
({2})
Das, was Herr Steinbrück zum Thema Drohnen sagte,
erinnert mich sehr an das, was Wilhelm II. über die
Autos gesagt hat. Er hat gesagt, er glaube an die Pferde;
das Automobil sei eine vorübergehende Erscheinung.
Wilhelm II. war vermutlich ein besserer Reiter als ein
Regierungschef. Ich denke, dass Herr Steinbrück möglicherweise ein besserer Flieger als ein Regierungschef
ist. Auf jeden Fall hat er von diesem Thema keine Ahnung.
({3})
Lassen Sie mich noch den Versuch einer sauberen Begründung machen, warum ich der Meinung bin, dass bewaffnete Drohnen, so wie sie die Bundeswehr einsetzen
würde, eine sinnvolle und notwendige Unterstützung der
Ausrüstung der Bundeswehr sein können.
Wenn wir auf die bewaffneten Konflikte der letzten
Jahrzehnte schauen, insbesondere auch auf jene, in denen die Bundeswehr im Einsatz war, so müssen wir doch
immer wieder feststellen, dass die besonders unschönen
Entwicklungen in diesen Konflikten - dass Kollateralschäden verursacht worden sind, dass vielleicht Einsatzführer aus der Not heraus über das Ziel hinausgeschossen sind - immer dadurch zustande kommen, dass
die jeweils zur Verfügung gestellte Ausrüstung nicht auf
den Einsatz und die Erfüllung des Auftrags passte. Ich
sage Ihnen: Wenn wir wollen, dass unsere Soldaten das
Völkerrecht achten und dass sie nach dem Grundsatz der
Angemessenheit und der Verhältnismäßigkeit Waffen in
robusten Einsätzen einsetzen, dann müssen wir ihnen ein
Spektrum von Waffen zur Verfügung stellen, das wir für
richtig halten, damit sie angemessen reagieren können.
({4})
In dem Augenblick, in dem wir über ein breiteres
Spektrum an Waffen verfügen - eben nicht nur über
Kampfflugzeuge, sondern auch über bewaffnete Drohnen -, haben wir bei klugem Einsatz durch die klugen
Offiziere der Bundeswehr die Möglichkeit, Eskalationen
von bewaffneten Konflikten eher zu vermeiden, als dass
wir sie schüren. Über diese Chance sollten wir hier seriös reden und seriös verhandeln.
({5})
In diesem Sinne denke ich, dass der Weg der Bundesregierung, zunächst eine intensive Diskussion über die
ethische Dimension dieser Waffen zu führen und dann
aber auch ganz konkret zu prüfen, wie man zu diesen
Waffen kommen kann, genau der richtige Weg ist.
Ich wünsche mir, dass wir das mit anderen Partnern
zusammen machen, dass wir das mit den Franzosen zusammen machen, vielleicht sogar mit den Engländern,
damit wir diese Art von Waffen auch für unsere Streitkräfte zur Schaffung von Frieden und zur Erhaltung des
Friedens in der Welt zur Verfügung haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Rainer Arnold für die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Regierung
Merkel ging in den letzten Jahren ja viel hin und her. Es
gibt aber auch eine Kontinuität: Jetzt wird bereits beim
dritten Verteidigungsminister sichtbar, dass dieses wichtige Amt bei der CDU nicht in guten Händen ist.
({0})
Es gibt drei gute und wichtige Gründe, warum dieser
Minister nicht länger im Amt bleiben kann:
({1})
Den ersten hat er heute noch einmal selbst bekräftigt,
und zwar durch seinen Umgang mit der schwierigen Dimension und den ethischen Fragen bei Kampfdrohnen.
Herr Minister, Sie sagen, die Soldaten kennen die ethischen Dimensionen. Ja, das Problem ist aber, dass Sie sie
nicht richtig reflektieren.
({2})
Ein Minister, der die Debatte damit beginnt, dass
Waffen per se ethisch neutral sind, hat diese Dimension
eben nicht verstanden und nicht reflektiert,
({3})
und ein Minister, den seine eigene Koalition bremsen
muss, damit er nicht ganz schnell - hoppla hopp! - vor
der Bundestagswahl noch eine Entscheidung trifft und
Kampfdrohnen beschafft, hat dies auch nicht verstanden.
Jetzt reden Sie von einer breiten gesellschaftlichen
Debatte, und gleichzeitig sagen Sie, das Ergebnis kennen
Sie schon: Sie brauchen Kampfdrohnen. - Sie kennen
das Ergebnis schon vorher.
({4})
Ich sage Ihnen: Wir kennen es nicht, weil viele
schwierige Fragen zu beantworten sind: ethische - klar ({5})
und völkerrechtliche.
Wir brauchen eine Bundesregierung, die in New York
dafür streitet, dass es Nichtverbreitungsabkommen für
Kampfdrohnen gibt. Dieses System darf nicht in jedermanns Hände fallen. Begreifen Sie das denn überhaupt
nicht?
({6})
Wir brauchen in New York natürlich Impulse Deutschlands dafür, dass vollautomatische Systeme völkerrechtlich geächtet werden.
({7})
Herr Minister, wer die Große Anfrage und die Antwort Ihrer Bundesregierung liest, der erkennt: Das, was
Sie in sechs Monaten an Antworten zusammengetragen
haben, ist an Oberflächlichkeit ja nun wirklich nicht zu
überbieten. Ich mache es einmal sehr einfach:
({8})
Wie würden Sie denn antworten, wenn die Vereinigten Staaten, unser enger Verbündeter, Kampfjets mit Piloten nach Pakistan, in den Jemen und nach Somalia
schicken würden, wo Raketen abgeschossen werden
würden und Menschen ums Leben kämen? Würden Sie
dann in der Antwort auch ausweichend hin und her lavieren und sagen, es käme auf den Einzelfall an, ob dies
völkerrechtlich richtig oder falsch ist? Das ist eindeutig
völkerrechtswidrig.
({9})
Herr Minister, Sie machen es sich auch mit der Aussage, wir Parlamentarier hätten das alles in der Hand,
viel, viel zu einfach.
({10})
Wir tun gut daran, uns selbst bei solchen Fragen immer auch zu reflektieren.
({11})
Wenn ich das im Nachklapp tue, dann frage ich mich
persönlich schon - wenn Sie das nicht tun, dann ist das
Ihr Problem -, warum es beim Einsatz im Kosovo leichter gefallen ist, Tornado-Kampfjets in den Einsatz zu
schicken, die in Italien stationiert waren, während es viel
schwerer gefallen wäre, Bodentruppen hinzuschicken.
Herr Minister, es ist doch ganz klar: Der Einsatz von
Drohnen hat die Fähigkeiten und die Möglichkeiten,
Konflikte zu führen, in der Welt verändert. Einer Bundesregierung, die dies nicht reflektiert, werden wir keine
Kampfdrohnen in die Hände geben dürfen und können.
({12})
Der zweite Grund, warum Sie nicht länger im Amt
bleiben können, ist der Vorgang um den Eurofighter.
Letztendlich 600 Millionen Euro für nichts.
({13})
- Ja.
Ihre Strategie, Herr Minister, haben wir hier schon
vor einem Jahr kritisch diskutiert. Wir hatten schon immer den Eindruck, dass Sie eine konzeptionelle Idee haben, die lautet: Lasst doch die schwierigen Fragen möglichst gar nicht an den Schreibtisch des Ministers heran.
({14})
Das ist Ihr Konzept gewesen. Das hat sich jetzt ziemlich gerächt; das ist ganz offensichtlich.
Herr Minister, der Kollege der FDP hat gesagt, Sie
hätten alle Großvorhaben auf den Prüfstand gestellt. Das
war keine Hilfe für den Minister.
({15})
Hätte er das nämlich wirklich gemacht, dann hätte er
das Euro-Hawk-Problem natürlich auf dem Schreibtisch
gehabt und seriös bearbeitet.
Herr Minister, Sie sagen in der Tat, Sie haben nichts
gehört, und sagen gleichzeitig, der Flurfunk interessiert
Sie nicht so wirklich. Herr Minister, auf Ihren Fluren im
Ministerium - drüber und drunter - sitzen zwei beamtete
Staatssekretäre, zwei Parlamentarische Staatssekretäre,
ein Generalinspekteur und die Abteilung Politik. Das
sind allesamt Herren, die nicht irgendwer sind. Egal ob
auf dem Flur oder sonst wo: Wenn sie Ihnen etwas sagen, dann dürfen Sie das nicht mit „Flurfunk“ abtun,
sondern dann müssen Sie nachfragen und die Dinge klären, und das haben Sie nicht getan.
({16})
Herr Minister, wenn Sie jetzt sagen, dass Sie die Probleme nicht mehr wegdrücken und diese Reform zu
Ende führen wollen, dann verstehen das viele Soldaten
inzwischen nicht als Versprechen, sondern als Drohung;
({17})
denn Sie machen das in allen Bereichen sehr gerne so.
Herr Minister, Sie wollen auch eine Legende aufbauen: Von den 600 Millionen Euro könnte viel Geld gerettet werden, weil dieses sogenannte Missionssystem
- also die Aufklärung - weiter verwendet werden kann.
Sie tun dabei so, als ob man das einfach unter ein neues
Flugzeug schrauben könne. Nein, was dort im Augenblick erprobt wird, ist in erster Linie die Integration des
Systems in die Drohne. All das muss man bei jedem
neuen Flugzeug neu beginnen. Das wird wieder eine
dreistellige Millionensumme kosten. Sagen Sie das doch
ehrlicherweise!
({18})
Ich sage Ihnen heute schon: Auch Ihre Prognose, dass
das tatsächlich bis Ende September zertifiziert sein wird,
wird nicht eintreffen. Auch dies werden Sie nicht schaffen.
({19})
Der dritte Grund, Herr Minister, warum Sie nicht im
Amt bleiben können, ist - wie bei vielen Ministern, die
zurückgetreten sind - die Art und Weise, wie Sie die
Krise managen. Herr Minister, es ist ein Desaster, wie
Sie mit den zur Diskussion stehenden Fragen umgegangen sind. Natürlich werden Erinnerungen an Ihren Vorgänger wach. Der hat nämlich auch begonnen, mit nicht
haltbaren Statements die Medien zu füttern. Er musste
dann zurückrudern.
Nachdem er zurückgetreten war, kamen Sie ins Amt.
Da ging ein Aufatmen durch die Truppe und auch durch
die Reihen von uns Verteidigungspolitikern; denn wir,
Herr Minister, haben gedacht: Hier kommt einer mit Beamtentugenden; jemand, der sein eigenes Image, so zu
sein, durchaus kultiviert und damit - das ist auch ganz
klar - die Latte der Ansprüche entsprechend hoch legt.
Jetzt aber sieht die staunende Öffentlichkeit, Herr Minister: Es ist gar nicht so.
In der Tat haben Sie bei unserer ersten Debatte - Herr
Kollege Hardt, es ist nicht wahr, was Sie sagen - die
Probleme auf andere abgewälzt. Sie haben gesagt, Sie
wurden nicht informiert. Wenn ein Minister sagt, er behält sich personelle Konsequenzen vor: Was ist denn das
anderes als ein Abwälzen auf seine Untergebenen?
({20})
Herr Minister, ich stelle mir Führungsverantwortung anders vor, nämlich dass man sich nach außen stets vor
seine Mitarbeiter stellt und die notwendigen Konsequenzen innen diskutiert und durchsetzt.
Herr Minister, haben Sie einmal darüber nachgedacht,
was es für Ihre Untergebenen bedeutet, wenn sie in den
Zwiespalt geraten, wahrheitsgemäß berichten zu müssen: Wann hat wer was gewusst und wem gesagt? - Das
alles - wie Sie mit den Leuten umgehen, Herr Minister ist nicht schön.
({21})
Ich sage Ihnen am Ende eines, Herr Minister: Das
Zeitfenster, währenddessen Sie noch in Würde Ihre eigenen Entscheidungen treffen können - das ist für einen
Politiker ein Wert an sich -, wird sich nächstens schließen.
({22})
Ich erinnere Sie deshalb noch einmal daran, wie andere
Vorgänger auch in Ihrer Partei mit der Verantwortung
des Amtes umgegangen sind.
Ich nehme einfach einmal Minister Stoltenberg.
({23})
Er hatte gar keine persönlichen Verfehlungen begangen,
gar nichts. Er musste eine Waffenlieferung an die Türkei
verantworten, die nicht in Ordnung war, von der er aber
nichts gewusst hatte und nichts wissen konnte. Was hat
er bei seinem Rücktritt gesagt? Er sagte: Ich bejahe
meine Verantwortung als Parlamentsminister für den gesamten Geschäftsbereich des Bundesministeriums der
Verteidigung. Und deshalb stelle ich mein Amt zur Verfügung. - Das ist Verantwortung.
Ich nehme ein anderes Beispiel, das eines Sozialdemokraten. Schorsch Leber - kein preußischer Beamter,
sondern Bauarbeiter und Gewerkschafter. Er hatte einen
mühsamen Weg, um hier ins Parlament und ins Ministeramt hineinzukommen. Er wurde mit einem Abhörskandal des MAD konfrontiert. Davon konnte er gar nichts
wissen. Was sagte Schorsch Leber - wie er nun einmal
war - politisch prägnant und kurz? Er sagte: „Politische
Verantwortung ist nicht teilbar.“
Herr Minister, nehmen Sie sich ein Beispiel an diesen
beiden Vorgängern: Politische Verantwortung ist nicht
teilbar.
Herzlichen Dank.
({24})
Das Wort hat der Kollege Dr. Reinhard Brandl für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Arnold, es ist schon erbärmlich, was
Sie in den letzten Tagen und heute hier aufgeführt haben.
({0})
Sie finden an der Amtsführung und an der Bundeswehrreform des Ministers inhaltlich nichts zu kritisieren, was
zündet und was die Öffentlichkeit wahrnimmt.
({1})
Jetzt versuchen Sie, ihn als Person zu diskreditieren.
({2})
Diese Strategie kann man in der Euro-Hawk-Debatte
sehr schön beobachten. Zuerst haben Sie sich in der Sache aufgeblasen und ganz laut gerufen: Fehlentscheidung! Und: Die Reißleine ist zu spät gezogen worden.
({3})
Der Minister hat dann letzte Woche sehr sauber und
gründlich dargelegt, dass die Entscheidung und auch der
Zeitpunkt der Entscheidung richtig waren.
({4})
Er hat auch berichtet, dass er, bevor er personelle Konsequenzen zieht, den Vorgang vernünftig aufklären will.
Auf dem Weg zu dieser Entscheidung gab es Fehler; das
hat der Minister dargestellt, das hat der Bundesrechnungshof dargestellt.
({5})
Der Minister hat auch die Konsequenzen daraus präsentiert. Damit ist Ihr schönes erstes Vorwurfskonstrukt in
sich zusammengefallen.
({6})
Dann haben Sie übers Wochenende versucht, an einer
einzigen Äußerung ein neues Konstrukt mit dem Vorwurf der Falschaussage aufzuziehen. Nachdem Sie die
Zitate genau gelesen haben, ist am Montag auch Ihr
zweites Konstrukt in sich zusammengefallen.
Lieber Herr Arnold, wann der Herr Minister von einer
richtigen Entscheidung erfahren hat, die zum richtigen
Zeitpunkt auf der in der Organisation richtigen Ebene
getroffen worden ist,
({7})
hat mit der ursprünglichen Sache gar nichts mehr zu tun.
Aber sei es drum. Der Vorwurf ist aufgeklärt. Sie haben
ihn ja auch im Verteidigungsausschuss am Montag gar
nicht mehr wiederholt. Nachdem Ihnen danach gar
nichts mehr eingefallen ist,
({8})
muss jetzt ein Untersuchungsausschuss her, in der Hoffnung, dass man irgendetwas findet, das man im Wahlkampf ausschlachten kann. Das ist Ihr Recht.
Aber glauben Sie ja nicht, dass Ihre Strategie in der
Truppe gutgeheißen wird. Die Soldaten sehen nämlich
ganz genau, dass es Ihnen nicht mehr um die Sache geht,
sondern nur noch darum, einen beliebten und erfolgreichen Verteidigungsminister persönlich fertigzumachen.
({9})
Als Union werden wir uns am Untersuchungsausschuss konstruktiv beteiligen und aufklären, was in dem
gesamten Prozess seit 2001 alles schiefgelaufen ist. Das
ist bei den Summen, um die es geht, auch angemessen.
Aber ich sage Ihnen eines voraus: Dabei wird klar werden, dass die Jacke von vornherein falsch eingeknöpft
worden ist. In den Zeiten der rot-grünen Regierungsverantwortung und in den Zeiten der Großen Koalition waren die Erwartungen der amerikanischen und deutschen
Seite, was den Aufwand für eine Zulassung betrifft, zu
unterschiedlich. Vor dem Hintergrund war die Grundsatzentscheidung richtig, zuerst einen Prototypen und
nicht gleich die ganze Serie zu bestellen.
Kollege Brandl, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Keul?
Ich lasse die Frage zu.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben gerade gesagt, die Fehler lägen viele Jahre zurück und reichten bis
in die rot-grüne Regierungszeit hinein.
({0})
Können Sie mir erklären, wie Fehler aus einem Vertrag,
der im Januar 2007 unterschrieben wurde, und Fehler
aus einem Projekt, das erstmals im Januar 2007 beschlossen worden ist und für dessen Durchführung erst
dann Geld in die Hand genommen worden ist, schon in
der rot-grünen Regierungszeit angelegt gewesen sein
sollen?
({1})
Der Beginn des ganzen Projekts geht auf Rudolf
Scharping im Jahr 2001 zurück. Damals hatten die Amerikaner die Vorstellung, dass man dieses System, das
eine amerikanische Zulassung hatte, auch in Deutschland zulassen könne, die Zulassung quasi einfach umstempeln könne. Die deutschen Politiker, auch die verantwortlichen Politiker der SPD, hatten die Vorstellung:
Die Drohne fliegt im amerikanischen Luftraum. Wir
können sie auch bei uns ganz leicht in den Luftraum integrieren.
Das hat dazu geführt, dass man im Laufe der Zeit, bis
der Vertrag 2007 geschlossen worden ist, von den ursprünglichen Traumvorstellungen von Rot-Grün abgerückt ist
({0})
- ja, Sie werden es im Untersuchungsausschuss sehen und in dem Vertrag zumindest die Integration in den
Luftraum nicht mehr vorgesehen hat. Die Frage ist beantwortet.
({1})
Ich möchte Ihnen auch noch einmal die Dimension
der Frage, über die wir hier reden, darstellen. Noch nie
wurde in Deutschland ein unbemanntes Flugzeug in dieser Größe zugelassen. Zu Zeiten des Vertrages gab es
keine Vorschriften dafür, und es gab auch keine Erfahrung. Dank des Projekts Euro Hawk haben wir jetzt die
Vorschriften und die Erfahrungen, die uns bei den anstehenden Projekten helfen. Das ist ein unendlich wertvoller Schatz. Denn wir müssen diese Aufgabe schultern.
({2})
Wenn wir es nicht schaffen, unbemannte Flugzeuge in
Deutschland zuzulassen - das sollte auch die SPD interessieren; dabei geht es nämlich auch um Arbeitsplätze -,
dann hat die zivile Luftfahrtindustrie in Deutschland
keine Chance mehr.
Meine Damen und Herren, ich habe zwei Befürchtungen, was von dieser Debatte, die Sie anzünden, ausgehen
kann. Die erste Befürchtung ist: Ich will keine Bundeswehr, in der Probleme dadurch gelöst werden, dass sie
an die nächsthöhere Stelle weitergemeldet werden. Jede
Ebene muss die ihr zugewiesene Verantwortung übernehmen.
({3})
Genau das war in dem Projekt auch der Fall. Dafür zuständig waren die Staatssekretäre.
({4})
Die Entscheidungen, die sie getroffen haben, waren sowohl inhaltlich als auch vom Zeitpunkt her richtig.
Der zweite Punkt ist: Ich will keine Bundeswehr, in
der Rüstungsvorhaben bei Bekanntwerden von Problemen sofort abgebrochen werden. Dann hätten wir nämlich heute kein modernes Gerät, zumindest nicht aus
Deutschland.
Meine lieben Damen und Herren, bei Hochtechnologieprojekten gibt es immer und in jeder Branche Risiken
und Rückschläge. Fragen Sie die Automobilindustrie,
wie viele entwickelte Prototypen nicht in Serie gegangen
sind!
({5})
Deswegen entwickelt man schließlich Prototypen. Oder
konkreter: Fragen Sie, wie viele Projekte in der Automobilindustrie, in denen ein Auto ohne Fahrer einparken
soll, an Zulassungsfragen gescheitert sind!
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass wir in zehn Jahren Autos
haben werden, die genau das können, genauso wie wir in
20 Jahren unbemannte Flugzeuge haben werden, die
ohne Pilot am Flugverkehr teilnehmen können.
({7})
Die Frage ist nur, wo sie hergestellt werden und wer sie
herstellt. Wer nicht den Mut hat, Neues auszuprobieren,
der kommt nicht voran. Man muss nur aus Rückschlägen
lernen und darf bei neuen Projekten nicht wieder die
gleichen Fehler machen.
Genau darum werden wir uns im Untersuchungsausschuss kümmern: dass die Fehler, die ja zugegebenermaßen in diesem Projekt mit gemacht worden sind, sich bei
zukünftigen Projekten nicht wiederholen.
({8})
Wir wollen das machen, damit wir mit der Bundeswehr
und auch mit der Luftfahrt in Deutschland weiter vorankommen.
Danke, meine Damen und Herren.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13898. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({0})
Vizepräsidentin Petra Pau
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion, der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Fraktion Die Linke
abgelehnt.
({1})
Zusatzpunkt 6. Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13899 mit dem
Titel „Missbilligung der Amtsführung von Bundesminister de Maizière“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Unionsfraktion und - ({2})
Das Präsidium ist nicht einig.
({3})
- Ich bitte, von allen Unterstellungen gegen das Tagungspräsidium, egal wer hier vorne sitzt, abzusehen.
({4})
Die Präsidentin macht jetzt das, was in der Geschäftsordnung vorgesehen ist: Sie wiederholt die Abstimmung
und wird feststellen, ob das Präsidium einmütig das
Abstimmungsergebnis feststellen kann oder nicht. Ich
wiederhole die Abstimmung: Wer stimmt für diesen
Antrag? Es geht um die Drucksache 17/13899. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({5})
Ich kann nichts daran ändern, dass im Präsidium eine
Schriftführerin das Abstimmungsverhältnis nicht so wie
die anderen sieht.
({6})
Daraus folgt, dass wir vorgehen, wie es in der Geschäftsordnung vorgesehen ist.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in § 51 Abs. 1 unserer Geschäftsordnung heißt es:
Ist der Sitzungsvorstand über das Ergebnis der Abstimmung nicht einig, so wird die Gegenprobe gemacht. Bleibt er auch nach ihr uneinig, so werden
die Stimmen gezählt. Auf Anordnung des Sitzungsvorstandes erfolgt die Zählung gemäß Absatz 2.
Abs. 2 wiederum besagt, dass ich Sie jetzt allesamt
auffordern muss, den Plenarsaal zu verlassen. Wenn dies
geschehen ist, werden wir per Hammelsprung das
Abstimmungsergebnis zum Antrag auf Missbilligung
der Amtsführung von Bundesminister de Maizière feststellen.
({8})
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu
verlassen.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, nach
Erledigung der notwendigen Geschäfte hier den Saal zu
verlassen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin durch die
Geschäftsordnung gehalten, Sie aufzufordern, den Saal
zu verlassen, damit wir die Sachabstimmung durchführen können und das Abstimmungsergebnis festhalten
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich höre gerade,
eine Voraussetzung, um die Abstimmung durchführen zu
können, ist schon erfüllt. Die Schriftführerinnen und
Schriftführer haben ihre Plätze an den Abstimmungstüren eingenommen. Nun bitte ich die Kolleginnen und
Kollegen, die noch etwas im Saal zu erledigen hatten,
dies zu beenden und den Saal zu verlassen, damit wir mit
der Abstimmung beginnen können.
Ich bitte um ein Zeichen, ob alle Kolleginnen und
Kollegen den Saal inzwischen verlassen haben. - Dann
Vizepräsidentin Petra Pau
erkläre ich noch einmal, was wir jetzt tun. Wir stimmen
ab über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13899 mit dem Titel „Missbilligung der Amtsführung von Bundesminister de Maizière“.
Ich eröffne die Abstimmung und bitte die Kolleginnen und Kollegen, den Saal zu betreten.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die den Saal
schon betreten haben, uns den Blick auf die Abstimmungstüren freizumachen, damit wir sehen, ob alle Kolleginnen und Kollegen ungehindert abstimmen können.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie erstens,
den Saal wieder zu betreten; zweitens bitte ich diejenigen, die dies vollbracht haben, uns bitte den Blick auf
die Abstimmungstüren freizumachen.
Ich bitte um ein Zeichen, ob noch Kolleginnen und
Kollegen vor dem Saal sind, die an der Abstimmung teilnehmen wollen. - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die noch in der Lobby sind, sich zu den Abstimmungstüren zu begeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, uns
den Blick auf die Türen freizumachen, damit wir feststellen können, ob noch Kolleginnen und Kollegen gehindert werden, an dieser Abstimmung teilzunehmen.
Ich bitte um ein Zeichen, ob ich die Abstimmung
schließen kann. - Dann bitte ich die Schriftführerinnen
und Schriftsteller
({12})
- Entschuldigung -, die Schriftführerinnen und Schriftführer, insofern schriftstellerisch tätig zu werden, als sie
mir jetzt bitte das Abstimmungsergebnis kurz und knapp
mitteilen.
({13})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um
Aufmerksamkeit für das Ergebnis der Abstimmung über
die Drucksache 17/13899. 307 Kolleginnen und Kollegen haben mit Nein gestimmt, 233 Kolleginnen und Kollegen haben dem Antrag zugestimmt, es gab keine Enthaltungen. Der Antrag ist damit abgelehnt.
({14})
Ich bitte jetzt alle Kolleginnen und Kollegen, die an
der Debatte weiter teilnehmen wollen und können, sich
zu setzen. Diejenigen, die uns leider verlassen müssen,
({15})
bitte ich, es uns zu ermöglichen, mit den Beratungen
fortzufahren.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({16}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({17})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({18}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({19}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 17/13661, 17/13955 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderUta ZapfMarina SchusterWolfgang GehrckeMarieluise Beck ({20})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({21})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13956 Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian Kindler
Ich bitte diejenigen, die jetzt nicht an den Beratungen
teilnehmen können, sicherzustellen, dass diejenigen, die
hierbleiben wollen, hören und verstehen können, was
hier verhandelt wird.
Während offensichtlich noch umfangreiche Umgruppierungen im Parlament notwendig sind, informiere ich
Sie schon einmal darüber, dass zu diesem Tagesordnungspunkt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vorliegt und wir über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses später
namentlich abstimmen werden.
Für die nun folgende Aussprache ist eine halbe
Stunde vorgesehen. - Ich gehe davon aus, dass die hier
noch herrschende Lärmkulisse keinen Widerspruch zu
dieser Verabredung zum Ausdruck bringt, sodass so beschlossen ist.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({22})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich bin sehr froh, dass erstmals eine Debatte
über das Kosovo eine so große Zuhörerschaft erreicht.
({0})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kolleginnen
und Kollegen der Opposition, die das durch ihr demokratietheoretisches Verfahren heute möglich gemacht haben.
({1})
Von den internationalen Engagements im Kosovo,
von den drei im Kosovo in den letzten zehn Jahren stattgefundenen internationalen Einsätzen, den Operationen
UNMIK, EULEX und KFOR, ist nach meinem Dafürhalten KFOR mit Abstand die erfolgreichste Operation
gewesen.
({2})
Ich persönlich verhehle nicht, dass ich mit dem Ergebnis der jahrelangen Bemühungen von UNMIK nicht
zufrieden bin. Ich glaube, auch bei der Wirksamkeit von
EULEX gibt es noch Raum für Verbesserungen. Das
KFOR-Mandat hat von Anfang an einen ganz wichtigen,
unverzichtbaren Beitrag zur Stabilisierung in sehr unruhigen Zeiten geliefert, zur Schaffung von Frieden, zur
Stabilisierung der Region. Dafür sollten wir allen Soldatinnen und Soldaten aller Nationen sehr dankbar sein.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte das zum Anlass nehmen, um der zum Teil in der Öffentlichkeit und
auch von Teilen des Parlaments wiederholt vorgebrachten Beschuldigung deutlich entgegenzutreten, Deutschland würde seinen internationalen Verpflichtungen unzureichend nachkommen. Diese Beschuldigung, die zum
Teil auch von einigen prominenten Exgenerälen in der
Öffentlichkeit immer wieder verbreitet wird, ist eindeutig falsch, und ich weise sie, ich glaube, für alle Fraktionen und für alle Koalitionen, die hier Verantwortung getragen haben, nachdrücklich zurück.
({4})
Gerade der Einsatz im Kosovo, bei dem Deutschland
bis zum heutigen Tage die - so lautet der Terminus technicus - Lead Nation, die Führungsnation, gewesen ist,
zeigt, dass wir bereit sind, dort, wo es notwendig ist, unseren Einsatz zu bringen.
Nun findet die Verlängerung des Kosovo-Mandates,
für die meine Fraktion plädiert, natürlich in einem politisch interessanten, spektakulären Umfeld statt, nämlich
im Umfeld der Fragestellung, ob es denn sinnvoll ist,
dass die Europäische Union Serbien ermöglicht, Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen. Hierzu
wird die Europäische Union Ende dieses Monats eine
grundsätzliche Entscheidung fällen.
Ich bin sehr dafür, dass wir sehr genau überprüfen, inwieweit die beiden Parteien der Vereinbarung - Kosovo
und Serbien - ihre Verpflichtungen eingehalten haben
und inwieweit speziell die Implementierungsvereinbarung vom 25. Mai 2013 umgesetzt wird. Darin gibt es
Zeitlinien für Maßnahmen, die bis Ende Mai, bis Mitte
Juni, bis Ende Juni, bis Mitte Juli durchgeführt werden
sollen. Das sollten wir sehr genau beobachten.
Aber ich sage Ihnen auch: Die Tatsache, dass sich
diese beiden zerstrittenen, verfeindeten Parteien am
19. April 2013 auf ein grundsätzliches Übereinkommen
geeinigt haben, ist - ich sage das mit Bedacht - von historischer Bedeutung.
({5})
Erstmals hat Serbien damit anerkannt: Jawohl, es gibt
ein Staatswesen Kosovo. - Das ist ein bedeutsamer
Schritt für Serbien gewesen.
Auch ich bin dafür, dass wir Serbien und Kosovo hinsichtlich ihrer Verpflichtungen beim Wort nehmen. Aber
- das sage ich sehr deutlich - ich plädiere zugleich dafür,
dass die Grundsatzentscheidung über die Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen jetzt Ende Juni getroffen wird.
Unser gemeinsames Verständnis sollte sein, dass wir
später überprüfen, ob die Implementierungsvereinbarung eingehalten wird. Das wird dann durch die Europäische Kommission oder den Rat der Außenminister,
wahrscheinlich im Dezember, überprüft. Wir sollten die
Grundsatzentscheidung aber nicht noch einmal aufschieben. Sie steht jetzt an. Wir werden diese Entscheidung
im Lichte der Stellungnahme der EU-Kommission fällen, die Ende Juni kommen wird. Ich bin guten Mutes,
dass wir dann zustimmen können.
Kollege Stinner, verzeihen Sie, ich unterbreche Sie
ungern - ich habe natürlich auch die Uhr angehalten -,
aber all meine Appelle, die notwendige Aufmerksamkeit
hier herzustellen und sicherlich notwendige Gespräche
nach draußen zu verlagern, haben bisher offensichtlich
keine Früchte getragen.
({0})
Ich bitte diejenigen, die sich über den Saal verteilt offensichtlich in Gesprächsgruppen zusammengefunden haben, diese Gespräche nach außen zu verlagern und die
notwendige Aufmerksamkeit für alle Rednerinnen und
Redner hier herzustellen.
({1})
Frau Präsidentin, ich bedanke mich ganz herzlich für
diese Intervention. Die Wogen schlagen heute hoch. Ihre Intervention veranlasst mich zu dem Wunsch, einmal in meinem Leben für fünf Minuten Bundestagspräsident zu sein. In einer solchen Situation würde ich die Sitzung unterbrechen und warten, bis Ruhe eingekehrt ist.
Das würde, glaube ich, disziplinierendere Wirkung haben als alle Ermahnungen. Aber das ist ein bescheidener
Beitrag von mir. Ich werde bedauerlicherweise nie in die
Position kommen. So ist das Leben.
({0})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch einmal sehr deutlich sagen, welches Signal
für Serbien, für die Region, aber auch darüber hinaus
von der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit diesem wichtigen Land auf dem Balkan ausgeht. Das dürfen und sollten wir nicht unterschätzen. Natürlich hat die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen Sogfunktion und
Beispielfunktion. Völlig klar ist, dass einige andere Länder in der Region - ich denke an Bosnien-Herzegowina
und auch an Mazedonien - natürlich wissen, dass sie
eventuell zurückfallen, wenn sie sich nicht entsprechend
anstrengen. Das will natürlich niemand. Ich hoffe, dass
die Beitrittsverhandlungen mit Serbien dazu führen, dass
auch in diesen Ländern, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina, endlich ein Veränderungsdruck, ein Reformdruck auf die Politik ausgeübt wird.
Von daher hat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Serbien wesentliche Auswirkungen politischer
Art über Serbien hinaus auf ganz Europa. Deshalb bin
ich guten Mutes, dass die Kommission uns Ende des
Monats einen Bericht vorlegen wird, der uns dazu bringen wird, diesen wichtigen Schritt der Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen mit Serbien zu gehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Susanne Kastner für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin froh, dass die Emotionen jetzt wieder einigermaßen heruntergefahren sind, behandeln wir doch heute ein
Thema, bei dem sehr viele Gemeinsamkeiten vorherrschen. Jedermann und jede Frau von uns weiß, dass die
deutsche Beteiligung am KFOR-Einsatz der NATO ein
Erfolg ist. Unsere Soldatinnen und Soldaten leisten dort
seit vielen Jahren eine hervorragende Arbeit und genießen ein hohes Ansehen und Vertrauen in der Region.
An KFOR sind insgesamt 31 Nationen mit rund 5 000
Soldaten beteiligt. Deutschland ist dabei der größte
Truppensteller. Unsere Soldatinnen und Soldaten tragen
maßgeblich zur Stabilität in der Region bei und haben
zudem seit drei Jahren die Führungsverantwortung.
Insgesamt betrachtet ist die Lage im Kosovo zwischenzeitlich recht stabil. Allerdings gibt es im Norden
noch immer Unwägbarkeiten und Konfliktpotenzial zwischen den Kosovaren und der serbischen Minderheit. So
sperrig der Titel „Erstes Abkommen über die Prinzipien
über die Normalisierung der Beziehungen“ auch klingen
mag: Das Abkommen, welches im April zwischen dem
Kosovo und Serbien geschlossen wurde, ist in der Tat
ein historisches Abkommen. Auf dem Weg zu einem
friedlichen Miteinander wurde damit ein wichtiger Meilenstein erreicht. Nun gilt es, dieses Abkommen auch
konsequent umzusetzen.
Die Präsenz von internationalen KFOR-Truppen ist
im Sinne des Konzepts der drei Sicherheitsreihen jedoch
weiterhin erforderlich. Bislang sind die örtlichen Sicherheitskräfte noch nicht in der Lage, die Verantwortung für
die Sicherheit aller Bevölkerungsgruppen vollumfänglich zu übernehmen. EULEX als zweite Sicherheitsreihe
schafft es ebenfalls nicht, die Lage zu kontrollieren. Daher werden unsere Soldatinnen und Soldaten nach wie
vor gebraucht.
Mit einer Mandatsobergrenze von aktuell 1 850 Soldatinnen und Soldaten - derzeit werden effektiv 806 eingesetzt - haben wir den notwendigen Spielraum, um bei
Bedarf mit dem Bataillon der operativen Reserve in Krisensituationen umgehend reagieren zu können.
Fakt ist allerdings, dass der Einsatz keine Dauerlösung sein darf. Das erste KFOR-Mandat der Bundeswehr haben wir schließlich bereits im Jahre 1999 verabschiedet. Auch heute, fast auf den Tag genau 14 Jahre
später, ist der Auftrag leider noch nicht abgeschlossen.
Kaum einer hätte damals gedacht, dass sich die Bundeswehr im Kosovo so lange engagieren würde. Wir müssen
deshalb alles daransetzen, den politischen Druck auf die
kosovarische Regierung zu erhöhen, damit die Ausbildung der Sicherheitskräfte vorangetrieben wird. Unser
Ziel muss es sein, die Truppenstärke kontinuierlich zurückzufahren, um ein deutliches Zeichen zu setzen, dass
der KFOR-Einsatz eben keine Selbstverständlichkeit ist.
Seit Beginn des Einsatzes im Jahre 1999 haben bislang 100 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten im Kosovo ihren Dienst geleistet. Das ist eine extrem hohe
Zahl. Ich möchte mich daher im Namen des Deutschen
Bundestages ganz herzlich bei unseren Bundeswehrkontingenten bedanken, die zur Stabilisierung des Kosovo
beigetragen haben.
({0})
Angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen
habe ich die Hoffnung, dass die Verantwortung in einigen Jahren komplett in kosovarische Hände gelegt werden kann. Ich denke, wir sind auf einem guten Wege, uns
Stück für Stück verzichtbar zu machen. Der Tag wird
kommen, an dem die KFOR-Truppen getrost abziehen
können. Doch bis es tatsächlich so weit ist, bitte ich Sie
um die Verlängerung des KFOR-Mandates, damit die
gute Arbeit vor Ort fortgesetzt und zum Ende gebracht
werden kann.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies war nach
24 Jahren heute meine letzte Plenarrede. Es waren
24 spannende Jahre, in denen ich als Abgeordnete, tourismuspolitische Sprecherin, Parlamentarische Geschäftsführerin, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages,
Vorsitzende der Deutsch-Rumänischen ParlamentarierDr. h. c. Susanne Kastner
gruppe und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses
im Bundestag tätig sein durfte. Seit gestern ist zudem gewiss, dass ich diese Legislaturperiode so beenden werde,
wie ich sie begonnen habe: mit einem neuen Untersuchungsausschuss.
({2})
Sehr geehrte Damen und Herren, als Vorsitzende des
Verteidigungsausschusses möchte ich ein herzliches
Dankeschön an unsere Soldatinnen und Soldaten richten.
Vor wenigen Tagen wurde die Sonderbriefmarke „Im
Einsatz für Deutschland“ vorgestellt.
({3})
Genau diesen Einsatz für Deutschland sollten wir nicht
nur stillschweigend, sondern auch anerkennend zur
Kenntnis nehmen.
Unsere Demokratie ist ein schützenswertes Gut, für
das sich unsere Soldatinnen und Soldaten tagtäglich und
vielfältig einsetzen. Sei es im internationalen Einsatz in
Afghanistan, im Kosovo, am Horn von Afrika oder aktuell bei der Bekämpfung des gewaltigen Hochwassers:
Unsere Bundeswehr leistet großartige Arbeit. Ich bin
stolz auf unsere Parlamentsarmee mit ihren unglaublich
engagierten Soldatinnen und Soldaten.
({4})
Den Soldatenfamilien gilt mein besonderer Dank. Ich
weiß um die alltäglichen Probleme, Sorgen und Nöte.
Bei jedem Einsatz sind die Angehörigen der Soldaten
ebenfalls direkt betroffen und müssen so manche Belastung ertragen.
Gerade das Zusammentreffen mit Hinterbliebenen hat
mich als Ausschussvorsitzende besonders bewegt. Ich
baue fest darauf, dass die in dieser Legislaturperiode begonnene Arbeit zum würdigen Gedenken an Soldatinnen
und Soldaten in der nächsten Legislaturperiode zielstrebig fortgesetzt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Mitglied des Deutschen Bundestages zu sein, war ein arbeitsintensives und
verantwortungsvolles Amt. Ich möchte die zurückliegenden Jahre auf keinen Fall missen. Ich bin stolz und
dankbar, dass ich über all diese Jahre hinweg die Geschicke unserer parlamentarischen Demokratie ein Stück
weit mitgestalten durfte. Politik habe ich immer als
Dienstleistung an den Bürgerinnen und Bürgern empfunden. Mein Wahlkreis sorgte stets für die notwendige Bodenhaftung und das direkte Feedback. Das ist wichtig,
auch für unser Amt.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mich ebenfalls beim Sekretariat des Verteidigungsausschusses und
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung und meines Büros recht herzlich zu bedanken. Sie haben nie auf die Uhr geschaut. Sie waren immer da, wenn sie gebraucht wurden. Das alles ist nicht
selbstverständlich. Gerade in dieser Zeit, in der ein neuer
Untersuchungsausschuss ansteht, möchte ich diesem
Team von ganzem Herzen für den Einsatz, das Engagement und die gute Zusammenarbeit danken.
({5})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, in wenigen
Wochen endet die 17. Legislaturperiode. Zum Wohle unserer parlamentarischen Demokratie wünsche ich Ihnen
allen einen bewegten, aber fairen Wahlkampf und vor allen Dingen uns allen eine rege Wahlbeteiligung.
Vielen Dank.
({6})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Peter Beyer
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Frieden im Kosovo ist nicht selbstverständlich. Er ist ein fragiles
Pflänzchen, das es zu gießen gilt. Doch ohne Rankhilfe,
nämlich die Soldaten im Einsatz vor Ort, die KFORMission der Vereinten Nationen, wären die Sicherheit
nicht gewährleistet und die mit dem Frieden verbundenen Hoffnungen nicht realistisch. Nur mithilfe der internationalen Schutztruppe war es in der Vergangenheit
möglich, größeres Blutvergießen im Kosovo zu verhindern. Für ihren vorbildlichen Einsatz für die Sicherheit
und die Stabilität in der gesamten Region gebührt unser
aller Dank den deutschen Soldatinnen und Soldaten im
KFOR-Einsatz und in anderen Auslandsverwendungen.
({0})
Die geteilte Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo
hat in der Vergangenheit immer wieder ethnisch motivierte Gewalt erlitten. Seit Jahresbeginn gab es dort über
30 Anschläge mit Handgranaten. Immer noch wird die
EU-Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX blockiert. Nach
wie vor ist ihre freie Bewegung in dem gebotenen Ausmaß nicht möglich.
Im März dieses Jahres bin ich zusammen mit einigen
Kollegen in Belgrad und sodann auch in Pristina gewesen. Dort haben wir uns mit dem EULEX-Chef, Herrn
Borchardt, zusammengesetzt und einige Dinge besprochen. Ein Beispiel ist mir sehr in Erinnerung geblieben:
Er erzählte uns davon, dass von zehn Versuchen, die kosovarischen Zöllner mit dem Auto statt mit dem Hubschrauber - eine sehr viel kostspieligere Variante - an
die Grenzübergänge zu bringen, acht fehlgeschlagen
seien. Aufgrund dieser Erfahrung sei man dann dazu
übergegangen, diese Versuche einzustellen.
Verehrte Kollegen, dies alles sind Gegebenheiten, die
die Freude über die doch vielen positiven Entwicklungen
in der Region, die wir durchaus zu verzeichnen haben,
ebenso trüben wie die Äußerungen des serbischen Premierministers Dacic. Er äußerte sich dahin gehend, dass
nur ein positiver Avis auf dem EU-Gipfel Ende Juni für
Serbien akzeptabel sei. Gäbe es kein grünes Licht für die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, dann würde es
auch keine Umsetzung der Vereinbarungen mit dem Kosovo geben. Und er legte noch eine Schippe drauf: Das
Kosovo sei nach wie vor eine abtrünnige Provinz von
Serbien. An dieser Position ändere sich auch nichts
durch die jüngsten Abkommen vom 19. April und
26. Mai dieses Jahres. Und selbst wenn es ein konkretes
Datum gäbe, würde man das Kosovo nicht gewissermaßen im Tausch als unabhängigen, souveränen Staat anerkennen.
Verehrte Kollegen, diese vermutlich innenpolitisch
motivierte Rhetorik muss endlich aufhören. Sie ist unerträglich, sie ist überflüssig, und sie ist im Übrigen nicht
zielführend. Sie gießt Wasser auf die Mühlen derjenigen,
die ohnehin an einer Befriedung und an einer Annäherung der Region an die EU kein Interesse haben und insbesondere Gegenspieler der Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo sind. Jedoch,
verehrte Kollegen, die EU ist kein Basar, auf dem wir
Tauschhandel betreiben. Das muss auch der serbischen
Führung ein für alle Mal klargemacht werden.
Erst vor zwei Tagen hatte ich hier im Hohen Hause
die Gelegenheit, eine Abordnung von Kollegen aus dem
serbischen Parlament zu begrüßen und mit ihnen über
Fragen zu diskutieren. Mir wurde die Frage gestellt: Was
können wir als serbisches Parlament tun, damit es grünes
Licht gibt, damit ein konkretes Datum für die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen genannt wird? Mit wem
müssen wir sprechen? - Die einzig richtige Antwort darauf kann nur lauten: Es muss eine Umsetzung der
Selbstverpflichtungen aus den beiden vorhin von mir
schon genannten Abkommen vom April und Mai dieses
Jahres geben. Das können die beiden Länder nur selbst
machen. Wer der EU als Mitglied beitreten will, der
muss beitragen.
Schon jetzt allerdings - das möchte ich nicht verhehlen - hängt Serbien und hängen die Verhandlungsparteien dem eigenen Plan der Umsetzung der ersten
Vereinbarung von Prinzipien zur Regelung der Normalisierung der Beziehungen hinterher. Ich nenne aus einer
Fülle von Punkten nur zwei Beispiele:
Erstens. Die Einrichtung eines Managementteams,
das für die Errichtung des kosovarisch-serbischen Gemeindeverbandes zuständig ist, sollte bereits bis Ende
Mai dieses Jahres erfolgt sein.
Zweitens. Auch die Herstellung der vollständigen
Transparenz über alle Zahlungsströme aus Belgrad in die
Einrichtungen im Nordkosovo sollte bis Ende Mai umgesetzt sein; das ist aber noch nicht geschehen. Als
nächstes Datum wird jetzt, wie man hört, der 20. Juni genannt. Allein, wir müssen sehr genau hinschauen, ob der
Termin eingehalten wird.
Deshalb sage ich: Die Bundesregierung sollte sich auf
dem EU-Gipfel am 27./28. Juni nur grundsätzlich und
frühestens zum Jahr 2014 für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Serbien aussprechen. Zudem darf ein
konkretes Datum für den Beginn der Verhandlungen erst
dann festgelegt werden, wenn alle Verpflichtungen aus
der Umsetzungsvereinbarung vom 26. Mai nachweislich, vollständig und nachhaltig erfüllt sind. Dazu gehören insbesondere erstens die vollständige Auflösung der
illegalen Parallelstrukturen im Sicherheits- und Justizbereich im Nordkosovo und stattdessen die Errichtung
neuer Strukturen unter kosovarischer Führung, zweitens
die Einrichtung eines kosovarisch-serbischen Gemeindeverbandes und drittens die Abhaltung freier und fairer
Kommunalwahlen im ganzen Kosovo.
Das alles kann aber nicht davon ablenken, dass endlich ein gesamteuropäisches Konzept für die gesamte
Westbalkanregion entwickelt werden muss. Die Europäische Union kann in dieser für die Weiterentwicklung unseres Kontinents so wichtigen Region auch dann nur
glaubwürdig handeln, wenn wir in der Europäischen
Union endlich mit einheitlicher Stimme sprechen.
({1})
Daher appelliere ich an dieser Stelle, wie ich es schon
wiederholt getan habe, noch einmal ausdrücklich an die
fünf EU-Mitgliedsländer, sich endlich zusammenzuraufen und das Kosovo als eigenständigen, souveränen
Staat anzuerkennen. Dieser Schritt ist überfällig, und nur
dann ist die Europäische Union glaubwürdig.
({2})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss
und werbe für die Zustimmung zur Verlängerung des
KFOR-Mandats.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wieder
einmal soll es heute hier im Bundestag eine weitere Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Kosovo geben.
Seit nunmehr 14 Jahren stehen deutsche Truppen auf
dem Südbalkan. Selbst die Bundesregierung spricht in
ihrem Antrag von jährlich 60 Millionen Euro Zusatzkosten jenseits der Kosten für die Bereitstellung der
NATO-Infrastruktur für diese Truppenstationierung.
Wenn es eines Belegs dafür bedurfte, mit welchem
Ergebnis für die Menschen vor Ort die jahrelange Truppenstationierung verknüpft ist, dann liegt er jetzt vor;
denn er ist aus den Anträgen der Koalition und der Grünen selbst herauszulesen, die zu Recht die schlimme soziale, aber auch die fatale rechtsstaatliche Situation im
Kosovo und vor allem auch die miserable Situation der
Minderheiten, wie der Roma und der Serben, beschreiben. Gerade die jüngste Annährung zwischen der serbischen Regierung und der Kosovo-Administration zeigt
aber: Es muss hier um politische Lösungen gehen. Eine
Verewigung militärischer Präsenz, wie sie sich im
Kosovo nach 14 Jahren ja abzeichnet, wird lediglich zu
einer weiteren Verschlechterung der Situation der Menschen vor Ort führen.
({0})
Ich finde es wirklich bemerkenswert, dass die Koalition mit ihrer harten Haltung gegenüber der serbischen
Regierung und der Weigerung, die Beitrittsverhandlungen zu eröffnen, jetzt auch noch diese Annäherung zu
torpedieren droht.
({1})
Erdogan lässt die Proteste in der Türkei niederknüppeln
und wird von Ihnen für seine Reformbemühungen mit
einem Vorantreiben des Beitrittsprozesses belohnt. Serbien aber wollen Sie offenbar regelrecht demütigen.
({2})
Statt zu unterstützen, satteln Sie immer neue Forderungen drauf.
({3})
Auch hier werden Sie von den Grünen überholt. Aber
das wundert ja immer weniger Menschen in diesem
Land - zu Recht, wie ich sagen muss.
({4})
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass die grüne
Fraktion bei einem Auslandseinsatz der Bundeswehr
einmal mit Nein gestimmt hat.
({5})
Es scheint, als wirkten bei einer Mehrheit hier in diesem Haus noch immer antiserbische Feindbilder.
({6})
Während der Ruf nach Minderheitenrechten für albanischstämmige Kosovaren oder Bosniaken auf dem Balkan für Sie im Sinne einer ethnischen Parzellierung Leitmotiv Ihrer Außenpolitik war, meint man, die Serben mit
fortgesetzter militärischer Präsenz vor Ort in Schach halten zu müssen. Sie haben mit dieser Außenpolitik die
Büchse der Pandora mit geöffnet.
({7})
Sie müssen sich diese Frage einfach gefallen lassen: Mit
welchem Recht postulieren Sie ein Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren, das Sie den Serben im Norden
Kosovos einfach verweigern? Diese Frage müssen Sie
hier erst einmal beantworten.
({8})
Meine Damen und Herren, meine große Sorge ist,
dass die Bundeswehr in Zukunft noch direkter zur Unterdrückung der serbischen Minderheit im Kosovo in
Stellung gebracht wird.
({9})
Dass sie im Gegenteil eben nicht fähig oder willens
ist und war, Serben im Kosovo zu schützen, hat sie mit
ihrer unrühmlichen Rolle bei den Pogromen gegen die
Minderheiten im Kosovo 2004 bereits bewiesen.
({10})
Ich finde, dafür und für diesen Bundeswehreinsatz insgesamt sind nicht nur die jährlichen 60 Millionen Euro
Zusatzkosten viel zu viel, sondern dafür ist schon jeder
einzelne Euro zu viel.
({11})
Wir brauchen eine andere Balkan-Politik. Ziehen Sie
die Bundeswehr ab und unterstützen Sie endlich vorbehaltlos die politischen Lösungen in der Region! Damit
wäre den Menschen auf dem Balkan, aber auch den
Menschen hier mehr geholfen.
Vielen Dank.
({12})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Marieluise Beck das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist hier ja fast wie Dinner for One,
({0})
wenn ich nun wieder die Freude habe, auf die Linksfraktion zu antworten. Ich tue das aber noch einmal, weil es
wichtig für uns alle ist. In der Tat haben sich auch Grüne
überaus schwergetan, Militäreinsätzen zuzustimmen.
({1})
Wir haben da eine lange Geschichte und schwierige
Kämpfe hinter uns. Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es gerechtfertigt war, dass sich andere
Länder militärisch gerade gegen die Aggressionen, die
im Ersten und Zweiten Weltkrieg von deutschem Boden
ausgingen, gewehrt haben und dass die Vereinten Nationen daraus die ethische Verpflichtung abgeleitet haben,
dass, wenn es wieder solche Aggressionen gibt, die
Marieluise Beck ({2})
Opfer nach Möglichkeit zu schützen sind. Dass wir im
Rahmen der von den Vereinten Nationen geführten Einsätze mit dabei sind,
({3})
ist tatsächlich eine Lehre aus dem vergangenen schrecklichen Jahrhundert.
({4})
Es war die Gesellschaft für bedrohte Völker, die uns,
als wir Grüne uns noch weigerten, händeringend gebeten
hat, endlich zusammen mit den UN in Bosnien zu intervenieren, weil dort der Genozid im Gange war. Dass es
so war, wissen wir heute. Aus ebendiesem Grunde ist im
Kosovo Militär eingesetzt worden. Das ist die Realität.
Dieses Militär hat keinen Frieden schaffen können.
So illusionär, zu glauben, dass das gelingen könnte, ist
heute niemand mehr. Wir wissen, dass Militär bestenfalls ein Feuer austreten kann; aber das Austreten des
Feuers ist Voraussetzung für einen politischen Prozess.
Dieser politische Prozess geht jetzt mit einem wunderbaren Schritt in die nächste Etappe,
({5})
nämlich mit einer grundsätzlichen Einigung zwischen
den Regierungen aus Belgrad und Pristina. Sie wollen
gemeinsam den Verhandlungsweg gehen, und sie wollen
gemeinsam den Weg in die Europäische Union suchen.
Dieser Weg wird noch schwierig sein. Es gibt viele Einwände und Fragen, die noch zu stellen sind.
Mich überzeugt eine Beobachtung aus Kroatien, das
ja einen ähnlichen Weg gegangen ist. Dabei handelt es
sich um eine Selbsteinschätzung im Rahmen eines Rückblicks. Die kroatische Präsidentschaft hat geschildert,
dass von Beginn der Verhandlungen an in Kroatien ein
Institutionenaufbau - der Aufbau einer fairen Justiz bzw.
von Rechtsstaatlichkeit, von Institutionen, die Bürgerinnen und Bürgern dienen - stattgefunden hat. Genau das
gab es im Rahmen des Prozesses der Annäherung an die
Europäische Union. Wir wissen, dass sowohl das Kosovo als auch Serbien in diesem Prozess des Institutionenaufbaus noch viel vor sich bzw. zu leisten haben. Der
Weg hin zu der Europäischen Union ist aber offensichtlich der richtige. Deswegen freuen wir uns über diesen
historischen Schritt.
({6})
Zum Schluss möchte ich - vor allen Dingen für meine
Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsausschuss, aber auch für meine Fraktion - der Kollegin
Susanne Kastner noch einmal von Herzen danken. Sie
waren eine hingebungsvolle und von uns allen sehr
respektierte Kollegin, die immer fair gewesen ist. Solche
Parlamentarierinnen tun uns allen hier im Hause gut. Ich
danke Ihnen sehr und wünsche Ihnen alles Gute für die
kommenden Jahre.
({7})
Das Wort hat der Kollege Michael Brand für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fast genau auf den Tag vor 14 Jahren rückte die NATO
in das Kosovo ein. Damit wurde ein mörderischer Krieg
beendet. In diesen 14 Jahren seit 1999 wurde viel erreicht; aber bei weitem nicht alle Probleme wurden gelöst. Bis heute gibt es offene Wunden, Spannungen und
schwelende Konflikte.
Die heute vorgesehene Verlängerung des KFORMandates findet in einer angespannten Lage statt.
Marieluise Beck hat recht: Wahr ist, die KFOR - und damit auch die Bundeswehr als größte Truppe der KFOR kann nicht die Kohlen aus dem Feuer holen, die politisch
verursacht wurden. Das muss die Politik tun.
Die EU feiert ein derzeit stockendes Implementierungsabkommen - aus meiner Sicht verfrüht - als historisch. Dieses Abkommen ist dabei schon eine Art Wiederauflage. Schon lange sollte umgesetzt sein, was
mithilfe der Bundeskanzlerin beim EU-Gipfel im Herbst
2011 angestoßen wurde, nämlich die echte Normalisierung des Verhältnisses zwischen Belgrad und Pristina.
Ich will diese Gelegenheit nutzen, heute unserer Bundeskanzlerin dafür zu danken, dass sie im Herbst 2011 mit
ihrer starken Haltung dafür gesorgt hat, dass in den Prozess der Annäherung zwischen Belgrad und Pristina wieder Bewegung gekommen ist.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind für eine
europäische Perspektive des Westbalkans einschließlich
Serbiens. Aber es bleibt völlig klar: Wir dürfen schwelende Konflikte nicht in die EU importieren, vor allem
keine, die wieder zu kriegerischen Konflikten führen
können. Deshalb brauchen wir unumkehrbare politische
Lösungen, die auch vor Ort funktionieren.
Nach all den Kriegen verweigern führende Politiker
in Belgrad bisher die völlige Anerkennung der territorialen Integrität von zwei Nachbarn: der Republik Kosovo
und Bosnien-Herzegowina. Das schafft Spannungen,
weil die Existenz der Staaten nicht sicher ist.
Diese Risiken müssen auch heute in der Debatte offen
angesprochen werden. Wir dürfen uns nicht in die Tasche lügen und sagen, dass alles auf Erfolgskurs wäre.
Machen wir bitte nicht den Fehler, die Lage falsch zu
beurteilen. Serbien hat Kosovo trotz des Abkommens
eben nicht anerkannt. Im Gegenteil: Zugleich mit dem
Werben um den EU-Beitritt bekräftigen in Serbien der
Ministerpräsident, der ehemalige Sprecher von Slobodan
Milosevic, der Präsident, bis vor wenigen Jahren glühender Verfechter von Großserbien, und der starke Mann,
der stellvertretende Ministerpräsident, in ihren öffentlichen Schwüren, Kosovo niemals anzuerkennen.
Herr Dacic, der Ministerpräsident, hat erst in den letzten Tagen klargemacht: keine Anerkennung, sogar für
den Fall des Beitritts. Seine Partei, die Sozialisten, haben
in dieser Woche mit einer Blockade des Abkommens gedroht, wenn man am Ende des Monats kein konkretes
Datum für den Beginn der Beitrittsverhandlungen bekomme. Deswegen will ich klar sagen: Das ist nicht akzeptabel. Für uns gilt auch: Wir sind nicht erpressbar.
({1})
Es gibt hier ein einfaches Beispiel; denken wir an die
Vergabe des EU-Kandidatenstatus für Serbien im Frühjahr 2012. Kurz danach waren wir, gemeinsam mit Frau
Kastner, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses,
„an Gate 1“ im Norden Kosovos, hinter Mitrovica. Die
Soldaten haben uns berichtet, wie das genau abgelaufen
ist: Der serbische Teil hatte in Nord-Mitrovica Barrikaden zur Sperrung der Straße aufgestellt. Dann hat die EU
an Belgrad appelliert, sich doch bitte verhandlungsbereit
zu zeigen. Daraufhin wurden die Barrikaden weggeräumt,
und Serbien wurde der Kandidatenstatus verliehen. Danach wurden die Barrikaden wieder aufgebaut.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus dieser Erfahrung heraus sage ich: Ankündigungen genügen nicht
mehr. Deshalb sollten alle die Zeit nutzen. Wir wollen
sehen, dass es die Beteiligten ernst meinen.
({2})
Ein Serbienkenner der Stiftung Wissenschaft und
Politik, der nicht gerade im Verdacht steht, ein Freund
der Kosovaren zu sein, hat dieser Tage öffentlich und
deutlich gewarnt: Die Implementierung des so gelobten
Abkommens könnte gar zu Gewalt und Toten führen,
weil Radikale im Norden Kosovos gewaltsam gegen
eine Implementierung des Abkommens vorgehen würden. Dabei wären, so die deutliche Warnung, unschuldige Zivilisten, aber auch KFOR-Soldaten in unmittelbarer Gefahr.
Das überrascht überhaupt nicht. Seit Jahren blockieren Radikale, Nationalisten und organisierte Kriminalität
die Bewegungsfreiheit von KFOR und EULEX im Norden Kosovos. Es bleiben angespannte Zeiten zwischen
Serbien und Kosovo. In beiden Ländern sind die politischen Eliten - gelinde ausgedrückt - problematisch. Es
gibt in beiden Ländern - weit verbreitet - Korruption,
organisierte Kriminalität bis hin zu politischen Morden.
Zu oft gibt es keine Verfolgung dieser Straftaten; wenn
ja, dann geht es oft nach politischen Motiven und nicht
nach Prinzipien des Rechtsstaates.
Einen schlechten Ruf - auch das kann man nicht unerwähnt lassen - hat leider auch die EULEX im Kosovo.
Dazu hat sie selbst beigetragen. Dieses Versagen strahlt
inzwischen auch auf die EU ab. Die Autorität der EU vor
Ort sinkt. Die KFOR-Truppen sind in Wahrheit die einzig wirkliche Autorität. Die Risiken sind also massiv,
und sie bleiben massiv, selbst wenn wir sie verschweigen würden. Statt also zum falschen Zeitpunkt und viel
zu früh Hurra zu rufen, müssen wir unumkehrbare Vereinbarungen, vor allem von Serbien, fordern, damit die
Büchse der Pandora eben nicht aufgemacht wird, sondern ein für alle Mal geschlossen bleibt. Es darf keinen
Persilschein geben, sondern wir stellen Bedingungen,
die erfüllbar sein müssen, aber die dann auch erfüllt werden müssen.
({3})
Herr Ahtisaari, Friedensnobelpreisträger und derjenige, der das Abkommen im Kosovo zwischen Serbien
und Kosovo vor einigen Jahren ausgehandelt hat, hat gesagt - ich zitiere -:
Aber wir müssen sehr strikt sein. Wir dürfen niemandem erlauben beizutreten, der nicht alle nötigen
Kriterien erfüllt. Wir sollten hier von früheren EUErweiterungen lernen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Ahtisaari hat
recht.
({4})
Wir tun also gut daran, klare Ansagen zu machen:
Kommt nach Europa; denn ihr gehört zu Europa. Aber
entscheidet euch für Europa! Macht unumkehrbar
Schluss mit der unseligen nationalistischen Vergangenheit! Und zeigt auch, dass es nicht um das Geld der EU
geht, sondern dass die Ideale wichtig sind!
Denn man muss sich vorstellen: Ein fast bankrottes
Land wie Serbien, das bisher über 2 Milliarden Euro an
deutschen Steuergeldern erhalten hat, finanziert in einem
Nachbarland illegale Strukturen mit bis zu 360 Millionen Euro, und zwar jährlich. Niemand darf sich täuschen: Wenn dieser Konfliktherd weiter schwelen wird,
kann er sich noch einmal und mit viel Gewalt entzünden.
Für uns muss gelten: Safety first. Die EU darf den
größten Konfliktherd in Europa nicht länger kleinreden.
Es darf nicht länger sein, dass um des lieben Friedens innerhalb der EU willen faule Kompromisse gemacht werden. Ziel ist ein dauerhafter Frieden auf dem Balkan. Solange der Frieden nicht stabil ist, bleiben KFOR und Co.
in der Verantwortung. Das tun sie seit 14 Jahren.
Kollege Brand, achten Sie bitte auf die Zeit.
Dafür danken wir den Soldatinnen und Soldaten, und
vor allen Dingen wünschen wir unseren Soldaten eine
glückliche Hand, die sichere Rückkehr und Gottes Segen
bei ihrer wichtigen Aufgabe.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 17/13955 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Vizepräsidentin Petra Pau
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 17/13661 anzunehmen. Wir stimmen über
diese Beschlussempfehlung namentlich ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen, und möchte Sie un-
terrichten, dass mir eine Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung des Kollegen Hans-Christian Ströbele
vorliegt. Wir nehmen diese Erklärung entsprechend un-
seren Regeln zu Protokoll.1)
Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an den
vorgesehenen Plätzen? - Das ist der Fall. Ich eröffne die
Abstimmung.
Ich mache darauf aufmerksam, dass wir gleich noch
zu weiteren Abstimmungen kommen.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, welches
seine Stimme nicht abgeben konnte? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Ich bitte diejenigen, die an den weiteren Verhandlun-
gen und insbesondere an den folgenden Abstimmungen
teilnehmen wollen, Platz zu nehmen, damit es dem Präsi-
dium möglich ist, die Abstimmungsergebnisse zweifels-
frei festzustellen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/13962. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke ge-
gen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf:
a) Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Hilfe und Unterstützung für alle Opfer von
häuslicher Gewalt nach dem Gewaltschutzge-
setz
- Drucksachen 17/5069, 17/6685 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Monika Lazar, Ekin
Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Effektive Unterstützung und Schutz bei Ge-
walt gegen Frauen gewährleisten
- Drucksachen 17/12850, 17/13960 -
1) Anlage 2
2) Ergebnis Seite 31375 C
Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerMarlene Rupprecht ({1})-
Sibylle Laurischk-
Cornelia Möhring-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2})
- zu dem Antrag Marlene Rupprecht ({3}), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung
stellen und deren Finanzierung sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Lazar, Ekin Deligöz, Josef Philip Winkler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern
- Drucksachen 17/1409, 17/259, 17/2070 Buchstaben a und c Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker Marlene Rupprecht ({4})Nicole Bracht-Bendt Cornelia Möhring Monika Lazar
Die Fraktion Die Linke hat zu der Antwort auf ihre
Große Anfrage einen Entschließungsantrag eingebracht.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke.
({5})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
durch die Bundesregierung in Auftrag gegebene Lagebericht zur Situation des Schutz- und Hilfesystems bei Gewalt gegen Frauen hat gezeigt, in welch desolatem Zustand sich dieses zum Teil befindet, bezogen sowohl auf
Strukturen als auch auf Ressourcen. In der Anhörung im
Dezember des letzten Jahres wurde dieses Fazit durch
die Vertreterinnen der Schutz- und Hilfseinrichtungen
untermauert.
In der Antwort auf die Große Anfrage zum Gewaltschutzgesetz hat die Bundesregierung darauf verwiesen,
dass sie auf der Basis einer Bestandsaufnahme zur Lage
des Hilfesystems bei häuslicher Gewalt beurteilen wird,
ob und wie für alle gewaltbetroffenen Frauen eine angemessene Versorgung sicherzustellen ist. Trotz des Resultats des Lageberichts wie auch der Anhörung hat die
Bundesregierung bis heute nicht gehandelt.
({0})
- Traurig, aber wahr.
In ihrer Stellungnahme zum Lagebericht stellt die
Bundesregierung selbst fest, dass es ein struktureller
Nachteil sei - jetzt zitiere ich -, „dass die leistungsrechtliche Verortung der Hilfen für gewaltbetroffene Frauen
zur Zeit überwiegend über Normen des Sozialrechts erfolgt … und nicht auf den individuellen Hilfebedarf bei
Gewalterfahrungen“ zugeschnitten ist. In der Praxis
sieht die Bundesregierung allerdings dennoch keinen
Handlungsbedarf.
In den letzten Jahren wurde immer wieder auf die fatale Situation sowohl der betroffenen Frauen als auch der
Frauenhausmitarbeiterinnen hingewiesen, in welche
diese durch die Tagessatzfinanzierung kommen. Es gibt
bürokratische Hürden ohne Ende, und sie werden nicht
abgebaut. Ich zitiere die Leiterin der Zentralen Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser, Frau Eva Risse,
mit einer Antwort aus der Anhörung:
Ich kann Ihnen einmal darstellen, welche Unterlagen man für einen Arbeitslosengeld-II-Antrag benötigt:
({1})
- Vielleicht sollten die Kollegen, die sich mit Anträgen
zu Frauenhäusern nicht so gut auskennen, einmal zuhören; das ist nämlich hochinteressant.
({2})
Man braucht den Hauptantrag, die Anlage EK, die
Anlage Kl, die Anlage UH 1, die Anlage UH 2, die
Anlage VM, eventuell die Anlage BB, die Anlage
KDU, die Anlage Vermittlung, den Bewerbungsbogen Teil 1 und 2, die Kontoauszüge der letzten drei
Monate, die Anmeldung, den Sozialversicherungsausweis, den Nachweis über die Krankenversicherung, den Pass oder Personalausweis, Nachweise
über Kontoeröffnung, über Einkommen und Vermögen, einen Nachweis über die Beantragung von
Kindergeld, UVG-Leistungen,
- Unterhaltsvorschussgesetz-Leistungen Unterhaltsansprüche müssen geltend gemacht werden, Elterngeld muss beantragt werden und, wenn
man einen Anspruch auf BAföG oder Arbeitslosengeld I haben könnte, die entsprechenden Ablehnungsbescheide.
Alle diese Unterlagen müssen für jede einzelne Frau
und deren Kinder ausgefüllt, zum Amt gebracht und
beschieden werden. Vielleicht haben Sie jetzt eine Vorstellung von dem bürokratischen Aufwand, dem die
Frauenhausmitarbeiterinnen und die betroffenen Frauen
ausgesetzt sind. Aber Sie sehen ja keinen Handlungsbedarf. Das Interesse hier ist auch mal wieder einzigartig.
Das Einzige, was die Bundesregierung in dieser
Wahlperiode für die von Gewalt betroffenen Frauen mit
Anlaufschwierigkeiten auf den Weg gebracht hat, ist das
bundesweite kostenlose Hilfetelefon. Das ist - das muss
man zugestehen - eine gute Sache.
Auf der Pressekonferenz am 3. Juni verkündete unsere Familienministerin Schröder - auch nicht da! -,
„dass das Hilfetelefon die in das Angebot gesetzten Erwartungen erfüllt“. Bis zum Stichtag 29. Mai seien im
Schnitt 220 Anrufe täglich eingegangen; sie hoffe, dass
es noch mehr werden.
Nun hoffen wir auch, dass sich mehr Frauen an dieses
Hilfetelefon wenden, zum Hörer greifen und ihre Notsituation schildern. Aber was folgt dann? Es soll doch
weitervermittelt werden. Was wollen Sie als Regierung
machen, wenn dieses Angebot tatsächlich mehr Frauen
erreicht und dazu bringt, Hilfe zu suchen? Das Schutzund Hilfesystem kann doch schon jetzt nicht alle Frauen
auffangen. Wie sollen denn dann die erhöhten Zahlen
durch die Frauenhäuser bewältigt werden? Was soll aus
diesen Frauen werden? Handeln Sie endlich! Geben Sie
von Gewalt betroffenen Frauen endlich einen Rechtsanspruch auf Schutz und Hilfe, also einen gesetzlich verankerten Anspruch!
({3})
Sorgen Sie dafür, dass diesen Frauen und ihren Kindern
sicher, schnell, unbürokratisch und bedarfsgerecht
Schutz und qualifizierte Hilfe zuteilwird! Erarbeiten Sie
endlich einen nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen, der diesen Namen auch wirklich verdient!
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Dorothee Bär für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Für die Regierung können wir feststellen, dass der Bund in den letzten
vier Jahren überall da, wo er Verantwortung übernehmen
konnte, dies auch getan hat. Diese Bundesregierung hat
bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen also sehr
viel erreicht.
Was Sie so lapidar als einzige Maßnahme abtun, das
muss man wirklich noch einmal herausstellen. Seit dem
1. März 2013 haben wir das Hilfetelefon für von Gewalt
betroffene Frauen. Wir haben das so eingerichtet, dass es
wirklich für jede einzelne Frau, die sich dahin wendet,
funktionieren wird. Wir haben eine bundesweit einheitliche Rufnummer geschaltet. Unter der Rufnummer
08000 116 016 kann man anrufen und bekommt kostenlos, anonym und vertraulich Rat durch erfahrene Fachkräfte.
Das Wichtigste für uns war dabei, dass jede Frau, die
sich dahin wendet, egal ob sie der deutschen Sprache
mächtig ist oder nicht, Hilfe bekommt. Es stehen nämlich Dolmetscherinnen zur Verfügung, die am Telefon
zeitnah zugeschaltet werden können.
Für uns ist dieses Hilfetelefon die erste wichtige anonyme Anlaufstelle. Sie hat Lotsenfunktion mit Blick auf
die Erstberatung. Es geht darum, dass eine Frau, egal wo
im Bundesgebiet sie wohnt, Hilfe bekommt und erfährt,
wohin sie sich wenden kann. Deswegen sollen Betroffene informiert, auf die Unterstützungseinrichtungen vor
Ort hingewiesen und gegebenenfalls auch dorthin vermittelt werden.
Es reicht nicht aus, eine Einrichtung zu schaffen. Es
ist wichtig, dass man sie auch bekannt macht. Wir haben
also eine bundesweite Kampagne gestartet, um das Telefon bekannt zu machen und um allen Frauen nahezubringen, dass Gewalt gegen Frauen nicht toleriert wird, dass
es Hilfe gibt.
({0})
Es gibt eine Zwischenbilanz. Man kann sich natürlich
darüber streiten, ob es gut ist, dass sich viele an Stellen
wie das Hilfetelefon wenden, oder ob das schlecht ist.
Aber die Zwischenbilanz hat ergeben, dass es bei dem
Hilfetelefon innerhalb der ersten zwölf Wochen fast
19 000 Anrufe gab. Das sind mehr als 220 Anrufe täglich. Auf der einen Seite macht dies deutlich, dass das
Angebot gut angenommen wird. Auf der anderen Seite
wäre es schön, wenn es keinen einzigen Anruf gäbe, weil
keiner notwendig wäre. Aber es sind nun einmal fast
19 000 Anrufe eingegangen, und wir versuchen, den Betroffenen mithilfe dieses Angebots individuell zu helfen.
({1})
Wir haben weiterhin - auch das ist dieser Bundesregierung zu verdanken - einen eigenständigen Straftatbestand für weibliche Genitalverstümmelungen geschaffen. Die Nichtregierungsorganisation Terre des Femmes
schätzt, dass in Deutschland ungefähr 24 000 Frauen von
Genitalverstümmelungen betroffen sind. Aktuell sind
immer noch 6 000 Frauen und Mädchen davon bedroht.
Die körperlichen und psychischen Folgen sind immens.
Deswegen wollen wir eine weitere Schärfung des Unrechtsbewusstseins der Öffentlichkeit. Es soll ein deutliches Signal an die betroffenen Frauen sein, dass wir auf
ihrer Seite stehen, indem wir dieses Verbrechen als ein
solches benennen, und auch die Eltern der gefährdeten
Mädchen sollen wissen, dass die deutsche Gesellschaft
hier nicht wegschaut. Auch das ist dieser Koalition zu
verdanken.
({2})
Weiterhin trat am 1. Juli 2011 das Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat in Kraft. Auch damit wollen
wir betroffenen Frauen durch Regelungen helfen.
Wir haben außerdem einen Gesetzentwurf auf den
Weg gebracht, der es ermöglicht, dass Bordelle besser
kontrolliert werden, um Zwangsprostitution und Menschenhandel einzudämmen. Damit korrigieren wir die
unerträglichen Auswüchse des von Rot-Grün 2001 beschlossenen Prostitutionsgesetzes.
({3})
Denn es ist eine naive Annahme, dass alle Prostituierten
selbstbestimmte Sexarbeiterinnen sind. Leider Gottes
haben wir in Deutschland die Situation, dass jede Pommesbude besser kontrolliert wird als die Bordelle.
({4})
Deswegen kann man sagen: Manchmal ist gut gemeint
noch lange nicht gut. Rot-Grün hat Deutschland leider
Gottes zu einem Paradies für Zuhälter und Menschenhändler gemacht.
({5})
Dem setzen wir jetzt an dieser Stelle ein Ende.
Zuletzt sei der Frauenhausbericht der Bundesregierung erwähnt. Es ist die erste umfassende sozialwissenschaftliche Untersuchung, die aufzeigt, was Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen alles leisten. Für viele
Frauen und ihre Kinder ist die Flucht in ein solches
Frauenhaus der letzte Ausweg. Frauen können zum Beispiel auch in einer Region, in der sie nicht leben, in ein
Frauenhaus gehen.
({6})
Deswegen möchte ich meine heutige Rede auch dazu
nutzen, allen, die dort hauptberuflich, aber auch jenen,
die dort ehrenamtlich arbeiten, ein herzliches Dankeschön für ihre Arbeit in den Frauenhäusern in Deutschland auszusprechen.
({7})
Es gibt in den Ländern unterschiedliche Situationen.
Das ist - leider - richtig, weil nicht alle Bundesländer ihrer Verantwortung gerecht werden. Manche Bundesländer, wie Bayern, haben zusätzliche finanzielle Unterstützung auf den Weg gebracht. So wurde 2009 in Bayern
für die Frauenhäuser eine Erhöhung der staatlichen Zuschüsse um 13 Prozent durch das Land beschlossen. Leider kommt das Geld nicht immer an der richtigen Stelle
an, weil man bei manchen Kommunen nicht immer gewillt ist, eine durch das Land bewilligte höhere Förderung weiterzugeben. Aber die Hauptverantwortung der
Finanzierung liegt nicht beim Bund. Deswegen enthält
der Bericht zur Situation der Frauenhäuser auch weitere
Maßnahmen auf Bundesebene.
Wir nehmen unsere Verantwortung in allen Politikfeldern sehr ernst. Für uns ist diese Politik, die sich mit der
Gewalt gegen Frauen beschäftigt, nicht nur eine Politik,
die in unserem Ausschuss und in unserem Ministerium
angesiedelt ist. Deswegen möchte ich mich - das ist
mein letzter Satz - ganz herzlich bei der Staatsministerin
im Auswärtigen Amt, Frau Cornelia Pieper, bedanken,
die am 28. Juni um 10 Uhr zu einer Podiumsdiskussion
mit herausragenden, weltweit engagierten Frauen zum
Thema „Gewalt gegen Frauen - gelebte und geduldete
Wirklichkeit?“ in das Auswärtige Amt einlädt, weil es
für sie gerade auch in der Außenpolitik ein wichtiges
Thema ist. Deswegen, sehr geehrte Frau Staatsministerin, ein herzliches Dankeschön, dass Sie hier mit uns
Hand in Hand kämpfen.
Vielen Dank!
({8})
Bevor wir die Debatte fortsetzen, gebe ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung „Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo“ bekannt: 553 Kolleginnen und Kollegen haben an der Abstimmung teilgenommen. Mit Ja
haben 495 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, mit
Nein 50, und 8 Kolleginnen und Kollegen haben sich
enthalten. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 553;
davon
ja: 495
nein: 50
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({0})
Manfred Behrens ({1})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({2})
Dirk Fischer ({3})
Axel E. Fischer ({4})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
({5})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Andreas Jung ({6})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({7})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({8})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Stephan Mayer ({9})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({10})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({11})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({12})
Anita Schäfer ({13})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({14})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({15})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({16})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({17})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Vizepräsidentin Petra Pau
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({18})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({19})
Peter Weiß ({20})
Sabine Weiss ({21})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({22})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann
({23})
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({24})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({25})
Hubertus Heil ({26})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h.c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange ({27})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({28})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({29})
({30})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({31})
Bernd Scheelen
({32})
Werner Schieder ({33})
Ulla Schmidt ({34})
Carsten Schneider ({35})
Swen Schulz ({36})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Gerhard Drexler
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({38})
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({39})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({40})
Michael Link ({41})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({42})
Burkhardt Müller-Sönksen
({43})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({44})
Cornelia Pieper
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Werner Simmling
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Dr. Florian Toncar
Johannes Vogel
({45})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({46})
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck ({47})
Volker Beck ({48})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({49})
Bärbel Höhn
Vizepräsidentin Petra Pau
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Undine Kurth ({50})
Nicole Maisch
Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({51})
Krista Sager
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({52})
Dr. Valerie Wilms
Nein
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Dr. Martina Bunge
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({53})
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Dr. Kirsten Tackmann
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
fraktionsloserAbgeordneter
Wolfgang Nešković
Enthalten
SPD
Klaus Barthel
Petra Hinz ({54})
FDP
Dr. h.c. Jürgen Koppelin
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Hans-Christian Ströbele
Wir fahren in der Debatte zum Tagesordnungspunkt 12 fort. Das Wort hat die Kollegin Marlene
Rupprecht für die SPD-Fraktion.
({55})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Bei die-
sem Tagesordnungspunkt behandeln wir a) die Große
Anfrage der Linken zum Thema „Hilfe und Unterstüt-
zung für alle Opfer von häuslicher Gewalt nach dem Ge-
waltschutzgesetz“, b) die Beschlussempfehlung und den
Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zum Antrag der Grünen mit dem Titel „Ef-
fektive Unterstützung und Schutz bei Gewalt gegen
Frauen gewährleisten“ und c) die Beschlussempfehlung
und den Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zum Antrag der SPD mit dem Titel
„Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und
deren Finanzierung sichern“ und zum Antrag der Grünen
mit dem Titel „Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern“. Das ist das Thema dieser Debatte.
Wenn wir über das Thema Prostitution hätten sprechen wollen, dann hätten wir dazu einen eigenen Punkt
auf die Tagesordnung gesetzt; denn dieses Thema nimmt
genügend Raum ein.
({0})
Ich finde es nicht gut, wenn ein anderes Thema, das gesondert betrachtet werden muss, mit dem Thema Frauenhäuser vermischt wird. Manche Frauen, die ein Frauenhaus aufsuchen bzw. dort Zuflucht suchen, kommen
vielleicht aus der Prostitution; das kann sein. Aber diese
Frauen sind nicht die Hauptzielgruppe, wenn es um
Frauenhäuser geht.
({1})
Vermischen Sie also bitte nicht die Themen! Das tut den
Frauen nicht gut, und das tut vor allem uns nicht gut.
({2})
Eines möchte ich gerne sagen: Wenn wir bei manchen
Themen an bestimmten Punkten nicht vorankommen,
dürfen wir nicht lockerlassen. Es ist wichtig, dass wir
immer wieder darüber reden. Auch über dieses Thema
haben wir hier noch am 16. Mai dieses Jahres diskutiert.
Wir haben in der Vergangenheit sehr viel getan. Wir
müssen uns wahrlich nicht verstecken. Beim heutigen
Besuch des PACE-Generalberichterstatters José Mendes
Bota haben wir vorgetragen, was wir alles unternommen
haben. Wir müssen uns, wie gesagt, nicht verstecken.
Das gilt für alle in diesem Hause, die mit dazu beigetragen haben. Das gilt auch für die zuständige Abteilung im
Ministerium, die sich seit Jahren hartnäckig mit diesem
Thema beschäftigt.
Deswegen ist es umso unverständlicher, dass wir es in
einem Punkt nicht schaffen, voranzukommen: bei der Finanzierung von Frauenhäusern. Wir wissen, dass dieses
Marlene Rupprecht ({3})
Vorhaben verfassungsrechtlich problematisch ist, weil es
Bund-Länder-Kollisionen gibt. Aber es muss doch möglich sein, dass wir uns einigen. Dieses Thema gehört zur
öffentlichen sozialen Daseinsvorsorge, genauso wie die
Wasserversorgung in einer Gemeinde und die Kinderbetreuung auf kommunaler Ebene. All das betrifft die öffentliche soziale Daseinsvorsorge. Wir brauchen auch
den Schutz vor Gewalt. Es ist ein Menschenrecht, Schutz
vor Gewalt zu gewährleisten.
({4})
Wenn Frauen misshandelt werden und wir dies zulassen,
ist sogar ein Straftatbestand erfüllt.
Ich denke, unsere Ziele sind die gleichen: Wir wollen
schnelle, unbürokratische und bedarfsgerechte Hilfe für
alle von Gewalt betroffenen Frauen und ihre Kinder.
Diese Hilfe muss barrierefrei zugänglich sein und in geeigneten Räumlichkeiten angeboten werden. Das gibt es
allerdings nicht zum Nulltarif. Die Finanzierung muss
gesichert sein, damit die Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser nicht Tag um Tag bangen müssen, ob es im
nächsten Monat weitergeht oder nicht.
({5})
Für diese Sicherheit müssen wir Politiker, die wir die
Entscheidungen treffen, sorgen.
({6})
Es gibt eine zweite Baustelle, bei der wir nicht vorangekommen sind: die Ratifizierung der Istanbul-Konvention des Europarates. In dieser Konvention ist exakt beschrieben, was wir zum Schutz der Frauen vor
häuslicher Gewalt tun müssen. Wir müssen uns bei diesem Thema aber nicht verstecken. Vielmehr sollten wir
deutlich machen, was wir alles getan haben. So haben
wir zum Beispiel einen ersten und zweiten Aktionsplan
auf den Weg gebracht. Wir haben im Laufe der Jahre
durch kontinuierliche Befassung mit diesem Thema vieles erreicht. Allerdings frage ich mich: Wann ratifizieren
wir endlich diese Konvention? Damit würden wir auch
auf europäischer Ebene ein Zeichen setzen, nämlich das
Zeichen, dass wir vorneweg marschieren und nicht hinterherhüpfen.
({7})
Ich denke, es ist wichtig, dass wir im nächsten Parlament Abgeordnete haben, die gerade auch bei schwierigen Themen die Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen
hinweg suchen, damit sich etwas bewegt. Sonst bewegt
sich nämlich nichts.
Wir führen heute die Debatte zu einer prominenten
Zeit: Es ist jetzt 18.59 Uhr. Wir haben auch schon zu
späteren Zeiten debattiert oder gar nicht debattiert und
die Reden zu Protokoll gegeben. Ich wünsche mir kämpferische Kolleginnen und Kollegen, die sich wirklich um
dieses Thema kümmern; denn wir sind dabei noch nicht
am Ziel.
Ich wünsche mir aber auch - wenn ich einen Wunschkatalog anbringen darf - eine Entschleunigung von
Politik: dass wir uns für Gesetze Zeit lassen. Außerdem
sollten wir beispielsweise die Umsetzung einer EURichtlinie zum Menschenhandel oder zum Kinderhandel
nicht dazu nutzen, etwas, was vor zehn oder elf Jahren
gemacht wurde, zu ändern, ohne dass der dazugehörige
Bericht vorgelegt wird. Wenn man Entscheidungen trifft
oder später eine Revision durchführt, dann sollte man
das Wissen, das man erarbeitet hat - Deutschland ist
Weltmeister im Erforschen -, einfach auch nutzen.
Der erste Schritt ist also, Berichte vorzulegen. Dann
kann dieses Parlament zukünftig fach- und sachgerecht
adäquate Entscheidungen unter Einbeziehung der Betroffenen treffen. Das wünsche ich mir, das wünsche ich
Ihnen, den Kolleginnen und Kollegen.
Ich hoffe, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen,
in der 18. Legislaturperiode, in der ich dem Bundestag
nicht mehr angehören werde, genug Mut aufbringen, um
dies gemeinsam voranzubringen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Überschrift der heutigen Debatte lautet: Unterstützung
für Opfer häuslicher Gewalt. Dazu liegt eine Vielzahl
von Anträgen vor. Über allem steht natürlich das Thema
Frauenhaus.
Als ich vor elf Jahren in den Bundestag gewählt
wurde, war „Gewalt gegen Frauen, familiäre Gewalt“
mein Thema, weil ich es als Anwältin vielfältig bearbeitet habe. Mein Impuls war immer, in diesem Bereich zu
arbeiten. Ich stellte zu Beginn meiner Abgeordnetentätigkeit fest, dass sich der Bundestag damals im Jahr 2003
20 Jahre lang nicht mit dem Thema beschäftigt hatte; der
letzte Bericht stammte aus dem Jahr 1983.
Gemessen daran, haben wir in den vergangenen Jahren doch sehr viel gemacht, und zwar durchaus auch
fraktionsübergreifend. Meine Fraktion und ich haben uns
lange Zeit aus der Opposition heraus mit der Frauenhausfinanzierung befasst; wir haben Anhörungen durchgeführt und uns an der Frage der verfassungsmäßigen
Zuständigkeit abgearbeitet. Leider ist es in den verschiedenen Legislaturperioden so gewesen - es ist nach wie
vor so -, dass es in diesem Haus keine entsprechende
Mehrheit für eine Zuständigkeit des Bundes für die Frauenhausfinanzierung zu geben scheint. Um daran etwas
zu ändern, müsste die Verfassung geändert werden. Das
ist nicht so einfach.
Dennoch haben wir das Thema „Häusliche Gewalt,
Gewalt in der Familie“ sehr ernst genommen und an einer Lösung der Probleme gearbeitet. Wir haben ein
Bundeskinderschutzgesetz auf den Weg gebracht, wir
haben den Einsatz von Familienhebammen ermöglicht,
die dafür sorgen, dass Familien, die sich in einer schwierigen, stressigen, vielleicht auch gewaltbesetzten Situation befinden, lernen, gerade mit ihren kleinen Kindern
gut umzugehen. Ich denke, das sind flankierende Maßnahmen, die im Kampf gegen familiäre Gewalt notwendig sind. Es sind die flankierenden Maßnahmen, die ich
immer eingefordert habe. Dazu gehört also nicht nur die
Finanzierung von Frauenhäusern, sondern sehr viel
mehr.
Ebenso haben wir in dieser Legislatur auch das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ auf den Weg gebracht.
Es stand im Koalitionsvertrag, und wir haben gesagt:
Das muss möglich sein, es muss finanziert werden können. - Das haben wir hinbekommen. Auch da waren anfänglich durchaus Widerstände vorhanden; denn es ist
schon eine große Aufgabe, die das Ministerium zu stemmen hat, wenn ein solches Projekt auf den Weg gebracht
werden soll.
({0})
Der Erfolg gibt uns recht. Wir haben bei diesem
Hilfetelefon darauf geachtet, dass es ein Angebot auch
für Migrantinnen ist. Gerade Frauen, die sich in
Deutschland noch nicht so gut auskennen, die sprachliche Defizite haben und die Schwierigkeiten haben, um
Hilfe nachzufragen, haben hier eine relativ einfache
Möglichkeit, unbürokratisch konkrete Hilfe vor Ort zu
finden, indem sie ihre Probleme in ihrer Sprache am
Telefon benennen können. Das Hilfetelefon wird schon
jetzt gut angenommen. In Zukunft wird es für die Arbeit
gegen strukturelle Gewalt in der Familie große Bedeutung haben.
Darüber hinaus sind noch andere Tatbestände zu nennen, die ausdrücklich unter Strafe gestellt werden, zum
Beispiel die Zwangsheirat und die Genitalverstümmelung.
({1})
Dadurch wird klar: Gewalt, in welcher Form auch immer, wird in Deutschland nicht akzeptiert. Wenn Gewalt
ausgeübt wird, dann wird dies strafrechtlich verfolgt.
Ich komme nun auf die sehr spezielle Frage der vertraulichen Geburt zu sprechen, über die in der letzten
Woche hier im Bundestag aufgrund geschäftsordnungstechnischer Mätzchen der Opposition leider nicht debattiert werden konnte.
({2})
Wir haben die gesetzlichen Grundlagen für die vertrauliche Geburt geschaffen. Wir bringen damit deutlich
zum Ausdruck: Wenn schwangere Frauen in großer Not
sind, eventuell unter familiärem Druck stehen, keine
Aufenthaltsgenehmigung haben und einfach nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen, dann stehen ihnen
Angebote zur Verfügung, damit sie ihr Kind in einem geschützten Raum zur Welt bringen können. Dadurch ist
auch der Schutz des Kindes gewährleistet; denn gerade
unter der Überschrift „Opfer häuslicher Gewalt“ ist es
wichtig, festzuhalten, dass es eben nicht nur um die
Frauen geht, sondern auch um die Kinder, die ebenso
Opfer und ebenso hilflos wie ihre Mütter sind.
Es ist mir wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Thematik der vertraulichen Geburt vielleicht nicht sehr viele Frauen betrifft, aber sie betrifft
Frauen in besonders großer Not. Für sie haben wir, die
Bundesregierung und die Regierungskoalition, nun ein
Angebot geschaffen, das sich sehen lassen kann.
({3})
Wir müssen uns weiterhin mit dem Thema häusliche
Gewalt beschäftigen. Leider sind wir noch lange nicht
am Ende. Dass sich dieses Problem nie ganz lösen lässt,
das sei dahingestellt. Wir haben das Unsere getan. Ich
wünsche mir, dass der nächste Bundestag an diesem
Thema weiterarbeiten wird.
Danke schön.
({4})
Die nächste Rednerin ist für Bündnis 90/Die Grünen
die Kollegin Monika Lazar.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dass die Vorrednerinnen der Koalition ihre
Redezeit mit anderen Themen aufgefüllt haben, weil sie
sonst hätten zugeben müssen, dass sie in dieser Wahlperiode auf dem Gebiet der Finanzierung von Frauenhäusern viel zu wenig erreicht haben. Anders kann ich mir
das nicht erklären.
({0})
Ich kann die Wut des Kollegen Wunderlich durchaus
nachvollziehen. Ich kann auch verstehen, warum Sie als
Linksfraktion den Entschließungsantrag eingebracht
haben; denn es ist einfach so: Es ist zu wenig passiert.
Wir haben in den letzten Jahren häufig über diese
Thematik diskutiert. Wir alle wissen genau: Oft ist ungeklärt, wie die Finanzierung von Frauenhäusern sichergestellt werden kann. Es ist schwierig, eine ausreichende
Finanzierung hinzubekommen. Darin sind wir uns alle
einig.
({1})
- Natürlich sind die Kommunen und die Länder zuständig, aber auch der Bund steht in der Pflicht; denn es ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
({2})
den von Gewalt betroffenen Frauen und ihren Kindern
zu helfen.
({3})
Wir wissen: Die rechtlichen und haushalterischen
Schwierigkeiten sind groß, aber: Wo ein Wille ist, ist
auch ein Weg. Allerdings scheint bei der Koalition kein
politischer Wille vorhanden zu sein, sonst wären wir
weitergekommen.
({4})
Richtig ist: Das Hilfetelefon ist freigeschaltet. Ich
möchte daran erinnern, dass das Hilfetelefongesetz hier
einstimmig verabschiedet wurde. Wir haben das Vorhaben unterstützt, und wir finden es nach wie vor gut.
({5})
Dagegen sagt auch niemand etwas. Aber was ist
- Kollege Wunderlich hat das schon angemerkt -, wenn
sich vermehrt Frauen melden? Die Erstberatung findet
statt; das ist gut. Aber was ist, wenn sie an die örtlichen
Strukturen verwiesen werden? Was ist, wenn das Frauenhaus sie nicht aufnehmen kann? Wenn die Beratungsstellen nicht jeden Tag offen haben, dann stehen die
Frauen womöglich vor verschlossener Tür und haben
das Nachsehen. Das kann es doch nicht sein.
In dieser Wahlperiode wurde der Bericht vorgelegt. In
dem Bericht wird dargelegt, dass das derzeitige Unterstützungsangebot unterfinanziert ist. Daher müssen wir
uns überlegen, was wir dagegen machen wollen. In der
Anhörung waren sich alle Sachverständigen einig: Es
muss etwas getan werden. Aber - das ist bitter - es gibt
keine Vorschläge der Koalition dazu. Das ist wirklich
sehr traurig.
Die Vorschläge der Opposition liegen vor. Wir haben
vor vier Wochen über unseren zweiten Antrag in dieser
Wahlperiode zu dieser Thematik beraten. Wir haben uns
genau überlegt, wie wir mit dieser schwierigen Situation
umgehen können. Zumindest hätte man zu diesem
Thema eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, wie in unserem Antrag vorgeschlagen, jetzt einrichten können, damit alle an einen Tisch kommen und sagen: Jeder trägt
seinen Teil dazu bei; keiner muss alles finanzieren, aber
jeder muss sich beteiligen; denn niemand ist mit dem
Umstand, dass die Frauen unzureichend abgesichert
sind, zufrieden.
Heute liegen die Anträge zu dieser Thematik zur Abstimmung vor. In der Opposition sind wir uns zum Glück
über die Richtung einig. Wir haben die Anträge mit
Absicht so lange Zeit im Verfahren gelassen. Wir haben
den Bericht abgewartet, und wir haben die Anhörung abgewartet. Ich persönlich habe immer gedacht, dass noch
etwas passiert. Aber es ist leider nichts passiert, sodass
wir über die Anträge heute abschließend beraten.
Die Koalition hat leider nichts gemacht. Deshalb kann
ich nur sagen: Wir müssen auf die nächste Wahlperiode
setzen. Mit der Wahl werden sich die Mehrheitsverhältnisse ändern, und mit der neuen Bundesregierung werden wir auch diese Probleme lösen. Von daher machen
wir in der nächsten Wahlperiode erfolgreich weiter.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Nadine Schön für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Lazar, da Sie es so dargestellt
haben, dass wir jetzt nicht über Ihren Antrag debattieren
wollten
({0})
und deshalb unter diesem Tagesordnungspunkt verschiedene Themen ansprechen würden, muss ich sagen, dass
das schlicht falsch ist. Heute Abend gehen ungefähr
40 Punkte zu Protokoll. Wir können froh sein, dass wir
über dieses Thema noch einmal so ausführlich reden
können.
({1})
Ich bin froh, dass wir über den gesamten Themenkomplex Gewalt gegen Frauen sprechen können; denn es
sind wirklich wichtige Themen dabei. Das wird deutlich,
wenn man sich die Zahlen anschaut: Vier von zehn
Frauen haben seit ihrem 16. Lebensjahr schon einmal
körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt. Angesichts
dessen finde ich es wichtig, dass wir über den ganzen
Themenkomplex sprechen.
({2})
Wir haben das Thema Gewalt gegen Frauen in dieser
Legislaturperiode zum Schwerpunktthema unserer Frauenpolitik gemacht. Wir konnten einige Verbesserungen
für die Frauen erreichen.
Da ist zum einen das neu eingerichtete Hilfetelefon
Gewalt gegen Frauen; es ist bereits erwähnt worden. Es
ist seit März im Einsatz. Es kostet viele Millionen Euro,
aber das Geld ist, wie ich glaube, sehr gut angelegt. Das
Telefon ist 24 Stunden am Tag besetzt und gebührenfrei.
Die Anruferin kann anonym bleiben. Die Berater sprechen mehrere Sprachen. Die Nummer 08000 116 016
wird mittlerweile an vielen Orten beworben. Ich habe sie
Nadine Schön ({3})
im Internet und auf verschiedenen Druckerzeugnissen
gesehen. Man kann sie zukünftig auf Türen von öffentlichen Toiletten lesen. Überall, wo Menschen sind, wird
auf diese Nummer hingewiesen. Das ist eine gute Sache.
Durch diese Nummer werden vor allem die Frauen erreicht, die von Gewalt betroffen sind, die aber vielleicht
aus kulturellen, aus persönlichen, aus körperlichen oder
sprachlichen Gründen eben nicht den Weg zu Beratungsstellen finden oder nicht direkt ins Frauenhaus gehen. Es
geht um Frauen mit Migrationshintergrund, um Frauen
mit Behinderung und durchaus auch um Opfer von
Zwangsprostitution. Das, was Frau Rupprecht über diese
Frauen gesagt hat, fand ich nicht angebracht. - Wo ist
Frau Rupprecht eigentlich?
({4})
- Ach so, sie sitzt als Schriftführerin hinter mir.
({5})
- Die Perspektive zu wechseln, kann manchmal nicht
schaden.
({6})
Frau Rupprecht, ich fand es schade, dass Sie gesagt
haben, dass Opfer von Zwangsprostitution eigentlich
nicht zur Zielgruppe der Frauenhäuser gehören. Ich
finde, gerade Opfer von Zwangsprostitution gehören
durchaus zur Klientel der Frauenhäuser.
({7})
Das Hilfetelefon ist eine wichtige Verbesserung. Eine
weitere Verbesserung ist, dass wir die Strafverfolgung
intensiviert haben. In der polizeilichen Grundausbildung
ist das Thema häusliche Gewalt mittlerweile fester Bestandteil. Es gibt viele Fortbildungen in dem Bereich,
was sehr wichtig ist. Wir haben auch den rechtlichen
Schutz verbessert. Der Straftatbestand der Genitalverstümmelung ist schon erwähnt worden. Sie wird jetzt unter Strafe gestellt. Auch die Zwangsheirat ist ein Straftatbestand und wird ebenfalls unter Strafe gestellt. Beides
sind wichtige Meilensteine, die in dieser Legislaturperiode gesetzt wurden.
({8})
Wir beraten aktuell das Gesetz zum Thema Menschenhandel und Zwangsprostitution. Es ist leider so,
dass wir in Deutschland diesbezüglich die laschesten
Gesetze haben und dass es in Deutschland die meisten
Prostituierten gibt. Wer die Reportage in der ARD am
Montag gesehen hat, der hat wirklich sehr eindrücklich
erfahren können, dass sich diese Frauen in problematischen Situationen befinden. Das ist leider die Konsequenz aus der Liberalisierung, die 2002 unter Rot-Grün
beschlossen wurde. Ich weiß, dass es gute Absichten waren, die dahinterstanden, aber man muss der Realität ins
Auge sehen und erkennen, dass die Liberalisierung zu
Entwicklungen geführt hat, die nicht gut sind. An einer
Verbesserung müssen wir gezielt arbeiten - auch im Interesse der Frauen.
({9})
In einem ersten Schritt wollen wir, dass die Bordelle
stärker kontrolliert werden
({10})
und dass den Ordnungsämtern die Möglichkeit gegeben
wird, Auflagen und Einschränkungen zu machen und die
Kontrollen zu verstärken. Für meine Fraktion muss ich
auch sagen: Das reicht uns noch nicht, hier müssen wir
noch mehr tun. Auch im Aufenthaltsrecht und im Prostitutionsgesetz muss noch einiges getan werden.
({11})
Auch die Länder stehen in der Verantwortung, etwa
wenn es um die Flatrate-Bordelle geht. Da können die
Länder ihren Beitrag zur Verbesserung der Situation der
Frauen leisten.
({12})
Schließlich noch ein Satz zu den Frauenhäusern. Frau
Lazar, Sie haben gesagt, es werde einen Wechsel in der
Regierung geben. Selbst wenn das passiert, würden sich
die Zuständigkeiten, die durch die Verfassung gegeben
sind, leider nicht ändern. Für die Frauenhäuser sind nun
einmal die Länder zuständig. Es ist eine schwierige Situation, weil auch die Kommunen Geld geben und der
Bund über die Sozialgesetzgebung beteiligt ist. So haben
wir eine Mischzuständigkeit. Die führt - das ist leider
so - sehr oft zu Unsicherheiten und dazu, dass die Situation der Frauenhäuser sehr unterschiedlich ist.
Ich bin skeptisch, ob das Problem durch eine reine
Bundeszuständigkeit gelöst werden kann.
({13})
Zumindest finanziell geht es einigen Frauenhäusern sehr
gut. Ob es denen immer noch so gutgehen wird, wenn
der Bund dann alle über einen Kamm schert, weiß ich
nicht. Klar ist, dass man hier Wege finden muss, um die
Situation der Frauenhäuser zu verbessern. Es gab ein
entsprechendes Gutachten, es gibt auch Gespräche. Ich
bin mir sehr sicher, dass in der nächsten Legislaturperiode die verschiedenen Partner - Bund, Länder und
Kommunen - zusammenkommen und ganz konkrete
Schritte unternehmen.
Ich will zum Schluss meiner Rede all denjenigen ganz
herzlich danken, die sich in dieser Legislaturperiode für
all diese Themen in den unterschiedlichsten Ausschüssen eingesetzt haben, auch unserer Berichterstatterin
Elisabeth Winkelmeier-Becker und den Vertretern des
Ministeriums, die sich sehr intensiv für das Thema Gewalt gegen Frauen engagiert haben. Ich bedanke mich
Nadine Schön ({14})
vor allem bei denen, die in den Hilfsorganisationen, in
den NGOs, in den Frauenhäusern und in den Beratungsstellen tagtäglich vor Ort mit diesem Thema zu tun haben. Vielen Dank für die wertvolle Arbeit, die hier geleistet wird!
({15})
Ich bin mir sicher, dass auch in der nächsten Legislaturperiode das Thema Gewalt gegen Frauen uns - leider beschäftigen wird und dass die Politik hier ihre Verantwortung wahrnehmen wird.
({16})
Für die Fraktion der SPD hat nun Aydan Özoğuz das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte in der kurzen Zeit nur noch einen
Punkt hierzu anmerken.
Frau Schön, Sie haben es gerade angesprochen: Leider handelt die Bundesregierung bei diesem Thema
häusliche Gewalt durchaus widersprüchlich. Ich möchte
das Beispiel des 2011 verabschiedeten Gesetzes gegen
Zwangsheirat nennen. Das wurde im Rahmen der Aufenthaltsgesetzgebung beschlossen, in der auch viele gute
Punkte enthalten waren. Aber ich möchte dieses Gesetz
nennen, weil darin der Schutz der Opfer nicht ausreichend gestärkt wurde.
Verheerend daran war ja, dass die Ehebestandszeit,
also die Zeit, die vergangen sein muss, bevor ein ausländischer Ehepartner ein eigenständiges Bleiberecht bekommt, sehr willkürlich von zwei auf drei Jahre erhöht
wurde. Unter dem Strich hat die Regierung damit bewirkt, dass, wenn es ein Gefängnis Zwangsehe gibt, dieser Zustand sogar noch um ein Jahr verlängert wird. Das
kann man nun wirklich nicht als Schutz für die Frauen,
die betroffen sind, bezeichnen.
({0})
Außerdem müssen die Opfer von Zwangsheiraten
- das möchte ich noch hinzufügen - auch selber die Beweise für die Gewalt erbringen. Oftmals sind sie nicht in
der Lage, dies zu beweisen. Sie müssen es aber dokumentieren, auch wenn sie Angst vor dem Partner oder
seinen Familienangehörigen haben. An der Stelle - das
muss man festhalten - haben Sie es den Opfern deutlich
erschwert.
Ich möchte jetzt gerne meine übrige Redezeit nutzen,
um im Namen der gesamten Arbeitsgruppe einen ganz
herzlichen Dank an unsere Kollegin Marlene Rupprecht,
die mir gerade als Schriftführerin links im Nacken sitzt,
auszusprechen. Dies war voraussichtlich ihre letzte Rede
im Deutschen Bundestag. Für den 18. kandidiert sie
nicht mehr; das hat sie eben selber gesagt. Wer sie kennt,
der weiß, dass sie auch nach ihrer Zeit im Bundestag sicher nicht in den sogenannten Ruhestand gehen wird.
Das ist bei ihr unvorstellbar.
({1})
Sie war hier in unserem Haus und im Europarat seit
1996 eine unermüdliche Kämpferin für die, die keine
große Lobby hatten. Als jahrelanges Mitglied der Kinderkommission hat sie sich für die Rechte der Kinder
eingesetzt. Sie hat für Frauen in Notsituationen gekämpft. In Fürth hat sie ein Frauenhaus gegründet. Sie
ist Vorsitzende des Kuratoriums der Elly-Heuss-KnappStiftung, also des Deutschen Müttergenesungswerkes.
Sie hat für die Contergan-Opfer gestritten, für die Kinder
und Jugendlichen, die in staatlichen Heimen Opfer von
Gewalt und Willkür wurden. Sie hat sich für die Rechte
der Opfer von sexuellem Missbrauch eingesetzt, also für
die, die keine laute Stimme hatten.
So mancher Runde Tisch hätte ohne sie vermutlich
ein weniger gutes Ergebnis gehabt. Wer sie gut kennt,
weiß, dass sie in ihrer Handtasche stets eine kleine Ausgabe der UN-Kinderrechtskonvention dabei hat, die sie
auch manchmal herausholt, um daraus zu zitieren.
Liebe Marlene, dir gebühren unser herzlicher Dank
und eine ganz große Anerkennung für das, was du hier
geleistet hast.
({2})
Diesem Dank schließt sich offensichtlich das ganze
Haus an und natürlich auch das Präsidium.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/13905. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung durch
die einbringende Fraktion. SPD und Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten. CDU/CSU und FDP haben
dagegen gestimmt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Effektive Unterstützung und Schutz bei Gewalt gegen Frauen gewährleisten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/13960, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12850 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen waren gemeinsam dagegen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Frauen und Jugend auf Drucksache 17/2070, Buchstaben
a und c.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1409 mit dem Titel
„Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und
deren Finanzierung sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Dafür waren die
Koalitionsfraktionen, dagegen SPD und Bündnis 90/Die
Grünen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/259
mit dem Titel „Grundrechte schützen - Frauenhäuser sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Koalitionsfraktionen. Die Oppositionsfraktionen waren
dagegen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tourismuspolitischer Bericht der Bundesregierung- 17. Legislaturperiode - Drucksache 17/13674 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Tourismus ({0})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Kultur und Medien
Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Für die Bundesregierung ergreift das Wort der Kollege Ernst Burgbacher.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie, dass ich vorab zu dem aktuellen Thema
Hochwasser etwas sage. Das Hochwasser hat gerade den
Tourismus ganz empfindlich getroffen; denn touristische
Einrichtungen sind in aller Regel in Flussnähe. Die Lage
vieler Betriebe, die wegen des völlig verkorksten Wetters sowieso schon in großen Schwierigkeiten waren,
wird jetzt bedrohlich. Deshalb wird die Bundesregierung
mit ihrer Soforthilfe alles tun, um Betrieben sehr schnell
zu helfen.
({0})
Der Zehn-Punkte-Plan, den Minister Dr. Rösler vorgelegt hat, zeigt, wie wir zum Beispiel auch mit entsprechenden Maßnahmen der KfW, die schon wirken, passgenau helfen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das große Problem
ist, dass viele Menschen jetzt meinen, sie müssten Reisen und Übernachtungen stornieren. Deshalb bitte ich
Sie und alle, die uns zuhören, den Menschen zu sagen:
Man kann überall hinfahren, man kann überall Urlaub
machen, es gibt überhaupt keinen Grund, diese Gebiete
jetzt zu meiden. - Das müssen wir den Menschen sagen.
({1})
Die Bundesregierung hat in diesen Tagen ihren Tourismuspolitischen Bericht mit der Bilanz der letzten vier
Jahre vorgelegt. Ich kann mit berechtigtem Stolz sagen:
Wir haben in dieser Legislaturperiode wirklich eine
Menge für den Tourismus in Deutschland erreicht. Wir
haben den Blick dafür geschärft, dass der Tourismus
eine Wachstumsbranche ist. Wir haben unsere wachsende Beliebtheit in der Welt als freundliches Reiseland
für eine neue Willkommenskultur in unserem Land genutzt. Wir haben uns außerordentlich starkgemacht für
Barrierefreiheit im Deutschlandtourismus: Jeder soll unsere Infrastruktur nutzen können; auch das bedeutet
„Willkommenskultur“.
({2})
Wir haben die ländlichen Räume im Deutschlandtourismus gegenüber den ohnehin attraktiveren Städten aufgewertet, indem wir den touristischen Leistungsträgern
auf dem Land konkrete Hilfen bei Qualität, bei Innovation und beim Marketing an die Hand gegeben haben ein zentrales Projekt, das heute schon große Erfolge
zeigt.
Meine Damen und Herren, entgegen allen Unkenrufen hat sich die Senkung der Mehrwertsteuer für die Hotellerie als äußerst erfolgreiches Investitions- und Modernisierungsprogramm für die deutsche Hotelbranche
erwiesen. In diesem Haus hört man immer Unkenrufe,
draußen geben Vertreter aller Parteien zu: Das war ein
Riesenerfolg.
({3})
Wir haben geeignete Strategien zur Gewinnung von
Fachkräften entwickelt und verfolgen im Augenblick
schon ganz konkrete Ansätze.
Wir haben die internationale Dimension des Tourismus gestärkt. Ich habe mich persönlich stark dafür eingesetzt, dass beim Treffen der G 20 zum ersten Mal der
Tourismus gewürdigt wurde und Perspektiven für die
Entwicklung des Tourismus in das Abschlusskommuniqué aufgenommen wurden. Das ist ein großer Erfolg.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Tourismus in
Deutschland läuft rund; das zeigt der Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung 2013. Der Tourismus
ist ein ökonomisches Schwergewicht, er ist ein Jobmotor
in Deutschland: 2,9 Millionen Erwerbstätige sind direkt
im Tourismus beschäftigt; das sind 7 Prozent aller Erwerbstätigen. Die Bruttowertschöpfung liegt bei fast
100 Milliarden Euro. Das sind gute Zahlen.
Reisende verwenden 280 Milliarden Euro für den touristischen Konsum. 20 Prozent davon betreffen übrigens
Geschäftsreisen. In diesem Bereich sind wir sehr stark.
Wir sind das Kongress- und Messeland Nummer eins in
Europa. Das zeigt, dass die Rahmenbedingungen richtig
gesetzt wurden. Mit über 407 Millionen Gästeübernachtungen wurde dieses Jahr zum ersten Mal die 400-Millionen-Grenze überschritten.
({5})
Ich will hier sagen: Wir sind stolz auf „Made in Germany“. Aber auch „Holiday in Germany“ steht hoch im
Kurs. Die Dynamik ist mit 8 Prozent Zuwachs bei Übernachtungen von Menschen aus dem Ausland wirklich
enorm. Damit konnte Deutschland im Vergleich zum europäischen und weltweiten Durchschnitt doppelt so stark
zulegen. Darauf können wir wirklich stolz sein.
({6})
Das ist auch ein Verdienst der Deutschen Zentrale für
Tourismus, deren Mittel wir noch einmal erhöht haben
und die in der Welt hervorragende Arbeit für den Standort
Deutschland macht. Auch dies trägt mit dazu bei, dass immer mehr Menschen aus der ganzen Welt zu uns kommen.
Jetzt gilt es, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern. Hier gibt es viele Dinge. Ich denke an die Sommerferienregelung. Ich denke aber auch an Verbesserungen
bei der Visapolitik. In diesem Bereich haben wir vieles gemacht und arbeiten aktuell noch weiter daran.
Manchmal muss man auch Dinge verhindern. Ich bin
zum Beispiel froh, dass wir den Hygiene-Smiley verhindert haben. Das hätte keine zusätzlichen Informationen
gebracht, aber eine gewaltige Bürokratie.
({7})
Tourismus ist eingebettet in die allgemeine Wirtschaftsentwicklung. Dass wir so gut sind, dass wir Wachstum haben, dass wir fast Vollbeschäftigung, eine geringe
Arbeitslosigkeit und eine Steigerung bei den verfügbaren
Einkommen haben, wirkt sich natürlich im Tourismus unmittelbar aus. Deshalb ist die erfolgreiche Wirtschaftspolitik dieser Regierung mit ursächlich für die tollen Zahlen
im Tourismus; auch das darf man sagen.
({8})
- Das ist kein Selbstlob, lieber Kollege Hacker. Schon
Wilhelm Busch hat sehr treffend gesagt:
Froh schlägt das Herz im Reisekittel,Vorausgesetzt, man hat die Mittel.
Genau das ist der Punkt.
Es waren gerade im Bereich Tourismus vier gute
Jahre für Deutschland.
({9})
Ich bin sehr stolz darauf, dass ich daran ein Stück weit
mitwirken durfte. Ich habe 15 Jahre für den Tourismus
gewirkt. Ich habe mich entschieden, nicht mehr zu kandidieren. Ab November werde ich die guten Rahmenbedingungen nutzen und selbst dafür sorgen, dass die Zahlen weiter nach oben gehen.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen, vor allem bei denen des Tourismusausschusses, ganz herzlich bedanken. Wir hatten immer
eine tolle Atmosphäre, überall ein gutes Vertrauensverhältnis. Herzlichen Dank dafür. Ich blicke mit Freude auf
diese Zeit zurück und freue mich auf neue Herausforderungen. Ich freue mich aber vor allem darauf, dass es mit
dem Tourismus weiter steil nach oben geht.
Herzlichen Dank.
({10})
Herr Burgbacher, auch Ihnen im Namen des ganzen
Hauses herzlichen Dank für Ihre engagierte Arbeit. Wir
freuen uns natürlich sehr, dass Sie sich jetzt auf andere
Weise dem Tourismus widmen wollen. Wir wünschen
Ihnen dabei viel Erfolg, Freude und Heiterkeit.
({0})
Ich gebe für die SPD-Fraktion dem Kollegen HansJoachim Hacker das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor allen Dingen einen herzlichen Gruß an die Besuchergruppe aus meinem Wahlkreis.
Lieber Ernst Burgbacher, auch vonseiten der SPD
ganz herzliche Wünsche für die künftige Zeit. Du warst
immer ein verlässlicher, kollegialer Partner. Wir werden
dich hier vermissen. Wir wünschen dir eine gute Zeit,
vor allen Dingen Gesundheit, und natürlich auch eine
gute rot-grüne Tourismuspolitik in der nächsten Legislaturperiode.
({0})
- Das wird schon eintreten, Herr Liebing. - Meine sehr
verehrten Damen und Herren, so viel zur Vorrede.
Die Bundesregierung hat auf der Zielgeraden dieser
Legislaturperiode den Tourismuspolitischen Bericht vorgelegt. Darüber können wir heute noch einmal diskutieren. Der Bericht spiegelt viele positive Daten wider, die
Herr Staatssekretär Burgbacher teilweise schon vorgetragen hat. Sie nochmals zu nennen, will ich mir ersparen,
weil andere Kolleginnen und Kollegen diese Zahlen
möglicherweise auch noch einmal zitieren.
Die Wertschöpfung beträgt 97 Milliarden Euro. Das
sind 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vergleicht man
diese Branche mit anderen Branchen, zum Beispiel mit
der Automobilindustrie, dann kann man zu dem Ergebnis kommen: Wenn über den Tourismus in Deutschland
wöchentlich so viel in den Zeitungen stünde wie über
Volkswagen, über Mercedes oder über andere deutsche
Spitzenmarken, dann wären wir wohl noch zufriedener.
Das heißt, wir in der Politik müssen noch mehr tun, damit der Tourismus in Deutschland öffentlich noch besser
wahrgenommen werden kann. Denn hier findet Beschäftigung statt, hier findet Wertschöpfung statt. Viele Deutsche machen zunehmend in Deutschland Urlaub; mehr
Ausländer kommen zu uns. Ich sage an dieser Stelle
auch: Hoffentlich kommen bald auch mehr Ausländer in
die neuen Länder. Insoweit bestehen noch Defizite.
Diese haben unterschiedliche Ursachen, auf die ich hier
nicht eingehen kann.
Herr Staatssekretär, wir sind uns in einem Punkt völlig einig: Den Opfern der Flut an Elbe, Mulde, Saale und
Donau muss geholfen werden. Da gibt es keinen Streit
zwischen uns. Wir haben in dieser Woche im Tourismusbeirat darüber gesprochen. Heute hat es hier in Berlin
eine Beratung mit den Ländern darüber gegeben. Das,
was im Moment als Soforthilfe zur Verfügung steht,
reicht - wir wissen es alle - längst nicht aus. Gestern war
der Präsident des Deutschen Bauernverbandes im Ausschuss. Er nannte eine dreistellige Millionenzahl allein
für den Bereich der Landwirtschaft. Wir wissen, was
noch hinzukommt: Handel, Gewerbe, privates Eigentum. Wir werden also eine so große Anstrengung machen müssen wie 2002, und das wird Deutschland auch
leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland präsentiert sich gut im Bereich des Tourismus. Ich denke an
unser Aushängeschild, die ITB. Wir müssen alles tun,
damit diese gute Präsentation fortgesetzt wird. Lobhudelei allein hilft in keinem Lebensbereich weiter, auch
nicht in der Politik. Deswegen, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Koalition, müssen wir jetzt einmal
über das Eingemachte reden, müssen wir über Dinge reden, die wir gemeinsam verbessern müssen und bei denen die Bundesregierung in den letzten vier Jahren auch
ein bisschen mehr hätte zeigen können, Herr
Burgbacher.
Ich nenne insbesondere den Bereich Ausbildung und
Arbeit im Gastgewerbe. Das sind Dinge, die den Menschen auf den Nägeln brennen, die den Unternehmen auf
den Nägeln brennen. Manche sprechen heute mit einem
Mal von Fachkräftemangel. Das hätte man eigentlich
schon vor 16 Jahren hochrechnen können. Wer vor
16 Jahren nicht geboren wurde, kann heute die Schule
nicht verlassen. Das ist eine ganz einfache Rechnung.
Deswegen wundert es mich manchmal schon, dass jetzt
aus heiterem Himmel eine Diskussion über fehlende
Fachkräfte geführt wird.
Ich denke aber, wir müssen den Finger noch tiefer in
die Wunde legen und fragen: Wie finden Ausbildung sowie Beschäftigung nach der Ausbildung insbesondere im
Bereich der Gastronomie und der Hotellerie in Deutschland statt? Wie werden junge Leute in den Schulen auf
die Ausbildung vorbereitet? Wie ist eigentlich die Entlohnung insbesondere in den Bereichen Gastronomie
und Hotellerie? Das sind nämlich die Bereiche, in denen
die meisten Probleme bestehen. Ich sage: Hier besteht
großer Nachholbedarf.
Es kann nicht richtig sein, dass ungefähr 40 Prozent
der Auszubildenden, die ihre Ausbildung im Bereich der
Gastronomie und Hotellerie beginnen, diese abbrechen.
Das ist ein Skandal. Das betrifft die jungen Leute, die
Unternehmen, aber genauso die Gesellschaft. Hier wird
Zeit und hier wird auch Geld verschwendet.
Die hohe Zahl der Fachkräfte, die später nicht im Beruf bleiben, ist alarmierend. Vor zwei Wochen war ein
Vertreter der Bundesanstalt für Arbeit im Tourismusausschuss. Die Zahl der Köche auf dem Arbeitsmarkt, die in
Wirklichkeit nicht mehr in diese Branche zurückwollen,
alarmiert uns allesamt. Hier muss mehr getan werden,
und hier müssen Antworten gegeben werden. Die Antworten müssen zuallererst von der Branche selbst gegeben werden. Sie muss eine bessere Vorbereitung auf die
künftige Ausbildung leisten, und sie muss auch ordentlich entlohnen. Ordentliches Entlohnen bedeutet für uns
die Zahlung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns, Herr Brähmig. Das ist unser Ziel.
({1})
- Da können Sie noch so viel mit dem Kopf schütteln.
Wir haben das unter Rot-Grün begonnen und in der Großen Koalition fortgesetzt. Wir brauchen in Deutschland
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
Ich wundere mich darüber, dass sich Vertreter aus der
Branche über den Fachkräftemangel beklagen, aber
gleichzeitig Mindestlöhne ablehnen. Ich habe mir von
einer Gewerkschaft einmal eine Tarifübersicht zu den
Löhnen im Hotel- und Gaststättengewerbe geben lassen.
Diese Übersicht enthält auch Stundenlöhne von unter
7 Euro, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern und in
Brandenburg. Aber auch im Saarland beträgt der Stundenlohn nur 7,68 Euro. Diese Zustände können und dürfen wir nicht akzeptieren. Deswegen appelliere ich hier
an die rechte Seite des Hauses.
({2})
- Die Tarifautonomie, Herr Kollege Fuchs, hat in diesem Bereich ja nicht funktioniert.
({3})
Das war ja unsere Überlegung in den 90er-Jahren.
Weil das dort nicht funktioniert hat, brauchen wir den
gesetzlichen Mindestlohn. Wir haben das doch auch
schon gemacht: Es gibt doch gesetzliche Mindestlöhne
in neuen Branchen.
({4})
Wir werden das auch weiter so machen, weil das notwendig ist. Wir wollen, dass menschliche Arbeit anerkannt wird und dass die sozialen Sicherungssysteme in
Deutschland nicht ausgehöhlt werden. Wir wollen die
Widersprüche im Wettbewerb beseitigen, die durch solche Lohndrückereien entstehen. Das ist ganz wichtig.
({5})
Die SPD will, dass prekäre Arbeitsverhältnisse,
Schwarzarbeit und vor allen Dingen auch die Verletzung
des Jugendschutzes in Unternehmen endlich ein Ende
haben. Das spielt in der Hotel- und Gastronomiebranche
eine Rolle. Wer die Branche kennt, weiß, wovon ich
rede. Ich rede nicht von allen, aber ich rede von den
schwarzen Schafen, und das muss hier benannt werden.
Lieber Kollege Burgbacher, es reizt mich, hier auch
noch ein Wort zur Steuerpolitik zu sagen. Sie loben die
Absenkung der Mehrwertsteuer im Bereich der Hotellerie; dieses Loblied habe ich mehrfach gehört. Warum haben Sie sie eigentlich nicht auch für die Gastronomie
gesenkt? Ihr Kollege Finanzminister musste ein sechsseitiges Papier schreiben, damit man Ihre Steuerregelung
in der Branche überhaupt anwenden konnte. Das nenne
ich Bürokratieabbau im wahrsten Sinne des Wortes.
({6})
Wir haben ja nicht nur Gewerkschaften oder uns nahestehende Organisationen befragt, sondern wir haben
auch die Bankenwirtschaft befragt, was sie dazu sagt.
Herr Kollege.
Bitte?
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit angekommen.
Frau Präsidentin, ich habe eigentlich noch drei Seiten;
aber ich sehe schon, Sie geben mir heute nicht die
Chance.
({0})
Nein.
Deswegen will ich meine Rede mit einem guten
Wunsch und damit beenden, zu sagen, dass man die Tourismuspolitik der Bundesregierung nicht alleine mit
Hochglanzbroschüren beschreiben kann, sondern sich
auch den eigentlichen Problemen widmen muss. - Ich
sehe, dafür haben Sie Verständnis.
Herzlichen Dank und alles Gute.
({0})
Marlene Mortler hat jetzt das Wort für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Hacker, wir arbeiten wirklich
schwer daran, dass die neue Bundesregierung wie die
alte Bundesregierung heißt.
({0})
Zum Hochwasser. Bedauerlicherweise hat der bayerische SPD-Spitzenkandidat Ude
({1})
unserem Ministerpräsidenten Seehofer Hochwassertourismus vorgeworfen.
({2})
Dabei hat er nichts anderes als seine Pflicht getan
und, wie es sich für einen Regierungschef geziemt, Verantwortung für sein Land gezeigt und sich gekümmert.
Nun aber zu unserer Debatte. Ich finde es klasse, dass
wir heute den Tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch
debattieren; denn wir haben Anträge eingebracht, Initiativen gestartet, Kongresse organisiert, Gesetze angeschoben und beschlossen. Ein wichtiges Gesetz ist für
mich beispielsweise das Gesetz zur Schlichtung im Luftverkehr.
({3})
Ich bin überzeugt, dass das Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung an Akzeptanz gewinnen und sich
bewähren wird, wie das in den Bereichen Bahn, Bus und
Schiff längst der Fall ist.
({4})
Tourismuspolitik ist eine Querschnittsaufgabe, aber
auch Ländersache. Das heißt, die konkrete Planung, die
Entwicklung und die Förderung liegen in der Verantwortung der Bundesländer. Der DTV, der Deutsche Tourismusverband, übernimmt hier sicherlich eine wichtige
beratende Rolle. Wir als Bund sind zuständig für die
Verbesserung der Rahmenbedingungen, aber auch für
die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit.
Eines der wichtigsten Projekte, das wir in dieser
Wahlperiode gestartet haben, war zweifellos das Projekt
„Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“. Aus
viel Kleinarbeit und fachlicher Zuarbeit ist ein Arbeitspapier entstanden, das modellhafte Lösungswege aufzeigt und in diesem Fall auch größtmögliche Praxisnähe
aufweist.
({5})
- Lieber Kollege, es ist ein Arbeitspapier entstanden, zu
dem ich sagen kann: Diejenigen, die es nicht gelesen haben, kritisieren es. Diejenigen aber, die es gelesen haben,
sagen: Klasse, Frau Mortler, klasse, Bundesregierung,
endlich ein Arbeitspapier, das wir zu Hause umsetzen
können.
({6})
Wir wollen, dass die Betriebe beständig an der Qualitätsschraube drehen und weiter an Profil gewinnen.
Außerdem wollen wir, dass die Landestourismusorganisationen mit Tourismusvermarktern neue Kooperationslösungen suchen und zur Professionalisierung der Leistungsträger beitragen. Weiterhin wollen wir, dass wir
Bundespolitiker für optimale Rahmenbedingungen von
der Infrastruktur bis hin zur Förderstruktur sorgen.
({7})
Dazu habe ich heute ein Gespräch mit der Landwirtschaftlichen Rentenbank geführt. Ich finde es klasse,
dass man sich jetzt in unsere Richtung bewegt und unter
dem Titel „Leben auf dem Land“ verstärkt auf Finanzierungen für Tourismusprojekte im ländlichen Raum setzt.
({8})
Ich verweise außerdem darauf - das ist viel zu wenigen
bekannt -, dass die Landwirtschaftliche Rentenbank
schon seit vielen Jahren den Kommunen in den ländlichen Räumen attraktiv, unbürokratisch und schnell tagesaktuelle Finanzierungsmöglichkeiten anbietet.
Meine Damen und Herren, Staatssekretär Burgbacher
hat die Wirtschaftskraft der Tourismusbranche sehr gut
aufgezeigt. Betrachtet man die Konsumausgaben, die in
unserem Lande in diesem Bereich zustande kommen,
dann reden wir zusätzlich von 280 Milliarden Euro.
Dazu tragen vom ADAC bis hin zur Willy-ScharnowStiftung viele Akteure bei. Auf Bundesebene sorgen
70 relevante Akteure für Vielfalt im Deutschlandtourismus.
Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband ist sicherlich ein wichtiger Spieler. Es gibt 2,9 Millionen Arbeitsplätze in der Branche insgesamt. Im Hotel- und
Gaststättenbereich haben 1,7 Millionen Beschäftigte ihr
Ein- und Auskommen. Ich begrüße es, dass wir in diesem Zusammenhang ein Projekt zum Thema Fachkräftesicherung gestartet haben, das der Branche, wenn es abgeschlossen ist, sicherlich helfen wird. Es zeigt aber
auch uns Politikern verschiedene Handlungsansätze auf.
Besonders am Herzen - auch da haben wir ein Projekt
gestartet - liegt mir der Tourismus für alle bzw. Barrierefreiheit für alle. Ich weiß, dass das ein ehrgeiziges Ziel
ist. Wir wollen einheitliche Kennzeichnungen, einheitliche Qualitätsstandards und eine gemeinsame Internetplattform. Ein Gespräch, das gestern beim BDO, beim
Bundesverband Deutscher Omnibusunternehmer, stattfand, hat uns Folgendes aufgezeigt: Was nützt ein barrierefreier Bus, wenn die Infrastruktur in der Kommune
nicht passt? Das heißt, wir müssen in Zukunft den Blick
verstärkt auf die gesamte Kette richten.
({9})
Meine Damen und Herren, wir haben nicht nur ins Inland, sondern auch ins Ausland geblickt. Ich erwähne in
diesem Zusammenhang das Thema „Tourismus und
Menschenrechte“. Ich bin stolz, dass ich dabei war, als
Generalsekretär Rifai von UNWTO, der internationalen
Tourismusorganisation, in Montenegro zusammen mit
wichtigen Vertretern der deutschen Tourismusbranche
den sogenannten Weltethikkodex unterschrieben hat,
nach dem Motto: Tourismus und Menschenrechte, das
ist kein Selbstläufer. Ich bin außerdem stolz darauf, dass
es uns diese Woche im Tourismusausschuss gelungen ist,
gemeinsam einen Brief an den Botschafter von Ägypten,
aber auch an den Regierungschef von Ägypten mit folgendem Inhalt zu schicken: Wir finden es skandalös,
dass nach der Schließung von Stiftungen und der Verurteilung von unschuldigen Mitarbeitern, wie im Falle der
Konrad-Adenauer-Stiftung, einfach zur Tagesordnung
übergegangen wird. - Vielen Dank, dass ihr hier alle
Flagge gezeigt habt.
({10})
Sind Sie damit am Ende Ihrer Rede?
Frau Präsidentin, habe ich nicht ausnahmsweise noch
eine Minute Redezeit? Ich möchte gerne noch ein paar
Dankesworte an den Staatssekretär richten, der heute
zum letzten Mal gesprochen hat.
Sie hatten ausnahmsweise schon eine Minute Redezeit mehr.
Ein herzliches Dankeschön dafür, dass wir die Zusammenarbeit mit Griechenland verbessert haben, dass
wir gesagt haben: Wir nehmen euch an die Hand, wir
wollen euch helfen. - Ein Dankeschön an den gesamten
Ausschuss. Vor allem aber auch ein Dankeschön an die
Deutsche Zentrale für Tourismus, die unser Flaggschiff
im Ausland ist.
Frau Mortler.
Zuletzt hat sie mit der Gründung eines Büros in Belgrad zusammen mit dem DCC, dem Donaukompetenzzentrum, einen weiteren Leuchtpunkt gesetzt, um für
Deutschlandtourismus im Ausland zu werben.
Frau Präsidentin, ich bitte um Verzeihung und möchte
am Schluss noch einmal klarstellen:
({0})
Tourismus ist ein Zukunftsmotor.
Ich glaube, Herr Brähmig wird sauer.
Wir wollen sein Potenzial im Sinne von Stadt und
Land bestmöglich ausschöpfen. In diesem Sinne freue
ich mich auf eine gemeinsame Zusammenarbeit in der
nächsten Wahlperiode, so es der Wähler will.
Danke schön.
({0})
Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Auf 70 schön gestalteten Seiten lobt sich die Bundesregierung im Tourismuspolitischen Bericht für ihr unermüdliches Tun. Der
Bericht quillt geradezu über von Rekordzahlen. Ich muss
mich an dieser Lobhudelei nicht beteiligen, sondern
kann gleich zur Sache kommen.
Der Bericht reiht akribisch aneinander, was in welchem Ressort wann getan wurde, das man irgendwie
dem Tourismus zurechnen könnte.
({0})
- „Fleißarbeit“ können Sie ruhig sagen. - So meint die
Bundesregierung der Querschnittsaufgabe Tourismuspolitik gerecht zu werden. Dann stellt sie fest, dass eine
große Menge der Kompetenzen in den Ländern liege. Da
könne sie sowieso nichts tun, zumal die Tourismuswirtschaft ohnehin mittelständisch geprägt sei, und da müsse
man sowieso die Marktkräfte walten lassen. Und - die
Rekordzahlen belegen es - sie obwalten wunderbar.
Eine Regierung hat aber nicht die Aufgabe, nur zusammenzuzählen und artig aufzuschreiben, was so im
Lande geschieht. Sie soll gestalten. Sie soll Konzepte
entwickeln und daraus Maßnahmen ableiten. Für den
Tourismusbereich hieße das, nicht nur philosophierende
Leitlinien vorzulegen, sondern ihnen auch Gestaltungskraft zu geben. Das, was jedoch fehlt, ist der Gestaltungswille. Hätte ihn diese Regierung, müsste er irgendwie erkennbar sein - ist er aber kaum.
Weil diese schwarz-gelbe Koalition nicht einmal
ernsthaft von Tourismuspolitik spricht, braucht man sich
auch nicht zu wundern, dass sie nur die Tourismuswirtschaft kennt. So kommt es, dass zwar die 2,9 Millionen
direkt in der Tourismuswirtschaft Beschäftigten manchmal erwähnt werden - das hat auch Kollegin Mortler
wieder getan -, wenn die Bedeutung dieses Zweiges für
die Volkswirtschaft hervorgehoben werden soll. Wenn
aber nach den Arbeitsbedingungen gefragt wird, dann
sind die Angaben dürftig. Dabei wäre es eine erstrangige
Aufgabe, sich für ganzjährige und existenzsichernde
Löhne sowie für familienverträgliche Arbeitsbedingungen zu engagieren. Aber: Fehlanzeige!
({1})
Der einseitige Blick auf die Wirtschaft verstellt auch
die Sicht auf den eigentlichen Sinn von Tourismus. Der
besteht nämlich nicht darin, der Tourismuswirtschaft
eine Wertschöpfungskette zu basteln. Nein, die eigentliche Aufgabe besteht darin, Menschen mit und ohne Behinderungen zu ermöglichen, sich zu erholen, zu entspannen, sich die Welt anzuschauen, ihre Gesundheit zu
stärken, andere Kulturen kennenzulernen, vielfältige
Freizeiterlebnisse zu haben usw.
Immerhin - Kollegin Mortler hat es gerade gesagt -:
Der Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft
unterzeichnete im Oktober 2012 den Ethikkodex der
UNWTO - 13 Jahre nach dessen Verabschiedung. Die
Linke hat das schon lange gefordert. Aber genau in diesem Kodex sind die Aufgaben, die ich gerade nannte,
kodifiziert. Dass deren Erfüllung auch Wertschöpfung
zulässt, bleibt unbenommen; klar. Aber die Prioritäten
müssen stimmen. Hier fehlt das Primat der Politik vor
der Wirtschaft.
({2})
Tourismuspolitik braucht Koordination auf mehreren
Ebenen, auch innerhalb der Bundesregierung. Eine weitere Ebene, die der Koordination - eigentlich auch der
Kooperation - bedürfte, ist die zwischen und mit den
Bundesländern. Beides funktioniert aber nur unzureichend. Das eine nennt man Föderalismus. Ich sage:
Kleinstaaterei. Das andere nennt man Ressorthoheit. Ich
sage: Gartenzaundenken.
Die aktuelle Jahrhundertflut zeigt doch zum Beispiel
an der Elbe, dass man sich bisher nicht einmal auf einheitliche Deichhöhen beiderseits desselben Flussabschnitts einigen konnte. Zu den Leidtragenden gehören
auch viele touristisch geprägte Kommunen in meinem
Bundesland Sachsen.
Wer eine Querschnittsaufgabe richtig angehen will,
braucht auch Querschnittszuständigkeiten. Es dürfte sich
inzwischen herumgesprochen haben, dass ich seit Jahren
ein starkes Tourismusministerium fordere. Aber ich
könnte mir auch eine andere Organisationsform vorstellen, beispielsweise eine Tourismusbeauftragte oder einen
Tourismusbeauftragten, die oder der wirklich mit Kompetenzen und Befugnissen ausgestattet wäre.
({3})
Der jetzige Amtsinhaber ist zwar ein sympathischer
Zeitgenosse - keine Frage, wir verstehen uns gut -, aber
wirkliche Gestaltungsmacht hast du nicht, lieber Ernst
Burgbacher. Ansonsten früge der Beauftragte, wie sich
denn diese oder jene Maßnahme in das Tourismuskonzept der Bundesrepublik einfüge. Und wenn sie damit
nichts zu tun hätte, dann könnte er Umwidmungen erreichen. Aber: Fehlanzeige!
Ein unbefriedigendes Beispiel zeigt sich im Kinderund Jugendtourismus. In der Debatte zum Antrag der
Linken zum sozialen Tourismus verweisen Sie angesichts der Tatsache, dass immer mehr Kinder und Jugendliche aus finanziellen Gründen nicht mehr in den
Urlaub fahren können, auf die Möglichkeit der Bezuschussung von Schulfahrten. Diese ersetzen aber keinen
Familienurlaub. Wir brauchen beides.
Herr Kollege.
Ja? - Ich sehe: Es blinkt. Entschuldigen Sie, liebe
Präsidentin. Ich komme zum Schluss.
Ich hätte noch etliche Beispiele aufzuführen, wo Sie
keine Gestaltungskraft aufbringen. Aber ich darf sagen:
Die Linke steht für einen sozialen, ökologischen und
barrierefreien Tourismus, an dem alle teilhaben können.
Wir werden daran auch in der Zukunft weiter arbeiten.
Eines will ich noch sagen: Der Tourismusausschuss
ist ein Beispiel dafür, dass über die Fraktionsgrenzen
hinweg gut zusammengearbeitet werden kann. Das will
ich durchaus positiv hervorheben.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass der Tourismus eine relativ zeitaufwendige Sache ist.
({0})
- Quasi entschleunigend.
Markus Tressel hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich frage Sie jetzt
nicht, ob ich schon vorneweg eine Minute Zeitbonus eingerechnet bekomme.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Tourismus ist
mit einem Anteil von fast 10 Prozent an der Bruttowertschöpfung ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor in
diesem Land. Vor allem in den Städten boomt das Geschäft mit den Reisenden. Das hat uns der Tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung noch einmal
deutlich gemacht. Insofern möchte ich Ihnen für die
Fleißarbeit danken, die diesem Bericht zugrunde liegt.
Ich hätte mir auch gewünscht, dass Sie die Große Anfrage zum Tourismusstandort Deutschland rechtzeitig
beantwortet hätten. Dann hätten wir die Debatte darüber
gleichzeitig mit dieser führen können.
({1})
Sie haben es gesagt, Herr Kollege Burgbacher: Das
Ganze ist ein Rückblick. Ich glaube, dass der Tourismuspolitische Bericht nicht nur Rückblick, sondern auch
Ausblick sein sollte. Das ist das, was mir an Ihrem Bericht an dieser Stelle ein Stück weit fehlt: Was ist das
politische Ziel? Sie benennen Fakten, Daten und geben
einen Überblick, aber eine Schlussfolgerung, eine politische Vision bleiben Sie mit diesem Bericht allerdings
schuldig.
({2})
Ich glaube, das wäre genau das, was die Branche und
auch wir erwartet hätten.
Der Tourismusstandort Deutschland steht trotz der
guten Zahlen vor großen Herausforderungen. Es ist bereits gesagt worden: Das Hochwasser hat uns den Klimawandel noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt.
Wir haben es zu tun mit dem demografischen Wandel,
der Finanzkrise, einem veränderten Konsum- und damit
auch Buchungsverhalten, steigenden Ansprüchen der
Kunden an Unterkünfte und auch an die Infrastruktur
und mit einem starken Gefälle bei der Tourismusintensität in Stadt und Land.
Ich möchte einmal einige entscheidende Punkte nennen, die in Ihrem Bericht meines Erachtens fehlen.
Das Thema Fachkräfte muss - meine Vorredner haben
es angesprochen - ganz oben auf der Agenda stehen. Die
Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in der Tourismuswirtschaft in diesem Land sind eindeutig verbesserungswürdig. Wir haben vor zwei Wochen im Ausschuss
für Tourismus gehört, dass von den 1,9 Millionen Beschäftigungsverhältnissen in der engeren Tourismusbranche nur die Hälfte sozialversicherungspflichtig ist.
Das sollte uns mehr als nachdenklich machen.
({3})
Ausbildungsberufe in der Hotellerie, in der Gastronomie belegen in Rankings immer die letzten Plätze. Das
hat vor allem mit den Arbeitsbedingungen zu tun.
({4})
Dieses Problem - ich finde, es ist eines der Kernprobleme für die Branche - streifen Sie in Ihrem Bericht
nur, indem Sie lediglich auf die Neuausrichtung des Berufsbildes Tourismuskaufmann/Tourismuskauffrau verweisen und die Imagemaßnahmen der Branche herausstellen.
Die Realität spricht eine deutlich andere Sprache. Die
Anzahl der neubegonnenen Ausbildungsverhältnisse in
der Tourismuswirtschaft ist massiv rückläufig. Die Abbruchquote bei den Ausbildungen liegt deutlich über
dem Durchschnitt. Uns muss klar sein: Ohne Fachkräfte
kein qualitativ hochwertiger Tourismus.
({5})
Die Rolle der Arbeitsbedingungen hätte man in diesem
Bericht deutlicher herausstellen müssen. Da hätte ich
mir klare Worte der Bundesregierung gewünscht.
Gleiches gilt für das Thema Verkehrsinfrastruktur, die
sich künftig, bedingt durch den demografischen Wandel
und den Klimawandel, anders gestalten muss. Die Frage
ist doch: Wie wird die Mobilität nachhaltig, vor allem im
ländlichen Raum, aber auch in den Städten? Das hat
auch etwas mit Klimaschutz zu tun. Angesichts dessen
war ich sehr verblüfft, als ich in Ihrem Bericht zum
Thema „Klima- und Umweltschutz im Verkehr“ ganze
zwei Sätze auf Seite 109 gefunden habe.
({6})
Zwei Sätze, das kann und darf man getrost als dürftig bezeichnen.
({7})
Zur nachhaltigen Verbesserung regionaler Wirtschaftsstrukturen durch den Tourismus habe ich ebenfalls wenig gefunden. Dabei ist das essenziell. Lediglich
12 Prozent der Wertschöpfung im Tourismus werden auf
dem Land generiert, obwohl fast 32 Prozent der Übernachtungskapazitäten hier zu finden sind. Dabei bleiben
von 100 umgesetzten Euro nur rund 36 Euro in der Region. Dazu gibt es keine Ausführungen in Ihrem Bericht.
Da hilft auch Ihr Arbeitspapier, das Sie eben so betont
haben, nicht weiter.
({8})
Das gesamte Thema „Sanierungsstau in den Kommunen, in Unternehmen und die geringe Eigenkapitalquote“ - es ist ein wichtiges Thema - haben Sie ebenfalls fast gänzlich ausgespart. Dafür haben Sie sich dann
gleich mehrfach die Verhinderung der Hygieneampel als
tourismuspolitische Großtat auf die Fahnen geschrieben.
Das ist natürlich Unsinn, weil ein effektiver Schutz der
Verbraucher kein Hemmnis, sondern auch für die Unternehmen ein Vorteil ist. Das hätte man an dieser Stelle
noch einmal deutlich machen müssen.
({9})
Wir werden da weiterhin kritisch nachfragen und in einer neuen Bundesregierung ab Herbst
({10})
neue Akzente setzen. Darauf können Sie sich verlassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich möchte
mich an dieser Stelle bei Ihnen, Herr Burgbacher, bedanken. Ich habe die Zusammenarbeit mit Ihnen ja nur vier
Jahre genießen dürfen. Jeder weiß, dass die Tourismuspolitik trotz inhaltlicher Kontroversen von einem kollegialen Umgang miteinander geprägt ist. Ich möchte mich
bei Ihnen herzlich für Ihre Arbeit bedanken. Sie waren
immer ein angenehmer und engagierter Mitstreiter für
den Tourismusstandort Deutschland. Auch wenn wir
nicht immer einer Meinung waren, glaube ich sagen zu
können, dass die Zusammenarbeit von gegenseitigem
Respekt geprägt war. Ich glaube, dass es der Branche zugutekommt, wenn wir unterschiedliche strategische Ansätze haben.
Ich hoffe, dass wir uns trotz der Reisetätigkeit, die Sie
angekündigt haben, noch das eine oder andere Mal in
tourismuspolitischer Mission treffen werden. Ich glaube,
dass Ihre Tätigkeit ein Stück über Ihre Amtszeit hinaus
wirken wird.
Ich wünsche Ihnen alles Gute, viel Erfolg, gute Gesundheit, damit Sie noch viel Zeit für die Reisetätigkeit
haben. Vielen Dank, Herr Burgbacher.
({11})
Horst Meierhofer hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben vorhin schon gehört, dass es unglaublich viele
Arbeitsplätze in dem Bereich des Tourismus gibt und
dass sich die Situation in den letzten Jahren auch noch
verbessert hat. Dass wir genau wissen, wie es überhaupt
aussieht, ist ein Verdienst von Ernst Burgbacher und
vom Ministerium. Gemeinsam mit dem BTW haben sie
dafür gesorgt, dass wir endlich belastbare Zahlen haben.
Das war, glaube ich, eine Voraussetzung, um die Bedeutung des Tourismus in der öffentlichen Wahrnehmung
ein bisschen nach vorn zu bringen. Wie wir heute schon
gehört haben, ist es nicht so, dass jeder das automatisch
erkennt.
Was die Frage des Mindestlohns betrifft, die der Herr
Kollege Hacker angesprochen hat:
({0})
Ich halte es gerade im Bereich des Tourismus für gefährlich, einen flächendeckenden einheitlichen Mindestlohn
zu schaffen,
({1})
egal ob es um Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg
oder die Region am Starnberger See geht. Gleichzeitig
sagen Sie, dass Sie die Schwarzarbeit verhindern wollen.
Das wird nicht funktionieren. Sie würden das genaue
Gegenteil erreichen.
({2})
Sie würden damit wahrscheinlich vernünftige, angemeldete Arbeitsverhältnisse verlieren und mehr Schwarzarbeit bekommen. Genau das wollen wir natürlich nicht,
weil das nicht der Weg ist, der vernünftig ist.
({3})
Auch das Thema Mehrwertsteuersenkung haben Sie
kritisch angesprochen. Ihre Kollegen in Bayern sehen
das anders. Sie wissen selber, dass die wie die Kollegen
der Grünen und der Linken auf Bundesebene der Meinung sind,
({4})
dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz ganz sinnvoll ist.
({5})
Ich muss daran erinnern, dass Sie in der letzten Legislaturperiode dafür gesorgt haben, dass die Umsätze aus
dem Betrieb der Gondelbahnen einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen. Man darf sich die Frage stellen, ob das für diese riesige Branche angesichts des internationalen Wettbewerbs ein cleverer Schachzug war,
wenn man bedenkt, dass in 24 von 27 Ländern ansonsten
gleiche Bedingungen gelten. Genau das ist der Unterschied zur Gastwirtschaft.
({6})
- Wenn Sie glauben, dass das „Adlon“ der Durchschnitt
unserer deutschen Hotels ist, muss ich Ihnen sagen: Der
Durchschnitt sind mittelständische, kleine Betriebe, Familienbetriebe. Genau um die geht es. Die wollen wir
fördern, und das ist uns auch sehr gut gelungen.
({7})
Da ist auch der Großteil der Arbeitsplätze entstanden.
Sie haben gesagt, wir hätten in der Vergangenheit zu
wenig Pläne gemacht. Darüber, dass dieser Bericht der
ausführlichste und inhaltsstärkste ist, der in den letzten
Jahren vorgelegt wurde, besteht, glaube ich, große Übereinstimmung. Das ist wirklich ein vorbildlicher Bericht.
({8})
Darin stehen auch die Beispiele. Dieses Mal wurde
schwerpunktmäßig das Thema Wassertourismus bearbeitet.
({9})
Das Thema Gesundheitstourismus ist bearbeitet worden.
Der Bereich der ländlichen Räume ist schwerpunktmäßig bearbeitet worden. Das sind genau die Bereiche, von
denen wir, so glaube ich, in den nächsten Jahren profitieren können.
({10})
Ich gestehe zu, dass wir in den nächsten Jahren mehr
tun müssen, was das Thema Fachkräftemangel betrifft.
Aber ich sehe nicht, dass wir als Politik da viele Möglichkeiten haben. Da möchte ich an die Branche appellieren. Ich muss erwähnen, dass es der DEHOGA war,
der vor zwei Jahren begonnen hat, mit einem ersten
Schritt voranzugehen. Aber es ist leider noch nicht gelungen, die Branche so attraktiv zu machen, wie sie sein
sollte - was den Tourismusbereich betrifft, schon; was
die Gastronomie und die Hotellerie betrifft, leider nicht
ganz.
Zum Abschluss auch von meiner Seite und selbstverständlich von den Kollegen Helga Daub und Jens
Ackermann, aber auch von der ganzen FDP-Fraktion ein
besonders herzliches Dankeschön an Ernst Burgbacher,
der seit 15 Jahren mit Herzblut begeisterter Tourismuspolitiker ist und über alle Parteigrenzen hinweg geschätzt wird, der aber vor allem auch in der Branche geschätzt wird. Alle wissen, dass er ein verlässlicher und
wirklich konstruktiver Arbeiter für die gemeinsame Sache war, von der wir heute viel gehört haben. Deswegen:
Ernst Burgbacher, wir werden dich vermissen.
Die Tatsache, dass du als Staatssekretär und auch als
Tourismusbeauftragter hier die Latte noch höher gelegt
hast, hat sich als positiv erwiesen. Damit hat dieser
wichtige Bereich in der Bundesregierung vielleicht ein
zusätzliches Gewicht erhalten. Dafür herzlichen Dank!
Für die Zukunft alles Gute! Ich hoffe auf eine weiterhin
gute Zusammenarbeit in diesem Bereich.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher! Wir haben schon gehört: Der
Tourismus gehört zu den am stärksten wachsenden Wirtschaftssektoren weltweit. Die Zahlen dazu, auch für
Deutschland, haben wir gehört. Das ist natürlich sehr erfreulich.
Es läuft im Tourismus jedoch nicht überall so rund,
Herr Staatssekretär, wie Sie es formuliert haben; denn
der Tourismus im ländlichen Raum ist vielerorts schlicht
und ergreifend unterentwickelt. Hier ist noch einiges zu
tun. Wir brauchen hier bessere Rahmenbedingungen und
mehr Unterstützung; denn Fachkräftemangel - er ist
schon verschiedentlich genannt worden -, Defizite in der
Infrastruktur, mangelnde Vernetzung der Verkehrsträger
und der touristischen Anbieter, die Unterversorgung mit
schnellen Internetzugängen - ein ganz wichtiger Punkt sind nur einige der Probleme, die angegangen werden
müssen.
({0})
Bestehende Förderprogramme auf EU-, Bundes- und
Länderebene müssen sehr viel besser aufeinander abgestimmt werden. Die Fördermittel müssen der Tourismuswirtschaft auch zukünftig in ausreichender Höhe zur
Verfügung stehen; denn - wie unser Ausschussvorsitzender Klaus Brähmig immer gerne zu sagen pflegt - der
Tourismus ist ein scheues Reh.
({1})
Das von der Bundesregierung initiierte Projekt „Tourismusperspektiven in ländlichen Räumen“ ist nur ein
Schritt in die richtige Richtung. Die Frage bleibt bestehen: Wie werden die Empfehlungen nun umgesetzt?
Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Bundesregierung? In ihrem Bericht ist auf Seite 27 nur zu lesen:
Derzeit laufen konzeptionelle Überlegungen, wie
der Know-how-Transfer in die örtliche Wirtschaft
und Politik sinnvoll organisiert werden kann.
Das, denke ich, ist mehr als mager. Viel beschriebenes
Papier ohne konkrete Maßnahmen und Taten, die den
ländlichen Regionen wirklich helfen.
Ich möchte Ihr Augenmerk noch auf einen anderen
Bereich lenken, nämlich das Thema Verbraucherschutz
im Tourismusbereich. Bei dem Thema Schlichtungsstelle - Frau Mortler hat es angesprochen - hat sich die
Bundesregierung von der Luftverkehrswirtschaft in die
Knie zwingen lassen und akzeptiert, dass die Luftverkehrsunternehmen sich nicht an einer einheitlichen
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr
beteiligen müssen.
({2})
Das Zuständigkeitschaos ist damit vorprogrammiert; leider zulasten der Flugkunden, aber auch zulasten der
Wirtschaft.
Wir, die SPD, fordern eine verkehrsträgerübergreifende Schlichtungsstelle, etwa nach dem Vorbild der
Schlichtungsstelle Energie.
({3})
Reisende könnten sich dann mit allen im Zusammenhang mit der Reise aufgetretenen Problemen an die bereits bewährte Schlichtungsstelle für den öffentlichen
Personenverkehr, abgekürzt söp, wenden. Noch viel
schlimmer ist: Die Schlichtung könnte für Verbraucherinnen und Verbraucher sogar Geld kosten. Also: Eine
verbraucherfreundliche Politik für diejenigen, die Urlaub machen wollen, sieht wahrlich anders aus.
({4})
Ich hätte gerne noch einen anderen Punkt angesprochen, aber leider läuft meine Zeit ab. Es geht darum,
dass wir im Fernbuslinienverkehr eine große Entwicklung zu verzeichnen haben. Dies ist eventuell auch eine
Chance für den ländlichen Raum. Ich kann nicht gutheißen, dass sich hier große Unternehmen, wie die DB AG,
ausbreiten. Sie beschäftigt tatsächlich tschechische Busfahrer, die bei einer Arbeitszeit von 70 Stunden in der
Woche einen Stundenlohn von sage und schreibe 3 Euro
bekommen. Das wollen wir nicht.
({5})
Das ist nicht nur Lohndumping, sondern Sozialdumping.
Das können wir und auch Sie nicht zulassen.
Ihnen persönlich, Herr Burgbacher, wünsche ich alles
Gute. Sie werden in Südbaden sicherlich in der politischen Szene fehlen. Gute Zeit für Sie!
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen!
({6})
Das Wort hat der Kollege Klaus Brähmig für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Derzeit steht vielen Hoteliers und Gastronomen in ganz
Deutschland buchstäblich das Wasser bis zum Hals. Gerade in den Regionen, die schon 2002 von der Jahrhundertflut betroffen waren, trifft das erneute Hochwasser
die Menschen schwer. Wir als Politiker müssen über alle
Parteigrenzen hinweg nun dafür Sorge tragen, dass diesen Menschen und Betrieben geholfen wird. Vom Gipfel
der Länder mit der Kanzlerin, der heute stattfand, muss
und wird ein klares Signal an die Betroffenen ausgehen.
Es gilt, nicht zu kleckern, sondern zu klotzen. Meiner
Ansicht nach benötigen wir für die Zukunft einen nationalen Katastrophenfonds.
Die Menschen an den großen Flüssen Deutschlands
und die dort ansässige Wirtschaft brauchen eine Perspektive für die Zukunft. Infolge des Klimawandels hat
es in den vergangenen 20 Jahren eine deutliche statistische Häufung von wetterbedingten Naturkatastrophen
gegeben. Die jahrhundertealten Siedlungsräume längs
unserer Flüsse Donau, Elbe, Saale und Rhein sind besonders schützenswert; denn hier findet man Kulturstätten,
um die Deutschland weltweit beneidet wird.
({0})
Zusehends wird es für die Eigentümer und Unternehmen
aber schwieriger, das Risiko einer Existenz an Flusslagen
einzugehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass noch
einmal intensiv über eine solidarische Versicherungslösung nachgedacht werden muss.
Mein Dank gilt heute allen Helfern vor Ort, die in einem Akt nationaler Solidarität einfach anpacken.
({1})
Allen Menschen, die in die Flutgebiete reisen wollten,
sei gesagt: Häufig ist nicht die ganze Urlaubsregion betroffen. Spätestens im August dieses Jahres können viele
Unternehmen wieder ihre vollen Kapazitäten anbieten.
Meine Damen und Herren, eine besondere Geste wäre
es, dann eine Kurzreise in diese Feriengebiete zu unternehmen oder dort einen Urlaub zu verbringen, um die
Wirtschaft wieder anzukurbeln.
({2})
Dies zu sagen, war mir wichtig.
Wir debattieren heute den dritten Tourismuspolitischen
Bericht der Bundesregierung. Den Bericht, den wir heute
beraten, hast du, lieber Ernst Burgbacher, als Tourismusbeauftragter der Bundesregierung zu verantworten. Dafür mein herzlicher Dank!
({3})
Ich möchte dir Dank und Anerkennung auch für die
15 Jahre guter, kollegialer und kameradschaftlicher Zusammenarbeit aussprechen. Ich persönlich bedaure sehr,
dass du nicht mehr kandidierst, hoffe aber, dass du dein
Pensionärsdasein mit deiner Familie genießen wirst.
Mein Dank gilt aber nicht nur dir, lieber Ernst, sondern
auch den Mitarbeitern des Tourismusreferates des Bundeswirtschaftsministeriums, die dem Ausschuss für Tourismus stets als kompetente Ansprechpartner zur Verfügung stehen.
An den nächsten Wirtschaftsminister möchte ich appellieren, dieses Referat personell weiter aufzustocken.
Warum fordere ich eine Aufstockung? Die Tourismuswirtschaft ist einer der stärksten und dynamischsten
Wirtschaftsbereiche, nicht nur in Deutschland, sondern
auch weltweit; in dieser Feststellung sind wir uns in diesem Hause wohl alle einig. Bisher wurde der Tourismuspolitische Bericht, wie Sie wissen, in einem Fünfjahresrhythmus vorgelegt. Würde er allerdings alle zwei Jahre
vorgelegt, könnte man ihn als Handlungsempfehlung
oder Masterplan für die Tourismuswirtschaft in Deutschland ausgestalten. Dann könnte er der Entwicklung sicherlich einen weiteren entscheidenden Schub geben. Aber
dafür benötigt man natürlich mehr Personal.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, einige wichtige Punkte, von denen ich mir noch mehr wirtschaftliche Dynamik erhoffe, will ich ansprechen. Zu nennen
ist die bessere Vernetzung zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik. Die wirtschaftliche Bedeutung des
Tourismus spiegelt sich nicht in dem erforderlichen
Maße in Wissenschaft und Forschung wider. Doch anstatt dass an Universitäten und Fachhochschulen mehr
zum Thema Tourismus gelehrt und geforscht wird, werden Lehrstühle abgebaut. Hier müssen Wissenschaft,
Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten, um die Tourismuswirtschaft und die Tourismuswissenschaft zukunftsfähig zu machen. Als ein positives Beispiel für die
Einbeziehung wissenschaftlicher Studien zur Entwicklung praktischer Konzepte möchte ich die a-ja-Hotels
nennen.
Auch freue ich mich, dass du, lieber Ernst, unseren
Vorschlag aufgegriffen hast, auch einen Vertreter der
Wissenschaft in den Tourismusbeirat aufzunehmen.
Ein kurzes Wort zum Fachkräftemangel. Ich glaube,
es ist ganz wichtig, dass unser duales System eine Erfolgsstory und ein Exportschlager ist. Aber ich bin der
festen Überzeugung: Es kann nicht sein, dass die Bedienung von Maschinen viel besser bezahlt wird als die
Dienstleistung für den Gast.
({4})
Meine Damen und Herren, weil meine Redezeit schon
weit fortgeschritten ist,
({5})
möchte ich nur ganz kurz auf Folgendes eingehen: Barrierefreiheit - meine Kollegen haben es schon gesagt - ist
ein Markenzeichen des Deutschlandtourismus. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Auslandsinstitutionen der
Deutschen Zentrale für Tourismus. Hier gilt es natürlich
ebenfalls, in der nächsten Legislaturperiode für eine weitere Aufstockung zu sorgen. Das wird uns, denke ich,
auch gelingen.
Lassen Sie mich noch ein Wort zur Infrastruktur
sagen, wo in vielen Bereichen ebenfalls Nachholbedarf
besteht und die weiter ausgebaut werden muss. Ich
denke, gerade im Hinblick auf die Hotels konnte durch
die Reduzierung des Mehrwertsteuersatzes eine Menge
bewegt werden.
({6})
Die Hotelbetreiber haben den finanziellen Spielraum
genutzt, um notwendige Investitionen zu tätigen, das
Personal weiterzubilden und neue Arbeitskräfte einzustellen.
Vor wenigen Tagen war ich in meinem Wahlkreis unterwegs und musste feststellen, dass die in der gesamten
Hotellerie und Gastronomie getätigten Investitionen, die
gewissermaßen durch den reduzierten Mehrwertsteuersatz ermöglicht wurden, durch das Hochwasser leider
zunichtegemacht worden sind. Zumindest ich will mich
in der nächsten Legislaturperiode dafür einsetzen - das
kann ich ja tun -, dass der reduzierte Mehrwertsteuersatz
für die Hotellerie erhalten bleibt, zumindest bis eine generelle Neuordnung der Verbrauchsteuern durch die
Politik in Angriff genommen worden ist.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss noch auf Folgendes hinweisen: Wir müssen sehen, wie wir in der EU-Förderperiode ab 2014 trotz der
Streichung der eigenständigen Förderkriterien für diesen
Bereich wiederum eine Förderung des Tourismus organisieren können. Das ist sicherlich möglich; wir haben es
im Ausschuss besprochen.
Zum Abschluss darf ich als Ausschussvorsitzender einen Dank an alle Mitglieder des Ausschusses aussprechen, die es immerhin vier Jahre lang mit mir ausgehalten haben. Ich möchte mich für die außerordentlich
kollegiale Zusammenarbeit herzlich bedanken. Ein ganz
besonderer Dank, meine Damen und Herren, gilt den
Kollegen, die nicht mehr kandidieren, zuallererst meiner
Stellvertreterin Rita Pawelski, aber auch dem Kollegen
Heinz Paula von der sozialdemokratischen Fraktion und
der heute abwesenden, im Krankenstand befindlichen
Kollegin Kornelia Möller, der ich beste Genesungswünsche übermittle. Ein herzliches Dankeschön für die Zusammenarbeit!
({8})
Ich wünsche allen Kollegen, die wieder kandidieren,
viel Erfolg, damit auch in der 18. Legislaturperiode an
der Stärkung des Deutschlandtourismus gearbeitet werden kann. Ich gehe als Ausschussvorsitzender selbstbewusst davon aus, dass der Ausschuss für Tourismus in
der nächsten Wahlperiode vor allem wegen seiner großen wirtschaftlichen Bedeutung weiter gestärkt wird und
vielleicht mehr Mitglieder haben wird.
In diesem Sinne wünsche ich allen viel Erfolg, sage
Danke schön für die Zusammenarbeit und wünsche Gottes reichsten Segen.
({9})
Frau Präsidentin, Danke schön für die Geduld.
Welcher Präsident, welche Präsidentin würde Danksagungen unterbrechen! Auf diese Art und Weise ist die
wundersam verkürzte Redezeit wieder aufgefüllt worden.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13674 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist
vereinbart, den Tagesordnungspunkt 32 - Entwurf eines
Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie -
einschließlich der dazu beantragten namentlichen Ab-
stimmung nicht mehr heute, sondern erst morgen als ers-
ten Tagesordnungspunkt aufzurufen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
14 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Kelber, Elvira Drobinski-Weiß, Willi Brase, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die digitale Welt verbraucherfreundlich ge-
stalten
- Drucksache 17/13886 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Gerold
Reichenbach, Gabriele Fograscher, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({2}),
Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unabhängigkeit der Stiftung Datenschutz sicherstellen
- Drucksachen 17/11825, 17/13938 Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer ({3})Gerold ReichenbachGisela PiltzJan KorteDr. Konstantin von Notz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Brigitte Zypries für die SPD-Fraktion.
({4})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gestern hier an dieser Stelle über den Antrag der
SPD zu den Marktwächtern diskutiert, und wir haben Ihnen unser grundsätzliches Konzept vorgestellt. Heute
möchte ich Ihnen sagen, dass wir Marktwächter auch für
den Bereich der digitalen Welt für ausgesprochen wichtig halten.
Wir alle wissen, dass der technologische Fortschritt
durch das Internet und die neuen Informations- und
Kommunikationsmöglichkeiten viele Dinge einfacher
macht. Auf der anderen Seite macht er die Welt aber
auch komplizierter und undurchschaubarer. Denn an vielen Stellen wissen Verbraucherinnen und Verbraucher
nicht, auf was sie sich mit diesem Internet eigentlich
einlassen. Es ist in vielen Fällen schwer, seriöse und unseriöse Angebote voneinander zu unterscheiden. Nach
wie vor gibt es im Netz oder auch bei Handyverträgen
Fallen, in die man ganz leicht tappen kann. Ich denke da
beispielsweise an die Schnüffel-Apps, die man sich herunterlädt, weil man denkt, man bekäme eine Taschenlampe, die aber das ganze Adressbuch ins Netz übertragen. Oder ich denke an die Abofallen bei Smartphones.
Man kommt ganz leicht auf einen Knopf und schon hat
man ein Abo, für das man 7,99 Euro pro Woche zahlen
muss. Auch unverständliche AGBs machen es den Verbraucherinnen und Verbrauchern schwer, zu verstehen,
in was sie überhaupt einwilligen.
({0})
Die Frage, welche Daten von wem verwendet oder
sogar an Dritte weitergegeben werden sollen, können die
Nutzerinnen und Nutzer häufig nicht beantworten. Hier
setzt unser Vorschlag an. Wir sagen: Die digitalen
Marktwächter sollen die Strukturen im Internet beobachten, sie sollen die Beschwerden der Verbraucherinnen
und Verbraucher sammeln, und sie sollen Missstände an
die zuständigen Aufsichtsbehörden melden.
({1})
Selbstverständlich - das ist sehr wichtig und hat auch
schon positive Ergebnisse gezeigt - müssen die Marktwächter für die Verbraucherinnen und Verbraucher klagen können; denn dass der Bundesverband der Verbraucherzentralen erfolgreich gegen Apple klagen konnte, ist
ein echter Erfolg. Das müssen wir weiter ausbauen.
({2})
Wenn wir über das Internet reden - das hat die Enquete-Kommission eindeutig gezeigt -, ist klar: Wir
müssen vor allen Dingen sicherstellen, dass alle Menschen in unserem Lande einen Zugang zu schnellem Internet haben. Wir können nicht sagen: Das ist nur wichtig für Firmen und Unternehmen. Inzwischen ist es ein
Standortvor- bzw. -nachteil für Gemeinden, die Studierende anwerben wollen; denn wenn es kein schnelles Internet gibt, dann kommen die nicht, um dort zu wohnen.
Es ist wichtig, dass wir die Versorgung mit schnellem Internet in ganz Deutschland als eine Infrastruktur begreifen, die inzwischen genauso wichtig geworden ist wie
die Versorgung mit Wasser, Strom oder Straßen.
({3})
Wir müssen endlich handeln; denn leider sind wir in den
letzten vier Jahren nicht in dem Maße vorangekommen,
wie das angekündigt war und wie wir uns das gewünscht
hätten.
Ganz kurz zu einem weiteren Punkt, über den wir diskutieren müssen. Wir können nicht akzeptieren, dass Telekommunikationsanbieter Daten langsamer durchleiten,
wenn sie von fremden Anbietern kommen.
({4})
Wir brauchen eine gesetzlich festgeschriebene Netzneutralität. Wir wollen nicht, dass Telekommunikationsanbieter Angebote von Dritten drosseln. Das kann nicht
richtig sein.
({5})
Es kann natürlich sein, dass man Datenpakete mit unterschiedlichen Konditionen bucht, aber es darf keine Diskriminierung geben. Wenn ich richtig informiert bin,
könnte die Koalition diesbezüglich jetzt schon handeln.
Sie geben mir recht; vielleicht können Sie gleich noch
etwas zu Ihrer Planung sagen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Das Internet ist heute für die meisten
Menschen in Deutschland privat und beruflich unverzichtbar geworden. Deswegen setze ich mich für eine
flächendeckende Versorgung mit schnellem Internet ein.
Flächendeckend, das heißt, nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land muss eine schnelle Internetverbindung möglich sein.
({0})
Das Ziel ist klar. Wir haben es zwar noch lange nicht
erreicht, aber auf dem Weg dorthin sind wir ein gutes
Stück vorangekommen. Inzwischen haben über 50 Prozent der Haushalte Zugang zu Breitband von mindestens
50 Megabit pro Sekunde,
({1})
2014 werden es 75 Prozent sein, und 2018 werden
schnelle Internetverbindungen hoffentlich flächendeckend zur Verfügung stehen.
Die digitale Welt verändert sich nicht nur rasend
schnell, sondern es wird auch eine riesige Menge an Daten produziert. Der Spiegel hat errechnet, dass im Netz
jeden Tag solche Datenmengen verschickt werden, dass
man 250 Millionen DVDs brauchen würde, um diese
Daten zu speichern. Das Volumen verdoppelt sich alle
zwei Jahre. Darin steckt ein riesiges Potenzial für die
Menschen, aber eben auch eine große Gefahr. Mit jeder
neuen Entwicklung ergibt sich neuer Handlungsbedarf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
haben mit Ihrem Antrag „Die digitale Welt verbraucherfreundlich gestalten“ eine etwas oberflächliche Abhandlung über den Verbraucher im Allgemeinen und den digitalen Verbraucherschutz im Besonderen vorgelegt. Ihre
Kernaussage lautet: die technischen Errungenschaften
nutzen und die Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher wahren. Toll! Herzlichen Glückwunsch zu dieser Erkenntnis!
Es folgt ein Potpourri aus Forderungen, vom Recht
auf ein schnelles Internet über Netzneutralität bis hin zur
Etablierung des Markt-Ort-Prinzips. Die meisten dieser
Forderungen sind alt und überholt.
({2})
Wir setzen uns schon seit Jahren intensiv für guten digitalen Verbraucherschutz im Spannungsfeld zwischen
Technikoffenheit und Datenschutz ein. Unsere Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner hat es auf den Punkt
gebracht. Sie sagt:
Für die IT-Branche ist Datenschutz eine Schicksalsfrage. Im Internet wird langfristig nur Erfolg haben,
wer die Interessen der Nutzer respektiert und ihre
persönlichen Daten so gut wie nur irgendwie möglich schützt.
Recht hat sie.
Wir wollen ein hohes europäisches Datenschutzniveau. Die neue EU-Datenschutz-Grundverordnung
soll sicherstellen, dass die persönlichen Daten von Verbrauchern in Europa besser geschützt werden. Das ist
gut. Das unterstützen wir. Deutschland gibt dabei ein hohes Datenschutzniveau vor, und auf weniger Datenschutz werden wir uns in Europa nicht einlassen. Daher
gilt hier: Sorgfalt vor Schnelligkeit. Wir gehen noch ein
Stück weiter: Auch außereuropäische Anbieter sollen
sich an das europäische Datenschutzrecht halten müssen,
wenn sie ihre Angebote an europäische Verbraucher
richten.
Mit uns führt kein Weg an datenschutzfreundlichen
Voreinstellungen vorbei. Wir wollen auch das Recht auf
Vergessen - das ist ein zentraler und gleichzeitig strittiger Punkt in den Verhandlungen mit unseren EU-Partnern -: Jedem Nutzer muss es möglich sein, seine persönlichen Daten im Internet zu löschen. Facebook,
Google und Co. dürfen nicht über meine Daten verfügen,
wenn ich das nicht möchte.
Damit ich aber überhaupt erst weiß, was diese Anbieter alles mit meinen Daten anstellen können, muss ich
mich informieren, und ich muss wissen, wie ich an diese
Informationen komme. Deshalb gehört für uns zu einer
gelungenen Verbraucherpolitik auch immer eine gute
Verbraucherbildung.
({3})
Verbraucher müssen wissen, wie sie sich gegen den
Missbrauch der eigenen Daten im Internet schützen können. Nur wenn sie gut informiert sind, können sie über
ihre Privatsphäre souverän selbst bestimmen.
Wir reden hier über eine Welt, die sich rasend schnell
verändert. Jede Minute bringt neue Innovationen, aber
auch neue Gefahren. Deshalb brauchen wir eine breite
gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir das digitale
Deutschland gestalten wollen. Dabei sind alle gefragt:
Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und die Netzgemeinde.
({4})
Was wir in der vorletzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode dagegen nicht brauchen, ist ein altbackener,
überflüssiger Antrag der SPD. Wir brauchen keinen Antrag, der nur dazu dient, dass Frau Zypries als Schattenverbraucherministerin eine Bühne bekommt, um zu Verbraucherfragen zu sprechen. Frau Zypries, leider sieht es
mit Ihrer Kompetenz in Sachen Verbraucherpolitik mager aus.
({5})
Das haben Sie in der gestrigen Debatte bewiesen. Sie haben munter über Vorhaben von 2001 geplaudert, aber die
aktuellen Themen - es ist zwölf Jahre später; wir leben
im Jahr 2013 - kennen Sie nicht. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Warteschleifen sind seit dem 1. Juni 2013 kostenlos. Wenn Sie auf Ihrer Wahlkampftour das nächste
Mal danach gefragt werden, dann sagen Sie einfach: Ist
erledigt, die christlich-liberale Koalition hat sich längst
darum gekümmert. Alles gut!
({6})
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die SPD hat einen Antrag vorgelegt, der den Titel „Die digitale Welt verbraucherfreundlich gestalten“
trägt. Vieles von dem, was die SPD auf fünfeinhalb Seiten als Zustandsbeschreibung abgibt,
({0})
teilen wir.
({1})
Dass beim Verbraucherschutz in der digitalen Welt einiges im Argen liegt und deshalb Handlungsbedarf
besteht, wird am Sondervotum der drei Oppositionsfraktionen im Bereich der Handlungsempfehlungen der Projektgruppe Verbraucherschutz der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ deutlich.
({2})
Wir Linken wollen den Verbraucherschutz in der digitalen Welt stärken und ihn auf ein Niveau heben, das abseits der digitalen Welt schon lange existiert.
Im Umkehrschluss sollten wir aber auch nicht vernachlässigen, dass zum Beispiel die Weiterentwicklung
von Verbraucherinformationsangeboten im Netz nicht
dazu führen darf, dass Bürgerinnen und Bürger ohne
Netzzugang von jedem Zugang zu solchen Informationen ausgeschlossen sind.
({3})
Die SPD fordert die Bundesregierung auf, zu prüfen,
wie der Weiterverkauf von digitalen Gütern rechtlich ermöglicht werden kann. Wenn ich beispielsweise im
Buchhandel ein Buch kaufe, kann ich das jemandem
ausleihen oder weiterverschenken. Kaufe ich mir das
gleiche Buch aber digital als E-Book, kann ich dieses
Buch nicht ohne Weiteres - also eigentlich gar nicht verborgen oder verschenken. Technisch wäre das alles
möglich, aber die Unternehmen haben etwas dagegen.
Das zeigt: Wo Profit maximiert werden kann, muss der
Verbraucher eben mit der Beschneidung seiner Rechte
leben.
Wir als Linke haben bereits einen konkreten Vorschlag für die Ermöglichung eines solchen Weiterverkaufs unterbreitet. Unser Vorschlag sieht vor, dies in
§ 17 a Urheberrechtsgesetz zu verankern. Vielleicht
kann ja diese oder eine andere Bundesregierung den Vorschlag aufgreifen. Wir würden diesbezüglich auch keine
Abmahnung wegen Urheberrechtsverletzung schreiben.
({4})
Damit sind wir an einem weiteren Punkt des SPD-Antrages. Die SPD möchte die massenhaften Abmahnungen wegen Urheberrechtsverletzungen eindämmen. Seit
Jahren haben wir in Deutschland eine regelrechte Industrie der Massenabmahnungen. Wir haben hier schon
mehrmals ausführlich darüber gesprochen. Auch insoweit empfehle ich den von der Linken vorgelegten Gesetzentwurf. Auch hier würden wir, sollte dieser Entwurf
aufgegriffen werden, keine Abmahnung wegen Urheberrechtsverletzung schreiben.
({5})
Über das Thema Netzneutralität will ich jetzt nicht reden, weil wir dazu die Reden zu Protokoll gegeben haben.
Aber kommen wir noch einmal zum Thema Datenschutz. Nicht erst seit dem Bekanntwerden von Prism,
der umfassenden Überwachungsmaßnahme von großen
Internetfirmen durch den US-Geheimdienst, wissen wir,
dass unsere eigenen Daten ein begehrtes Gut sind. Dass
US-Geheimdienste bei großen Internetfirmen Daten über
deren Nutzerinnen und Nutzer anfordern und diese Firmen bereitwillig liefern - vermutlich zumindest -, ist ein
Skandal. Vorhin war zu hören, der BND habe von allem
nichts gewusst. Datenschutz ist deswegen angezeigter
denn je. Das zeigt im Übrigen auch - diese sachfremde
Bemerkung kann ich Ihnen nicht ganz ersparen -, dass
Geheimdienste machen, was sie wollen, und abgeschafft
gehören.
({6})
Wer Freiheit verteidigen will, indem er Freiheit einschränkt, wird am Ende Freiheit verlieren.
Ob die Stiftung Datenschutz geeignet ist, Datenschutz
durchzusetzen,
({7})
ist mehr als zweifelhaft. Die Konstruktion dieser Stiftung Datenschutz mit der Übermacht von Wirtschaftsvertretern lässt uns mehr als zweifeln. Ich würde sagen,
dass das Modell gescheitert ist.
({8})
Wir halten es für vernünftiger, die Datenschutzbeauftragten finanziell und personell zu stärken und trotzdem
unabhängig zu behalten. Wir werden dem Antrag der
SPD zustimmen, auch wenn er uns an verschiedenen
Stellen zu viele Prüfaufträge enthält und zu wenige Lösungen anbietet. Aber er ist ein Anfang, und den wollen
wir nicht behindern.
({9})
Das Wort hat der Kollege Professor Dr. Erik
Schweickert für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss gestehen: Ich bin heute morgen in die Fänge des US-Geheimdienstes geraten. Vor zwanzig Jahren hätte ich dafür
eines schweren Verbrechens bezichtigt werden müssen.
Heute Morgen habe ich einfach nur meine E-Mails abgerufen.
Hier wird Freiheit von unbescholtenen Bürgern mit
Füßen getreten. Das dürfen wir als Deutscher Bundestag
nicht durchgehen lassen.
({0})
Hier muss die Bundeskanzlerin ein deutliches Zeichen
setzen; denn Datenschutz ist ein essenzielles Bürgerrecht. Wir dürfen uns dieses Bürgerrecht nicht von amerikanischen Behörden nehmen lassen. Das müssen wir,
das muss die Bundeskanzlerin Präsident Obama gegenüber deutlich zum Ausdruck bringen, wenn der US-Präsident nächste Woche hier in Berlin ist.
({1})
Das Beispiel zeigt uns deutlich: Wir stehen vor großen Herausforderungen im Umgang mit der digitalen
Welt. Das Recht auf Selbstbestimmung in dieser digitalen Welt muss Realität werden, und zwar nicht nur gegenüber Behörden und Staaten, sondern auch gegenüber
Unternehmen. Google Street View filmt unsere Häuser.
Facebook speichert unsere Aufenthaltsorte. App-Anbie31398
ter greifen auf unsere Kontakte zu, und die neue XboxOne-Kamera ermöglicht nicht nur das interaktive Spielen, sondern schaut uns womöglich auch beim Spielen
zu, wenn wir es gar nicht wollen.
Dadurch wandelt sich die Rolle der Verbraucher. Wir
sind nicht nur aktiv beim Verbrauchen, sondern wir werden selbst Objekte von Unternehmen und Staaten. Der
digitale Verbraucher wird vom bewussten Konsumenten
zum unfreiwilligen Lieferanten, nämlich zum Lieferanten seiner Daten; häufig werden diese im Hintergrund
und ohne sein Wissen gesendet. Diesen unbewussten
Wandel der Verbraucherrolle vom Konsumenten zum
Lieferanten müssen wir in die Schranken weisen.
({2})
Problematisch dabei ist allerdings, dass die Grenzen
der analogen Welt nicht immer die der digitalen Welt
sind. Deshalb greifen auch nationale Regelungen nicht
weit genug. Aus meiner Sicht benötigen wir zwingend
eine Neuverhandlung des Safe-Harbor-Abkommens
zwischen der Europäischen Union und den USA.
({3})
Wenn ein Unternehmen in Europa digitale Leistungen
erbringt, sollte es europäischem Recht unterliegen, auch
wenn sein Sitz in den USA ist.
Dort, wo nationale Regelungen den Verbrauchern
besseren Schutz gewähren, hat diese schwarz-gelbe Regierungskoalition gehandelt. Wir haben die Kostenfallen
im Internet geschlossen. Mit dem sogenannten Internetbutton ist seit 1. August 2012 explizit auf die Kostenpflichtigkeit eines Angebots hinzuweisen. Das heißt, die
Verbraucher werden vor versteckten Kosten in den ellenlangen Allgemeinen Geschäftsbedingungen geschützt.
Es ist nicht mehr möglich, ihnen dort etwas unterzujubeln. Wir haben mehr Transparenz und ein Sicherheitsnetz für die Verbraucher gegen Abzocke geschaffen.
({4})
Wir haben dafür gesorgt, Frau Zypries, dass die von
der Telekom angekündigte Drosselung bei ihren DSLKunden durch die Bundesnetzagentur akribisch geprüft
wird. Die Bundesnetzagentur ist genau das Instrument,
das wir dafür brauchen. Sie verhilft dem Grundsatz der
Netzneutralität zum Durchbruch; denn dieser darf nicht
aufgegeben werden.
Wir wollen außerdem die Verbraucherkompetenz im
Netz stärken und die Verbraucherbildung zu einem festen Bestandteil der Schullehrpläne machen. Dies ist ein
gemeinsames Anliegen dieses Hauses und der Deutschen Stiftung Verbraucherschutz. Letztlich bleibt auch
Datensparsamkeit ein wichtiger Baustein für Daten- und
Verbraucherschutz. Das müssen wir selbst kleinen Kindern beibringen; denn jeder kann seinen Beitrag dazu
leisten, dass Datenkraken nur kurze Arme haben.
({5})
Vom Leitbild des unselbstständigen Verbrauchers ist
es für die SPD nur ein kurzer Weg zum bevormundeten
Verbraucher. Da ist für die SPD wie selbstverständlich
der Staat die beste Medizin. Es ist dann zwar folgerichtig, dass Sie ein Instrument für einen modernen Ansatz
von Kooperation und den Anreiz zur Selbstregulierung
wie die Stiftung Datenschutz ablehnen, sinnvoll ist es
aber auf gar keinen Fall. Im Sinne eines effizienten Verbraucherschutzes ist es auch nicht. Denn bei der Stiftung
Datenschutz wird ein Gütesiegel vergeben, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf einen Blick Gewissheit verschafft, ob der Anbieter mit den Daten gut
umgeht, ob man ihm diese guten Gewissens anvertrauen
kann oder nicht.
Statt sich einzubringen und ihre Vorstellungen zu formulieren, wie so ein Gütesiegel aussehen könnte, stellen
SPD und Grüne sich in die Schmollecke, und das, obwohl Sie - der Gedanke ist Ihnen gar nicht so neu und
gar nicht fremd - in Ihrem Koalitionsvertrag 2002 gemeinsam geschrieben haben - ich zitiere -, dass es eine
„Einführung selbstregulativer Modelle“ geben sollte und
zu „prüfen bleibt, ob und in welcher Form eine institutionalisierte Plattform zur Koordination eingerichtet
werden kann“. Das haben Sie aber nicht hingekriegt.
Wir, Schwarz-Gelb, haben es hingekriegt. Deshalb führen Sie sich jetzt auf wie ein beleidigtes Kind, dem man
das Förmchen weggenommen hat.
({6})
In Ihrem Antrag schreiben Sie, es bestünde im Beirat
der Stiftung Datenschutz eine „Beschlussmehrheit der
Vertreter der datenverarbeitenden Wirtschaft“. Das ist
schlicht falsch. Von den insgesamt 34 Mitgliedern können datenverarbeitende Branchen - darunter befinden sich
übrigens nicht nur die Wirtschaft, sondern auch spendensammelnde Organisationen, zum Beispiel Greenpeace
und der BUND - 14 Mitglieder benennen. Bleiben nach
Adam Riese 20 übrig. Das sind mehr als 14.
Sie haben allerdings recht, wenn Sie sagen, dass es
nur einen Sitz für den Bundesdatenschutzbeauftragten
gibt. Aber Sie unterschlagen dabei natürlich, wie Sie es
gerne tun, einen Sitz für den Landesdatenschutzbeauftragten und einen weiteren für die Datenaufsichtsbehörden der Länder. Dann kommen noch neun Vertreter des
Bundestages und Vertreter des Anwaltvereins, der öffentlichen Verwaltung, des BSI, der Kultusministerkonferenz, der Innenministerkonferenz und der Kirchen sowie des vzbv und der Stiftung Warentest dazu.
Es ist schade, dass Sie - jenseits der demokratischen
Gepflogenheiten - die dem Bundestag und Ihren Fraktionen zustehenden Sitze boykottieren. Da muss schon
ein großes Wirtschaftsunternehmen in seinen Beirat einladen, damit Herr Reichenbach und Herr von Notz nicht
Nein sagen. Aber bei einer Stiftung, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist, weigern Sie sich, mitzumachen.
({7})
Das verstehe, wer will. Damit werden Sie dem Anliegen,
das wir haben - der Daten- und Verbraucherschutz nicht gerecht.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag
der SPD ist grundsätzlich zu begrüßen. In ihm werden
dringende Verbesserungen im Bereich des digitalen
Verbraucherschutzes angemahnt, für die auch meine
Fraktion seit langem streitet: eine tatsächliche gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität, Privacy-byDesign- und Privacy-by-Default-Konzepte, das Recht
auf Transportabilität der eigenen Daten, die Weiterentwicklung des Rechts auf eine Privatkopie und die drängende und überfällige Begrenzung der Abmahnkosten.
({0})
In dem Antrag wird zu Recht festgehalten, dass Grundlage einer verbraucherfreundlichen offenen demokratischen Gesellschaft der Zugang zu einem schnellen und
neutralen Internet ist. In dem Antrag werden zahlreiche
Themen angesprochen, über die wir uns in den letzten
drei Jahren in der Enquete-Kommission „Internet und
digitale Gesellschaft“ intensiv ausgetauscht haben und
für die wir fraktionsübergreifend konkrete Vorschläge
erarbeitet haben.
In dem Antrag werden zahlreiche Themen des Wandels zur digitalen Gesellschaft angesprochen, die die
schwarz-gelbe Bundesregierung in dieser Legislatur
sträflich vernachlässigt hat, Herr Kollege Schweickert.
({1})
Sei es eine gute Breitbandversorgung für alle Menschen
und alle Regionen in Deutschland, sei es die gesetzliche
Wahrung der Netzneutralität, sei es die dringend benötigte Reform des Urheberrechts oder sei es der digitale
Daten- und Verbraucherschutz: Ihre Bilanz, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, ist - das können
Sie hier heute überhaupt nicht verbergen - auch in diesem Bereich verheerend.
({2})
Egal wohin man schaut, man muss feststellen: Die
schwarz-gelbe Bundesregierung hat beim Schutz der
Bürgerinnen und Bürger in der digitalen Welt kläglich
versagt. Das wird dieser Tage in Zeiten von Drosselkom
und Prism auch dem Letzten klar. Sie haben all die guten
Vorschläge, Ideen und Konzepte, die es gibt, leider gänzlich ignoriert.
({3})
Das bringt mich direkt zur Stiftung Datenschutz, Herr
Kollege Schweickert, zu der Ihnen heute ein Antrag von
uns vorliegt. Die Stiftung Datenschutz ist ein völlig unterfinanzierter Einmannbetrieb; doch Sie wagen es noch
immer, dieses gefloppte Projekt völlig ernsthaft und
ganz ironiefrei einen Erfolg Ihrer Koalition zu nennen.
({4})
Herr Schweickert, Sie haben die Stiftung Datenschutz
hier am Pult verteidigt. Sprechen Sie einmal mit Ihrem
Mann da in Leipzig! Fahren Sie einmal nach Leipzig!
Die ganze Veranstaltung ist ein Witz erster Kajüte. Und
damit blähen Sie sich hier so auf! Das ist lächerlich.
({5})
Ich kann der SPD auch heute leider nicht Kritik ersparen. Ich muss ansprechen, dass die SPD, obwohl sie in
ihrem Antrag zu Recht die Datensammelwut des Staates
kritisiert, ihre Haltung zur Vorratsdatenspeicherung nicht
korrigiert, und das, obwohl wir am Fall Prism die
krassen und verfassungswidrigen Auswirkungen dieser
Sicherheitslogik klar erkennen können. Was wir jetzt
über Prism erfahren, ist erschreckend und wird in den
Bereichen, über die wir hier diskutieren, verheerende
Auswirkungen haben. Es ist schlimm genug, dass
dauerhafte massenhafte schwellenlose Grundrechtsverletzungen zum System erhoben wurden. Die Enthüllungen werden darüber hinaus auch das Vertrauen in
den zentralen Kommunikationsraum unserer Zeit nachhaltig schwächen. Das ist schlecht für die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber auch für die Wirtschaft. Und
es ist verheerend, wenn nicht gar tödlich, für sämtliche
E-Government-Projekte wie zum Beispiel Ihr geliebtes
De-Mail-Projekt.
({6})
Mit Erstaunen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Union - das sage ich Ihnen jetzt einmal ganz direkt höre ich Ihre öffentlichen Statements zu Prism. Da wird
geholzt: CSU-Parlamentarier sprechen von Stasimethoden. Innenminister geben sich empört und schreiben
Briefe an die US-Regierung. Das sind dieselben Kolleginnen und Kollegen, denen hier in den letzten Jahren
kein Sicherheitsgesetz scharf genug sein konnte,
({7})
die bei jeder Gelegenheit die Vorratsdatenspeicherung
fordern, diesen Dammbruch für den Schutz der freien
Kommunikation und der Unschuldsvermutung. Das ist
unglaubwürdig, und das trägt bigotte Züge.
({8})
Ich sage Ihnen: Die Diskussion um Prism - ja, damit
müssen Sie jetzt leben - und die Praktiken der Totalüberwachung müssen der Wendepunkt in der Debatte um das
immer stärkere Ausdehnen sogenannter Sicherheitsgesetze nach 2001 sein. Vollziehen wir diese Wende jetzt
nicht, gibt es bald keinen Rechtsstaat mehr, den wir hier
verteidigen können.
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Michael Frieser für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Herr Kollege,
durch Lautstärke hat noch niemand die Situation retten
können.
({0})
Es ist keine Lösung, möglichst viele Nebelkerzen in einen Topf zu werfen, sich das bunte Feuerwerk anzuschauen und zu hoffen, dass irgendetwas irgendwo
schon hängen bleiben wird.
({1})
Zur Frage des Verbraucherschutzes und zum Thema
Daten haben die Kollegin Heil und der Kollege
Dr. Schweickert schon das Entscheidende gesagt. Die
Union hat deutlich gemacht, dass das, was in den Vereinigten Staaten passiert, soweit es europäischen Boden
betrifft, auf einer Rechtsgrundlage zu basieren hat, die
überprüfbar sein muss. Das ist unsere Haltung. Das war
sie immer. Der Datenschutz in Deutschland und in Europa muss auch für die Amerikaner gelten. Hier werden
Sie es nicht schaffen, uns irgendetwas ans Bein zu binden, was mit den letzten vier Jahren mit Sicherheit nichts
zu tun hat.
({2})
Abstruser wird die Situation noch, wenn man sich
über die Frage Stiftung Datenschutz unterhält. Stellen
Sie sich einmal vor: Diese christlich-liberale Koalition
hat in den letzten vier Jahren genau das geschafft, was
vonseiten der SPD seit 1998 angekündigt wurde. Mit der
Aussage, „Wir werden etwas schaffen, das in der Lage
ist, unabhängig vom Staat, aber auch unabhängig von
der Wirtschaft zu agieren“, beginnt bereits die irrige
Logik, zu glauben, man könne Unabhängigkeit in irgendeiner Art und Weise, am besten noch im Chemielabor, konstruieren.
Wir haben eine Stiftung Datenschutz - Herr Kollege, Sie
haben es Gott sei Dank auch zahlenmäßig aufbereitet -, bei
der vollkommen klar ist, dass weder die öffentliche
Hand, vor der gewissermaßen eine große Angst bestanden hat, noch die datenverarbeitende Wirtschaft überhandnehmen können.
({3})
Kollege Frieser.
Ich habe ihn schon gesehen. Einen kleinen Augenblick. Vielleicht kann er sich die Frage so lange merken,
bis ich mit diesem Gedanken fertig bin.
Wir haben es geschafft, dass sich diese beiden Pole
gegenseitig kontrollieren. Das ist die Definition von
Unabhängigkeit. Das heißt, dass es auf der einen Seite
eine öffentliche Kontrolle der Politik und auf der anderen Seite die datenverarbeitende Wirtschaft mit ihrem
Sachverstand und die Verbände, die für den Verbraucherschutz da sein sollen, gibt. Das ist unsere Vorstellung von Datenschutz, vor allem von verbrauchergerechtem Datenschutz.
Sich jetzt an dieser Stelle in die Obstruktion zu flüchten, weil man der Auffassung ist, das könne nur in öffentlicher Hand organisiert werden, ist meines Erachtens
der Inbegriff der Unlogik oder der Zwiegespaltenheit;
denn es geht eigentlich nur darum, Obstruktion zu
betreiben. Es geht eben gerade nicht mehr darum, deutlich zu machen, dass man einen unabhängigen Verbraucherschutz will und dass man eine Stiftung will, bei der
Fachleute zusammengezogen werden, die in der Tat
auch in der Lage sind, darüber zu entscheiden, was notwendig ist. - Jetzt hätten wir Zeit.
Dann frage ich Sie, ob Sie eine Bemerkung oder
Frage des Kollegen von Notz zulassen. - Das ist so.
Dann hat er das Wort.
Herzlichen Dank, Herr Kollege. - Die Stiftung Datenschutz, die Sie hier so über den grünen Klee loben,
haben Sie, glaube ich, noch nie gesehen oder sich mit
den Menschen, die dort verantwortlich sind - es ist, ehrlich gesagt, nur einer -, unterhalten. Sie haben dieses
großartige Projekt beschrieben, daher können Sie mir
vielleicht sagen, wie viel Geld dieser Stiftung im Jahr
zur Verfügung steht, wie viele Menschen derzeit für sie
arbeiten, ob es eine Homepage gibt, auf der man schon
irgendetwas feststellen kann und wie viele der Plätze im
Aufsichtsrat, den Sie hier so gelobt haben, überhaupt besetzt sind. Das würde mich sehr interessieren. Ich könnte
Ihnen dann auch die Antworten geben. Das kann ich mir
nämlich merken.
Ich fange einmal mit der Satzung an. Die Stiftung hat
keinen Aufsichtsrat, sondern einen Verwaltungsrat, einen Vorstand und einen Beirat.
({0})
Das macht aber nichts. Ich finde die Tatsache interessant, dass man durchaus in der Lage wäre, von diesen
34 Verwaltungsratsmitgliedern einen auszuwählen, der
sich mit genau diesen Fragen beschäftigt,
({1})
damit nämlich, wie sich diese Stiftung zu finanzieren
hat, wie der Arbeitsauftrag aussieht und was die Aufgabenfelder sind. Genau das wäre die Aufgabe: einen
Vorstand zu kontrollieren und ihm mit diesen Fragen
deutlich zu machen, welchen Auftrag er nach der Satzung tatsächlich haben sollte. Das müsste meines Erachtens als Antwort schon genügen.
({2})
Mir geht es aber noch um etwas ganz anderes, nämlich um die entscheidende Tatsache, dass Sie an dieser
Stelle versuchen, ein Instrument, das Sie selber einmal
mit aus der Taufe heben und schaffen wollten, nur weil
es in der Zeit der Koalition erarbeitet und auf den Weg
gebracht wurde, durch politische Obstruktion lahmzulegen. Ich hoffe nur, dass sich die Menschen, die sich dort
einbringen, dass sich die Fachleute in diesem Land, die
sich dort einbringen, nicht davon ins Bockshorn jagen
lassen, sondern dass wir in der Lage sind, unserem politischen Auftrag gerecht zu werden und dem Datenschutz
gerade auch mit der Stiftung Datenschutz eine Zukunft
zu geben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Ulrich Kelber für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die SPD versteht die umfassende Digitalisierung als eine Chance, gesellschaftlich und wirtschaftlich.
Wir sehen die Chance in gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe, in neuen Bildungsmöglichkeiten und wirtschaftlichem Innovationspotenzial. Wie immer gibt es
dabei natürlich auch Risiken: beim Schutz persönlicher
Daten, mit neuen Abhängigkeiten, die entstehen, durch
wirtschaftliche Übervorteilung.
Wir haben mit unserem Positionspapier und dem
darauf basierenden Antrag „Die digitale Welt verbraucherfreundlich gestalten“ einen Vorschlag gemacht, wie
man auch in der digitalen Welt verbraucherpolitische
Leitplanken zum Nutzen der Verbraucherinnen und Verbraucher einziehen kann. Meine Kollegin Brigitte
Zypries hat einige der Handlungsfelder, die wir angesprochen haben, schon erläutert. Ich will drei weitere
Beispiele nennen: die Frage der Datenportabilität, die
Frage von Privacy by Default und Privacy by Design
und die Frage der Nutzerrechte im Urheberrecht.
Das Recht auf Datenportabilität, in der Öffentlichkeit
noch wenig wahrgenommen, wird zu einem der entscheidenden Grundrechte werden. Bei der Nutzung von
Cloud-Diensten, integrierten Foto-, Video- und Musikdiensten und sozialen Netzwerken hinterlege ich Daten,
speichere ich Daten, vertraue ich einem Dienstleister
Daten an. Aber längst gilt das auch bereits für Gegenstände wie zum Beispiel ein Auto oder ein SmartMeter.
Bei den Schwierigkeiten beim Export dieser Daten, bei
der Übernahme in das Angebot eines Konkurrenten entsteht schnell der goldene Käfig eines Herstellers.
Einen kurzen Augenblick. - Ein Recht auf Datenportabilität, auf eine elektronische Kopie, auf einen
Übertrag auf einen anderen Dienstleister schafft Kontrollmöglichkeiten für die Verbraucherinnen und Verbraucher und sorgt für Wettbewerb.
Herr Kollege Schweickert möchte eine Frage stellen
oder eine Bemerkung machen.
({0})
Sie gestatten das? - Dann hat er das Wort.
Herr Kelber, vielen Dank für das Zulassen der Zwischenfrage.
Sie sprechen in Ihrem Antrag, auf den Sie jetzt noch
einmal deutlich verwiesen haben, immer von Marktwächtern, die Sie in der digitalen Welt einführen möchten. Ich stelle Ihnen die Frage, ob Sie auf abgeordnetenwatch.de bei einer Antwort den Marktwächter mit den
Eigenschaften „Schnüffeln“, „Bellen“ und „Beißen“ definiert haben. Sind Sie nicht der Meinung, dass diese
Definition eines Marktwächters in der digitalen Welt gerade in der heutigen Zeit, in der wir das Thema Prism
und anderes diskutieren, unangebracht ist?
Herr Kollege Schweickert, ich weiß nicht, wie Sie mit
abgeordnetenwatch.de umgehen. Ich halte es übrigens
für gut, weil die Fragen öffentlich gestellt und öffentlich
beantwortet werden. In der letzten Zeit habe ich dort
etwa 100 Fragen beantwortet.
In der Tat habe ich bei der Frage nach den Marktwächtern darauf verwiesen - im Gegensatz zu mir werden Sie den Text wahrscheinlich vor sich liegen haben;
ich wiederhole ihn aus meiner Erinnerung -, dass sich
der Begriff am englischen Beispiel orientiert, wo es
„consumer watchdog“ heißt. Dort wird definiert, dass er
schnüffelt, bellt und beißt.
Er untersucht den Markt zum Beispiel mit Mystery
Shopping, wie es Verbraucherministerin Aigner vorge31402
schlagen, aber nicht umgesetzt hat. Er gibt Laut, wenn
jemand unfaire oder falsche Angebote macht - das ist
das Bellen -, und er beißt zum Beispiel mit juristischen
Klagen zu. Ich glaube, das ist eine gute Beschreibung
dessen, was ein Wachhund macht.
({0})
Wir haben es „Marktwächter“ genannt, damit wir keine
Begrifflichkeiten verwenden, die Ihnen eine schlaflose
Nacht bereiten, Herr Kollege Schweickert.
({1})
Wir wollen die Grundsätze „Privacy by Default“ und
„Privacy by Design“ gesetzlich verankern. Ich will das
am Beispiel von Privacy by Default darstellen:
Die Einhaltung der Verpflichtung von Anbietern,
Dienstleistern und Herstellern von Produkten, diese zunächst auf maximalen Datenschutz und maximale Sicherheit einzustellen und es den Verbraucherinnen und
Verbrauchern zu überlassen, diese Einstellungen zu öffnen oder Daten preiszugeben, ist heute nicht gewährleistet. Oft muss man sich bis zu der am tiefsten hinterlegten
Einstellung durchklicken, um einen minimalen Datenschutz zu gewährleisten.
Wir wollen die Nutzerrechte in einem modernen Urheberrecht stärken, zum Beispiel durch das Recht auf
Weiterverkauf digitaler Güter. Aber wir wollen eben
auch, dass die aus der analogen Welt bekannte Idee der
Privatkopie unter den besonderen Bedingungen digitaler
Nutzungsmöglichkeiten erweitert wird. Es muss also
möglich sein, die Daten in mein privates Netzwerk zu
Hause oder auf mobile Geräte zu kopieren.
Die besondere Herausforderung besteht in der Tat in
den Innovationszyklen der digitalen Wirtschaft. Oft entsteht in wenigen Wochen oder Monaten ein neuer
Dienst. Wenn man dies mit der Geschwindigkeit vergleicht, mit der allein schon aufgrund der Beteiligungsrechte einzelgesetzliche Regelungen erfolgen können, so
sieht man: Dies ist ein hoffnungsloses Rennen. Daher
müssen wir technologie- und dienstneutrale Regelungen
treffen, die bei neuen Fragestellungen durch starke Verbraucherbehörden, aber eben auch durch die Zivilgesellschaft, Herr Professor Schweickert, also durch Marktwächter, durchgesetzt werden können.
Wir wollen die Chancen der Digitalisierung dafür nutzen, die Grundrechte der Verbraucherinnen und Verbraucher in der digitalen Welt politisch durchzusetzen. Dies
geschieht nicht durch Technik oder Wettbewerb allein;
es muss politisch aktiv gestaltet werden.
Sie haben gemerkt, dass ich keine großen Angriffe
gegen die Regierung gestartet habe, weil ich erläutern
wollte, aber zu einem Punkt, den Herr Schweickert in
seiner Rede als Mitglied der Regierungskoalition genannt hat, möchte ich doch etwas sagen:
Er hat gefordert, wir müssten das Safe-Harbor-Abkommen mit den Vereinigten Staaten, das natürlich vor
allem Unternehmen wie Facebook und andere für sich
nutzen, neu verhandeln. Die Forderung ist richtig. Meine
Frage ist nur: Warum haben Sie - auch Sie als Person in den letzten dreieinhalb Jahren auf Anträge der Opposition, das zu tun, immer mit einer Neinstimme geantwortet, anstatt uns in diesem Punkt zu unterstützen?
({2})
Wir haben in acht Minuten Redezeit nur einige
Punkte aus unserem Antrag „Die digitale Welt verbraucherfreundlich gestalten“ vorstellen können. Ich lade
alle ein, mit uns darüber zu diskutieren und Vorschläge
zu machen - auch dafür, was zusätzlich passieren oder
anders werden muss. Wir freuen uns auf den Dialog.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13886 mit dem Ti-
tel „Die digitale Welt verbraucherfreundlich gestalten“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Antrag ist abgelehnt mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung von
SPD und Linken und Enthaltung der Grünen.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Unabhängigkeit der Stiftung Da-
tenschutz sicherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13938, den
Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/11825 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b so-
wie die Zusatzpunkte 7 bis 9 auf:
15 a) -Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vorschlag für eine
Verordnung des Rates zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der
Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank
- Drucksache 17/13470 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates
zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank
- Drucksachen 17/13829, 17/13901 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 17/13961 -
-
Abgeordnete Ralph Brinkhaus-
Manfred Zöllmer-
Dr. Volker Wissing-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Peer Steinbrück,
Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin
Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte - Für eine starke europäische Bankenunion zur Beendigung der Staatshaftung bei
Bankenkrisen
- Drucksachen 17/11878, 17/13961 Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerDr. Volker WissingDr. Gerhard Schick
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({1}),
Manuel Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu den angekündigten Vorschlägen der EUKommission zur Bankenrestrukturierung und
-abwicklung
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Bankenunion beschleunigen statt bremsen Über eine Abwicklungskompetenz der Europäischen Kommission die Haftung der Steuerzahler beenden
- Drucksache 17/13908 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute
auf die Europäische Zentralbank ({3}) in der Fassung vom 16. April 2013
Ratsdok. 7776/1/13 REV 1
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Kontrollrechte des Europäischen Parlaments
bei EZB-Bankenaufsicht stärken
- Drucksache 17/13909 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Gerhard Schick, Priska Hinz ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zu dem Vorschlag für eine Verordnung zur
Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute
auf die Europäische Zentralbank ({5}) in der Fassung vom 16. April 2013
Ratskok. 7776/1/13 REV 1
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
SSM-Verordnung zustimmen, keine innerstaatliche Präjudizwirkung schaffen
- Drucksache 17/13910 Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD vor, über den wir später namentlich abstimmen
werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen.
Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Eduard Oswald von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
ich hereinkam, haben einige Kollegen gesagt, sie würden
generell klatschen - egal was ich sage.
({0})
Dennoch will ich den Versuch unternehmen, zum Thema
zu sprechen; denn ich glaube, dass es in dieser Legislaturperiode ein für uns alle wichtiges Thema ist.
Mit dem Zustimmungsgesetz zur europäischen Bankenaufsicht machen wir heute den Weg für eine europaweit einheitliche Bankenaufsicht frei.
({1})
Wir nehmen als deutscher Gesetzgeber unsere Integrationsverantwortung wahr und bereiten den Weg für eine
Zustimmung der Bundesregierung zur Übertragung besonderer Aufgaben der Bankenaufsicht auf die Europäische Zentralbank.
({2})
- An der Stelle habe ich nun nicht unbedingt mit Beifall
gerechnet.
({3})
Damit schaffen wir einheitliche Aufsichtsstandards in
Europa und stärken die Durchschlagskraft der Bankenaufsicht.
({4})
Wir sind davon überzeugt, dass dies das Vertrauen in die
Stabilität der Banken überall in Europa stärkt.
({5})
- Herr Präsident, ich brauche noch zusätzliche Beifallredezeit.
({6})
„Vertrauen“ ist das entscheidende Wort; denn das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Finanz- und
Kreditinstitute hat in den letzten Jahren wahrlich gelitten. Über die Ursachen wurde hier in diesem Haus ausführlich geredet. Zu lange hat man geglaubt, dass sich
die Märkte selbst regulieren. Dass dieser Weg nicht der
richtige war, wissen wir jetzt. Und wir haben die richtigen Lehren gezogen.
In dieser Legislaturperiode haben wir 30 Gesetze auf
den Weg gebracht, um die Finanzmärkte zu regulieren,
die Banken zu stabilisieren und das Vertrauen wieder
herzustellen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben national
vieles erreicht und international nicht nur einmal eine
Vorreiterrolle übernommen. Für dieses nationale Vorgehen wurden wir oft kritisiert. Doch sind zum Beispiel
das Leerverkaufsgesetz und das Restrukturierungsgesetz
ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie erfolgreich gerade
diese Vorreiterrolle war und ist und wie wichtig es war,
gegenüber unseren europäischen und internationalen
Partnern ein Zeichen zu setzen.
Wir geben heute unsere Zustimmung zur Neuordnung
der europäischen Bankenaufsicht. Künftig wird die Europäische Zentralbank die bedeutenden Kreditinstitute
der teilnehmenden Mitgliedstaaten beaufsichtigen. Wenn
wir heute dem Gesetzentwurf - wohl mit großer Mehrheit - zustimmen werden, zeigt dies auch, dass wir
gemeinsam der Auffassung sind, dass eine europaweit
einheitliche Bankenaufsicht richtig und notwendig ist.
Es zeigt aber auch, dass wir auf Europa setzen, statt die
Bürgerinnen und Bürger mit Euro-Austrittsfantasien zu
beunruhigen.
({8})
Gemeinsam begrüßen wir, dass es gelungen ist, dass
regional tätige kleine und mittlere Kreditinstitute - wie
unsere Sparkassen und Genossenschaftsbanken - grundsätzlich nicht der Aufsicht durch die Europäische Zentralbank unterliegen. Hier galt es, ein richtiges Maß zu
finden, und dies ist gelungen.
Wir begrüßen es auch, dass sich die Bundesregierung
für ein System der strikten Trennung zwischen Geldpolitik und Aufsicht in der Europäischen Zentralbank eingesetzt hat. Hier wurde alles erreicht, was auf der Basis der
Verträge möglich war.
({9})
Es ist auch richtig, dass die europäischen Finanzminister
bekräftigt haben, an einer Vertragsänderung zu arbeiten,
um langfristig eine weitergehende Trennung von Geldpolitik und Aufsicht zu ermöglichen.
Es war richtig, dass wir dieses Zustimmungsgesetz
formuliert haben. Es ist richtig, bei dieser weitreichenden Übertragung von Kompetenzen auch den Bundestag
und den Bundesrat angemessen zu beteiligen. Ich bin davon überzeugt, dass dies bei einer derart weitreichenden
Übertragung von Aufsichtsbefugnissen notwendig ist.
Wir dürfen uns nicht auf dem Erreichten ausruhen,
({10})
sondern müssen zügig einen europaweit einheitlichen
Mechanismus auf den Weg bringen, der uns die Abwicklung großer, international tätiger Banken ermöglicht.
Nur dann werden die neuen europäischen Aufsichtsstandards ihre volle Wirkung entfalten können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich benütze die Gelegenheit, um mich bei allen für das Miteinander zu bedanken. Im Finanzausschuss wird mit hohem Sachverstand argumentiert und gearbeitet. Aber wir alle müssen
gemeinsam daran arbeiten, hier im Plenum in einer Sprache zu reden, die nicht nur von den Experten verstanden
wird.
({11})
Auch das gegenseitige Zuhören und die Fähigkeit, auf
die Argumente des anderen einzugehen, müssen immer
wieder neu erarbeitet werden, auch im Ausschuss.
Dass meine CSU-Landesgruppe heute Abend so stark
vertreten ist, ehrt mich persönlich;
({12})
denn ihr habe ich auf meinem politischen Weg in Bonn
und Berlin eigentlich alles zu verdanken.
({13})
Ich hatte die Ehre, in meiner Parlamentszeit neben vielen
anderen Aufgaben Vorsitzender von drei Parlamentsausschüssen zu sein, darunter in der Zeit der Großen Koalition auch im Finanzausschuss.
Ich habe mich für die Kollegialität über alle Fraktionsgrenzen hinweg zu bedanken. Auch wenn die Politikansätze da und dort unterschiedlich sind, ja, in einer
demokratischen Struktur unterschiedlich sein müssen,
gibt es mehr Gemeinsamkeiten, als gerade in Wahlzeiten
oder an Sitzungstagen wie heute zum Ausdruck kommen.
({14})
Das stimmt mich für unsere parlamentarische Demokratie insgesamt zuversichtlich. Aber auch wenn es einfach klingt, ist es dennoch wahr: So wie Politik nichts
anderes ist, als im Dienst für unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger zu stehen, so hat die Finanzwirtschaft die
Aufgabe, nicht für sich selbst da zu sein und mit sich
selbst Geschäfte zu machen,
({15})
sondern sie hat der realen Wirtschaft und damit allen
Menschen zu dienen.
({16})
Lieber Kollege Oswald, ich bedanke mich bei Ihnen
im Namen des ganzen Hauses für die langjährige, kollegiale und menschliche Zusammenarbeit im Deutschen
Bundestag und auch in der Bundesregierung. Sie waren
seit 1987 Mitglied des Bundestages, also in sieben Legislaturperioden. Das war sicher eine spannende und
aufregende Zeit, insbesondere die Zeit der Bildung der
deutschen Einheit. Ich hoffe, Sie werden die Jahre ohne
Bundestag trotzdem gut verbringen und die Zeit auch
ohne Politik gut ertragen. Alles Gute!
({0})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kollege Manfred
Zöllmer das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Warum brauchen wir eine Bankenunion in der EuroZone? Bisher ist Europa sehr schonend mit seinen Banken umgegangen. Während in den USA in den letzten
Jahren seit Beginn der Finanzkrise fast 500 Banken geschlossen wurden, sind es in Europa nur sehr wenige gewesen.
Die Konsequenz daraus lautet: Es gibt viele marode
Banken in Europa, und sie existieren weiter. Die Folge
ist eine massive Störung des Interbankenmarktes, weil
das Vertrauen der Banken untereinander nicht mehr vorhanden ist. Diese maroden Banken sind ein großes Problem. Sie verleihen kaum noch Kredite und werden
künstlich am Leben gehalten. Sie können nicht richtig
leben, gestorben sind sie aber auch nicht. Sie sind
scheintot.
Nationale Aufseher haben bisher kaum eingegriffen,
weil sie um die Zahlungsfähigkeit ihrer Staaten fürchteten. Zypern ist dafür ein sehr gutes Beispiel. Wenn eine
dieser maroden Banken dann endgültig ins Wanken geriet, mussten die Steuerzahler bisher diese Banken retten.
Insgesamt müssen wir feststellen: Die Risiken sind
längst europäisch geworden; die Aufsicht blieb national.
Wir brauchen deshalb dringend eine Bankenunion in Europa, die diese Banken auf Augenhöhe überwachen,
kontrollieren und notfalls auch abwickeln kann.
({0})
Das war die Forderung von Peer Steinbrück in seinem
Papier zur besseren Regulierung der Finanzmärkte.
({1})
Dies war die Forderung der Bundestagsfraktion der
SPD. Inzwischen hat sich auch die Bundesregierung
diese Forderung grundsätzlich zu eigen gemacht.
Nun soll der Bundestag grünes Licht für eine gemeinsame Bankenaufsicht bei der EZB geben. Ich will jetzt
nicht im Detail auf die europa- und verfassungsrechtlichen Probleme eingehen. Nur so viel: Das von der
Bundesregierung gewählte Verfahren stellt aus unserer
Sicht kein Präjudiz für ähnliche Übertragungen von Aufgaben auf die europäische Ebene dar.
({2})
Dies haben wir als Berichterstatter in einer gemeinsamen
Erklärung für das Ausschussprotokoll formuliert.
Die Bankenaufsicht soll auf die EZB übertragen werden. Sie ist zurzeit die einzig funktionsfähige Institution
in der Euro-Zone, die dies durchführen kann. Es bleibt
aber ein Problem, nämlich das ökonomische Problem
der Verquickung von Aufsicht und Geldpolitik. Hier
kann es zu ganz erheblichen Konflikten kommen. Denn
die Aufgabe der unabhängigen EZB ist es, Geldpolitik
zu betreiben. Sie wurde nach dem deutschen Muster eingerichtet. Das war auch richtig. Deshalb kann ich manche aktuelle Diskussion vor allem aus konservativen
Kreisen über die EZB und ihre Geldpolitik kaum nachvollziehen.
({3})
Die Konstruktion einer sogenannten Chinese Wall
zwischen Aufsicht und Geldpolitik zur Vermeidung von
Konflikten konnte nur teilweise gelingen. Dies hat die
Anhörung deutlich gezeigt. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten in unserem Entschließungsantrag, die Übertragung der Aufsicht auf die EZB nur vorübergehend
vorzunehmen, bis eine eigenständige europäische Institution, die von der EZB unabhängig ist, diese Aufgabe
übernehmen kann.
({4})
Die Übertragung der Aufsicht kann nur ein erster
Schritt sein. Damit alleine haben wir noch keine Bankenunion. Eine Aufsicht ohne Sanktionsmöglichkeit ist
ein zahnloser Tiger. Damit sind wir beim Thema Rekapitalisierung und Abwicklung. Im letzten Jahr wurde auf
einem Europäischen Rat mit Zustimmung von Frau
Merkel vereinbart, dass mit der Einführung einer europäischen Bankenaufsicht eine direkte Rekapitalisierung
von Banken aus dem Europäischen Stabilitätsmechanis31406
mus, dem ESM, erfolgen kann. Dies ist eine fatale Entscheidung; denn der ESM wurde aus Steuergeldern gespeist und sollte dazu dienen, Staaten und nicht Banken
finanziell am Leben zu erhalten.
({5})
Wer Banken schont und dafür den Steuerzahler in die
Haftung nehmen will, der lässt weiterhin den Steuerzahler für marode Banken in Europa bluten. Deshalb fordern wir Sozialdemokraten: Keine direkte Rekapitalisierung von Banken aus dem ESM! Hände weg vom Geld
der Steuerzahler!
({6})
Unsere Alternative heißt: Eigentümer und langfristige
Fremdkapitalgeber müssen zuerst in die Haftung kommen. Wir brauchen eine vernünftige Haftungskaskade.
Darüber hinaus brauchen wir einen einheitlichen europäischen bankenfinanzierten Restrukturierungsfonds,
unabhängig von der EZB, der gespeist wird über eine
Bankenabgabe, die sich am systemischen Risiko einer
Bank orientiert.
Dies ist auf der Basis der geltenden Verträge möglich.
Bisher hat sich die Bundesregierung diesen Forderungen
verweigert. Damit befindet sie sich im Widerspruch zur
EU-Kommission, zur EZB und zu nahezu allen namhaften Experten. Dies hat die Anhörung noch einmal deutlich gezeigt. Wir fordern das in unserem Antrag. Ihr
Stimmverhalten wird zeigen, wie Sie zu Forderungen,
die Banken und nicht den Steuerzahler in die Haftung zu
nehmen, stehen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der erste Schritt,
Bankenaufsicht, geht in die richtige Richtung. Bei den
weiteren Schritten sind Sie aber auf dem Holzweg. Ändern Sie die Richtung! Diese Bundesregierung macht
doch auch sonst Politik nach dem Motto „Was kümmert
mich mein Geschwätz von gestern?“.
Danke sehr.
({8})
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst dem Kollegen Eduard Oswald herzlichen Dank, Anerkennung und Respekt im Namen der
FDP-Fraktion aussprechen. Er war und ist ein wertvoller
Kollege, der einen besonders menschlichen und wertvollen Stil in die parlamentarische Debatte gebracht hat.
Wir haben großen Respekt vor ihm als Parlamentarier
und sind dankbar, dass er Kollege von uns ist, und sind
stolz, dass wir mit ihm zusammenarbeiten durften.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Deutsche Bundestag hat bereits im Jahr 2005 ein europäisches Bankenaufsichtsregime gefordert. Nicht dass wir die Krise
vorausgesehen hätten - aber uns war damals schon klar,
dass sich die Finanzwirtschaft immer stärker vernetzt
und dass Dinge, die so eng zusammenhängen, auf Dauer
nicht mehr rein nationale Aufgaben sein können.
Wir haben, als sich die Regierungschefs darauf verständigt haben, ein europäisches Aufsichtsregime zu
schaffen, hier im Deutschen Bundestag einen Entschließungsantrag verabschiedet, in dem wir die Eckpunkte
festgelegt haben, wie aus unserer Sicht eine europäische
Aufsichtsstruktur geschaffen werden soll.
Dabei war immer klar: Wir wollen nicht warten, bis
es eine Vertragsänderung gibt, sondern wir wollen auf
der Grundlage des geltenden Primärrechtes eine Bankenaufsicht schaffen, weil wir keine Zeit haben, um weiter
zuzuwarten. Wir haben nach wie vor eine Vertrauenskrise an den Märkten. Vertrauen zurückzugewinnen,
setzt handlungsfähige, effektive staatliche Strukturen voraus. Wir haben gesehen, dass die nationalen Aufsichten
nicht mehr ausreichen, weil nationale Risiken im Bankensektor die gesamte Euro-Zone betreffen und Risiken
anderer Länder auch Risiken deutscher Steuerzahler sein
können. Deswegen haben wir uns darauf verständigt, so
schnell wie möglich eine europäische Bankenaufsicht zu
schaffen.
Selbstverständlich ist damit nicht alles vollendet.
Selbstverständlich muss man jetzt auch noch an Restrukturierungsfragen herangehen. Aber das, was man auf der
Grundlage des geltenden Primärrechtes ohne Vertragsänderung schaffen kann, muss schnell kommen. Mit der
SSM-Verordnung liegt die richtige Verordnung vor. Wir
können sagen, dass die Bundesregierung alle Punkte, die
der Deutsche Bundestag hier für wichtig erachtet hat, in
die SSM-Verordnung hineinverhandelt hat, und deswegen können wir ihr heute zustimmen.
({1})
Es geht nicht um die Frage: Wie und aus welchem
Fonds werden Banken rekapitalisiert? Es geht heute
auch nicht um die Frage, wie ein Restrukturierungsregime aussieht. Dazu haben wir klare Vorstellungen; aber
darüber entscheiden wir heute nicht. Diese Dinge müssen noch verhandelt werden. Aber wichtig ist, dass jetzt
eine einheitliche Aufsicht kommt und dass wir den deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern sagen können: Wir haben die Lücke erkannt. Wir wollen, dass wir
über eine europäische Aufsicht die Möglichkeit haben,
auch Einfluss auf die Kontrolle von Banken im europäischen Ausland auszuüben, weil diese Banken Risiken
haben, die sich für deutsche Steuerzahlerinnen und Steuerzahler realisieren können. Das Warten auf eine Vertragsänderung wäre nicht zu verantworten.
Wir verabschieden heute nicht die SSM-Verordnung
unmittelbar, sondern ein Gesetz, das die Bundesregierung ermächtigt, dieser Verordnung zuzustimmen, nicht
deshalb, weil der Deutsche Bundestag Kompetenzen von
europäischer Ebene wieder an sich ziehen möchte, sondern deshalb, weil wir uns unserer Verantwortung stellen
wollen.
({2})
Es geht hier um die Übertragung exekutiver Rechte. Die
Europäische Zentralbank wird in Grundrechte Deutscher
eingreifen können - und das unmittelbar. Da ist es für
uns eine Selbstverständlichkeit, dass wir als Vertreter
des Souveräns dies ganz klar mit einer Willensbildung
des Deutschen Bundestages begleiten.
({3})
Das ist das Maximum an parlamentarischer Beteiligung.
Wir stellen uns unserer Verantwortung. Wir wollen nicht
Kompetenzen anderer an uns ziehen.
({4})
Sie sagen, Herr Kollege Zöllmer, dass die Problematik der Haftungskaskade gelöst werden muss. Da sind
wir einer Meinung. Die Bundesregierung hat deutlich
gemacht, dass Vertragsänderungen erforderlich sind. Wir
werden jetzt mit aller Sorgfalt, mit der notwendigen Zeit
- die werden wir uns nehmen müssen - auf Vertragsänderungen hinwirken. Wir werden dann die Frage des Restrukturierungsregimes klären und werden auch da in
Europa richtungsweisend wirken, weil wir mit dem deutschen Banken-Restrukturierungsgesetz eine Vorleistung
erbracht haben.
Was sorgfältig erarbeitet werden kann, auch durch
Vertragsverhandlungen erarbeitet werden muss, soll
sorgfältig erarbeitet werden. Aber die Bankenaufsicht
kann nicht auf sich warten lassen. Wir brauchen sie dringend, um das Vertrauen zurückzugewinnen, und wir
brauchen sie dringend, um Prävention im Sinne deutscher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler betreiben zu
können. Deswegen können wir diesem Gesetz mit voller
Überzeugung zustimmen.
Die Bundesregierung hat dem Willen des Deutschen
Bundestages Rechnung getragen. Wir kommen Schritt
für Schritt voran. Wir werden die europäischen Finanzmärkte damit stabiler machen und einen Schutzwall für
die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler bauen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gut sechs Jahre ist der Ausbruch der Finanzkrise her. Viele, viele Arbeitsplätze hat sie gekostet und
viele Menschen, die gar nichts, rein gar nichts für die
Krise konnten, in finanzielle, in existenzielle Not gebracht. Die Staatsverschuldung vieler Länder schnellte
rasant in die Höhe. Die Finanzkrise ging in die Krise des
Euros über, und in vielen europäischen Staaten spitzten
sich die Probleme der Bevölkerung dramatisch zu; sie
spitzen sich weiter zu. Die Arbeitslosenrate unter Jugendlichen in Griechenland, das sich im sechsten Jahr
der Rezession befindet, liegt bei rund 60 Prozent - auch
eine Folge der harten Spar- und Kürzungsprogramme.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ein Armutszeugnis der Politik und sicher auch einer der Gründe,
warum die Politikverdrossenheit zunimmt und radikale
eurokritische Parteien wie die „Alternative für Deutschland“ Zulauf erfahren, dass Sie viel zu spät gehandelt haben und handeln.
({0})
Die Krise brachte die Erkenntnis - immerhin! -, dass
nicht die weitere Liberalisierung der Finanzmärkte die
Lösung sein kann, getreu dem Motto „Der Markt wird es
schon richten“, sondern dass es sowohl der Regulierung
der Bankentätigkeit, insbesondere der Bankprodukte, bedarf, um Zockerei, die nichts mit der Kernaufgabe von
Banken, der Finanzierung der Realwirtschaft, zu tun hat,
zu verhindern, als auch klarer Mechanismen zur Abwicklung insolventer Banken, um zu verhindern, dass
weiterhin die Gewinne privatisiert und die Verluste der
Allgemeinheit, also uns allen, aufgebürdet werden.
({1})
Dies erfordert eine Bankenaufsicht, einheitlich geregelt,
mindestens im Euro-Raum; das ist unbestritten.
Heute geht es um einen Gesetzentwurf, mit dem besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht
über Kreditinstitute auf die EZB übertragen werden sollen, die SSM-Verordnung. Der deutsche Vertreter im Rat
soll ermächtigt werden, dem Vorschlag für die Verordnung des Rates zuzustimmen. De facto wollen Sie damit
von uns heute nur die förmliche Zustimmung und sich
damit rechtlich absichern.
Die Linke sieht die Notwendigkeit einer europäischen
Bankenaufsicht, ganz klar.
({2})
Allerdings ist Ihre Umsetzung so halbherzig, dass wir
Ihrem Vorgehen nicht zustimmen können. Die Kritikpunkte überwiegen eindeutig. Schließlich muss die
Frage lauten: Wird die Bankenaufsicht mit Ihrem Gesetz
besser oder nicht? Das ist der springende Punkt. Man
muss leider sagen: Nein, sie wird nicht besser.
({3})
Lassen Sie mich vier Punkte herausgreifen.
Erstens. Die Begrenzung der europäischen Bankenaufsicht auf die Euro-Zone erfasst damit nicht die Bank31408
aktivitäten am größten europäischen Finanzplatz London. Das ist natürlich ein Riesenmanko.
({4})
Zweitens. Die europäische Bankenaufsicht, so wie sie
bei der EZB angesiedelt werden soll, birgt in sich einen
Zielkonflikt zwischen der Geldpolitik der EZB und ihrer
Aufsichtstätigkeit. Zudem ist die Europäische Zentralbank den Weisungs- und Kontrollrechten der Regierungen völlig entzogen. Ich will das einmal vergleichen:
Die BaFin, die nationale Bankenaufsicht, untersteht der
Rechts- und Fachaufsicht des Bundesfinanzministeriums,
welches wiederum der parlamentarischen Kontrolle unseres Hauses untersteht. Das ist eine ganz andere Konstruktion.
Drittens. Die von Ihnen organisierte Bankenaufsicht
hat im Prinzip keinerlei Macht. Im Gegensatz zur nationalen Bankenaufsicht hat die EZB keinerlei Möglichkeiten, die von ihr beaufsichtigten systemrelevanten
Banken zu schließen, abzuwickeln oder neu zu organisieren. Es ist sozusagen ein Tiger ohne Zähne. Da wird
sich von vornherein manche Bank freuen.
Viertens entsteht mit der neuen Bankenaufsicht ein
weiteres Problem. Richtig ist, dass wir heute in Europa
eine Vernetzung zwischen den Banken haben, aber gleichermaßen auch im Wertpapierhandel und im Versicherungswesen. Was wir brauchen, ist eine Allfinanzaufsicht, die tatsächlich alle diese drei Bereiche kontrolliert.
({5})
In Ihrer Organisation der Bankenaufsicht besteht die Gefahr, dass Krisen nicht erkannt werden und einfach von
einem Bereich auf einen anderen überschwappen.
Die Bundesregierung war viel zu lang untätig. Nun
läuft Ihnen einfach die Zeit davon. In Windeseile erschaffen Sie hier ein Gesetz, mit dem Sie sich eine
Zustimmung im Bundestag erkaufen wollen. Die Bankenaufsicht wird nicht besser als vorher sein, in manchen Punkten sogar schlechter. Deshalb werden wir diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle meinem ehemaligen
Ausschussvorsitzenden Herrn Oswald persönlich danken, der nicht nur als Ausschussvorsitzender eine hervorragende Arbeit geleistet hat, sondern - wir alle schätzen ihn als Vizepräsidenten des Bundestages - der sich
immer um eine gute Auseinandersetzung und eine gute
Stimmung im Haus bemüht hat, trotz aller Probleme, die
wir durchaus miteinander haben. Danke.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Gerhard Schick für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich erst einmal dem Dank an Eduard Oswald
herzlich anschließen, der für mich als Neuparlamentarier
in meinen ersten Schritten im Parlament mehr als fair
war. Danke schön.
({0})
Zu dem Gesetz. Normalerweise haben wir im Finanzausschuss dicke Gesetze, bei denen viel durchzulesen
und durchzuarbeiten ist und in denen es viele Detailregelungen gibt. Heute haben wir ein Gesetz, das auf einen
Zettel passt und in dem vier Sätze stehen. Von diesen hat
eigentlich nur einer eine inhaltliche Aussage. Dieser
heißt: Der deutsche Vertreter im Rat soll der Übertragung der Bankaufsichtskompetenz auf die europäische
Ebene zustimmen.
Es ist ein bisschen komisch, ein solches Gesetz zu haben. Dahinter steht eine rechtspolitische, eine verfassungsrechtliche und europarechtliche Diskussion. Wir
meinen, dass der Weg, den die Bundesregierung geht,
falsch ist. Es wäre richtig, hier nicht ein Gesetz zu machen, denn das Gesetz gibt es schon auf europäischer
Ebene, sondern mit einer Stellungnahme nach Art. 23
des Grundgesetzes unsere Auffassung zum Ausdruck zu
bringen, wie die Bundesregierung in Brüssel agieren
soll; denn genau dafür gibt es diesen Artikel.
({1})
Lassen Sie uns den Gesetzentwurf trotz dieses Verfahrensfehlers in der Sache bewerten. Heute geht es
darum, einen großen Fehler der Bundesregierung zu korrigieren. Es ist ja eine komische Situation: Es gibt eine
europäische Bankenaufsicht, und wir schaffen eine europäische Bankenaufsicht. Was soll denn das? Es gibt bereits eine europäische Bankenaufsicht in London. Sie hat
ihre Arbeit am 1. Januar 2011 aufgenommen. Aber sie
hat keine wirklichen Durchgriffsrechte auf die Banken.
Da fragt man sich: Wieso hat man das nicht schon damals so gemacht, wenn heute eine Bankenaufsicht geplant ist, die genau diese Durchgriffsrechte haben soll?
({2})
Nun, die Antwort ist ganz einfach. Es gab zwei
Regierungen, die vehement dagegen waren. Eine dieser
Regierungen sitzt leider hier in Berlin. Sie muss heute
einsehen, dass sie vor drei Jahren auf dem völlig falschen Dampfer war und Europa drei Jahre verloren hat.
Das war für den deutschen und den europäischen Steuerzahler teuer.
({3})
Wir haben das schon damals gefordert. Dass das richtig
war, war allen klar: dem Europäischen Parlament, der
Europäischen Kommission und der europäischen Öffentlichkeit.
Warum ist das so fatal? Es wäre in den letzten Monaten gut gewesen, eine europäische Bankenaufsicht zu haben, um sich die Situation der Banken in Zypern genau
anschauen zu können. Es wäre auch gut gewesen, eine
europäische Bankenaufsicht zu haben, um die Probleme
in Spanien rechtzeitig aufzuklären und dafür zu sorgen,
dass sie nicht ewig verschleppt werden. Europa hätte
sich viele dramatische Monate der Rettung ersparen können, wenn wir rechtzeitig gehandelt hätten. Es ist gut,
dass dieser Fehler endlich korrigiert wird.
({4})
Ich richte meinen Blick aber nicht nur in die Vergangenheit. Diese Koalition ist nämlich dabei, dieselbe Art
von Fehler zu wiederholen, nämlich beim Abwicklungsfonds. Eines sollte man sich zu Herzen nehmen - Europäische Zentralbank und Bundesbank sind ja nicht immer einer Meinung; aber in dieser Frage sprechen sie mit
einer Stimme -: Es ist gefährlich, wenn die Aufsichtskompetenz auf europäischer Ebene angesiedelt ist, die
Abwicklung von Banken, die wackeln, aber nur national
organisiert werden kann. Davor haben Herr Mersch gestern in den Ausschüssen und Frau Lautenschläger-Peiter
in den letzten Tagen für die Bundesbank gewarnt. Alle
Experten sagen: Das gehört zusammen. Wer steht wieder
auf der Bremse? Diese Bundesregierung.
({5})
Warum ist das so fatal? Es wird jetzt noch einmal eine
Überprüfung der Bankbilanzen geben. Das macht die
EZB; das ist gut, und das ist richtig so. Wenn dann Kapital fehlt, gibt es zwei Wege, es zu beschaffen. Der erste
Weg besteht darin, dass sich der Steuerzahler mit Geld
beteiligt; diesen Weg hat die Bundesregierung durch den
ESM eröffnet. Es gibt einen zweiten Weg: Man könnte
das Kapital auch durch einen Bankenabwicklungsfonds,
den die Banken bezahlen, beschaffen. Diesen Weg blockiert die Bundesregierung. Nach Adam Riese ist klar,
was wieder passieren wird: dass doch der Steuerzahler
ins Risiko gehen muss. Deswegen fordern wir Sie in unserem Antrag auf: Machen Sie endlich den Weg frei,
dass die Probleme der Banken von den Banken gelöst
werden und nicht mehr vom Steuerzahler!
({6})
Ich möchte einen letzten Punkt, der uns Parlamentariern wichtig sein sollte, ansprechen. Häufig wird in Sonntagsreden beklagt, dass irgendwelche europäischen Institutionen entscheiden, sie aber nicht demokratisch
kontrollierbar sind. In diesen Tagen geht es um genau
diese Frage: Gibt es, was die neue Bankenaufsichtskompetenz der Europäischen Zentralbank angeht, eine effektive parlamentarische Kontrolle oder nicht? Da sind wir
uns im Grunde und abstrakt einig. Aber jetzt geht es
genau darum, dass der Deutsche Bundestag bei den Verhandlungen klar sagt: Wir wollen, dass das Europäische
Parlament wirklich kontrollieren kann, ob die Bankenaufsicht eine gute Arbeit macht, ob sie Großbanken richtig auf die Finger schaut, ob die Personalausstattung
stimmt. - Es reicht nicht aus, wenn man nur Fragen stellen darf, die einem niemand beantwortet. Die Bankenaufsicht muss verpflichtet sein, zu antworten. Sie muss
wirklich kontrollierbar sein, im Extremfall auch durch
einen Untersuchungsausschuss. Wir haben ja gesehen,
dass die Bankenaufsicht manchmal richtige Fehler
macht.
({7})
Der Appell der Fraktion der Grünen an Sie alle lautet:
Stimmen Sie dafür, dass die neue europäische Bankenaufsicht durch das Europäische Parlament effektiv
kontrolliert werden kann, damit nicht dadurch, dass
Deutschland Kompetenzen an die europäische Ebene abgibt, das Demokratiedefizit vergrößert wird! Vielmehr
muss demokratische Kontrolle, so wie es auch das Bundesverfassungsgericht von uns fordert, auch im europäischen Einigungsprozess immer gewährleistet sein.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält jetzt der Kollege
Gunther Krichbaum das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn wir heute die Weichen für eine einheitliche europäische Bankenaufsicht stellen und damit den
Weg dafür bereiten, dass die Standards der europäischen
Bankenaufsicht eines Tages durchgesetzt werden, dann
leisten wir damit auf jeden Fall einen wesentlichen Beitrag zu einer Stabilitätskultur für unsere Währung.
Wahrscheinlich standen noch nie in einer Legislaturperiode währungs- und geldpolitische Maßnahmen so
sehr im Fokus wie in dieser. Aber eines kann man in jedem Fall festhalten: Ja, vieles von dem, was wir in den
letzten zwei oder drei Jahren hier im Deutschen Bundestag parlamentarisch begleitet und beschlossen haben,
hätte man natürlich vernünftigerweise schon damals mit
dem Vertrag von Maastricht auf den Weg bringen müssen. Es lag damals aber mit Sicherheit nicht an der Bundesrepublik Deutschland, das zu realisieren. So holen
wir jetzt gewissermaßen im Zeitraffer das nach, was damals letztlich versäumt wurde.
Dennoch: Der Euro bleibt eine attraktive Währung.
Wir brauchen den Euro, die Welt braucht den Euro als
zweite starke Leitwährung. Wie attraktiv der Euro nach
wie vor ist, sehen wir schon allein daran, dass jetzt
Lettland - darüber werden wir heute Abend auch noch
abstimmen - den Euro alsbald einführen möchte.
Doch der Blick zurück lohnt immer noch. Wir dürfen
nicht vergessen, warum wir all das machen: Wir haben
auch in der Bundesrepublik Deutschland die schwerste
Finanz- und Wirtschaftskrise der letzten 80 Jahre hinter
uns. Deswegen geht es natürlich darum, zu mehr Stabilität zu finden und die entsprechenden Entscheidungen zu
respektieren; denn - da knüpfe ich an meinen Vorredner,
Herrn Schick, an - Regeln, die aufgestellt werden, sind
immer nur so gut, wie sie respektiert werden. Wir haben
und hatten einen Stabilitätspakt.
({0})
Dieser Stabilitätspakt wurde bis zum heutigen Tag mehr
als 60-mal verletzt, ohne dass einmal vernünftig geahndet worden wäre. Letztlich wurde der Stabilitätspakt seinerzeit vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder
in einer verhängnisvollen Entente cordiale mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac aufgeweicht.
Auch das gehört zur Wahrheit dazu.
({1})
Es hilft wenig, an dieser Stelle irgendwie nachzukarten. Nur gilt eines beim Blick voran: Wir müssen die
Regeln, die wir heute aufstellen, respektieren. Das gilt
insbesondere jetzt - da blicke ich abermals durchaus mit
einer gewissen Sorge nach Frankreich -, wo es ein sogenanntes Europäisches Semester gibt, wo es länderspezifische Empfehlungen gibt, aber der französische Präsident, wenn eine solche Empfehlung ausgesprochen wird,
nichts anderes zu tun hat, als zu sagen, dass er diese als
Einmischung in die inneren Angelegenheiten Frankreichs erachtet.
({2})
So bauen wir sicherlich nicht das Vertrauen auf, das wir
brauchen. Aber es ist das Wichtigste, dass wir das verlorengegangene Vertrauen zurückgewinnen.
({3})
Auch deswegen ist es wichtig, dass wir in Deutschland schon vor geraumer Zeit die Schuldenbremse in unsere Verfassung eingefügt haben. Ein zentraler Bestandteil des Fiskalpaktes war es, dass Schuldenbremsen nun
europaweit Einzug in die Verfassungen der einzelnen
Länder finden.
Ja, da gilt es weiterzumachen. Wir brauchen eine einheitliche europäische Bankenaufsicht mit drei Säulen:
Aufsicht, Abwicklungsregeln und Abwicklungsfonds.
Eines können und müssen wir heute Abend wahrscheinlich festhalten: Mittelfristig wird es nicht ohne Vertragsänderungen gehen. Wir werden sie brauchen, um mehr
Klarheit zu schaffen. Aber ich denke, entscheidend ist
auch, dass wir heute Abend hier die Weichen richtig stellen. Denn wir können für die Bürger, die uns heute
Abend noch zuhören, festhalten: Als Erstes muss eine
Bank versuchen, sich selbst am Kapitalmarkt zu retten.
Gelingt das nicht, sind als Nächstes die Anteilseigner
und die Anleihegläubiger dran, die auf ihre Forderungen
verzichten müssen. In einem weiteren Schritt müssen die
Bankkunden mit Einlagen höher als 100 000 Euro einspringen. Dann, aber auch erst dann, ist der heimische
Steuerzahler in der Pflicht. Last, but not least: Der letzte
Rettungsanker wäre die europäische Solidargemeinschaft, sprich: der ESM. So ist es insbesondere von der
Bundesregierung entwickelt worden, namentlich durch
unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel, vor allem aber
durch Herrn Bundesfinanzminister Dr. Schäuble. Das
Vorgehen trägt unsere Handschrift. Damit setzen wir ein
gutes Zeichen in Europa.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Peter Danckert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Auch ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen - damit ich es nachher nicht vergesse - dir, lieber Eddi
Oswald, sehr herzlich für die Begleitung meiner parlamentarischen Arbeit danken. Ich habe dich als junger
Abgeordneter in hohen Jahren als jemanden schätzen gelernt, der mit uns freundschaftlich-kollegial umgeht und
uns auch einmal einen Tipp gibt. Politisch sind wir nicht
immer einer Meinung gewesen, aber du warst für mich
als Youngster im hohen Alter ein echtes Vorbild. Da das
heute meine letzte Rede ist, freut es mich, dass ich dir
von dieser Stelle aus meinen aufrichtigen Dank dafür sagen darf. Vielen Dank!
({0})
Meine Damen und Herren, eben hat der Präsident angekündigt, dass ich für die SPD-Fraktion spreche. Ja, ich
bin Mitglied der SPD-Fraktion und auch stolz darauf,
aber ich vertrete heute eine abweichende Meinung. Es ist
guter parlamentarischer Brauch, wenn man sich dazu
durchringt, auch einen Abweichler, der möglicherweise
die richtige Auffassung hat, aber nicht die Mehrheitsmeinung vertritt, im Parlament zu Wort kommen zu lassen.
Ich bin am Dienstag und Mittwoch in Karlsruhe gewesen. Ich habe an einer spannenden Verhandlung zu
Fragen des ESM und der EZB - was ist die Aufgabe der
EZB? - teilgenommen. Wir werden sehen, wie das Verfahren ausgeht. Mein Eindruck war: Alle Parteien sehen
sich aus dieser Verhandlung als Punktsieger hervorgehen. In einigen Wochen, vielleicht Monaten, wird uns
der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seiner Entscheidung vielleicht überraschen.
Ich will meine Ausführungen mit der einleitenden Bemerkung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Herrn Professor Voßkuhle, zur mündlichen Verhandlung beginnen. Sein ungefährer Wortlaut war: Die EZB
trifft mit ihrem Plan, Staatsanleihen zu kaufen, im
Grunde politische Umverteilungsentscheidungen, die
EZB ist aber demokratisch nicht legitimiert. Sie kann
nicht kontrolliert werden, weil sie unabhängig ist. Sie ist
politisch nicht verantwortlich und trifft dennoch weitreichende Entscheidungen.
({1})
Das ist für alle Akteure im Grunde genommen perfekt,
bis auf die, die am Ende die Zeche zahlen müssen, und
das sind leider in der Regel die Steuerzahler.
({2})
Dieses Problem hat der Präsident mit einer bemerkenswerten Offenheit angesprochen, und dieser Feststellung
kann ich mich nur anschließen.
Mit der heutigen Beschlussfassung, die mit großer
Gemeinsamkeit getroffen werden wird, setzt sich diese
fatale Entwicklung meines Erachtens fort. Ich prophezeie, dass die heutige Entscheidung ebenfalls beim Bundesverfassungsgericht landet. Wir werden uns in der
nächsten Legislaturperiode mit bestimmten Fragen vielleicht gründlicher befassen und nicht alles immer sofort
aus „politischen Gründen“ akzeptieren. Auch gegen die
Bankenaufsicht, gegen die Bankenunion ist aus meiner
Sicht prinzipiell nichts zu sagen. Die Frage ist aber, wie
wir das machen und wie wir damit umgehen. Der
Kollege Dr. Schick hat gerade darauf hingewiesen, dass
dieser Gesetzentwurf, mit dem weitreichende Kompetenzen an die EZB übertragen werden sollen, im Grunde
aus einer Zeile besteht. Eine so weitreichende Kompetenz steht im Widerspruch zu dem mageren Text des
Gesetzentwurfs.
Die Probleme sind komplexer, als die meisten hier
im Raum wahrhaben wollen. Ich darf die Koalitionsfraktionen sowie die Mehrheit der Kolleginnen und
Kollegen aus meiner Fraktion daran erinnern, dass wir
am 29. Juni 2012 nach dem Gipfeltreffen vom 28. und
29. Juni 2012 in Brüssel und einem entsprechenden Änderungsantrag, der in die Haushaltsberatungen eingegangen ist, hier im Deutschen Bundestag Folgendes beschlossen haben:
Herr Kollege Danckert, ich muss Sie bitten, zum
Schluss zu kommen. Ich habe Ihnen schon ausreichend
zusätzlich Zeit gewährt.
Wird meine Zeit, in der ich Herrn Oswald gelobt
habe, angerechnet?
({0})
Die habe ich schon einbezogen.
Also: Man sollte nicht so viel mit Komplimenten arbeiten.
Meines Erachtens ist das eine ganz fatale Entwicklung. Ich will - abschließend, Herr
Bitte schön.
- auf die von meinem Kollegen Rolf Schwanitz
verfasste, von ihm, mir und weiteren Kollegen mitunterzeichnete persönliche Erklärung zur Abstimmung verweisen, in der es heißt:
Es ist ein wohl einzigartiger Vorgang in der deutschen Demokratiegeschichte, dass eine Bundesregierung über 12 Monate hinweg Verhandlungen
führt und Zusagen macht, die einem klaren Votum
des Deutschen Bundestags widersprechen.
Die Insider wissen, worauf ich abhebe.
({0})
Ich kann deshalb heute hier nicht anders als mit Nein
stimmen. Die Gründe habe ich versucht anzudeuten. Es
sind verfassungsrechtliche und politische Gründe. Ich
glaube, wir würden gut daran tun, wenn wir die Bankenaufsicht, das Abwicklungsregime und den Ausgleichsfonds als einen Komplex ansehen würden, statt hier
scheibchenweise vorzugehen.
Vielen Dank, auch für Ihre Nachsicht, Herr Präsident.
({1})
Bitte schön. - Das Wort hat der Kollege Gerhard
Drexler für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bin scheinbar ein bisschen zu früh
aufgesprungen, aber als Neuer darf man ja den einen
oder anderen Fehler machen. Ich freue mich, dass ich
meine erste Rede zu diesem Thema, bei dem ich mich
ein bisschen auskenne, halten darf; denn das hat etwas
mit meinem Beruf zu tun.
In meiner Kindheit stellte uns ein Bauer eine Wiese
mit zwei Fußballtoren zur Verfügung. Wir haben ohne
Schiedsrichter gespielt; den haben wir nicht gebraucht.
Wenn einer gefoult hat, sind wir stehen geblieben und es
gab einen Freistoß. Weil sich der eine oder andere nicht
daran gehalten hat, haben wir später einen Schiedsrichter
gebraucht, aber nur einen. Das war eine schöne Kinderzeit. Wie die Geschichte weitergegangen ist, sieht man
jetzt in der Bundesliga. Wir brauchen derzeit vier
Schiedsrichter, einen Videobeweis und wer weiß was
noch alles. Versteckte Fouls gibt es trotzdem.
({0})
Jetzt kommen wir zur Welt der Banken. In der Welt
der Banken ist es ähnlich. Früher haben die Banken die
Leute mit Krediten versorgt, und die Sparer haben ihr
Geld aufs Sparbuch getan. Die Welt war damals scheinbar noch in Ordnung. Dann kamen die Leute, die Finanzprodukte designt haben. Mir sind Designer lieber, die
schöne Hemden machen. Die Finanzproduktdesigner
haben die Produkte so designt, dass keiner mehr verstanden hat, worum es sich bei diesen Finanzprodukten überhaupt gehandelt hat. Das war völlig daneben. Keiner
wusste mehr, was die verkaufen. Dann gab es noch die
Situationen, die auch kein Mensch versteht.
({1})
- Ja, ich bin noch da, meine Damen und Herren. Ich
würde mich freuen, wenn Sie mir etwas zuhören würden.
({2})
Es gibt sicher etwas Neues zu hören. Ich möchte
Ihnen eine Geschichte erzählen. Es gibt zum Beispiel einen österreichisch-spanischen Bauriesen, der immer sehr
sportlich günstige Angebote gemacht hat und dem man
dann mehrere Hundert Millionen Euro geschenkt hat,
damit er überlebt. Dem kleinen Bäckermeister hat man
die Semmeln aus dem Backofen heraus gepfändet, wenn
er nur zwei oder drei Raten nicht zahlen konnte. Deswegen muss man die Banken und die Bankenlandschaft
reformieren.
Auch in Europa ist es ziemlich deftig zugegangen.
Deswegen dürfen wir sagen: Wir brauchen eine gescheite Bankenaufsicht.
({3})
Aber die Argumente der Linken sind furchtbar, sie
sind fadenscheinig. Die wollen die Banken einfach nur
abschaffen oder verstaatlichen. Das ist schön, aber mit
uns geht das nicht.
({4})
Wir wollen keine Haftungsunion, und wir wollen auch
nicht, dass alles in einen Topf geschmissen wird. Aber
wir brauchen eine gewisse Aufsicht.
({5})
- Zuhören ist ganz schön, aber auch sehr schwierig, weil
Sie die Leute hier immer mit Ihrem Hammelsprung vertreiben.
({6})
Das ist immer ganz interessant. Sie machen da eine
Geisterfahrt. Wenn man als Geisterfahrer auf der Autobahn fährt und sich immer freut, dass irgendwelche
Leute ausweichen, wird man irgendwann bestraft, weil
man mit jemandem zusammenstößt. Ich habe einiges gesehen, was Sie machen, aber das ist wirklich der Hohn.
Sie leben in Ihrem Wolkenkuckucksheim, dabei sollten
Sie eigentlich auf das Geld der kleinen Sparer aufpassen.
Aber das machen Sie nicht.
Jetzt kommen wir wieder zurück zum Fußball. Liebe
Kollegen von der Opposition: Wer immer im Abseits
steht, darf beim nächsten Mal nicht mehr mitspielen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege Drexler, ich danke Ihnen für Ihre erste
Rede im Deutschen Bundestag, die Sie als Nachrücker
noch kurz vor Ende der Legislaturperiode halten konnten. Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Kolbe für die
CDU/CSU-Fraktion bzw. als abweichende Meinung.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedanke mich zunächst für die Einräumung von drei Minuten Redezeit. Ich bedanke mich
ganz besonders deshalb, weil es nach 23 Jahren meine
letzte Rede im Deutschen Bundestag ist.
Wie der Kollege Danckert muss ich mit einer abweichenden Meinung schließen: zehn Gründe, aus denen ich
heute nicht zustimmen kann.
Erstens. Ausgangspunkt ist der verhängnisvolle
Beschluss des Euro-Gipfels vom Juni letzten Jahres,
wonach der Euro-Krisenfonds ESM nicht nur Staaten,
sondern auch marode Banken direkt rekapitalisieren
dürfe, sobald ein Aufsichtsmechanismus unter dem
Dach der EZB funktionsfähig sei. Seitdem wird unter
Hochdruck an der europäischen Bankenaufsicht gebastelt, obwohl es vielen Staaten weniger um diese Aufsicht, als vielmehr um den direkten Zugang ihrer Banken
zum ESM geht, um ein schmerzhaftes Krisenprogramm
zu vermeiden.
Zweitens. Wie schon die Euro-Zone, so spaltet auch
die Bankenaufsicht Europa erneut. Kein einziges NichtEuro-Land nimmt an der Bankenaufsicht teil, Europas
wichtigster Finanzplatz London fehlt. Es ist schlichtweg
absurd, ohne London von einer europäischen Bankenaufsicht zu sprechen.
({0})
Drittens. Lediglich eine Verordnung auf der Basis des
Art. 127 Abs. 6 AEUV überträgt der EZB weitreichende
Befugnisse. Notwendig wäre eine Änderung des europäischen Primärrechts gewesen.
Viertens. Durch die Ansiedlung der Aufsicht bei der
EZB werden gravierende Interessenkonflikte zwischen
geldpolitischem Mandat einerseits und AufsichtsfunkManfred Kolbe
tion andererseits entstehen. Die Bundesbank hat nachdrücklich darauf hingewiesen.
Fünftens. Die Letztverantwortung für Entscheidungen
liegt bei der unabhängigen EZB. Eine unabhängige Ausübung hoheitlicher Befugnisse ohne jegliche politische
Kontrolle widerspricht dem Demokratieprinzip.
({1})
Das ist keine parlamentarische Demokratie, das erinnert
uns an Ludwig XIV.
Sechstens. Die EZB wird als Bankenaufsicht Eingriffe anordnen müssen. Welcher gerichtliche Rechtsschutz steht dagegen zur Verfügung? Das bleibt trotz der
Rechtsweggarantie des Grundgesetzes im Dunkeln.
Siebtens. Das auch für die Bankenaufsicht geltende
gleiche Stimmrecht im EZB-Rat benachteiligt große
Länder.
Achtens. Eine europäische Bankenaufsicht würde
auch eine Restrukturierungseinrichtung erfordern. Diese
fehlt aber.
Neuntens. Die Altlastenproblematik ist nicht geregelt.
Zehntens. Auch wenn die Bundesregierung es abstreitet: Der Weg von der europäischen Bankenaufsicht über
die europäische Restrukturierung wird hin zur europäischen Einlagensicherung führen. Dafür öffnen wir heute
mit diesem Beschluss im Deutschen Bundestag das Tor.
({2})
All dies sage ich als überzeugter Europäer. Aber wie
schon die Euro-Krise und die wachsende Euro-Skepsis
in Europa zeigen, kann man Europa auch durch Überforderung und übereilte Entscheidungen beschädigen. Ich
habe Angst davor, dass wir das tun.
Lassen Sie mich mich abschließend nach sechs Legislaturperioden im Deutschen Bundestag bei meinen Wählerinnen und Wählern in meinem sächsischen Wahlkreis
bedanken, die mich seit 1990 sechsmal hintereinander
direkt gewählt haben. Ich möchte mich auch bei allen
Kolleginnen und Kollegen ganz herzlich für 23 wunderbare Jahre der Zusammenarbeit bedanken, in denen wir
für Deutschland und für Europa sehr viel erreicht haben.
Danke.
({3})
Lieber Kollege Kolbe, auch Ihnen danke ich im Namen des ganzen Hauses für die langjährige, gute und
kollegiale Zusammenarbeit.
({0})
Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Binding für die
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion
stimmt dem Gesetzentwurf mehrheitlich zu, weil wir
hoffen, dass die Kinder überleben. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie wollen ausgehen und bestellen
den Babysitter. Der Babysitter kommt, schaut ins Kinderzimmer und sieht, dass dort der Besteckkasten, ein
paar Streichhölzer und ein paar toxische Produkte sind.
Dann werden die Kinder aktiv, machen ein kleines
Feuerchen im Zimmer; und der Babysitter darf wieder
reinschauen, aber nicht eingreifen. Deshalb sollten Sie
unserem Antrag zustimmen. Denn unser Antrag ist sozusagen der Schlüssel für das Kinderzimmer. Er ermöglicht es, dort hineinzugehen, einzugreifen und das
Schlimmste zu verhindern.
({0})
Eigentlich könnten wir uns freuen. Peer Steinbrück
hat unter dem Stichwort „Vertrauen zurückgewinnen:
Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ im
September 2012 ein exzellentes Papier vorgelegt,
({1})
das ein Gesamtkonzept aus Aufsicht, einem Abwicklungs- und Restrukturierungsfonds bis hin zur Einlagensicherung vorsieht. Sie - und wir mit Ihnen - beschließen heute aber nur die Aufsicht. Die Aufsicht ist aber ein
stumpfes Schwert; denn wenn sie etwas feststellt, zum
Beispiel eine bevorstehende Insolvenz, kann sie gar
nicht operativ eingreifen, um die entsprechende Bank, so
wie wir es wollen, abzuwickeln. Wir fragen uns, warum
Sie das nicht zeitlich koordiniert haben.
Gestern sagte EZB-Direktoriumsmitglied Yves Mersch:
Wir können keine Aufsicht einführen, wenn wir nicht
gleichzeitig Sicherheit über die Abwicklung haben. Wer sollte es besser wissen als er?
({2})
Insofern hat Eduard Oswald, dem auch ich sehr gern für
die konstruktive Zusammenarbeit und für eine exzellente
Leitung des Finanzausschusses über viele Jahre danke
- das hat er super gemacht -, heute mit einer kleinen Nebenbemerkung nicht ganz richtig gelegen. Er sagte: Wir
schaffen heute eine Bankenaufsicht mit Durchschlagskraft. - Nein, diese schaffen wir nicht. Wir schaffen nur
die Voraussetzungen, dass sie in die Banken hereinschauen kann, aber wir schaffen für sie keine Durchschlagskraft. Diese wollen wir schaffen. Es ist absolut
notwendig, das schnellstmöglich nachzuholen.
Da - das muss man sagen - haben wir nicht unbedingt
das volle Vertrauen in Sie, natürlich auch deshalb nicht,
weil Ihre Kanzlerin relativ leichtfertig am 29. Juni letzten Jahres gesagt hat: Wenn wir einmal die Aufsicht haben, dann dürfen die privaten Banken auch in den ESMSteuertopf greifen. Dazu sagen wir: Diesen Transferkanal hin zu privaten Banken, die nicht immer so korrekt
arbeiten, wie wir es uns wünschen - Stichwort: öffentli31414
Lothar Binding ({3})
che Armut und Verantwortung -, wollen wir nicht öffnen.
({4})
Die Kanzlerin hat uns insofern in eine aufsichtsrechtliche Falle gelockt, aus der wir im Moment nicht herauskommen: Wir brauchen die Aufsicht; aber wir können
dieses Versprechen nicht gebrauchen.
Deshalb mein Appell: Stimmen Sie unserem Antrag
zu! Er heilt dieses Dilemma, bestimmt die Richtung für
unser Handeln im nächsten Jahr und sichert eine komplette Bankenunion, die voll funktionsfähig ist, unter
Einschluss der Aufsicht, unter Einschluss eines Restrukturierungsregimes. So wird ein gutes Ganzes daraus. Ich
hoffe, Sie halten dieses Versprechen ein.
({5})
Jetzt hat das Wort der Kollege Frank Schäffler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Übertragung der Bankenaufsicht auf die
Europäische Zentralbank ist eine der weitreichendsten
Entscheidungen, die der Deutsche Bundestag seit der
Einführung der gemeinsamen Währung, des Euro, getroffen hat. Sie ist verbunden mit der Abgabe von Souveränität. Dass der Deutsche Bundestag über diese entscheidende Frage heute um 22 Uhr entscheidet, zeigt,
wie wichtig wir diese Frage als Parlament tatsächlich
einschätzen.
({0})
Die Frage ist, wie ernst es uns damit ist, die europäische Bankenaufsicht tatsächlich zentral zu regeln. Es
glaube bitte keiner in diesem Raum, dass es möglich ist,
von 17 Bankenaufsichten in Europa mit 17 EDV-Systemen und 17 Behördenstrukturen innerhalb eines Jahres
zu einer funktionsfähigen europäischen Bankenaufsicht
zu kommen.
({1})
Das ist unmöglich, und es wissen auch alle, dass das unmöglich ist.
({2})
Daran sehen Sie: Es geht gar nicht darum, eine funktionsfähige Bankenaufsicht in Europa zu schaffen, es
geht um etwas ganz anderes: Es geht darum, die spanischen Banken mit Eigenkapital aus europäischen Steuertöpfen zu befördern. Das eigentliche Ziel ist, die Banken
durch den ESM an den Staatshaushalten vorbei direkt zu
rekapitalisieren.
({3})
Das Ziel ist also, dass der ESM zu einem Bankenrekapitalisierungsfonds wird; die Bankenaufsicht spielt überhaupt keine Rolle.
({4})
Wenn Sie es ernst meinten mit der vollständigen
Übertragung der Bankenaufsicht, dann müssten Sie die
europäischen Verträge ändern. Diese Verträge geben das,
was Sie heute beschließen wollen, nämlich nicht her. In
Art. 127 Abs. 6 AEUV ist geregelt, dass nur besondere
Aufgaben der Bankenaufsicht auf die EZB übertragen
werden können, aber nicht die komplette Bankenaufsicht.
({5})
Doch genau das haben Sie jetzt vor. Wenn Sie das machen, begehen Sie einen Rechtsbruch. Tatsächlich gibt es
für das, was Sie heute beschließen wollen, keine Rechtsgrundlage.
({6})
Wenn Sie den ESM zu einem Bankenrekapitalisierungfonds machen wollen, dann müssen Sie das mit offenem Visier tun, dann müssen Sie einen Konvent einberufen und eine Vertragsänderung in Gang setzen und in
letzter Konsequenz auch eine Volksabstimmung darüber
in Deutschland durchführen. Wir sind dann nämlich
letztendlich auf dem Weg in den europäischen Superstaat.
({7})
Wer den europäischen Bundesstaat will, der muss am
Ende die Verträge dahin gehend ändern und muss darüber in einer Volksabstimmung entscheiden lassen. Das
muss man offensiv machen, das darf man nicht durch die
Hintertür tun.
Wenn wir gute Nachbarn in Europa zu Schuldnern
bzw. Gläubigern machen, dann schaffen wir kein einheitliches Haus Europa, sondern zerstören es. Das, was
heute beschlossen werden soll, ist ein weiterer Schritt
dahin, der am Ende dazu führt, dass das Haus Europa
zerstört wird, statt dass an ihm weitergebaut wird.
Vielen Dank.
({8})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Ralph Brinkhaus von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Kollege Schäffler, es hätte uns gefreut, wenn Sie sich in
die Facharbeit des Ausschusses und in die Anhörungen
genauso engagiert eingebracht hätten wie hier an diesem
Plenumstag.
({0})
Wir müssen ja immer wieder feststellen, dass Sie hier
große Reden schwingen, aber in der Facharbeit nicht zu
sehen sind. Das halte ich für falsch.
({1})
Man kann sich - ich habe großen Respekt vor den Argumenten des Kollegen Danckert und auch des Kollegen
Kolbe - trefflich darüber unterhalten, welche Kompetenzen man nach Europa verlagert. Wir alle hätten uns im
Jahr 2009 nicht träumen lassen, dass die EZB die Aufsicht über die großen europäischen Banken übernimmt.
Aber während vier Jahren Finanzmarktregulierung haben wir eines gelernt: dass es bei keinem Punkt so sinnvoll ist, Kompetenzen auf Europa zu übertragen, wie bei
der Regulierung der Finanzmärkte. Wer das negiert, der
verteidigt seine Kindheit, der verteidigt eine Illusion, die
der Wahrheit nicht entspricht. Dementsprechend, meine
Damen und Herren, kann ich Ihnen wirklich nur empfehlen, hier heute, an diesem Abend, dieser ganzen Sache
zuzustimmen. Ich bin sehr froh, dass SPD und Grüne unserem Antrag überwiegend zustimmen werden.
Sie haben allerdings auch Kritik geübt. Das ist durchaus legitim. Das ist das Privileg der Opposition. Aber
Ihre Kritik muss sich an dem messen lassen, was Sie gesagt haben. Sie als SPD haben hier behauptet - ohne
dass Sie dafür jemals den Nachweis erbringen müssen -,
dass Sie schneller in der Lage gewesen wären, einen Restrukturierungsmechanismus aufzustellen, als diese Bundesregierung. Das ist nicht okay, weil diese Bundesregierung über diesen Restrukturierungsmechanismus
verhandelt und weil diese Bundesregierung am Anfang
dieser Legislaturperiode dafür gesorgt hat, dass es in
Europa eine Blaupause für diesen Restrukturierungsmechanismus gibt.
({2})
Sie müssen sich auch noch an etwas anderem messen
lassen. Sie behaupten, dass dann, wenn es diesen Restrukturierungsmechanismus nicht gibt, der Steuerzahler
einspringen muss, und sagen von sich, sie hätten einen
Fonds mit einem Volumen von 200 Milliarden Euro aufgelegt, der von den Banken gespeist wird. Ich halte es
schlichtweg für naiv, so etwas in einer so kurzen Frist
hinzubekommen. Deswegen ist es richtig und gut, dass
die Bundesregierung die nationalen Staaten nicht aus der
Verantwortung entlässt, sondern dafür sorgt, dass jeder
erst vor seiner Haustür kehrt - das sollte auch Ihnen gefallen, Kollege Schäffler - und erst dann die Restrukturierungsmechanismen greifen. Insofern laufen Ihre Anträge ins Leere.
({3})
Herr Kollege Schick, Sie haben das Demokratiedefizit angemahnt. Wir haben das Problem bereits im letzten
Jahr in einem Entschließungsantrag aufgegriffen und der
Bundesregierung aufgegeben, sich darum zu kümmern.
Die Kolleginnen und Kollegen vom Europäischen Parlament haben unsere volle Unterstützung, wenn sie ihre
demokratischen Kontrollrechte bei der EZB einklagen
und einfordern.
({4})
- Dazu bedarf es keines weiteren Antrages.
Ich möchte auf noch einen Punkt eingehen, den der
Kollege Binding eben genannt hat. Er hat das Papier von
Herrn Steinbrück mit dem Titel „Vertrauen zurückgewinnen: Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ zitiert. Das war sehr nett. Auch Ihr heutiger Antrag trägt diesen Titel. Das ist sehr interessant. Wir haben
damals - es war der September des Jahres 2012 - darauf
gewartet, was in diesem groß angekündigten Papier von
Herrn Steinbrück steht. Es war ja seine Bewerbungsunterlage als Kanzlerkandidat der SPD. Was haben wir vorgefunden, als dieses Papier veröffentlich worden ist?
Darin standen Dinge, die schon längst umgesetzt worden
waren. Darin standen Dinge, die gerade umgesetzt wurden, und darin standen Dinge, die in der Diskussion waren und heute umgesetzt werden.
({5})
- Ich sage das ohne jegliche Häme, lieber Kollege
Binding; denn wir kamen bei der Identifikation der Probleme am Finanzmarkt immer zu den gleichen Ergebnissen. Der Unterschied zwischen uns besteht nun darin,
dass Sie sagen, Sie könnten schneller, höher, weiter. Das
ist, wie gesagt, auch das Privileg der Opposition, weil
Sie nie nachweisen müssen, dass Sie schneller, höher,
weiter können.
({6})
Vor dem Hintergrund möchte ich einfach noch einmal
kurz zusammenfassen, was diese Regierungskoalition in
den letzten vier Jahren geleistet hat.
({7})
Wir haben hier in diesem Parlament über 30 Initiativen
und Gesetze zur Finanzmarktregulierung verabschiedet.
Wir haben dafür gesorgt, dass Banken weniger Fehler
machen. Wir haben mit unseren Regulierungsmaßnahmen dafür gesorgt, dass die Fehlertragfähigkeit von Banken und Finanzinstitutionen erhöht worden ist. Wir haben die Aufsicht in diesem Land gestärkt. Wir haben die
europäische Aufsicht gestärkt. Wir werden heute eine
Bankenunion schaffen.
({8})
Wir haben in Anerkennung der Tatsache, dass Aufsicht
nicht ausreicht, dass trotzdem Fehler passieren können
und dass Fehlertragfähigkeit manchmal auch nicht ausreicht, dafür gesorgt, dass hier in Deutschland Restrukturierungsmechanismen eingeführt worden sind. Wir
haben dafür gesorgt, dass Abwicklungspläne erstellt
werden müssen. Wir haben dafür gesorgt, dass Banken
Testamente machen müssen.
({9})
Wir haben darüber hinaus auch dafür gesorgt - auch
wenn Sie es nicht gerne hören -, dass die Banken an den
Kosten der Krise beteiligt werden. Diese Bundesregierung hat die Finanztransaktionsteuer vorangetrieben.
({10})
Diese Bundesregierung hat die Bankenabgabe eingeführt, von der Sie nur reden.
({11})
Diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition haben den Verbraucherschutz im finanziellen Bereich in einer Form gestärkt, wie es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorgekommen
ist. Vier Jahre Finanzmarktpolitik in diesem Haus heißt
für die Opposition: Papiere schreiben, diskutieren, lamentieren und kritisieren. Vier Jahre Finanzmarktpolitik
heißt für diese Koalition: liefern.
Danke.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak-
tionen der CDU/CSU und der FDP sowie von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwürfe eines Gesetzes
zum Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Über-
tragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit
der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische
Zentralbank.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13961, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP auf Drucksache 17/13470 sowie den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/13829
und 17/13901 zusammenzuführen und anzunehmen.
Ich will Ihnen mitteilen, dass zahlreiche Erklärungen
nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen, die wir
zu Protokoll nehmen.1)
({1})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit großer Mehrheit bei zahlreichen Gegenstimmen
und einigen Enthaltungen angenommen worden. Nach
Fraktionen kann ich das von hier oben nicht genau defi-
nieren, dafür hätten Sie noch Platz behalten müssen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. - Nehmen Sie bitte Platz! Sie
müssen sich nämlich, wenn Sie nun zustimmen wollen,
erheben.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit großer Mehrheit
angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13965.
Hierzu ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Plätze ein-
zunehmen und die Urnen aufzustellen.
Ich bitte anzuzeigen, ob die Schriftführer überall an-
wesend sind. - Gut. Ich eröffne die Abstimmung und
bitte, die Stimmkarten einzuwerfen.
Haben alle anwesenden Mitglieder des Hauses ihre
Stimmkarten eingeworfen? - Das ist der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später be-
kannt gegeben werden.2)
Tagesordnungspunkt 15 b. Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ein
neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte - Für
eine starke europäische Bankenunion zur Beendigung
der Staatshaftung bei Bankenkrisen.“ Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/13961, den Antrag der Fraktio-
nen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/11878 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen.
1) Anlagen 3 bis 5
2) Ergebnis Seite 31419 C
Zusatzpunkt 7. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13908 mit
dem Titel „Bankenunion beschleunigen statt bremsen Über eine Abwicklungskompetenz der Europäischen
Kommission die Haftung der Steuerzahler beenden“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei
Zustimmung der Grünen und Enthaltung der SPD.
Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13909 mit
dem Titel „Kontrollrechte des Europäischen Parlaments
bei EZB-Bankenaufsicht stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von Linken und Grünen
und Enthaltung der SPD.
Zusatzpunkt 9. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13910 mit
dem Titel „SSM-Verordnung zustimmen, keine innerstaatliche Präjudizwirkung schaffen“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken bei Zustimmung der Grünen
und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
16 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christel
Humme, Caren Marks, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gleichstellung - Fortschritt - Jetzt - Durch
eine konsistente Gleichstellungspolitik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Ekin Deligöz, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Lebensverlauf durchsetzen
- Drucksachen 17/12487, 17/12497, 17/13367 Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön ({3})Christel HummeNicole Bracht-BendtCornelia MöhringMonika Lazar
ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Schmidt ({5}), Siegmund Ehrmann,
Angelika Krüger-Leißner, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Für die tatsächliche Gleichstellung von Frauen
und Männern auch im Kunst-, Kultur- und
Medienbereich
- Drucksachen 17/13478, 17/13954 Berichterstattung:Abgeordnete Monika GrüttersUlla Schmidt ({6})Reiner DeutschmannDr. Lukrezia JochimsenAgnes Krumwiede
ZP 11 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Krista
Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundlagen für Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen
- Drucksachen 17/6130, 17/10880 Berichterstattung:Abgeordnete Dorothee BärUlla Schmidt ({8})Reiner DeutschmannDr. Rosemarie HeinAgnes Krumwiede
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dorothee Bär für die CDU/
CSU-Fraktion.
({9})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben in
dieser Legislaturperiode schon sehr oft über Gleichstellungspolitik gesprochen. Heute Abend hätte es vielleicht
den einen oder anderen gegeben, der das nicht mehr als
ganz dringend notwendig befunden hätte. Nachdem ich
aber gehört hatte, dass es die Abschiedsrede der Frau
Kollegin Humme geben wird, sind wir alle selbstverständlich gerne hier hergekommen, liebe Frau Kollegin
Humme, um mit Ihnen diese letzte Debatte zu führen.
Ich kann von unserer Seite aus sagen: Sie sind eine der
Guten, auch wenn wir vielleicht nicht immer bei jedem
einzelnen Punkt einer Meinung waren.
({0})
Ich spreche leider vor Ihnen. Trotzdem möchte ich mich
bei Ihnen für die gute Zusammenarbeit im Ausschuss
und vor allem auch für das gute menschliche Miteinander in den letzten Jahren bedanken.
({1})
Wir sind in vielen Punkten, was die Analyse betrifft,
gar nicht weit auseinander. Vielleicht sind wir es, was
die Umsetzung betrifft. Wenn man sich den Ersten
Gleichstellungsbericht der Bundesregierung anschaut,
sieht man, dass es strukturelle Ungleichheiten gibt. In
ganz vielen Kapiteln dieses Gleichstellungsberichts kann
man ganz genau nachlesen, wie groß die Ungleichheiten
im Lebensverlauf von Frauen und Männern sind. Man
kann sehen, dass es Nachteile gibt, die sich durch ganz
bestimmte Lebenssituationen - zum Beispiel Einkommensverlust während einer familienbedingten Auszeit,
Ehescheidung, Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung - ergeben. Insbesondere dann, wenn sich das im
Lebensverlauf kumuliert, sieht man, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen Etappen ihres Lebensverlaufs immer noch nicht gewährleistet ist.
Wir haben festgestellt, dass Frauen noch immer seltener als Männer in Führungspositionen aufsteigen, dass
sie ihr Berufsleben häufiger und länger unterbrechen und
dass sie sich heute mehrheitlich immer noch um Kinder
und zu pflegende Angehörige kümmern. Deswegen
freue ich mich sehr, dass unsere beiden Parteien beschlossen haben, in ihr Wahlprogramm - und damit
wohl in der nächsten Legislaturperiode auch in das Regierungsprogramm - die Einführung einer Quote aufzunehmen. Dass unsere beiden Parteivorsitzenden sehr
stark dafür kämpfen, ist ein sehr guter Erfolg.
({2})
Ich sehe in der ersten Reihe bei uns Frau Fischbach,
Rita Pawelski und Nadine Schön. Dahinter sitzt
Elisabeth Winkelmeier-Becker.
({3})
- Ich möchte erst einmal über die Frauen sprechen, Herr
Kollege Jarzombek. - Unsere Frauen sind auf jeden Fall
der Meinung, dass das ein richtiges Anliegen ist. Wenn
auch fast alle unsere gleichberechtigungspolitischen
Sprecher - Markus Grübel, Thomas Jarzombek und der
PGF Stefan Müller - jetzt dieser Meinung sind, kann
gesagt werden, dass wir einen richtigen Schritt in die
richtige Richtung gemacht haben.
Diese Bundesregierung hat die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als ganz zentrales Anliegen in den Vordergrund gestellt. Wir haben als erste Bundesregierung
festgestellt, dass wir bei dem Thema nicht nur die
Frauen, sondern ganz besonders auch die Männer in den
Blick nehmen müssen. Das müssen wir zum Teil
deshalb, weil Männer grundsätzlich auch gleiche Rechte
haben, aber auch ein Interesse daran haben sollten - teilweise haben sie es auch -, ihre Kinder zu betreuen und
dann später aber auch ihre Angehörigen zu pflegen. Zum
anderen natürlich deshalb, weil die Bereitschaft der
Männer zur - eigentlich selbstverständlichen - partnerschaftlichen Teilung von Fürsorgearbeit auch für die beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten von Frauen entscheidend ist.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Kinderbekommen innerhalb der Karriere eine große Rolle spielt.
Wenn man sich einmal die Biografien von Karrierefrauen und -männern anschaut, stellt man Folgendes
fest: Die meisten Führungspositionen bzw. Vorstandsämter haben Männer mit Kindern inne. An zweiter Stelle
kommen Männer ohne Kinder. Dann kommen Frauen
ohne Kinder. Schließlich kommen Frauen mit Kindern.
Insoweit muss man ganz klar feststellen, dass Kinder
kein Hinderungsgrund sind, um eine Führungsaufgabe
übertragen zu bekommen, wie man am männlichen Teil
sieht. Da ist es sogar ein Vorteil. Dagegen ist es bei den
Frauen komplett anders. Deshalb ist es nicht nur wichtig,
Barrieren für Frauen abzubauen und Chancengleichheit
für Frauen und Mädchen zu verwirklichen, sondern auch
die Verwirklichungschancen im Lebenslauf von Männern zu erweitern. Deswegen hat die Bundesregierung
eine Jungen- und Männerpolitik gemacht. Wir wollen
Jungen und Männer unterstützen, sich nicht von angeblich vorgegebenen Rollenbildern einengen zu lassen.
Eine Maßnahme, die wir auf den Weg gebracht haben,
ist das Programm „Mehr Männer in Kitas“. Uns war es
wichtig, die Zahl von Männern in der Ausbildung zum
Erzieher zu erhöhen. Sie hat seit Beginn unseres Bundesprogramms um 40 Prozent zugenommen. Das ist ein
ganz großer Erfolg dieser Bundesregierung.
({4})
Neben der Aktion „Mehr Männer in Kitas“ möchte
ich noch den Boys’ Day erwähnen, bei dem Jungen angesprochen werden, Berufsalternativen jenseits tradierter Männerberufe kennenzulernen. Gerade im Bereich
der Erziehung, der Pflege und der Gesundheitsberufe
sind Männer noch deutlich unterrepräsentiert.
Einer unserer ganz großen Erfolge ist die Schaffung
des Bundesfreiwilligendienstes, weil er es gerade jungen
Männern ermöglicht, in viele Berufe hereinzuschnuppern. Wenn jemand einmal durch ein Praktikum oder
durch den Bundesfreiwilligendienst diese Möglichkeit
hatte, fällt es ihm später wesentlich leichter, in einem
dieser Berufe Fuß zu fassen und vielleicht mit kleinen
Kindern oder Jugendlichen zu arbeiten.
Wir sind hier auf einem guten Weg. Ich sage gar
nicht, dass wir schon in allen Bereichen des Lebens genau da angekommen sind, wo wir ankommen wollen.
Wir haben in den letzten vier Jahren viel erreicht, werden aber natürlich in unserer christlich-liberalen Koalition in den nächsten vier Jahren noch mehr auf den Weg
bringen.
({5})
Chancengleichheit für Frauen und Männer ist erreichbar, wenn wir nicht nur kurzfristig, sondern auch mittelund langfristig die Chancenungerechtigkeit abbauen und
wenn wir auch in den Köpfen etwas ändern. Das ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Aber die Hausaufgaben, die die Bundesregierung zu machen hatte, hat sie erledigt. Jetzt freue ich mich, dass sich Frau Humme in ihrer letzten Rede für unsere Arbeit bei uns bedankt.
Vielen Dank.
({6})
Bevor ich die nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung
über den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion zum
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der
Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank bekannt: abgegebene Stimmen 539. Mit Ja
haben gestimmt 130, mit Nein haben gestimmt 311,
Enthaltungen 98. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 538;
davon
ja: 130
nein: 311
enthalten: 97
Ja
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Lothar Binding ({0})
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Petra Crone
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf ({1})
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({2})
Hubertus Heil ({3})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz ({4})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h.c. Susanne Kastner
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Christine Lambrecht
Christian Lange ({5})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel ({6})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({7})
({8})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({9})
Bernd Scheelen
({10})
Werner Schieder ({11})
Ulla Schmidt ({12})
Carsten Schneider ({13})
Swen Schulz ({14})
Ewald Schurer
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Dr. h.c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Brigitte Zypries
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hans-Christian Ströbele
Nein
CDU/CSU
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({15})
Manfred Behrens ({16})
Veronika Bellmann
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer ({17})
Dirk Fischer ({18})
Axel E. Fischer ({19})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
({20})
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Ute Granold
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Monika Grütters
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Andreas Jung ({21})
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({22})
Dr. Stefan Kaufmann
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl A. Lamers
({23})
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Dr. Max Lehmer
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Stephan Mayer ({24})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller ({25})
Dr. Philipp Murmann
Michaela Noll
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({26})
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({27})
Anita Schäfer ({28})
Dr. Wolfgang Schäuble
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({29})
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön ({30})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({31})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Karin Strenz
Thomas Strobl ({32})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({33})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Kai Wegner
Marcus Weinberg ({34})
Peter Weiß ({35})
Sabine Weiss ({36})
Ingo Wellenreuther
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Jens Ackermann
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({37})
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Gerhard Drexler
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther ({38})
Heinz-Peter Haustein
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Dr. Heinrich L. Kolb
Dr. h.c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth ({39})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Michael Link ({40})
Dr. Erwin Lotter
Horst Meierhofer
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller ({41})
Burkhardt Müller-Sönksen
({42})
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({43})
Cornelia Pieper
Jörg von Polheim
Dr. Christiane RatjenDamerau
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Werner Simmling
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Dr. Florian Toncar
Johannes Vogel
({44})
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({45})
Enthalten
DIE LINKE
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Dr. Martina Bunge
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Harald Koch
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer ({46})
Kathrin Senger-Schäfer
Sabine Stüber
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Harald Weinberg
Katrin Werner
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Volker Beck ({47})
Agnes Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Dr. Thomas Gambke
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz ({48})
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Undine Kurth ({49})
Dr. Tobias Lindner
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Daniela Wagner
Arfst Wagner ({50})
Dr. Valerie Wilms
fraktionsloserAbgeordneter
Wolfgang Nešković
Als nächste Rednerin hat jetzt die Kollegin Christel
Humme von der SPD-Fraktion das Wort.
({51})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Liebe Frau Bär, ich glaube, für die SPD-Fraktion sagen
zu können, dass uns Gleichstellungspolitik zu diskutieren immer wichtig ist, ob ich meine letzte Rede halte
oder nicht. Das musste ich erst einmal sagen.
({0})
Es sind noch 100 Tage bis zur nächsten Bundestagswahl. In der Tat, ich halte meine letzte Rede zum Thema
Gleichstellungspolitik. Dieses Thema stand schon häufiger auf der Tagesordnung des Parlaments. Ich hätte mir
gewünscht - das gebe ich ehrlich zu -, dass ich dieses
Lob, das Sie eingefordert haben, Frau Bär, tatsächlich
hätte aussprechen können. Nur musste ich leider feststellen, dass die letzten vier Regierungsjahre vergeudete
Zeit für die Frauen waren, vergeudete Zeit auch, wie ich
denke, in Bezug auf die Gleichstellungspolitik.
({1})
Sie haben richtig gesagt: Möglicherweise gleichen
sich unsere Analysen. - Aber Sie hatten es viel einfacher
als die Regierungen vorher: Sie hatten nämlich einen
hervorragenden Ersten Gleichstellungsbericht einer unabhängigen Sachverständigenkommission.
({2})
Und was machen Sie mit diesem hervorragenden Bericht? Die Bundesregierung nimmt ihn entgegen, aber
nicht die Ministerin, sondern der Staatssekretär Herr
Kues. Das hat mich nicht gewundert; denn die Ministerin hat einmal in einem Interview gesagt: Staatssekretäre
sind die Personen, die die Aufgaben übernehmen, die
Minister und Ministerinnen nicht übernehmen wollen.
({3})
Sie, Herr Kues, mussten also diesen Bericht entgegennehmen. Dann haben Sie diesen Bericht in die Schublade gelegt, und zwar ganz weit hinten, und nicht mehr
zur Kenntnis genommen.
Denn wenn Sie diesen Bericht tatsächlich zur Kenntnis genommen hätten, dann wäre es nicht zur Einführung
des Betreuungsgeldes gekommen und dann hätten wir
auch keine Ausweitung der Minijobs. Diese Entscheidungen haben Sie getroffen.
({4})
Damit zementieren Sie die Männerrolle als Haupternährer. Von Gleichstellung ist da keine Spur.
Dabei wissen wir doch ganz genau, was der Gleichstellungsbericht festgestellt hat: Echte Gleichstellung
gibt es nur, wenn Männer und Frauen eigenständig für
die Existenz sorgen können. Wir brauchen etwas - auch
das hat der Gleichstellungsbericht festgestellt -, was
heute in der Politik überhaupt nicht vorhanden ist, nämlich ein konsistentes Leitbild. Wir geben immer unterschiedliche Signale an die Frauen. Einerseits sagen wir
ihnen: „Sei berufstätig! Wir brauchen Fachkräfte. Wir
bieten Betreuungsangebote“, und andererseits sagen wir
ihnen mit dem Ehegattensplitting und Ihrem Betreuungsgeld: Liebe Frauen, bleibt doch zu Hause!
Ich denke, das traurige Ergebnis dieser inkonsistenten
Politik - das zeigt auch der Gleichstellungsbericht - ist
immer noch, dass Frauen im Lebensverlauf das größte
Armutsrisiko tragen.
({5})
Sie verdienen in ihrem Leben 58 Prozent weniger als die
Männer, und in der Konsequenz erhalten sie nur 52 Prozent der Männerrenten. Wenn das Gleichstellungspolitik
ist, dann weiß ich nicht, was Sie in Zukunft vielleicht
verändern wollen, Frau Bär.
({6})
Falsche Anreize, die wir in der Politik geben, haben
- das sehen wir daran - fatale Folgen für die Frauen, und
zwar ein Leben lang.
({7})
Wir wollen genau das verhindern. Darum haben wir Ihnen einen Antrag mit einem konsequenten, schlüssigen
Konzept vorgelegt, das den gesamten Lebenslauf der
Frauen in den Mittelpunkt stellt. Damit können wir dann
auch die Widersprüche, die wir in der Politik haben, auflösen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen von der Regierung
und von den Regierungsfraktionen, wenn Sie schon
nicht den wissenschaftlichen Bericht ernst nehmen, dann
würde ich mich freuen, wenn Sie die Frauen ernst nehmen. Denn 80 Prozent der Frauen möchten eine eigenständige Existenzsicherung. Sie möchten nicht für
6,50 Euro oder gar darunter arbeiten müssen.
Warum, frage ich Sie, ist es nicht möglich, mit Ihnen
den gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen, damit wir endlich diesen Frauen helfen?
({8})
Sie wissen genauso wie wir: Frauen verdienen weniger
als Männer, und zwar 22 Prozent bzw. bis zu 35 Prozent
in höheren Führungspositionen.
Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, der diese
Diskriminierung endlich auflöst. Was machen Sie? Sie
stimmen natürlich dagegen, leider auch die Linken. Aber
was machen Sie, zwei Tage nachdem Sie diesen Gesetzentwurf abgelehnt haben? Sie gehen zum Brandenburger
Tor und demonstrieren für Equal Pay. Gegen wen eigentlich?
({9})
Was sind das für ein Zynismus und eine Schizophrenie?
({10})
- Ganz ruhig, Frau Fischbach. - Wenn 80 Prozent der
jungen Frauen eine eigenständige Existenzsicherung und
eine Familie wollen, dann wollen sie heraus aus der Zuverdienerrolle. Aber das verhindern das ungerechte
Steuersystem und die Minijobs. Mit beiden Instrumenten
zusammen schaffen wir nicht, dass die Frauen aus der
Zuverdienerrolle herauskommen, Frau Fischbach.
({11})
Das wissen Sie genauso wie wir alle auch.
({12})
Darum brauchen wir an dieser Stelle eine Reform der
Minijobs statt einer Ausweitung, wie Sie das beschlossen haben, und wir brauchen auch eine Reform des Ehegattensplittings, wie wir es vorgeschlagen haben, hin zu
einem Partnerschaftstarif.
({13})
Das heißt, dass wir zwar die bestehenden Ehen schützen,
aber eine neue Individualbesteuerung mit gegenseitiger
Unterhaltsverpflichtung schaffen. Das würde den Frauen
helfen, aus ihrer Rolle der Zuverdienerin herauszukommen.
({14})
Während Sie sich - das stelle ich immer wieder fest bedauerlicherweise von alten Zöpfen nicht lösen können, haben wir mit diesem Antrag ein wirklich zukunftsweisendes Gleichstellungskonzept vorgelegt. Wir wissen
auch ganz genau: Eine echte Gleichstellung - das
schreibe ich Ihnen ins Stammbuch - geht nicht ohne
Handlung. Das heißt, es geht nicht ohne gesetzliche Regelungen.
({15})
Wir brauchen gesetzlichen Mindestlohn, verbindliche
Quoten, das Entgeltgleichheitsgesetz, den Partnerschaftstarif und gute Arbeit mit Sozialversicherung. Erst
dann, wenn es diese gesetzlichen Regelungen gibt, bieten wir Frauen und Männern mehr Wahlmöglichkeiten,
zu entscheiden, wie sie tatsächlich ihren Lebensverlauf
gestalten wollen.
Wenn Sie diese zusätzlichen Wahlmöglichkeiten auch
wollen, dann müssen Sie eigentlich unserem Antrag zustimmen.
({16})
So weit zu Ihrer Politik.
Frau Bär, ich danke Ihnen in der Tat. Ich danke allen
Ausschussmitgliedern für die gute Zusammenarbeit, für
die Unterstützung an manchen Stellen, aber auch für die
Kritik; gar keine Frage. Ich hoffe, dass wir in der nächsten Legislatur ganz viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter
- die Mitstreiter nenne ich ganz bewusst - für ein zukunftsträchtiges Gleichstellungskonzept bekommen.
Das wünsche ich uns allen, auch mir, die ich das nur
noch von außen beobachten werde.
Schönen Dank.
({17})
Statt der Kollegin Bracht-Bendt erteile ich nun der
Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Humme, Sie haben gerade sehr für Ihren
Antrag geworben. Die Situation am Ende einer Legislaturperiode ist aber wie zu Anfang: Dem stimmt die Regierungskoalition nicht zu.
Dennoch ist das Thema „Gleichstellung von Männern
und Frauen“ für uns Thema in dieser Legislaturperiode
gewesen. Ich persönlich mache keinen Hehl daraus: Ich
hätte mir mehr gewünscht. Wir haben mit den Verbänden
eine sehr intensive und sehr engagierte Debatte zur
Quote für Frauen in den Aufsichtsräten geführt, und es
ging hier durchaus hoch her. Ich nehme sehr wohlwollend zur Kenntnis, dass in der CDU/CSU als Schlussfolgerung daraus wohl eine programmatische Zielsetzung
formuliert worden ist. Ich wünsche mir das auch für die
FDP.
({0})
Ich habe der FDP ein entsprechendes Signal gegeben.
So ist das nun einmal in der Gleichstellungspolitik.
Sie ist mühsam. Sie ist nicht im Hauruckverfahren erfolgreich. Ich bin ganz sicher: In der nächsten Legislaturperiode werden wir im Bundestag, egal in welchen
Mehrheiten, das Thema „Frauen in der gesellschaftlichen Verantwortung“ noch einmal in den Vordergrund
stellen.
({1})
Was diese Koalition auf jeden Fall vorzuweisen hat,
sind sehr viel mehr Staatssekretärinnen in den Ministerien. Das ist etwas, was Rot-Grün schon vor Jahren hätte
machen können; es war kein Thema. Das ist eine verpasste Chance. Es ist natürlich bitter, zu sehen, wie wir,
die Regierungskoalition, auch Themen vorangebracht
haben, die vielleicht nicht ganz so spektakulär sind, die
nach meinem Dafürhalten aber sehr wirkungsvoll sind.
({2})
Wenn Frauen in die Führungspositionen in den Ministerien kommen, dann wird sich auch da in den entsprechenden Aufgabenstellungen das Thema Gleichstellung
durchsetzen. So wünschen wir uns das natürlich auch für
die Wirtschaft. Wie man das auf den Weg bringt, dazu
gibt es verschiedene Vorstellungen. Nach Auffassung
der Liberalen sollten dies sicherlich keine Zwangsmaßnahmen sein; denn wir setzen auf den freien Wettbewerb
und auf die Einsicht, dass eine Gesellschaft die Gleichstellung von Frauen braucht; nur dann ist sie zukunftsfähig. Gesellschaften, die Frauen ausgrenzen - ich
glaube, ich brauche die entsprechenden Beispiele im
Einzelnen gar nicht aufzuzählen -, sind nicht zukunftsfähig.
({3})
An diesem Maßstab müssen wir uns ausrichten. Danach
werden wir uns auch in Zukunft richten.
({4})
Ich möchte noch einen Aspekt aufzeigen, den wir vor
kurzem im Familienausschuss, wo die Gleichstellungspolitik angesiedelt ist, beleuchtet haben. Wir haben den
Wehrbeauftragten zu Gast gehabt. Mittlerweile haben
wir eine große Anzahl von Frauen auch in der Bundeswehr, einem typischen Männerbereich, wo Frauen mittlerweile ebenfalls ihre Aufgabe finden. Wenn man mit
einer „Frau Hauptmann“ spricht, muss man sich erst einmal an diese Situation gewöhnen. Aber man kann feststellen, dass Frauen auch da ihre Themen zu platzieren
wissen; beispielsweise die Familienpolitik in der Bundeswehr ist eine ganz spezielle Fragestellung, mit der
wir uns auseinandergesetzt haben.
({5})
So gibt es einige Beispiele dafür, wie wir die Gleichstellung im Detail vorangebracht haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auf etwas ganz Wesentliches
hinweisen: Gleichstellung ist nur möglich, wenn Frauen
ihre beruflichen Möglichkeiten entwickeln können. Das
heißt, Mütter müssen ihre Kinder angemessen versorgt
wissen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein
großes Thema, dem wir uns mit viel Geld gewidmet haben. Wir haben Geld und nochmals Geld zur Verfügung
gestellt, damit die Bundesländer, die bei der Aufgabe der
Kinderbetreuung ganz zentral gefragt sind, ihrer Aufgabe auch nachkommen können. Dabei sind die SPD-geführten Bundesländer nicht nur vorbildlich. Ich habe
mich gewundert, wie wenig insbesondere der Ausbau
der Kinderbetreuung in Nordrhein-Westfalen von der
SPD vorangetrieben worden ist.
({6})
Wir haben die richtigen Signale gesetzt, das Geld zur
Verfügung gestellt. Insofern brauchen wir uns, auch was
die Gleichstellungspolitik angeht, nicht zu verstecken.
Ich bedanke mich.
({7})
Jetzt hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Linken
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Bracht-Bendt, Sie haben gesagt - ({0})
Die Frau Kollegin Laurischk hat geredet, wenn ich Ihnen das in Erinnerung rufen darf.
Entschuldigung!
({0})
Frau Laurischk, ich kenne Sie natürlich. Das war jetzt
ein kleiner Fehler.
Trotzdem: Sie haben gesagt: Natürlich ist Gleichstellungspolitik mühsam. - Da frage ich mich: Warum „natürlich“? Wie man dann noch sagen kann: „Wir setzen
auf den Wettbewerb und die Einsicht“, kann ich nicht
nachvollziehen. Genau das ist doch gescheitert. Deshalb
reden wir hier wieder und wieder und wieder über
Gleichstellungspolitik. Wir treffen uns ständig, heute aus
Anlass der Anträge von Grünen und SPD. Das ist gut
und richtig; wir wechseln uns immer ab. Jedes Mal kommen wieder die Anträge. Letztendlich liegen die Forderungen doch auf dem Tisch.
Was Sie bisher gemacht haben - die Industrie soll
Einsicht zeigen, und die Frauen sollen vielleicht dann
doch ein bisschen gefördert werden -, ist einfach gescheitert. Sie handeln wider besseres Wissen. Das ist das
Problem.
({1})
Im Grundgesetz ist die Gleichstellung von Mann und
Frau verankert, aber die Lebensrealität ist einfach eine
andere. Männer und Frauen haben nicht die gleichen Lebensperspektiven, und das schadet Männern und Frauen,
beiden Geschlechtern.
Der Gleichstellungsbericht ist doch eindeutig. Natürlich brauchen Frauen Existenzsicherung. Frauen wollen
selbstständig leben können, unabhängig vom Einkommen ihres Ehemanns und auch nicht in Abhängigkeit
vom Staat; denn das kann doch nicht die Perspektive
sein.
({2})
Ich frage mich, warum es mühsam ist, das durchzusetzen. Es müsste doch auch im Interesse aller Männer sein,
dass Frauen selbstständig sind.
({3})
Wir haben im Ersten Gleichstellungsbericht das Beispiel der Minijobs. Sie wurden von Rot-Grün eingeführt.
Das war ein Fehler, aber Sie haben das auch als Fehler
erkannt.
({4})
Ich zitiere einmal aus dem Bericht:
Die gegenwärtige Minijobstrategie muss aus der
Perspektive der Geschlechtergleichstellung … als
desaströs bezeichnet werden.
Ja!
In den letzten Jahren, von 2000 bis 2010, hat sich die
Anzahl der in Teilzeit Beschäftigten um 3 Millionen von
7 Millionen auf 10 Millionen erhöht. 45 Prozent der erwerbstätigen Frauen sind nur in Teilzeit tätig; bei den
Männern sind es 10 Prozent. Die Ursache: fehlende Vollzeitjobs, fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Die Kinderbetreuungsmöglichkeiten muss man schaffen.
Dabei kann man die Länder und die Kommunen nicht alleinlassen. Es reicht nicht, dass wir als Bund für Baumaßnahmen eintreten; wir müssen auch tatsächlich fördern. Allein 70 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen
im Bereich der Betreuung der unter Dreijährigen. Es ist
schön, jetzt Schnupperkurse anzubieten, aber lassen Sie
uns doch einmal darauf gucken: Wie werden diese typischen Frauenberufe bezahlt? Niedriger als Männerberufe! Ändern Sie die Bezahlung!
({5})
Wenn Sie das tun, dann werden wir auch eine andere Situation haben; dann werden auch viel mehr Männer
diese Berufe ergreifen.
({6})
Diese verheerende Entwicklung bei den Minijobs haben Sie nicht gestoppt; im Gegenteil: Sie haben die Verdienstobergrenze angehoben und die Jobs ausgeweitet.
Sie haben die 400-Euro-Jobs in 450-Euro-Jobs umgewandelt. Und was kommt dabei heraus? Uns droht eine
verheerende Altersarmut.
({7})
Viele Frauen wissen schon heute, dass sie im Alter nicht
eigenständig leben können. Ich finde, es ist eine menschenunwürdige Perspektive, wenn Frauen von vornherein dazu gezwungen werden, zum Amt zu gehen, um
überhaupt überleben zu können.
Deshalb kann ich nur sagen: Geschlechtergerechtigkeit nutzt Männern und Frauen. Lassen Sie uns endlich
gemeinsam gesetzliche Regelungen schaffen - zum
Mindestlohn, zu einer Mindestrente und einer gerechten
Bewertung aller Berufe -; dann können wir tatsächlich
eine Verbesserung der Situation erreichen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Monika
Lazar das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist schön, dass wir in dieser Wahlperiode noch einmal
die Gelegenheit haben, die Scheinwerfer auf eine eher
verstaubte Ecke im Regierungshandeln von SchwarzGelb zu richten,
({0})
eine Ecke, wo der Staub hoch ist und der Wollmäuse
viele sind. Es ist eine Ecke, in der leider viel zu wenig
passiert ist.
({1})
Ich habe mitbekommen, dass der Gleichstellungsbericht überfraktionell einstimmig begrüßt wurde. Die Ergebnisse sind richtig. Dies wurde schon angesprochen.
Man fragt sich, warum die Ministerin ihn Anfang 2012
nicht selber entgegengenommen hat. Wenn man aber den
Bericht liest, insbesondere die Forderungen bezüglich
einer konsistenten Gleichstellungspolitik mit einer Lebensverlaufsperspektive, dann wird das nachvollziehbar;
denn all das hat Schwarz-Gelb nicht umgesetzt. Die
Ministerin hat den Bericht lieber in den Schrank gestellt,
ihn verstauben lassen und den Kopf in den Sand gesteckt.
({2})
Die Lebensverlaufsperspektive ist sehr einleuchtend.
Die Vorschläge im Gleichstellungsbericht sind wirklich
sehr anregend. Wir konnten uns sehr gut bei den Argumenten bedienen. Von daher mussten wir nicht einmal
mit unseren eigenen Anträgen argumentieren, sondern
wir konnten wunderbar mit dem Gleichstellungsbericht
argumentieren. Es gab auch eine Anhörung dazu. Von
daher waren die Vorlagen vorhanden.
Im Gleichstellungsbericht steht, dass ein konsistentes
Leitbild fehlt. Auch die Steuer- und Sozialpolitik war in
den letzten vier Jahren widersprüchlich: Entgeltgleichheit - Fehlanzeige. Quote - Fehlanzeige.
({3})
Die Ministerin hat es noch nicht einmal geschafft, ihr sogenanntes Flexi-Quoten-Modell vorzulegen. Es ist alles
nur angekündigt worden. An das Thema Ehegattensplitting gehen Sie nicht heran. Bei den Minijobs gab es eine
Verschlechterung, indem jetzt nur noch 450 Euro verdient werden können. Auch bei der Kinderbetreuung ist
noch sehr viel nachzuholen.
Das alles zeigt: Die letzten vier Jahre waren in Bezug
auf die Gleichstellungspolitik vier verlorene Jahre.
({4})
Da nützen die Behauptungen vonseiten der Regierung
leider nichts. Denn klar ist: Von allein tut sich nichts.
Wir brauchen gesetzliche Rahmenbedingungen.
({5})
Deshalb müssen wir in den Bereichen, die im Gleichstellungsbericht angesprochen wurden, nachbessern. Wir
von SPD und Grünen haben in den letzten vier Jahren
gut vorgearbeitet.
({6})
Wir haben Konzepte, die sich durchaus in Teilbereichen
unterscheiden. Beim Thema Ehegattensplitting gibt es
noch Gesprächsbedarf, weil wir da weiter gehen wollen
als Sie. Beim Thema Entgeltgleichheit sind wir relativ
nah beieinander, ebenso beim Thema Geschlechterquote
für Führungspositionen. Ich denke, wir sind gut vorbereitet.
Von dieser Regierung ist sowieso nichts mehr zu erwarten, erst recht nicht beim Thema Gleichstellung. Ich
kann auch bei meiner zweiten Rede heute sagen: Wir
sind vorbereitet. Ab September wird es anders. Wir hoffen dann auf die Unterstützung der Linksfraktion,
({7})
die uns aus der Opposition weiterhin ab und zu Anregungen geben kann.
Ab Herbst wird sich auf alle Fälle im positiven Sinne
etwas ändern. Von daher arbeiten wir weiter und setzen
die guten Konzepte, die wir in den letzten Jahren entwickelt haben, gemeinsam um.
Vielen Dank.
({8})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Nadine Schön das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Lazar, wenn Ihr größtes Problem ist,
dass nicht die Ministerin, sondern der Staatssekretär den
Gleichstellungsbericht entgegengenommen hat,
({0})
dann haben wir in den letzten vier Jahren wirklich keinen allzu schlechten Job gemacht.
({1})
Das so hochzustilisieren, wird der Sache wirklich nicht
gerecht.
({2})
Wir sind froh, dass wir engagierte Staatssekretäre haben,
({3})
die sich für die Belange der Frauen einsetzen.
({4})
Nadine Schön ({5})
Dass heute Abend so viele Kollegen aus unserer Fraktion da sind und auch unser Fraktionsvorsitzender bei
den gleichstellungspolitischen Debatten meistens anwesend ist - was man von Ihrem Fraktionsvorsitzenden leider nicht sagen kann -,
({6})
spricht dafür, dass die Gleichstellungspolitik in unserer
Fraktion durchaus einen hohen Stellenwert einnimmt.
({7})
Sie haben den Gleichstellungsbericht gelobt. Ja, wir
haben einen Gleichstellungsbericht mit konkreten Aussagen und konkreten Handlungsempfehlungen vorgelegt.
({8})
Es wäre schön gewesen, wenn auch Sie, als Sie an der
Regierung waren, einen solchen Bericht erarbeitet hätten.
({9})
Eines haben Sie nicht verstanden: die Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive. Sie sagen, Familien brauchen ein Leitbild. Sie sagen, wir brauchen ein Leitbild, nach dem sich die Menschen in
Deutschland richten und nach dem sie leben sollen, ein
Leitbild von Familie und Gesellschaft. Dieses Leitbild
sieht so aus, dass Männer und Frauen, wie Sie sagen,
gleichermaßen zum Familieneinkommen beitragen sollen. Das finde ich ja gut. Aber die Frage ist: Muss dies
das Leitbild für alle Menschen in Deutschland sein?
({10})
Sollte die Politik den Menschen in Deutschland wirklich
vorschreiben, wie sie leben sollen, wie jede Familie und
jedes Paar das Familienleben gestalten soll?
({11})
Ich finde, das ist der falsche Ansatz. Das wird dem,
was die Menschen in Deutschland wollen, nicht gerecht.
Die Menschen wollen sich nicht vorschreiben lassen,
wie sie zu leben haben.
({12})
Die Menschen wollen füreinander Verantwortung übernehmen. Sie wollen ihr Familienleben so gestalten, wie
sie es am besten finden, und nicht so, wie Grüne, Linke
oder SPD es ihnen vorschreiben wollen.
Etwa 85 Prozent der Menschen sind für die Beibehaltung des Ehegattensplittings.
({13})
Sie wollen es abschaffen. Sie wollen eine individuelle
Besteuerung. Die gegenseitige Übernahme von Verantwortung kommt in Ihrem Leitbild überhaupt nicht vor.
({14})
Im Übrigen verlangt auch das Bundesverfassungsgericht, dass man zwei Menschen, die miteinander verheiratet sind, nicht schlechterstellen darf als zwei Menschen, die nicht miteinander verheiratet sind. Deswegen
sind wir für die Beibehaltung des Ehegattensplittings
und für eine Weiterentwicklung zum Familiensplitting.
({15})
Im Gegensatz zu Ihrem Leitbild wollen die Familien
in Deutschland Zeit für Familie haben. Man darf keine
Angst haben müssen, nach einer Erwerbsunterbrechung
komplett auf die Karriere verzichten zu müssen; das ist
unser Anliegen. Sie raten den Menschen: Vermeidet Erwerbsunterbrechungen!
({16})
Das kann aber nicht die Lösung sein. Die Lösung muss
lauten: Der Staat und vor allem die Arbeitgeber müssen
dafür sorgen, dass man Karriere machen kann, auch
wenn man die Erwerbstätigkeit ein paar Monate oder
Jahre unterbrochen hat.
({17})
Ihr Zwischenruf „Nein!“ zeigt mir, dass Sie das leider
nicht so sehen. Ich bin der Meinung, junge Familien
wollen Zeit für ihre Familie haben. Das sollte ihnen, was
die Karriereplanung betrifft, nicht zum Nachteil gereichen.
({18})
Das besagt im Übrigen auch die Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive. Das heißt, dass
man die Möglichkeit haben muss, die Entscheidungen,
die man im Leben individuell trifft, im Verlauf des Lebens zu kompensieren, auch durch staatliche Möglichkeiten.
({19})
- Was haben wir getan? Ich kann es Ihnen ganz konkret
sagen, Frau Lazar.
({20})
Hat man zum Beispiel noch im zweiten Lebensjahr eines
Kindes auf Berufstätigkeit verzichtet
({21})
Nadine Schön ({22})
oder den Umfang der Berufstätigkeit reduziert, haben
diese Jahre in der Vergangenheit im Hinblick auf die
Rente gefehlt; sie waren weg.
({23})
Viele Frauen entscheiden sich aber dafür, noch zu Hause
zu bleiben und auf Berufstätigkeit zu verzichten, wenn
ihr Kind erst 16 oder 18 Monate alt ist. Ich weiß, dass
Sie das nicht wollen. Aber die Menschen tun es trotzdem.
({24})
Sie haben den Menschen die ganze Zeit gesagt: Dann
habt ihr, was die Rente angeht, halt Pech. - Wir sagen: In
der Zeit, in der ihr zu Hause bleibt, weil das Kind erst
zwei Jahre alt ist, bekommt ihr 115 bzw. 165 Euro pro
Monat. Dieses Geld könnt ihr für die Rente anlegen. Die
Entscheidungen werden von den Familien getroffen, ob
Sie das wollen oder nicht.
({25})
Man kann sie bei der Rente im Regen stehen lassen, oder
man kann ihnen helfen, die Altersvorsorge für diese Zeit
sicherzustellen. Wir haben uns für das Zweite entschieden. Das ist Gleichstellungspolitik aus der Lebensverlaufsperspektive.
({26})
Wir geben die Möglichkeit, Nachteile aus individuellen
Entscheidungen, die im Laufe des Lebens getroffen werden, zu kompensieren, damit es keine langfristigen negativen Folgen gibt.
Bei einigen Themen, die Sie angesprochen haben,
sind wir durchaus einer Meinung: Wir wollen mehr
Frauen in Führungspositionen, wir wollen Entgeltgleichheit. Wir müssen leider feststellen, dass sich in Ihrer Regierungszeit gerade beim Thema „Frauen in Führungspositionen“ nichts entwickelt hat.
({27})
In unserer Regierungszeit hat sich durch den Druck, der
durchaus von den beiden Ministerinnen und auch von
unserer Fraktion aufgebaut wurde, in den Aufsichtsräten
einiges getan. Noch vor zwei Jahren hatten wir 10 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten der DAX-Unternehmen; heute sind es 16 Prozent. 10 Prozent vor zwei Jahren, 16 Prozent heute - daran sehen Sie: Der politische
Druck, den wir in der Diskussion erzeugt haben, hat gewirkt. Wir haben jetzt 16 Prozent Frauen in den Aufsichtsräten.
Wir sagen ganz klar: Wenn die Dynamik nicht anhält,
wenn sich das nicht mit dieser Schnelligkeit weiterentwickelt, dann wird es eben ein Gesetz geben. Das ist
Politik, die sich an den Bedürfnissen der Menschen
orientiert. Wir stülpen den Menschen kein Leitbild über,
nach dem jeder in Deutschland zu leben hat. Das ist
nicht unser Ansatz; da unterscheiden wir uns leider Gottes.
({28})
Zum Schluss will ich Frau Humme ebenfalls herzlich
für die gute Zusammenarbeit danken. Wir waren in vielen Punkten einer Meinung, auch wenn das in der Rede
nicht rübergekommen ist. Ich denke, wir haben viele gemeinsame Ziele. Nachdem wir einmal in Stockholm mit
einer Delegation angekommen waren, die nur aus
Frauen bestand, und die Koffer nicht da waren, haben
wir alle uns gut verstanden. Das ist ein Zeichen dafür,
dass die Frauen fraktionsübergreifend zusammenhalten
können, wenn es ernst wird. In diesem Sinne wünsche
ich Ihnen persönlich alles Gute und danke Ihnen für Ihr
Engagement für die Gleichstellung.
({29})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Ich schließe die Aussprache.
Wir sind beim Tagesordnungspunkt 16 und kommen
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
auf Drucksache 17/13367. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12487 mit dem Titel „Gleichstellung - Fortschritt Jetzt - Durch eine konsistente Gleichstellungspolitik“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die
Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 16.
({0})
- Solange um diese Uhrzeit niemand irgendetwas bezweifelt, bin ich mit jeder Unruhe einverstanden.
({1})
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/12497 mit dem Titel „Gleichstel-
lung von Frauen und Männern im Lebensverlauf
durchsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Das sind die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die
Linksfraktion. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 10. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion
der SPD mit dem Titel „Für die tatsächliche Gleichstel-
lung von Frauen und Männern auch im Kunst-, Kultur-
und Medienbereich“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Vizepräsident Eduard Oswald
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13954, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13478
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? -
Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 11. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Grundlagen für
Gleichstellung im Kulturbetrieb schaffen“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/10880, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6130 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die
drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Antrag der Republik
Lettland, der dritten Stufe der Europäischen
Wirtschafts- und Währungsunion beizutreten
und den Euro als Umlaufwährung einzufüh-
ren
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. mit § 9
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union
- Drucksache 17/13887 -
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Sie
sind einverstanden, dass ich die Redner nicht vorlese.
Alle Reden wurden hier abgegeben.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 17/13887. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Das sind die Koalitionsfraktionen, die Fraktion der So-
zialdemokraten und die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? -
Fraktion Die Linke. Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis c sowie
18 e bis g auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie
Hein, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes Digitalisierung vergriffener und verwaister
Werke
- Drucksache 17/4661 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 17/13946 -
1) Anlage 15
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE
Wissenschaftliche Urheberinnen und Urheber
stärken - Unabdingbares Zweitveröffentli-
chungsrecht einführen
- Drucksachen 17/5479, 17/13946 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte,
Halina Wawzyniak, Agnes Alpers, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Chance der Digitalisierung erschließen -
Urheberrecht umfassend modernisieren
- Drucksachen 17/6341, 17/13942 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
e) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Halina Wawzyniak, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ermöglichung der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare
- Drucksache 17/8377 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 17/13943 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
Vizepräsident Eduard Oswald
f) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Dr. Lukrezia Jochimsen, Jan
Korte, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen
Stellung von Urhebern und ausübenden
Künstlern
- Drucksache 17/11040 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 17/13949 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
g) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner,
Jerzy Montag, Agnes Krumwiede, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verhandlung auf Augenhöhe - Das Urheber-
vertragsrecht reformieren
- Drucksachen 17/12625, 17/13949 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Norbert Geis-
Ansgar Heveling-
Burkhard Lischka-
Stephan Thomae-
Halina Wawzyniak-
Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge-
geben: Stephan Thomae, Burkhard Lischka, Ansgar
Heveling und Jerzy Montag.1)
Ich erteile Frau Kollegin Petra Sitte das Wort. Bitte
schön, Frau Kollegin Dr. Petra Sitte.
({8})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das geltende Urheberrecht bietet bekanntermaßen Urheberinnen
und Urhebern vielfach keine ausreichende ökonomische
Grundlage. Das - so haben es verschiedene Studien gezeigt - liegt nun nicht am bösen Internet. Vielmehr dient
das Urheberrecht weit mehr den Interessen der großen
Medienkonzerne. Darüber hinaus passt das Urheberrecht
nicht mehr zu der Art, wie eine digitale Gesellschaft Informationen erarbeitet und vermehrt.
({0})
1) Anlage 8
Schließlich und noch schlimmer: Die Kultur des Teilens
von Inhalten wurde durch Rechtsverschärfungen in der
jüngsten Vergangenheit zusätzlich behindert.
Wir brauchen also dringend eine umfassende Urheberrechtsreform. Allerdings haben die Regierungsfraktionen - obwohl sie es immer wieder angekündigt hatten bis heute keine substanziellen Vorschläge unterbreitet.
Stattdessen haben sie das Problem durch Schutzfristverlängerungen und Änderungen im Leistungsschutzrecht
für Presseverlage am Ende noch verschärft.
Wir dagegen wollen heute einen ganzen Strauß von
Reformideen zur Abstimmung stellen. Unser Leitprinzip
über alle Anträge hinweg ist: eine faire Vergütung für
Kreative bei gleichzeitig möglichst freizügiger Nutzung
kreativer Werke.
({1})
Erstens. Dazu gehört der private Weiterverkauf von
E-Books und Co. Ich frage Sie: Warum bitte soll digital
verboten sein, was analog möglich ist?
Zweitens. Für die Wissenschaft, für Museen, Bibliotheken und Archive wollen wir die digitale Bereitstellung und Nutzung verwaister und vergriffener Werke
wesentlich erleichtern. Unser Vorschlag ähnelt dabei in
der Rechtssystematik dem Herangehen der EU-Kommission und im Übrigen auch einem Gesetzentwurf des
Justizministeriums. Wir sind allerdings mit unserem
Vorschlag deutlich näher an den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Museen und Archive als der Regierungsentwurf. Dabei werden von uns alles in allem die Rechte
der Urheberinnen und Urheber gewahrt.
Drittens. Unser Antrag auf Einführung eines unabdingbaren Zweitveröffentlichungsrechts für wissenschaftliche Autorinnen und Autoren stärkt die Rechte
der Urheber gegenüber den Verlagen. Er hilft zugleich,
das Prinzip der Open-Access-Veröffentlichungen in der
Wissenschaft auszubauen. Wir haben uns dabei ganz
stark an die Vorschläge der Wissenschaftsorganisationen
und der Open Access Community angelehnt.
Dagegen hat die Regierung ihren Gesetzentwurf zum
Zweitveröffentlichungsrecht mit Passagen vergiftet, zu
denen man einfach sagen muss, dass die Urheberinnen
und Urheber dadurch einmal mehr zugunsten der Verlage enteignet werden. Aber selbst über diese verlegerfreundliche Fassung wird innerhalb der Koalitionsfraktionen noch kontrovers diskutiert. Deshalb bin ich schon
einmal sehr gespannt darauf, ob Sie es wirklich schaffen,
diesen Gesetzentwurf in der letzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode hier vorzulegen.
Viertens. Die Rechte der Urheberinnen und Urheber
zu stärken, ist auch das Ziel unseres Gesetzentwurfs zum
Urhebervertragsrecht. Auch diesen Gesetzentwurf haben
wir nicht still und heimlich erarbeitet, sondern wir haben
ihn über mehrere Monate ins Netz gestellt. Wir haben
ihn transparent gemacht und offen mit Interessierten und
Engagierten sowie mit Verbandsvertretern diskutiert,
und wir haben den Gesetzentwurf schließlich aufgrund
der Hinweise verbessert. Das Ergebnis sind Regelungen,
die sich die Kreativen selbst wünschen. Dies war im Üb31430
rigen auch die Grundlage der Reformempfehlungen der
Enquete-Kommission des Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“. Diese Reformempfehlungen sind
einstimmig verabschiedet worden.
Ich werde die zu Protokoll gegebenen Reden der Abgeordneten der anderen Fraktionen interessiert lesen, um
herauszufinden, warum Sie unserem Vorschlag heute
nicht zustimmen.
Danke schön.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin.
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Digitalisierung vergriffener und verwaister Werke. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13946, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4661 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Sie
wissen, dass nach unserer Geschäftsordnung damit die
weitere Beratung entfällt.
Tagesordnungspunkt 18 b. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Wissenschaftliche Urheberinnen
und Urheber stärken - Unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht einführen“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13946, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/5479 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Die Fraktion der
Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 c. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Die Chance der Digitalisierung erschließen - Urheberrecht umfassend modernisieren“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13942, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/6341 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten.
Gegenprobe! - Die Fraktion Die Linke. Enthaltungen? Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 18 e. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Ermöglichung
der privaten Weiterveräußerung unkörperlicher Werkexemplare. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13943, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8377 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen und Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 18 f. Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13949, den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11040 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Das ist die Fraktion Die Linke. Wer stimmt dagegen? Das sind alle anderen Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 18 g. Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit dem Titel „Verhandlung auf Augenhöhe Das Urhebervertragsrecht reformieren“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13949, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12625 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten
und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
- Drucksache 17/13705 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/13935 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelGabriele FograscherDr. Stefan RuppertWolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Alle sind
damit einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Der Kollege Reinhard Grindel spricht für die Fraktion
von CDU/CSU. Bitte schön, Herr Kollege.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
spreche eigentlich sogar für alle Fraktionen außer der
Linken; denn wir wollen mit der Änderung des Europawahlgesetzes den Rechtsschutz in Wahlsachen in gleicher Weise verbessern, wie wir das bei der Bundestagswahl bereits geregelt haben. Wir führen eine 3-ProzentSperrklausel ein; denn aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2011 würde ansonsten bei der nächsten Europawahl 2014 keine Sperrklausel gelten.
Das Gericht hat uns als Gesetzgeber in seiner Entscheidung eine Beobachtungspflicht auferlegt. Die die
Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührenden
Normen müssen dann geändert werden, wenn sich die
Verhältnisse ändern, die der verfassungsrechtlichen
Beurteilung zugrunde liegen. Die Fraktionen von CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sind der
Auffassung, dass sich die Lage zur Beurteilung der Verhältnisse in Zusammenhang mit der Europawahl verändert hat.
Im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat das Europäische Parlament am 22. November 2012 mit großer Mehrheit eine Entschließung verabschiedet, in der die Mitgliedstaaten aufgefordert werden,
Art. 3 des Direktwahlaktes in ihrem Europawahlrecht
zur Durchsetzung zu verhelfen und Sperrklauseln zu
verabschieden, um die Funktionalität des Europäischen
Parlaments zu wahren.
Es ist die Überzeugung aller Fraktionen mit Ausnahme der Linken, dass sich angesichts des Vertrages
von Lissabon die Grundlagen im Verhältnis zwischen
Parlament und Kommission fundamental verändert
haben. Wir teilen die in der Entschließung des EU-Parlaments zum Ausdruck kommende Überzeugung, dass
sich durch das Wahlverfahren der Kommission und der
Notwendigkeit, den Kommissionspräsidenten mit qualifizierter Mehrheit zu wählen, die Frage der Funktionsfähigkeit völlig neu stellt.
Angesichts der veränderten Verhältnisse zwischen
Parlament und Kommission ab der Europawahl 2014
sind verlässliche Mehrheiten im Europäischen Parlament
für die Stabilität der Legislativverfahren der EU und das
reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive von entscheidender Bedeutung.
Bei der EU-Wahl wird es Kandidaten für das Amt des
Kommissionspräsidenten geben, die in nahezu allen Mitgliedstaaten Wahlkampf machen. Damit soll die Legitimation des Europäischen Parlaments gestärkt und für
mehr Bürgernähe gesorgt werden. Gleichzeitig bedeutet
dies eine größere Parteipolitisierung des EU-Parlaments,
was die Mehrheitsbildung erschweren wird, da nicht
davon ausgegangen werden kann, dass sich die in der
parlamentarischen Praxis bisher häufig praktizierte
Konsensbildung zwischen den großen Fraktionen so
fortsetzen lassen wird.
({0})
Fraktionslose Abgeordnete würden damit einen die Entscheidungsprozesse behindernden Einfluss erhalten.
({1})
Bei einer starken Zersplitterung der Zusammensetzung
des Europäischen Parlaments steigt sogar das Risiko einer anhaltenden Blockade der politischen Willensbildung.
Wir erleben einen Bedeutungswandel der europäischen Institutionen, der die Frage nach deren Funktionsfähigkeit mit besonderer Intensität stellt, weil sich ein
Antagonismus zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen herausbilden wird, der auch auf die übrige
Arbeit des Parlaments Rückwirkungen haben wird. Deshalb ist es für den Deutschen Bundestag noch wichtiger,
ein Wahlrecht zu beschließen, das Rahmenbedingungen
schafft, die diese Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigen. Der Deutsche Bundestag legt Wert auf die Feststellung, dass er vor diesem Hintergrund die Entscheidung
über die Einführung einer 3-Prozent-Klausel in Ausfüllung des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums trifft.
Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder
klargestellt, dass es sich gerade in den Kernbereichen
der Legislativmacht des Parlaments nicht zum Ersatzgesetzgeber aufschwingen will. Das schließt dann aber mit
ein, dass durch eine sehr weitgehende Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe wie der der Funktionsfähigkeit des Parlaments der Beurteilungsspielraum des Bundestages nicht quasi durch die Hintertür praktisch auf
null reduziert werden darf.
({2})
Einer unserer Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung hat das auf die folgende Formel gebracht: Eine
vertretbare Einschätzung des Gesetzgebers dürfe nicht
durch eine vertretbare Einschätzung des Gerichts ersetzt
werden.
In der Entschließung des Europaparlaments drückt
sich mit Verweis auf die Verträge von Lissabon die
Sorge aus, dass bereits die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit und nicht erst ihre Blockade angesichts
des Bedeutungswandels des Parlaments erhebliche
Schwierigkeiten zur Folge habe, die der Deutsche Bundestag ausdrücklich durch das von ihm verabschiedete
Wahlrecht verhindern will.
Angesichts von demnächst 28 Mitgliedstaaten und
fehlenden europaweiten Parteien ist es völlig klar, dass
es formal eine große Zahl von Parteien gibt, die zum Teil
auch nur wenige Abgeordnete haben, wobei es durch die
Verteilung der Parlamentsmandate auf die einzelnen
Mitgliedstaaten in vielen Ländern ohnehin sozusagen
natürliche Sperrklauseln gibt. Im Schnitt kommen aus
den EU-Staaten zwischen fünf und sechs Parteien ins
Parlament. Für dessen Funktionsfähigkeit ist jedoch
nicht die Zahl der Parteien als solche entscheidend, sondern dass es in allen Mitgliedstaaten parteipolitische
Verhältnisse gibt, die denen der im Europaparlament
vertretenen Parteifamilien entsprechen. Es gibt konser31432
vativ-christlich-demokratische, sozialistische und sozialdemokratische, liberale, grüne und kommunistische Parteien.
Ohne Sperrklausel kämen aus Deutschland etwa
13 oder 14 Parteien, und zwar - darauf kommt es an zusätzlich gerade solche, die weder den Parteifamilien
angehören, die sich im Europäischen Parlament zu Fraktionen zusammenfinden, noch von diesen integriert werden könnten. Insofern würden wir ohne Sperrklausel
eine Zahl von fraktionslosen Parlamentariern produzieren, die das immer wichtigere Funktionieren des Zusammenwirkens der Institutionen massiv gefährden könnten.
Wenn das Verfassungsgericht gesprochen hat, trifft
den Gesetzgeber kein Normwiederholungsverbot. Ganz
im Gegenteil: Die Kompetenzordnung unserer Verfassung sieht gerade den Bundestag als berufen an, über die
Wahlgesetzgebung zu befinden. Wir tun dies heute nahezu einmütig. Deswegen bin ich mit allem Respekt vor
unserem höchsten deutschen Gericht angesichts der Entschließung des Europäischen Parlaments, die eine neue
Grundlage für unsere Änderung des Europawahlgesetzes
bedeutet, zuversichtlich, dass uns im Falle eines Falles
die Karlsruher Richter bestätigen werden, dass wir uns
im Rahmen des uns zustehenden Gestaltungsspielraums
bewegt haben.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank, Kollege Reinhard Grindel. - Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten unser
Kollege Axel Schäfer. Bitte schön, Kollege Axel
Schäfer.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Diskussion, die wir heute über die Änderung des Europawahlgesetzes führen, ist sicherlich eine besondere
Diskussion. Denn wir als nationales Parlament treffen
solidarisch eine Entscheidung, die die Zusammensetzung, Funktionsfähigkeit und politische Führungsfähigkeit eines supranationalen Parlaments betrifft. Deshalb
ist der erste Punkt, dass wir uns noch einmal vergewissern, auf welchem Terrain wir uns befinden.
Wir alle miteinander waren bis 2011 der Meinung,
dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von
1979, das zur ersten Direktwahl des EP ausdrücklich die
damals bestehende Fünfprozentklausel mit der Verfassung im Einklang sah, natürlich auch in der Gegenwart
weiterhin gilt. Denn damals, 1979, hatte das Europäische
Parlament - bis auf sehr begrenzte Haushaltsrechte - in
der Gesetzgebung, bei der Wahl des Kommissionspräsidenten und bei anderen zentralen Aufgaben nichts zu
entscheiden.
Nach dem Lissabon-Vertrag sind wir in der Situation,
dass sich die parlamentarische Entwicklung in vielen
Stufen - über Vertragsänderungen, die alle parlamentarisch ratifiziert worden sind, und zwar mit sehr großen
Mehrheiten im Bundestag wie im Bundesrat - auf eine
Weise dynamisch fortgesetzt hat, von der diejenigen, die
die Direktwahl in den 70er-Jahren erkämpften, wirklich
nur träumen konnten.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts soll
nun für ein Parlament mit außergewöhnlicher Stärke in
der Gesetzgebung und Macht gegenüber der Kommission - der faktischen und funktionalen Regierung keine Sperrklausel mehr gelten, die der Gewährleistung
seiner Funktionsfähigkeit dient.
Es gibt da ein paar Missverständnisse, über die wir
diskutieren müssen. Wir sind die erste Gewalt und müssen mit der dritten Gewalt diskutieren, vor allen Dingen
dann, wenn Vertreter der dritten Gewalt über Bundespressekonferenzen mit uns kommunizieren und nicht nur
durch Urteile.
({0})
- Lieber Kollege Wieland, Sie wissen, warum ich heute
hier spreche: Ich bin ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments und jetzt als stellvertretender Fraktionsvorsitzender für die Angelegenheiten der EU zuständig. So fühle ich mich berufen, über dieses Thema zu
reden.
({1})
Das grundlegende Missverständnis ist, dass manche
denken, dass, weil im Europäischen Parlament 160 Parteien vertreten sind, es auf 10 oder 20 Parteien mehr
auch nicht mehr ankommt; dass das Europäische Parlament schon irgendwie funktionieren wird.
Im Hinblick darauf, wie die Parteien, die im Deutschen Bundestag vertreten sind, politisch und finanziell
und auch, was die Entscheidungen über Personen angeht, konstituiert sind, könnte man argumentieren: Die
CDU gibt es 15-mal, die SPD sogar 16-mal, und für
FDP, Grüne und Linkspartei gilt das Gleiche. Die Landesverbände haben in Deutschland eine außergewöhnliche Stärke. Auch ein Parteivorsitzender oder eine Kanzlerin kann nicht von Bundesebene aus vorschreiben, was
die Landesverbände zu entscheiden haben. Das ist die
Realität bei uns.
Die Realität in Europa ist: Im Europäischen Parlament gibt es sieben Fraktionen, die bei einem Parlament
mit Abgeordneten aus 27 Mitgliedstaaten natürlich aus
mehr als nur sieben Parteien gebildet werden. Die Parteifamilien, die sich herausgebildet haben, sind etwas
Neues, etwas Besonderes und haben eine höhere Verbindlichkeit bekommen, als wir uns das in der Gründungsphase in den 70er-Jahren hätten vorstellen können.
Bei dem gemeinsamen Gesetzentwurf, den vier
Fraktionen hier in den Deutschen Bundestag eingebracht
Axel Schäfer ({2})
haben, geht es - der Kollege Grindel hat geschätzterweise darauf hingewiesen - um drei zentrale Punkte:
Der erste Punkt sind die Verbundenheit und die Solidarität mit dem Europäischen Parlament und auch der
Respekt vor diesem Parlament, das ausdrücklich für sich
definiert hat: Es wäre gut, wenn in den Mitgliedstaaten
eine Mindestsperrklausel eingeführt würde. - Hintergrund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes.
Hintergrund ist aber auch: Außer in Spanien haben die
nationalen Parlamente von bereits 26 Mitgliedstaaten der
EU eine solche Sperrklausel in ihr Europawahlgesetz
aufgenommen. Dieser Punkt ist ganz wichtig; wir
sprechen ja immer über das Verhältnis der nationalen
Parlamente zum EP. Das ist auch eine Frage von praktizierter Solidarität.
Der zweite Punkt ist - das hat eine neue Qualität; der
Kollege Grindel hat ja etwas angekündigt, was die EVP
noch nicht beschlossen hat, aber hoffentlich beschließen
wird -, dass es bei der Europawahl 2014 tatsächlich darum gehen wird, dass der Präsident der Kommission
- der faktische Regierungschef in der EU - durch das
Parlament gewählt wird. Das ist eine fundamentale Änderung, die zur Konsequenz haben wird, dass wir - so
hoffe ich, und das wünschen wir, glaube ich, auch alle zum ersten Mal einen europäischen Wahlkampf führen
werden, in dem sich die Wählerinnen und Wähler nicht
nur dafür entscheiden können, entweder ihre nationale
Regierung abzuwatschen oder ihren Regierungschef zu
loben. Es wird 2014 auch darum gehen, wie wir uns als
Sozialdemokraten, als Christdemokraten, als Grüne, als
Liberale oder als Linke im Europäischen Parlament inhaltlich definieren.
Gleichzeitig sagen wir den Wählerinnen und Wählern
damit: Wenn ihr uns wählt - ich hoffe, es wählen viele
die SPD -, dann werden wir mit den Grünen und vielleicht noch mit anderen, die guten Willens sind, zusammen einen Kommissionspräsidenten wählen - wenn wir
die Mehrheit dafür haben. Wenn nicht, werden die anderen das tun. Das ist die Voraussetzung. Damit wird deutlich, dass die parlamentarische Verantwortung dieses
Regierungschefs eine andere ist.
Als Verfassungswirklichkeit wird auch etwas anderes
eintreten: Die Staats- und Regierungschefs werden nach
der Europawahl einen Vorschlag für das Amt des Kommissionspräsidenten machen, so wie der deutsche Bundespräsident nach dem Ergebnis der Bundestagswahl einen Vorschlag für den zu wählenden Regierungschef
macht, und nicht vorher im stillen Kämmerlein irgendetwas aushandeln. Das wird die Konsequenz sein. Denn
das Parlament wählt, das Parlament entscheidet dabei.
Der dritte Punkt. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie sich auch die Gesetzgebung in Europa entwickelt hat. Manche glauben ja, es würde alles auf Gipfeln
entschieden. Gott sei Dank ist das nicht so. Das allermeiste, was die Frage „Wirtschaft und Währung“ anbelangt, wird immer noch in Europa entschieden, wo die
Kompetenzen bestehen.
Wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
sind der Meinung, es müsse dort auch noch mehr parlamentarisiert werden. Dafür braucht man stabile Verhältnisse; das ist überhaupt keine Frage. Zu den stabilen Verhältnissen gehört auch, dass es eine Mehrheit gibt, die
größer ist als diejenige, die den Kommissionpräsidenten
gewählt hat. Um dieses zu ermöglichen, brauchen wir
eine Form bzw. einen Rechtsrahmen durch die Veränderung des Europawahlgesetzes.
Wir sollten uns in die Augen schauen und uns in die
Hand hinein versprechen, dass wir diesen Europawahlkampf in dem Geiste führen, in dem wir heute diskutiert
haben: als einen wirklich europäischen Wahlkampf. Dafür brauchen wir europäische Parteifamilien. Dafür brauchen wir auch Vereinbarungen oder rechtliche Regeln,
was Mindestnormen anbelangt, also eine Sperrklausel.
Es braucht vor allen Dingen den gemeinsamen Willen,
das durchzusetzen.
In diesem Sinne leisten wir heute etwas Gutes. Deshalb ist es auch gut, dass man noch um 23.31 Uhr
({3})
öffentlich darüber diskutiert und diese Debatte nicht nur
zu Protokoll gibt.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Kollege Axel Schäfer. - Nächster Redner für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Stefan
Ruppert. Bitte schön, Kollege Dr. Ruppert.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Karlsruhe hat in den letzten Jahren eine Vielzahl
von wahlrechtlichen Entscheidungen getroffen. Man
konnte den Eindruck gewinnen, dass man dort in Teilen
Spaß an sehr detaillierten Vorgaben gewonnen hat. So
hat Karlsruhe aus Art. 38 der Verfassung herausgelesen,
dass ziemlich genau 15 Überhangmandate verfassungsgemäß seien. Man hat weiterhin herausgelesen, dass im
Ausland lebende Deutsche bestimmte kulturelle Bezüge
brauchen, um unser Wahlrecht genießen zu können. Man
hat aus dieser Verfassung auch herausgelesen, dass die
Fünfprozenthürde ein zu starker Gleichheitseingriff in
die Gleichheit der Wahl sei.
Als Verfassungsrechtler stehe ich der Tendenz, den
Spielraum des Gesetzgebers bis auf wenige Gestaltungsmöglichkeiten drastisch zu beschränken, ausgesprochen
skeptisch gegenüber. Der Demokrat in mir sagt natürlich: Wir müssen diese Entscheidung respektieren.
Gleichwohl ist es, glaube ich, gar nicht so schlecht, dass
man auch in Karlsruhe noch einmal darüber nachdenkt,
ob es eigentlich richtig ist, den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers - hier des Deutschen Bundestages - in Fragen, die ihn ureigen angehen - das
Wahlrecht ist nun einmal ureigene Parlamentsangelegenheit -, so drastisch zu beschneiden.
Genau diese Überlegung hat auch eine Rolle gespielt,
als wir uns gefragt haben: Hat man hier formal über
5 Prozent oder zumindest politisch auch über 3 Prozent
mitentschieden? Nein, eine Fünfprozenthürde ist ein
größerer Eingriff in die Gleichheit der Wahl als eine
Dreiprozenthürde.
Ich glaube, alle Fraktionen im Deutschen Bundestag
haben sich die Überlegungen dazu ausgesprochen
schwer gemacht. Wir haben Anhörungen durchgeführt.
Wir haben aber auch in einem Zeitraum von über einem
Jahr in mehreren Gesprächen intern fachlich diskutiert
und sind zu der politischen und verfassungsrechtlichen
Abwägung gekommen, dass 3 Prozent verfassungsgemäß sind,
({0})
weil, ganz einfach gesagt, drei eben nicht fünf ist.
({1})
Wir müssen weitere Argumente in unsere Überlegungen mit einbeziehen. Das erste Argument ist, dass wir in
Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach noch 96 Abgeordnete aus Deutschland im Europäischen Parlament haben werden. Jetzt könnte man sagen, eine Zersplitterung
dieser Delegation in vielleicht sieben, acht oder neun
weitere Fraktionen sei allein eine machtpolitische Frage
und betreffe alleine den machtpolitischen Einfluss
Deutschlands auf europäischer Ebene. Nein, es ist auch
ein Repräsentationsproblem, weil es einem einzelnen
Abgeordneten eben nicht gelingen kann, die Brüsseler
oder Straßburger Entscheidungen gegenüber dem deutschen Wahlbürger zu vertreten. Insofern wird aus diesem
machtpolitischen Argument auch ein verfassungsrechtliches.
Das Europäische Parlament - so sagt es auch die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - soll
sich weiter parlamentarisieren. Wenn man etwa die Lissabon-Entscheidung betrachtet, so liest man dort, dass
auf europäischer Ebene nach wie vor Demokratiedefizite
bestünden. Aber gerade die Funktionsfähigkeit eines solchen Parlaments ist eine Voraussetzung für eine weitere
Parlamentarisierung. Insofern, glaube ich, ist eine Dreiprozenthürde auch eine notwendige Voraussetzung für
diese Funktionsfähigkeit.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum subjektiven Wahlrechtsschutzrecht sagen. Hierzu gibt es, soweit ich weiß, 40 oder 45 Entscheidungen Karlsruhes.
Sie sind in einer sehr guten Dissertation von Heinrich
Lang aufgeführt. Sie können in Deutschland gegen alles
klagen, gegen die Anbringung einer Dachrinne durch Ihren Nachbarn oder gegen die Beförderung Ihres Kollegen. Aber das urdemokratische Recht, als Partei an einer
Wahl teilzunehmen, konnten Sie bisher auf europäischer
Ebene und bis vor kurzem auch auf deutscher bzw. nationalstaatlicher Ebene nicht einklagen. Wir gehen auch
den wichtigen Schritt, dass man mehr Demokratisierung,
mehr rechtliche Überprüfung, mehr Rechtsschutz bei der
Frage hat, ob man bei einer Wahl antreten darf oder ob
vielleicht der Bundeswahlausschuss oder ein anderes
Gremium dies untersagt. Das wird in Zukunft rechtlich
überprüfbar werden.
({2})
Am Ende werden wir uns wohl in Karlsruhe wiedersehen. Es wird Gruppierungen geben, die gegen diese
Dreiprozenthürde klagen. Dann sollten wir uns an die,
wie ich finde, bisher sehr gute Diskussion an diesem
Abend und an unsere politischen und verfassungsrechtlichen Abwägungen erinnern. Wir sollten Karlsruhe unsere meiner Meinung nach guten Argumente vortragen.
Es bleiben auch bei mir Restzweifel, ob ein Berichterstatter, der eine Fünfprozenthürde vehement für verfassungswidrig gehalten hat, seine Haltung in einem zukünftigen Urteil revidieren wird. Die Zusammensetzung
des Zweiten Senats hat sich ja insofern geändert, als die
beiden Richter, die abweichende Voten abgegeben hatten, nicht mehr vertreten sind. Ich glaube aber, es gibt
sehr gute Argumente dafür, dass wir heute das Richtige
tun, nicht nur politisch, sondern auch verfassungsrechtlich.
Die FDP-Fraktion wird dem von vier Fraktionen eingebrachten Gesetzentwurf zustimmen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Dr. Stefan Ruppert. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke unsere Kollegin
Frau Halina Wawzyniak. Bitte schön, Frau Kollegin.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Ruppert dankbar dafür, dass
er den Wahlrechtsschutz noch einmal angesprochen hat.
Denn in vier von fünf Punkten sind wir uns bei diesem
Gesetzentwurf einig. Wir sind uns nur an einer Stelle
nicht einig, und das ist die Frage der Dreiprozentsperrklausel.
Ich komme nicht umhin, zu Anfang noch etwas zum
Verfahren zu sagen. Wir haben die erste Lesung dieses
Gesetzentwurfs ohne Debatte durchgeführt. Am Mittwoch der vergangenen Sitzungswoche hat der Innenausschuss beschlossen, eine Anhörung durchzuführen. Die
Anhörung ist am Montag durchgeführt worden. An
dieser Anhörung haben der Kollege Ruppert, der Kollege Wieland und ich teilgenommen. Nach dem
Höferlin’schen Gesetz aus dem Rechtsausschuss dürfte
heute gar nicht abgestimmt werden. Der Kollege
Höferlin hatte seinerzeit, als es um die Strafbarkeit von
Abgeordnetenbestechung ging, darauf hingewiesen, dass
noch gar kein Protokoll vorliege. Ich nehme zur Kenntnis: Wir stimmen heute über einen Gesetzentwurf ab, obwohl auch noch kein Protokoll über die Anhörung vorHalina Wawzyniak
liegt. Das kann man machen, muss man aber nicht
machen.
Wir haben rechtliche und politische Bedenken gegen
eine Dreiprozenthürde. Ich will - das ist zumindest den
Berichterstattern bekannt - nochmals auf die Randnummer 118 des Bundesverfassungsgerichtsurteils hinweisen. Ich zitiere:
Deshalb fehlt es an zwingenden Gründen, in die
Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln
einzugreifen, so dass der mit der Anordnung des
Verhältniswahlrechts auf europäischer Ebene verfolgte Gedanke repräsentativer Demokratie … im
Europäischen Parlament uneingeschränkt entfaltet
werden kann.
({0})
Das Verfassungsgericht spricht bewusst von Sperrklauseln. Jetzt kann man sich darüber streiten, ob deswegen eine Sperrwirkung für den Gesetzgeber eintritt oder
nicht. Das ist zumindest ein Indiz dafür, dass es sich das
Bundesverfassungsgericht mit der Dreiprozentsperrklausel auch nicht so einfach machen würde.
Herr Grindel, der ja nicht bei der Anhörung war, weswegen er das vielleicht nicht besser wissen konnte
({1})
- okay, akzeptiert; Sie sind in der Flut stecken geblieben -,
hat hier vorgetragen, es gebe neue rechtliche und tatsächliche Gründe. Ich gebe zu: Ich finde das ein wenig
abenteuerlich. Das Bundesverfassungsgericht hat den
Lissabon-Vertrag in seinem Urteil ausdrücklich und eingehend dekliniert, bewertet und zur Kenntnis genommen. Eine Entschließung des Europäischen Parlaments
wird hier als neuer rechtlicher und tatsächlicher Grund
angeführt. Seit wann richtet sich die Verfassungslage danach, was politisch gewollt ist? Das Europäische Parlament ist noch immer ein Parlament und kein Rechtsetzungsorgan.
({2})
Daneben ist gesagt worden, die 3 Prozent seien das
deutlich mildere Mittel. Herr Wieland sagt dann immer:
Fünf ist mehr als drei.
({3})
Durch die schriftliche Stellungnahme von Wilko
Zicht von Wahlrecht.de ist erwiesen, dass es faktisch leider nicht so ist. Denn auch bei einer Dreiprozenthürde,
hochgerechnet auf die Europawahl 2009, wären 10 Prozent der gültigen Stimmen - das sind die Stimmen von
2,8 Millionen Wahlberechtigten - nicht an der Sitzverteilung des Europaparlaments beteiligt gewesen. Auch
von daher ist das Argument nicht ganz überzeugend.
Zum Änderungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen
will ich nur kurz sagen: In der Anhörung ist darauf hingewiesen worden, dass es Bedenken hinsichtlich der Unmittelbarkeit und der Gleichheit der Wahl gibt. Wir teilen diese Bedenken.
({4})
Nun möchte ich aber noch etwas zu den politischen
Bedenken sagen. Ich glaube, wir alle sind uns einig, dass
die Bevölkerung der Souverän ist. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen damit umgehen,
was der Souverän gewählt hat. Es kann doch nicht sein,
dass sich der Souverän danach zu richten hat, wie wir
unsere Arbeit organisieren, und dass Stimmen des Souveräns einfach hinten runterfallen, wenn wir unsere Arbeit nicht organisiert bekommen. Das ist für mich nicht
nachvollziehbar.
({5})
Deswegen lehnen wir auch aus politischen Gründen
eine Sperrklausel ab.
({6})
Ich komme zum Schluss und will Ihnen sagen: Lassen
Sie uns doch einfach die Chance nutzen, ein Parlament
ohne Sperrklauseln zu haben, ein Parlament, in dem vielleicht das Argument, das Zuhören und die freie Debatte
zählen.
Am Ende sage ich Ihnen: Wer will, dass alles bleibt,
wie es ist, der will nicht, dass es bleibt. Ich möchte, dass
der Parlamentarismus bleibt.
({7})
Vielen Dank, Frau Kollegin Wawzyniak. - Nächster
Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser
Kollege Wolfgang Wieland. Bitte schön, Kollege
Wolfgang Wieland.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße besonders die zwei Zuhörer auf der Tribüne, die
uns hier die Ehre ihrer Anwesenheit geben.
Wir sollten uns hier nichts vormachen, Frau Kollegin
Wawzyniak: Wir begeben uns auf dünnes Eis. Das ist so
etwas wie ein Ritt über den Bodensee, und die vier Fraktionen, die diesen Gesetzentwurf eingebracht haben,
können nur hoffen, dass wir am Ende nicht tot wie dieser
Reiter sind, der über den Bodensee geritten ist.
Ich sehe hier aber gar keinen Grund zur Aufregung.
Diese Frage wird wieder in Karlsruhe entschieden werden; das ist absolut sicher. Jede der kleinen Parteien, die
hier betroffen sind, wird klagen - auch schon vorher,
weil sie natürlich sagen, dass sich ihre Chancen mindern,
wenn die Leute von diesen 3 Prozent hören und sie nicht
mehr wählen, weil ihre Stimme dann möglicherweise
verschwendet ist.
Wir gehen dieses Risiko ein, weil wir zum einen sagen: Diese Entscheidung aus Karlsruhe ist höchst umstritten. Das war sie von Anfang an. Zum anderen - die
Kollegen Grindel und Schäfer haben hier ja sehr ausführlich vorgetragen; ich hätte mir gewünscht, dass Ihre
Rechts- und Innenpolitiker diese Reden gehört hätten,
({0})
weil sie diese Nachhilfe in Sachen Europa nötig haben waren alle Argumente, die hier genannt wurden, richtig.
Wir alle wollten den Präsidenten des Europaparlamentes, Herrn Martin Schulz, hören - vor der Klammer
sozusagen, keinen Platz wegnehmend. Die SPD-Fraktion wollte das nicht. Wir haben es nicht verstanden,
aber so war es.
({1})
Das Europäische Parlament entwickelt sich weiter.
Die Momentaufnahme, die Karlsruhe 2011 gemacht hat,
war schon damals kritisch. Für die Wahl 2014 ist sie
falsch; das sage ich ganz deutlich. Die andere Funktionsweise des Parlaments, auch die Europäisierung der Parteien und der Parteizusammenschlüsse wurde nicht richtig vorausgesehen und nicht richtig eingeschätzt.
Deswegen ist es richtig, hier noch einmal diesen Versuch
zu machen.
Der Kollege Ruppert hat scharfsinnig erklärt, dass
fünf nicht drei ist und dass drei nicht fünf ist. Nur die
Fünf ist in den Tenor eingeflossen. Natürlich, Frau
Wawzyniak, steht in den Gründen ganz allgemein etwas
von Sperrklauseln. Deswegen sage ich: Es wird schwierig werden in Karlsruhe; aber diese Auseinandersetzung
sollten wir führen. Wir als Deutscher Bundestag müssen
akzeptieren, dass das letzte Wort im Grunde nicht immer
wir sprechen, sondern ein Verfassungsgericht. Das war
so von den Eltern des Grundgesetzes gewollt. Damit soll
man nicht hadern; aber die hohen Damen und Herren in
Karlsruhe müssen dann auch akzeptieren, dass wir dort
unsere Argumente vorbringen. Ich denke, es sind die
besseren Argumente; deshalb sollten wir das tun.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns dem entgegensehen.
Inzwischen haben wir den europäischen Wähler. Wir
werden immer mehr europäische Parteien haben. Auch
müssen wir sehen, dass wir auf ein europäisches Wahlrecht hinarbeiten. Dies ist ein erster und nicht der letzte
Schritt. Das ist die Zukunft, und da müssen wir hingehen.
({2})
Vielen Dank, Kollege Wolfgang Wieland. - Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU unser Kollege Thomas Silberhorn. Bitte schön, Kollege Thomas
Silberhorn.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Einführung einer Dreiprozentklausel - nachdem die
Fünfprozentklausel vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde - ist sicherlich juristisch gewagt, aber sachlich gerechtfertigt und politisch geboten. Eine Dreiprozentsperrklausel ist nach unserer festen Überzeugung
geboten, um eine weitere Funktionsbeeinträchtigung des
Europäischen Parlaments zu verhindern. Insoweit kann
die Einschätzung des Europäischen Parlaments selbst
nicht ganz unbeachtet bleiben. Es hat in seiner Entschließung vom 22. November 2012, die schon zitiert worden
ist, die Mitgliedstaaten aufgefordert, in ihrem Wahlrecht
geeignete und angemessene Mindestschwellen für die
Zuteilung der Sitze festzulegen.
Diese Entschließung belegt, dass es nicht allein um
ein Anliegen des Deutschen Bundestages geht. Es gibt
kein Kartell der etablierten Parteien, neue, kleine Parteien außen vor zu halten; aber wir haben bei der Ausgestaltung des Wahlrechts sehr wohl einen deutlichen
Spielraum und als Parlamentarier eine originäre Kompetenz in Bezug auf die Beurteilung von parlamentarischen
Funktionsrisiken.
Die Arbeitsfähigkeit eines so heterogen zusammengesetzten Organs wie des Europäischen Parlaments hängt
noch viel stärker als im Deutschen Bundestag davon ab,
dass es große Gruppen von Abgeordneten gibt, die durch
gemeinsame politische Zielsetzungen miteinander verbunden sind. Das war das überzeugende Argument des
Bundesverfassungsgerichts 1979, mit dem es damals die
Sperrklausel für die Europawahl noch ausdrücklich gebilligt hatte - und das, obwohl das Europäische Parlament damals im Wesentlichen nur Beratungs- und Kontrollbefugnisse besaß.
Angesichts der seither stetig gewachsenen Kompetenzen und Aufgaben des Europäischen Parlaments ist es
schon erstaunlich, dass das Gericht in seiner Entscheidung 2011 die Fünfprozentsperrklausel nicht erst recht
gebilligt, sondern verworfen hat. Dabei ist es für mich
wenig überzeugend, darauf abzustellen, dass sich das
Europäische Parlament bisher mit den festgestellten
Funktionsbeeinträchtigungen gut arrangiert habe und
diese Funktionsbeeinträchtigungen noch nicht zu einer
Lähmung des Parlamentsbetriebs führen würden. Das
kann doch beim besten Willen kein Grund dafür sein,
dem Europäischen Parlament jetzt noch mehr zuzumuten.
Der Umstand, dass im Europäischen Parlament Mehrheiten oft nur durch ein Zusammenwirken der beiden
größten Fraktionen erzielt werden können, macht deutlich, dass die bereits vorhandene Zersplitterung mit sehr
vielen Parteien aus 27 und bald 28 Mitgliedstaaten die
Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments spürbar
schwächt. Vor dem Hintergrund der gewachsenen Mitentscheidungsbefugnisse des Parlaments besteht deshalb
die reale Gefahr, dass dieses Europäische Parlament in
seiner Funktion beeinträchtigt wird, wenn man auf eine
Sperrklausel vollständig verzichten würde.
Meine Damen und Herren, es kann doch nicht angehen, dass Splitterparteien, die in Deutschland nirThomas Silberhorn
gendwo, bei keiner Bundestagswahl, bei keiner Landtagswahl, einen Fuß auf den Boden bekommen,
ausgerechnet zum Europäischen Parlament leichter zugelassen werden sollen und so die Arbeitsfähigkeit dieses Parlaments weiter schwächen könnten. Das kann
nicht der Stellenwert sein, den wir in Deutschland unserer parlamentarischen Vertretung in der Europäischen
Union einräumen.
Das Europäische Parlament benötigt Handlungsfähigkeit, wenn es im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren
als gleichberechtigter Akteur neben dem Rat eine Position durchsetzen will. Es muss in der Lage sein, eine
mehrheitsfähige Willensbildung in den eigenen Reihen
herbeizuführen. Jeder Mitgliedstaat trägt Mitverantwortung dafür, dass das Europäische Parlament auch in Zukunft handlungsfähig bleibt, dass es seine gesetzgeberische Funktion und auch die Kontrolle über die
Kommission effektiv wahrnehmen kann.
Sicherlich ist es so, dass Staaten wie Deutschland, die
ein größeres Sitzkontingent als andere haben, eine besondere Verantwortung dafür tragen, eine weitere Zersplitterung im Europäischen Parlament zu verhindern.
Wir brauchen ein starkes Europäisches Parlament, das
zusammen mit dem Deutschen Bundestag und den anderen nationalen Parlamenten die demokratische Legitimation des Handelns der Europäischen Union sichert. Deswegen ist eine moderate Sperrklausel von 3 Prozent ein
Mittel, das sachlich gerechtfertigt und politisch geboten
ist, um dieses Ziel zu erreichen.
({0})
Mit unserem Gesetzentwurf reagieren wir auch darauf, dass mit dem Vertrag von Lissabon die Anzahl der
deutschen Sitze im Europäischen Parlament von 99 auf
96 reduziert worden ist. Wir sind das einzige Mitgliedsland, das auf Sitze verzichtet hat, aus meiner Sicht ein
völlig unnötiges und überflüssiges Zugeständnis.
({1})
Abgesehen davon geht das aus meiner Sicht grundsätzlich in die falsche Richtung; denn im Lissabon-Vertrag wurde das sogenannte Prinzip der degressiven Proportionalität festgeschrieben. Das bedeutet: Je mehr
Mitgliedstaaten beitreten, desto weniger repräsentativ
wird die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Wir in der CSU sind ganz im Gegenteil der Ansicht, dass die Völker der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament repräsentativ vertreten sein müssen.
Das wäre ein Quantensprung für die Vertiefung der europäischen Integration.
Vielen Dank.
({2})
Kollege Thomas Silberhorn war der letzte Redner in
dieser Aussprache, die ich damit schließe.
Mir liegt eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäfts-
ordnung vor.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Europawahlgesetzes. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/13935, den Gesetzentwurf auf Drucksache 17/
13705 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das
sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die
Fraktion Die Linke. Enthaltungen? - Niemand. Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten, Bündnis 90/
Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Linksfraktion.
Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist ange-
nommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin
Göring-Eckardt, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einrichtung eines Sozialen Arbeitsmarktes
- Drucksache 17/11076 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0})
- Drucksache 17/13321 Berichterstattung:Abg. Katja Mast
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13344 Berichterstattung:Abgeordnete Axel E. Fischer ({2})Bettina HagedornDr. Claudia WintersteinDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Mast,
Anette Kramme, Petra Ernstberger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Pas-
siv-Aktiv-Transfer ermöglichen - Teilhabe
für alle durch sozialversicherungspflichtige
Beschäftigung im allgemeinen Arbeits-
markt
1) Anlage 6
Vizepräsident Eduard Oswald
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Jutta Krellmann, Dr. Axel
Troost, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Einstieg in gute öffentlich geförderte Be-
schäftigung beginnen
- Drucksachen 17/11199, 17/12377, 17/13321 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Katja Mast
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({5}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Katrin Kunert, Katja Kipping, Sabine
Zimmermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den
Jobcentern erhöhen
- Drucksachen 17/7844, 17/13807 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Brigitte Pothmer
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Alle sind damit einverstanden.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 20 a. Abstim-
mung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Einrichtung eines Sozialen
Arbeitsmarktes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13321, den Gesetzentwurf der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11076
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Zustimmen
wollen Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokraten.
Wer stimmt dagegen? - Koalition und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 20 b. Wir setzen die Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/13321 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/11199 mit dem Titel
„Sozialen Arbeitsmarkt dauerhaft über Passiv-Aktiv-
Transfer ermöglichen - Teilhabe für alle durch sozialver-
sicherungspflichtige Beschäftigung im allgemeinen
Arbeitsmarkt“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Links-
fraktion. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Noch Tagesordnungspunkt 20 b. Der Ausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12377 mit dem Titel „Einstieg in gute öf-
1) Anlage 10
fentlich geförderte Beschäftigung beginnen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 c. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wirksamkeit der Arbeit der Beiräte bei den Jobcentern erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13807, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/7844 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung und
zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte, Patentanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer
- Drucksache 17/10487 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 17/13944 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth-
Christoph Strässer-
Marco Buschmann-
Jens Petermann-
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.2) -
Alle sind damit einverstanden.
Wir kommen infolgedessen zur Abstimmung. Der
Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/13944, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/10487 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitions-
fraktionen. Wer stimmt dagegen? - SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Die Fraktion Die
Linke. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - So-
zialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-
gen? - Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist angenom-
men.
2) Anlage 9
Vizepräsident Eduard Oswald
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Förderung Deutscher Auslandsschulen ({7})
- Drucksache 17/13058, 17/13618 Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({8})
- Drucksache 17/13957 Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderUlla Schmidt ({9})Patrick Kurth ({10})Stefan LiebichKerstin Müller ({11})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({12})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13958 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Herbert Frankenhauser-
Klaus Brandner-
Dr. h. c. Jürgen Koppelin-
Michael Leutert-
Sven-Christian Kindler
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Alle sind damit einverstanden. Widerspruch erhebt sich
nicht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13957, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/13058 und 17/13618 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das
sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf
ist angenommen.
({13})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 31 a und 31 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({14}) zu
dem Antrag der Fraktion der SPD
Eine gesetzliche Obergrenze für verbrauchergerechte Dispositionszinsen
- Drucksachen 17/10988 ({15}), 17/13778 -
1) Anlage 11
Berichterstattung:-
Abgeordnete Marco Wanderwitz-
Ingo Egloff-
Marco Buschmann-
Halina Wawzyniak-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({16}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Caren Lay,
Dr. Axel Troost, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Begrenzung der Zinssätze für Dispositionsund Überziehungskredite
- Drucksachen 17/10855, 17/13950 Berichterstattung:Abgeordnete Marco WanderwitzIngo EgloffMarco BuschmannRaju SharmaIngrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung bereits ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen.
Zum mittlerweile vierten Mal in dieser Legislaturperiode hat die Opposition das Thema „gesetzliche
Deckelung von Zinssätzen bei Dispositions- und Überziehungskrediten“ auf die Tagesordnung des Plenums
gesetzt. Zum vierten Mal tauschen wir damit die gleichen Argumente aus. Auch heute wird die Botschaft
der christlich-liberalen Koalition sein: Eine gesetzliche Deckelung wird es mit uns nicht geben, weil es dafür keinen Bedarf gibt.
Der seit Jahren von der Opposition pauschal vorgetragene Vorwurf, Banken würden günstige Konditionen, die ihnen bei der Geldbeschaffung von der Europäischen Zentralbank eingeräumt werden, nicht an
ihre Kunden weitergeben, ist falsch. Wir hatten in der
letzten Befassung im Oktober 2012 zunächst auf die
Ergebnisse einer von Verbraucherschutzministerin Ilse
Aigner in Auftrag gegebenen Studie zum Zinsanpassungsverhalten der Banken hingewiesen. Wichtigste
Botschaft: Der Durchschnitt der Überziehungszinsen
in Deutschland lag noch bei knapp über 10 Prozent,
ein Wert, der angesichts eines europäischen Mittels
von 8,8 Prozent in den vergangenen Jahren im Toleranzbereich liegt.
Wenn wir von einem Mittelwert sprechen, heißt das
aber auch: Es gibt Ausreißer nach oben, ebenso aber
auch günstigere Angebote. Das gibt es bei einer Flugreise, beim Kauf eines Haushaltsgerätes und eben
auch bei Banken und ihren Zinsen. Das nennt man
Markt. Der Markt gibt den Verbrauchern die Möglichkeit, durch entsprechende Informationsgewinnung
günstigere Konditionen zu erhalten, und der Bankenwettbewerb in Deutschland ist intensiv. In diesem Zusammenhang hatte ich im Oktober auf folgende interessante Ergebnisse einer Forsa-Umfrage hinge31440
wiesen: Nur 43 Prozent der Verbraucher kennen überhaupt ihren Dispozinssatz; lediglich 13 Prozent würden allein aufgrund eines deutlich günstigeren Dispozinssatzes ihre Bank wechseln.
Durch die Opposition wird regelmäßig der Eindruck vermittelt, dass die Zinsdifferenz zwischen Geldmarktzinsen - oder dem Hauptrefinanzierungssatz der
EZB - und dem Dispozinssatz die Gewinnmarge einer
Bank sei. Dies ist nicht einmal die halbe Wahrheit.
Faktoren wie Refinanzierungskosten, Eigenkapitalkosten, Risikoprämien, Kosten des operativen Geschäfts
etc. nehmen starken Einfluss auf die Höhe des jeweiligen Dispozinssatzes. Die Kundennähe der klassischen
Filialbanken in Deutschland wie Sparkassen und
Volks- und Raiffeisenbanken kostet.
Der Dispositionskredit räumt dem Kunden größtmögliche Flexibilität ein; er ist jederzeit abrufbar. Das
heißt andererseits für die Banken: Sie müssen dauerhaft diese Liquidität vorhalten. Die Inanspruchnahme
ist nicht planbar, womit die Banken letztlich ein größeres Risiko gehen als bei klassischen Krediten mit festen
Laufzeiten und monatlichen Tilgungsraten. Diese Flexibilität hat ihren Preis.
Der Dispositionskredit ist zudem für den kurzfristigen Gebrauch gedacht. Wer aus seinem Dispo dauerhaft schöpft, muss eben mit hohen Zinsbelastungen
rechnen. Für diese Fälle sind Ratenkredite günstiger.
Wer die Bonität für den Dispo hat, hat sie üblicherweise auch für den Ratenkredit. Man muss es dann
eben auch machen.
Die Stiftung Warentest hat im Dezember berichtet,
dass eine nicht unerhebliche Zahl von Banken mittlerweile nicht nur transparenter agiert, sondern ihre Dispozinsen weiter heruntergefahren hat. Das zeigt deutlich: Der Markt funktioniert. Die in der genannten
Studie vorgeschlagenen weniger tief eingreifenden
Maßnahmen wie Frühwarnsysteme oder verpflichtende Umschuldungsangebote oder auch der von der
SPD aufgeworfene Gedanke einer Hinweispflicht auf
günstigere Produkte bleiben in meinen Augen grundsätzlich überlegenswert. Angesichts der Marktentwicklung sehe ich aber derzeit keinen Handlungsbedarf.
Das Thema Dispozinsen hat uns schon mehrfach beschäftigt. Der hier heute vorliegende Antrag der SPDFraktion hat einen Vorschlag gemacht, wie das Missverhältnis zwischen der im Moment sehr günstigen Refinanzierung für die Banken und der Tatsache, dass sie
trotzdem hohe Zinsen für Überziehungskredite nehmen, aufgelöst werden kann.
Niemand verlangt von den Banken, dass sie der
barmherzige Samariter sind. Niemand verlangt auch,
dass sie draufzahlen, wenn Verbraucher einen Überziehungskredit in Anspruch nehmen. Aber verlangt
werden kann, dass Vorteile, die der Staat durch billiges
Geld angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung und
der Finanzkrise gewährt, nicht von den Banken als Zusatzgewinn vereinnahmt werden und gar nichts an den
Verbraucher weitergegeben wird.
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW, und das Institut für Finanzdienstleistungen e. V., iff, erstellten im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz im letzten Jahr eine Studie. Danach
betragen die durchschnittlichen jährlichen Überziehungszinsen für private Haushalte 10,27 Prozent. Die
Bandbreite liegt allerdings bei 6 bis 20 Prozent pro
Jahr. Angesichts der Refinanzierungsmöglichkeiten
der Banken ist dies inakzeptabel. Deshalb haben wir
den Vorschlag gemacht, die Dispozinsen auf 8 Prozent
oberhalb des Basiszinssatzes festzulegen. Dieser Vorschlag hat den Vorteil, dass er flexibel auf das Marktgeschehen reagieren kann. Ändert sich der Basiszinssatz, steigt oder senkt sich der Zinssatz insgesamt, je
nach Marktgeschehen.
Feste Obergrenzen verbieten sich aus marktwirtschaftlichen Gründen und auch deshalb, weil sie nicht
praktikabel sind; denn es müsste gegebenenfalls jedesmal der Gesetzgeber tätig werden, um den Zinssatz anzupassen. Aber auch die von den Linken geforderten
5 Prozent über Basiszinssatz schießen über das Ziel hinaus, weil die von uns geforderten 8 Prozent jedenfalls
dem Niveau der letzten Jahre entsprechen. Und auch
die Ausfallraten der Banken im Privatkundengeschäft
sind so, dass sie eine höhere Verzinsung nicht rechtfertigen, im Gegenteil. Außerdem nähern wir damit den
Zinssatz für Überziehungskredite dem Zinssatz nach
§ 288 BGB an, der für Verzug gesetzlich zu zahlen ist.
Dies ist unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes angemessen.
Auch unsere zweite Forderung, dass die Banken
dem Kunden verpflichtet sein sollen, den Kunden bei
längerer Inanspruchnahme von Überziehungskrediten
auf die Möglichkeit des Abschlusses eines Vertrages
über ein günstigeres Produkt hinzuweisen, ist unter
Verbraucherschutzgesichtspunkten angemessen. Warum die Koalition angesichts dieser Marktsituation
nicht mit unserem Vorschlag einverstanden ist, verstehe ich nicht. Über Verbraucherschutz reden ist das
eine. Verbraucherschutz aber aktiv zu betreiben und
sich dann eventuell mit den mächtigen Banken in diesem Land anzulegen, ist etwas anderes. Dazu sind Sie
anscheinend nicht bereit.
Noch etwas kommt hinzu. Die Banken haben unendlich von der Stabilitätspolitik des Staates in der Finanzkrise profitiert. Der Staat - das heißt: letztendlich
die Steuerzahler - haben dies finanziert. Dann kann
man allerdings auch verlangen, dass die Banken nicht
noch zusätzliche Vorteile aus der Bewältigung der
Finanzkrise ziehen, Extraprofite einstreichen und der
Verbraucher und der Steuerzahler am Ende die Dummen sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die vorliegenden Anträge verlangen etwas objektiv
Unmögliches: Die Bundesregierung solle in der vorletzten Sitzungswoche dieser Legislaturperiode aufgefordert werden, ein Gesetz auf den Weg zu bringen.
Dabei weiß jeder, dass ein solcher Gesetzentwurf
scheitern muss - und zwar unabhängig davon, welchen
Inhalt er hat. Denn selbst wenn die Bundesregierung
in der nächsten Sitzungswoche einen perfekten Entwurf vorlegte, lassen es die parlamentarischen Abläufe gar nicht zu, dass dieser Entwurf vom Parlament
in zweiter und dritter Lesung angenommen werden
kann. Der Gesetzentwurf fiele zwangsläufig der Diskontinuität anheim und wäre gescheitert. Schon deshalb sollte man diesem Antrag - jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt - als seriös arbeitender Abgeordneter
nicht zustimmen. Jetzt dient er offenbar nur noch zu
Ausstellungszwecken im Schaufenster des Wahlkampfs.
Aber nicht nur aus Verfahrensgründen, sondern
auch in der Sache lehnen wir die Vorschläge ab: Natürlich kann ich die Frage verstehen, warum Dispozinsen hoch sind und die Refinanzierungszinsen der Banken im Moment sehr niedrig. Als Student habe ich mich
chronisch immer wieder „im Dispo“ befunden, um den
einen oder anderen Monat überbrücken zu können,
und habe auch horrende Zinsen gezahlt. Aber bedenken wir bitte eines: Zinsen sind der Preis für Verschuldung. Der Gesetzgeber tut nie gut daran, Preise staatlich festzuschreiben. Preise sollen sich in der sozialen
Marktwirtschaft im Wettbewerb bilden, damit die
richtigen volkswirtschaftlichen Preissignale zustande
kommen. Sonst drohen Fehlsteuerungen, was gerade
jedermann am Beispiel des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, EEG, studieren kann. Und was für die Preise
von Energie falsch ist, das ist auch für den Preis von
Verschuldung nicht richtig. Die Senkung der Preise ist
die Aufgabe des Wettbewerbs.
Nun sagen einige in der Opposition: Das mag ja
grundsätzlich stimmen, hier aber liege Marktversagen
vor. Es kommen keine sinnvollen Preise zustande. Aber
ist das Preissignal für Konsumkredite denn so falsch?
Wir leben in einer Zeit mit zu viel Verschuldung - sei es
staatlich oder auch privat. Darüber sind sich alle einig. Hohe Zinsen signalisieren: Vermeide Schulden,
baue Schulden ab! So absurd finde ich das gar nicht,
zumal die Zinsen ja auch das Ausfallrisiko des Kredites widerspiegeln sollten. Und das ist meist höher,
wenn man permanent überzieht.
Ich persönlich bin offen dafür, dass man darüber
nachdenken kann, ob man den Wechsel von Bank zu
Bank vereinfachen kann, um den Wettbewerb unter den
Anbietern von Girokonten und damit Dispositionskrediten zu intensivieren. Aber ich bin dagegen, den Wettbewerb abzuschaffen, indem man einen staatlichen
Festpreis diktiert.
Daher lehnen wir die vorgelegten Anträge ab.
Die Dispozinsen liegen derzeit bei durchschnittlich
10,51 Prozent, und das, obwohl der Leitzins der Europäischen Zentralbank, bei der sich die Banken ihr
Geld leihen, seit Mai bei erneut historisch niedrigen
0,5 Prozent liegt. Zuvor war der Leitzins ebenfalls extrem niedrig mit 0,75 Prozent. Laut Bundesbank stehen
die Verbraucherinnen und Verbraucher aktuell mit
41 Milliarden Euro nur mit ihren Dispositionskrediten
bei den Banken in der Schuld. Ein guter Grund, um erneut die Deckelung von Dispo-Zinsen auf 5 und von
Überziehungskreditzinsen auf 8 Prozent zu fordern.
Die Banken verdienen gut an den überhöhten Dispozinsen und damit auch an ihren ärmsten Kunden.
Denn die, die gezwungen sind, den Dispo auszuschöpfen, haben eh in der Regel schon zu wenig Geld und
verstricken sich in einen Teufelskreis aus immer neuen
Krediten, die zu immer neuen Schulden führen. Derzeit
ist fast jeder zehnte Erwachsene in Deutschland überschuldet, Tendenz steigend. Ein wichtiger erster
Schritt in die Überschuldung sind nach Angaben der
Verbraucherzentrale Hamburg die völlig überhöhten
Dispozinsen.
Die Banken begründen die Höhe der Dispozinsen
mit angeblichen Ausfallrisiken. Das Argument ist jedoch längst wissenschaftlich widerlegt. Die Risiken für
die Banken sind extrem gering und liegen laut einer
Studie des Institutes für Finanzdienstleistungen bei gerade einmal 0,3 Prozent, während das Ausfallrisiko bei
klassischen Konsumkrediten bei 2,5 Prozent liegt. Damit gehören Dispokredite zu den sichersten Krediten
für Anbieter und sind doch gleichzeitig die teuersten
Kredite für die Kundinnen und Kunden. Ein überhöhter Dispozinssatz ist also ein lukratives Geschäft für
die Bankinstitute und keine Serviceleistung an ihre
Kunden.
Dazu ein aktuelles Beispiel: In der vergangenen
Woche wurde der Fall eines Erwerbslosen bekannt,
der sich hilfesuchend an die Verbraucherzentrale in
Hamburg gewandt hat. Nach dem Verlust seiner Arbeit
geriet er finanziell ins Straucheln und war gezwungen,
den Dispo-Kredit auszuschöpfen, den die Bank ihm gewährt hatte. Der Dispozinssatz seines Kontos liegt bei
stolzen 18,95 Prozent. Jetzt möchte er auf einen regulären Kredit mit einem Zinssatz von 12 Prozent umsatteln, um nicht immer weiter in die Verschuldung zu
rutschen. Mit dem fadenscheinigen und zynischen Argument, dass er ja über kein geregeltes Einkommen
verfügt, wird es ihm von seiner Bank verwehrt.
Die Bundesregierung setzt auch hier immer noch
auf Selbstverpflichtungen. Doch auch hier funktionieren sie nicht. Als Anfang Mai der Leitzins erneut durch
die EZB auf ein Rekordtief gesenkt wurde, gaben dies
gerade einmal vier Institute an ihre Kunden weiter.
Wenig überraschend verzichteten die meisten Institute
nicht auf ihre Sondereinnahmen.
Gesetzliche Regelungen sind dringend notwendig.
Wie in so vielen Bereichen hat Schwarz-Gelb in den
Zu Protokoll gegebene Reden
vergangenen Jahren auch hier geschlafen und keine
Maßnahmen eingeleitet, um Verbraucherinnen und
Verbraucher vor Abzocke zu schützen. Mehrfach hat
Die Linke das Thema hier auf die Agenda gesetzt. Ich
freue mich, dass SPD und Grüne unserem Vorschlag,
Zinsen zu deckeln, im Kern folgen. Auch in den Ländern sind wir dran: Die Fraktion Die Linke im Saarland wird bald ein Volksbegehren gegen hohe DispoZinsen starten. Trotz unserer Kritik, die von Forschern
und Verbraucherverbänden geteilt wird, sieht die Koalition nach wie vor keinen Grund zum Handeln und
bestreitet sogar, dass es hier ein Problem gibt, obwohl
sogar ein Bericht des Verbraucherministeriums das
anders sieht. Als wir das Thema zuletzt im Oktober
vergangenen Jahres diskutiert haben, hieß es, dass die
Ministerin Aigner ja mit den Banken das Gespräch gesucht habe. Es ist ja schön für die Ministerin und auch
die Bankenvertreter, wenn man mal die Gelegenheit
hat, zwanglos zu plaudern. Aber es war auch verschenkte Zeit, denn das Problem besteht trotz Ministerinnenunterredung nach wie vor.
Wie Sie es drehen und wenden, wir kommen nicht
drum herum: Gesetzliche Regelungen müssen her, und
zwar schnell. Dabei orientieren wir uns am Bürgerlichen Gesetzbuch, welches bereits eine Deckelung der
Zinsen bei Zahlungsverzug auf 5 Prozent über den Basiszinssatz vorsieht. Es gibt keinen Grund, warum Dispozinsen viel höher liegen müssen. Das müssen sich
übrigens auch die Sozialdemokraten fragen lassen, die
den Banken immer noch ein sattes Plus von 8 Prozent
über dem Basiszinssatz beim Dispo gönnen wollen.
Dass das Thema derzeit wieder in aller Munde ist,
zeigt, dass Die Linke nach wie vor der soziale Motor
ist. Gut verdienen werden die Banken trotzdem noch.
Selbst bei unserer Forderung einer Deckelung von
Dispo-Zinsen auf 5 und von Überziehungskreditzinsen
auf 8 Prozent über dem Basiszinssatz verdienen die
Banken nach wie vor gutes Geld, und trotzdem entlasten wir Hunderttausende Menschen, die eh schon wenig haben.
Verbraucherzentralen und Schuldnerberatungsstellen sind sich einig: Überhöhte Dispositionszinsen sind
für eine Vielzahl der Verbraucher und Verbraucherinnen keinesfalls ein kleines Übel, sondern ein erster
Schritt in die Schuldenspirale.
Seit dem Runden Tisch im September 2012 und Frau
Aigners Appell an die Kreditwirtschaft, für mehr
Transparenz und günstigere Zinsen zu sorgen, hat sich
nicht viel geändert. Die große Mehrheit der Banken
und Sparkassen ist immun gegen gut gemeinte Appelle.
Jetzt ist politisches Handeln gefragt, das über Showveranstaltungen und Pressearbeit hinausgeht, um das
Marktversagen im Dispobereich zu beenden. Mehr
Transparenz über die Höhe der Zinsen ist ja nett, aber
keine Entlastung für die Geldbeutel der Bankkunden.
Die aktuelle durchschnittliche Höhe der Dispositionszinsen liegt laut Europäischer Zentralbank in
Deutschland bei 10,5 Prozent, während der Leitzins in
der Eurozone bei 0,5 Prozent liegt. Einzelne Banken
nehmen sogar 15 Prozent Zinsen und für eine weitere
Überziehung dann schon mal 18 Prozent.
Die Zahlen zeigen: Die Kreditwirtschaft verweigert
sich, günstigere Konditionen für Dipositionszinsen zu
schaffen, gleichzeitig klagen mehr und mehr Verbraucher und Verbraucherinnen über die Weigerung der
Bank, ihnen einen günstigeren Ratenkredit zu ermöglichen oder grundsätzlich keinen Dispo einzuräumen,
wenn es der Kunde wünscht.
Dass der Dispo- und Überziehungsbereich eines
Kontos nur ein Notpuffer sein soll - wie Herr Professor Schweickert in der letzten Debatte feststellte -,
bleibt ja unumstritten, nur leider ohne Konsequenzen
für Bankkunden, wenn die Bank die Umwandlung in
einen günstigeren Ratenkredit verweigert. Ein Teufelskreis für verschuldete Menschen und ein Versagen der
Bundesregierung, aus ihrer eigenen Studie keine regulatorischen Schlüsse gezogen zu haben.
Einwände der Kreditwirtschaft, ein Überziehungskredit berge ein höheres Ausfallrisiko und damit seien
auch höhere Zinsen gerechtfertigt, wurden in Frau
Aigners Studie widerlegt.
Wir fordern eine gesetzliche Deckelung von Dispound Überziehungszinsen, die sich durch die Orientierung an einem verbindlichen Leitzins flexibel an die
Marktbedingungen anpasst.
In einer aktuellen Studie der Verbraucherzentrale
Bundesverband haben 63 Prozent der Bürgerinnen
und Bürger kein Vertrauen in den Finanzbereich, sie
vermuten dort bei Produkten und Anbietern eine Täuschungsabsicht. Wucherische Überziehungszinsen
schüren das Misstrauen der Kunden und Kundinnen
bei Banken und Sparkassen.
Wir finden, dass die Zeit der Appelle an die Kreditinstitute definitiv vorbei ist. Jetzt muss gesetzliches
Handeln folgen.
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 31 a. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13778, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/10988 ({0}) abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Linksfraktion und Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns bei
Abstimmungen und sind froh, dass wir dies auch um
diese Uhrzeit diszipliniert gemeinsam durchführen. Froh
sind wir auch, dass dies alles abgewickelt werden kann.
Vizepräsident Eduard Oswald
({2})
Tagesordnungspunkt 31 b. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13950, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10855 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion der Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Stübgen, Michael Grosse-Brömer, Stefan Müller
({3}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Joachim Spatz, Gabriele Molitor, Rainer Brüderle
und der Fraktion der FDP
Politische Mechanismen zum Schutz europäi-
scher Grundwerte etablieren - Rechtsstaats-
initiative konsequent vorantreiben
- Drucksache 17/13888 -
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Alle sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13888. Wer stimmt für diesen Antrag? - Das
sind die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Der Antrag ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten
- Drucksache 17/11593 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 17/13939 Berichterstattung:Abgeordnete Helmut BrandtMichael Hartmann ({5})Dr. Stefan RuppertFrank TempelDr. Konstantin von Notz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Erlauben Sie mir zunächst eine Vorbemerkung:
Wenn man über eine Neuregelung hinsichtlich des Am-
tes des Bundespräsidenten sprechen und einen neuen
Gesetzentwurf einbringen möchte, war es stets guter
Brauch in diesem Hause, bereits vor der Einreichung
eines solchen Entwurfs zunächst mit den übrigen
1) Anlage 12
Fraktionen ein Gespräch zu führen. Aufgrund der besonderen Stellung des Bundespräsidenten in diesem
Staat ist dies auch richtig und notwendig, da man von
Beginn an bestrebt sein sollte, eine einvernehmliche,
von allen Fraktionen getragene Lösung herbeizuführen.
Schade, dass die SPD von dieser langjährigen
Übung abgewichen ist. Der Grund dafür liegt auf der
Hand. Entgegen allen Beteuerungen auch des innenpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion, Michael
Hartmann, man wolle hieraus kein Wahlkampfthema
schaffen und die Initiative habe mit dem bedauerlichen Rücktritt des Bundespräsidenten a. D. Christian
Wulff nichts zu tun, zeigt sich sowohl durch den Inhalt
des Gesetzentwurfs als auch durch das Verhalten der
SPD-Fraktion, dass das Gegenteil richtig ist.
Gerne möchte ich nun auf einzelne Punkte des Gesetzentwurfs eingehen.
Die SPD möchte einem gewählten Bundespräsidenten überhaupt nur dann einen Anspruch auf ein Ruhegehalt zusprechen, wenn dieser mindestens zweieinhalb Jahre sein Amt ausgeübt hat. Scheidet er vor
Ablauf einer zweieinhalbjährigen Amtszeit aus, soll er
gar kein Ruhegehalt erhalten. Die Höhe des Ruhegehalts soll sich in drei Stufen vollziehen. Nach Ablauf
einer zweieinhalbjährigen Amtszeit soll das Ruhegehalt 50 Prozent der jetzigen Amtsbezüge ohne Aufwandsgelder betragen. Nach einer vollen Amtszeit von
fünf Jahren soll sich das Ruhegehalt auf 75 Prozent
und nach einer Amtszeit von zehn Jahren auf 100 Prozent der Amtsbezüge ohne Aufwandsgelder erhöhen.
Der vorliegende Gesetzentwurf verkennt die Besonderheit des Amtes des Bundespräsidenten und seine
herausgehobene Stellung in unserem Land. Beides verbietet es, eine Ruhegehaltsregelung mit Sanktionscharakter zu schaffen. Auch berücksichtigt der Gesetzentwurf nicht hinreichend, dass mit diesem Amt auch nach
Ausscheiden Nachwirkungen verbunden sind, die in
aller Regel eine Rückkehr in den alten Beruf oder die
Aufnahme einer neuen beruflichen Tätigkeit ausschließen. Und nicht zuletzt möchten wir auch keine Anreize
schaffen, nur zur Erlangung der vollen Ruhebezüge
eine zweite Amtszeit anzustreben.
Bei allen Gesprächen zwischen den Berichterstattern der Fraktionen sowie dem Austausch mit dem
Bundespräsidialamt wurde deutlich, dass eine Regelungslücke nicht besteht und der vorliegende Gesetzentwurf in dieser Form von allen übrigen Fraktionen
abgelehnt wird.
Dabei möchte ich zum Schluss betonen, dass nach
mehr als 60 Jahren, die seit der Schaffung dieses
Amtes vergangen sind, und den Erfahrungen, die wir
in diesen Jahren gewonnen haben, es angebracht sein
mag, über eine Neuregelung zu diskutieren. So erscheint heute der Begriff „Ehrensold“ für die Ruhebezüge der ausgeschiedenen Bundespräsidenten antiquiert, obgleich der Begriff von seinem Sinngehalt her
durchaus noch seine Berechtigung hat. Gerne hätten
wir auch ernsthaft darüber diskutiert, ob eine gene31444
relle Absenkung der derzeit geltenden Bezüge sinnvoll
wäre. Auch über eine Anrechnung über die aus öffentlichen Kassen fließenden Bezüge hinaus auf Einkünfte
bei erneuter beruflicher Tätigkeit ließe sich nachdenken. Schlussendlich ließe sich auch über eine Erhöhung des derzeit vorgesehenen Eintrittsalters für das
Amt des Bundespräsidenten oder einer Bundespräsidentin reden sowie eine Verlängerung der Amtszeit
ohne Möglichkeit der Wiederwahl. Über all dies ließe
sich in der nächsten Legislaturperiode trefflich diskutieren, um dann gegebenenfalls gemeinsam und bereits
vor Einführung eines entsprechenden Gesetzentwurfs
zu einer übereinstimmenden Regelung zu kommen.
Sie haben mit Ihrem Gesetzentwurf dem Ansehen
des Amtes des Bundespräsidenten und des Parlamentes geschadet. Den von Ihnen vorgelegten Entwurf lehnen wir jedenfalls aufgrund der von mir aufgezeigten
Unzulänglichkeiten ab.
Trotz aller Steine, die uns boshaft in den Weg gelegt
wurden, beraten und beschließen wir heute über den
Gesetzentwurf der SPD-Bundestagsfraktion zur Neuregelung der Ruhebezüge des Bundespräsidenten.
Seit Ende November des vergangenen Jahres liegen
unsere Vorschläge dem Hohen Haus vor. Es wäre deshalb absurd, uns Wahlkampfgeplänkel bei diesem
Thema vorzuwerfen. Weder Form noch Inhalt unserer
Aktivitäten berechtigten zu dieser Polemik. Tatsächlich
geht es uns einzig und allein darum, den Missstand einer Überversorgung zu beseitigen. Zu diesem Urteil
gelangten nach dem Rücktritt des unglückseligen
Herrn Wulff hohe und höchste Vertreter aller Fraktionen. Gehandelt hat jedoch alleine die SPD. Alle anderen setzen entweder darauf, dass doch bitte Gras über
die Sache wachsen möge, man in jedem Fall aber mit
diesem peinlichen Thema nicht mehr befasst sein
möchte.
Wir sind fest davon überzeugt, dass das derzeitige
„Rundum-sorglos-Paket“ für das Amt des Bundespräsidenten, das ein Wahlamt wie jedes andere ist - wenn
auch mit unbestreitbar besonderer Bedeutung -, abgelöst werden muss, und zwar abgelöst werden muss
durch ein System, das nicht mehr wie eine Apanage für
einen Fürsten wirkt und nicht wie die Altersversorgung
für ein ehemaliges Staatsoberhaupt einer Republik.
Derzeit ist es ja so, dass unabhängig von Amtsdauer
und Lebensalter des Amtsinhabers ab dem Moment
seines Ausscheidens die vollen aktiven Bezüge zu
100 Prozent weitergezahlt werden, und zwar bis zum
Lebensende. Diese Summe beläuft sich auf runde
200 000 Euro im Jahr.
Das war in der Geschichte der zweiten Demokratie
auf deutschem Boden keineswegs immer schon so. Zunächst schied ein Bundespräsident mit - immer noch
üppigen - 50 Prozent aus. Erst 1959 wurde - angespornt vom Liebäugeln Konrad Adenauers mit dem
höchsten Staatsamt - das aktuelle Versorgungsniveau
geschaffen.
Als unsere Vorgängerinnen und Vorgänger das Gesetz schufen und dann veränderten, hätte sich niemand
zu irgendeiner Zeit den Rücktritt eines Präsidenten
vorstellen können. Vielmehr wurden mit größter Sorgfalt würdige ältere Herren ausgewählt. Das geschah
nie im politikfreien Raum und nie ohne politische Absicht. Es geschah aber immer im Bewusstsein, dass die
Würde des Amtes durch die richtigen Persönlichkeiten,
ihre Herzensbildung und charakterliche Eignung hergestellt wird. Das beweist unser amtierender Bundespräsident Joachim Gauck in unvergleichlich hervorragender Weise.
Nun haben wir zu unser aller Nachteil den allerdings unvermeidlichen Rücktritt von Herrn Wulff erlebt. Mit Anfang 50 und bis zum Ende seiner Tage stehen ihm nun jene derzeit 200 000 Euro im Jahr zu. Das
wurde damals nicht nur in den Medien und einer breiten Öffentlichkeit, sondern auch von vielen von uns als
inakzeptabel angesehen. Mehr als nur bemerkenswert
ist übrigens, dass der Petitionsausschuss in seinem
diese Woche vorgelegten Bericht erneut darauf hingewiesen hat, dass eine Reform überfällig ist. Ein Votum,
das durch eine beeindruckende Zahl von Bürgerzuschriften an ihn geradezu eingeklagt wird.
Nachdem aber nichts geschah, kein Zeichen aus den
anderen Fraktionen kam und unsere Signale ignoriert
wurden, haben wir als SPD einen eigenen Gesetzentwurf entwickelt und eingebracht. Stets und immer wieder erklärten wir dabei, dass darin nichts in Stein gemeißelt ist. Offenheit und Verhandlungsbereitschaft
bestimmten unser Vorgehen. War uns doch an einer
möglichst einvernehmlichen Regelung gelegen. In drei
Berichterstatterrunden und einem weiteren Termin mit
dem Staatssekretär des Bundespräsidenten haben wir
diese Offenheit immer wieder unter Beweis gestellt.
Alle anderen Fraktionen verweigerten sich jedoch.
Die seitens der Koalition, aber auch von Linken und
Grünen vorgetragenen Argumente erspare ich Ihnen
aus christlicher Nächstenliebe zur Schonung Ihres Gemüts. Dass allerdings unser Vorschlag mit nahezu verleumderischer Argumentation heute in den Orkus verbannt werden soll, ist ein Skandal; denn die Kritik an
unseren Vorschlägen hätte alle verpflichtet, mit eigenen Vorschlägen aufzuwarten. Die gibt es nicht. Regierungsfraktionen, Linke und Grüne hätten es angesichts
der weit auseinander gehenden Meinungen dort auch
schwer gehabt, einen Vorschlag zu Papier zu bringen.
Da ist es halt einfacher, unser Gesetz zurückzuweisen.
Verantwortungsvoll ist dies aber nicht.
Da wir - wie Sie - vollkommen überzeugt sind von
der einzigartigen Bedeutung des höchsten Staatsamtes, unterbreiten wir den Vorschlag, bereits nach einer
halben Amtszeit 50 Prozent der Bezüge, nach einer
ganzen 75 Prozent und nach zwei Wahlperioden
schließlich 100 Prozent als Versorgung zu gewähren.
Damit wäre der Bundespräsident in jeder Hinsicht
Zu Protokoll gegebene Reden
Michael Hartmann ({0})
weit über dem stehend, was wir beispielsweise dem
Bundeskanzler unseres Staates gewähren.
Natürlich nimmt auch ein ausgeschiedener Bundespräsident immer noch viele Verpflichtungen aller Art
für unser Land wahr. Deshalb soll er in Sachen Versorgung nicht wie irgendwer sonst behandelt werden. Unser Gesetzentwurf weist den Weg.
Mit Neid oder Boshaftigkeit, Missgunst oder Rache
an einem mit Schimpf und Schande ausgeschiedenen
Präsidenten hat dies nichts zu tun. Wohl aber mit dem
Willen, aus einem an feudalem Denken orientierten
Ehrensold eine immer noch hochnoble Ruhestandsregelung zu machen. Ihre Verweigerung ist eine
Schande!
Unseren Willen, auch bei diesem Thema nicht locker zu lassen, sollten die übrigen Fraktionen nicht unterschätzen. Wir werden nach den Bundestagswahlen
einen erneuten Anlauf starten. Die Mehrheitsverhältnisse in der 18. Wahlperiode und das Vertrauen in Ihre
Läuterungsfähigkeit werden der SPD den verdienten
Erfolg bringen bei ihrem Ziel, aus dem Bundespräsidenten auch in puncto Versorgung ein Staatsoberhaupt
einer parlamentarischen Demokratie zu machen.
Den heute zur endgültigen Abstimmung vorliegenden Antrag der SPD lehnen wir aus zwei grundsätzlichen Erwägungen ab. Erstens. Das von der SPD eingeschlagene Verfahren, das zu diesem Antrag führte,
ist kritikwürdig. Zweitens ist der Antrag auch inhaltlich nicht ausgewogen gestaltet, trotz eines durchaus
berechtigten Anliegens.
Zunächst ein paar Anmerkungen zum Verfahren.
Die SPD hat ihren Antrag nur kurze Zeit nach dem
Rücktritt des ehemaligen Bundespräsidenten Christian
Wulff erarbeitet und vorgelegt. Zwar haben die Sozialdemokraten immer betont, es gehe ihnen nicht um eine
„Lex Christian Wulff“. Aber der Zeitpunkt der Geburt
des Gesetzes lässt diesen Eindruck leider nicht verblassen. Zudem hat die SPD leider durch das vorschnelle Vorlegen eines Gesetzentwurfs die weiteren
interfraktionellen Gespräche gelähmt.
Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt: Wenn
es ein Anliegen gibt, bei dem sich alle Fraktionen im
Bundestag einig sind, dass es Reformbedarf gibt, dann
sollte man zuerst das gemeinsame Gespräch suchen
und sich danach auf einen Textentwurf einigen. Die
SPD hat durch ihr einseitiges Handeln die anderen
Fraktionen eher brüskiert und der Sache an sich geschadet. Ich konnte mich in dieser Legislaturperiode
schon mehrfach davon überzeugen, dass der andere
Weg - zuerst gemeinsame Gespräche und dann einen
Gesetzentwurf - deutlich besser funktioniert. Sowohl
beim subjektiven Wahlrechtsschutz als auch bei der
großen Wahlrechtsreform haben wir in sehr sachlicher
und konstruktiver Atmosphäre unter allen Fraktionen
gemeinsame Reformpunkte ausgelotet und dann zusammen einen Gesetzentwurf entwickelt. Mit diesem
Weg hätten wir sicher auch bei den Ruhebezügen etwas Gemeinsames erreicht. Doch dazu kam es wegen
der SPD nicht.
Inhaltlich hat der Entwurf ebenso Schwächen offenbart, auf die die SPD keine überzeugenden Antworten
geliefert hat. Erstens hat der Verfassungsrechtler in
mir durchaus Bauchschmerzen, ob die SPD einen Fall
von Rückwirkung normiert; eine rückwirkende Änderung für ehemalige Bundespräsidenten und deren Hinterbliebene wäre nämlich schlicht verfassungswidrig.
Zweitens hat die SPD keine Regelungen für den Fall
getroffen, dass ein Bundespräsident krankheitsbedingt
aus dem Amt ausscheiden muss; das hätte man in der
Entstehung zumindest einmal bedenken können. Drittens finde ich es kritisch, dass über die Abstufung der
Höhe der Ruhebezüge - erst nach zwei vollen Amtsperioden soll die volle Höhe der Ruhebezüge gewährt
werden - ein finanzieller Anreiz für eine zweite Amtszeit geschaffen wird. Ein Bundespräsident sollte aus
tiefster innerer Überzeugung für eine weitere Amtszeit
kandidieren und nicht wegen seiner Ruhebezüge.
In den Beratungen im Innenausschuss waren sich
alle Fraktionen einig, dass wir in der kommenden Legislaturperiode das Thema erneut aufgreifen wollen.
Das begrüße ich ausdrücklich. Dann sollen aber sachorientierte Gespräche am Anfang einer Reform stehen
und nicht ein einseitiger Vorstoß einer einzelnen Fraktion. So erreichen wir gemeinsam in der Sache mehr.
Im Gesetz über Ruhebezüge des Bundespräsidenten
in der Fassung von 2009 ist geregelt, dass der Bundespräsident beim Ausscheiden aus seinem Amt einen
Ehrensold in Höhe seiner Amtsbezüge erhält. Mit dem
Rücktritt des ehemaligen Bundespräsidenten Christian
Wulff vom Amt aus persönlichen Gründen gerieten in
den Medien und im politischen Raum die Ruhebezüge
in den Blick. Christian Wulff selbst brachte die unangemessene Höhe der Ruhebezüge in die Diskussion.
Nicht nur vonseiten der Linken wurde auch über die
Frage nachgedacht, inwieweit das Amt des Bundespräsidenten überhaupt noch zeitgemäß ist. Doch das
geht über das hier vorliegende Thema hinaus und
sollte sehr gründlich in einem breiteren Rahmen diskutiert werden.
Seit November vorigen Jahres liegt der Gesetzentwurf der SPD auf dem Tisch. Es gab dazu mehrere Berichterstattergespräche sowie ein Treffen der Berichterstatter mit der Präsidialverwaltung. Alle Fraktionen
bekannten sich dazu, dass Regelungsbedarf besteht
und ein gemeinsamer Antrag die beste Lösung ist, um
das Amt nicht zu schädigen.
Ich möchte ganz ausdrücklich betonen, dass ein solcher gemeinsamer Antrag auch möglich gewesen
wäre, wenn die SPD nicht im Zeichen des kommenden
Wahlkampfes die Vorreiterrolle für sich besetzt hätte
und mit einem eigenen - auch noch schlechten - Antrag einen Pflock in den Verhandlungstisch eingeZu Protokoll gegebene Reden
schlagen hätte. Ein gemeinsamer Antrag heißt: erst
miteinander reden, Gemeinsamkeiten finden und dann
einen gemeinsamen Antrag formulieren. Die SPD war
somit nicht Vorreiter, sondern Verhinderer einer gemeinsamen Lösung. So ist das nun mal, wenn Wahlkampf wirklich wichtiger ist als alles andere.
Vorschläge hat es in den mündlichen Beratungen
umfangreich gegeben. Ich denke, in der Summe der
Ideen aller Fraktionsvertreter war auch der Ansatz einer guten Lösung vorhanden.
Nun wird also doch über den ursprünglichen Antrag
der SPD diskutiert und abgestimmt. Er sieht eine Mindestamtszeit von zwei Jahren und sechs Monaten vor,
um 50 Prozent der Ruhebezüge zu erhalten. Nach einer
vollen Amtszeit von fünf Jahren sind es 75 Prozent.
Erst nach zwei Amtszeiten würden 100 Prozent der
Amtsbezüge erreicht.
Die Linke begrüßt die Idee der zeitlichen Staffelung,
sieht aber in einer nicht vorhandenen Grundversorgung in der ersten Hälfte der Amtszeit einen Mangel.
Bei einem Ausscheiden zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen gäbe es keinerlei Ruhebezüge. Wer will
vermitteln, dass ein Bundespräsident, der nach einem
Jahr Amtszeit schwer erkrankt, keinen Anspruch auf
Ruhebezüge hat?
Der grundsätzliche Fehler im Antrag ist aber der
Vorschlag zur Erreichung der vollen Ruhebezüge nach
zwei Amtszeiten. Das allein macht den SPD-Ansatz bereits völlig unannehmbar. Es kann folgende Situation
entstehen: Am Ende einer ersten Amtszeit unterzeichnet der Bundespräsident ein umstrittenes Gesetz. Ob
berechtigt oder nicht, hier entsteht automatisch der
Vorwurf, bereits die eigene Wiederwahl im Blick zu haben. Das Amt des Bundespräsidenten allein durch die
Möglichkeit eines solchen Vorwurfs zu belasten, ist unverantwortlich. Im Übrigen war genau dies auch Inhalt der Beratungen der Berichterstatter. Der Fakt,
dass der SPD-Antrag mit diesem deutlichen Makel
aufrechterhalten wurde, zeigt, dass es der SPD nie um
eine Lösung, sondern nur um die parlamentarische
Show ging.
Die Linke ist nach wie vor an einer gemeinsamen
Lösung interessiert, dann halt in der nächsten Legislatur. Die Höhe der zu erreichenden Ruhebezüge ist
zweitrangig. Ob die bis 1959 geltende Regelung wieder eingeführt wird, sodass die Höhe der Ruhebezüge
wieder bei 50 Prozent oder weiter bei 100 Prozent
liegt, ist sekundär. Wichtig ist uns eine Regelung, die
eine Grundversorgung von Beginn der Wahlperiode an
und eine zeitliche Stufung enthält. Dabei muss die Unabhängigkeit des Amtes gewahrt bleiben. Einem gemeinsamen Antrag aller Fraktionen in diese Richtung
wird sich die Linke nicht verschließen.
Der Bundespräsident steht als Staatsoberhaupt protokollarisch an der Spitze des Staates. Er ist das Verfassungsorgan, das die Bundesrepublik Deutschland
nach innen und nach außen repräsentiert. Dies geschieht, indem der Bundespräsident durch sein Handeln und öffentliches Auftreten den Staat selbst - seine
Existenz, Legitimität, Legalität und Einheit - sichtbar
macht. Darin kommen zugleich die Integrationsaufgabe und die rechts- und verfassungswahrende Kontrollfunktion seines Amtes zum Ausdruck. Sie wird ergänzt durch eine politische Reservefunktion für Krisensituationen des parlamentarischen Regierungssystems.
Besonders seine Mitwirkung bei der Ausfertigung
der Gesetze, seit Jahrzehnten wegen der streitigen
Reichweite ein Dauerbrenner in der juristischen Ausbildung, macht eines deutlich: Bei aller Kritik am Amt
des Bundespräsidenten handelt es sich eben nicht nur
um eine Art „Ersatzkönig“, wie es salopp gerne behauptet wird. Dem Bundespräsident kommen vielmehr
durchaus bedeutende Mitwirkungshandlungen im Regierungssystem zu. Er hat als Staatsoberhaupt maximale Sichtbarkeit und symbolische Vertretungsmacht
für das gesamte deutsche Volk, er ist der höchste Repräsentant. Zudem ist er Leiter des Bundespräsidialamtes, einer obersten Bundesbehörde, und verfügt damit über einen eigenen bürokratischen Stab, um seinen
Amtsgeschäften nachkommen und die ihm durch das
Gesetz zugesprochenen Aufgaben erfüllen zu können.
All das - Sie ahnen schon, worauf ich damit hinauswill - klingt so gar nicht danach, als sollte man in großer Eile, auf die noch nachklingende öffentliche Kritik
an einem bislang einmaligen Vorgang - der Niederlegung des Amtes bereits während der ersten Amtszeit -,
die Parameter dieses Amtes in Gestalt der Ruhebezüge
auf die Schnelle grundlegend ändern. Das verlangt die
Würde des Amtes, die kein nebulöser Begriff sein soll,
sondern unter der wir die Aufgaben und die verfassungsrechtlich bestimmte Rolle des Bundespräsidenten
bezeichnen.
Die Causa Wulff - weniger staatstragend könnte
man auch formulieren: sein unrühmlicher Abgang
nach kurzer Zeit; immerhin standen und stehen Vorwürfe möglicher Strafbarkeit im Raum - hatte die
Frage aufgeworfen, ob Bundespräsident a. D. Wulff
die ihm nach dem Gesetz zustehenden Ruhebezüge,
den sogenannten Ehrensold, überhaupt beanspruchen
könne. Denn dieser setzt einen Rücktritt ausschließlich
aus gesundheitlichen oder politischen Gründen voraus. Folglich wurde argumentiert, Wulff sei aus persönlichen Gründen aus dem Amt geschieden und damit
nicht anspruchsbefugt. Doch lassen sich politische und
persönliche Gründe beim Amt des Bundespräsidenten
schwer voneinander trennen. Es blieb deshalb dabei,
dass Wulff nach der geltenden Rechtslage der Ehrensold nicht abzuerkennen war. Von welcher Stelle auch
hätte das geschehen sollen? Gleichwohl führen wir seit
dem Abgang von Christian Wulff eine, wie ich meine,
auch ganz legitime Reformdiskussion. Wir haben sie
öffentlich geführt, wir führen sie im Haushaltsausschuss, und jetzt führen wir sie im Innenausschuss.
Zu Protokoll gegebene Reden
Schon der Begriff des Ehrensoldes erscheint mehr als
unzeitgemäß; das Jahr der gesetzlichen Regelung
1953 lässt grüßen.
Schlicht, weil es bislang nicht notwendig war, haben
wir immer noch eine Regelung, die ohne Rücksicht auf
die Amtsdauer, das Alter, die Gründe des Ausscheidens
und sonstige Lebensumstände die vollen Bezüge zusichert. Auch die im Umfang die Ruhebezüge noch übersteigenden Nebenleistungen wie Büro und Mitarbeiter,
bislang übrigens wie die aktiven Amtsbezüge gesetzlich nicht gesondert geregelt, werfen Fragen der Angemessenheit auf. Bezugspunkt für die Bestimmung, so
scheint es sachgerecht, können dabei nur öffentliche
Ämter sein, weil wir es eben mit dem ersten Diener des
Staates zu tun haben.
Eine berechtigte Funktion der Ruhebezüge liegt darin, nach dem Ausscheiden aus dem Amt eine nachwirkende Zurückhaltung bei der Bekleidung neuer Ämter
zu bewirken. Dabei sollte aber grundsätzlich auch bei
den Bezügen anderer staatlicher Ämter Maß genommen werden.
Auch wir wollen die Abschaffung des Ehrensoldes
und eine faire Vergütungsregelung, die sich an der Systematik der Vergütungen etwa von Bundeskanzlerinnen
und Bundeskanzlern und Bundesministerinnen und
Bundesministern orientiert. Und es erscheint durchaus
sachgerecht, dabei auch eine Regelung vorzusehen,
bei der die Dauer der Ausübung des Amtes angemessene Berücksichtigung findet und deshalb in der ersten
Amtszeit nicht gleich bei 100 Prozent liegt. Doch damit
allein ist es nicht getan. Wie gesagt, auch bei den ganz
erheblichen Nebenleistungen besteht Bedarf an Nachbesserungen und an Rückführung auf ein angemessenes und nachvollziehbares Maß. Dieses Jahr haben
wir im Haushaltsausschuss ja bereits gewisse Anpassungen vorgenommen. Geklärt werden muss aber
auch, wer am Ende für die entsprechenden Festsetzungen zuständig sein soll. Meines Erachtens kann das
nur das Parlament selbst sein.
Die Beschreibung der Rolle und der Funktion des
Bundespräsidenten macht zudem deutlich, dass es gut
ist, wenn wir den bisherigen parlamentarischen Comment im Hinblick auf Fragen des Bundespräsidenten
wahren, und damit meine ich die weitgehende interfraktionelle Abstimmung. Ehrensold und Amtsausstattung werden bislang im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einvernehmlich behandelt. Soweit
möglich, wollen wir diesen Weg weiter beschreiten.
Dabei sollten wir auch diskutieren, ob eine normenklare und wohlabgewogene gesetzliche Regelung
ebenfalls besser zum Ausdruck bringen könnte, dass
wir es eben nicht nur mit unserem Staatsoberhaupt zu
tun haben, sondern mit dem ersten Diener des Staates.
Dem SPD-Vorschlag, der ausschließlich auf die
Frage der Neuregelung mit Blick auf die Amtsdauer
abzielt, können wir mit Blick auf den umfangreicheren
Novellierungsbedarf nicht zustimmen, auch wenn er in
die richtige Richtung geht. Die einhellige Kritik im Innenausschuss am unilateralen Vorgehen der SPD zu
einem Zeitpunkt, der die heiße Phase des Wahlkampfes
einläutet, teilen wir mit Blick auf die besondere Würde
des Amtes, wie sie in der Verfassung zum Ausdruck
kommt. Wir wollen das Amt des Bundespräsidenten da
heraushalten.
Dann aber, in der kommenden Legislaturperiode,
sollten wir uns nicht scheuen, in Ruhe und offen über
alle Fragen zu sprechen. Meines Erachtens zählt dazu
auch die grundgesetzlich festgelegte Frage der Amtsdauer. Könnte nicht eine Verkürzung der Berufung auf
ausschließlich eine Amtszeit, etwa sieben Jahre, Unklarheiten beseitigen helfen, die im Verfahren der Bestellung in den letzten Jahren zutage getreten sind? Ich
wünsche uns bei dieser schon bald wieder hier zu diskutierenden Frage einen kühlen Kopf und demokratische Weitsicht, zum Besten unseres Landes.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13939, den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/11593 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind die Sozialdemokraten. Wer
stimmt dagegen? - Koalitionsfraktionen, Bündnis 90/
Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Klaus Riegert,
Eberhard Gienger, Stephan Mayer ({1}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Serkan
Tören, Joachim Günther ({2}), Dr. Lutz
Knopek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Integration von Menschen mit Migrations-
hintergrund im und durch den Sport nachhal-
tig stärken
- Drucksachen 17/13479, 17/13928 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Klaus Riegert-
Martin Gerster-
Dr. Lutz Knopek-
Jens Petermann-
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD vor.
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Alle sind damit einverstanden. Dann haben wir das so
beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Sportausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
1) Anlage 13
Vizepräsident Eduard Oswald
sache 17/13928, den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf Drucksache 17/13479 anzunehmen. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/13941 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Wer stimmt
dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wer stimmt nun für die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13928? - Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({3}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder,
Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Ursachen der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln wirksam bekämpfen
- Drucksachen 17/10989, 17/12153 Berichterstattung:Abgeordnete Carola StaucheElvira Drobinski-WeißHans-Michael GoldmannKarin BinderNicole Maisch
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute den Antrag „Die Ursachen
der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln wirksam bekämpfen“, der von der Linkspartei eingebracht wurde, einen Antrag, der auf den ersten Blick
ein hehres Ziel verfolgt, dem wir uns alle hier im Hohen Hause verpflichtet fühlen sollten, nämlich die Verschwendung von Lebensmitteln auf ein Mindestmaß
zurückzuführen.
Wie es sich für einen Antrag der Linkspartei gehört,
ist auch schon ein Schuldiger gefunden. In diesem Fall
ist es der Lebensmitteleinzelhandel, speziell der Discounterhandel. So einfach, wie es in den Anträgen der
Linkspartei immer dargestellt ist, ist es in der Realität
dann doch nicht. Es gibt unterschiedliche Gründe für
die Verschwendung oder gar Vernichtung von Lebensmitteln. Hier die Schuld allein beim Handel zu suchen,
ist meines Erachtens nicht nur falsch, sondern das
wird dem Thema nicht gerecht. Über die vielfältigen
Ursachen von Lebensmittelverschwendung haben wir
bereits mehrfach an dieser Stelle und auch im Ausschuss gesprochen. Der gemeinsame Antrag der Union,
FDP, SPD und der Grünen auf Drucksache 17/10989
geht darauf auch deutlich ein.
Das zeigt deutlich, dass sich auch die anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages der Problematik
der Lebensmittelverschwendung bewusst sind und realisierbare Lösungsvorschläge anbieten.
Aber auch im Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz wurden Maßnahmen zur Reduzierung von Verschwendung in der
gesamten Lebensmittelkette ergriffen. Beispielgebend
möchte ich hier die Kampagne „Zu gut für die Tonne“
nennen. Auf der Internetseite www.zugutfuerdietonne.de
kann man sich persönlich darüber informieren, wie jeder
für sich seinen persönlichen Anteil leisten kann, damit
weniger noch essbare Lebensmittel weggeworfen werden. Den Ansatz, dass jeder erst einmal bei sich selbst
anfangen muss, sein Lebensmittelkonsumverhalten zu
verändern, ist mir sehr sympathisch. Hier muss die Arbeit der Politik ansetzen: aufklären, informieren, praktische Angebote machen. Ressentiments aufbauen und
Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen schüren,
sollte nicht nur in dieser Debatte unterlassen werden,
sehr geehrte Damen und Herren von der Linkspartei.
Natürlich gibt es beim Thema Lebensmittelverschwendung noch viel zu tun, es wird nach wie vor zu
viel weggeworfen. Aber lassen Sie uns auch über die
positiven Beiträge in der Debatte berichten. So hat
eine gemeinsame Untersuchung des Thünen-Instituts,
des Julius-Kühn-Instituts und des Max-Rubner-Instituts festgestellt, dass sich die Nachernteverluste in der
Landwirtschaft auf einem relativ geringen Niveau bewegen. Natürlich unterliegen sie von Jahr zu Jahr erheblichen - witterungsbedingten - Schwankungen.
Aber im internationalen Vergleich sind die Nachernteverluste in der Bundesrepublik gering. Die Erntetechnik und die Lagerungstechnik sind bei uns so ausgereift, dass wir ein solches Ergebnis erreichen. Das
sollte man an dieser Stelle honorieren.
Da mir ihre Arbeit besonders am Herzen liegt,
möchte ich an dieser Stelle die Tafeln besonders hervorheben und mich für das Engagement der vielen ehrenamtlichen Helfer bedanken. Nicht nur, aber gerade
mit Blick auf das Thema „Vermeidung von Lebensmittelverschwendung“ wird bei den Tafeln sehr viel Gutes
geleistet.
Abschließen möchte ich mit einem Aufruf: Lassen
Sie uns gemeinsam weiter gegen die Lebensmittelverschwendung kämpfen! Gemeinsam und nicht gegeneinander!
Der Kampf gegen Lebensmittelverschwendung ist
uns allen ein wichtiges Anliegen. So haben wir über
die Fraktionsgrenzen hinweg alle gemeinsam den Antrag „Lebensmittelverluste reduzieren“ mit Maßnahmen gegen die Verschwendung von Lebensmitteln auf
den Weg gebracht. Das war ein gutes und wichtiges Signal! Denn mit dem Wegwerfen genießbarer Lebensmittel werden ungeheure Ressourcen verschwendet:
Arbeitskraft, Energie, Wasser, Rohstoffe und landwirtschaftliche Flächen, die in armen Ländern dringend
benötigt würden, um den Hunger dort vor Ort zu bekämpfen.
Damit hat das Thema nachhaltige und ethische Dimensionen, denen wir nur gerecht werden können,
wenn wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen. Deshalb war uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ein gemeinsamer Antrag sehr wichtig, auch
wenn wir in einem gemeinsamen Antrag nicht alle unsere Vorschläge zu 100 Prozent unterbringen konnten
und wie alle anderen auch Kompromisse gemacht haben.
Bisher stand vor allem das Verhalten der Verbraucher im Fokus der Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung. Das reicht nicht aus. Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es wichtig,
immer wieder deutlich zu machen: Beim verschwenderischen Umgang mit Lebensmitteln handelt es sich um
ein „systemisches“ Problem, dessen Ursache ein nicht
nachhaltiger Umgang auf allen Produktionsstufen
liegt.
Zwar müssen wir alle als Verbraucherinnen und
Verbraucher unser „Verbrauchsverhalten“ und unsere
Ansprüche an Vielfalt, frische Optik und ständige Verfügbarkeit von Lebensmitteln hinterfragen. Dazu gehört aber auch, dass Verbraucher besser darüber informiert werden, was die Erfüllung dieser Ansprüche
für soziale und ökologische Folgen hat und welchen
Wert Lebensmittel wirklich haben.
An unserem gemeinsamen Antrag hat im Vorfeld
auch die Fraktion Die Linke konstruktiv mitgearbeitet.
Das zeigt die große inhaltliche Übereinstimmung bei
diesem Thema. Doch die Fraktionen der CDU/CSU
und FDP haben sich aus grundsätzlichen Erwägungen
gegen eine Beteiligung der Fraktion Die Linke an dem
interfraktionellen Antrag ausgesprochen, und so
brachte Die Linke einen eigenen Antrag ein. Viele der
darin vorgeschlagenen Maßnahmen unterstützen wir,
viele entsprechen auch denen im gemeinsamen Antrag.
Der Forderung, dass das unmittelbare Entsorgen von
Lebensmitteln ohne den nachweislichen Versuch, diese
weiterzureichen, geahndet werden soll, können wir
aber nicht folgen. Sie ist nicht durchdacht, rechtlich
bedenklich und setzt zudem ein nicht praktikables und
ebenfalls bedenkliches Maß an Überwachung voraus.
Deshalb haben wir uns enthalten.
Mit Anträgen und mit Frau Aigners Programm „Zu
gut für die Tonne“ allein wird sich der Lebensmittelverschwendung aber nicht beikommen lassen.
Die mangelnde Wertschätzung ist nicht nur bei Verbrauchern ein Problem. Wo Wegwerfen billiger und
leichter für die Anbieter ist als die Weiterverwertung,
braucht man nach Wertschätzung nicht zu fragen. Die
Konzentration im Handel verschärft die Situation;
denn im Kampf um Marktanteile sind Niedrigstpreise
für Lebensmittel die Waffe, mit denen Konkurrenten
vom Markt gedrängt werden und unter denen Zulieferer und Erzeuger zu leiden haben. Und auch die Ansprüche an Optik und Verarbeitungsfähigkeit üben
Druck auf die Erzeuger aus und führen zur Aussortierung und unnötigen Abfällen bereits bei der Ernte.
Dieser Umgang mit Lebensmitteln ist ethisch, sozial
und ökologisch nicht vertretbar.
Wir müssen den Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette richten; denn die Verschwendung von Lebensmitteln kann nur eingedämmt werden, wenn alle
Beteiligten ihren Beitrag leisten. Auch die Landwirtschaft, die Ernährungsindustrie und der Handel müssen stärker Verantwortung übernehmen. Diese Einsicht scheint sich noch nicht überall in der Branche
durchgesetzt zu haben. So hatte zum Beispiel die vom
Agrarministerium in Auftrag gegebene Studie der Universität Stuttgart wegen fehlender Auskunftsbereitschaft auf neue Zahlen aus Handel und Industrie verzichten müssen. Hier braucht es mehr Kooperationsbereitschaft und mehr Transparenz, um nachvollziehen
zu können, wo wie viel Lebensmittelabfälle anfallen.
Uns allen ist bewusst, dass im Zeitalter der Globalisierung, in einer immer weiter vernetzten Welt die
Wertschöpfungsketten immer länger werden. Damit
gibt es zwischen Produzenten und Verbrauchern immer mehr Zwischenhändler, Logistiker, Verpackungsund Lagerungsspezialisten und immer mehr Wege, auf
denen brauchbare Lebensmittel aussortiert und weggeworfen werden.
Zudem gibt es immer alles und überall: Erdbeeren
aus China, Mangos aus Indien in Deutschland und Äpfel aus Amerika in Indonesien - und das alles das
ganze Jahr über. Die Lebensmittel müssen teilweise
weit reisen, um zum Verbraucher zu gelangen.
Kürzere Wertschöpfungsketten und der Einkauf von
regionalen und saisonalen Produkten sind deshalb
auch gute Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung. Dabei sind nicht nur die Verbraucher selbst gefragt, sondern auch die Gastronomie, Großküchen und
Kantinen.
20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel
wandern in Deutschland jährlich in den Müll. Statistisch gesehen wirft jeder von uns 235 Euro im Jahr in
den Abfall! Jedes fünfte Brot wird weggeworfen. Trotzdem haben wir über 300 verschiedene Brotsorten in
den Regalen der heimischen Bäckereien und Läden.
Und bis zum Ladenschluss wird das komplette Sortiment angeboten - um den Kunden auch um 20 Uhr
noch die volle Auswahl bieten zu können. Was übrig
bleibt, wird weggeworfen.
„Das Brot, das ihr verderben lasst, ist das Brot der
Hungernden“ ({0}). Das ist ethisch, sozial und ökologisch unverantwortlich. Und dagegen müssen wir
uns alle gemeinsam weiterhin engagieren.
In Deutschland werfen wir große Mengen an Lebensmitteln weg. Elf Millionen Tonnen an Lebensmitteln landen bei Industrie, Handel, Großverbrauchern
Zu Protokoll gegebene Reden
und Verbrauchern auf dem Müll und nicht auf unseren
Tellern; der Großteil davon in Privathaushalten.
Zum Teil ist das unserer Überflussgesellschaft geschuldet, in der jederzeit das gekauft und konsumiert
werden kann, wonach uns gerade der Sinn steht. Zum
Teil fehlt uns an einigen Stellen auch das Wissen über
den richtigen Umgang mit Lebensmitteln. Das Mindesthaltbarkeitsdatum, das Verbrauchsdatum oder die
Lagerung von Lebensmitteln stellen uns beispielsweise
vor Herausforderungen.
Lebensmittel sind nicht nur Mittel zum Leben, sondern auch Ressourcen, die einer klugen Verwendung
bedürfen. Für unser gesellschaftliches Tun ist es von
großer Bedeutung, dass wir uns der Vergänglichkeit einiger Ressourcen bewusst werden. Nachhaltiges und
verantwortungsvolles Konsumieren trägt dazu bei,
dass auch unsere nachfolgenden Generationen ausreichend Ressourcen zur Verfügung haben.
Aus ethischer und ökologischer Sicht sind vermeidbare Lebensmittelverluste nicht akzeptabel. Sie sind
nicht mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit vereinbar.
Die Nahrungsmittelerzeugung, ihre Verarbeitung und
Verteilung nutzt natürliche Ressourcen, die dadurch
für andere Ziele nicht zur Verfügung stehen. Emissionen und Einträge haben Auswirkungen auf die Umwelt
- CO2-Emissionen, Flächenverbrauch, Eutrophierung
und anderes -, und es entstehen Kosten für die gesamte
Gesellschaft. Deshalb ist es ein Gebot der Nachhaltigkeit und der Verantwortung für kommende Generationen, Lebensmittelverluste so weit wie möglich zu reduzieren.
Wenn wir uns vor Augen führen, wie viel Arbeit und
Energie in jedem Lebensmittel stecken, verhalten wir
uns bei unserem nächsten Einkauf klüger und vorausschauender und müssen nicht am Ende, unserem Einkaufsverhalten geschuldet, Lebensmittel vernichten.
Wir müssen den Wert der Lebensmittel wieder stärker
in das Bewusstsein rücken.
Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst. Lebensmittel zu verschwenden, ist nicht vertretbar. Daher haben die Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen einen gemeinsamen Antrag
mit dem Titel „Lebensmittelverluste reduzieren“ im
Deutschen Bundestag verabschiedet. Es war mir
- auch in meiner Funktion als Ausschussvorsitzender ein sehr großes Anliegen, und es erfüllt mich mit
Freude und Stolz, dass ein fraktionsübergreifender Antrag zustande kam; denn das Thema der Lebensmittelverschwendung geht uns alle an, und es ist äußerst
wichtig, dass wir gemeinsam für die gute Sache kämpfen. Nur gemeinsam haben wir die Chance, Verbesserungen hervorzurufen, damit Lebensmittel mehr wertgeschätzt werden.
Studien zeigen, dass der Großteil der Lebensmittelabfälle in privaten Haushalten anfällt. Daher müssen
unsere Anstrengungen genau dort ansetzen, wo Verbraucher für den Wert von Lebensmitteln sensibilisiert
werden können.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz engagiert sich bereits
mit vielfältigen Aktionen für einen bewussteren Umgang mit Lebensmitteln. Die Informationskampagne
„Zu gut für die Tonne!“ ist eine davon.
Dass wir auf einem richtigen Weg sind, zeigen die
positiven Rückmeldungen von Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen, die sich Gedanken machen,
wie Lebensmittel bewusster konsumiert werden können
und was für Strategien es gegen Verschwendung gibt.
Städte, Kommunen, Schulen, Krankenhäuser, Tafeln,
Einzelhandel, Gastronomie, Kirchen oder auch Universitäten, um nur einige zu nennen, packen es an:
jeder in seinem Zuständigkeitsbereich und doch mit
einem gemeinsamen Ziel. Das nenne ich gesellschaftliche Verantwortung.
Die Ergebnisse der Studie zu Nachernteverlusten in
der Landwirtschaft zeigen: Gute Transport- und Lagerungsbedingungen halten Verluste im internationalen
Vergleich gering. Dennoch bestehen auch hier weitere
Handlungsoptionen zum Beispiel im Bereich der Optimierung der Lagerbedingungen, einer verstärkten
Forschung, von Vermarktungsnormen oder internationaler Aktivitäten.
Die in dem Antrag der Fraktion Die Linke genannten Ursachen für die Lebensmittelverschwendung sind
zu einseitig gewichtet. Das systembedingte Grundproblem für die Verschwendung von Lebensmitteln liegt
nicht in einer wachstumsgetriebenen Wirtschaftsweise,
die auf Dumpingpreise ausgerichtet ist und automatisch große Überschüsse verursacht. Die Hauptverursacher für Lebensmittelverschwendung wären dabei
Industrie und Handel. Die Studie der Universität Stuttgart widerlegt diese These. Moderne Lagerhaltungssysteme im Handel sorgen für eine geringe Menge an
verschwendeten Lebensmitteln im Verhältnis zum Gesamtumsatz. Vor diesem Hintergrund lehnen wir den
Antrag der Fraktion Die Linke ab.
Rund ein Drittel der genießbaren Lebensmittel landet hierzulande auf dem Müll. Eine Hauptursache der
Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln ist
im ruinösen Wettbewerb der Lebensmittelbranche zu
suchen. Dumpingpreise entwerten unsere Esswaren.
Wo Lagerhaltung und Personalaufwand den Wert von
Obst, Gemüse und Fleisch übersteigen, wird weggeworfen. Das ist die Folge von Billiglebensmitteln.
Ein weiterer Grund ist die zunehmende Macht von
Industrie und Handel. Sie diktieren durch Handelsnormen den Landwirten, wie ihre Erzeugnisse beschaffen
sein müssen. Schon hier kommt es zu riesigen Ausschüssen, wenn Kartoffeln, Möhren und Äpfel nicht für
die Industriemaschinen passen oder nicht hübsch genug für die Auslage sind.
Für die zuständige Ministerin Ilse Aigner sind aber
nur die Verbraucherinnen und Verbraucher schuld. Sie
sollen doch bitte weniger Essen wegwerfen und auch
Zu Protokoll gegebene Reden
aus Übriggebliebenem noch eine nette Mahlzeit kreieren. Die Mitverantwortung von Lebensmittelindustrie
und Handel wehrt sie durch zweifelhafte Gutachten ab.
Allein auf die Studie zu Lebensmittelüberschüssen
in der Landwirtschaft musste der Ausschuss fast eineinhalb Jahre warten. Das Ergebnis der dünnen Studie: Sie ist nicht verwertbar. Lebensmittel, die in Futtertrögen oder Biogasanlagen landen, werden nicht
als Abfall erfasst. Die Daten basieren laut Verfasser
auf nicht repräsentativen Erhebungen und auf ungenügenden Grundlagen. Untersuchungsmotto: Was statistisch nicht erfasst wird, gibt es auch nicht.
Die anderen vier Fraktionen haben zwar den Antrag „Lebensmittelverluste reduzieren“ ins Leben gerufen. In dem Antrag sprechen sie davon, dass zu wenig auf Nachhaltigkeit geachtet wird und vermeidbare
Lebensmittelverluste nicht akzeptabel sind. Sie rufen
zur Verantwortung für kommende Generationen auf
und verweisen auf die steigende Weltbevölkerung. Und
dann schlagen sie vor, das Problem der Lebensmittelverschwendung mit Informationskampagnen zu bekämpfen. Verbraucherinnen und Verbrauchen sollen
besser informiert und ein „offener Dialogprozess“
eingeleitet werden. Meine Damen und Herren, glauben
sie wirklich, dass so etwa genügt?
Natürlich muss das Thema Essen auf den Lehrplan
der Schulen und Kindertagesstätten gesetzt werden.
Selbstverständlich ist es wichtig, Verbraucherinnen
und Verbraucher für Lebensmittelverschwendung zu
sensibilisieren. Die Linke sagt: Um der Vernichtung
und Verschwendung von Lebensmitteln konsequent
und effektiv zu begegnen, brauchen wir verbindliche
Regeln. Das Hauptproblem ist doch nicht der Mangel
an Information. Es reicht nicht, die Halbierung der
Menge an vermeidbarem Lebensmittelmüll bis 2020
als gemeinsames Ziel auszurufen und auf freiwillige
Vereinbarungen der Lebensmittelwirtschaft zu hoffen.
Notwendig ist es, diese Ziele verbindlich vorzugeben.
Die Linke fordert wirksame Maßnahmen, um die
Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln zu
bekämpfen.
Erstens. Die Halbierung der Menge an vermeidbaren Lebensmittelabfällen bis 2020 ist als verbindliches
Ziel festzuschreiben.
Zweitens. Wir brauchen mehr Transparenz in der
Lebensmittelkette. Dazu müssen größere Lebensmittelunternehmen ihre Warenbilanz offenlegen.
Drittens. Verbraucherinnen und Verbraucher sowie
Verbraucherschutzorganisationen müssen mittels Verbraucherinformationsgesetz, VIG, ein ungehindertes
und direktes Auskunftsrecht gegenüber den Unternehmen erhalten.
Viertens. Die Kundinnen und Kunden müssen Waren
wie Obst, Gemüse und Eier generell auch einzeln auswählen können. So erfolgt die Sortierung und Preisgestaltung über die Kundinnen und Kunden von selbst.
Fünftens. Güteklassen und industrielle Vermarktungsnormen sind aufzuheben.
Sechstens. Die ökologische und regionale Erzeugung und Verarbeitung muss auf der Bundesebene
konsequent gefördert werden. Regionale Strukturen
vermindern die Lebensmittelverschwendung durch
kurze Wege zwischen Erzeugung und Verbrauch.
Siebtens. Lebensmittel sind rechtzeitig vor Ablauf
des Mindesthaltbarkeitsdatums billiger anzubieten.
Abgelaufene und noch genießbare Esswaren sollen
kostenfrei an Interessierte weitergereicht werden.
Achtens. Es bedarf einer Umkehr der Rechtslage:
Statt das „Containern“, also das Fischen nach essbaren Lebensmitteln aus dem Müll, als Straftat zu verfolgen, sollte das unmittelbare Entsorgen von Lebensmitteln ohne den nachweislichen Versuch, diese
weiterzureichen, geahndet werden.
Neuntens. Die Gastronomie soll angehalten werden,
bedarfsgerechte Portionen in unterschiedlichen Größen anzubieten. Für Buffetangebote sollen Konzepte
zur deutlichen Minderung der Wegwerfrate gefördert
werden.
Tag für Tag werden Millionen Tonnen an Lebensmitteln unnötig verschwendet. Mehr als 80 000 Tonnen
sind es allein in Deutschland pro Jahr. Gleichzeitig
hungert fast 1 Milliarde Menschen, und unser Planet
gelangt langsam, aber sicher an die Grenzen seiner
ökologischen Belastbarkeit. Diesen Zustand empfinden immer mehr Menschen zu Recht als schwer erträglich.
Das hat auch Verbraucherministerin Aigner erkannt
und eine Kampagne gegen Nahrungsmittelverschwendung gestartet. Dabei absolviert sie medienwirksame
Auftritte mit Starköchen und veröffentlicht Postkarten
und Apps. Es ist gut, dass die Ministerin das Thema
aufgegriffen hat. Allerdings wird die Kampagne bei
weitem nicht ausreichen, um die Lebensmittelverschwendung in Deutschland und weltweit tatsächlich
in den Griff zu bekommen.
Als Bundestagsfraktionen haben wir gemeinsam einen Antrag vorgelegt, in dem wir Frau Aigner auffordern, endlich die Zügel in die Hand zu nehmen und mit
der Wirtschaft in Verhandlungen zu treten. Da waren
wir uns hier mit Schwarz-Gelb einig: Alleine den Verbraucherinnen und Verbrauchern alle Verantwortung
in die Schuhe zu schieben, reicht bei weitem nicht aus.
Denn auch die Politik der Bundesregierung hat in erheblichem Ausmaß Mitschuld an unserem Umgang mit
Lebensmitteln. Vor allem bei der Fleischproduktion,
aber auch in anderen Bereichen, setzt die Bundesregierung noch immer auf Masse statt Klasse und auf
billige Massenproduktion. Die Überproduktion von
Lebensmitteln hat System, und das Wegwerfen von Lebensmitteln ist eingeplant. Davon müssen wir weg.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir Grüne fordern, dass Verluste vom Acker bis zum
Teller auf der gesamten Wertschöpfungskette wirkungsvoll reduziert werden müssen. Deshalb müssen
Agrarsubventionen, die auf Masse statt Klasse setzen,
abgeschafft werden. Vor allem tierquälerische und umweltschädliche Massentierhaltung darf nicht weiter
gefördert werden. Was wir brauchen, ist eine stärkere
Förderung der nachhaltigen Lebensmittelerzeugung,
eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und des
Biolandbaus.
Dazu gehört auch eine ehrliche Preisstruktur. Die
hochsubventionierte industrialisierte Lebensmittelerzeugung hat massive negative Auswirkungen auf unsere Umwelt und die Gesundheit von Menschen und
Tieren. Viele Produkte werden eher weggeworfen, weil
sich Aussortieren oder eine Prozessoptimierung bei
den geringen Preisen nicht lohnt. Deshalb brauchen
wir Preise, die die Wahrheit sagen. Die negativen Auswirkungen müssen sich im Preis widerspiegeln und so
einen Anreiz bieten für den Kauf nachhaltiger Produkte und die Vermeidung von Verschwendung. Dadurch wird auch die Wertschätzung von Lebensmitteln
wieder gestärkt.
Wir wollen, dass Handels- und Qualitätsnormen
überwunden und unsinnige Handelsnormen, die zum
Beispiel kleine Äpfel erst gar nicht in den Handel gelangen lassen, abgeschafft werden. Stattdessen müssen
alternative und innovative Vermarktungswege gefördert werden. Außerdem muss bedarfsgerechtes Einkaufen und Essen ermöglicht werden. Statt XXL-Packungen und Schnäppchenschlacht brauchen wir
portionierbare Packungen und den Verkauf von losem
Obst und Gemüse.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Stärkung der
Ernährungsbildung an Schulen und Kitas, um die
Wertschätzung für Lebensmittel und das Wissen über
gesundes Essen zu verbessern. Die Verbraucherforschung und Aufklärung muss deutlich gestärkt werden.
Gute Ernährungsbildung fängt bereits in der Schulzeit
an und muss in die Lehrpläne integriert werden. Wir
wollen auch, dass jedes Kind ein gesundes und vollwertiges Mittagessen bekommt. Außerdem wollen wir
nicht, dass Menschen, die gutes Essen aus den Mülltonnen retten, bestraft werden. Hier muss es rechtliche
Klarheit und angemessene Regelungen geben.
Doch nach wie vor hat es Frau Aigner versäumt, ein
integratives Konzept vorzulegen, um die immense Verschwendung von Lebensmitteln auf allen Stufen der
Wertschöpfungskette in den Griff zu bekommen. Die
Vereinbarungen mit einzelnen Unternehmen wie zum
Beispiel den Studentenwerken oder Vivantes sind ein
guter erster Schritt, den wir ausdrücklich begrüßen.
Allerdings hat Ilse Aigner es nicht geschafft, eine
Vereinbarung mit der gesamten Wirtschaft entlang der
Lebensmittelkette zu treffen, die branchenspezifische
Zielmarken zur Reduzierung des Abfalls vorgibt und
somit einen Anreiz für die Unternehmen schafft, selbst
Lösungen zu entwickeln. Auch die von uns geforderten
Innovations- und Ideenwettbewerbe zur Verhinderung
des Lebensmittelabfalls hat die Bundesregierung bis
heute nicht ins Leben gerufen. Die Amtsperiode von
Ministerin Aigner ist fast zu Ende, ihre Bilanz leider
ernüchternd.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12153, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/10989 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung des elektronischen
Rechtsverkehrs mit den Gerichten
- Drucksache 17/12634 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz
- Drucksache 17/11691 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13948 Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerDr. Edgar FrankeManuel HöferlinJens PetermannIngrid HönlingerJerzy Montag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Alle sind
damit einverstanden. Die Rede des Kollegen Manuel
Höferlin wird gehalten - die anderen Reden sind zu
Protokoll gegeben -, und ich erteile ihm das Wort. Bitte
schön, Kollege Höferlin.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Tja, heute geht das Plenum ein bisschen länger. Es hat nicht geklappt, das Plenum früher zu
beenden, liebe Opposition. Deswegen und wegen der
halben Stunde Verzögerung heute Abend, vor allen Dingen aber wegen der Wichtigkeit des Gesetzes habe ich
mich entschlossen, diese Rede zu halten. Ich glaube,
man muss die Beratung eines guten Gesetzes mit einer
Rede beenden.
({0})
Das digitale Zeitalter ist da. Nachdem in der vergangenen Woche das E-Government-Gesetz den Bundesrat
passiert hat, zieht nun die Justiz nach mit der, wie ich es
schon im Ausschuss genannt habe, Elektronifizierung
der Kommunikation von Staat und Verwaltung mit den
Bürgern. Verwaltung und Justiz müssen mit dem digitalen Wandel der Gesellschaft Schritt halten - das ist überfällig -, und das schaffen wir heute.
Wir haben in dieser Legislaturperiode auch das E-Government-Gesetz auf den Weg gebracht. Jetzt folgt das
E-Justice-Gesetz. Wir haben das Bundeszentralregistergesetz novelliert und das Planungsvereinheitlichungsgesetz verabschiedet. All das stärkt die digitale Kommunikation und damit die Teilhabe von Bürgerinnen und
Bürgern am Staat. Es wird Sie nicht wundern, meine
sehr geehrten Damen und Herren, wenn ich sage: Das
waren vier gute Jahre für Deutschland.
({1})
Heute schaffen wir mit dem E-Justice-Gesetz die
Grundlage für die Modernisierung der Justiz. Die Verhandlungen mit allen Beteiligten waren sehr konstruktiv,
und ich freue mich, dass wir heute einen ausgewogenen
und zeitgemäßen Vorschlag für die moderne elektronische Kommunikation in und mit der Justiz verabschieden können. Wir gehen mit diesem Vorschlag qualitativ
weiter als die Bundesländer in ihrem Vorschlag. Deswegen, Frau Justizminister, ein herzlicher Dank für Ihren
Vorschlag, für die harte Arbeit an diesem Gesetz und für
die Ausdauer.
({2})
Bürgerfreundlichkeit, Rechtssicherheit für alle Beteiligten und Raum für Innovationen, diese drei Herausforderungen hat mein lieber Kollege Max Stadler in der ersten Lesung als Maßgaben für den elektronischen
Rechtsverkehr formuliert. Ich bin überzeugt, dass wir
mit dem vorliegenden Entwurf nicht nur diesen Anforderungen gerecht werden, sondern auch in Sachen Barrierefreiheit und in der Verzahnung des elektronischen
Rechtsverkehrs mit den anderen Gesetzesvorhaben der
christlich-liberalen Koalition zur Verbesserung der Situation beitragen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz darlegen, wie das geschieht:
Für Bürgerinnen und Bürger, Anwälte, Richter und
Justizangestellte wird endlich die Möglichkeit geschaffen, einfach, sicher und rechtsverbindlich miteinander zu
kommunizieren. Mit der De-Mail haben wir ein sicheres
Angebot für Bürgerinnen und Bürger zur Kommunikation mit der Justiz geschaffen. Daneben bieten das elektronische Gerichts- und zukünftig das elektronische
Anwaltspostfach weitere Möglichkeiten der rechtsverbindlichen und sicheren Kommunikation bei Gericht.
Alle Möglichkeiten haben einen höheren Sicherheitsstandard als die heute üblichen Abläufe; ich nenne zum
Beispiel den Brief oder das Fax. Das hat uns auch die
überwiegende Anzahl der Sachverständigen bei der Anhörung im Rechtsausschuss bestätigt. Mit diesen neuen
Kommunikationsmitteln regeln wir im E-Justice-Gesetz
einheitlich für alle Verfahrensformen den Einsatz der
modernen IT.
({3})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an der
Stelle noch kurz auf die Fristen eingehen; das sind Umsetzungsfristen, und das ist durchaus wichtig. Mit der
Übergangsphase bis 2016 haben die Anwälte genügend
Zeit, das Anwaltspostfach einzurichten. Für die Länder
wurde eine flexible Übergangsphase geschaffen, die die
gestaffelte Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs gewährleisten soll - eine gute Lösung, die den unterschiedlichen Ausgangssituationen in den einzelnen
Ländern gerecht wird. Ich wünsche mir allerdings, dass
die Länder - auch wenn wir es ihnen nicht vorgegeben
haben - das E-Justice-Gesetz zügig umsetzen.
Doch damit nicht genug: Es wird zukünftig auch
möglich sein, strukturierte Formulare im Webbrowser
auszufüllen - einfach, unbürokratisch und sicher. Das erleichtert Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zur Justiz. Die Verordnungsermächtigung, die wir für das
Ministerium der Justiz hier ins Gesetz eingefügt haben,
ist eine gute Grundlage für ein zusätzliches Angebot für
die Bürgerinnen und Bürger.
Wir machen noch mehr. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir die elektronische Aktenführung
und die elektronische Beurkundung von Gerichtsdokumenten ermöglichen - genau wie wir das auch für die
Verwaltung gemacht haben. Das wird nicht nur das Papieraufkommen an den Gerichten reduzieren. Es wird
vor allen Dingen die Abläufe an den Gerichten einfacher
und schneller machen. Das ist eine zentrale Verbesserung für alle.
({4})
Der christlich-liberalen Koalition ist es ein Anliegen,
dass alle Menschen auch digital am öffentlichen Leben
teilhaben können. Teilhabe war uns beim E-Government-Gesetz wichtig. Dafür und gerade auch für die Belange behinderter Menschen haben wir uns starkgemacht. Mit dem Änderungsantrag haben wir klargestellt,
dass der elektronische Rechtsverkehr barrierefrei zur
Verfügung gestellt werden muss. Bei der Anhörung gab
es gute Argumente vom Deutschen Verein der Blinden
und Sehbehinderten. Hier haben wir einige sehr gelungene Änderungen vorgenommen.
Wie Sie sehen, haben wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf drei zentrale Ziele erfüllt: Das E-Justice-Gesetz ist bürgerfreundlich, indem es den Menschen in
Deutschland einfache barrierefreie Wege zur Justiz eröffnet. Es schafft mit seinen Fristenregelungen und seiner klaren Definition bei der elektronischen Aktenführung Rechtssicherheit für alle Beteiligten. Das E-JusticeGesetz schafft Raum für Innovationen und den zukünftigen Einsatz weiterer Technologien, Stichwort: Technologieneutralität, Offenheit.
Darüber hinaus haben wir das Gesetz zur Förderung
des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten
eng mit den anderen Maßnahmen der liberalen Strategie
zur Verwaltungsmodernisierung verzahnt, sodass auch
hier medienbruchfrei kommuniziert werden kann und
Raum für Innovationen bleibt. Die Landesregierungen
haben uns ihre Unterstützung bei diesem wichtigen Vorhaben zugesagt. So schaffen wir den Einstieg in die digitale Kommunikation bei den Gerichten.
Das E-Justice-Gesetz - lassen Sie mich das abschließend sagen - war ein guter erster Schritt. Die FDP wird
sich dafür starkmachen, dass dem noch weitere Schritte
folgen. Dann werden auch die nächsten vier Jahre vier
gute Jahre für Deutschland.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank, Kollege Manuel Höferlin. - Alle ande-
ren Reden sind zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen
nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Der
Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13948, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf 17/12634 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Koalitionsfraktionen und
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt
dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/
Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Abstimmung über den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz. Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13948, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 17/11691 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das ist niemand. Stimmt jemand dagegen? - Das sind alle Fraktionen des Hauses. Enthaltungen? - Niemand. Der Gesetzentwurf des Bundesrates
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Nicole Maisch, Volker Beck ({0}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes über die Einführung von Grup-
penverfahren
- Drucksache 17/13756 -
1) Anlage 14
Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss ({1})Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute über einen Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Dabei geht es um
die Einführung von sogenannten Gruppenverfahren in
das Zivilprozessrecht. Ihnen geht es vielleicht genau
wie mir. Ich konnte mir unter dem Begriff „Gruppenverfahren“ nicht so recht etwas vorstellen. Deshalb
zur Klarheit: Wir reden hier über die Einführung von
Sammelklagen.
Bevor ich aber etwas zum Inhalt dieses Gesetzentwurfs sage, möchte ich doch meiner Verwunderung
Ausdruck verleihen. Mit Ablauf des heutigen Tages haben wir im Deutschen Bundestag noch ganze vier
reguläre Plenartage zur Verfügung, bevor wir am
28. Juni in die parlamentarische Sommerpause gehen.
Danach sind wir dann alle im Bundestagswahlkampf.
Und das finde ich schon erstaunlich: Hier wird ein
Entwurf eingebracht, von dem die Antragsteller genau
wissen, dass es keine fachlichen Beratungen oder Anhörungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages mehr geben kann, weil die Zeit dafür einfach
nicht mehr ausreichend ist. Und es geht auch nicht um
irgendeinen Gesetzentwurf, sondern es geht um weitreichende Änderungen der Systematik, der Dogmatik
und der grundlegenden Prinzipien unserer Zivilprozessordnung. Unsere ZPO gibt es seit über 100 Jahren sie hat sich bewährt. Die Grünen wollen nun aber wesentliche Prinzipien der ZPO mal eben so ändern. Sie
legen uns einen Gesetzentwurf vor, mit dem ein komplett neuer Abschnitt in die ZPO eingeführt werden
soll. Ganze 26 Paragrafen lang soll dieser Abschnitt
sein. Die Regelungen sind ausgesprochen kleinteilig
und komplex, weil es hier in aller Regel um sehr komplizierte Sachverhalte geht.
Daran wird, glaube ich, deutlich, dass eine solch
umfassende und tief greifende Änderung der ZPO ausführlich beraten werden muss. Dazu benötigen wir die
Sach- und Fachkenntnisse des Deutschen Anwaltsvereins, der Bundesrechtsanwaltskammer, des Deutschen
Richterbundes, der Verbraucherschützer und vieler
anderer Verbände, die sich in diesem Bereich auskennen. Wir selbst müssen uns intensiv mit dieser Materie
auseinandersetzen und diese in den Details beraten.
Das geht aber nun wirklich nicht in ein paar Tagen.
Das wissen auch die Grünen als Antragsteller selbst.
Dass Sie uns das jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, trotzdem so vorlegen, kann ich
nur auf eines zurückführen: Es ist Wahlkampf! Ihnen
geht es nicht um eine seriöse Befassung mit dieser Materie, sondern es geht Ihnen darum, kurz vor Toresschluss gegenüber den Menschen in unserem Land
noch einen Arbeitsnachweis zu erbringen, dass Sie
fleißig gewesen sind. Für ein solches parlamentarisches „Last-Minute-Vorhaben“ geben wir uns als
Union nicht her - rechtspolitische Schnellschüsse wird
es mit uns nicht geben! Allein schon aus diesem formalen Grund, dass Sie den Bundestag mit offensichtlich
wahlkampftaktisch motivierten Dingen befassen, können wir Ihren Gesetzentwurf nicht mittragen.
Aber auch in der Sache geht Ihr Entwurf inhaltlich
in die falsche Richtung. Ich kann mich hier auf einige
wenige Aspekte beschränken, da wir schon aus zeitlichen Gründen gar nicht mehr dazu kommen werden,
Ihren Entwurf in der notwendigen Tiefe zu beraten.
Ich möchte festhalten: Es ist für die Union völlig
klar, dass dort, wo das Gesetz Verbrauchern Rechte
und Ansprüche einräumt, diese auch effizient und kostengünstig durchsetzbar sein müssen. Dazu gehört
auch, gegebenenfalls eine angemessene Kompensation
für entstandene Schäden zu erlangen. Ansonsten wären diese Rechte wert-, weil wirkungslos. In Deutschland kann ich allerdings derzeit kein Defizit bei der
Durchsetzung materieller Rechte erkennen. Denn wir
haben bereits eine Vielzahl von Instrumenten, die eine
wirkungsvolle Rechtsdurchsetzung sicherstellen. Zu
nennen sind hier vor allem Verbandsklagebefugnisse,
Gewinnabschöpfungsansprüche und Musterklagen.
Diese Instrumente greifen auch bei den gerade im Gesetzentwurf der Grünen herangezogenen Streu- und
Bagatellschäden, wo der Einzelne möglicherweise wegen eines individuell nur sehr geringen Schadens von
einer Rechtsverfolgung absehen würde. Für Deutschland sehe ich daher keinen Bedarf für weitere kollektive Rechtsschutzinstrumente.
Es gibt aber nicht nur keinen Bedarf für diese Sammelklagen, Sammelklagen begegnen darüber hinaus
auch sehr prinzipiellen Einwänden. Die Sammelklagen, die nun in die ZPO eingeführt werden sollen, sind
ein höchst umstrittenes Klageverfahren, weil ihnen ein
großes Missbrauchspotenzial innewohnt und sie mit
kontinentaleuropäischen Rechtstraditionen kaum in
Einklang zu bringen sind. Bereits im Koalitionsvertrag
zwischen Union und FDP haben wir 2009 deshalb
deutlich formuliert: „Die Einführung von Sammelklagen national und europaweit lehnen wir ab.“ Dabei
bleiben wir.
Denn wir alle kennen aus den Medien die Auswüchse, die Sammelklagen in den USA und anderen
Rechtsordnungen genommen haben. Sammelklagen in
Deutschland begründen die latente Gefahr, dass eine
weitgehend selbstreferenzielle Klageindustrie nach
US-amerikanischem Vorbild entsteht. Dort geht es
längst nicht mehr um die Durchsetzung materieller
Rechte von Verbrauchern. Vielmehr tummeln sich dort
Anwälte, die Sammelklagen als Spielfeld für die Erzielung von Einnahmen im Rahmen einer regelrechten
Klageindustrie entdeckt und zu nutzen gelernt haben.
Es geht also nicht mehr darum, Menschen zu ihrem
Recht zu verhelfen, sondern darum, möglichst viel Gewinn mit einer Klage zu erzielen. Das können wir alle
nicht wollen!
Und es geht ja noch weiter: Oftmals werden Sammelklagen mit öffentlichkeitswirksamen Medienkampagnen begleitet. Aus Angst vor Imageschäden und
nicht selten existenzbedrohenden Prozesskosten werden Unternehmen häufig zu kostspieligen außergerichtlichen Vergleichen genötigt. Diese sind nicht selten sachlich unangemessen, weil die zugrunde
liegenden Ansprüche bereits zweifelhaft sind. Nach
Angaben der US Chamber of Commerce werden unglaubliche 95 bis 98 Prozent aller Sammelklagen außergerichtlich beigelegt, Sammelklagen, über die also
gar kein Richter urteilt. Ich will nicht, dass solche Erpressungskampagnen in Form von Sammelklagen in
Deutschland möglich werden.
Man muss den Grünen zugestehen, dass sie in ihrem
Gesetzentwurf versuchen, Lösungsansätze zur Verhinderung des Missbrauchs aufzuzeigen. Allerdings bin
ich der festen Überzeugung, dass dem Instrument der
Sammelklage die Gefahr des Missbrauchs immanent
ist. Es liegt in der Struktur von Sammelklagen, dass
findige Anwälte sie zur Durchsetzung eigener wirtschaftlicher Interessen ausnutzen und nicht mehr der
Schutz von materiellen Rechten der Verbraucher im
Vordergrund steht. Das will ich nicht.
Der Deutsche Bundestag hat sich in der Vergangenheit deswegen auch sehr kritisch mit Bestrebungen auf
europäischer Ebene auseinandergesetzt, kollektive
Rechtsschutzinstrumente einzuführen. Ich erinnere nur
an unsere ablehnende Stellungnahme im Rahmen der
von der EU-Kommission durchgeführten öffentlichen
Konsultation zum „Kollektiven Rechtsschutz“.
Ich kann für meine Fraktion sagen, dass sich an unserer Kritik und unseren Bedenken nichts geändert hat.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Europäische Kommission vor zwei Tagen unverbindliche
Grundsätze veröffentlicht und den Mitgliedstaaten in
den nächsten Jahren die Einführung kollektiver
Rechtsschutzverfahren empfohlen hat. Ich glaube, es
tut uns gut hier im Deutschen Bundestag, dass wir ungeachtet der Empfehlungen aus Brüssel unsere eigene
Meinung bilden und diese vertreten. Für die Union
kann ich sagen, es bleibt dabei: Wir lehnen Sammelklagen ab!
Denn - und das soll auch gleich mein Fazit der Debatte sein - wir brauchen keine Sammelklagen, weil
wir in Deutschland ein differenziertes Rechtsschutzsystem haben. Jeder Verbraucher kann seine Rechte
wirksam und kostengünstig schon jetzt durchsetzen.
Sammelklagen beinhalten darüber hinaus ein enormes
Missbrauchspotenzial, dem man auch durch Kautelen
nicht wirksam entgegenwirken kann.
Einen Gesetzentwurf aber, der erstens nicht erforderlich ist und zweitens sogar noch schädliche Auswirkungen hat, den, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, brauchen wir nun wirklich nicht!
Zu Protokoll gegebene Reden
Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen betritt rechtspolitisches Neuland, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland.
Die gruppenweise Durchsetzung von Ansprüchen ist
dem deutschen Recht fremd, außer im Spezialfall des
Musterverfahrensgesetzes für Kapitalanleger. Aus anderen Rechtsordnungen, meistens in angelsächsischen
Ländern, kennt man diese Verfahren allerdings. Nun
heißt die Verwirklichung in anderen Rechtsordnungen
nicht, dass wir immer in gleicher Weise hier verfahren
sollten.
Allerdings gibt es gute Gründe, die Einführung eines Gruppenverfahrens zu prüfen und zu diskutieren,
die dem Gesetzentwurf bzw. seiner Begründung zu entnehmen sind. Ob am Ende das gewünschte Ziel erreicht wird, mehr Bürgern die Scheu davor zu nehmen,
ihre Rechte durchzusetzen, mag zunächst dahinstehen.
Es ist aber klar, dass die Angst vieler Bürger vor den
Risiken einer Klage abnimmt, wenn man das Risiko mit
mehreren zusammen trägt und sich im Verfahren nicht
alleine und verloren vorkommt, insbesondere wenn es
gegen vermeintlich große und starke Gegner geht. Wir
sollten nicht vergessen, dass manche Bürger nur ein
einziges Mal im Leben versuchen, vor Gericht ihre Ansprüche durchzusetzen. Es ist gegebenenfalls auch ein
probates Mittel, dass das Ausweichen in andere
Rechtsordnungen - wegen eines internationalen Bezugs zum Beispiel in die USA - verhindert wird und der
deutsche Kläger in einer vertrauten Rechtsordnung
dann, auch was die Risikoabschätzung angeht, besser
aufgehoben ist.
Ich denke also, dass der Versuch unternommen werden sollte, allerdings zunächst mit einer Befristung
ähnlich wie beim KapMuG, da wir in der Rechtspraxis
Erfahrungen sammeln müssen. Die Anhörung über das
KapMuG in dieser Legislaturperiode hat ja gezeigt,
dass selbst ein Zeitraum von annähernd zehn Jahren
nicht ausgereicht hat, dieses Instrument so zu etablieren, dass eine dauerhafte Lösung Bestand haben
könnte.
Insofern ist eine Befristung mit entsprechender Evaluierung das richtige Mittel, um das juristische Neuland, das wir hier betreten, angemessen zu bestellen.
Wichtig ist im Entwurf auch, dass er mit einer Optin-Regelung hantiert, das heißt, der Bürger bestimmt,
ob er beitreten möchte, und er kann das Verfahren
auch wieder verlassen. Wichtig ist auch, dass individuelle Rechte nicht abgeschnitten werden. Der Kläger,
der neben der Gruppenklage seine Rechte individuell
durchsetzen möchte, muss die Möglichkeit dazu haben.
Leider kommt der Gesetzentwurf so spät, dass wir
im Verfahren nicht mehr weit kommen werden. Ich
gehe daher davon aus, dass in der neuen Legislaturperiode ein neuer Anlauf genommen werden muss. In der
Anhörung sollten wir dann auch die Erfahrungen anderer Länder nutzen und uns über die dortige Praxis
informieren lassen. Das kann ein spannender Versuch
werden, unsere Rechtsordnung im Sinne des Bürgers
fortzuentwickeln und noch bürgerfreundlicher zu gestalten. Deshalb beurteilt meine Fraktion den Gesetzentwurf positiv.
Heute beraten wir über einen Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die Einführung
von Gruppenverfahren, der dem scheinbaren Problem
begegnen soll, dass die individuelle Rechtsdurchsetzung der deutschen Zivilprozessordnung den neuen
Herausforderungen der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft nicht mehr gewachsen ist.
Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, dass
die rechtliche Regulierung diverser Lebensbereiche
wie der Energieversorgung oder dem Versicherungssektor in den vergangenen Jahren zugenommen hat.
Doch ob sich aus der Zunahme dieser meist verbraucherschützenden Regelungen ein Problem ergibt, ist
derzeit nicht ersichtlich. Und obwohl sich die Lage der
Verbraucher aus unserer Sicht nicht verschlechtert
hat, stellt sich die Frage, wie wir mit der zunehmenden
rechtlichen Regulierung umgehen. Die hier vorgeschlagene Einführung von Gruppenverfahren ist für
uns jedoch aus folgenden Gründen nicht zu befürworten:
Der Gesetzentwurf wirft das Problem des mangelnden Zugangs zu Gericht und der mangelnden Rechtsdurchsetzung vor allem bei kleineren massenhaft auftretenden Individualschäden auf. Beispiele dafür
finden sich bei der Rückgewähr von Leistungen bei unwirksamen AGBs, die von Versicherern oder Energieversorgern genutzt werden, oder der Zahlung pauschaler Entschädigungen bei Flugausfällen.
Die vorgeschlagene Lösung im vorliegenden Gesetzentwurf ist, dass bei mehreren Geschädigten nur
ein Mitglied der Gruppe Klage erheben und den Antrag auf Durchführung des Gruppenverfahrens stellen
muss. Einschränkend ist dabei, dass Teilnahmeerklärungen von mindestens zehn Gruppenmitgliedern beizufügen sind und die Teilnehmer am Gruppenverfahren sich anwaltlich vertreten lassen müssen. Das
rechtliche Gehör wird jedoch einzig durch den Gruppenkläger ausgeübt; die weiteren Teilnehmer können
keine Prozesshandlungen vornehmen. Wird das Gruppenverfahren dann eröffnet, können innerhalb von drei
Monaten weitere Teilnehmer dazukommen.
Ein sehr wichtiger Punkt, den ich gesondert erwähnen möchte, ist, dass die Teilnahme und der Verbleib
im Gruppenverfahren freiwillig sind und die Geschädigten auch alle übrigen zur Verfügung stehenden
Rechtsschutzmöglichkeiten nutzen können.
In der Praxis wird aus dieser Freiwilligkeit mit sehr
hoher Wahrscheinlichkeit folgen, dass sich, vor allem
bei größeren, anonymen Gruppen, viele Geschädigte
nicht nur dem Gruppenverfahren anschließen, da der
Aufwand dafür ziemlich gering ist, sondern parallel
dazu auch eigene Anstrengungen unternehmen werZu Protokoll gegebene Reden
den, um den größtmöglichen Erfolg zu erzielen. Was
sich daraus für die Gerichte ergeben wird, kann sich
jeder vorstellen: Sie werden überschwemmt von Gruppenverfahren und Einzelverfahren zum gleichen Sachverhalt. Damit steigt auch die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen unterschiedlicher Gerichte
trotz gleichartiger Sachverhalte.
Dabei bestehen bereits Instrumente, die eine gebündelte Verhandlung und Entscheidung vieler Fälle, die
den gleichen Streitgegenstand und auch kleinere Ansprüche betreffen, ermöglichen und sich in der Vergangenheit bewährt haben. Verbraucher haben die Möglichkeit, ihre Forderungen durch Einziehung an eine
qualifizierte Einrichtung abzutreten, die diese sammelt
und durch den Weg einer objektiven Klagehäufung
durch eine einzige Klage vor Gericht geltend macht.
Die objektive Klagehäufung ermöglicht je nach Verfahrensverlauf sowohl eine vollstreckbare Entscheidung als auch eine einvernehmliche Regelung. Der
Vorteil dieses Verfahrens ist, dass der Verbraucher bei
der Einziehungsabtretung keinen Rechtsanwalt benötigt, wodurch die Kosten des Verbrauchers natürlich
deutlich geringer ausfallen.
Das hier zur Debatte stehende Gruppenverfahren
ist somit nicht nur deutlich komplexer, sondern auch
mit höheren Kosten für die Verbraucher verbunden.
An dieser Stelle möchte ich betonen: Die FDP steht
nicht nur für Bürokratieabbau, sondern auch für einen
umfassenden Verbraucherschutz. Da sich die Grünen
dieses Ziel ebenfalls auf ihre Fahnen geschrieben haben und es immer wieder öffentlichkeitswirksam betonen, ist es für mich nicht nachvollziehbar, warum dem
Verbraucher statt dem bewährten ein Verfahren ermöglicht werden soll, dass nicht nur komplexer, sondern für ihn auch deutlich teurer sein wird - von der
Überlastung der Gerichte, die deren Arbeitsfähigkeit
erheblich einschränken wird, ganz zu schweigen. Es
besteht somit kein Bedarf an dieser deutlich komplizierteren Verfahrensmöglichkeit, sondern das Verfahren der objektiven Klagehäufung hat sich in der Vergangenheit bewährt.
Lassen Sie mich darüber hinaus abschließend noch
eine sehr wichtige Sache ansprechen: Die Europäische
Kommission hat am 11. Juni 2013 eine Empfehlung zu
den gemeinsamen Grundsätzen des kollektiven Rechtsschutzes für Unterlassungs- oder Schadensersatzansprüche in den Mitgliedstaaten bei Verletzungen gegen
EU-Recht herausgegeben. Der hier zur Debatte stehende Gesetzentwurf ist auf diese Empfehlungen in
keiner Weise abgestimmt. Auch Ihnen müsste klar sein,
dass es wenig Sinn macht, in den letzten Sitzungswochen noch schnell ein Gesetz verabschieden zu wollen,
das ein komplexes Verfahren etablieren soll und sich
nicht an der Debatte auf der europäischen Ebene
orientiert. Somit darf ich abschließend feststellen, dass
die vorgeschlagene Einführung von Gruppenverfahren
nicht nur bewährte Instrumente durch komplizierte ersetzen will, sondern auch den Verbraucher finanziell
stärker belasten und die Gerichte massiv überlasten
wird.
Sollte in den nächsten Jahren der Bedarf an einer
kollektiven Rechtsdurchsetzung steigen, werden wir
uns einer Debatte darüber sicherlich nicht verschließen. Eine solche muss jedoch allen Aspekten und auch
der europarechtlichen Dimension Rechnung tragen.
Da der vorliegende Gesetzentwurf alle diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist er im Ergebnis natürlich abzulehnen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versuchen die
Grünen, ein hehres, begrüßenswertes Ziel zu erreichen. Die Einführung eines generellen kollektiven
Rechtsschutzes für Verbraucherinnen und Verbraucher
sowie Bürgerinnen und Bürger ist seit langem eine
wichtige Forderung linker Verbraucherschutzpolitik.
In diesem Bereich sind uns andere Rechtsordnungen
weit voraus. Es ist in der Tat so, dass mit der Einführung von Gruppenverfahren dem bisher mangelnden
Rechtsschutz für Betroffene von Massenindividualschäden und den damit verbundenen Problemen der
Rechtsdurchsetzung begegnet werden kann. Wenn zum
Beispiel ein Großkonzern eine große Anzahl seiner
Kunden jeweils um einen kleinen Betrag schädigt,
dann wäre ein Gruppenverfahren die richtige prozessrechtliche Maßnahme, um die Interessen der Betroffenen effizient zu bündeln. Es gab schon Beispiele, bei
denen ein Landgericht mit 15 000 gleichlautenden
Klagen sachlich und personell einfach überfordert
war. Gerade in solchen Fällen ist das Instrument der
Gruppenverfahren eine sinnvolle Alternative. In der
Begründung des Entwurfs werden zutreffend verschiedene Beispiele beschrieben, in denen die einzelnen
Bürgerinnen und Bürger aus finanziellen, sozialen
oder kulturellen Gesichtspunkten vor der Durchsetzung ihrer Rechte vor Gericht zurückschrecken. Viele
Betroffene sagen sich, dass es nicht lohnen würde, für
beispielsweise 20 Euro vor Gericht zu ziehen. Diesen
Problemen könnte durch die Einführung von Gruppenverfahren begegnet werden, zum Beispiel dann, wenn
ein Unternehmen 10 000 Kunden um jeweils 20 Euro
geschädigt hat.
An sich ist das ein guter Ansatz, aber die Umsetzung
dessen im deutschen Rechts- und Justizsystem gestaltet
sich wie gewohnt schwierig. Die Initiatoren dieses Gesetzentwurfs haben sich vom Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz - ich drücke es einmal vorsichtig
aus - inspirieren lassen. Das Gruppenverfahren soll
eine Weiterentwicklung des Kapitalanlegermusterverfahrensgesetzes sein und dieses ablösen. Das Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz bietet schon heute die
Möglichkeit einer kollektiven Klageeinreichung für
Kapitalanleger. Die Bündelung individueller Ansprüche soll nun durch den vorliegenden Gesetzentwurf
verallgemeinert und in die Zivilprozessordnung integriert werden, die Zugangsvoraussetzungen für Gruppenverfahren abgesenkt sowie massenhafte SchadensZu Protokoll gegebene Reden
fälle einer angemessenen Konfliktlösung zugeführt
werden. Das vorgeschlagene Opt-in-Verfahren, bei
dem die Wirkung einer Entscheidung im Gruppenverfahren ausschließlich die Personen betrifft, die ausdrücklich ihre Teilnahme erklärt haben, ist ein guter
Ansatz und dem in den USA, Kanada und Australien
praktizierten Opt-out-Verfahren, Entscheidung betrifft
jedes Mitglied der Gruppe, vorzuziehen. Aus Praktikabilitätsgründen ist es sinnvoll, dass das Verfahren nur
vom Gruppenkläger geführt wird und die Teilnehmer,
ohne selbst Prozesshandlungen vornehmen zu können
oder zu müssen, über den Fortgang des Verfahrens informiert werden.
Das Gesetzgebungsverfahren zur Änderung des Kapitalanlegermusterverfahrensgesetzes haben wir erst
vor gut einem Jahr in diesem Hause abgeschlossen. Im
Vorfeld haben viele Beratungen und eine öffentliche
Anhörung im Rechtsausschuss stattgefunden. Im Rahmen dieser öffentlichen Anhörung wurden auch die
Probleme erörtert, die eine Einführung des kollektiven
Rechtsschutzes in die deutschen Prozessordnungen mit
sich bringen. Diese Probleme wirft der vorliegende
Gesetzentwurf ebenfalls auf und löst sie genauso wenig wie das Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz.
Zu den konkreten Problemen des vorliegenden Entwurfs: Zum einen führt die Wahl eines Gruppenverfahrens zwangsläufig zu einer zeitlichen Verzögerung, da
den anderen Teilnehmern eine Frist von drei Monaten
zur Erklärung der Teilnahme gewährt wird. Die Veröffentlichung des Eröffnungsbeschlusses und der Teilnahmeerklärung im Klageregister reicht aus meiner
Sicht nicht aus, um wirklich jeden potenziell Betroffenen zu erreichen. Hier müssen zusätzlich noch andere
Bekanntmachungswege eröffnet werden, wobei es dort
wieder datenschutzrechtliche Probleme geben kann.
Zum anderen drängt sich die Frage auf, wozu sich jeder Teilnehmer anwaltlich vertreten lassen muss, obwohl er selbst bzw. sein Rechtsbeistand keine Prozesshandlungen vornehmen können. Dazu ist lediglich der
Gruppenkläger berechtigt. Das sind noch nicht alle
Unzulänglichkeiten des Entwurfs.
Alles in allem begrüße ich den Vorstoß, der aber
noch ausreifen muss, die bestehenden Probleme nicht
alle zufriedenstellend löst und das aus dem 19. Jahrhundert stammende System der Zivilprozessordnung
noch nicht ins 21. Jahrhundert zu katapultieren vermag.
Zudem wirft der Zeitpunkt der Einbringung dieser
Initiative Fragen auf. Eine konstruktive und tief gehende Befassung und Beratung in den letzten beiden
Sitzungswochen der Legislatur ist nicht mehr möglich.
Das schadet dem Anliegen. Eine begrüßenswerte öffentliche Anhörung wird aus Zeitgründen nicht mehr
möglich sein. Die Verfasser hätten vor diesem Hintergrund ihre Initiative früher einbringen sollen. Das
hätte zumindest die Ernsthaftigkeit des Anliegens unterstrichen.
Sie wollen mit dem Flugzeug verreisen, der Flug
wurde gestrichen und obwohl Ihnen da eigentlich eine
Entschädigung zusteht, zahlt die Airline nicht. Ziehen
Sie vor Gericht und klagen die Entschädigung ein?
Sie haben den Stromanbieter gewechselt, der neue
Stromanbieter hat Ihnen einen Wechselbonus versprochen, der nach zwölf Monaten ausgezahlt werden soll.
Nachdem Sie aber nach dem ersten Jahr erneut den
Stromanbieter wechseln, zahlt Ihnen der erste Stromanbieter den Wechselbonus nicht. Verklagen Sie den
Stromanbieter in diesem Fall?
Sie haben eine Lebensversicherung abgeschlossen,
die Sie aus persönlichen Gründen vorzeitig kündigen
müssen. Von ihrem eingezahlten Geld bekommen Sie
kaum etwas zurück. Schuld sind die hohen Abschlusskosten und deren nachteilige Verrechnung sowie Stornoabzüge, die der Lebensversicherer durch Klauseln
in seinen Verträgen festgelegt hat. Klagen Sie vor Gericht gegen diese Klauseln?
Gleich ist in all diesen Fällen das Ungleichgewicht
zwischen den einzelnen wirtschaftlich ohnmächtigen
Verbraucherinnen und Verbrauchern auf der einen
Seite und den mächtigen Firmen und Unternehmen auf
der anderen Seite. Die einzelnen Verbraucherinnen
und Verbraucher sind erst einmal allein mit ihren
Schäden und müssen sich entscheiden, ob sie das Unternehmen, das die Zahlung verweigert, verklagen.
Für viele ist dies eine sehr hohe Hürde, die mit Geld,
Zeit, Ärger und der Ungewissheit verbunden ist, wie
der Prozess denn ausgehen wird und welche teilweise
schwer kalkulierbaren finanziellen Risiken auf sie zukommen. Gerade auch bei kleineren Schäden, wie zum
Beispiel in dem oben erwähnten Wechselbonusfall, ist
es aus Sicht des Einzelnen tatsächlich auch nicht rational, diese Schäden in Anbetracht des Kostenrisikos
einzuklagen. Viele dieser Ansprüche werden daher
nicht geltend gemacht. Unredlich erlangte und unrechtmäßige Gewinne verbleiben so bei den Unternehmen. Das ist nicht länger hinnehmbar.
Wir brauchen daher neue Formen kollektiver
Rechtsdurchsetzung. Zwar kennt das deutsche Recht
bereits in ihrer Anwendung sehr beschränkte Möglichkeiten von Verbänden, in eigenem Namen für Gemeininteressen einzutreten, die Instrumenten des kollektiven Rechtsschutzes ähnlich sind - die im UKlaG und
UWG geregelten Verbandsklagen auf Unterlassung
oder der im UWG geregelte Gewinnabschöpfungsanspruch zugunsten des Bundeshaushalts. Auch das 2005
eingeführte und 2012 reformierte KapitalanlegerMusterverfahrensgesetz ist eine Sonderregelung kollektiver Rechtsdurchsetzung, mit weiterhin vielen Defiziten und in seiner Anwendbarkeit auf Kapitalmarktprodukte beschränkt.
Für Fälle wie die eingangs erwähnten, aber grundsätzlich für alle Fälle, in denen eine Vielzahl von Personen durch ein Massenereignis gleich gelagerte Verträge oder sonst aufgrund eines gleichen LebenssachZu Protokoll gegebene Reden
verhalts geschädigt werden, haben wir daher ein
Gruppenverfahren erarbeitet, mit dem erstmals ein
umfassendes Verfahren zur Durchführung von Gruppenklagen in Deutschland ermöglicht wird. Dieses hat
übrigens nichts mit der Sammelklage - der sogenannten „class action“ - nach amerikanischem Modell zu
tun. Nach unserem Vorschlag profitieren von einer erfolgreichen Gruppenklage nur diejenigen, die sich ihr
anschließen, sogenanntes Opt-in-Prinzip. Klagen, die
von Einzelnen für angeblich alle potenziell Betroffenen
geführt werden, sogenanntes Opt-out-Prinzip, lehnen
wir ab. Wir halten auch am Loser-pays-Prinzip fest,
dass also der Prozessverlierer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Auch Erfolgshonorare und Beteiligungen der Rechtsanwälte an den einzuklagenden
Forderungen lehnen wir ebenso ab wie die Einführung
von Strafschadensersatz und die sogenannte Pre-trial
discovery.
Unser Gesetzentwurf deckt alle zivilrechtlichen Ansprüche ab. Lediglich Familiensachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit werden nicht
erfasst. Teilnehmer des Gruppenverfahrens wird nur,
wer aktiv seine Teilnahme am Gruppenverfahren gegenüber dem Gericht erklärt. Um Geschädigten, die
bisher von einem Gerichtsverfahren abgesehen haben,
den Rechtsschutz zu erleichtern, sind die Rechtsanwalts- und Gerichtsgebühren reduziert und außerdem
auf höchstens vier Rechtsanwaltsgebühren begrenzt.
Die Teilnehmer wissen also genau, auf was sie sich
einlassen und wie hoch ihre Kosten sind, sollte der
Prozess verloren gehen.
Auf der anderen Seite sind die Teilnehmer aber auch
nicht Prozessbeteiligte und können weder Prozesshandlungen vornehmen noch Angriffs- oder Verteidigungsmittel vorbringen. Dies kann nur der Gruppenkläger, der den Prozess führt und insofern das
rechtliche Gehör für die Teilnehmer quasi treuhänderisch ausübt. Wir halten dies für verfassungsrechtlich
vertretbar, da die Teilnehmer freiwillig dem Gruppenverfahren beitreten und auch wieder austreten können.
Beitritt zum und Austritt aus dem Gruppenverfahren
sind grundsätzlich bis zum Ende der mündlichen Verhandlung möglich. Strebt der Gruppenkläger einen
Vergleich an, so können die Teilnehmer, wenn sie mit
dem Ergebnis nicht zufrieden sind, ebenfalls austreten.
Gruppenkläger kann nach unserem Modell nicht nur
eine geschädigte Person sein, sondern auch ein hierzu
zugelassener Verband.
Nach unserem Entwurf kann mit der Gruppenklage
direkt auf Leistung geklagt werden, etwa in dem zu Beginn skizzierten Fall, in dem eine pauschalierte Entschädigung für einen ausgefallenen Flug verlangt
wird. Hier ist die Ursache der Entschädigungsleistung
für alle Passagiere identisch, und die Entschädigungssumme unterscheidet sich nicht individuell und kann
daher auch von allen Teilnehmer gemeinsam eingeklagt werden.
Aber auch in dem eingangs erwähnten Versicherungsfall bietet sich eine Gruppenklage an, und zwar
auf Feststellung, dass die in den AGB des Lebensversicherers enthaltenen Klauseln rechtswidrig und damit
unwirksam sind. Das Gruppenverfahren beschränkt
sich in diesen Fällen auf Feststellungen zu gemeinsamen Tatsachen oder Rechtsfragen und endet schon
deswegen nicht mit einer vollstreckbaren Entscheidung. In diesen Fällen müsste ein individuelles Verfahren nachgeschaltet werden, in dem der einzelne Geschädigte seinen konkreten Anspruch einklagt. Bei
lebensnaher Betrachtung wird das nachgeschaltete Individualverfahren aber die Ausnahme bleiben: Siegt
die klagende Gruppe im Gruppenverfahren, so wird
für den Beklagten in der Regel ein starker Anreiz zur
gütlichen Streitbeilegung gesetzt. Ist dagegen der Beklagte im Gruppenverfahren siegreich, so sind weitere
Individualverfahren für die Kläger regelmäßig sinnlos.
Mit unserem Gesetzentwurf werden nicht nur Verbraucherinnen und Verbraucher in der Durchsetzung
ihrer Ansprüche gestärkt, es wird auch die gesellschaftliche Steuerungsfunktion des Rechts gestärkt.
Denn die Aufgabe des Rechts besteht nicht nur darin,
den Einzelnen zu schützen, sondern zugleich auch insgesamt für faire Marktbedingungen zu sorgen, sodass
sich die Verwendung rechtswidriger Geschäftsbedingungen und verbraucherschutzwidriger Praktiken, die
fehlerhafte Anlageberatung und sonstige Rechtsverstöße aufgrund effektiver Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten der Geschädigten nicht mehr lohnen.
Vor zwei Tagen hat nun auch die Europäische Kommission nach jahrelanger Diskussion ein Paket zum
kollektiven Rechtsschutz verabschiedet, das Prinzipien
kollektiver Rechtsschutzinstrumente enthält und die
Mitgliedstaaten auffordert, kollektive Schadensersatzund Unterlassungsklagen einzuführen. Spätestens damit ist die Debatte um kollektive Rechtsschutzinstrumente auch in Deutschland eröffnet. Von der schwarzgelben Bundesregierung und der sie tragenden Koalition ist hier allerdings nicht viel zu erwarten. Unter
dem Druck der Wirtschaft hat die Bundesregierung
sich immer wieder gegen die Einführung von Gruppenklagen ausgesprochen. Dabei ist der Aufschrei der
Wirtschaft vollkommen überzogen. Niemand in der EU
will Sammelklagen amerikanischer Art einführen. Dies
stellt die Europäische Kommission auch in ihrer Empfehlung klar. Sie stellt Prinzipien für kollektive Rechtsschutzinstrumente auf, die sich von der amerikanischen Sammelklage abgrenzen. Nicht ohne Grund
verwendet sie nicht den Begriff der Sammelklage, sondern spricht von kollektiven Unterlassungs- und Schadensersatzklagen und allgemein von kollektiven
Rechtsschutzverfahren.
Wir können nun - wie die CDU/CSU und die FDP in Verweigerung verharren und abwarten, bis die Europäische Union uns zum Handeln zwingt. Wir können
aber auch aktiv werden, eigene Regelungen ausarbeiten und vorschlagen und damit Einfluss auf die weitere
Gestaltung kollektiven Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene nehmen. Wir Grünen gehen diesen aktiven Weg und legen mit unserem
Zu Protokoll gegebene Reden
Gesetzentwurf einen ausformulierten Vorschlag auf
den Tisch. Wir freuen uns auf eine angeregte Debatte
mit Ihnen, aber auch mit der Fachwelt, den Interessenverbänden und der interessierten Öffentlichkeit.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/13756 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann haben wir das gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln
- Drucksache 17/13076 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Regierungsfraktionen und die Bundesregierung
schaffen die Rahmenbedingungen für einen modernen
Pflanzenschutz: 2011 haben wir mit der Pflanzenschutznovelle eine entsprechende EU-Richtlinie umgesetzt und damit einen wichtigen Beitrag zur Harmonisierung des europäischen Pflanzenschutzrechts
geleistet. Darauf aufbauend hat die Bundesregierung
den Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ausgearbeitet und beschlossen.
Mit der Pflanzenschutznovelle und dem Aktionsplan
bringen wir das oberste Ziel unserer Pflanzenschutzpolitik klar zum Ausdruck: Bei der Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln müssen Risiken für Mensch und
Natur so weit wie möglich ausgeschlossen werden.
Deshalb durchlaufen Pflanzenschutzmittel ein äußerst
strenges Zulassungsverfahren, bevor sie in der Landund Forstwirtschaft oder im Wein- und Gartenbau angewendet werden dürfen. Aus dem gleichen Grund
müssen die Anwender von Pflanzenschutzmitteln ihre
Sachkunde nachweisen, sich durch regelmäßige Fortbildungen auf den neuesten Stand bringen und ihre
Spritzgeräte von amtlich anerkannten Kontrollbetrieben regelmäßig überprüfen lassen. Das hohe Schutzniveau wirkt: Bei Untersuchungen werden bei deutschen
Lebensmitteln kaum Rückstände festgestellt, die die
Grenzwerte übersteigen.
Mit dem Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung
von Pflanzenschutzmitteln werden die Anstrengungen
verstärkt, die Risiken zu minimieren. Zu diesem Zweck
schlägt der Aktionsplan zahlreiche Maßnahmen vor,
formuliert konkrete Ziele und legt Indikatoren für die
Zielerreichung fest. So sieht der Aktionsplan beispielsweise vor, kulturpflanzenspezifische Leitlinien für den
integrierten Pflanzenschutz auszuarbeiten, den illegalen Handel mit Pflanzenschutzmitteln einzudämmen
und den Verbraucher- und Anwenderschutz voranzubringen. Da die verwendete Menge eines Pflanzenschutzmittels nicht unbedingt etwas über die Risiken
dieses Mittels aussagt, verzichtet der Aktionsplan richtigerweise auf Zielvorgaben für eine pauschale Mengenreduzierung.
Länder, Kommunen, Forschungseinrichtungen,
Hersteller, Handel und die Anwender in den grünen
Berufen wurden in die Ausarbeitung des Aktionsplans
eingebunden und sind nun aufgerufen, sich an der Umsetzung zu beteiligen. Dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz
gebührt Dank für diesen Aktionsplan, mit dem
Deutschland eine weitere Verpflichtung aus der Pflanzenschutz-Rahmenrichtlinie der EU erfüllt.
Die CDU/CSU hat sich an der Ausarbeitung des Aktionsplans konstruktiv beteiligt - wir werden auch die
Umsetzung im Auge behalten. Keinesfalls darf sich aus
dem Aktionsplan der Bundesregierung ein neues Fachrecht entwickeln - es muss dem Parlament vorbehalten
bleiben, alle wesentlichen Regelungen des Pflanzenschutzrechts vorzunehmen. Wir sehen den Sinn des Aktionsplans vielmehr darin, dass sich alle genannten
Akteure auf der Grundlage des bestehenden Rechtsrahmens für Fortschritte bei der Risikominimierung
einsetzen. Es kommt also darauf an, alle Beteiligten
zur Mit- und Zusammenarbeit zu motivieren.
In der Vergangenheit wurden bereits erhebliche
Fortschritte bei der Risikominimierung erreicht. Ich
nenne nur die Entwicklung hocheffizienter Spritzdüsen
mit geringer Abdrift. Das stimmt mich zuversichtlich,
dass weitere Fortschritte möglich sind. Pflanzenschutzmittel sind keine gewöhnlichen Gebrauchsgüter - Risikominimierung bleibt deshalb eine ständige
Aufgabe. Den Naturhaushalt funktionsfähig halten, die
Biodiversität schützen, den Verbraucher- und Anwenderschutz gewährleisten - an diesen Aufgaben muss
weiter gearbeitet werden. Die Agrarwirtschaft in
Deutschland einschließlich der vor- und nachgelagerten Bereiche ist auf eine effiziente, nachhaltige und sichere Produktion ausgerichtet. Der Aktionsplan leistet
dazu einen Beitrag.
Um Risiken bei der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln angemessen beurteilen zu können, muss im Nationalen Aktionsplan auch der Nutzen von Pflanzenschutzmitteln berücksichtigt werden. Dies war ein
wichtiges Anliegen zahlreicher Verbände - auch der
CDU/CSU. Für uns ist es nicht vertretbar, Pflanzenschutzmittel ausschließlich unter Risikogesichtspunkten zu beurteilen: Mithilfe von Pflanzenschutzmitteln
können sich Landwirte gegen Schadorganismen zur
Wehr setzen, die die Erträge empfindlich reduzieren
können.
Pflanzenschutzmittel tragen erheblich zur landwirtschaftlichen Produktion und damit zur Einkommenssicherung bäuerlicher Familienbetriebe bei. Dies ist für
die Lebensfähigkeit ländlicher Räume unverzichtbar.
Auch für den Verbraucher bringt die Anwendung von
Pflanzenschutzmitteln Vorteile: Eine leistungsfähige
landwirtschaftliche Produktion ist Voraussetzung für
die Ernährungssicherung, also für eine ausreichende
und bezahlbare Versorgung mit gesunden Lebensmitteln.
Darüber hinaus ist zu beachten: Würden wir auf
Pflanzenschutzmittel und damit auf höhere Erträge
verzichten, hätte dies steigende Importe von Lebensund Futtermitteln sowie nachwachsenden Rohstoffen
zur Folge. Dies kann zu indirekten Landnutzungsänderungen anderswo auf der Welt führen. Pflanzenschutzmittel leisten einen wichtigen Beitrag, dass wir unsere
heimischen Nutzflächen effizient bewirtschaften können. Zudem wird durch Pflanzenschutzmittel die maschinelle Bodenbearbeitung reduziert, was mit Blick
auf den Klimaschutz positiv zu bewerten ist.
Es ist richtig, dass der Aktionsplan diese Zusammenhänge berücksichtigt. Bei Pflanzenschutzmitteln
sind neben gesundheitlichen und ökologischen auch
soziale und wirtschaftliche Gesichtspunkte zu betrachten. Ich hoffe, dieser Aktionsplan trägt dazu bei, dass
sachlicher über Pflanzenschutzmittel diskutiert wird.
Wie sehr es zuweilen an Sachlichkeit mangelt, zeigt
beispielsweise die falsche Entscheidung der EU-Kommission, im Rapsanbau die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln mit Wirkstoffen aus der Gruppe der Neonikotinoide auszusetzen.
Die Position der CDU/CSU ist eindeutig: Es muss
alles getan werden, um Risiken zu minimieren. Gleichzeitig treten wir dafür ein, dass Pflanzenschutzmittel
im Rahmen des integrierten Pflanzenschutzes und
nach neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen angewendet werden können - zum Nutzen der Landwirtschaft und der Verbraucher!
Am 26. April 2013 verkündete ein namhafter Chemiekonzern eine weitere Umsatzsteigerung um 5 Prozent
zum Vorjahresquartal auf insgesamt 19,7 Milliarden
Euro. Der Absatz wuchs insbesondere durch eine stärkere Nachfrage nach Pflanzenschutzmitteln. Auch der
Industrieverband Agrar gibt nicht nur Rekordumsätze
an, sondern zudem auch steigende Absatzmengen. Waren
es 1994 in Wirkstoffen noch unter 30 000 Tonnen,
näherten wir uns 2011 den 45 000 Tonnen; zubereitet
sind das laut BVL 112 000 Tonnen Pflanzenschutzmittel
auf deutschen Äckern. Interessanterweise gab es zwischen 1998 und 2006 eine deutliche Absatzdelle, die ich
an dieser Stelle nicht weiter kommentieren möchte.
Wir beraten heute den Bericht der Bundesregierung
zum „Nationalen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“. Die Steigerungsdaten zeigen ja deutlich genug auf, wie wichtig
es ist, das Thema immer weiter zu begleiten. Schon vor
über zehn Jahren haben wir darüber gestritten, insbesondere mit Ihnen, meine Damen und Herren der Koalition, als Sie damals noch Opposition waren. Mit
Händen und Füßen haben Sie sich gegen den rot-grünen Kurs gewehrt, die Landwirtschaft nachhaltiger zu
gestalten. Damals hieß es noch Reduktionsprogramm,
und seitdem ist viel geschehen. Wirkungsvolle Maßnahmen haben insgesamt zu einer Reduzierung der Belastung unserer Flora und Fauna geführt. Die Messstellen schlagen deutlich weniger aus als noch vor
zehn oder zwanzig Jahren. Ein Großteil dieses Effekts
beruht besonders beim Grundwasser darauf, dass
Stoffe wie Atrazin, die seit Jahrzehnten verboten sind,
ganz allmählich rückläufig sind. Diese langanhaltende
Belastung zeigt mir doch deutlich, wie gerechtfertigt
die strenge Zulassung und der vorsichtige Umgang mit
Pflanzenschutzmitteln sind. Moderne Pflanzenschutzmittel werden weit weniger im Grundwasser gemessen
als alte, und das beweist, wie gut wir daran getan haben, unsere Pflanzenschutzmittelindustrie neu aufzustellen. Die Prüfung der Altwirkstoffe, die Umsetzung
des Pflanzenschutzpaketes und die klaren Kriterien für
die Zulässigkeit von Wirkstoffen waren wegweisende
Schritte, auch wenn sich viele dagegen gewehrt haben,
allen voran die Industrie.
Die Fortschritte möchte ich an dieser Stelle würdigen, doch für mich ist das noch lange kein Grund zum
Aufatmen; denn nach wie vor haben wir erhebliche
Probleme mit Pflanzenschutzmitteln in Gewässern. In
etwa 20 Prozent der Grundwässer werden Rückstände
ermittelt, die zum Teil mit erheblichen Kosten unschädlich gemacht werden müssen, in Oberflächengewässern haben wir insbesondere mit Punkteinträgen
zu kämpfen, und nahezu die Hälfte aller Amphibien
steht auf der Roten Liste und ist vom Aussterben bedroht. Entwarnung ist also nicht geboten.
Pflanzenschutzmittel sind nach wie vor ein Problem, und dieses Problem ist messbar. Entweder sind
die Anwendungsvorschriften falsch, oder sie werden
nicht eingehalten, und wenn wir unser Zulassungssystem nicht grundsätzlich infrage stellen wollen, müssen
wir davon ausgehen, dass die Mittel nicht richtig angewendet werden. Umso wichtiger ist es, die gute fachliche Praxis rechtsverbindlich zu gestalten, Schutzgebiete auszuweiten und die Sachkundenachweise auch
für den Haus- und Kleingartenbereich zu verschärfen.
Bei allen Beratungen und allem Gefeilsche um Reduktionsziele dürfen wir eines nicht aus dem Blick verlieren, nämlich die Kontrolle der Einhaltung von Anwendungsauflagen. Die anspruchsvollsten Ziele helfen nur
wenig weiter, wenn es nicht auch im Vollzug „klare
Kante“ gibt. Das heißt auch scharfe Sanktionen; denn
Missbrauch von Pflanzenschutzmitteln ist kein Kavaliersdelikt, weder in der Landwirtschaft noch im Hausund Kleingartenbereich. Und es kann nicht angehen,
dass die Anwender die Kosten für eine Beseitigung der
angerichteten Schäden beispielsweise in Wasserwerken an die Gemeinschaft abwälzen. Sie, meine Damen
und Herren der Koalition, hatten es in der Hand, die
gute fachliche Praxis verbindlich auszugestalten und
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Vollzug ein effektives Werkzeug in die Hand zu geben. Sie haben Ihre Chance nicht genutzt. Stattdessen
gibt es nur ein stumpfes Schwert. Da brauchen wir uns
nicht zu wundern, dass es - bei allen Fortschritten immer noch erhebliche Probleme mit Pflanzenschutzmitteln gibt.
Wir begrüßen die Vorlage des Aktionsplans. Er enthält viele geeignete und effiziente Maßnahmen und Instrumente sowohl für eine Reduzierung der Belastung
von Gewässern und Böden wie auch zur Eindämmung
der Gefahren für die biologische Vielfalt. Jetzt kommt
es darauf an, dieses Maßnahmenbündel auch umzusetzen und mittels konsequenter Kontrolle der Einhaltung
der Anwendungsauflagen unsere Ökosysteme effektiv
zu schützen. Wir brauchen eine Reduzierung des Pflanzenschutzes auf das tatsächlich notwendige Maß, wir
brauchen moderne Pflanzenschutzmittel und -technik,
wir brauchen zügig eine verbindliche Einführung der
Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes und eine
weitere Ausweitung ökologisch bewirtschafteter Flächen. Der Aktionsplan geht die nächsten Schritte; ob
sie jedoch reichen, die negativen Auswirkungen des
Pflanzenschutzes wirksam und zeitnah einzudämmen,
bleibt abzuwarten. Weitere Schritte nach der Bundestagswahl behalten wir uns auf jeden Fall vor.
Die moderne Landwirtschaft hat für Deutschland
große Bedeutung. Das Bild unserer Landschaft ist in
vielen Regionen durch die Landwirtschaft geprägt.
Landwirtschaft sowie Gemüse- und Obstbau sind
wichtig für eine regionale Versorgung mit hochwertigen Lebensmitteln. Gerade jetzt in der Spargel- und
Erdbeerzeit wissen die Menschen dies zu schätzen.
Die Leistungen von Landwirtschaft und Gemüseund Obstbau sind anzuerkennen. Es gibt keinen
Grund, veraltete Anbaumethoden aus dem Beginn des
letzten Jahrhunderts nostalgisch zu verklären. Die
Produktqualität hat sich seither stetig verbessert.
Es bleibt eine stetige Herausforderung, die Methoden des Pflanzenschutzes zu verbessern, seine Auswirkungen auf Nichtzielorganismen zu minimieren. Die
sachgerechte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln
ist Teil guter fachlicher Praxis in der Landwirtschaft.
Die mit der Zulassung festgelegten Anwendungsbestimmungen, die gute Ausbildung der Landwirte sowie
die sorgfältige Umsetzung der Bestimmungen haben
zur Minderung der Auswirkungen von Pflanzenschutzmitteln auf Nichtzielorganismen beigetragen.
Moderner Pflanzenschutz ist von Vorteil für Mensch
und Umwelt. Pflanzenschutzmittel sind für eine gute
Produktqualität wie auch sichere Ernteerträge unabdingbar. Verschimmelte Erdbeeren, schorfige Äpfel
oder Salat mit Blattläusen sind keine Verkaufsschlager.
Pflanzenschutz hat einen erheblichen gesamtgesellschaftlichen Nutzen. Er trägt zur Sicherung der betrieblichen Einkommen in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau bei und damit auch zur
Sicherung von Arbeitsplätzen im ländlichen Raum. Er
ist ein wichtiger Faktor zur Steigerung der Effizienz
der eingesetzten Ressourcen wie Arbeitskraft, Saatgut,
Energie, Düngemittel und Wasser für die pflanzliche
Produktion auf der Fläche und zur Sicherung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit dieser Produkte.
Die Anwendung verschiedener Pflanzenschutzmittel
vermindert zudem die Möglichkeit der Resistenzbildung bei Schadinsekten. Die FDP setzt sich dafür ein,
den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln soweit irgend
möglich zu minimieren. Ein völliger Verzicht ist im
Sinne der Qualität der Nahrungsmittel und der Ertragssicherheit nicht sinnvoll.
Der Nationale Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln wurde vor dem
Hintergrund des Auftrages aus dem Pflanzenschutzgesetz, das die EU-Pflanzenschutz-Rahmenrichtlinie umsetzt, von der Bundesregierung unter Mitwirkung der
Länder und Beteiligung betroffener Verbände erarbeitet. Er wurde am 10. April 2013 vom Bundeskabinett
verabschiedet. Er ist als Aktionsplan weder Verordnung noch Gesetz und hat keine unmittelbaren Auswirkungen auf Landwirte, Forstwirte oder Gärtner. Er
enthält Selbstverpflichtungen der Bundesregierung
und der Länder und ruft beteiligte Kreise zur Mitarbeit
auf.
Die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln genügt in
Deutschland höchsten Ansprüchen. Doch es bleibt
eine Herausforderung, weitere Erkenntnisse zu ihrer
Anwendung zu gewinnen. Der Verlust an Biodiversität
in der agrarischen Kulturlandschaft ist nach wie vor
besorgniserregend. Es ist jedoch falsch, allein im Einsatz von Pflanzenschutzmitteln die Ursache zu sehen.
Die Bekämpfung von Pilzerkrankungen hat in
Deutschland abhängig von der Witterung eine große
Bedeutung. Pilzerkrankungen mindern nicht nur den
Ertrag, sondern beeinträchtigen durch die von ihnen
gebildeten Pilzgifte die Qualität von Nahrungs- und
Futtermitteln erheblich. In Jahren mit feuchter Witterung gibt es Getreidepartien, die nur noch energetisch
verwertet werden können.
Ohne den Einsatz von Fungiziden würde in
Deutschland nach der Studie „Gesamtgesellschaftlicher Nutzen von Pflanzenschutz in Deutschland“ ein
Wohlfahrtsverlust von jährlich 870 Millionen Euro
entstehen. Allein im Kartoffelanbau würde der Verzicht
auf die Nutzung von Fungiziden Ernteausfälle verursachen, die dem jährlichen Kartoffelkonsum von 60 Millionen Menschen entsprechen. Chemische Fungizide
können nicht durch Kupferhydroxid ersetzt werden.
Eine Studie des Umweltbundesamtes hat die negativen
Auswirkungen von Kupferhydroxid auf die Bodenfauna insbesondere bei der Nutzung in Dauerkulturen
nachgewiesen. Eine Herausforderung ist deshalb die
Minderung des Einsatzes des Schwermetalls Kupfer in
der Bekämpfung von Pilzerkrankungen im konventionellen wie im ökologischen Pflanzenbau. Laut Umweltbundesamt gibt es inzwischen chemische AlternaZu Protokoll gegebene Reden
tiven, die deutlich umweltverträglicher sind und den
Boden weniger belasten als die Verwendung von Kupfer. Der Ökolandbau, der bisher auf das insbesondere
Regenwürmer schädigende Kupferhydroxid setzt,
sollte seine Strategie überdenken.
Das in jedem Jahr durchgeführte Lebensmittelmonitoring zeigt, dass unsere landwirtschaftlichen Produkte nur minimal mit Rückständen von Pflanzenschutzmitteln belastet sind. Laut einer Studie von
Wissenschaftlern der Berliner Humboldt-Universität
belaufen sich die Wohlstandsgewinne durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf etwa 4 Milliarden
Euro pro Jahr. Angesichts der steigenden Weltbevölkerung ist ein effizienter Einsatz der Ressource Boden
unbedingt geboten. Der Ertrag zum Beispiel bei Weizen liegt ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln
etwa um die Hälfte niedriger.
Insektizide aus der Wirkstoffgruppe der Neonicotinoide sind als bienengefährdend eingestuft. Sie dürfen
daher nur unter strengen Auflagen verwendet werden.
Deutschland hat nach den Vorfällen im Sommer 2008
die Bestimmung zur Saatgutbeizung deutlich verschärft und damit in Europa eine Vorreiterrolle eingenommen. Das Bienenmonitoring hat gezeigt, dass in
Deutschland unter den bei uns geltenden Anwendungsbedingungen Bienen nicht gefährdet sind. Diese Auflagen sollten EU-weit vorgeschrieben werden. Die FDP
hält das jetzt von der EU verfügte zweijährige Moratorium für Nutzung von Neonicotinoiden auch für die
Beizung von Saatgut für falsch. Die Beizung von Samen mit systemisch wirkenden insektiziden Wirkstoffen
ist eine gute Methode, um Schadinsekten zu bekämpfen, weil so verlässlich Nichtzielorganismen geschont
werden.
Die gegenwärtige Diskussion um Glyphosat ist völlig überflüssig. Der Wirkstoff wird seit über 40 Jahren
in der Landwirtschaft als Unkrautbekämpfungsmittel
angewendet. Er ist ein Hilfsmittel für die pfluglose Bodenbearbeitung, die den Boden vor Erosion schützt. In
geringem Umfang wird er zur Sikkation, zur beschleunigten Abreifung von Getreide, verwendet. Auch in
Bioprodukten wurde Glyphosat gefunden. Moderne
Pflanzenschutzmittel wie der Wirkstoff Glyphosat sind
bei fachgerechtem Einsatz für Mensch und Umwelt ungefährlich. Berichte aus Südamerika sind ungeeignet,
die Anwendung bei uns infrage zu stellen.
Glyphosat ist das am besten untersuchte Herbizid
weltweit. Das international angesehene Bundesinstitut
für Risikobewertung, BfR, hat unser volles Vertrauen,
die von der EU in Auftrag gegebene Neubewertung bis
2015 auf höchstem wissenschaftlichen Niveau durchzuführen. Glyphosat wird in der EU-Gefahrstoffklassifizierung als reizend und umweltgefährlich eingestuft,
aber nicht als giftig. Der LD50-Wert entspricht dem
von Alkohol und ist damit tausendfach geringer als der
des Pilzgiftes Aflatoxin. Die Aufregung, die das ZDF
veranlasst hat, einen schlecht recherchierten Beitrag
über Glyphosat zu senden, ist fehl am Platz und lenkt
von wirklichen Problemen ab.
Gibt es eine nachhaltige Anwendung von Pflanzenschutzmitteln? Wenn ich meine Pflanzen mit Brennnesselsud behandele oder Schneckenfallen mit Bier aufstelle, ist das nachhaltig? Oder ist es eher Tierquälerei
und Bierfrevel? In jedem Fall wären es überschaubare
Eingriffe ins Ökosystem mit überschaubaren Folgen.
Industriell hergestellte chemische Pflanzenschutzmittel haben bestimmte positive Effekte auf die Pflanzen
und damit auf die Erträge in der Landwirtschaft. Aber
sie haben eben auch negative, schädliche Auswirkungen für Menschen, Tiere und Umwelt.
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist hier und im Titel
des Aktionsplans lediglich Worthülse. Wenn ich es
richtig verstanden habe, ist der Aktionsplan doch eher
ein Plan zur Verringerung des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln. Doch das traut sich die Bundesregierung nicht hinzuschreiben, sonst würde sich ja die
Agrar- und Chemielobby beschweren. Und, mal wieder handelt die Bundesregierung hier nur auf Druck
aus Brüssel. Das kennen wir ja!
Worum geht es nun konkret? Wir verfügen heute
über vielfältige Mittel zum Pflanzenschutz. Das ist
grundsätzlich auch gut so. Was aber, wenn die Biodiversität in Flora und Fauna auf unseren Agrarflächen
wegen des Einsatzes von Pflanzschutzmitteln sich teils
drastisch reduziert hat?
Dieses Problem haben auch die Autoren des Nationalen Aktionsplans, NAP, erkannt: Nutzen und Risiken
des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln sollen abgewogen werden. Ich zitiere aus dem NAP: „Vom ökologischen Landbau ist dabei unter anderem durch das
Verbot chemisch-synthetischer Pflanzenschutzmittel
und vielfältige Fruchtfolgen ein wertvoller Beitrag zur
Wiederherstellung der Biodiversität in der Kulturlandschaft zu erwarten.“
So weit, so gut. Dann aber muss die Bundesregierung endlich mehr als bisher die Forschung zum
Ökolandbau unterstützen und den ökologischen Landbau stärker fördern! Dazu haben Sie alle Parteien der
Opposition schon mehrfach aufgefordert. Sie sagen es
ja auch selbst: Sie beabsichtigen das im Rahmen der
Nationalen Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030.
Nur Zahlen nennen Sie keine dazu. Aber auch hier
muss Ziel sein, dass 20 Prozent der Bundesmittel für
die Agrarforschung dem Ökolandbau zugutekommen.
Sonst sind das hier alles nur Lippenbekenntnisse!
Im NAP steht ausdrücklich, dass ökologische und
integrierte Pflanzenschutzverfahren entwickelt werden
sollen, die mit nur geringen Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln auskommen. Bis 2023 soll der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln um 30 Prozent verringert werden. Ein ehrgeiziges Ziel.
Der NAP geht auch auf die Problematik der Pflanzenschutzmittel in Haus- und Kleingärten ein. Dort
werden sie von Hobbygärtnern oft nicht sachgerecht
eingesetzt. Hier sind umfassende Information, WeiterZu Protokoll gegebene Reden
bildung und der Nachweis der Sachkunde dringend
vonnöten.
Dann liest man im NAP von Leitlinien, die erstellt
werden sollen. Anreize sollen geschaffen werden, „um
die beruflichen Verwender von Pflanzenschutzmitteln
zur freiwilligen Umsetzung von Kulturpflanzen- oder
sektorspezifischen Leitlinien zum integrierten Pflanzenschutz zu veranlassen“. Wie aber wollen Sie diese
pädagogische Leistung vollbringen? Oder wollen Sie
Pflanzenschutzmittel höher besteuern? Dazu sagt der
NAP freilich nichts.
Wir aber werden Sie beim Wort nehmen! Die Linke
wird genau hinsehen, wie Sie den Plan umsetzen oder
ob es wieder einmal bei Ankündigungen und Absichtserklärungen bleibt. Was Ihr Ministerium hier aufgeschrieben hat, dient nicht nur dem Schutz einzelner
Pflanzen. Der NAP soll der Umwelt insgesamt dienen,
sowie der Produktion gesunder Lebensmittel und dem
Schutz der Gesundheit der Bevölkerung.
Die Linke setzt sich dafür ein, dass diese Ziele verwirklicht und nicht den Kapitalinteressen der agrarindustriellen Lobby geopfert werden.
Heute möchte sich die Bundesregierung mit der
Vorstellung ihres „Aktionsplans zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“, NAP, gerne einmal wieder selber loben - wenn es schon sonst kein anderer macht. Leider gibt das, was die Bundesregierung
vorgelegt hat, zu Lob keinerlei Anlass.
Denn die Aufstellung eines nationalen Aktionsplans
ist eine durch europäisches Recht gesetzte Aufgabe.
Die Bundesregierung hat aber die Aufgabenstellung
entweder gar nicht verstanden oder nicht verstehen
wollen. Das Ziel der nationalen Aktionspläne der EUMitgliedstaaten ist durch die EU-Richtlinie 2009/128
klar vorgegeben, nämlich: „die Abhängigkeit von der
Verwendung von Pestiziden zu verringern“.
Doch schon im Vorwort zeigt sich, was der „Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ schon einmal nicht ist: nämlich ein irgendwie
geartetes Reduktionsprogramm für Pestizide. Stattdessen lesen wir ein Loblied auf die Segnungen des chemischen Pflanzenschutzes, also genau das Gegenteil des
von der EU gestellten Arbeitsauftrages. Das ist ungefähr so, als würde man in einem Ratgeber zum Aufgeben des Rauchens erst einmal lang und breit betonen,
wie viel Genuss Zigaretten bereiten und wie viel Steuern sie dem Staat einbringen.
Überraschen kann diese absurde Haltung leider
nicht. Denn die Bevorzugung der Interessen der Agrochemieindustrie auf Kosten von Mensch und Umwelt
zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Agrarpolitik der Bundesregierung. Schwarz-Gelb verfolgt ein Agrarmodell, das auf immer höheren Input
von externen Betriebsmitteln wie Pestiziden und synthetischen Düngemitteln setzt und das bestens bewährte Prinzipien wie mehrgliedrige Fruchtfolgen
oder die gezielte Unterstützung von Nützlingen über
Bord wirft. Dabei wäre es so einfach, auf das in Jahrhunderten angesammelte Wissen zurückzugreifen.
Und es kommt noch schlimmer! Nach dem euphorisch pestizidfreundlichen Vorwort erweist sich der
Rest des Plans als handwerklich so schlecht gemacht,
dass er nicht einmal als Nachwort ernst genommen
werden kann.
Der Grundfehler des NAP schlechthin ist die weiterhin fehlende rechtssichere Definition einer „guten
fachlichen Praxis“ - und das, obwohl sich viele Passagen im NAP auf eben diese Praxis berufen! Besser
kann man nicht um den Brei herumreden! Wegen eben
dieser fehlenden gesetzlichen Definition können nämlich Verstöße gegen die gute fachliche Praxis nicht
wirksam sanktioniert werden. Das Verursacherprinzip
kommt daher nicht zum Tragen. Stattdessen werden die
Folgen solcher Verstöße der Allgemeinheit aufgebürdet, zum Beispiel in Form von hohen Aufbereitungskosten von belastetem Grund- und Oberflächenwasser
im Rahmen der Trinkwassergewinnung.
Auch in den Details des „Aktionsplans“ agiert die
Bundesregierung eher planlos: Viele wichtige Ziele
werden zwar benannt, aber dann nicht mit klaren
Kennzahlen und vor allem Zeitfenstern für die Zielerreichung belegt. So wird zwar im Text mehrfach und
richtigerweise der Ökolandbau als Vorbild für ein
Landbewirtschaftungssystem gepriesen, das vor allem
durch den Verzicht auf Herbizide Maßstäbe für den
Schutz von Wasser, Boden und Artenvielfalt setzt. Endlich hat das auch die Bundesregierung kapiert. Doch
damit ist bei Schwarz-Gelb auch der Höhepunkt der
Erkenntnis erreicht; denn ein Datum für das selbstgesteckte Ziel, die Ökolandbau-Fläche in Deutschland
auf mindestens 20 Prozent auszuweiten, sucht man im
NAP vergeblich. Ja, bis wann soll denn dieses Ziel erreicht werden? Am Sankt Nimmerleinstag, wie die
Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten?
Auch für das Ziel „Reduktion der Belastung von
blütenbestäubenden Insekten mit Pflanzenschutzmitteln“, womit natürlich vor allem die Bienen gemeint
sind, wird weder eine konkrete Zielmarke noch eine
Frist genannt.
Und obwohl der Aktionsplan immer wieder betont,
wie wichtig die Erforschung und Entwicklung von Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz doch seien,
offenbart ein Blick in den Haushalt von Ministerin
Aigner den krassen Unterschied zwischen Schein und
Sein: Gerade einmal 4 Millionen Euro, das ist weniger
als ein Tausendstel ihres Etats, ist Ilse Aigner die Suche nach Chemie-Alternativen wert - kein Wunder,
dass die „Abhängigkeit“ von Pestiziden in Deutschland nach wie vor erschreckend hoch ist!
Was sind die Folgen dieser Politik? Die Praxis erwartet zu Recht eindeutige und verlässliche Signale,
schließlich können für Landwirte oder Gärtner Vorgaben im Pflanzenschutzbereich mit erheblichen Investitionen verbunden sein. Doch statt der notwendigen
Zu Protokoll gegebene Reden
Verbindlichkeit liefert die Bundesregierung wie üblich
Nebelkerzen, auf deren Basis keine seriöse Planung
möglich ist. Planungs- und Investitionssicherheit?
Fehlanzeige!
Mit ihrer Linie „Abwarten und Tee trinken“ nimmt
die Bundesregierung in Kauf, dass die deutsche Landwirtschaft wichtige Weichenstellungen im Pflanzenschutzbereich nicht oder zu spät vornimmt und damit
völlig unnötig an Wettbewerbsfähigkeit verliert. Schon
jetzt fordern verschiedene Handelsunternehmen von
ihren Lieferanten Garantien für die Freiheit der Ware
von Pestizidrückständen oder zumindest Rückstandsmengen, die deutlich unter den offiziellen Grenzwerten
liegen. Der Handel zieht damit - im Unterschied zur
Bundesregierung - Konsequenzen aus den Ergebnissen der amtlichen Lebensmittelüberwachung: Das
Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit stellte in seinem letzten Bericht über die
Rückstandslage im Frühjahr 2012 fest, dass fast
60 Prozent aller getesteten Produkte Rückstände von
Pflanzenschutzmitteln aufwiesen, 40 Prozent sogar
Mehrfachrückstände!
Die Ursache für diese Belastungen ist einfach: Die
offizielle Risikobewertung von Pflanzenschutzmitteln
im Vorfeld ihrer Zulassung funktioniert offensichtlich
nicht. Dieses Defizit birgt nicht nur potenzielle Gesundheitsrisiken für die Anwender und - über Rückstände - auch die Verbraucher. Auch für die landwirtschaftliche Praxis bedeutet es aufwändige Umstellungen der Produktionssysteme, wenn wiederholt und zum
Teil Jahrzehnte nach ihrer Erstzulassung gefährliche
„Nebenwirkungen“ von Pestiziden festgestellt werden,
die zuvor in der amtlichen Risikobewertung auf Basis
von Studien der Hersteller als harmlos eingeschätzt
worden waren. Ob DDT, Atrazin oder zuletzt Glyphosat oder die Neonicotinoide, der Ablauf ist immer der
gleiche: Erst werden neue Pestizide bei der Risikoprüfung nicht entschlossen genug auf mögliche Gefahren
für Mensch und Umwelt überprüft, nach der Zulassung
werden Hinweise auf Risiken zunächst geleugnet oder
ignoriert, bis dann letztlich doch irgendwann ein Verbot unvermeidbar ist.
Mit einem ambitionierten Pflanzenschutzgesetz und
mit Initiativen auf europäischer Ebene hätte die Bundesregierung in den letzten Jahren diesen Missstand
beseitigen können. Doch Aigner und die Regierungsfraktionen haben im 2011 vorgelegten neuen Pflanzenschutzgesetz wissenschaftliche Erkenntnisse zu Defiziten in der Risikobewertung von Pestiziden konsequent
ignoriert, Alternativen zum chemischen Pflanzenschutz eher geschwächt als gestärkt und vor allem die
gesetzliche Definition der guten fachlichen Praxis versäumt.
Die Bundesregierung hätte jetzt immerhin noch versuchen können, diese Defizite durch einen seriösen
und handwerklich sauberen Aktionsplan mit verbindlichen Aussagen und Zielfestsetzungen wenigstens in
Teilen zu heilen. Aber auch diese Chance haben
Aigner & Co. nicht genutzt, und sie haben sie offenkundig auch gar nicht nutzen wollen. Dieser Meinung
waren auch die Umweltverbände, die schon vor Jahresfrist unter Protest das Vorbereitungsgremium des
NAP verlassen haben.
Die Bezeichnung dieses Machwerks führt völlig in
die Irre: Die Bundesregierung hat weder einen Plan
noch ist eine verbindliche Aktion vorgesehen, und mit
Nachhaltigkeit hat das Ganze weniger zu tun als das
Abfackeln von Gas bei der Erdölförderung! Einer Unmenge an Papiertigern fügt die Bundesregierung mit
dem NAP einen weiteren hinzu, in dem viele wohlfeile
Worte stehen, der aber weder die Risiken noch die Abhängigkeit von Pestiziden in Deutschland reduzieren
wird. Kurzum: Eine weitere verpasste Chance, zum
Wohl der Menschen und der Umwelt etwas zu erreichen. Dieser NAP ist ein Nepp!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13076 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir das
gemeinsam so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 40 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Hubertus
Heil ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt
- Drucksachen 17/9974, 17/13927 Berichterstattung:Abgeordneter Johannes Vogel ({2})
In der Tagesordnung hatten wir schon ausgewiesen,
dass die Reden zu Protokoll genommen werden.
„Die Integration der Menschen mit Migrationshintergrund ist für Deutschland eine Schlüsselaufgabe.“
Dies haben wir in der christlich-liberalen Koalition in
unserem Koalitionsvertrag im Jahr 2009 festgeschrieben. Weiter heißt es: „Wir wollen Mitbürgerinnen und
Mitbürger aus Zuwandererfamilien alle Chancen eines
weltoffenen Landes eröffnen und ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglichen. Wir erwarten in gleicher Weise die Aufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft und die
Integrationsbereitschaft der Zuwanderer.“
In Deutschland leben rund 15 Millionen Menschen
mit Migrationshintergrund. Das hat die aktuelle Zensus-Umfrage im Mai 2013 ergeben. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und abnehmender
Bevölkerungszahlen spielt die Zuwanderung von Migranten eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft.
Mittlerweile kommen rund 35 Prozent der unter fünf31466
jährigen Kinder in Deutschland aus einer Familie mit
Migrationshintergrund. In Anbetracht des Fachkräftemangels, den wir bereits vielerorts spüren, gewinnt das
Thema Migration in unserer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik immer mehr an Bedeutung.
In ihrem Antrag „Neue Chancen für Menschen mit
Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt“ kritisiert die
Fraktion der SPD: „Menschen mit Migrationshintergrund haben … nicht die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt wie Menschen ohne Migrationshintergrund.“
Die nachhaltige Integration von Frauen und Männern
mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt ist eine
Aufgabe, der sich alle gesellschaftlichen Akteure gemeinsam stellen müssen. Dabei sind Politik, Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Gesellschaft gleichermaßen gefordert. Wir in der christlich-liberalen
Koalition haben im Zuge unserer Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik die entscheidenden Weichen für eine
nachhaltige Integration von Migranten am Arbeitsmarkt gestellt.
In ihrem Bericht zum Thema „Teilhabe und Zusammenhalt - Integrationspolitik in der 17. Legislaturperiode“ schreibt die Beauftragte der Bundesregierung für Migration und Flüchtlinge, Frau Professor
Dr. Maria Böhmer: „Bei der Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt schneidet Deutschland im
europäischen Vergleich überdurchschnittlich gut ab.
Ausländische Arbeitsuchende finden in der Bundesrepublik wesentlich leichter eine Stelle als in anderen
westeuropäischen Staaten. So stieß nur jeder Dritte,
der in Berlin eine Arbeit suchte, auf Probleme.“ Wir in
der CDU/CSU wollen, dass Deutschland auch in Zukunft ein attraktives Zielland für ausländische Fachkräfte bleibt. Deshalb ist es wichtig, die Qualifikationen ausländischer Fachkräfte anzuerkennen.
In ihrem Antrag stellt die Fraktion der SPD die Forderung: „Diskriminierung beseitigen; Anerkennung
ausländischer Berufsabschlüsse“. Mit dem Gesetz zur
Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen haben wir in der christlich-liberalen Koalition
erstmals einen allgemeinen Rechtsanspruch auf Überprüfung der Gleichwertigkeit eines ausländischen Berufsabschlusses mit einem deutschen Beruf geschaffen.
Mit dem am 1. April 2012 in Kraft getretenen Gesetz
haben wir einen Meilenstein in der Integrationspolitik
geschaffen. Migrantinnen und Migranten erhalten nun
die Chance, sich besser mit ihrem Wissen und ihren
Fähigkeiten auf dem deutschen Arbeitsmarkt einzubringen.
Nach rund einem Jahr zeigen die Praxiserfahrungen und die Vielzahl der eingereichten Verfahren den
Erfolg dieses Gesetzes. Es gibt vielerorts Unternehmen,
Handwerksbetriebe, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, welche schon jetzt auf ausländische Fachkräfte angewiesen sind. Mit dem Anerkennungsgesetz
hat unsere unionsgeführte Bundesregierung ein wichtiges Instrument zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in
Deutschland geschaffen.
Auch die Einführung der Blauen Karte der EU, welche durch unsere Bundesregierung in nationales Recht
umgesetzt wurde, setzt ein wichtiges Zeichen für die
Willkommenskultur unserer deutschen Wirtschaft. Die
Blaue Karte ermöglicht hochqualifizierten Drittstaatenangehörigen den Aufenthalt in der EU und die
Möglichkeit, hier eine Tätigkeit aufzunehmen.
Am 1. Juli 2013 tritt in Deutschland die neue Beschäftigungsverordnung im Bereich des Ausländerbeschäftigungsrechts in Kraft. Mit dieser Verordnung
wird der deutsche Arbeitsmarkt für Fachkräfte aus
Drittstaaten geöffnet, welche eine berufliche Ausbildung absolviert haben.
Die Voraussetzung hierfür ist ein ungedeckter Fachkräftebedarf am deutschen Arbeitsmarkt und ein qualifizierter ausländischer Berufsabschluss, der einem inländischen Abschluss gleichwertig ist.
Um dem Fachkräftemangel in Deutschland zu begegnen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemeinsam mit dem Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie und der Bundesagentur für
Arbeit die Fachkräfteoffensive ins Leben gerufen. In
enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Netzwerken
bietet die Fachkräfteoffensive Unternehmen und Arbeitnehmern mit und ohne Migrationshintergrund eine
Chance, sich über das regionale Fachkräftepotenzial
zu informieren.
In ihrem Antrag fordert die Fraktion der SPD weiterhin: „berufliche Deutschförderung [zu] stärken“.
An dieser Stelle möchte ich entgegnen, dass unsere
christlich-liberale Koalition eine Vielzahl an Maßnahmen zur Integration durch den Erwerb und die Förderung der deutschen Sprache auf den Weg gebracht hat.
Klar ist: Die Beherrschung der deutschen Sprache ist
eine Grundvoraussetzung für die Integration in unseren Arbeitsmarkt. Das „Programm zur berufsbezogenen Sprachförderung für Personen mit Migrationshintergrund“, welches mit Mitteln aus dem Europäischen
Sozialfonds finanziert wird, fördert Personen mit Migrationshintergrund, denen ausreichende Deutschkenntnisse für fehlen. Dieses Angebot richtet sich primär an Arbeitsuchende aus den Bereichen des Zweiten
und Dritten Sozialgesetzbuches, SGB II und SGB III.
Pro Jahr werden damit circa 20 000 Teilnehmer für einen Zeitraum von maximal sechs Monaten gefördert.
Der Erwerb der deutschen Sprache als Schlüssel für
Integration kann nicht früh genug beginnen. Denn insbesondere sprachliche Kompetenzen bei Kindern ebnen den Weg für die spätere Schullaufbahn und den zukünftigen Eintritt ins Berufsleben.
Wir in der christlich-liberalen Koalition wollen,
dass jedes Kind von Anfang an eine faire Chance erhält. Deshalb hat unsere Bundesregierung die „Offensive frühe Chancen: Schwerpunkt Kitas Sprache und
Integration“ ins Leben gerufen. Mit dem Programm
fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend rund 4 000 Schwerpunktkitas in
ganz Deutschland. Ich konnte mich bereits mehrmals
Zu Protokoll gegebene Reden
vor Ort in meinem Wahlkreis Harz von der hervorragenden Arbeit der Schwerpunktkitas überzeugen.
Mit rund 400 Millionen Euro, die der Bund bis zum
Jahr 2014 zur Verfügung stellt, können zusätzliche
personelle Ressourcen in den Kitas geschaffen werden.
Das ist wichtig, um die frühe und systematische
Sprachförderung der Kleinsten in den Kindertageseinrichtungen sicherzustellen.
Die SPD geht in ihrem Antrag auf das Thema Chancengleichheit von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund ein. Darin heißt es: „Jugendliche mit
Migrationshintergrund haben es schwieriger bei ihrem
Start ins Berufsleben.“ Dem widersprechen der aktuelle Berufsbildungsbericht sowie die Ergebnisse des
6. Integrationsgipfels vom Mai 2013. Die Maßnahmen,
die wir zur Förderung von Migrantinnen und Migranten im Nationalen Ausbildungspakt umgesetzt haben,
zeigen erste Wirkung. Die Chancen von Jugendlichen
aus Zuwandererfamilien verbessern sich Stück für
Stück. Das legt den Grundstein für einen erfolgreichen
Übergang von der Schule ins Berufsleben. So ist der
Anteil der ausländischen Jugendlichen ohne Schulabschluss von 12,8 Prozent im Jahr 2010 auf 11,8 Prozent im Jahr 2011 gesunken.
Das Ziel der Chancengleichheit von Migranten ist
jedoch noch nicht hundertprozentig erreicht worden.
Die Ausbildungsanfängerquote junger Ausländer hat
sich lediglich von 29,5 Prozent im Jahr 2010 auf
29,8 Prozent im Jahr 2011 erhöht. Das zeigt, dass es in
Zukunft verstärkt auf die Zusammenarbeit aller am
Ausbildungsmarkt vorhandenen Akteure ankommen
wird.
Es ist unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, im
politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Leben eine gemeinsame Willkommenskultur zu schaffen. Für uns in der CDU/CSU nimmt das Thema Integration eine wichtige Schlüsselrolle unserer Politik
ein. Wir haben einen Nationalen Integrationsplan mit
eindeutigen Zielen beschlossen und zahlreiche Maßnahmen zur Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt umgesetzt. Unser Ziel ist es, Mitbürgerinnen und
Mitbürger aus Zuwandererfamilien an unserem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben
teilhaben zulassen. Das gilt insbesondere für die Integration in den deutschen Arbeitsmarkt. Gleichzeitig
wissen wir, dass dies nur gelingen kann, wenn sich
auch die Migrantinnen und Migranten selbst engagieren und sich aktiv um eine erfolgreiche Integration bemühen. Nur so können wir die erfolgreiche Integrationspolitik unserer Bundesregierung fortsetzen und
die noch bestehenden Hemmnisse weiter abbauen. In
der christlich-liberalen Koalition haben wir hierfür
vieles auf den Weg gebracht. Wir wollen auch in Zukunft mit großem Verantwortungsbewusstsein und Tatkraft den Weg für eine integrative Gesellschaft und einen integrativen Arbeitsmarkt ebnen.
Die im Antrag der SPD genannten Forderungen
sind in weiten Teilen schon heute Bestandteil unserer
Handlungsschwerpunkte im Bereich Integrations- und
Sozialpolitik. Deshalb lehnen wir in der CDU/CSUBundestagsfraktion den vorliegenden Antrag der SPD
ab.
Auch wenn wir die „Migration in der Arbeitswelt“
schon häufig debattiert haben, so sehe ich dieses
Thema immer noch als ein gewichtiges an, das sich zu
diskutieren lohnt. Es ist richtig und wichtig, sich
darüber Gedanken zu machen, wie wir die Chancen
für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt und Integration in unsere Gesellschaft verbessern können. Der uns vorliegende SPD-Antrag entwickelt aber leider keine neuen Ideen oder wichtigen
Impulse, die zu einer Verbesserung der Situation führen würden. Die SPD stellt etliche Forderungen, die in
dieser oder einer ähnlichen Form schon umgesetzt
sind. Das ist nicht zweckdienlich und löst schon gar
keine Probleme.
Stellvertretend möchte ich auf Ihre Forderung nach
vermehrter beruflicher Deutschförderung durch die
Bundesagentur für Arbeit eingehen. Sie wissen doch so
gut wie wir, dass in den Jobcentern schon heute massiv
auf die Leistungsempfänger mit Problemen der deutschen Sprache dahin gehend eingewirkt wird, dass sie
zu Deutschkursen gehen sollen bis hin zur Androhung
von Sanktionsmaßnahmen, wenn die Maßnahmen
nicht durchgeführt werden. Weil wir wissen, wie wichtig die Beherrschung der deutschen Sprache für eine
langfristige Anstellung ist, unterstützen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Jobcentern bei
ihrem teilweise zähen Job, ihre Kunden von der Bedeutung dieser Deutschkurse zu überzeugen.
Leider werden aus unserer Sicht die Potenziale höher qualifizierter Zuwanderinnen und Zuwanderer und
ihrer Kinder bisher nur unzureichend erschlossen. Vor
dem Hintergrund dieser Problemlagen gelten für die
Bundesregierung folgende strategische Ziele: erstens
Beschäftigungs- und Erwerbschancen sowie Qualifizierung erhöhen, zweitens interkulturelle und migrationsspezifische Qualifizierung des Beratungspersonals sicherstellen, drittens betriebliche Integration
verbessern, viertens Fachkräftebasis sichern.
Wichtig ist die frühzeitige Einbindung aller Menschen mit Migrationshintergrund. Deshalb ist ein
wichtiger Bereich die Berufsausbildung. Unser Erfolgsmodell „duale Ausbildung“ ist nicht nur für die
deutschen Jugendlichen ein äußerst erfolgreicher Weg
in eine langfristige Beschäftigung, sondern auch für
die jungen Leute mit ausländischen Wurzeln. Im Ausbildungsbetrieb lernen die jungen Menschen mit ihren
Arbeitskollegen nicht nur die Arbeit, sondern auch die
Sprache und unsere Kultur kennen und integrieren
sich damit Stück für Stück in unsere Gesellschaft. Ich
führe die geringe Jugendarbeitslosigkeit bei uns auch
auf dieses Ausbildungsmodell zurück, ein Modell, das
in den anderen Ländern immer mehr Nachahmung findet, wie ich hervorheben möchte. Und dies ist auch
Zu Protokoll gegebene Reden
kein Wunder. In Spanien waren Anfang dieses Jahres
55 Prozent der unter 25-Jährigen ohne Arbeit, in Griechenland über 60 Prozent, in Italien und Portugal
38 Prozent - im Gegensatz zu Deutschland mit einer
Jugendarbeitslosigkeit von circa 8 Prozent.
Nicht nur im Hinblick auf den Fachkräftemangel,
sondern auch auf eine verbesserte Integration von
Menschen mit Migrationshintergrund, die schon bei
uns im Land sind, haben wir die Beschäftigungsverordnung verändert: Innerhalb der EU ist für jede
Bürgerin und jeden Bürger der Zugang zum deutschen
Arbeitsmarkt uneingeschränkt möglich. Mit der neuen
Beschäftigungsverordnung wird jetzt der Arbeitsmarkt
auch für Facharbeiter aus Nicht-EU-Ländern geöffnet, und durch die erleichterte Anerkennung der absolvierten Ausbildungsabschlüsse wird die Integration
wesentlich erleichtert. Die Bedingungen hierfür sind:
Wer in Deutschland arbeiten möchte, muss prüfen
lassen, ob der Ausbildungsabschluss gleichwertig mit
einer deutschen Berufsausbildung ist. Das Anerkennungsgesetz vom April 2012 gibt dafür Kriterien und
Fristen vor. Das Verfahren kann auch vom Heimatland
aus betrieben werden. Es muss ein entsprechender
Bedarf am Arbeitsmarkt bestehen, den die Bundesagentur für Arbeit ermittelt.
Die CDU/CSU- und die FDP-Bundestagsfraktion
haben frühzeitig die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt
für eine Integration von Menschen mit Migrationshintergrund geschaffen. Es ist gut, dass dadurch jeder
Einzelne unserer Gesellschaft die Chance auf Integration in unsere Gesellschaft und unseren Arbeitsmarkt
bekommt.
Wenn man sich die letzte Veröffentlichung der
Bundesagentur für Arbeit anschaut, besteht klar die
Notwendigkeit, dass wir hier über Integration und die
Verbesserung der Situation für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt debattieren. Der
Statistik zufolge haben 35 Prozent der Arbeitslosen einen Migrationshintergrund. Die Hälfte davon hat
keine abgeschlossene Berufsausbildung. Der Anteil
der Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung liegt laut Statistischem Bundesamt
bei etwa 20 Prozent. Es ist deutlich: Menschen mit
Migrationshintergrund sind in unserem Land leider
häufiger arbeitslos als der Durchschnitt der Gesamtgesellschaft. Selbst diejenigen mit Migrationshintergrund, die einen Berufsabschluss haben, arbeiten oft
unter ihrem Qualifikationsniveau, weil im Ausland erworbene Abschlüsse hier zu selten anerkannt werden.
Das spiegelt die Realität deutlich wider, dass Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland nicht
die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt haben wie
Menschen ohne Migrationshintergrund.
Bei der Diskussion über Integration darf man nicht
nur an Arbeitskräfte und Wirtschaft denken; denn die
gesellschaftlichen Auswirkungen von Migration und
Integration müssen in den Vordergrund gestellt werden. Aber zugleich weiß ich aus meiner persönlichen
Erfahrung, dass wir eine gute und funktionierende
Integration in den Arbeitsmarkt brauchen, um Integration in der gesamten Gesellschaft erfolgreich gestalten
zu können. Für die geleistete Arbeit genießt man
Anerkennung vonseiten der Aufnahmegesellschaft,
und dadurch entwickelt man ein Zugehörigkeitsgefühl
zu dieser Gesellschaft. Und genau dieses Zugehörigkeitsgefühl ist der Kern einer erfolgreichen Integration.
Die Teilhabe beginnt im Bildungssektor, wo Probleme in der Schule, Schwierigkeiten beim Übergang
von allgemeinbildenden Schulen in die Berufsausbildung sowie beim Übergang von der Ausbildung in den
Beruf viele Jugendliche in unserem Land betreffen.
Jugendliche mit Migrationshintergrund haben hier
überdurchschnittlich viele Schwierigkeiten. Bei der
Berufsberatung muss auf die Bandbreite der Ausbildungsberufe geachtet werden; denn viele Jugendliche
mit Migrationshintergrund konzentrieren sich auf die
klassischen Berufe. Außerdem haben Jugendliche mit
Migrationshintergrund bei gleichen Qualifikationen
geringere Chancen auf einen Ausbildungsplatz als
deutschstämmige Jugendliche, und auch in der Weiterbildung werden weniger Menschen mit Migrationshintergrund berücksichtigt. Daher muss die Förderung
von Menschen mit Migrationshintergrund als ein
Schwerpunkt der Arbeitsförderung verankert werden.
Einer aktuellen OECD-Studie zufolge verliert
Deutschland aufgrund der unzureichenden Integration
von Migranten in den Arbeitsmarkt potenzielle Mehreinnahmen in Höhe von 3,5 Milliarden Euro jährlich.
Um diese Kosten der Nichtintegration zu vermeiden,
brauchen wir dringend mehr konkretes Handeln für
die Integration vor Ort. Die Integrationsgipfel sind dafür nicht ausreichend; denn wir brauchen mehr als nur
die Schaufensterpolitik der Regierung Merkel!
Es ist uns allen hier von zahlreichen Studien bekannt, dass Jugendliche, die einen ausländischen
Namen aufweisen, trotz gleicher oder manchmal sogar
besserer Qualifikation seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden. Deshalb brauchen wir
anonyme Bewerbungen. Man soll nur die Qualifikation der Bewerber in Betracht ziehen und nicht ihre
Herkunft.
Ein anderes, zurzeit sehr großes Hindernis der Integration am Arbeitsmarkt ist der immer noch hohe Anteil von im Ausland erworbenen Abschlüssen, die in
Deutschland nicht anerkannt werden. Hier rede ich
nicht nur von akademischen Abschlüssen, sondern von
einer breiten Spanne von erworbenen Berufsqualifikationen. So verliert Deutschland wertvolle Arbeitskräfte. Das muss dringend geändert werden! Wir brauchen mehr Flexibilität und eine Vereinfachung des
Verfahrens für die Anerkennung von ausländischen
Abschlüssen sowie für die Förderung zum Nachholen
eines Schulabschlusses.
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiterhin brauchen wir ein arbeitsmarktpolitisches
Instrumentarium, das direkt an den spezifischen Bedürfnissen von Menschen mit Migrationshintergrund
ausgerichtet wird. Behörden und Botschaften repräsentieren unseren Staat und seinen Umgang mit
Einwanderern. Deshalb müssen die Beratungs-, Informations- und Integrationsangebote schnellstmöglich
wesentlich verbessert werden. Menschen mit Migrationshintergrund müssen stärker als bisher in das Fördergeschehen einbezogen werden. Wir brauchen dringend mehr interkulturelle Kompetenz, interkulturelle
Sensibilisierung sowie Qualifizierung und Begleitung
des Beratungspersonals in Jobcentern, Agenturen für
Arbeit und anderen Einrichtungen. Wir brauchen ein
Arbeitsmarktprogramm „Perspektive MigraPlus“
ähnlich der „Perspektive 50plus“.
Besonders möchte ich das Schicksal derjenigen betonen, die in Deutschland nur mit Duldung leben. Ihnen wird viel zu lange der Zugang zum Arbeitsmarkt
verwehrt. Deswegen brauchen wir dringend eine gesetzliche Garantie, dass Geduldete mit Arbeitserlaubnis von den Agenturen für Arbeit und Jobcentern beraten werden müssen. Und wir müssen diese Menschen
fördern. Leider lässt Ministerin von der Leyen jedoch
aktuell das ESF-Projekt zur Integration von Bleibeberechtigten und Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt
trotz großer öffentlicher Kritik auslaufen! Das ist ein
Fehler; denn die Daten zeigen: Wir brauchen mehr
und nicht weniger Unterstützung bei der Integration in
den Arbeitsmarkt!
Das sind nur einige der Forderungen unseres umfassenden Antrages, die dafür sorgen sollen, dass
Menschen mit Migrationshintergrund mehr Chancen
auf dem Arbeitsmarkt haben. Integration ist etwas, das
von beiden Seiten geleistet werden muss. Aber damit
die eine Seite überhaupt etwas leisten kann, müssen
wir als Politiker zunächst reale Chancen für die Integration in den Arbeitsmarkt für jeden in unserem Land
schaffen. Die Umsetzung unserer SPD-Vorschläge ist
entscheidend für eine bessere Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in unseren Arbeitsmarkt; denn das brauchen wir sowohl für jeden einzelnen Betroffenen als auch für unseren wirtschaftlichen
Erfolg. Daher bitte ich um Zustimmung zu unserem
Antrag.
Schon in der ersten Beratung ist nicht ganz klar geworden, was jetzt eigentlich der genaue Mehrwert Ihres Antrags sein soll. Auf mich wirkt das Ganze nach
wie vor wie eine reichlich zufällige Zusammenstellung
von allerlei Dingen, die einem einfallen, wenn man
einmal danach fragt, was eigentlich für Migranten und
Migrantinnen zu tun sei. Das ist aber - darauf haben
auch schon viele Kollegen in der ersten Beratung hingewiesen, und ich bitte Sie, diese Bemerkung nicht zu
persönlich zu nehmen - etwas oberflächlich. Einige
zentrale Punkte, die Sie fordern, sind schon lange umgesetzt, und natürlich komme ich nicht umhin, das
noch einmal aufzuzählen. Die Bundesagentur für Arbeit engagiert sich beispielsweise bereits seit längerem
in der Sprachförderung von Migranten; trotzdem fordern Sie das. Sie hat ja im Übrigen unter dieser Regierung auch erstmalig Daten zur Arbeitsmarktsituation
von Menschen mit Migrationshintergrund vorgelegt,
und zwar im Mai 2012. Seitdem wissen wir mehr, nämlich dass ziemlich genau 35 Prozent der Arbeitslosen
einen Migrationshintergrund haben. Und die zentrale
Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für
Arbeit führt Anerkennungsberatungen keineswegs nur
für Akademiker durch, wie Sie meinen, sondern auch
bezüglich nicht akademischer Berufsabschlüsse. Aktuell geschieht das etwa verstärkt bei den Pflegeberufen. Ähnliches gilt für das Recht darauf, einen Schulabschluss nachzuholen. Auch hier haben wir schon
eine Regelung im Sozialgesetzbuch III und vieles mehr.
Abgesehen davon finde ich, dass diese Bundesregierung mit Blick auf den gesamten Themenkomplex Einwanderung eine sehr respektable Bilanz hat. Das können wir gerne mit der Bundesregierung und der
Koalition vergleichen, die 2009 abgewählt worden ist.
Sie verweisen ja zu Recht auf die zentrale Frage nach
der Anerkennung der Berufsabschlüsse. Und wir sehen
doch schon jetzt, dass es notwendig und richtig war,
ein Anerkennungsgesetz zu beschließen, das die Möglichkeiten zur Anerkennung von im Ausland erworbenen Berufsqualifikationen erheblich verbessert. Seit
April 2012 steht der allgemeine Rechtsanspruch auf
Überprüfung eines ausländischen Berufsabschlusses
im Bundesgesetzblatt. Das ist ein großer Erfolg, für
sich genommen und allemal im Vergleich zur Bilanz
voriger Bundesregierungen. Einen ähnlichen Paradigmenwechsel haben wir im Rahmen der Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente erreicht, indem wir
die Förderungsmöglichkeiten der beruflichen Weiterbildung nicht nur erhalten, sondern weiterentwickelt
haben. Gerade die Weiterbildung von unter 45-jährigen Arbeitnehmern in kleinen und mittleren Unternehmen ist auch für Migranten und Migrantinnen von besonderem Interesse, weil viele von ihnen natürlich sehr
wohl in den deutschen Arbeitsmarkt integriert sind,
dies aber häufig genug trotz ihrer Qualifikation und
nicht wegen dieser geschafft haben. Diese neuen Möglichkeiten kommen ihnen also entschieden zugute. Hier
könnte man noch lange weitererzählen, gerade das
Aufenthalts- und Niederlassungsrecht böte hier genügend Spielraum. Ich mache das noch einmal, aber kurz
und verständlich: Deutschland ist traditionell ein Einwanderungsland. Dass dies lange Jahre in Abrede gestellt wurde, ist eine große Dummheit gewesen. Dass
dies heute zumindest die große Mehrheit von uns und
die Öffentlichkeit anders sehen, ist eine, wenn nicht
überhaupt die wichtigste grundsätzliche Entwicklung,
die es in unserer Politik und Gesellschaft zuletzt gegeben hat. Auch wenn wir diesen Antrag von Ihnen ablehnen, bedanke ich mich gerne noch einmal dafür,
dass Sie seinerzeit mit uns gestimmt haben, als es darum ging, die Hürden für Einwanderung massiv zu
Zu Protokoll gegebene Reden
Johannes Vogel ({0})
senken - auch wenn wir hier noch nicht ganz am Ziel
angekommen sind.
Schließlich darf ich noch einmal etwas grundsätzlicher werden. Für alle Menschen, auch für solche mit
Migrationshintergrund, ist ein Arbeitsmarkt von Vorteil, in dem neue Jobs entstehen und der nicht durch
Überregulierung seine Offenheit verliert. Ich bin mir
sicher, dass das für viele Menschen auch im Herbst
den Ausschlag geben wird.
Wer keine Erwerbsarbeit und kein ausreichendes
Einkommen hat, ist in der heutigen Gesellschaft von
sozialer Ausgrenzung bedroht. Wer erwerbslos ist, bekommt zumeist längstens zwölf Monate Arbeitslosengeld I und stürzt dann in das Hartz-IV-System ab. Viele
erlangen erst gar keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld I und bekommen gleich Hartz IV. Das bedeutet Armut und Ausgrenzung per Gesetz. Mit Sanktionen und
Leistungskürzungen wird versucht, die Erwerbslosen
in meist unsinnige Maßnahmen oder schlechte Jobs
abzudrängen. Gefördert werden sie dagegen kaum.
Besonders darunter leiden Migrantinnen und Migranten. Sie sind von einer Gesetzgebung im Niedriglohnbereich überproportional betroffen, die Leiharbeit im
heutigen Ausmaß erst möglich gemacht hat. Ihre
Arbeitslosenquote ist doppelt so hoch. Jeder zehnte
Minijobbeschäftigte hat Migrationshintergrund. Mehr
als ein Drittel der Beschäftigten, 36,4 Prozent, haben
einen Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle.
Die Folge ist, dass Menschen mit Migrationshintergrund mit 28,2 Prozent deutlich stärker als Deutsche
von Armut betroffen sind.
Das ist weder Schicksal, noch liegt es an den Migranten. Es liegt an der unsozialen und ausgrenzenden
Politik der bisherigen Bundesregierungen. Es ist nicht
vordergründig eine Frage der Sprachbeherrschung,
wie die Bundesregierung immer wieder gebetsmühlenartig versucht, den Menschen weiß zu machen. Aus der
Praxis wissen wir, dass Kenntnisse der deutschen
Sprache wichtig, aber nicht ausreichend sind für eine
gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft. Viele
Migrantinnen und Migranten beherrschen die deutsche Sprache. Trotzdem ändert das nichts bzw. kaum
etwas an ihrer Situation auf dem Arbeitsmarkt, auch
wegen Diskriminierungen und Benachteiligungen aufgrund ihrer Herkunft. Und schon gar nicht ändert das
vom Kollegen Lange angesprochene Fachkräftekonzept irgendetwas. Im Gegenteil: Deutschland gehört zu
den OECD-Ländern mit den rechtlich geringsten
Hürden bezüglich der Fachkräftemigration. Trotzdem
werden die in Deutschland lebenden Fachkräfte einer
weiter verschärften Konkurrenzsituation auf dem
Arbeitsmarkt durch die letztes Jahr beschlossene BlueCard-Regelung ausgesetzt. Diese ist ein weiterer
Schritt in Richtung Lohndumping. Das Einstiegsgehalt
von Fachkräften in Deutschland liegt bei rund
48 000 Euro. Da die Zuwanderungsgrenze bei
42 000 Euro liegt, ist sie deutlich unter dem Durchschnittsverdienst einer Fachkraft von 65 000 Euro und
auch unter dem jetzigen Einstiegsgehalt. Bei Ingenieuren oder Ärzten liegt die Hürde nun gerade bei
35 000 Euro. Zu den teilweise negativen Auswirkungen auf die Herkunftsländer werde ich hier jetzt nicht
weiter eingehen; der Bundesregierung sind diese aber
ohnehin egal. Hier werden lange in Deutschland
lebende Migrantinnen und Migranten gegen Neuzuwandernde ausgespielt werden.
Der Skandal ist, dass einerseits Menschen als Lohndrücker instrumentalisiert werden und man andererseits die Benachteiligungen von Migrantinnen und
Migranten insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, im
Umgang mit Behörden und in Bildungsinstitutionen
nicht wirklich bekämpfen will. Das betrifft auch die
vollkommen unzureichende Regelung hinsichtlich der
Anerkennung von ausländischen Abschlüssen. In der
Debatte zu diesem Antrag erklärte Johannes Vogel von
der FDP, dass es sich bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen um „die zentrale Herausforderung“ im
Bereich der Integration handele. Wenn dem so ist,
stimmt es umso bedenklicher, dass das mit jahrelanger
Verspätung verabschiedete Anerkennungsgesetz so
eklatante Lücken und Schwächen aufweist wie: fehlende Gesetze in den Bundesländern, keine einheitlichen Ansprech- und Beratungsstellen, hohe Kosten,
fehlender Anspruch auf Weiterqualifizierung usw.
Die Linke hatte bereits im Jahr 2007 die Erarbeitung eines Anerkennungsverfahrens gefordert, Bundestagsdrucksache 16/7109 - da war noch kaum jemand sich dieses komplexen Problems überhaupt
bewusst. Aber dieser Antrag der Linken wurde, wie so
häufig, von allen anderen Fraktionen, inklusive der
SPD, abgelehnt. Die Grünen hatten sich enthalten.
Das Problem wurde also zulasten der Migrantinnen
und Migranten erst einmal auf die lange Bank geschoben. In diesem Antrag hatten wir auch schon unter
Bezug auf OECD-Daten darauf hingewiesen, dass es
gerade bei der Beschäftigung von hoch qualifizierten
Ausländerinnen und Ausländern Probleme gibt, während die Beschäftigungsquote der gering qualifizierten
Migranten sogar über der von gering qualifizierten
Deutschen ohne Einwanderungsgeschichte liegt. Und
auch 2007 schon lagen Erkenntnisse über die schlechteren Vermittlungschancen von Migrantinnen und
Migranten bei gleicher Qualifikation vor. Seitdem hat
sich leider kaum etwas zum Besseren gewandelt.
Zutreffend werden im Antrag bestehende strukturelle Diskriminierungen von Migranten am Arbeitsmarkt und Benachteiligungen in den Bereichen
Arbeitsvermittlung, Beschäftigung, Qualifizierung
usw. beschrieben. Allerdings gehört für die Linke das
Ziel gleicher Rechte, die individuelle Perspektive der
Betroffenen und ihr Anspruch auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit in den Vordergrund - und nicht,
dass „wir“ es uns „angesichts des demografisch bedingten Rückgangs des Erwerbspersonenpotenzials
nicht leisten" können, „dass Talente unentdeckt bleiben“, wie es im Antrag eingangs formuliert wird. Es ist
Zu Protokoll gegebene Reden
schon bemerkenswert, dass bei allen Fraktionen immer wieder erst der vermeintliche oder erhoffte Nutzen
kommt, bevor dann quasi als Anhängsel das Ziel von
„Teilhabe“ nachgeschoben wird. Wir finden nicht,
dass politische und soziale Rechte unter irgendeinem
wie auch immer definiertem Nutzenvorbehalt stehen
sollten.
Fast alle konkreten Einzelforderungen in dem Antrag können wir unterstützen. Sie sind auf eine Beseitigung vorhandener Diskriminierungen und Defizite und
auf die individuelle Förderung der Beschäftigung von
Migranten gerichtet - leider nur im bestehenden System. Auch wir fordern zum Beispiel die Aufhebung von
rechtlichen Einschränkungen für den Zugang zum
Arbeitsmarkt, eine wirksame Anerkennung der im
Herkunftsland erworbenen Qualifikationen und Weiterqualifizierungsmaßnahmen, eine Anhebung des Beschäftigtenanteils von Migrantinnen und Migranten,
individuelle Förderung bei der Arbeitsvermittlung, die
Gewährung eines gleichberechtigten Zugangs zu betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen sowie zu berufsvorbereitenden Maßnahmen, eine
berufsbezogene Sprachförderung und die besondere
Berücksichtigung und Förderung der Zwei- und Mehrsprachigkeit. Doch im Gegensatz zu den anderen
Fraktionen stellen wir das gegebene Instrumentarium
der Arbeitsmarktförderung und das Sanktionsregime
des SGB II grundlegend infrage. Kein Wunder also,
wenn in dem Antrag jede Kritik in Bezug auf die von
der SPD zu verantwortende Politik der Agenda 2010
fehlt, und das, obwohl diese sich auf die Beschäftigungslage von Migrantinnen und Migranten besonders negativ ausgewirkt hat. Migrantinnen und Migranten sind in besonderer Weise betroffen von der
Gesetzgebung zum Niedriglohnbereich, zu Leiharbeit,
von einem fehlenden gesetzlichen Mindestlohn, prekärer Beschäftigung und vom Armuts- und Sanktionsregime Hartz IV. Hierzu findet sich in dem Antrag leider nichts. Deshalb können wir uns im Ergebnis nur
enthalten.
Die Gesellschaft erwartet, dass wir unseren Lebensunterhalt selbstständig sichern können. Dafür müssen
wir in der Regel einer Arbeit nachgehen. Am Arbeitsplatz knüpft man auch Kontakte und erfährt Wertschätzung. Erfüllt jemand nicht diese gesellschaftliche
Norm, fühlt er sich oft nicht vollwertig und zieht sich
zurück. Trotz der relativ erfolgreichen Teilhabe der Bevölkerung mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt
besteht noch immer eine Kluft zur Erwerbstätigkeit der
alteingesessenen Bevölkerung. Laut einem Bericht der
Bundesagentur für Arbeit über die Entwicklungen am
Arbeitsmarkt haben knapp 35 Prozent der Arbeitslosen
einen Migrationshintergrund.
Menschen mit Migrationshintergrund werden immer noch am Arbeitsmarkt in einem hohen Maße diskriminiert. Zu diesem Ergebnis kommen gleich mehrere wissenschaftliche Studien, unter anderem auch
eine des Bundesinstitutes für Berufsbildung. Hier wird
dargelegt, dass Benachteiligungen wegen der ethnischen Herkunft in Deutschland leider weit verbreitet
sind. Eine aktuelle Studie des Nürnberger Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, dass Einwanderer inzwischen über ein höheres Bildungs- und
Qualifikationsniveau als die deutsche Stammbevölkerung verfügen.
Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt hat viele Gesichter. Frauen, Menschen mit einer psychischen oder
körperlichen Einschränkung und ältere Menschen haben es ähnlich schwer. Am schwersten haben es Menschen, bei denen diese Faktoren kombiniert aufeinander treffen. Dabei sollte am Arbeitsmarkt nur die
Leistung zählen und sonst nichts! Dass das nicht so
läuft, zeigt auch die Wahl des Schwerpunktthemas des
diesjährigen Integrationsgipfels: der Zugang von Migrantinnen und Migranten zum Arbeitsmarkt. Auf dem
Gipfel zeigte sich selbst die Kanzlerin unzufrieden
über die Lage der Einwanderinnen und Einwanderer
am Arbeitsmarkt. Sie gab sogar zu, dass Unternehmer
mit Migrationshintergrund hierzulande noch immer
strukturell benachteiligt werden, etwa bei der Kreditvergabe. Auf die Diskriminierung von nicht Selbstständigen am Arbeitsmarkt ging sie nicht einmal ein. Man
sagt, dass späte Einsicht besser ist als keine Einsicht.
Dennoch fragt man sich, wieso Frau Merkel all die
Jahre in der Regierung nichts dagegen unternommen
hat. Warme Worte helfen Betroffenen genauso wenig
wie verspätete Lippenbekenntnisse.
Letztes Jahr erst hatte die Bundesregierung den
„Nationalen Aktionsplan Integration“ ins Leben gerufen. Die Teilnehmenden des Gipfels haben sich damals
zu 400 Maßnahmen verpflichtet. Darunter waren bessere Sprach- und Integrationskurse ebenso Ziele wie
die Einbeziehung von mehr Migranten in den öffentlichen Dienst. Konkrete Maßnahmen sucht man gerade
zum letzten Punkt jedoch vergeblich. Bei der Koalition
mangelt es nicht an Geständnissen, aber an Verbindlichkeit und am Nachdruck bei der Umsetzung schön
klingender Absichtserklärungen.
Frau Merkel betonte beim Integrationsgipfel, dass
auch im öffentlichen Dienst gezielt gehandelt werden
muss. Recht hat sie! Dort erwartet sie nämlich die
größte Parallelgesellschaft in Deutschland. Kaum Angestellte mit ausländisch klingenden Namen sind dort
anzutreffen. Wir Grünen setzen uns für die interkulturelle Öffnung der Verwaltung ein: Wir brauchen endlich klare und überprüfbare Selbstverpflichtungen im
Bund und in den Ländern, um Menschen mit Einwanderungsgeschichte entsprechend ihres Bevölkerungsanteils im öffentlichen Dienst zu beschäftigen. Entsprechendes gilt aber zumindest auch für die Anbieter
sozialer Dienste - die ja zu den größten Arbeitgebern
Deutschlands zählen.
Deutschland befindet sich bei der Arbeitsmarktintegration von Eingewanderten leider nur im Mittelfeld
der OECD-Länder. Gründe dafür sind neben den Diskriminierungen bei der Arbeitsplatzsuche unzureichende Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse, hohe
Hürden bei der Einbürgerung, die noch immer manZu Protokoll gegebene Reden
gelnde Anerkennung von ausländischen Abschlüssen
und die Chancenungleichheit im Bildungssystem.
Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden! Die
Bundesregierung muss die Grundvoraussetzung dafür
schaffen, dass alle am Arbeitsmarkt gleich behandelt
werden.
Dafür ist erstens notwendig: Die Vorrangprüfung,
wonach zuerst Einheimische bei der Vergabe von offenen Stellen durch das Arbeitsamt bevorzugt werden,
muss weiter gelockert werden.
Zweitens. Das anonyme Bewerbungsverfahren muss
dringend die Regel bei der Einstellungspolitik werden,
nicht die Ausnahme!
Die staatlichen Einrichtungen sollen mit einer
neuen Einstellungspolitik ein Vorbild für den privaten
Sektor werden. Sie sollen folgende zwei Eigenschaften
als Pluspunkt werten:
Erstens: interkulturelle Kompetenzen; und zweitens: zusätzliche Muttersprachen. Diese Fähigkeiten
verdienen eine positive Berücksichtigung bei der Einstellungspolitik.
Einen besonderen Handlungsbedarf sehe ich bei der
Arbeitsverwaltung. Die Jobvermittler müssen interkulturell geschult und die Arbeitsagenturen mit der Migrationsberatung vernetzt werden. Da haben wir noch
großen Nachholbedarf.
Ich komme zum Fazit: Der SPD-Antrag hat konstruktive Vorschläge zur Weiterentwicklung bestehender Ansätze. Im Kern lese ich ihn jedoch nicht als
Grundsatzkritik am schwarz-gelben Regierungshandeln. Um Menschen mit Migrationshintergrund neue
und nachhaltige Chancen am Arbeitsmarkt zu ermöglichen, ist weit mehr nötig als in dem Antrag vorgeschlagen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13927, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9974 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten.
Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel
Knoerig, Dr. Philipp Murmann, Dr. Heinz
Riesenhuber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Martin Neumann ({0}), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Industrie 4.0 - Forschung, Entwicklung und
Bildung für die Digitalisierung der Industrieproduktion
- Drucksache 17/13889 In der Tagesordnung hatten wir schon ausgewiesen,
dass die Reden zu Protokoll genommen werden.
Mit dem Antrag „Industrie 4.0“ haben wir zum
Ende der Legislaturperiode ein innovationspolitisches
Meisterstück der Hightech-Strategie vorliegen. Die
Opposition hat sich mit Industrie 4.0 überhaupt nicht
auseinandergesetzt. Sie hat es verschlafen. Sie zeigt
damit ihre technologiepolitische Rückständigkeit und
Interessenlosigkeit. Und damit bleibe ich bei meinem Votum: Die Forschungs- und Bildungspolitik der schwarzgelben Koalition zeigt vor allem bei Industrie 4.0 Augenmaß und Verantwortung, um den digitalen Wandel berechenbar zu machen und zu gestalten.
Gleichzeitig haben wir die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft weiter gestärkt.
Dazu wurden in der Forschungsförderung neue Maßnahmen und Instrumente eingeführt. Grundgedanke
der Hightech-Strategie ist es, dass Innovationen vor
allem durch neue Technologien und gesellschaftliche
Veränderungen entstehen. Daher wurden diese Trends
in den Förderprogrammen besonders berücksichtigt.
Als ein Einzelziel der Hightech-Strategie werden somit
Leitmärkte und Leitbranchen vorrangig gefördert. Gerade die Branche der Informations- und Kommunikationstechnik ist in den letzten Jahren stark gewachsen.
So stieg die Zahl der Beschäftigten seit 2008 um
8,5 Prozent.
Deutschland ist führend, was das Angebot für die
sogenannte intelligente, vernetzte Produktion angeht.
Fast 80 Prozent aller Innovationen hierzulande gehen
inzwischen auf Produktionstechnologien zurück. In
meinem Wahlkreis Diepholz-Nienburg spielt die Produktionsbranche im Bereich der Logistik eine große
Rolle. Die Berufsbildenden Schulen in Syke betreiben
eine Logistikhalle, an der 25 Firmen beteiligt sind.
Dieses Wirtschafts- und Ausbildungscluster ist in der
Bundesrepublik einmalig. Fachkräfte werden dort ausgebildet und eingesetzt, wo der regionale Wirtschaftsstandort sie braucht.
Um unserer Produktionsbranche langfristig die
Spitzenposition auf dem Weltmarkt zu sichern, wurde
das Projekt „Industrie 4.0“ gestartet. Es ist eines von
zehn Zukunftsprojekten der Hightech-Strategie und
wurde auf einen Zeitraum von 15 Jahren angelegt. Industrie 4.0 ist eine große Herausforderung; denn das
Projekt schließt gleich vier wichtige Aspekte der Zukunft ein: die Wettbewerbsfähigkeit des Hochlohnstandortes Deutschland, die Ressourcen- und Energieeffizienz unseres Landes, den demografischen Wandel,
die urbane Produktion. Dabei kommt es hauptsächlich
darauf an, komplexe, arbeitsteilige und geografisch
verteilte Prozesse zu steuern.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang inzwischen
von der vierten industriellen Revolution. Gemeint ist
damit die Digitalisierung der Produktion. Diese ist bereits voll im Gange. Schon heute werden in den Fabriken Maschinen über das Internet gesteuert. Häufig erAxel Knoerig
folgt die Steuerung auch über Funkchips und digitale
Systeme. Industrie 4.0 wird die Produktionsabläufe,
wie wir sie heute kennen, zunehmend verändern. So
werden Produkte immer stärker individualisiert. Großserien können jetzt schon in hoher Flexibilität hergestellt werden. Und unter dem Begriff „hybride
Produktion“ werden Herstellung und hochwertige
Dienstleistungen miteinander gekoppelt. Kunden und
Geschäftspartner können intensiver in Fertigungsprozesse und Wertschöpfungsketten integriert werden.
Die Digitalisierung der Produktionsanlagen geht
einher mit der digitalen Veredelung industrieller Produkte. Das Ergebnis sind hochwertige Erzeugnisse wie
zum Beispiel allgemeine Gebrauchsgegenstände mit
integrierter Speicher- und Kommunikationsfähigkeit,
Funksensoren, eingebettete Aktuatoren, intelligente
Softwaresysteme.
Unsere Zukunft wird vom „Internet der Dinge und
Dienste“ bestimmt. Genau wie im Internet werden
physikalische Objekte mit virtueller Darstellung verknüpft. Das bedeutet für die Industriefertigung: Produktion und Produkt werden in einem umfassenden
Entwicklungs- und Herstellungsprozess miteinander
verbunden. Dieser Vorgang erfolgt in sogenannten
Konzept- und Modellfabriken. Sie werden auch Smart
Factories genannt.
Ein weiterer Baustein dieser Digitalisierung sind
die sogenannten Cyber-Physical Systems, CPS. Sie bilden eine Einheit aus computertechnischen und physikalischen Systemen. Ihre Aufgabe ist es, eingebettete
Informations- und Kommunikationstechnologie mit
dem Internet zu vernetzen. Man spricht hier auch von
IKT-Systemen. Die Produktionsabläufe in einer Fabrik
werden mit CPS dahin gehend flexibilisiert, dass die
Maschinen selbstorganisatorisch die Komponenten
konfigurieren sowie die Produkte integrieren. Damit
ist es möglich, eine Ware mit einem kommunikationsfähigen Sensor, etwa einem Funkchip, auszustatten. Die
Produktion wird dahin gehend revolutioniert, dass das
Werkstück ein digitales Gedächtnis bekommt.
Aufgrund der genannten Entwicklungen werden
sich in der Industrieproduktion die klassischen Produktionshierarchien auflösen. Die zentrale Steuerung
wird von dezentraler Selbstorganisation abgelöst.
Als Mitglied der Arbeitnehmergruppe der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion kann ich nur immer wieder
sagen, dass die Auswirkungen der Digitalisierung auf
die Arbeitswelt immens sein werden. Die ganze Produktionslogik wird in ihren bekannten Abläufen langfristig umgewandelt. Die Folgen für die Arbeits-, Produktions- und Logistikstrukturen sind gewaltig. Es
werden neue Kooperationsformen zwischen Mensch
und Technik entstehen. Arbeitsplätze müssen dementsprechend völlig neu definiert werden. Diese enormen
Veränderungen müssen sozialverträglich in die Gesellschaft integriert werden. Wirtschafts- und sozialpolitische Fragen greifen hierbei ineinander.
Für diese großen Herausforderungen haben wir bereits die Weichen gestellt. Mit unserer vorausschauenden Bildungs- und Forschungspolitik, die bedeutende
Zukunftsprojekte wie Industrie 4.0 fördert, werden wir
den Innovationsstandort Deutschland auch weiterhin
nach vorn bringen.
Was spannend, technisch und - sagen wir - groß
klingt, ist es auch. „Industrie 4.0“ ist mehr als nur ein
Schlagwort. „Industrie 4.0“ steht für einen Paradigmenwechsel in der industriellen Fertigung.
Keiner kann besser erklären, was hinter diesem
Begriff steckt, als der oder zumindest einer der Väter
von Industrie 4.0, Professor Dr. Wolfgang Wahlster,
Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen
Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, kurz
DFKI. Was Industrie 4.0 konkret heißt, beschreibt er
folgendermaßen: „Maschinen in der Fertigung sind
vernetzt und tauschen ihre Informationen zur Steuerung untereinander aus. Produkte steuern ihren Fabrikationsprozess selbst und übernehmen ihre eigene
Qualitätskontrolle. Die Interaktion zwischen Bediener
und Produktionslinie wird über mobile Endgeräte wie
Smartphones oder Tablet-PCs möglich sein. Der
Mensch steht dabei im Mittelpunkt und erhält durch intelligente Ausbildungs- und Assistenzsysteme in Echtzeit Unterstützung. Es entsteht also die intelligente Fabrik, die Smart Factory, in der statt einer starren,
dezentralen Fabriksteuerung die einzelnen Fertigungsanlagen und sogar die Produkte selbst dezentral
intelligent miteinander kommunizieren und so selbst
einen aktiven Part in der Steuerung und Logistik der
Fabrik darstellen.
Dies hat mehrere Vorteile: Produktionsprozesse
können sehr flexibel und dynamisch gestaltet werden.
Qualität, Zeit, Umweltverträglichkeit werden dadurch
zu variablen Dimensionen. Auch Kleinstmengen können rentabel und individualisiert produziert werden;
dies macht ein Eingehen auf spezifische Kundenwünsche möglich. Ressourcen werden effektiver als bisher
genutzt; dies spart Energie, Zeit und Material. Auch
auf kurzfristige Veränderungen bei Störungen oder
Veränderungen im Marktumfeld kann flexibel und
schnell reagiert werden. Damit wird die Wertschöpfung ständig optimiert. Schließlich bietet Industrie 4.0
völlig neue Geschäftsmodelle durch neue Dienstleistungen im B2B-Bereich. Gerade für KMU und Startups bietet diese Entwicklung somit großes Potenzial.
Das sind eine Reihe von Vorteilen mit enormen
Chancen für unsere Wirtschaft. Doch auch im gesellschaftlichen Bereich wird diese Revolution zu neuen
Möglichkeiten führen. Schließlich wird die Produktion
auch im Hinblick auf den Arbeitnehmer personalisierter, sodass es besser als bisher möglich ist, sich auf die
individuellen Fähigkeiten, das Tempo und den Takt des
Mitarbeiters einzustellen. Vor dem Hintergrund des
demografischen Wandels mit einer größeren Zahl älterer Arbeitnehmer bietet dies interessante Potenziale.
Zu Protokoll gegebene Reden
Nadine Schön ({0})
Klar ist: Diese Chancen im wirtschaftlichen wie im
gesellschaftlichen Bereich müssen wir nutzen. Schließlich haben wir die besten Voraussetzungen, um Industrie 4.0 zum Markenzeichen Deutschlands zu machen.
Deutschland ist weltweit bekannt für seine Produkte
Made in Germany aus Maschinen- und Anlagenbau.
Gleichzeitig haben wir die Innovationsführerschaft bei
Automatisierungstechnik und im Bereich der Imbedded Systems. IT-Kompetenz aus Deutschland wird geschätzt, die Start-up-Szene im IT-Bereich gehört zu den
dynamischsten in der Welt. Und schließlich haben wir
leistungsfähige Forschungseinrichtungen. Aufgabe
von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik ist es also
nun, Ingenieurskunst und IT-Kompetenz erfolgreich zu
vernetzen. Und genau das tun wir; etwa dadurch, dass
Industrie 4.0 zu einem der Zukunftsprojekte in der
Hightech-Strategie der Bundesregierung gemacht
wurde mit den entsprechenden Initiativen.
In meiner Heimat, dem Saarland, findet in diesem
Zusammenhang genau heute in einer Woche ein Kongress statt zu Industrie 4.0. Hochrangig besetzt mit
Professor Wahlster und unserer Ministerpräsidentin,
Frau Annegret Kramp-Karrenbauer, wird Industrie 4.0
erklärt, anhand einer Smart Factory anschaulich dargestellt und vor allem der mittelständischen Wirtschaft
nähergebracht. Hier beginnt die Vernetzung, die wir
für den Erfolg von Industrie 4.0 so dringend brauchen.
Ich gebe zu: Es erfüllt mich mit Stolz, dass mein Land
hier an der Spitze marschiert.
Wer sich Industrie 4.0 konkret anschauen will, der
ist herzlich in meinen Wahlkreis eingeladen, etwa zur
Einzelhandelskette Globus aus St. Wendel. Das Unternehmen hat zusammen mit dem DFKI ein „Living
Lab“ entwickelt mit dem Namen Innovative Retail
Laboratory, IRL. Entwickelt und präsentiert wird hier
der Supermarkt der Zukunft, etwa eine intelligente
Frischetheke oder auch neue Logistik- und Bezahlsysteme. Ebenso innovativ: die QKies der Firma
Juchem aus Eppelborn, eine individuelle Botschaft auf
einem Keks, möglich durch einen QR-Code aus Lebensmittelfarbe. Hier verschmilzt IT mit traditionellem
Gewerbe; hier entstehen die ersten Anwendungen von
Industrie 4.0. Wir sind also auf einem guten Weg. Wir
haben die besten Voraussetzungen, um die Chancen
von Industrie 4.0 zu nutzen.
Es liegt nun an der Politik, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Das fängt an bei den
rechtlichen Rahmenbedingungen, vor allem zum
Thema Datenschutz, geht über Maßnahmen zur ITSicherheit bis hin zum Breitbandausbau. Politik kann
helfen, den Fachkräftebedarf zu decken durch Unterstützung von Ausbildung und Weiterbildung sowie
durch die Akquise von Fachkräften aus dem Ausland.
Denn Fachkräfte sind notwendig, um Industrie 4.0
erfolgreich zu gestalten. Politik muss die Investitionen
in Forschung und Entwicklung garantieren und Unternehmen dabei unterstützen, selbst zu forschen und im
Zuge des Technologietransfers den Kontakt zu den
Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu suchen.
Zu erwähnen sind dabei auch die Unterstützungsmaßnahmen für Gründer und wachsende Unternehmen.
Und schließlich gilt es, mit den Projekten der Hightech-Strategie Impulse zu setzen und Netzwerke zu
knüpfen. Das sind unsere Hausaufgaben.
Zusammen mit der Wissenschaft und der Wirtschaft
gilt es gemeinsam die großen Chancen zu nutzen. So
werden wir gemeinsam zum Industrieland 4.0.
Bei der Koalition bricht kurz vor den Wahlen Hektik
aus. Da erhalten wir Mittwoch morgens einen Antrag
der Koalition, über den Donnerstagabend abschließend abgestimmt werden soll, also ohne Ausschussbefassung, und das ganze geht dann auch noch ohne Debatte zu Protokoll. Man fragt sich wirklich, was da los
ist.
Bei dem uns vorliegenden Antrag handelt sich um
einen unausgegorenen Schnellschuss. Wobei ein
Schuss in der Regel einen Einschlag und somit Spuren
hinterlässt. Das hier ist aber eine Luftnummer, die
spurlos versanden wird. So erleben wir in diesem Antrag eine Verkoppelung von nicht zusammenhängenden Punkten, Thesen und unbewiesenen Behauptungen.
Natürlich ist es richtig, dass die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren gestiegen sind, aber daraus abzuleiten, wie im Antrag zu lesen, dass die Hightech-Strategie der Bundesregierung
„den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft vorangebracht habe“, kann man wirklich nicht
ernsthaft behaupten und auch nicht belegen. Es fehlt
dabei schlicht jeder kausale Zusammenhang. Aber treu
nach dem Motto „lieber fest und überzeugend behauptet als schwach bewiesen“ soll das wohl seine Wirkung
in der Öffentlichkeit entfalten.
Zwar ist richtig, wie in dem Antrag in der Einleitung formuliert wird, dass die Industrieexporte und die
Produktions- und Fertigungstechnologie das Rückgrat
der deutschen Wirtschaft bilden. An dieser Stelle wäre
aber ein Dank an die rot-grüne Bundesregierung von
vor zehn Jahren angebracht. Denn wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren es, die der
Liberalisierungstendenz, die es zu Anfang dieses Jahrhunderts gab, widerstanden haben. Unter dem Stichwort „New Economy“ glaubten deren Verfechter, die
Old Economy, also das produzierende Gewerbe, ersetzen zu müssen. Heute wissen wir, dass die Blase der
New Economy schnell geplatzt ist und viele Kollateralschäden ausgelöst hat. Es war richtig, dass RotGrün diesen Kurs damals nicht mitgemacht und die
Produktivität der deutschen Wirtschaft erhalten hat.
Das hat uns stark gemacht. Und davon - vor allem profitiert die heutige Regierung.
Insgesamt ist der Text des Antrags mitunter sehr geschwurbelt. Da werden beispielsweise Dinge als sensationell betrachtet, nämlich dass Werkstücke ein sogenanntes digitales Produktgedächtnis haben, die
Zu Protokoll gegebene Reden
schon längst in der Anwendung sind. Ich habe mir vor
einigen Monaten in einer Hagener Gesenkschmiede
angeschaut, wie Produkte mit RFID-Chips versehen
werden, die die wesentlichen Produktdaten und -eigenschaften in Sekundenbruchteilen nachvollziehbar machen.
Aber dieser Antrag enthält nicht nur wenig Neues,
sondern ist auch zusammengewürfelt aus einer Reihe
von Textbausteinen, die zu recherchieren ich mir nicht
die Mühe gemacht habe. Aber auf Seite 3 sieht man am
Ende des zweiten Absatzes allein durch die unterschiedliche Schriftbildformatierung, dass hier - wie es
bei dieser Regierungskoalition häufig vorkommt- fleißig „copy and paste“ betrieben wurde. Allerdings ist
der Antrag nicht einmal auf dem neuesten Stand. In
den umfassenden „Begrüßungen des Bundestages“
unter römisch Zwei, wo Bestehendes der Bundesregierung durch die Koalitionsfraktionen gelobt wird - das
mag wohl mittlerweile üblich sein -, wird noch davon
gesprochen, dass die Handlungsempfehlungen der
Plattform „Industrie 4.0“ auf der Hannover-Messe Industrie 2013 vorgestellt werden sollen. Nun ist die
Hannover-Messe aber im April 2013 zu Ende gegangen, und das hätte in einem Antrag mit dem Datum
11. Juni 2013 spätestens mal gemerkt werden können.
Wie auch im letzten Spiegelstrich unter römisch Zwei,
wo davon gesprochen wird, dass der „Arbeitskreis Industrie 4.0 im April 2013 eine ausführliche Berichtsversion mit ersten Handlungsfeldern im Bereich des
Datenschutzes vorlegen will“. Wenn der Antrag einigermaßen aktuell gewesen wäre, oder wenn ihn wenigstens noch mal jemand aus der Koalition gelesen
hätte, hätte man schon längst merken können, dass das
zwei Monate her ist und die Berichte mittlerweile vorliegen.
Richtig ist, wenn im Antrag steht, dass die nachhaltige Veränderung der Arbeitswelt frühzeitig durch Forschung flankiert werden muss und die Industrie 4.0 auf
eine veränderte Form menschlicher Arbeit in der Industrie hinauslaufen wird. Bravo, Koalitionsfraktionen! Endlich gemerkt, aber sie hätten wahrnehmen
können, dass die SPD das schon seit langer Zeit fordert. Wir müssen die veränderte Arbeitswelt stärker in
der Forschung berücksichtigen und erforschen. Deswegen haben wir in den letzten Jahren immer wieder
angemahnt, den Haushaltsansatz für Dienstleistungsund Arbeitsforschung mit einer Erhöhung zu versehen.
Das ist aber immer wieder von der Regierungskoalition abgelehnt worden. Und die Frage ist: Wenn sie
das doch nun in einen Antrag schreibt, warum kürzt sie
eigentlich dann die Mittel in diesem Bereich?
Richtig ist auch, dass es ein gemeinsames Ziel sein
muss, die Arbeitsplatzperspektive einer in Zukunft immer mehr dienstleistungsorientierten Wirtschaft voranzutreiben. Aber passt das eigentlich zu der Forderung, die ja einen Spiegelstrich weiter steht, dass die
Schwerpunkte der Forschung auf intelligente Produktionssysteme und Verfahren sowie auf die Realisierung
verteilter und vernetzter Produktionsstätten zu legen
sind? Passt das zu der Forderung, dass die Zielrichtung sein muss, Arbeitsplatzperspektiven zu schaffen?
Unter dem vorletzten Spiegelstrich wird noch geschrieben, dass die Kenntnisse für die Industrie 4.0.
deutlich umfassender in akademischen Qualifikationsangeboten berücksichtigt werden müsse. Hört sich
klug an, aber was heißt das denn eigentlich? Was meinen die lieben Koalitionäre damit? Es wäre doch mal
interessant, das aufzuführen.
Sie können sicherlich auch zum Thema Datenschutz
und Sicherheitsarchitektur viele Worte verlieren. Im
letzten Satz steht: „Es ist insgesamt ein ausgewogener
Ausgleich zwischen angemessener Sicherheit und
Wirtschaftlichkeit zu schaffen.“ Da muss man auch
hierbei sagen, hört sich gut an, aber was meinen die
Koalitionäre eigentlich damit? Was ist denn angemessene Sicherheit und vor allen Dingen, wer schafft die
angemessene Wirtschaftlichkeit? Soll der Staat hier
eingreifen?
In diesem Antrag stecken, wie man sieht, mehr Fragen als Antworten. In einer Ausschusssitzung hätte
man diese vielleicht noch einmal diskutieren können,
da dies aber abgelehnt wurde, kann ich nur von dem
hier Geschriebenen ausgehen. Und das sind Allgemeinheiten bzw. veraltetes Wissen. Wirklich neue politische Forderungen fehlen. Ich habe vielmehr die
starke Vermutung, dass den Teilnehmern der Fraktionskonferenz im Frühling dieses Jahres versprochen
wurde, das Thema noch einmal zu platzieren. Deshalb
wohl der inhaltslose Aktionismus. Das Thema hätte
mehr verdient. Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag ab.
Die Neuausrichtung der Hightech-Strategie 2020
ist ein Erfolg. Das bestätigt die Expertenkommission
„Forschung und Innovation“ in ihren jährlichen Gutachten immer aufs Neue, zuletzt in ihrem Jahresbericht
2013. Von der Expertenkommission wird die Weiterentwicklung der Hightech-Strategie, der Zuschnitt auf die
fünf großen gesellschaftlichen Herausforderungen und
die damit einhergehende Missionsorientierung der
Forschungs- und Innovationspolitik Deutschlands als
richtiger und wichtiger Schritt gelobt. International
gilt die Hightech-Strategie 2020 als „gutes Modell der
Governance eines F&I-Systems“. Die deutsche Hightech-Strategie ist darüber hinaus Vorbild für einen
zentralen Programmteil des 8. Europäischen Forschungsrahmenprogramms, Horizont 2020. Welche
größere Bestätigung kann es geben, wenn Europa in
der Forschungs- und Innovationspolitik unseren Programmen und Strategien nacheifert?
Mit der Auswahl der zehn Zukunftsprojekte über die
fünf Bedarfsfelder hinweg haben wir die HightechStrategie weiter wissenschaftlich, technologisch und
gesellschaftlich geschärft. Die in den Zukunftsprojekten identifizierten Potenziale sind auf einen Zeitraum
von zehn bis fünfzehn Jahren angelegt. Eine herausgehobene Stellung nimmt das interdisziplinäre ZuZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
kunftsprojekt Industrie 4.0 ein. Nach kurzer Zeit hat
das Thema Industrie 4.0 an Bedeutung gewonnen;
mancher spricht schon von einer neuen „industriellen
Revolution“. Diese Entwicklung zeigt uns auch den
Erfolg und die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges,
den diese christlich-liberale Koalition gewählt hat.
Hinter Industrie 4.0 verbirgt sich die Digitalisierung der klassischen Industrie, ihrer Produktionstechniken und -verfahren. Über das Internet wird die reelle
mit der virtuellen Industrieproduktion verknüpft. Ist
die bisherige Produktion durch Automatisierung
charakterisiert, wird Industrie 4.0 durch neue digitale
Verfahren - Stichwort „Cyber-Physical-Systems“,
CPS - die Produktion intelligenter werden lassen. Verfolgt wird die intelligente Fabrik, die sich selbstoptimiert, selbstkonfiguriert und auch eine Selbstdiagnose
der Produktionsanlage anfertigt. Besonders kennzeichnend für Industrie 4.0 ist, dass die Industrie damit
in der Lage ist, stark individualisierte Produkte zu erzeugen und dabei unter den Bedingungen einer hoch
flexibilisierten Großserienproduktion zu produzieren.
Durch die Digitalisierung wird es möglich sein, Kunden und Geschäftspartner in die industriellen Prozesse
zu integrieren und die Produktion mit hochwertigen
Dienstleistungen zu koppeln.
Hinter Industrie 4.0 verbirgt sich damit nicht nur
ein neuer Innovationsschub für die deutsche Industrie
im Bereich Produktion, sondern auch die Chance, eine
technologische Marktführerschaft in der Ausrüsterindustrie zu erreichen. Die christlich-liberale Koalition hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, dem Zukunftsprojekt Industrie 4.0 mit dem vorgelegten Antrag
„Industrie 4.0 - Forschung, Entwicklung und Bildung
für die Digitalisierung der Industrieproduktion“ eine
herausgehobene Stellung zu verleihen.
Als FDP machen wir mit dem Antrag deutlich, dass
die Umsetzungsempfehlungen des Arbeitskreises „Industrie 4.0“ der Forschungsunion Wissenschaft und
Wirtschaft vom 2. Oktober 2012 und die Umsetzungsempfehlungen zur Hannover Messe Industrie 2013
vom 10. April 2013 berücksichtigt werden. Weiterhin
werden wir Liberale gemeinsam mit dem Koalitionspartner den Nachwuchs- und Fachkräftebedarf in diesem Bereich in den Blick nehmen, das bedeutet sowohl
in der Aus- und Weiterbildung als auch beim akademischen Nachwuchs, gemeinsam mit der Industrie Qualifikationsangebote zu erarbeiten und anzubieten. Des
Weiteren werden wir Liberale eine umfassende Begleitforschung umsetzen, damit die Veränderungen,
die Industrie 4.0 in der Arbeitswelt bewirkt, rechtzeitig
bekannt sind. Denn mit Industrie 4.0 werden sich die
klassischen Grenzen zwischen Produzenten/Anbietern
auf der einen Seite und Anwendern/Nachfragern auf
der anderen Seite zunehmend auflösen. Das hat verständlicherweise Folgen für die Beschäftigung und
stellt Fragen an die Akzeptanz als auch Fragen an die
Qualifikationen der Beschäftigten.
Als FDP wollen und werden wir Industrie 4.0 in der
Bundesregierung noch einige Zeit positiv begleiten
und fördern. Mit einer gemeinsamen Förderung von
Bundesregierung, Wissenschaft und Wirtschaft kann es
gelingen, dass Deutschland sich als Leitanbieter an
die Spitze setzt.
Das Internet wird von unserer Bundesregierung oft
ambivalent betrachtet: Mal ist es der Hort von Kriminalität und massenhaften geistigen Diebstahls, mal
das Werkzeug von Geheimnisverrätern. Der Breitbandausbau stockt, die Netzneutralität steht unter
Druck, die Vorratsdatenspeicherung hingegen boomt.
Eine groß angelegte Initiative dieser Bundesregierung für das Internet gibt es jedoch: „Industrie 4.0“.
Industrie 4.0 - selbst wir Abgeordneten im Ausschuss für Bildung und Forschung wussten fraktionsübergreifend mit dem Begriff nichts anzufangen, als er
uns dort das erste Mal begegnete. Das verwundert
nicht, ist er doch ein Kunstbegriff der heute zugrunde
liegenden Initiative von mehreren Industrieverbänden
und orientiert sich an den historischen Stadien industrieller Revolutionen. In der Innovationsforschung
spielte der Begriff bisher keine Rolle; im Ausland existieren zum Teil auch andere Begriffe für die Digitalisierung der Produktion.
Mit diesem uns hier vorliegenden Antrag wird nun
auch im Parlament verhandelt, was geradezu als
Lehrstück der klassischen Industrieförderung der Bundesministerien für Wirtschaft und für Forschung gelten kann. Wie Unternehmen und Verbände Forschungspolitik machen, wird bereits am Setting des
sogenannten Foresight-Prozesses sichtbar. Es waren
die Verbände der IT-Branche wie BITKOM und der
Maschinenbauer, namentlich der VDMA, sowie der
Elektroindustrie, ZVEI, die die Agenda für ein Förderprogramm zur Digitalisierung des Maschinen- und
Anlagenbaus diskutierten. Neue Anwendungsmöglichkeiten für vernetzte IT-Lösungen in der industriellen
Fertigung sollten geschaffen werden. Sowohl die IKTBranche als auch die Ausrüster und Maschinenbauer
versprachen sich davon einen neuen Innovationsschub
und Weltmarktvorteile. „Cyber-Physical Systems“,
kurz CPS, also vernetzte Aggregate und Systeme wurden von den Verbänden als industriepolitischer Trend
der Zukunft ausgemacht. Und ohne Zweifel kann und
wird das Internet auch die Produktionsprozesse von
Gütern massiv verändern. Bereits bei der Logistik von
Rohstoffen und -bauteilen können RFID-Chips und
Sensoren ganz neue Informationen über Transportwege und Lieferbedingungen senden. Die OnDemand-Fertigung lässt sich mit automatisierter
Echtzeitkoordination neu aufstellen. Die Verzahnung
von IT-Technik etwa in der Vermessung mit 3DScannern mit dem Produktionsprozess könnte auch die
Qualitätsprüfung vereinfachen und effektivieren. Der
Softwareanteil in klassischen Industrieprodukten wie
etwa Autos oder Haushaltsgeräten steigt generell und
erfordert neue Wege der Produktentwicklung. Klar,
dass solch eine Infrastruktur auch Auswirkungen auf
Zu Protokoll gegebene Reden
die Arbeitswelt, auf benötigte Qualifikationen und
Arbeitsformen hat. Dieser Bereich von Arbeit und
Ausbildung ist denn auch der einzige, in welchem die
Beraterphalanx aus Unternehmen, Verbänden und
Instituten durchbrochen wurde. Eine Vertreterin der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Ingrid
Sehrbrock vom DGB, durfte in dem Arbeitskreis mitarbeiten, eine Kollegin von der IG Metall mit am
Schlussbericht schreiben.
Wir finden, dass diese Zusammensetzung der Beratung eine gewisse Einseitigkeit in Politikberatung
bedingt. Denn um Politikberatung ging es den Verbänden ja. Das zeigt auch die Hightech-Strategie, bei der
Industrie 4.0 als ein Zukunftsprojekt benannt wird. Die
Bundesregierung hat sich denn auch großzügig gezeigt
und 200 Millionen Euro Fördermittel versprochen.
Das ist kein Pappenstiel, etwa wenn wir es einfach einmal in Relation zu den 100 Millionen Euro Soforthilfe
für die Hochwasseropfer sehen.
Wir müssen auch aus der Sicht der Forschungs- und
der Haushaltspolitik fragen: Ist dieses Geld gut und
nachhaltig investiert? Wenn man sich die Liste der beteiligten Unternehmen - BASF, Bayer, BMW, Bosch,
Daimler, SAP, Siemens, Hewlett-Packard, Telekom,
Trumpf Maschinen und viele weitere - und die Gegenstände der Förderung ansieht, können einem da Zweifel kommen. Bereits die Milliardenförderung für die
Elektroautos krankt daran, dass kein gesellschaftlicher, sondern ein unternehmerischer Blickwinkel bestimmend bei der Prioritätensetzung war, mit dem
Erfolg, dass mit den Fördermitteln weitgehend erfolglos an den tatsächlichen Marktbedingungen vorbei
entwickelt wurde. Im Klartext: Die Zukunft, die Unternehmensverbände als Zukunft beschreiben, dient
vielleicht mehr der Akquise öffentlicher Förderung als
der Vorhersage einer von vielen Faktoren bestimmten
Entwicklung und der Vorausschau auf gesellschaftliche Erfordernisse.
Die genannten Unternehmen nagen zudem nicht am
Hungertuch. Welche Rolle soll die öffentliche Hand
hier überhaupt spielen? Gehört es nicht zur Kernaufgabe solcher globalen Player, ihr Innovationsgeschäft
selbst zu finanzieren?
Wenn hier Millionen von Fördergeldern in die Modernisierung der Industrie investiert werden sollen,
dann müsste der Ansatz aus unserer Sicht wesentlich
breiter gewählt werden. Der Bereich der Arbeit und
der Beschäftigten sollte deutlich ausgebaut werden;
der uns hier vorliegende Antrag der Koalition legt zu
Recht einen Schwerpunkt darauf. Muss der Entgrenzung von Arbeitszeiten selbst eine Grenze gesetzt werden? Ist eine Selbstausbeutung zu befürchten, wenn industrielle Prozesse mit Smartphones gesteuert werden
können? Wo und wie drohen Überwachung und Sanktionierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wenn jedes Produkt seinen Produktionsprozess
an zentrale Server sendet? Welchen Schutz privater
Daten brauchen wir in einer virtualisierten Fabrik?
Wie können wir das Internet gegen die Entfremdung
von Arbeitsprozessen einsetzen? Wir meinen, diese
Fragen sollten Gegenstand der öffentlichen Forschungsförderung sein.
Auch die Maßnahmen zum zusätzlichen Ressourcenverbrauch einer solchen vernetzten Fabrik bleiben äußerst dünn, was sicher durch eine Verbreiterung des
Beratergremiums behoben werden könnte. Zur umweltverträglichen Modernisierung der Industrie hätte
die Expertise von Umweltverbänden und entsprechenden Forschungseinrichtungen sicher etwas beitragen
können. Auch die Frage von Verkehr, Logistik und
regionalräumlicher Entwicklung wäre im Zusammenhang mit Industriestandorten von Interesse gewesen.
Die Vernetzung von kleinen und mittleren Unternehmen wäre gerade in Deutschland mit seinem vielfältigen Mittelstand Thema gewesen, ebenso das Zusammenspiel mit den immer wichtiger werdenden
Dienstleistungen. Und nicht zuletzt fehlen GenderPerspektiven in der Politikberatung, wenn von 37 Mitgliedern des Arbeitskreises ganze drei weiblich sind.
Fazit: Diese Initiative zur vernetzten Fabrik ist ein
spannendes Projekt der Industrie. Die Politik sollte jedoch in Augenhöhe ihre eigenen Akzente und Anliegen
zur Modernisierung der Industrie formulieren.
Die aktuelle Fortentwicklung der Wirtschaft durch
eine zunehmende Digitalisierung wird in Fachkreisen
schon als vierte industrielle Revolution bezeichnet.
Allerdings haben manche Teile der Wirtschaft dieses
Potenzial noch nicht erkannt. IKT werden noch nicht
in allen Bereichen optimal eingesetzt. Dafür muss die
Wirtschaftspolitik Antworten finden.
Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland
hängt wesentlich davon ab, wie wir die Innovationskraft der IKT mit unseren Stärken in den Schlüsselindustrien Automobilbau, Chemie, Elektronik und Maschinenbau verbinden. Mehr als die Hälfte aller
Industrieprodukte hängt heute schon vom Einsatz von
IKT ab. 20 Prozent des Wertes eines neuen Autos ergeben sich aus dem Wert der darin befindlichen Software.
Der Politik kommt insbesondere bei der Modernisierung und Digitalisierung der Infrastruktur eine
wichtige Rolle zu. Ein flächendeckendes Breitbandnetz
mit hohen Bandbreiten sowie intelligente Verkehrsund Energienetze sind entscheidende Faktoren für einen zukunftsfähigen Industriestandort Deutschland.
Der Wirtschaftsminister hat sich bis jetzt so gut wie
gar nicht um die digitale Infrastruktur in Deutschland
gekümmert - er lässt die Menschen im analogen Modemzeitalter hängen. Wir Grüne fordern für jeden
Haushalt eine gesetzlich garantierte Basisversorgung
mit einem Breitbandinternetanschluss, ähnlich dem
bestehenden Universaldienst für Telefonanschluss
oder für Postzulieferung.
Der Austausch großer Datenmengen wird besonders für Unternehmen immer wichtiger. Big Data ist
Zu Protokoll gegebene Reden
das „big“ Thema der Wirtschaft, und Dienstleistung
und Produktion gehen immer mehr Hand in Hand.
Deshalb brauchen wir einen neuen Innovationsbegriff,
der über den Tellerrand schaut und diese Entwicklungen erkennt. Mehrwert entsteht zunehmend aus der
Vernetzung unterschiedlichster Akteure und aus Kooperationen.
Der Digitalisierung kommt auch eine wichtige Rolle
zu, wenn es um Energieeinsparung und Effizienz geht.
Der Standort Deutschland sollte die aktuelle Chance
nutzen und als Leitmarkt für Green-IT-Technologien
vorangetrieben werden, eine Vorreiter- und Innovationsrolle als Nutzer umweltfreundlicher Produkte und
Technologien einnehmen. Die Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ hat hierzu viele
Vorschläge unterbreitet. Durch den Einsatz von IT
kann der Energie- und Ressourcenverbrauch erheblich
reduziert werden. Der Vorschlag einer „Nationalen
Roadmap Green IT“ soll laut Enquete-Kommission erarbeitet werden. Darin sollen sowohl langfristige Ziele
für die Bereiche „Green in der IT“ und „Green durch
IT“ als auch für Felder wie intelligente Gebäude Smart Buildings -, intelligente Stromnetze - Smart
Grids - oder intelligente Industrieprozesse - Smart
Industry - festgelegt werden.
Vorgeschlagen wird auch eine Initiative „Klimaneutrale Rechenzentren für Deutschland“, die vom Bund,
der IT-Wirtschaft und großen Rechenzentrumsbetreibern getragen werden könnte. Ziel einer solchen Initiative sollte es sein, zumindest die rund 500 mittleren
und großen Rechenzentren in Deutschland, die rund
40 Prozent aller Server betreiben, bis 2015 klimaneutral zu stellen. Die rund 52 000 Rechenzentren in
Deutschland verbrauchten im Jahr 2011 knapp
10 Terawattstunde an Strom. Es sind circa vier mittelgroße Kohlekraftwerke notwendig, um diese Strommenge zu erzeugen. Die mit dem Stromverbrauch der
Rechenzentren verbundenen Kohlendioxidemissionen
beliefen sich in 2011 auf rund 5,5 Millionen Tonnen.
Wie vielfältige Praxisbeispiele der vergangenen Jahre
zeigen, kann die Energieeffizienz von Rechenzentren
erheblich gesteigert werden. Die Klimaneutralität von
Rechenzentren ist ohne Weiteres umsetzbar. Bislang
sind es aber nur wenige Vorreiter, die dies realisiert
haben.
Vor dem Hintergrund von Innovationspolitik ist die
steuerliche Forschungsförderung als wichtiges Standbein zu nennen. Eine steuerliche Forschungsförderung
bildet die Grundlage für einen unbürokratischen und
breiten Zugang zu Forschungsförderung, insbesondere
für kleine und mittelständische Unternehmen. Es ist
die notwendige Antwort auf ein sich änderndes Innovationsgeschehen, in dem offene Innovationsnetzwerke
zunehmend geschlossene Forschungsabteilungen ablösen. Die schwarz-gelbe Koalition hat es in vier Jahren nicht geschafft, ihr im Koalitionsvertrag niedergeschriebenes Ziel zu verwirklichen.
Der Antrag der Koalition spart ganz konkrete
Handlungsansätze zur Förderung der Industrie 4.0
aus. Wir lehnen den Antrag ab.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13889.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Der Antrag
ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dr. Sascha Raabe,
Wolfgang Tiefensee, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien
- Drucksachen 17/11876, 17/12881 Berichterstattung:Abgeordneter Andreas G. Lämmel
Die Reden werden zu Protokoll genommen. Wir hatten dies in der Tagesordnung ausgewiesen.
Viel Neues haben wir in der Sitzung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie am 20. März 2013
zu diesem Antrag nicht gehört. Und dies, obwohl es
sich um eine Jubiläumssitzung des Ausschusses handelte, nämlich um die 100. Sitzung. Auch die Kollegen
aus der SPD haben nicht viel Redezeit für ihren eigenen Antrag verwandt. Das lässt tief blicken. Vielleicht
waren meine Argumente aus der ersten Lesung des
Antrags im Plenum vom 31. Januar dieses Jahres so
überzeugend, dass es nicht mehr viel zu sagen gab.
Ich möchte erneut betonen, was ich bereits im Ausschuss gesagt habe. Zum Dodd-Frank Act in den USA
liegen noch keine ausreichenden Erfahrungen oder
eine systematische Evaluation vor. Außerdem sind
diese Regelungen nach wie vor Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen und keinesfalls so unumstritten, wie es der Antrag suggeriert. Ich habe dazu in
der ersten Lesung bereits ausreichend gesprochen.
Ein Aspekt wurde im Ausschuss gar nicht diskutiert.
Aufgrund des Dodd-Frank Acts werden möglicherweise Bergbauunternehmen genauso wie Rohstoffhandelsunternehmen künftig Konfliktregionen aus
Sorge vor möglichen Sanktionen oder aufgrund einer
generellen Rechtsunsicherheit meiden. Es gibt klare
Anzeichen für diese Reaktion der Wirtschaft. Dies
wäre für den regional vorhandenen legalen Bergbau
gefährlich und würde kriminellen Marktakteuren Vorteile verschaffen. Zudem sind Wettbewerbsnachteile
und zusätzliche Bürokratiekosten für deutsche und euAndreas G. Lämmel
ropäische Unternehmen zu befürchten. Nachteile, die
andere internationale Akteure nicht haben und die unsere Unternehmen in Entwicklungsländern verdrängen, sicher nicht zum Nutzen Letzterer. Wir müssen
also sehr genau beobachten, wie sich die Lage auf den
internationalen Rohstoffmärkten entwickelt.
Aber ich will hier nicht nur Kritik üben. Viele der im
Antrag genannten Forderungen sind von der Bundesregierung und der Koalition bereits umgesetzt. Zum
Beispiel setzt sich die Bundesregierung bereits im Rahmen der G-8- und G-20-Verhandlungen für eine umfassende internationale Unterstützung für EITI ein und
ermuntert Unternehmen, sich an dieser freiwilligen
Initiative zu beteiligen. In diesem Bereich liegt auch
ein Schwerpunkt der Rohstoffstrategie der Bundesregierung vom Herbst 2010.
Allerdings verzichtet der Antrag auf eine positive
Erwähnung des Instruments der Rohstoffpartnerschaften. Rohstoffpartnerschaften sind ein neues Werkzeug
der deutschen Rohstoffpolitik; einerseits dienen sie der
Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft, aber andererseits auch dem Technologie- und Know-howTransfer in die Partnerländer. Dies betrifft auch die
Etablierung von Umwelt- und Sozialstandards sowie
die Implementierung von Transparenz- und Antikorruptionsregeln. Deutschland fördert auch im Rahmen der wirtschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit die Etablierung von Good-Governance-Standards.
Die Zusammenarbeit mit der Mongolei ist beispielhaft für das Engagement Deutschlands im Bereich der
Rohstoffpartnerschaft. Im Rahmen der Integrated
Mineral Resource Initiative, IMRI, arbeiten deutsche
Durchführungsorganisationen eng mit der internationalen, deutschen und lokalen Privatwirtschaft zusammen. Mit diesen Partnerschaften ist sicher mehr für
Transparenz und gute Regierungsförderung erreicht
worden als mit Oppositionsanträgen fürs Schaufenster.
Auch die Bundesanstalt für Geowissenschaften und
Rohstoffe, BGR, führt bereits ein G-8-Pilotprojekt zur
Zertifizierung von Handelsketten für mineralische
Rohstoffe in der Demokratischen Republik Kongo,
DRC, und in Ruanda durch. Weiterhin wurde ein belastbares, standardisiertes Verfahren für den Herkunftsnachweis von Coltan und ein Konzept für dessen
umfassende internationale Verankerung entwickelt.
Beide Verfahren tragen nun zum Aufbau eines Zertifizierungssystems in der Region der Großen Seen in
Afrika bei. Deutschland unterstützt diese Maßnahmen
im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit.
Deutschland setzt sich also bereits sehr aktiv für
mehr Transparenz auf den internationalen Rohstoffmärkten ein. Mit der Rohstoffpartnerschaft bieten wir
bereits ein positives Modell für Entwicklungsländer
an, welches Unterstützung verdient.
Uns liegt ein grundsätzlich gut gemeinter Antrag
der SPD-Fraktion vor. Aber gut gemeint ist eben nicht
gut gemacht. Das Ringen um mehr Transparenz und
die Sanktionierung von Konfliktmineralien sind prinzipiell zu begrüßen. Aber setzen wir dabei bitte auf die
richtigen und verhältnismäßigen Instrumente. Ich
kann Sie nur aufrufen, der Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zuzustimmen und diesen Antrag abzulehnen.
Häufig stellt sich für Entwicklungs- und Schwellenländer und deren Bevölkerungen Rohstoffreichtum als
Armutsfalle dar. Obwohl Rohstoffeinnahmen bei richtigem Einsatz zu innerstaatlicher Wertschöpfung und
zur Wohlstandsentwicklung in den rohstoffabbauenden
Ländern führen können, profitieren sie nicht davon.
Vielmehr verleiten die schnellen und hohen Rohstoffgewinne zu Korruption und Misswirtschaft und können
im Extremfall Konflikte und Konfliktparteien finanzieren.
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht in guter Regierungsführung, Good Governance, guter Haushaltspolitik, einem verantwortlichen Umgang mit Steuereinnahmen und Antikorruptionsmaßnahmen die
Möglichkeit, der genannten Armutsfalle zu entfliehen
und die Menschen in den Ländern an Wohlstand und
Wertschöpfung teilhaben zu lassen. Voraussetzung dafür sind Transparenz in den Zahlungs- und Rohstoffströmen sowie ein offener Zugang zu solchen Informationen, um die Korruption einzudämmen und die
Einnahmen gerecht zu verteilen.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die verschiedenen freiwilligen Ansätze zur Offenlegung von Zahlungen an Förderländer bzw. an deren Regierungen
oder dort handelnde Personen, wie es zum Beispiel die
Extractive Industries Transparency Initiative, EITI,
vorsieht oder auch die OECD Due Diligence Guidelines for Responsible Supply Chains of Minerals from
Conflict-Affected and High-Risk Areas. Nach den
OECD Due Diligence Guidelines soll ein Managementsystem unter anderem mit einem System zur Kontrolle und Nachverfolgbarkeit in der Lieferkette aufgebaut werden. Außerdem sehen sie eine Etablierung
eines unabhängigen Audits, 3rd party, für ausgewählte
Punkte der Lieferkette sowie die Veröffentlichung eines Berichts, zum Beispiel als Teil des CSR-Berichts,
zur Sorgfaltspflicht in der Lieferkette vor.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält diese freiwilligen
Initiativen für sehr wichtig und unterstützt sie, jedoch
reichen uns die freiwilligen Initiativen nicht aus. Nehmen wir die EITI: Derzeit haben 23 Förderländer die
Regeln der EITI umgesetzt, darunter Länder wie die
Mongolei, Norwegen, Peru oder die Republik Kongo.
Weitere 16 Länder, wie zum Beispiel Kasachstan, haben einige EITI-Regeln eingeführt, aber noch nicht
umfassend. Ein Land wie die Demokratische Republik
Kongo ist dagegen suspendiert.
Gestern hat das Europäische Parlament über die
beiden Entwürfe der Kommission zur Novellierung der
EU-Richtlinien zu den Transparenzanforderungen und
zu den Jahresabschlüssen abgestimmt und entscheidende Änderungen in das Regelwerk eingearbeitet. So
ist nun eine Offenlegung von Zahlungen auf Länderebene, Country-by-Country Reporting, und auf Projektebene, Project-by-Project Reporting, vorgesehen. Es
gibt eine Präzisierung bzw. eine Projektdefinition, die
sich auf den Vertrag bezieht, aus dem sich Zahlungsverpflichtungen ergeben. Außerdem wurde eine Offenlegungsuntergrenze von 100 000 Euro eingeführt. Dies
ist ein großer Erfolg. Bei der Ausgestaltung dieser Regeln ist darauf zu achten, dass keine Benachteiligungen von Unternehmen im internationalen Wettbewerb
geschaffen werden. Besonders wichtig ist, dass keine
Ausnahmen von der Offenlegungspflicht im Falle von
entgegenstehendem Recht in den rohstofffördernden
Ländern zugelassen werden wird, das sogenannte
Tyrannenveto wurde abgelehnt.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt den Beschluss europäischer Regeln; denn wir halten einen
Alleingang eines Landes in der Europäischen Union
für kontraproduktiv. Viele deutsche Unternehmen sind
den US-Regeln des Dodd-Frank Act unterworfen, entweder direkt oder über Zulieferketten. Daher ist es gut,
dass die europäischen Regeln sich im Grundsatz an
den US-amerikanischen Regelungen des Dodd-Frank
Act orientieren; denn nur so können doppelte Berichtspflichten für Unternehmen vermieden werden.
Nun ist die Bundesregierung aufgefordert, den
Richtlinien im Europäischen Rat zuzustimmen und
dann für eine zügige Umsetzung in deutsches Recht zu
sorgen. Wichtig ist dabei, wie die Form der Veröffentlichung der Daten und die Sanktionsmechanismen ausgestaltet sind. Wir werden das genau beobachten.
Aber in unserem Antrag gibt es noch einen weiteren
Aspekt. Es existieren Pilotprojekte zur Zertifizierung
von Minen. Solche Verfahren können helfen, Diskriminierungen wie auch De-facto-Embargos, wie wir es
derzeit am Beispiel der Demokratischen Republik
Kongo erleben, zu vermeiden. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass dieser direkte, unmittelbare und, wenn man es so will, Ansatz „von unten“
für mehr Transparenz im Rohstoffsektors, aber vor allem auch für geregelte Produktionsbedingungen sorgen kann. Wenn das Zertifizierungssystem Transparenz-, Umwelt- und Sozialstandards beinhaltet, legt es
einen Grundstein für einen konfliktfreien Abbau von
und Handel mit Rohstoffen. Aber es nutzt auch den
Menschen vor Ort in den Förderländern, wenn sich die
Förder- und Lebensbedingungen verbessern. Es
kommt aber auch den Unternehmen zugute. Denn mit
dem Zertifikat können sie ihren Pflichten zum Umgang
mit Mineralien aus Konfliktregionen nachkommen.
Diese Pilotprojekte müssen nach unserer Ansicht weiter ausgebaut und unterstützt werden.
Sie sehen, unser Antrag bietet viel Stoff. Die Bundesregierung ist aufgefordert, beim Umgang mit Rohstoffen und mit den Förderländern endlich Farbe zu
bekennen.
Das Ziel, bei der Erschließung von Rohstoffen in
Entwicklungs- und Schwellenländern auf die Etablierung und Einhaltung sozialer und ökologischer Standards zu drängen, ist grundsätzlich zu unterstützen.
Dabei auch auf einen verantwortungsvollen Umgang
mit den Einnahmen aus dem Rohstoffhandel, auf Regierungshandeln im Sinne einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung und auf Maßnahmen gegen Korruption und Misswirtschaft hinzuwirken sind ebenfalls
begrüßenswerte Zielsetzungen. Nur erreicht man dies
nicht durch aufwendige und schwer zu überwachende
Zertifizierungssysteme oder selbst auferlegte Handelsbeschränkungen. Wenn Intransparenz und Korruption
zu den Problemen eines Landes zählen, dann ist wohl
kaum von Sorgfalt und Redlichkeit bei der Zertifikatsausstellung auszugehen. Eine verordnete Ausgrenzung
der betreffenden Regionen aus internationalen Handelsbeziehungen führt zwangsläufig dazu, dass gerade
den ärmsten Teilen der Bevölkerung in der Regel die
Existenzgrundlage entzogen wird. In rund 50 Entwicklungsländern trägt die Erschließung von Rohstoffen im
Kleinbergbau mit mehr als 10 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, in der Republik Kongo sind es
13,4 Prozent. Weltweit werden zwischen 15 und
20 Prozent der Rohstoffe in dieser speziellen Form des
Bergbaus gewonnen. Rund 100 Millionen Menschen
sind nach aktuellen Hochrechnungen davon existenziell abhängig. Die Erfahrungen in vielen Regionen
der Welt zeigen leider auch, dass sich die Finanzierung gewalttätiger Auseinandersetzungen dank krimineller Marktteilnehmer immer sicherstellen lässt, daran können selbst Embargos nichts ändern. Als die
Regierung der Republik Kongo ein Verbot sämtlicher
Bergbauaktivitäten verhängte, brachen augenblicklich
weite Teile der Wirtschaft und damit auch die Staatseinnahmen massiv ein. Bewaffnete Milizen besetzten
umgehend die nun freien Minen, der illegale Abbau
und Handel florierte. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass die Regierung das Verbot nach knapp sechs Monaten eilig wieder aufhob.
Das macht deutlich: Die im vorliegenden Antrag
geforderten Konzepte befördern eher Konflikte, als
dass sie ihnen entgegenwirken. Nationale Alleingänge
wie beispielsweise die Regelungen gemäß Dodd-Frank
Act bleiben womöglich in ihrer Wirkung auf die Rohstoffmärkte beschränkt. Sie bergen aber erhebliche
Gefahren für die Versorgungssicherheit der eigenen
Industrie und führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu
Wettbewerbsnachteilen. Obwohl im Antrag die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von Rohstoffimporten
aufgezeigt und in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Handelsbeziehungen mit Schwellen- und Entwicklungsländern betont wird, stimmen die Autoren
ein Loblied auf den Rechtsrahmen in den USA und auf
die bürokratischen Vorgaben der US-Börsenaufsicht
an. Dies ist wohl auch ein Beweis dafür, dass sich die
SPD inzwischen weit von ihren industriellen Wurzeln
entfernt hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der bessere Ansatz sind international breit unterstützte und auf Freiwilligkeit beruhende Initiativen.
Nur wenn beide Seiten - Schwellen- oder Entwicklungsländer auf der einen und die dort aktiven Unternehmen auf der anderen Seite - ein Bewusstsein für regionale und spezifische Probleme entwickeln, lässt
sich die notwendige Verbindung von mehr Transparenz
und Good Governance erreichen. Erst der schrittweise
Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen setzt gestalterische Kräfte frei, schafft neue Chancen und lässt so alle
Beteiligten gleichermaßen profitieren. Drohende Isolation und öffentliche Pranger bewirken das Gegenteil.
Diese Überzeugung zählt zu den stabilen Leitplanken der Außen-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik
der Bundesregierung, wie an den verschiedenen Initiativen im Rahmen der G 8 und G 20, der aktiven Rolle
in der Extractive Industries Transparency Initiative,
EITI, oder den unterzeichneten Rohstoffpartnerschaften zweifellos deutlich wird. Als zentrales Element der
Rohstoffstrategie schaffen dabei insbesondere Partnerschaften die Grundlage für gezielte Pilotprojekte
und enge Kooperationen zur Verbesserung der Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen. Hierin sehen
wir den richtigen Weg, um eine nachhaltige Rohstoffgewinnung und eine Zunahme der Ressourceneffizienz
zu erreichen.
Die Notwendigkeit für weiterführende gesetzliche
Regelungen, wie sie der eingebrachte Antrag fordert,
lehnen wir daher ab.
Gestern hat das Europäische Parlament die sogenannten Transparenzrichtlinie verabschiedet. In ihr
wurde erstmals eine Berichtspflicht festgeschrieben.
Börsennotierte Rohstoffunternehmen müssen zukünftig
offenlegen, was sie in den Förderländern an Steuern
und Abgaben zahlen müssen. Ein Reporter des
Deutschlandfunks zitiert eine Frau aus Papua Neuguinea: „Bald werden wir wissen, was unsere Regierung
an Einnahmen von der Goldmine bekommt. Dann werden wir für Krankenhäuser, Schulen und Straßen
kämpfen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“
Diese Gesetzesänderung ist vor allem das Verdienst
einer britischen NGO - Publish what you pay -, die
seit 2002, also seit rund 12 Jahren, für Offenlegungspflichten eintritt. Ihre Forderung war von Beginn an:
Die Menschen in rohstoffreichen Ländern haben ein
Recht darauf, dass ihnen der Rohstoffreichtum zugute
kommt. Sie haben das Recht, zu wissen, wie viel ihr
Land aus dem Rohstoffabbau erhält, denn Bodenschätze sind fast überall auf der Welt Eigentum der Bevölkerung eines Landes. Steuervermeidung und Korruption bei der Vergabe von Konzessionen und
Förderlizenzen führen aber in der Realität oft nur
dazu, dass entweder gar nichts gezahlt wird oder sich
die politische Elite bereichert. Große Bergbaukonzerne finanzieren so Bürgerkriege und Vertreibung.
Mit dem Dodd-Franc Act sind die USA einen wichtigen Schritt gegangen. Aber wir wissen alle, dass das
Gesetzesvorhaben auf europäischer Ebene eineinhalb
Jahre gedauert hat, und wir kennen alle den Bremser:
die Bundesregierung. Wir kennen vom BDI auch die
Gründe für diese Blockadehaltung: zusätzliche Bürokratiekosten. Die Europäische Union hat diese in einer
Studie abgeschätzt und kommt auf 0,05 des Jahresgewinns der betroffenen Rohstoffunternehmen, Gewinne,
die im Rohstoffsektor seit Jahren sprudeln, auch weil
viele dieser Unternehmen die billigen Arbeitskräfte in
den Förderländern ausbeuten und die Kosten für die
Umweltverschmutzung und Landvertreibung natürlich
nicht bezahlen müssen. Wir kennen das aus dem ölverseuchten Nigerdelta, um nur ein prominentes Beispiel
zu nennen. Herr Lämmel und Herr Fritz von der CDU/
CSU-Fraktion haben diese Argumente in der ersten
Debatte wiederholt und alleine auf freiwillige Selbstverpflichtungen und Rohstoffpartnerschaften gesetzt.
Die Transparenzinitiative, die auch die SPD in ihrem Antrag fordert, ist demgegenüber ein richtiger,
aber sehr kleiner Schritt im Versuch, die großen Konzerne an die Leine zu nehmen. Die EU ist dem jetzt
weitgehend entgegengekommen. Einige EU-Mitgliedstaaten werden beim G-8-Gipfel die Umsetzung in nationales Recht innerhalb eines Jahres ankündigen. Es
wäre gut, wenn auch die Bundesregierung mit dabei
wäre. Außerdem ist es Aufgabe der Mitgliedstaaten, effektive Sanktionen festzusetzen, die zur Anwendung
kommen, wenn Unternehmen gegen die Offenlegungspflicht verstoßen. Auch hier sind geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit das Gesetz nicht zum zahnlosen Tiger wird.
Auf den Rohstoffmärkten haben in den letzten Jahren dramatische Verschiebungen stattgefunden, die in
der Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig diskutiert
werden und von der Politik kaum aufgegriffen werden.
Im Zuge des neuen Rohstoffhungers der Schwellenländer haben Finanzinvestoren Rohstoffmärkte als Spekulationsobjekt neu entdeckt und treiben gemeinsam mit
Rohstoffhändlern wie Glencore nicht nur mit Nahrungsmitteln Schindluder. Gleichzeitig ist die Konzentration im Bergbausektor enorm angestiegen. Viele
rohstoffreiche Länder des Südens leiden immer mehr
unter dem Ressourcenfluch. Streiks von Minenarbeitern und Proteste der betroffenen Bevölkerung häufen
sich. Deshalb brauchen wir nicht nur Transparenz,
sondern Regulierung. Wir müssen weitergehen und
eben nicht nur fragen: „Zahlen die Konzerne auch
Steuern?“, sondern auch: Was passiert danach mit den
Rohstofferlösen? Kommen sie der Bevölkerung insgesamt zugute, und kommen sie den von Bergbau betroffenen Regionen zugute? Unter welchen Bedingungen
wird abgebaut? Werden soziale und ökologische Standards eingehalten? Wird die lokale Bevölkerung in die
Entscheidungen einbezogen?
Konkret: Da Bergbauunternehmen oft kaum Gewinnsteuern vor Ort zahlen, sind Exportzölle auf Rohstoffe ein wichtiger Einnahmezweig für rohstoffreiche
Zu Protokoll gegebene Reden
Länder, aber genau gegen diese kämpfen die WTO und
die Industriestaaten mithilfe von einseitigen Freihandels- und Investitionsschutzabkommen. Deshalb müssen zukünftig Menschenrechte, Arbeitsrechte und
Umweltschutz bei allen Handels-, Investitions- und
Rohstoffabkommen Vorrang bekommen.
Nimmt man den Abschlussbericht der EnqueteKommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
ernst, stehen wir aber vor einer viel größeren Herausforderung: Von den Industriestaaten und Schwellenländern muss ein Impuls ausgehen, um in den nächsten
Jahren den absoluten Ressourcenverbrauch nicht nur
beim Erdöl zu senken. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen in rohstoffreichen Ländern beginnen
bereits, Vorstellungen zu entwickeln, wie denn eine
Entwicklung ihres Landes ohne Bergbau oder Erdölförderung und damit ohne die begleitende Umweltzerstörung aussehen könnte. Das setzt aber voraus, dass
wir unseren zukünftigen Wohlstand vom Rohstoffverbrauch entkoppeln. Keine leichte Aufgabe!
Seit gestern ist es amtlich: Nach den USA zieht nun
auch die EU nach. Das Europäische Parlament hat
umfassende Transparenzregeln im Rohstoffsektor beschlossen. Das ist eine gute Nachricht. Doch das heißt
auch, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Koalition: Sie sind mit Ihrer Verhinderungstaktik in
Sachen Rohstofftransparenz krachend gescheitert.
Zwar haben Sie hier im Bundestag stets beteuert, sich
für verpflichtende Transparenz im Rohstoffsektor einzusetzen; aber auf EU-Ebene hat Schwarz-Gelb doch
mit aller Kraft versucht, substanzielle Regeln zu verhindern.
Unseren Grünen-Antrag „Transparenz im Rohstoffsektor - EU-Vorschläge umfassend umsetzen“ auf
Drucksache 17/8354, in dem wir bereits Anfang 2012
genau das gefordert haben, was auf EU-Ebene jetzt beschlossene Sache ist, hat die Koalition abgelehnt. Der
Antrag der SPD, den wir heute abschließend beraten
und dem wir zustimmen, wird von Schwarz-Gelb ebenfalls abgelehnt.
Die gestern beschlossenen Offenlegungspflichten
im Rohstoffsektor sind ein großer Erfolg in der Sache.
Sie sind auch ein Erfolg von uns allen, die wir bei diesem Thema nicht locker gelassen haben: wir hier im
Parlament, unsere Kolleginnen und Kollegen im EP,
die großartig verhandelt haben, und die Zivilgesellschaft, die den Druck aufrechterhalten hat. Dieser
Druck war notwendig; denn die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich zur Sachwalterin der Rohstofflobby gemacht. Aber sie ist damit nicht weit gekommen. Im Verhandlungsprozess in Brüssel musste die
Bundesregierung peu à peu ihre Positionen räumen.
Die Entscheidung in Brüssel ist also gefallen, und
jetzt kommt es auf die Umsetzung in nationales Recht
an. Ab Herbst ist das hoffentlich die Aufgabe einer Regierung, die den nötigen Willen dazu hat. Bis dahin
fordern wir die schwarz-gelbe Bundesregierung ganz
explizit dazu auf, jetzt nicht länger auf die Bremse zu
treten und die Ausgestaltung der Regeln in nationales
Recht schnellstmöglich voranzutreiben. Es gibt EUMitgliedstaaten, die beim G-8-Gipfel nächste Woche
die Umsetzung innerhalb eines Jahres verkünden werden. Daran werden wir die Bundesregierung messen.
Mit den Regelungen des Dodd-Frank Acts in den
USA und den gestern beschlossenen EU-Regeln werden 70 Prozent der globalen Rohstoffindustrie abgedeckt. Auch Kanada hat angekündigt, die Offenlegungspflichten im Rohstoffsektor anzugehen. Wir
bewegen uns also zunehmend in Richtung eines globalen Standards; ja, das ist unser Ziel.
In diesen Tagen sind Aktivistinnen und Aktivisten in
Deutschland zu Gast, die sehr viel riskieren, weil sie gegen die brutalen Konsequenzen und Verstrickungen im
Rohstoffsektor ihrer jeweiligen Länder angehen. Golden
Misabiko und Anthony Lyamunda, die gegen den
Uranabbau in der Demokratischen Republik Kongo bzw.
in Tansania kämpfen, oder Delphine Djiraibé, die sich
seit Beginn der Erdölförderung im Süden des Tschad für
die Interessen der betroffenen Bevölkerung einsetzt und
diese als Anwältin vor Gericht vertritt. Sie berichten,
welche Konsequenzen die Komplizenschaft zwischen
Rohstoffmultis und Regierungen hat, für die Umwelt,
für die Menschen, für die Wirtschaft in den rohstoffreichen Ländern. Hier ist Transparenz wichtig; das ist
unbestritten. Aber sie reicht bei weitem nicht aus. Rohstoffkonzerne müssen endlich zur Verantwortung gezogen werden für ihre unsäglichen Menschenrechtsverletzungen.
Wir brauchen verbindliche Standards und eine international gerechte und entwicklungsförderliche Rohstoffpolitik. Deshalb steht grüne Rohstoffpolitik für
eine umfassende Innovationsstrategie, wie wir sie in
unserem Antrag auf Drucksache 17/13568 skizzieren.
Wir wollen den Rohstoffverbrauch vom wirtschaftlichen Wachstum entkoppeln und setzen auf verstärktes
Recycling, ressourceneffiziente Produktion, Substitution, faire Verteilung von Ressourcen und auf nachhaltige Entwicklungschancen für rohstoffreiche Entwicklungsländer. Denn: In der Rohstoffpolitik muss endlich
umgesteuert werden. Schwarz-Gelb ist dazu nicht in
der Lage. Die Bundesregierung setzt stupide auf das
„business as usual“. Das ist kurzsichtig.
Bereits letzte Woche, als wir hier über den Koalitionsantrag zum Rohstoffabbau in der Demokratischen
Republik Kongo abgestimmt haben, habe ich darauf
hingewiesen - ich will auch heute damit enden -: Der
Club of Rome warnt vor einem Zusammenbruch des
Ökosystems. Wir müssen die planetarischen Grenzen
endlich anerkennen und unser Handeln, unsere Politik, unseren Rohstoffhunger daran ausrichten. Nur
wenn wir die Grenzen des Wachstums ernst nehmen,
lässt sich die totale Plünderung des Planeten noch
stoppen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12881, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11876 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 35 sowie den Zusatzpunkt 13 auf:
35 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Frank Heinrich, Dr. Matthias Zimmer,
Peter Weiß ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb,
Sebastian Blumenthal, Heinz Golombeck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
zu der Beratung der Unterrichtung durch
die Bundesregierung
- Drucksache 17/12650 Lebenslagen in Deutschland - Vierter
Armuts- und Reichtumsbericht
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Gabriele Lösekrug-Möller, Anette
Kramme, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die notwendigen politischen Konsequenzen
aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung ziehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Verschleierung verhindern - Berichterstattung über Armut und Reichtum auf eine
unabhängige Kommission übertragen
- Drucksachen 17/13250, 17/12650, 17/13102,
17/12709, 17/13826 Berichterstattung:Abgeordneter Frank Heinrich
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern - Lebenslagen umfassend abbilden
- Drucksache 17/13911 In der Tagesordnung hatten wir ausgewiesen, dass die
Reden zu Protokoll genommen werden.
Die öffentliche Anhörung hat gezeigt, dass der Armuts- und Reichtumsbericht den wissenschaftlichen
Standards entspricht. Hervorheben möchte ich an dieser Stelle, dass das Statistische Bundesamt bestätigt
hat, dass alle in dem Bericht verwendeten Daten der
amtlichen Statistik von ihm geprüft und korrekt wiedergegeben worden sind. Hinweisen möchte ich auch
auf den Beitrag der Arbeiterwohlfahrt, der bei seinem
Statement fordert, dass die Berichtslegung aus den
Bundestagswahlkämpfen herausgehalten werden müsse.
Aber genau das will weder die SPD, geschweige
denn die Linke. Der Armut- und Reichtumsbericht ist
eine kritische Bestandsaufnahme der sozialen Realität
in Deutschland. Wenn er besser ausfällt, als es den
Linken für ihre Polemik passt, ist es für unsere Gesellschaft nur gut.
Der Armuts- und Reichtumsbericht macht deutlich,
dass die Schere zwischen Arm und Reich im Berichtszeitraum nicht weiter auseinandergedriftet ist, und
dies nicht nur im Zeitraum des aktuellen Berichtes.
Vielmehr zeigen sich seit 2005 keine signifikant steigenden Werte, sodass die Wissenschaft zu dem Schluss
kommt, dass das Verhältnis der unterschiedlichen Einkommen relativ stabil ist.
Einer der wesentlichen Faktoren für diese positive
Entwicklung ist die Stabilisierung des Arbeitsmarktes.
Die Opposition bemerkt dann gerne, dass Arbeit nicht
alles ist. Aber es bedeutet sehr viel für die Menschen in
unserem Land, wenn sie morgens zur Arbeit gehen und
dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Ein funktionierender Arbeitsmarkt ist entscheidend für die Armutsrisiken in unseren Land, und dieser christlich-liberalen Regierung ist es gelungen, der Wirtschaft so viele
Impulse zu geben, dass die Konjunktur kontinuierlich
weiterläuft, die Beschäftigtenzahlen weiter zunehmen
und die Arbeitslosigkeit gesunken ist.
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht macht
deshalb zu Recht auf die positive Entwicklung aufmerksam:
Von 2007 bis 2012 ist die Anzahl der Arbeitslosen
um knapp 1 Million gesunken und die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten um rund
2 Millionen gestiegen.
Seit dem Jahr 2007 reduzierte sich die Langzeitarbeitslosigkeit um über 40 Prozent.
Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger ging bei den Erwerbsfähigen um über 800 000 und bei den Kindern
um rund 270 000 zurück.
Die Armutsrisikoquote blieb seit 2007 relativ konstant zwischen 14 und 16 Prozent.
Die Ungleichheit bei der Einkommensverteilung
war in den vergangenen Jahren tendenziell rückläufig.
Der Niedriglohnbereich - ebenfalls eine relative
Größe - hat nicht zugenommen, sondern schwächte
sich zuletzt eher ab.
Das sind einfach Erfolge, die nicht wegdiskutiert
werden können.
Aber der Armuts- und Reichtumsbericht signalisiert
auch Handlungsbedarf. So steht das deutsche Bildungssystem weiterhin vor der Aufgabe, die soziale
Durchlässigkeit zu erhöhen und Bildungsaufstiege zu
ermöglichen. Wir empfinden es als problematisch,
dass Kinder aus bildungsfernen und einkommensschwachen Elternhäusern sowie insbesondere Kinder
mit Migrationshintergrund seltener und kürzer eine
Kindertagesstätte besuchen als andere Kinder. Auch
der erreichte allgemeine und berufliche Bildungsabschluss wird in Deutschland stark vom soziokulturellen
Hintergrund geprägt. Defizite bei Schul- und Ausbildungsabschluss wirken sich nach den Ergebnissen des
Berichts vor allem auch bei Menschen mit Behinderungen negativ auf die gesamte Erwerbsbiografie aus.
Gefragt sind daher in Zukunft vermehrt politische
Strategien für eine faire, aufstiegsoffene Gesellschaft,
die sich aktiv gegen herkunftsbedingte Benachteiligungen wendet und Chancen für Beschäftigung eröffnet.
Das ist nicht nur ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit,
sondern auch der wirtschaftlichen Vernunft. Die Linken wollen mit ihrem Verteilungswahlkampf die Schulden erhöhen, die von den kommenden Generationen
bezahlt werden müssen. Wir setzen auf die Ausbildung
unserer Jugend und damit auf die Zukunft unserer Gesellschaft.
Seit Anfang März liegt uns der sogenannte Armutsund Reichtumsbericht vor - ein Bericht, der „Lebenslagen in Deutschland“ in den Blick nimmt. Im Fokus
stehen dabei die Veränderungen von Lebenslagen, also
nicht Armutsrisiken als bloße statistische Größe, sondern Wege in und aus Armut. Ein erster Blick auf die
Daten zeigt: Den Menschen in der Bundesrepublik
geht es gut, sie sind nicht massenweise von Verelendung betroffen, wie es die Opposition behauptet. Wir
haben die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist seit
2007 um rund 40 Prozent gesunken, Deutschland weist
die niedrigste Jugendarbeitslosenquote in der EU auf,
sogar als einziges Land einen signifikanten Rückgang
der Quote, einen Tiefstand im Hartz-IV-Bezug, einen
Höchststand bei der Beschäftigung, und auch die
Löhne steigen spürbar, insbesondere dort, wo die Tarifbindung hoch ist. Kurzum: Wir haben eine insgesamt gute arbeits- und sozialpolitische Gemengelage,
um materielle Armutsrisiken zu senken.
Nun wird bisweilen im Ton des Vorwurfs argumentiert: Die Bundesregierung habe massiv Leistungen
bei der Arbeitsförderung gekürzt. Ja, das ist richtig.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir die Mittel für
Programme der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsförderung auf dem Höhepunkt der Krise deutlich nach
oben gefahren haben. Das macht ja auch Sinn. In der
Krise stellen wir mehr Geld zur Verfügung, nach der
Krise fahren wir den Ansatz nach unten. Aber: Trotz
der Reduzierung geben wir heute pro Kopf mehr für
die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt aus als vor der Krise. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass es sinnvoll ist, nicht nur bei steigender
Arbeitslosenzahl mehr Geld für Arbeitsmarktpolitik
auszugeben, sondern auch, wenn es weniger Arbeitslose gibt. Das ist Unfug auf allen Ebenen.
Nun fordern die Linken eine „unabhängige Kommission“, die zusammengesetzt sein solle aus Vertretern der „Wissenschaft, Gewerkschaften, Verbände sowie Interessenvertretungen der von Armut und sozialer
Ausgrenzung betroffenen Personen“. Man kann ja
durchaus eine Diskussion über eine unabhängige
Kommission führen. Wenn ich aber ein unabhängiges,
also ein objektives Bild haben will, darf ich nicht die
Betroffenen zu Richtern in eigener Sache machen,
oder, um den Kollegen Jakob Maria Mierscheid zu zitieren: „Wer den Baum fällen will, darf nicht die
Baumspechte um Rat fragen.“ Es geht also nicht, Interessenvertreter in eine solche „unabhängige“ Kommission zu berufen. Genauso absurd ist in diesem Zusammenhang, der Kommission bereits im Antrag
nahezulegen, welche normativen Schlussfolgerungen
sie aus ihrer Analyse zu ziehen hat. Damit würde die
von ihnen geforderte Kommission zum Sprachrohr der
Linken degenerieren. Ich frage mich, welcher wirklich
unabhängige Experte sich hierfür freiwillig instrumentalisieren lassen würde.
Richtig ist, dass atypische Beschäftigungsformen
wie Teilzeitarbeit oder auch befristete Arbeitsverhältnisse zugenommen haben. Sie haben aber Normalarbeit nicht verdrängt - der Verlauf zeigt eine solide
Zunahme sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Es kann also keine Rede davon
sein, dass atypische Beschäftigungsformen reguläre
Arbeitsverhältnisse verdrängt haben. Beide haben Zuwachsraten. Selbstverständlich ist nicht jede Tätigkeit
besser als Arbeitslosigkeit. Aber auch ein befristetes
Arbeitsverhältnis kann ein Türöffner in den Arbeitsmarkt sein und damit Armutsrisiken senken helfen. Vor
allem an Übergängen im Lebensverlauf wie etwa Berufseinstieg oder Teilzeit im Alter können atypische
Beschäftigungsverhältnisse durchaus Arbeitnehmern
und Arbeitgebern ein Stück weit gewollte Flexibilität
sichern. Bei ungewollter atypischer Beschäftigung
hingegen sollten wir unsere sozialpolitischen Handlungsspielräume unbeirrt nutzen, um sichere Jobs zu
bewahren.
Der Armuts- und Reichtumsbericht stellt weiterhin
fest, dass Mindestlöhne bzw. allgemein verbindliche
Lohnuntergrenzen helfen können, Wege aus Armut zu
flankieren. Der Plural ist mir hier ein Dorn im Auge.
Wir wollen eine robuste Lohnuntergrenze als Regel.
Das ist aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit sinnvoll und gleichzeitig sozialpolitisch notwendig.
Ein weiterer wichtiger Befund des Berichts: Bildung
und Ausbildung beeinflussen die soziale Mobilität. Bildungschancen von Kindern werden durch BildungsZu Protokoll gegebene Reden
armut und geringes Haushaltseinkommen der Eltern
negativ beeinflusst. Eine frühzeitige Bildungsförderung zahlt sich also aus. Dies zeigt sich exemplarisch
bei den Geringverdienern: So sind es trotz der begrenzten Aufwärtsmobilität von Niedriglohnbeschäftigten in erster Linie besser ausgebildete Geringverdiener, deren Aufstiegswahrscheinlichkeit hoch ist.
Bildung und Ausbildung werden wichtiger, weil Tarifbindungen rückläufig und betriebliche Öffnungsklauseln für Geringverdiener häufig von Nachteil sind. Daher ist es nicht nur erfreulich, dass der Anteil der
Schüler ohne Schulabschluss gesunken ist, sondern
vor allem auch die Quote der Bildungsaufsteiger angestiegen ist, wir also Anzeichen einer Abkopplung des
Bildungserfolges von der sozialen Herkunft beobachten können.
Eine politische Spielwiese der Opposition ist die
Einkommens- und Vermögensverteilung in unserem
Land. Mein Eindruck ist, dass an dieser Stelle die Debatte ganz besonders verquer ist. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat berechnet: Die Armutsgefahr hat in Deutschland zwischen 1999 und
2004 deutlich zugenommen, seither nicht mehr. Im Gegenteil: Die Einkommensschere hat sich wieder geschlossen. Die Opposition hingegen verkündet, die
Armutsgefährdung in Deutschland steige. Fast 16 Prozent der Haushalte seien davon betroffen. Doch was
heißt „armutsgefährdet“ überhaupt? Armutsgefährdet
ist, wer über weniger als 60 Prozent des gewichteten
Nettoeinkommens verfügt. Das ist eine häufig vorgenommene Definition der EU. - Das ist aber lediglich
eine statistische Größe und sagt über die Lebenslage
der Menschen nichts aus. Sie ist zudem unsinnig. Wenn
in einer Gesellschaft wie Nordkorea alle Menschen
hungern, ist gleichzeitig statistisch betrachtet keiner
armutsgefährdet. Es hungern ja alle gleich, und weniger als 60 Prozent des gewichteten Nettoeinkommens
hat keiner.
Das gilt im Übrigen auch für den Begriff des Reichtums. Statistisch gesehen ist derjenige reich, der über
200 Prozent des gewichteten Medianeinkommens verfügt. Dieses Medianeinkommen liegt bei etwa
1 655 Euro netto im Monat für einen Einpersonenhaushalt. Demnach wäre jemand mit 993 Euro, 60 Prozent, und weniger im Monat armutsgefährdet, und
reich wäre jemand ab einem Nettoeinkommen von
3 300 Euro. Also, zwischen armutsgefährdet und reich
liegen - statistisch gesehen - gerade einmal
2 200 Euro an Nettoeinkommen. Das ist aus meiner
Sicht ziemlich absurd. Es ist von der Begrifflichkeit her
kontraintuitiv, weil es die landläufigen Meinungen darüber, was arm und reich ist, vollkommen infrage
stellt. Um es auf die Spitze zu bringen: Ein Student vor
dem Abschluss des Studiums gilt in der Regel als armutsgefährdet oder arm. Mit seinem ersten Job kann
er dann von einem Tag auf den anderen plötzlich reich
werden. So schnell können sich Lebenslagen ändern.
Vielleicht ist es sinnvoll, sich andere Zahlen anzuschauen, beispielsweise den Gini-Koeffizienten, der
das Maß an Ungleichverteilung in einer Gesellschaft
untersucht. Die Werte reichen von 0 bis 1, wobei 0 die
Gleichverteilung bedeutet und 1 die größtmögliche
Ungleichverteilung, also eine Person das komplette
Vermögen oder Einkommen erhält. Für Deutschland
zeigt sich zunächst einmal, dass die Ungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten, seit 2007 rückläufig ist,
während sie von 2000 bis 2005 zugenommen hat. Das
betrifft die Nettoäquivalenzeinkommen auf Haushaltsebene, also alle Einkommensarten. Etwas anders
sieht es bei der Vermögensverteilung aus. Hier sind
nach den letzten Zahlen von 2008 die Privatvermögen
im Zeitraum von 1998 bis 2008 im obersten Dezil gestiegen. Allerdings sind in den Renten- und Pensionskassen angehäufte Ansprüche - anders als die Kapitallebensversicherungen - nicht berücksichtigt. Bezieht
man diese sogenannten Sozialvermögen in Höhe von
etwa 5 Billionen Euro in die Vermögensrechnung ein,
entsteht auch hier ein erheblich gleichmäßigeres Bild
hinsichtlich der Vermögensverteilung.
Ich finde es bedauerlich, dass die ganze Debatte lediglich mit Blick auf materielle Faktoren geführt wird.
Menschen können sich durchaus bei genügender materieller Grundausstattung als arm empfinden, wenn sie
sozial vereinsamt sind, wenige oder keine personalen
Netzwerke haben, wenn sie von Krankheiten geplagt
sind oder sich in trostlosen Lebenslagen befinden. Umgekehrt können Menschen sich auch trotz geringer materieller Mittel ihr Leben als glücklich vorstellen. Lebensqualität ist keine ausschließliche Funktion des
Einkommens. Dahinter steht auch die Frage nach einem guten Leben, einem gelingenden Leben. Dafür ist
die materielle Ausstattung ein Faktor, aber für viele
Menschen sicherlich nicht der wichtigste.
Das ist vielleicht auch der Grund, warum wir es unterlassen sollten, uns künstlich arm zu reden. Armut ist
ein relativer Begriff, zum einen relativ zu dem Einkommen oder Vermögen anderer, aber auch relativ zu anderen uns wichtigen Lebenschancen. Vieles davon können wir messen, vieles nicht. Den Menschen und seine
Lebenschancen lediglich auf die materiellen Möglichkeiten zu reduzieren, erscheint mir falsch und sollte in
keiner Lebenslage Leitmotiv sein.
Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung stellt der sozialen Gerechtigkeit in
Deutschland ein schlechtes Zeugnis aus. Er ist auch
ein schlechtes Zeugnis für die Bundesregierung. Denn
sie hat diesen Bericht geschönt. Sätze wie: „Die Privatvermögen sind in Deutschland sehr ungleich verteilt“, oder: „Allerdings arbeiteten im Jahr 2010 in
Deutschland knapp über vier Millionen Menschen für
einen Bruttostundenlohn von unter sieben Euro“, wurden einfach gestrichen. An der Realität hat sich dadurch nichts geändert, aber hier werden Tatsachen
„schöngeschrieben“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die empirischen Befunde der Experten sind eindeutig. Deutschland ist kein gerechtes Land. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeit und Qualifikation auf
Basis des SOEP lag die Niedriglohnschwelle 2010 bei
einem Stundenlohn von 9,15 Euro. Insgesamt 7,92 Millionen Menschen arbeiteten deutschlandweit für
9,15 Euro oder weniger. Darüber hinaus arbeiten fast
7 Millionen Menschen für einen Lohn unter 8,50 Euro.
Der Niedriglohnanteil bei den Beschäftigten in
Deutschland liegt bei erschreckenden 23 Prozent.
Auch das Armutsrisiko von Erwerbstätigen ist von
7,7 Prozent 2003 auf 8,7 Prozent 2008 angestiegen.
Seit Jahren fordert die SPD deshalb einen gesetzlichen Mindestlohn. Dieser soll bei 8,50 Euro eingeführt
werden und würde somit die sozial-ökonomische Situation von fast 7 Millionen Menschen verbessern. Für
die SPD gilt: Schluss mit diesem ausufernden Niedriglohnsektor. Durch ihn macht Arbeit arm, und Armut im
Alter wird vorprogrammiert.
Weitere Fakten belegen, dass in Deutschland ein
Verteilungsgerechtigkeitsproblem besteht. So verfügten nach dem Bericht 2008 die obersten 10 Prozent der
Haushalte in Deutschland über 50 Prozent des vorhandenen Nettovermögens, wohingegen die 50 Prozent
der ärmsten Haushalte nur 1 Prozent des gesamten
Nettovermögens besaßen. Und diese Spaltung ist in
den Krisenjahren größer geworden. Denn der Reichtum an der Spitze hat zugenommen. Der vorliegende
Bericht ignoriert die Ursachen der gesellschaftlichen
Spaltung. Armut wird individualisiert, strukturelle Benachteiligung nicht in den Blick genommen. So beklagt
der Deutsche Frauenrat zu Recht: „Dem ARB fehlt …
auch eine konkrete Linie für den sozialen Ausgleich.“
Oft wird der SPD vorgeworfen, sie rede Deutschland
schlecht. Daran ist kein Gramm Wahrheit. Deutschland ist ein starkes Land. Gleichwohl ist es kein Paradies.
Auch wenn es Deutschland im Verhältnis zu anderen
Ländern in Europa ökonomisch recht gut geht, haben
wir ein Verteilungsgerechtigkeitsproblem. Es ist Fakt.
Das belegt sogar der geschönte vierte ARB. Deshalb
hat die SPD-Fraktion zahlreiche Anträge zu Recht und
Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, zu Rente, zu Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zur Steuergesetzgebung, zu Gleichstellung, zu Integration und zum Ausländerrecht vorgelegt. Unser Ziel ist es, Armutsrisiken
vorzubeugen und Benachteiligungen aufgrund von Lebenslagen deutlich zu verkleinern. Teilhabe für alle
und Armutsvermeidung sind Aufgaben des gesellschaftlichen Zusammenhalts auf allen politischen Ebenen.
Was muss besser werden in der Berichterstattung
über Armut und Reichtum? Einige Beispiele: bessere
Einbindung des Beraterkreises, Transparenz der Berichterstellung durch die Veröffentlichung des Beratungsprozesses, Verbesserung der Indikatoren, Geschlechtergerechtigkeit in den Blick nehmen, stärkere
Nutzung vorhandenen Datenmaterials zum Reichtum,
verdeckte Armut überhaupt identifizieren, Vernetzung
der Ergebnisse anderer Berichterstattungen, den Lebensphasenansatz durch einen Lebenslagenansatz ergänzen. Wir brauchen Erkenntnisse über die strukturellen Ursachen von Armut und Reichtum, damit wir
politische Handlungsansätze entwickeln können.
Meine Aufforderung an die Bundesregierung ist
heute: Erkennen Sie die soziale Situation in Deutschland an. Geben Sie zu, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. Sie hatten vier Jahre Zeit, entsprechende
Initiativen zu ergreifen. Das haben Sie versäumt. Wir
werden uns kümmern, nach dem 22. September 2013.
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat in diesem Jahr hohe Wellen geschlagen. Was wurde nicht alles an Vorwürfen erhoben!
Verschleierung, Vertuschung, sogar absichtliche Fälschung. Ich werde nachfolgend versuchen, die populistische Spreu vom Weizen zu trennen, und ein paar
Punkte aus dem Bericht aufführen, die, wie ich meine,
einen realistischen Blick auf die Situation in unserem
Land ergeben.
Die Wörter „arm“ und „reich“ rufen ganz unterschiedliche Gefühle auf. Es ist deshalb wichtig, dass
die Bundesregierung alles daransetzt, eine ausgewogene Darstellung bei einem solchen Bericht zu erreichen. Die Abstimmung in der Bundesregierung unter
Beteiligung aller Ressorts leistet genau dieses. Der
jetzt vorgelegte Bericht enthält im Ergebnis eine differenzierte und ausgewogene Darstellung dieses wichtigen Themas.
Im Mittelpunkt des Berichts stehen Fragen der sozialen Mobilität, das heißt der Chancen unterschiedlicher Personengruppen unserer Gesellschaft, in Bezug
auf ihr Einkommen und/oder ihren beruflichen Status
aufzusteigen. Damit greift der Bericht das Ergebnis einer aktuellen Allensbach-Befragung auf, nach der die
bundesdeutsche Bevölkerung die Chancengerechtigkeit höher bewertet als die Verteilungsgerechtigkeit eine Überzeugung, die wir Liberale aus vollem Herzen
teilen!
Der Bericht tritt der Behauptung entgegen, die Kluft
zwischen Arm und Reich sei durchgängig gewachsen.
Er zeichnet ein differenziertes, an den verfügbaren Daten und Fakten im Berichtszeitraum ausgerichtetes
Bild.
Der Berichtszeitraum 2007 bis 2011 war geprägt
von einer ausgesprochen guten Entwicklung auf dem
Arbeitsmarkt, trotz der zwischenzeitlich spürbaren Belastungen durch die Finanz- und Wirtschaftskrise. Der
Arbeitsmarkt zeigt sich äußerst robust und hat historisch hohe Beschäftigungsstände erreicht.
Zwischen 2006 und 2011 wurden in Deutschland
2 Millionen Menschen zusätzlich in Beschäftigung gebracht; über 1,5 Millionen Menschen weniger waren
arbeitslos. Zu dieser strukturellen Verbesserung hat
auch die Einführung des Niedriglohnsektors durch die
damalige rot-grüne Bundesregierung beigetragen;
Zu Protokoll gegebene Reden
denn auch Einkommen aus niedrig entlohnten Tätigkeiten können zu einem höheren Haushaltseinkommen
beitragen und sind allemal dem Verbleib in Arbeitslosigkeit vorzuziehen.
Die Bedeutung eines gut funktionierenden Arbeitsmarktes zur Vermeidung von Armut kann kaum hoch
genug eingeschätzt werden. Langzeitarbeitslosigkeit
ist eine der gravierendsten Ursachen für Armutsrisiken.
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht macht
dies deutlich: Allein im Berichtszeitraum reduzierte
sich die Langzeitarbeitslosigkeit um über 40 Prozent.
Die Zahl der Hilfebedürftigen in der Grundsicherung
für Arbeitsuchende ist um 800 000 zurückgegangen,
die Zahl der Kinder unter 15 Jahren in Haushalten, die
Hartz-IV-Leistungen beziehen, ist um 270 000 gesunken.
Hier müssen wir unsere Bemühungen jetzt noch
weiter verstärken. Es ist Zeit, zur besseren Förderung
von Menschen, die schon seit langer Zeit arbeitslos
sind, auch über einen anderen Einsatz der aktiven und
passiven Mittel nachzudenken mit dem Ziel einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt.
Ein weiteres wesentliches Ergebnis des Berichts ist,
dass sich im Berichtszeitraum, insbesondere seit dem
Jahr 2005, die Einkommen der privaten Haushalte in
Deutschland nicht weiter gespreizt haben. Im Gegenteil: Wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer Untersuchung ({0}) auf Grundlage aktualisierter Daten im
Herbst bestätigte, hat die Einkommensungleichheit als
Ergebnis der ausgesprochen guten Beschäftigungsentwicklung zuletzt sogar abgenommen.
Diese Ergebnisse befinden sich im Einklang mit einer Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung in Tübingen, IAW, die das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales für den Armuts- und Reichtumsbericht in Auftrag gegeben hatte. Sie verdeutlicht,
dass die Einkommensungleichheit in Deutschland zwischen 1999 und 2005 zwar gestiegen ist, sich aber seitdem stabilisiert hat.
Dieser Punkt ist mir persönlich besonders wichtig,
da die Opposition nach wie vor durch die Lande zieht
und von der immer weiter auseinanderklaffenden
Schere zwischen Arm und Reich fabuliert. Die Daten
im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht zeigen hier
eindeutig, dass diese Behauptungen falsch sind.
Daneben wird im Bericht festgestellt, dass in der
Berichtsperiode 2007 bis 2011 der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten, Löhne unter zwei Dritteln des
Medianlohns - leicht zurückgegangen ist. Er war von
2000 bis 2007 von 20 Prozent auf 24 Prozent gestiegen
und ist seither wieder auf 23 Prozent gesunken. Der
Anteil der sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnisse liegt seit 2005 konstant bei etwa 25 Prozent,
ist also auch nicht wesentlich verändert.
Auch hier stimmt die Mär von den Arbeitgebern, die
ihre Stammbelegschaften durch Zeitarbeiter und Minijobber ersetzen, eindeutig nicht. Es wäre schön, wenn
sich politische Parteien bei der Skizzierung der Verhältnisse in Deutschland an den Fakten und nicht an
einer „fantasierten Realität“ orientieren würden.
Die Armutsgefährdungsquote ist im Berichtszeitraum nahezu konstant geblieben und liegt - je nach
Datenquelle - zwischen 14 und 16 Prozent. Als relatives Armutsmaß, Einkommen unter 60 Prozent des Medianeinkommens, kann sie selbst bei steigenden Einkommen konstant sein. So wird verschleiert, dass sich
die wirtschaftliche Situation der Menschen mit niedrigen Einkommen absolut verbessert hat. Dies ist zumindest in den letzten drei Jahren der Fall gewesen: Die
realen verfügbaren Einkommen sind im Schnitt um
1 Prozent pro Jahr gestiegen, mehr als doppelt so stark
wie im Durchschnitt der davor liegenden 15 Jahre.
Hier sollte man, wie ich finde, einmal über verwendete Begrifflichkeiten nachdenken. Ob unsere bestehenden Definitionen tatsächlich Armut widerspiegeln
oder einfach nur Ungleichheit, macht nämlich meiner
Meinung nach einen großen Unterschied. Wenn es
Chancengerechtigkeit für jeden gibt - und auch daran
müssen wir noch weiter gerade im Bereich der frühkindlichen und „regulären“ Bildung arbeiten -, ist
Ungleichheit in einer Gesellschaft hinnehmbar, Armut
muss jedoch immer mit Nachdruck bekämpft werden.
Mir ist bewusst, dass es bei einer gesellschaftlich so
schwerwiegenden Frage wie der von Armut und Reichtum unterschiedliche Meinungen zwischen den Parteien gibt, und das ist ja auch gut so. Aber ich bitte Sie
als Kollegen nachdrücklich, in der Öffentlichkeit nicht
mit falschen Zahlen und Behauptungen zu agieren.
Das ist nicht nur schädlich für den politischen Diskurs.
Es verunsichert vor allem diejenigen Menschen, die
sich nicht den ganzen Tag mit Studien und Erhebungen
dazu beschäftigen. Es zeichnet ein Bild von einer Gesellschaft, die real so nicht existiert, und es schürt
Ängste und Vorurteile, die überflüssig sind.
Deutschland geht es gut, auch im europäischen Vergleich. Es waren vier gute Jahre für unser Land. Natürlich geht es immer noch besser. Wir werden nach
dem 22. September vier weitere Jahre gerne und engagiert daran arbeiten.
Linke, SPD und Grüne haben wieder und wieder auf
Verschleierung, Zensur, Verharmlosung und Heuchelei
im Vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hingewiesen.
Durch alle Medien ging die Nachricht, dass das
Wirtschaftsministerium unter Philipp Rösler die strukturellen sozialen Probleme in diesem Land offenbar
nicht sehen will. Was Ministerin von der Leyen noch an
Kritik zuließ, hat Rösler offenkundig streichen oder
durch Wohlwollenderes ersetzen lassen. Weder steht
die Regierungskoalition zu den sozialen UngerechtigZu Protokoll gegebene Reden
keiten noch gedenkt sie, wirklich etwas an der bestehenden Situation zu verändern. Das ist skandalös.
Interessant allerdings wird es, wenn wir den Armuts- und Reichtumsbericht in Zusammenhang mit einem noch anderen Umstand bringen: „Gespaltene Demokratie“ lautet der Titel der gemeinsamen Studie der
Bertelsmann-Stiftung und dem Institut für Demoskopie
Allensbach, die in dieser Woche Schlagzeilen machte.
Die Studie belegt, dass die Wahlbeteiligung von Geringverdienenden stetig sinkt.
Das bedeutet, dass nicht nur die soziale Spaltung
insgesamt zunimmt, wie der Bericht zeigt. Es zeigt
sich, dass es auch eine zunehmende soziale Spaltung
bei der Wahlbeteiligung gibt. Während aus der Mittelund Oberschicht schon fast 70 Prozent angeben, wählen gehen zu wollen, können das lediglich knapp
30 Prozent der Geringverdienenden von sich behaupten.
Die Politik der Regierungskoalition ist eine Politik
für Überprivilegierte auf Kosten der Allgemeinheit.
Sie ist eine Politik für potenzielle Großspenderinnen
und Großspender. Ein geringer Bildungsgrad ist laut
Studie beinahe eine Garantie für das Nichtwählen.
Auch deshalb fordern wir, reale Bildungschancen für
alle zu schaffen, damit gebildete und gut ausgebildete
Menschen in guten Jobs arbeiten können und ihr Wahlrecht wahrnehmen.
Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht propagiert Individualismus und Egozentrismus. Einzelne
können es bis ganz nach oben schaffen, wenn sie nur
alle ihnen gönnerhaft zugebilligten Angebote wahrnehmen. Oben angekommen, dürfen sie mit der Oberschicht auf die Masse blicken, die sie im Schweiße ihres Angesichts zurücklassen konnten. Das ist zynisch;
denn die meisten schaffen das nicht.
Laut DIW besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung 35,7 Prozent des gesamten deutschen Nettovermögens. Die obersten 10 Prozent besitzen sogar ganze
66,6 Prozent. Die untere Hälfte der Bevölkerung teilt
sich hingegen nur 1 Prozent des Nettovermögens. Gerechtigkeit sieht anders aus. Die Politik der Regierung
gefährdet - so stand es wortwörtlich in der unzensierten Fassung des Berichts - den „Zusammenhalt“ unser aller Gesellschaft.
Obwohl wir zusammen in Deutschland ein privates
Nettovermögen von rund 10 Billionen Euro vorweisen
können, müssen 1,3 Millionen Arbeitende mit Hartz IV
aufstocken. Hundertausende davon arbeiten in Vollzeit. Die Botschaft an sie lautet: Ihr seid einfach nicht
gut genug, habt wohl die Chancen nicht genutzt. Diese Demütigung muss ein Ende haben.
In den Jahren von 1998 bis 2008 haben die untersten 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten reale Lohnverluste erleiden müssen, und 4,7 Millionen Menschen, die sozialversicherungspflichtig in Vollzeit
beschäftigt sind, arbeiten inzwischen im Niedriglohnbereich. Insgesamt arbeiten fast 8 Millionen Menschen
für einen Niedriglohn, also für weniger als 9,15 Euro
brutto pro Stunde. Die Agenda 2010 von SPD und Grünen mit ihrer Deregulierung des Arbeitsmarkts ist verantwortlich für 1 Million mehr Menschen im Niedriglohnsektor und 1,4 Millionen Menschen, die für einen
Stundenlohn von unter 5 Euro arbeiten müssen.
Wenn im ersten Entwurf des Armuts- und Reichtumsbericht steht, dass in Zukunft doch bitte auch „ein
Geringqualifizierter von seiner Vollzeitarbeit seinen
Lebensunterhalt bestreiten können soll“, S. XIX, und
dieser Satz dann gestrichen wird, bedeutet das doch:
Die Bundesregierung möchte nicht, dass diejenigen,
die einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten können.
Die Bundesregierung möchte auch nicht, dass die
strukturellen Bedingungen von Armut verstanden werden und Menschen ihr Wahlverhalten danach ausrichten. Das nämlich würde die sofortige Abwahl der derzeitigen Regierung bedeuten.
Der Armuts- und Reichtumsbericht darf selbstverständlich nicht länger von einer Regierung erstellt
werden, die sich seit Jahren der Reichtumspflege widmet. Es muss vielmehr eine unabhängige Kommission
eingerichtet werden. Einer Regierung darf nicht die
Bewertung ihrer eigenen Politik überlassen werden.
Die Bewertung muss parlamentarisch verankert sein
und zu einem großen Teil der betroffenen oder fachlich
versierten Zivilgesellschaft überlassen werden. Das ist
der richtige Weg, und alle Sachverständigen in der
Ausschussanhörung, die sich zum Vorschlag der Linken geäußert haben, haben ihn auch für gut befunden.
SPD und Grüne fokussieren ihre Forderungen auf
Investitionen in Bildung, und wie die Studie belegt, ist
das auch tatsächlich die basale Notwendigkeit für einen strukturellen Wandel. Die Möglichkeit zur Zensur
des Berichts möchte aber keine der beiden Fraktionen,
wie schon zur eigenen Regierungszeit, endgültig aus
den Händen geben. Ein Schelm, wer Böses dabei
denkt.
Die Linke fordert, dass Vermögende ihrem Vermögen entsprechend am Zusammenhalt der Gesellschaft
finanziell beteiligt werden. Eine einmalige Vermögensabgabe bei einem Freibetrag von 1 Million Euro wäre
ein Anfang. Weitervererbter Reichtum muss großzügig
besteuert werden. Steuerhinterziehung im großen Stil
darf nicht länger geduldet werden. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von mindestens 10 Euro
pro Stunde wäre ein erster Schritt zur Bekämpfung von
zukünftiger Altersarmut, eine solidarische Mindestrente von 1 050 Euro ein zusätzliches Sicherungsnetz.
Leiharbeit gehört verboten oder wenigstens streng
reguliert. Der Missbrauch von Werkverträgen muss
verhindert werden. Sanktionen für Menschen am Existenzminimum sind inakzeptabel. Die Linke steht für
einen echten Zusammenhalt der Gesellschaft und uneingeschränkte Solidarität. Mit anderen Worten: Wir
müssen Reichtum begrenzen und Armut bekämpfen!
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist schon bezeichnend, dass wir heute erneut
über den Vierten Armuts- und Reichtumsbericht debattieren - seit seiner Veröffentlichung ist das nun das
vierte Mal -, und es ist auch dringend notwendig; denn
der Bericht ist ein Beispiel dafür, wie die Armuts- und
Reichtumsberichterstattung nicht ausfallen sollte.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat am
3. Juni eine öffentliche Anhörung von Sachverständigen durchgeführt, in der die Kritik am Armuts- und
Reichtumsbericht bestätigt wurde. Ich will hier nicht
alle Kritikpunkte wiederholen, die dort benannt wurden, sondern nur einen Punkt herausgreifen, den auch
wir von Anfang an kritisiert haben, und zwar das einseitige Verständnis der Koalition von effektiver Armutsbekämpfung. Würde man dem Bericht Glauben
schenken, so ließe sich Armutspolitik auf die einfache
Formel bringen: Absenkung der Arbeitslosenzahlen
plus Ermöglichung von sozialer Mobilität gleich allgemeine Wohlstandssteigerung.
Dass diese Rechnung nicht aufgeht, zeigt die Armutsrisikoquote, die seit 2004 auf hohem Niveau von
über 15 Prozent stagniert, und das obwohl sich die
Bundesregierung damit brüstet, dass Deutschland in
den vergangenen Jahren ein Beschäftigungswunder
erlebt. Normalerweise sollte ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu einer Absenkung der Armutsrisikoquote führen. Dass dies nicht der Fall ist, wird in der
Wissenschaft inzwischen als „deutsches Paradoxon“
beschrieben und hat verschiedene Gründe. Ein ganz
entscheidender ist, dass nicht jeder Job existenzsichernd ist, und Erwerbsarbeit eben nicht für alle Bevölkerungsgruppen automatisch das Ende ihrer finanziellen Nöte bedeutet.
Wer Armut effektiv bekämpfen will, muss das Problem in seiner Komplexität und Vielfalt wahrnehmen.
Ihr sehr kleines sozialpolitisches Einmaleins reicht da
nicht aus. So richtig und wichtig die Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit und Bildungsförderung unbestrittenermaßen sind, eine Armutsbekämpfung, die sich darauf beschränkt, bekommt viele drängende Probleme
gar nicht in den Blick. Nehmen wir das Beispiel der
verdeckten Armut. Armutsforscher des DIW schätzen,
dass circa 40 bis 60 Prozent der älteren Menschen
Grundsicherungsleistungen nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Diese Menschen leben in Armut und sind mit arbeitsmarkt- oder
bildungspolitischen Initiativen nicht zu erreichen.
Das Gleiche gilt für „reguläre“ Rentnerinnen und
Rentner. Die Rentenversicherung hat Anfang dieser
Woche bestätigt - diese Zahlen dürften auch der Regierungskoalition nicht entgangen sein -, dass im vergangenen Jahr jede zweite Rente in Deutschland unter
700 Euro im Monat lag. Auch wenn ich weiß, dass die
gesetzliche Rente nicht immer das einzige Alterseinkommen ist, liegt dieser Wert unterhalb der Armutsgrenze, sodass die Zahl der Rentenversicherung auf
ein Risikofeld hindeutet.
Das sind Armutsprobleme, die jetzt drängen und für
die es jetzt Lösungen braucht. Wir brauchen Lösungen
für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor. Ihr Anteil
liegt inzwischen bei über 20 Prozent, das heißt jeder
fünfte Arbeitnehmer kann seinen Lebensunterhalt
nicht selbst sichern, und das obwohl er erwerbstätig
ist. Wir brauchen Lösungen für die Armut von Frauen.
Ihre geringe Entlohnung schlägt - vor allem wenn sie
alleinerziehend sind - auf ihre Kinder durch. Kurz:
Der von der Koalition so hoch gelobte deutsche Arbeitsmarkt ist nicht nur Lösung, sondern in seiner jetzigen Form zugleich Teil des Problems.
Ich möchte noch auf einen zweiten Punkt zu sprechen kommen, der in der Diskussion - nicht zuletzt,
weil die Defizite bei den Armutsdaten so eklatant waren - etwas untergegangen ist, zur vollständigen Berichterstattung über die Lebenslagen in Deutschland
aber unverzichtbar ist: den Bereich „Reichtum und
privates Vermögen“. Hierzu liefert der Armuts- und
Reichtumsbericht nur sehr spärlich und insgesamt unzulängliche Daten.
Entwicklungen wie die, dass das oberste Prozent
der Topverdiener im letzten Jahrzehnt überdurchschnittliche Einkommenszuwächse verzeichnen konnte
oder dass das Statistische Bundesamt im Jahr 2008
trotz Bankenkrise und staatlicher Rettungsmilliarden
50 000 neue Einkommensmillionäre verzeichnete, finden im Bericht keine Erwähnung. Auch die Polarisierung der Einkommen in Deutschland ist nicht dokumentiert. Heute verdienen die Mitglieder der obersten
10 Prozent der deutschen Gesellschaft etwa achtmal so
viel wie die untersten 10 Prozent; in den 1990er-Jahren lag das Verhältnis bei 6 : 1. Das Medianeinkommen ging in Deutschland im Zeitraum von 1991 bis
2009 real von 19 094 Euro auf 18 510 Euro jährlich
zurück, bei einem realen Wirtschaftswachstum von
rund 35 Prozent in diesem Zeitraum. Dagegen sind die
Einkommen der Reichen gestiegen. Die am besten verdienenden 10 Prozent der Bevölkerung beziehen heute
etwa ein Viertel des gesamten Nettoeinkommens, drei
Prozentpunkte mehr als noch 1999. In Bezug auf die
Markteinkommen beziehen nur die oberen 20 Prozent
der Bevölkerung fast die Hälfte. Ihr Anteil ist seit 1999
um 3,5 Prozentpunkte gestiegen.
Noch drastischer als bei der Betrachtung der Einkommen stellt sich die Entwicklung der Ungleichverteilung bei der Betrachtung der Vermögen in Deutschland dar: Die obersten 10 Prozent der Deutschen
besitzen heute zwei Drittel des gesamten Vermögens,
und nur das vermögendste Prozent der Deutschen
nennt 35,5 Prozent des gesamten Vermögens sein Eigen. Im Zeitraum von 2002 bis 2007 ist der Anteil der
obersten 10 Prozent gewachsen, während der Anteil
der unteren 90 Prozent am Vermögen gesunken ist.
3,4 Millionen Haushalte in Deutschland haben heute
mit einem Schuldenberg von insgesamt etwa 120 Milliarden Euro zu kämpfen.
Wenn über die Lebenslagen in Deutschland berichtet werden soll - und der Armuts- und ReichtumsbeZu Protokoll gegebene Reden
richt heißt nicht ohne Grund „Armuts- und Reichtumsbericht“ -, dann müssen die Daten zu Armut und
Reichtum einander gegenübergestellt werden. Für die
Frage der Armutsbeseitigung ist nicht allein von Belang, wer aus welchen Gründen arm ist, sondern auch
welche Personengruppen reich sind. Denn die starke
Spreizung zwischen Arm und Reich - darüber waren
sich auch die Sachverständigen der Anhörung einig kann nicht durch Bildungs- und Aufstiegsförderung
aufgelöst werden. Hier braucht es steuerpolitische Initiativen, und zwar so, wie wir Grünen dies fordern:
durch eine Entlastung unterer und mittlerer Einkommen und eine stärkere Besteuerung großer Einkommen.
Zu guter Letzt: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung monierte in seiner Stellungnahme zur
Anhörung, dass der Armuts- und Reichtumsbericht nur
eine Blickrichtung kennt, nämlich in die Vergangenheit. Ein Blick in die Zukunft, welche Armutsrisiken
sich bereits heute abzeichnen und welche Bevölkerungsgruppen besonders gefährdet sind, fehlt, und mit
ihm auch die Ansätze dafür, wie diesen Tendenzen
frühzeitig entgegengewirkt werden kann. Hieran wird
deutlich, wie weitreichend die negativen Folgen des
Vierten Armuts- und Reichtumsberichts sind. Mit der
Aussparung von strukturellen Armutsrisiken und den
fehlenden Daten zur Reichtumsentwicklung hat die
schwarz-gelbe Bundesregierung die Arbeitsgrundlage
zur Armutsbekämpfung deutlich geschwächt.
Damit diese defizitäre Berichterstattung ein Einzelfall bleibt, haben wir in unserem Antrag klare Forderungen formuliert: Die 1999 vom Gesetzgeber formulierten Zielsetzungen und Richtlinien für die Armutsund Reichtumsberichterstattung müssen zukünftig verbindlich und konsequent umgesetzt werden, sodass der
Bericht das liefert, was er soll: ein umfassendes Abbild
der Lebenslagen in Deutschland.
Tagesordnungspunkt 35. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/13826.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Entschließungsantrags der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/13250 zu der Unterrichtung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12650 mit dem Titel
„Lebenslagen in Deutschland - Vierter Armuts- und
Reichtumsbericht“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Wir sind noch bei Tagesordnungspunkt 35. Unter
Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13102
mit dem Titel „Die notwendigen politischen Konsequenzen aus der Armuts- und Reichtumsberichterstattung ziehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die
Koalitionsfraktionen stimmen zu. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12709 mit dem
Titel „Verschleierung verhindern - Berichterstattung
über Armut und Reichtum auf eine unabhängige Kommission übertragen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion.
Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zusatzpunkt 13. Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13911 mit
dem Titel „Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbessern - Lebenslagen umfassend abbilden“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Das sind die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde
- Drucksache 17/13419, 17/13619 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13952 Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der Funktionen der Betreuungsbehörde. Die bisherige Debatte,
insbesondere die Anhörung im Rechtsausschuss am
3. Juni 2013, hat uns bestätigt, dass der mit diesem
Gesetzentwurf eingeschlagene Weg zur schrittweisen
Weiterentwicklung des Betreuungsrechts richtig ist.
Die Sachverständigen haben das Ziel des Gesetzes, die
Zahl der Betreuungen durch eine Stärkung der Betreuungsbehörde zu senken, begrüßt.
An dieser Stelle ist es mir wichtig, zunächst noch
einmal festzuhalten, dass das deutsche Betreuungsrecht aus dem Jahr 1992 als eines der modernsten
Rechtsinstrumente dieser Art in Europa gilt. Anstelle
von Bevormundung ist die Anerkennung betreuter
Menschen als gleichberechtigte und selbstbestimmte
Mitglieder unserer Gesellschaft getreten. Unser BeUte Granold
treuungsrecht entspricht damit bereits grundsätzlich
den Anforderungen der VN-Behindertenrechtskonvention. Es ermöglicht eine nach Aufgabenkreisen maßgeschneiderte Vertretung des Betreuten in dem jeweils
erforderlichen Umfang, ohne die Geschäftsfähigkeit
des Betreuten aufzuheben. Damit kann gerade die Betreuung dazu beitragen, dem Betreuten ein möglichst
selbstbestimmtes Leben nach seinen Wünschen und
Vorstellungen zu bieten. Gleichzeitig gewährt das
Betreuungsrecht Menschen in besonders gefährdeten
Situationen einen Schutz. Diese beiden Zielsetzungen
stehen in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge, das für das Betreuungsrecht bestimmend ist.
Der 2011 vorgelegte Abschlussbericht der durch
das BMJ eingerichteten interdisziplinären Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Betreuungsrecht“ hat bestätigt,
dass sich das deutsche Betreuungsrecht in der Praxis
bewährt und im internationalen Vergleich einen sehr
hohen Standard erreicht hat. Deshalb wird darin auch
die grundsätzliche Beibehaltung des bisherigen Systems bei punktuellen Neuregelungen im Betreuungsund Verfahrensrecht empfohlen. Die jetzige Gesetzvorlage soll also keine tiefgreifende Reform, sondern eine
Abrundung der bestehenden Struktur sein.
Wir haben bereits 2005 mit dem 2. Betreuungsrechtsänderungsgesetz den ersten Schritt zur Weiterentwicklung des Betreuungsrechts gemacht. Die Evaluation des Gesetzes hat im gerade genannten
Abschlussbericht Punkte aufgezeigt, die wir mit dem
heute beratenen Gesetzentwurf aufgegriffen haben.
Danach werden wir eine erneute Evaluation starten,
um sicherstellen zu können, dass das Betreuungsrecht
auch weiterhin den sich ändernden Bedürfnissen der
Menschen und den Vorgaben der VN-Behindertenrechtskonvention entspricht.
Ich habe bereits in der Debatte am 16. Mai 2013 darauf verwiesen, dass die interdisziplinäre Arbeitsgruppe weitere Vorschläge für untergesetzliche Maßnahmen angeregt hat, die alle Bereiche betreffen:
Betreuungsgerichte, Betreuungsbehörden und Betreuungsvereine. Diese Vorschläge bilden ein in sich
geschlossenes Konzept, das möglichst komplett umgesetzt werden sollte, um Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht auf das Erforderliche zu reduzieren und
das Aufzeigen und die Vermittlung anderer Möglichkeiten der Unterstützung und Assistenz nach dem
Grundsatz „Assistenz statt Betreuungsanordnung“ zu
verbessern. Wir können heute davon nur die Vorschläge aufgreifen, die Bundesrecht betreffen.
Das Betreuungsrecht steht im Spannungsfeld zwischen dem Prinzip der Erforderlichkeit auf der einen
und der Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Vor
diesem Hintergrund ist der heute abschließend beratene Gesetzentwurf ein weiterer Schritt hin zu einer
Stärkung des Erforderlichkeitsgrundsatzes.
Die wesentlichen Neureglungen des Gesetzentwurfes habe ich bereits in der Debatte am 16. Mai erläutert. Darüber hinaus will ich nun die Änderungen ergänzen, die sich im Rahmen der Anhörung und der
Beratungen im Rechtsausschuss ergeben haben.
Kernpunkte des Gesetzes sind die obligatorische
Anhörung der Betreuungsbehörden vor der Bestellung
eines Betreuers und der hierzu von diesen vorzulegende qualifizierte Bericht. Damit dieser Bericht der
Betreuungsbehörde gewissen Standards genügt, werden für ihn qualifizierte Kriterien festgelegt. Ferner
werden die Aufgaben der Betreuungsbehörde im Betreuungsbehördengesetz konkreter als bisher beschrieben. Dabei liegt der Fokus auf der Beratung, welche
anderen Hilfen möglich sind. Darüber hinaus wird gesetzlich verankert, dass die Betreuungsbehörden ihre
Aufgaben durch Fachkräfte wahrnehmen müssen.
Aufgrund der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses haben wir die Anregung aufgenommen, dass
die Betreuungsbehörde dann, wenn kein Betreuer zu
bestellen ist, nicht nur auf Hilfen hinwirken, sondern
diese auch vermitteln soll. Damit wird noch deutlicher
hervorgehoben, dass die Betreuungsbehörde gegebenenfalls den Hilfebedarf eines hilfebedürftigen Erwachsenen anderen Fachbehörden mitteilen und dem
Betroffenen Wege zu den zuständigen Stellen aufzeigen
soll.
Die Betreuungsbehörde wird durch den heute beratenen Gesetzentwurf zum Dreh- und Angelpunkt zwischen Betreuungsrecht und Sozialrecht. Die erweiterten Aufgaben der Betreuungsbehörde stellen neue
Anforderungen an die Anzahl und die Qualifikation
der Mitarbeiter. Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme darum gebeten, ein Inkraftsetzen im Laufe des Jahres 2014 zu prüfen. Der
Zeitpunkt des Inkrafttretens soll danach einerseits gewährleisten, dass den Kommunen ausreichend Zeit für
die angemessene Ausstattung der Betreuungsbehörden
zur Verfügung steht. Andererseits soll er ausreichend
Raum geben, um in Vorbereitung der bereits erwähnten umfassenden weiteren Evaluation des Vorhabens
durch das Bundesjustizministerium den Istzustand zu
ermitteln. Wie in der Gegenäußerung der Bundesregierung erläutert, kann diesen Anliegen auch bei dem
jetzt vorgesehenen Inkrafttreten zum 1. Juli 2014 noch
Rechnung getragen werden.
Die im Rahmen der Ausschussberatungen von der
Opposition vorgeschlagene obligatorische Beteiligung
der Betreuungsbehörde nicht nur bei der Erstbestellung eines Betreuers, sondern auch bei einer Erweiterung oder Verlängerung haben wir nach den entsprechenden Anregungen einzelner Sachverständiger auch
erwogen. Da jedoch anders als bei der erstmaligen Bestellung dem Gericht in diesen Verfahren bereits Informationen zu den Betroffenen zum Beispiel durch den
bereits bestellten Betreuer vorliegen, haben wir davon
aber letztendlich Abstand genommen. Deshalb soll die
Entscheidung über eine Beteiligung der Betreuungsbehörde in das Ermessen des Gerichts gestellt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zusammenfassend sind wir uns darin einig, dass
sowohl die demografischen und gesellschaftlichen
Herausforderungen als auch die Vorgaben aus der VNBehindertenrechtskonvention eine ständige Weiterentwicklung des Betreuungsrechts notwendig machen. In
diesem Zusammenhang begrüße ich es sehr, dass auch
die SPD-Fraktion den Gesetzentwurf mitträgt.
Meine Ausführungen haben gezeigt, dass die
unionsgeführte Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Funktion der Betreuungsbehörden entschlossen ist, sich dieser Aufgabe zu stellen.
Ein Sachverständiger hat in der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses das Gesetz zur Stärkung
der Betreuungsbehörde sehr zutreffend beschrieben:
Es sei weniger die Taube auf dem Dach als vielmehr
der Spatz in der Hand. Dieser Einschätzung kann ich
mich nur anschließen.
Grundsätzlich ist es richtig, den Erforderlichkeitsgrundsatz im Betreuungsrecht zu stärken. Gerade auch
im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention
müssen Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht der
Betroffenen auf das Nötigste begrenzt werden. Das ist
ein erster Schritt.
Durch die obligatorische Anhörung der Betreuungsbehörde vor der Bestellung eines Betreuers oder
der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts soll die
Nutzung der Fachkompetenz im gerichtlichen Verfahren verankert werden. Die Betreuungsbehörde soll mit
ihren Kenntnissen über andere Hilfen, die eine rechtliche Betreuung überflüssig machen, dazu beitragen,
rechtliche Betreuungen in Fällen, bei denen andere
Möglichkeiten zur Verfügung stehen, zu verhindern.
Wir haben in der Anhörung und im Ausschuss darüber diskutiert, ob auch bei einer Erweiterung und
Verlängerung der Betreuung oder der Einrichtung eines Einwilligungsvorbehalts eine verpflichtende Anhörung der Betreuungsbehörde geboten ist.
Die SPD-Bundestagsfraktion spricht sich für eine
Ermessensentscheidung der Gerichte aus. Ich traue es
den Richterinnen und Richtern grundsätzlich zu, selbst
zu entscheiden, ob eine erneute Anhörung der Betreuungsbehörde notwendig erscheint oder nicht. Wir
haben den Änderungsantrag der Linken aber nicht abgelehnt. Denn letztlich werden wir in der Praxis überprüfen müssen, ob die verabschiedeten Regelungen
ausreichen, um unnötige rechtliche Betreuungen zu
verhindern und die Interessen und Rechte der Betroffenen ausreichend zu wahren.
Neben den verfahrensrechtlichen Regelungen soll
auch im Vorfeld gerichtlicher Verfahren die Rolle der
Betreuungsbehörde gestärkt werden. Hierfür wird im
Gesetz die Beratungspflicht der Behörde verankert.
Durch Information und Beratung sollen frühzeitig andere Hilfen aufgezeigt und bertreuungsgerichtliche
Verfahren schon im Vorfeld vermieden werden. Wir haben uns im Ausschuss gemeinsam dafür ausgesprochen, die Behörden dazu zu verpflichten, nicht nur auf
andere Hilfen hinzuwirken, sondern diese den Menschen auch zu vermitteln und dabei mit den zuständigen Sozialleistungsträgern zusammenzuarbeiten.
Insgesamt zielen die Regelungen des Gesetzentwurfes darauf ab, dass zukünftig nur noch Betreuer bestellt werden, wenn dies wirklich erforderlich ist. Zur
Stärkung des Erforderlichkeitsgrundsatzes, der bereits
heute durch § 1896 BGB im Betreuungsrecht verankert
ist, wird vor allem auf die Kompetenz und das Fachwissen der Betreuungsbehörde abgestellt.
Das bedeutet, dass dieses Gesetz nur so gut ist, wie
unsere Betreuungsbehörden gut sind.
Schon in der ersten Lesung hat die Bundesjustizministerin zu bedenken gegeben, dass der Erfolg dieser
Neureglung von der praktischen Umsetzung vor Ort
abhängen wird - und damit von der angemessenen
Ausstattung der Behörden. Diese Einschätzung wurde
von den Sachverständigen in der öffentlichen Anhörung bestätigt. Die vorgeschlagenen Änderungen
könnten zwar zu einer stärkeren Beachtung des Erforderlichkeitsgrundsatzes gerade im gerichtlichen Verfahren beitragen. Voraussetzung hierfür sei aber, dass
die Betreuungsbehörden personell so ausgestattet
würden, dass sie ihre neuen Aufgaben auch bewältigen
könnten.
An dieser Stelle sind vor allem die Länder gefragt
und deren Bereitschaft, zumindest anfangs Mehrkosten
in Kauf zu nehmen, um die Behörden vor Ort vernünftig aufzustellen. Die Fachkenntnisse müssen gezielt
eingesetzt und den Hilfebedürftigen und Gerichten zugänglich gemacht werden. Das wird teilweise nur mit
einer deutlichen Personalaufstockung umsetzbar sein.
Ohne ein breites Angebot an sozialen Hilfen führt
der Gesetzentwurf ebenso ins Leere. Ich habe in meiner letzten Rede auf den derzeit vielerorts praktizierten
Abbau sozialer Dienste und Hilfen hingewiesen und
bin auch auf weitere Unklarheiten im Bereich des Betreuungsrechts eingegangen.
Trotz der vielen offenen Fragen werden wir dem Gesetzentwurf heute zustimmen. Aber es ist nur ein kleiner Schritt oder, anders gesagt, eben doch nur der
Spatz in der Hand und nicht die Taube auf dem Dach.
Wir leben in einer Gesellschaft, die immer älter
wird. In einer älter werdenden Bevölkerung bleibt es
nicht aus, dass immer mehr Menschen Probleme bei
der Bewältigung des Alltags haben. Eine Folge dessen
ist, dass die Zahl der Betreuungen für Erwachsene stetig ansteigt. Allerdings bestehen in der Fachwelt große
Zweifel, ob die Bestellung eines Betreuers in jedem
Einzelfall tatsächlich erforderlich ist oder ob nicht andere Möglichkeiten bestehen, den Betroffenen die erforderliche Hilfe zukommen zu lassen. Diese Frage
muss insbesondere vor dem Hintergrund gestellt werden, dass jeder Fall von Betreuung einen Eingriff in
Zu Protokoll gegebene Reden
das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Personen
darstellt.
Liberale Politik setzt auf einen selbstbestimmten
Bürger. Wo Menschen ihre Aufgaben nicht mehr alleine bewältigen können, ist es unser Anspruch, ihnen
die nötigen Hilfen zukommen zu lassen, damit sie so
weit wie möglich ein selbstbestimmtes Leben führen
können.
Zu diesem Zweck stärkt der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung die Funktion der Betreuungsbehörde. Sie muss künftig in jedes Verfahren einer
Erstbestellung eines rechtlichen Betreuers eingebunden werden. In diesem Verfahren wird die Betreuungsbehörde dann insbesondere zu folgenden Aspekten
berichten: persönliche, gesundheitliche und soziale
Situation des Betroffenen, Erforderlichkeit der Betreuung einschließlich geeigneter anderer Hilfen, Betreuerauswahl und Berücksichtigung des Vorrangs der
Ehrenamtlichkeit und die diesbezügliche Sichtweise
des Betroffenen.
Dieses Verfahren sichert die Möglichkeit, dass die
Betreuungsbehörde ihren Sachverstand einfließen
lässt. Die dort tätigen Mitarbeiter können aufgrund ihrer Expertise am besten einschätzen, ob der Betroffene
tatsächlich einer rechtlichen Betreuung bedarf oder ob
er nur für einen bestimmten Teil seiner Alltagsaufgaben Unterstützung braucht. So tun sich zum Beispiel
viele ältere Menschen schwer damit, Behördenanträge
auszufüllen. Dies muss aber nicht immer gleich heißen, dass diese Menschen auch generell nicht in der
Lage sind, ihre rechtlichen Angelegenheiten zu regeln.
Vielmehr ist nicht auszuschließen, dass ihnen durch
gezielte soziale Unterstützungen besser geholfen ist.
Der Vorteil einer solchen Lösung ist, dass der Eingriff
in die Selbstbestimmtheit der Menschen wesentlich geringer ausfällt, als wenn sie unter rechtliche Betreuung
gestellt werden.
In § 4 des Betreuungsbehördengesetzes, BtBG, werden durch das neue Gesetz die Aufgaben der Betreuungsbehörde konkretisiert. Sie soll alle Beteiligten
über betreuungsrechtliche Fragen informieren. Sie soll
auch Personen, bei denen Anhaltspunkte für einen
Betreuungsbedarf bestehen, ein Beratungsangebot unterbreiten. Dieses Gebot umfasst auch die Pflicht, andere Hilfen, bei denen kein Betreuer bestellt wird, zu
vermitteln. Dies hat die schwarz-gelbe Koalition in einem Änderungsantrag klargestellt. In der ursprünglichen Fassung des Gesetzentwurfes war noch geregelt,
dass die Betreuungsbehörde auf andere Hilfen hinwirken müsse. Durch die nun vorgenommene Änderung,
nach der die Betreuungsbehörden alternative Hilfen zu
vermitteln haben, wird das Ziel unterstrichen, rechtliche
Betreuungen so weit wie möglich zu vermeiden und
den Betroffenen ein weitestmöglich selbstbestimmtes
Leben zu ermöglichen.
Damit dieses angestrebte Ziel erreicht werden kann,
ist es erforderlich, dass in den Betreuungsbehörden
entsprechend qualifiziertes Personal tätig ist. Daher
werden in § 9 BtBG entsprechende Anforderungen
geregelt. Die Betreuungsbehörde soll nur solche Personen beschäftigen, die sich hierfür nach ihrer Persönlichkeit eignen und die in der Regel entweder eine ihren Aufgaben entsprechende Ausbildung erhalten
haben oder über vergleichbare Erfahrungen verfügen.
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt den vorliegenden Gesetzentwurf. Er trägt dazu bei, unnötige
rechtliche Betreuungen zu vermeiden. Darüber hinaus
wird er die Justizhaushalte der Länder entlasten, da
die Länder die Kosten einer rechtlichen Betreuung zu
tragen haben, soweit die Betreuten selber dazu nicht in
der Lage sind.
Der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages
hat am 3. Juni 2013 eine öffentliche Anhörung zu dem
vorgelegten Gesetzentwurf durchgeführt. Die Sachverständigen lobten den Gesetzentwurf als Verbesserung
des deutschen Betreuungsrechts. Nicht zuletzt dieses
positive Feedback aus der Fachwelt bestärkt uns darin, den Gesetzentwurf zu unterstützen. Daher bitte ich
auch Sie um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf.
Vier Wochen sind seit der ersten Lesung vergangen,
am 3. Juni 2013 hatten wir im Rechtsausschuss zu dem
vorliegenden Gesetz eine Anhörung mit zehn Sachverständigen, deren Sachverstand teilweise in das Gesetz
eingeflossen ist, aber eben nur teilweise.
Wie schon vor vier Wochen gesagt, werden mit dem
Gesetz Verbesserungen erzielt, welche dem Rahmen
des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die
Rechte von Menschen mit Behinderung entsprechen.
Ziel ist nach wie vor, die Zahl der Betreuungsfälle zu
verringern oder weniger umfangreiche Betreuungen
anzuordnen. Damit soll das Recht des Einzelnen auf
Selbstbestimmung gestärkt werden.
Im Ergebnis der Beratungen ist an wesentlicher Änderung geblieben, dass künftig nach der Neuregelung
des FamFG das Gericht in jedem Fall vor der Erstbestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines
Einwilligungsvorbehalts die zuständige Betreuungsbehörde anhören muss. Bislang geschah dies nur auf Verlangen des Betroffenen selbst oder bei Erforderlichkeitsfeststellung durch das Gericht.
Diese Beteiligung ist nun zwingend vorgeschrieben.
An den Kriterien hat sich in den vergangenen vier Wochen ebenfalls nichts geändert, es wird dem Schutz des
Betroffenen verstärkt Rechnung getragen.
Im Falle einer Erweiterung der Betreuung ist es jedoch bei der im Gesetz vorgesehenen Situation geblieben. Künftig ist - wie bisher - die Betreuungsbehörde
nur anzuhören, wenn es der Betroffene verlangt oder
es der Sachaufklärung dient.
War es früher so, dass bei allen Bestellungen, Erweiterungen, Verringerungen des Umfangs usw. die
Betreuungsbehörde nur auf Antrag oder bei erforderliZu Protokoll gegebene Reden
cher Sachaufklärung beteiligt wurde, ist nicht so richtig schlüssig, warum künftig nur bei der Erstbestellung
die Behörde beteiligt werden muss und nachfolgend
nicht.
Sowohl die Sachverständige der Arbeitsstelle zur
rechtlichen Betreuung für den Deutschen Caritasverband e. V., den Sozialdienst katholischer Frauen sowie
den Katholischen Verband für soziale Dienste in
Deutschland als auch der Sachverständige des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte
Menschen e. V. haben dies in der Anhörung angeregt.
Diese Änderung, von der Linken beantragt, ist leider durch die Stimmen der Koalitionsfraktionen im
Rechtsausschuss abgelehnt worden. So bleibt es beim
alten Status, obwohl aus sachverständiger Sicht der
Vertreter der Verbände, welche Betroffene vertreten
bzw. direkt mit ihnen zu tun haben, eine solche Änderung wünschenswert gewesen wäre.
Vielleicht ist diese Entscheidung aber auch aus den
Gründen heraus ergangen, dass bereits jetzt die Betreuungsbehörden teilweise nicht ausreichend ausgestattet sind, sowohl in sachlicher als auch in personeller Hinsicht.
Dies wurde in der Anhörung auch problematisiert,
ebenso wie aus Sicht der Sachverständigen aus dem
Bereich der Justiz, Betreuungsrichter und Rechtspfleger der zu hohe Pensenschlüssel bemängelt wurde.
Positiv sind und bleiben die Änderungen im Betreuungsbehördengesetz, wonach die Betreuungsbehörde
künftig nicht nur für Betreuer ein Angebot zur Einführung in ihre Aufgaben und Fortbildung bereitstellt,
sondern dies auch auf Bevollmächtigte ausgeweitet
wird.
Die Zahl der Vorsorgebevollmächtigten ist in letzter
Zeit gestiegen und dürfte auch weiter steigen. Deshalb
wird mit den Neuregelungen sichergestellt, dass auch
diesem Personenkreis die Möglichkeit eröffnet wird, in
die Aufgaben einer Betreuung eingeführt und/oder entsprechend fortgebildet zu werden. Fortbildung ist in
diesem sensiblen Bereich unabdingbar.
Der Gesetzentwurf setzt damit ein positives Signal,
die Häufigkeit von Betreuungen im Hinblick auf die
tatsächliche Erforderlichkeit zu reduzieren. Er ist ein
Einstieg in eine Verbesserung des Betreuungsrechts,
aber eben nur ein Einstieg, der durchaus hätte besser
erfolgen können.
Selbstbestimmtes Leben sollte höchste Priorität genießen. Von daher wäre eine verpflichtende Anhörung
der Betreuungsbehörde während der gesamten Betreuung und nicht nur bei der Erstbestellung ausgesprochen sinnvoll. Aus diesem Grunde wird sich die Linke
bei diesem Gesetzentwurf, dessen Zielsetzung und positive Aspekte durchaus begrüßt werden, enthalten.
Zu den Kosten und dem Erfüllungsaufwand gab und
gibt der Gesetzentwurf nichts her, da hat sich in den
letzten vier Wochen ebenfalls nichts geändert. In der
Anhörung kam allerdings deutlich zur Sprache, dass
bereits mit der jetzigen Änderung ein Mehraufwand
auf die Betreuungsbehörden zukommt und die Mittel
zur entsprechenden Ausstattung fehlen. Ob durch die
im Ergebnis der Anhörung erfolgte Änderung im Betreuungsbehördengesetz, wodurch die Behörde gehalten ist, bei Hilfebedarf eines Betroffenen, dem kein Betreuer bestellt ist, nicht nur auf andere Hilfen
hinzuwirken, sondern diese nun auch zu vermitteln,
eine neue Aufgabe an die Länder übertragen worden
ist, muss geprüft werden. Denn dies hätte auch Auswirkungen auf die Finanzierung.
Aber egal, wie auch immer steht für die Linke der
Mensch im Vordergrund, und Menschenrechte dürfen
nicht unter Finanzierungsvorbehalt stehen. Auch daran hat sich in den letzten vier Wochen nichts geändert.
Immer mehr Menschen sind in Deutschland auf Betreuung oder Assistenz angewiesen. In den letzten zehn
Jahren haben wir einen kontinuierlichen Anstieg von
Betreuungsverfahren erlebt. Im Jahr 2011 benötigten
1 319 361 Menschen eine rechtliche Betreuung. Und
die Tendenz ist steigend. Ursache für diese hohe Anzahl an Betreuungen sind demografische und gesellschaftliche Entwicklungen. Wir leben - das ist uns allen hier im Saal bewusst - in einer Gesellschaft, die
immer älter wird und in der der familiäre Zusammenhalt sich immer mehr lockert. Gleichzeitig ist uns allen
wichtig, dass Menschen, solange sie hierzu in der Lage
sind, ihre Entscheidungen selbstbestimmt treffen können. Deutschland hat sich auch in der UN-Behindertenrechtskonvention dazu verpflichtet, das Selbstbestimmungsrecht von Menschen mit Behinderung
entscheidend zu stärken. Unser Betreuungsrecht wird
diesen Anforderungen nicht gerecht. Wir müssen es
deshalb umfassend reformieren.
Heute debattieren wir über den entsprechenden Gesetzesvorschlag der Bundesregierung. Dass diese Bundesregierung nun überhaupt noch einen Reformvorschlag in den Bundestag eingebracht hat, freut uns.
Die geplanten Maßnahmen zur Stärkung der Betreuungsbehörden bewerten wir positiv. Sie können dazu
beitragen, Betreuungen zu vermeiden. Auch die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke unterstützen wir. Es ist positiv, dass die
Betreuungsbehörden den Betroffenen andere Hilfen
„vermitteln“ und nicht nur „auf eine Vermittlung hinwirken“ sollen. Auch befürworten wir, dass bei der Erweiterung und der Verlängerung einer Betreuung die
Anhörung der Betroffenen und der Betreuungsbehörde
verpflichtend sein soll. Diese Maßnahmen können das
Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen stärken und
im Ergebnis zur Vermeidung von Betreuungen beitragen. Allerdings kann und wird das Gesetz nur Wirkung
zeigen, wenn in den Betreuungsbehörden ausreichend
personelle Kapazitäten und finanzielle Mittel für die
Erfüllung der neuen Aufgaben vorhanden sind. Anders
als dies im Gesetzentwurf zu lesen ist, sehen wir hier
Zu Protokoll gegebene Reden
eine große finanzielle Mehrbelastung auf die Länder
zukommen. Das haben uns auch die Sachverständigen
in der Anhörung bestätigt. Nicht alle Länder werden
diese Anstrengungen schultern können. Die Gesetzesänderung wird also vielerorts nur heiße Luft bleiben.
Die betroffenen Menschen werden davon nur in wenigen Fällen profitieren.
Insgesamt ist der Gesetzentwurf der Regierungskoalition also nicht der große Wurf. Das wurde schon
in der Sachverständigenanhörung deutlich, und das
müssen wir auch hier noch einmal ganz klar feststellen. Die vorgesehenen Änderungen können nur ein erster Schritt sein. Anstatt einige verfahrensrechtliche Regelungen für Betreuungsbehörden vorzunehmen, wäre
eine umfassende Reform des Betreuungsrechts angezeigt gewesen. Wir Grünen haben in unserem Entschließungsantrag zu unserer Großen Anfrage die
Eckpunkte einer solchen personenzentrierten und
ganzheitlichen Reform des Betreuungsrechts bereits
aufgezeigt.
Hierzu will ich Ihnen nur einige grundlegende Gedanken nennen: Wenn wir darüber sprechen, ob eine
Betreuung erforderlich ist oder nicht, geht es nicht nur
darum, Betreuung zu vermeiden. Es geht auch darum,
Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die UN-Behindertenkonvention setzt hier zu Recht auf ein System der
„unterstützten Entscheidungsfindung“. Der Staat
muss also gewährleisten, dass Menschen mit eingeschränkter Entscheidungskompetenz die notwendige
Unterstützung und Hilfe erhalten, um selbst handeln
und entscheiden zu können. Dies verlangt Betreuerinnen und Betreuern mitunter schwierige Abwägungsvorgänge ab. Häufig können diese Entscheidungen
nicht ohne Weiteres von Ehrenamtlichen getroffen werden. Wir Grünen setzen uns daher im Interesse aller,
also sowohl der Betreuten als auch der Betreuerinnen
und Betreuer, für eine Festschreibung von Eignungskriterien für berufliche Betreuung ein.
Eine stärkere Professionalisierung und Spezialisierung von rechtlichen Betreuerinnen und Betreuern
sollte sich konsequenterweise auch in einem neuen
Vergütungsbemessungssystem widerspiegeln. Dieses
wiederum sollte sich auch an der Schwierigkeit des jeweiligen Falls bemessen. Ein System der unterstützten
Entscheidungsfindung, einhergehend mit der Festschreibung von gesetzlichen Eignungskriterien und einer Änderung des Vergütungsbemessungssystems, wird
entscheidend zur Qualitätssicherung von Betreuung
und zur Vermeidung von Betreuung beitragen. Davon
sind wir Grünen überzeugt.
Von einer Verwirklichung dieser Gedanken sind wir
noch weit entfernt. Hier besteht erheblicher Nachbesserungsbedarf. Wir Grünen werden uns weiterhin für
eine personenzentrierte und ganzheitliche Reform des
Betreuungsrechts einsetzen. Das Betreuungsrecht benötigt endlich eine umfassende Modernisierung.
Dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition können wir nicht zustimmen. Er ist inhaltlich nicht ausreichend. Wir werden uns bei der Abstimmung enthalten.
Wir kommen infolgedessen gleich zur Abstimmung.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13952, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf den Drucksachen 17/13419 und
17/13619 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die Koalitionsfraktionen und die
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand.
Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Das sind die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Der
Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Gesetzes zu dem OCCARÜbereinkommen vom 9. September 1998
- Drucksache 17/13417 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13752 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Reinhard BrandlDr. Hans-Peter BartelsRainer ErdelInge HögerOmid Nouripour
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Seit Beginn dieser Legislaturperiode bin ich Mitglied im Verteidigungsausschuss. Neben der Neuausrichtung der Bundeswehr hat mich in diesen fast vier
Jahren kein Thema so kontinuierlich begleitet wie das
der internationalen Rüstungskooperationen. Die Begriffe „Pooling und Sharing“ sowie „Smart Defence“
fallen nahezu jedes Mal, wenn es um die Zukunft unserer Streitkräfte und die Herausforderungen durch die
schrumpfenden europäischen Verteidigungshaushalte
geht. Um so verwunderlicher ist es im Grunde, dass
wir hier im Plenum selten über die Institutionen
sprechen, die zur Koordination von Rüstungskooperationen geschaffen wurden. Heute bietet sich diese
Gelegenheit mit der abschließenden Debatte zum
Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zu dem
OCCAR-Übereinkommen vom 9. September 1998.
Der vorliegende Gesetzentwurf hat die Änderung
des Vertragsgesetzes der Organisation Conjointe des
Coopération en Matière d’Armement, OCCAR, zum
Ziel. Die Aufgabe der OCCAR umfasst das effiziente
und effektive Management von gemeinsamen Rüstungsvorhaben. Die Organisation soll zur Entstehung
eines einheitlichen europäischen Rüstungsmarktes
beitragen und insbesondere ein optimales KostenNutzen-Verhältnis bei laufenden und zukünftigen
Kooperationsvorhaben erzielen. Aktuell betreut die
OCCAR acht Vorhaben, unter anderem den Transportpanzer Boxer und den Kampfhubschrauber Tiger. Der
A400M beispielsweise ist das erste Programm, das die
Organisation von Beginn an führt. Da die OCCAR den
gesamten Lebenszyklus eines Programms betreut, steht
sie für dieses für viele Jahre in der Verantwortung.
An diesem Punkt möchte ich kurz auf die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Verteidigungsagentur und OCCAR hinweisen. Tim Rowntree, Direktor der OCCAR, hat in einem kürzlich erschienen
Interview die bewährte bisherige Zusammenarbeit der
beiden Organisationen hervorgehoben. Der Schwerpunkt der Europäische Verteidigungsagentur liegt auf
der Identifikation von Fähigkeitslücken sowie der
Koordinierung der Bedarfe der Nationen. Die OCCAR
schließt mit ihrem Management an die Arbeit der Verteidigungsagentur an, sobald die Weichen für ein kooperatives Programm gestellt sind.
Nun aber zurück zu dem Gesetzentwurf, den wir
heute verabschieden wollen. Das Gründungsdokument
der OCCAR wurde im Jahr 1998 unterzeichnet. Heute
umfasst die Organisation die vier Gründungsmitglieder Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien sowie Belgien und Spanien. Ein Antrag der
Türkei, in die OCCAR aufgenommen zu werden, wird
derzeit geprüft, eine Anfrage von Polen wurde bereits
angekündigt. Ferner dürfen sich auch Staaten, die
nicht Mitglied der OCCAR sind, an deren Programmen beteiligen. Derzeit tun dies, als sogenannte
Kooperationsmitglieder, die Türkei, die Niederlande
sowie Luxemburg, Polen, Schweden und Finnland.
Die Aufnahme von weiteren neuen Mitgliedern ist
ausschlaggebend für die Vertragsänderung, die wir
heute beschließen. Im Kern geht es dabei um die
Anlage IV des Übereinkommens aus dem Jahr 1998.
Bisher wurden Beschlüsse grundsätzlich einstimmig
durch die Mitgliedstaaten getroffen. In Anlage IV des
Übereinkommens wurde festgeschrieben, dass Beschlüsse zur Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, zu
Vorschriften der OCCAR, zum Aufbau der Geschäftsführung sowie zur Ernennung des OCCAR-Direktors
aber mit verstärkter qualifizierter Mehrheit angenommen werden können. Für das Abstimmungsverfahren
hat dies zur Folge, dass bei zehn oder mehr Gegenstimmen keine positive Entscheidung zustande kommt.
Um die volle Handlungsfähigkeit der OCCAR auch
in Zukunft, mit einer höheren Mitgliederzahl, gewährleisten zu können, haben die Mitgliedstaaten beschlossen, weitere Entscheidungen von nun an durch eine
verstärkte qualifizierte Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Hinzu kommen Entscheidungen über die
Aufnahme neuer Rüstungsprogramme, die Wahl des
OCCAR-Vizedirektors sowie den Abschluss von Vereinbarungen mit anderen Staaten und internationalen
Organisationen. Deutschland verfügt, gemeinsam mit
den weiteren Gründungsmitgliedern, über jeweils zehn
Stimmen. Neumitglieder werden weniger Stimmen zugesprochen, um den Gründungsmitgliedern ein Vetorecht einzuräumen.
Wir beraten heute diesen Gesetzentwurf, da jede
Änderung der Anlage IV ein neues Vertragsgesetz benötigt, welches wiederum ein Gesetzgebungsverfahren
durchlaufen muss. Um dieses Verfahren in Zukunft zu
vereinfachen, soll das Bundesministerium der Verteidigung nun ermächtigt werden, Änderungen bei den
Abstimmungsverfahren in Anlage IV durch eine
Rechtsverordnung in Kraft zu setzen. Hierbei handelt
es sich um innerorganisatorische Angelegenheiten der
OCCAR, mit denen wir uns hier im Deutschen Bundestag nicht zwingend befassen müssen. Dies ist eine
gängige Vorgehensweise zur Entlastung des Gesetzgebers, die im ursprünglichen Vertragsgesetz jedoch
nicht eingefügt wurde. Bei grundsatzpolitischen
Entscheidungen oder Fragen, die die Grundrechte der
Bürger betreffen, wird der Bundestag weiterhin eingebunden sein.
Während der Ausschussberatung hat der Entwurf
von allen Fraktionen, mit Ausnahme der Fraktion Die
Linke, Zustimmung erhalten. Die Änderungen sind
notwendig und haben keine Auswirkungen auf die
Rechte des Deutschen Bundestages. Durch Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf wird auch nicht die
deutsche Position innerhalb der OCCAR geschwächt,
dafür sorgt das bereits erwähnte Vetorecht der Gründungsmitglieder. Vor dem Hintergrund der sinkenden
Haushaltsmittel im Verteidigungsbereich wird die
Notwendigkeit von Kooperationen bei Rüstungsvorhaben in den nächsten Jahren noch weiter zunehmen. Die
OCCAR unterstützt die Bemühungen der europäischen
Nationen, ihren zukünftigen Bedarf möglichst kostengünstig zu decken. Wir sollten der OCCAR dafür die
Verfahrensregeln geben, die sie für ihre Arbeit benötigt. Deshalb bitte ich Sie, dem Gesetzentwurf auch
heute hier im Plenum zuzustimmen.
Seit 15 Jahren managt die Gemeinsame Organisation zur Rüstungszusammenarbeit, OCCAR, europäische Entwicklungsprogramme im Verteidigungsbereich. Sie ist entstanden aus der Erkenntnis, dass
eine Nation alleine kaum noch die finanziellen Mittel
aufbringen kann, um hochkomplexe Systeme für ihre
eigenen nationalen Bedürfnisse zu entwickeln.
Zu Protokoll gegebene Reden
Anita Schäfer ({0})
Das ist natürlich schon damals, im Jahr 1998, keine
neue Erkenntnis gewesen. Mehr oder weniger erfolgreiche Versuche der Rüstungszusammenarbeit in
Europa und der NATO hat es schließlich schon früher
gegeben. Zu den erfolgreichen gehört sicherlich das in
deutsch-britisch-italienischer Kooperation entwickelte
Kampfflugzeug Tornado, das nach diversen Modernisierungsmaßnahmen noch immer in allen Partnerländern zuverlässig seinen Dienst verrichtet, zu den weniger erfolgreichen das NATO-Fregattenprogramm, das
letztlich an zu unterschiedlichen nationalen Anforderungen scheiterte. Aber auch aus solchem Scheitern
lassen sich schließlich Lehren ziehen, insbesondere,
dass man sich vorher auf die Anforderungen an ein
Projekt einigt.
Die OCCAR managt derzeit acht Programme. Davon hatten einige auch ihre Schwierigkeiten, wie der
Kampfhubschrauber Tiger und das Transportflugzeug
A400M, die aber letztlich erfolgreich eingeführt worden sind oder kurz vor der Einführung stehen. Daneben stehen die vollen Erfolge wie das geschützte
Transportfahrzeug Boxer, das sich bekanntlich mittlerweile ebenso wie der Tiger im Einsatz in Afghanistan
befindet und von den Soldaten sehr geschätzt wird.
Auch da sind Partner zwischendurch abgesprungen,
aber durchaus zu ihrem Schaden. Großbritannien etwa
hat seine Entscheidung über ein gleichwertiges Fahrzeug mehrfach revidiert und immer noch keines in Aussicht.
Offensichtlich gilt die OCCAR als erfolgreich genug, dass sich neben den Gründungsmitgliedern
Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien
weitere Länder der Organisation angeschlossen haben
oder dies beabsichtigen. Belgien und Spanien sind bereits Mitglieder, die Türkei hat einen Beitrittsantrag
gestellt, und Polen hat seine Absicht hierzu erklärt.
Mit der wachsenden Mitgliederzahl ändern sich
aber auch die internen Verhältnisse. Die ursprünglichen vier Partner entschieden nach dem Einstimmigkeitsprinzip.
Schon damals wurde aber festgelegt, dass bei einer
Erweiterung des Kreises verstärkte qualifizierte
Mehrheitsentscheidungen in einigen Fragen eingeführt werden sollten, wobei die Gründungsmitglieder
ein Vetorecht behielten.
Mit dem Beitritt Belgiens und Spaniens ist dies bereits für Änderungen der internen Struktur und
Entscheidungen über die Aufnahme weiterer Mitglieder eingerichtet worden. Künftig soll dies auch für die
Aufnahme neuer Rüstungsprogramme, den Abschluss
von Vereinbarungen mit anderen Staaten oder Organisationen sowie die Wahl des OCCAR-Vizedirektors der
Fall sein. Der Direktor selbst wird bereits mit verstärkter qualifizierter Mehrheit ernannt.
Dazu ändern wir heute das Vertragsgesetz und
ermächtigen das Bundesministerium der Verteidigung,
Änderungen in der entsprechenden Anlage des
OCCAR-Übereinkommens durch Rechtsverordnung in
Kraft zu setzen. Damit muss der Bundestag künftig
nicht mehr nach jeder Entscheidung der OCCARMitglieder zu innerorganisatorischen Angelegenheiten
ein aufwendiges Gesetzgebungsverfahren auf den Weg
bringen.
Das ist zugleich ein Schritt im Sinne einer effektiveren europäischen Kooperation im Sicherheits- und
Verteidigungsbereich, die ja von allen Seiten des Hauses seit langem gefordert ist. Die Tatsache, dass diese
Änderung von allen Fraktionen - mit der üblichen
Ausnahme der Linken - unterstützt wird, spricht für
sich. Es ist dies allerdings auch ein einfacherer Schritt
als die Frage gemeinsamer militärischer Einsätze, auf
die sich diese Diskussion häufig konzentriert.
Durch die heutige Änderung ergeben sich keine
Auswirkungen auf die Rechte des Bundestages.
Gemeinsame Einsätze berühren dagegen den Parlamentsvorbehalt bei der Entsendung bewaffneter Truppen ins Ausland, ein sehr schwieriges Problem.
Ich möchte dennoch die heutige Gelegenheit nutzen,
noch einmal zur Verfolgung weitergehender Lösungen
auch in dieser Frage aufzurufen. Es wird zwar vielfach
und zu Recht darauf hingewiesen, dass ein gemeinsamer Einsatz noch nie an Deutschland gescheitert ist,
und der Bundestag hat bewiesen, dass er in dringenden Fragen sehr schnell handeln kann.
Auch setzt uns die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier enge Grenzen. Ich glaube aber,
dass Verbesserungen im Detail möglich sind, gerade
bei eilbedürftigen Einsätzen. Das wäre vor allem deshalb ein wichtiges Signal, weil wir in Europa Sicherheit nur noch gemeinsam organisieren können. Und
Deutschland wird in diesem Zusammenhang ein zunehmend wichtiger Partner für unsere direkten Nachbarn, deren Mittel teilweise noch weitaus begrenzter
sind als unsere. Intelligente Lösungen können hier
Kräfte und Fähigkeiten bündeln. Ich erinnere nur an
das kürzliche Übereinkommen zu einer verstärkten
deutsch-niederländischen Kooperation, die sogar die
Unterstellung einer niederländischen Brigade unter
die deutsche Division Schnelle Kräfte beinhaltet. Ähnliches wird mit Polen im Marinebereich angestrebt.
Daneben gibt es weitere Vorhaben zum Pooling und
Sharing in Europa.
Ich begrüße auch ausdrücklich die kürzliche Initiative von Bundesverteidigungsminister de Maizière,
analog zu den EU-Battlegroups schnell einsetzbare
gemeinsame Kräfte für Ausbildungsmissionen wie jetzt
in Mali vorzuhalten. All dies sind konkrete Schritte zu
einer wirklich gemeinsamen europäischen Sicherheitsstruktur.
Dazu gehört auch die heutige Änderung des Gesetzes zum OCCAR-Übereinkommen. Dies ist ein weiterer
Baustein für ein sicheres vereintes Europa der Zukunft.
CDU und CSU stimmen daher dem Änderungsentwurf
zu.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Gesetz zum OCCAR-Übereinkommen aus dem
Jahr 1999 hatte folgendes Ziel: „Stärkung der Rüstungskooperation auf dem Gebiet der Verteidigungsausrüstung zur Herausbildung einer europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsidentität durch Effizienzerhöhung und Kostenverringerung zur Erzielung eines
optimalen Kosten-Nutzen-Verhältnisses aufgrund der
Entwicklung optimierter Managementverfahren.“
Wenn man diesen Satz genauer betrachtet, so wird
deutlich, dass die Herausbildung einer europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsidentität als Finalziel
definiert ist. Gerade dieses Ziel aber wird durch die
Politik der derzeitigen Bundesregierung unterminiert.
Dass der gegenwärtige Verteidigungsminister im
Guardian vom 22. April mit den Worten zitiert wird,
dass Deutschland keine europäische Armee wolle, bildet da nur die Spitze des Eisberges.
Wir Sozialdemokraten bekennen uns zu einer verstärkten Integration in der europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik, an deren Ende gemeinsame
europäische Streitkräfte stehen werden!
Der heute beratene Gesetzentwurf stellt nur einen
ersten Schritt dar, um die Abstimmungsverfahren in
der Gemeinsamen Organisation für Rüstungskooperation zu ändern. Langfristig sollen Entscheidungen
über Steuern, Zölle sowie Ein- und Ausfuhrbeschränkungen durch eine qualifizierte Mehrheit getroffen
werden können. Dadurch wird ein Stillstand in der
Rüstungskooperation verhindert und der OCCAR mit
größerer Flexibilität neues Leben eingehaucht.
Das Ziel bleibt wie 1999 die Herausbildung einer
europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität!
Diesem Ziel fühlen wir Sozialdemokraten uns heute
ebenso wie 1999 verpflichtet.
Die Organisation Conjointe de Coopèration en Matière d’Armement oder kurz OCCAR genannt dürfte
wahrscheinlich nicht allen Bürgerinnen und Bürgern
in unserem Land ein Begriff sein, sehr wohl jedoch für
jene, die sich wie ich mit Rüstung und Ausrüstung der
Bundeswehr beschäftigen.
Gegründet von Frankreich, Großbritannien, Italien
und der Bundesrepublik Deutschland dient die OCCAR
als internationale Organisation dem Management von
gemeinsamen Rüstungsprojekten. Ziel ist es, durch gemeinsame Projekte zu einem Mehr an Wettbewerb und
Wettbewerbsfähigkeit der Wehrindustrie in Europa zu
kommen. So wird beispielsweise die Beschaffung des Unterstützungshubschraubers Tiger oder des gepanzerten
Mehrzweckradfahrzeuges Boxer durch die OCCAR im
Auftrag der Mitgliedsländer gemanagt.
Damit bietet die OCCAR eine Alternative zur nationalen Beschaffung und die Möglichkeit, Entwicklungsund Rüstungsprojekte gemeinsam mit den Mitgliedsund Partnernationen aus und für Europa kostensparend zu realisieren. Dies ist gerade in einer Zeit relevant, in der die Rüstungsausgaben kontinuierlich verringert werden, gleichzeitig jedoch von uns Europäern
- gerade auch vonseiten der USA - erwartet wird,
mehr sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Hierfür müssen sich die Bundeswehr und unsere
Verbündeten rüsten, und dafür bietet die OCCAR eine
Plattform, von der in Zukunft noch mehr Gebrauch gemacht werden wird.
Als Beleg dafür kann auch das Interesse mehrerer
Partner dienen, der OCCAR als Mitglied beizutreten.
Spanien und Belgien haben dies bereits getan. Jedes
Land, das Mitglied der OCCAR wird, verstärkt die europäische Rüstungszusammenarbeit. Die Einbindung
stärkt das Vertrauen ineinander und das Verständnis
füreinander. Außerdem können gemeinsame Rüstungsprojekte zu einer verstärkten Interoperationalität bei
gemeinsamen Einsätzen führen.
Da bisher die sechs Mitglieder alles im Einstimmigkeitsprinzip entscheiden und auch mit zusätzlichen
Mitgliedern die Handlungsfähigkeit sichergestellt
werden muss, sieht der uns nun vorliegende Gesetzentwurf Änderungen der Abstimmungsregeln vor. So findet eine Verschiebung vom Einstimmigkeitsprinzip hin
zum Verfahren der verstärkten qualifizierten Mehrheit
statt, wobei die vier Gründungsmitglieder, also auch
Deutschland, weiterhin über eine Sperrminorität verfügen werden. So kann auch weiterhin gegen den Willen Deutschlands zum Beispiel kein neues Rüstungsprogramm ins Leben gerufen und auch kein neues
Mitglied aufgenommen werden.
Besonders wichtig ist mir hierbei, zu betonen, dass
die parlamentarischen Kontrollrechte des Bundestages bei Rüstungsprojekten unangetastet bleiben. Auch
in Zukunft werden alle Projekte der OCCAR, an denen
das Bundesverteidigungsministerium beteiligt ist und
die einen Wert von 25 Millionen Euro überschreiten,
sowohl vom Verteidigungs- als auch vom Haushaltsausschuss zu billigen sein.
Die europäische Rüstungskooperation und mit ihr
die OCCAR wird zukünftig noch an Bedeutung gewinnen. Es ist in unserem Interesse, die Handlungsfähigkeit dieser Organisation zu erhalten und sie gleichzeitig für weitere Mitglieder zu öffnen. Die FDPBundestagsfraktion wird deshalb dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zustimmen.
Bei Rüstungsgeschäften geht es um viel Geld, um
tödliche Gerätschaften und um politische Macht. Wenn
die Abwicklung dieser Geschäfte an angeblich effiziente multinationale Beschaffungsorganisationen wie
die in Bonn ansässige OCCAR ausgelagert wird, dann
ändert das an der Natur der Geschäfte gar nichts. Alle
sieben Rüstungsprojekte, die die OCCAR im Auftrag
von unterschiedlichen Koalitionen aus NATO- und
EU-Staaten abwickelt, haben einen direkten Bezug zu
militärischen Interventionsplanungen. Die bekanntesten Projekte sind der Radpanzer Boxer, das Transportflugzeug Airbus A400M und der Kampfhubschrauber
Zu Protokoll gegebene Reden
Tiger. Mit dem Boxer soll die Beweglichkeit der Truppen im Kriegseinsatz verbessert werden, der Kampfhubschrauber Tiger soll für aggressive Einsätze massiv ausgerüstet werden, und der Militärtransporter
Airbus A400M soll die schnelle Erreichbarkeit oft
ferner Kriegsgebiete sicherstellen. Allein diese kurze
Beschreibung zeigt, dass das Problem nicht in erster
Linie in der Organisation des Einkaufs von Rüstungsgütern liegt, sondern in der politischen Entscheidung
für globale militärische Interventionen. Ohne eine solche aggressive Außenpolitik existiert auch kein „Bedarf“ für den Kauf von Waffensystemen.
Die Rüstungsagentur OCCAR fasst die Rüstungswünsche verschiedener Staaten zusammen und tritt als
einheitlicher Ansprechpartner und Manager gegenüber der Rüstungsindustrie auf. Die OCCAR selbst
sieht sich als „Partner“ und „Dienstleister“ der
Streitkräfte. Misstrauen gegen solche Vokabeln ist
überall angebracht, so auch hier. Denn effizienter und
billiger wird das Geschäft mit dem Tod durch OCCAR
auch nicht. Zu große Nähe zur Rüstungsindustrie trägt
offensichtlich immer das Risiko zur Verschleuderung
von Steuergeldern in sich. Dabei scheint es egal zu
sein, ob ein Geschäft, wie bei der Pannendrohne Euro
Hawk, über das deutsche Verteidigungsministerium
abgewickelt wird oder im Fall des Airbus A400M über
die OCCAR. Warum es trotz der unendlichen Pannenserie des Airbus A400M und des Kampfhubschraubers
Tiger noch Illusionen über ein angebliches Sparpotenzial durch ein „effizientes Beschaffungsmanagement“
gibt, das müsste selbst diejenigen erstaunen, die nicht
friedensbewegt sind. Eines jedoch ist klar: Durch die
Organisation über Agenturen haben die Interessen der
Rüstungsindustrie eine ausgesprochen gute Lobby.
Agenturen wie die OCCAR oder die Europäische
Verteidigungsagentur, EDA, werden mit staatlichen
Geldern finanziert, sie machen das Geschäft der
Rüstungsindustrie einfacher, und sie erschweren die
demokratische Kontrolle des Rüstungsbereiches. Die
Agenturen helfen der Rüstungsindustrie bei der Vermarktung ihrer tödlichen Produkte - auch in Länder
außerhalb der NATO und der Europäischen Union.
Heute entscheidet der Bundestag nicht grundsätzlich über die OCCAR, sondern über eine Vertragsänderung, mit der die Agentur angeblich ein wenig handlungsfähiger werden soll. Um bei einem möglichen
zukünftigen Wachstum nicht durch kleinere Länder
ausgebremst zu werden, will die OCCAR fortan in einigen Bereichen vom bisher überwiegend gültigen Prinzip der Einstimmigkeit abweichen können. Stattdessen
soll, wie zwischenzeitlich in vielen Bereichen der EU
üblich, mit einer qualifizierten Mehrheit entschieden
werden. Faktisch reduziert damit die Bundesregierung
jedoch nur das Gewicht einiger anderer Staaten, während gegen die Stimmen Deutschlands nach wie vor
nichts entschieden werden kann. Herrscht hier das
Motto: „Effizient ist, wenn andere weniger zu sagen
haben“? Wenn ja, dann erinnert dies sehr an das Verhalten der deutschen Regierung in vielen anderen Bereichen der Europäischen Union.
Für die Fraktion Die Linke ist diese Vertragsänderung absurd und die Existenz der Agentur ein grundsätzlicher Fehler. Wir sind uns bewusst, dass sich unsere Positionierung von der aller anderen Parteien im
Bundestag grundsätzlich unterscheidet. Als einzige
konsequente Friedenspartei sprechen wir uns nicht
nur gegen den Änderungsvertrag aus, der das Rüstungsgeschäft noch „effizienter“ machen soll, wir fordern auch grundsätzlich eine Auflösung der OCCAR
und aller anderen NATO- und EU-Rüstungsagenturen.
Omid Nouripour ({0})
Das Desaster um den Euro Hawk zeigt: Bei de
Maizières Beschaffungsprozeduren explodieren die
Kosten, oder die Produktanforderungen werden im
Verlauf des Vorhabens gesenkt, und trotzdem wird immer weiter gekauft. Dabei war Thomas de Maizières
angetreten, die chronischen Probleme des Beschaffungswesens zu lösen. Ergebnisse? Fehlanzeige! Zwar
fliegen mittlerweile die ersten Hubschrauber Tiger in
Afghanistan. Doch wie viele Jahre konnte diese sogenannte Fähigkeitslücke nicht geschlossen werden? Wo
wir gerade von Jahren sprechen: Wann wird endlich
der erste A400M übergeben?
In den letzten Tagen und Wochen haben wir auch
viel über die hohen Risiken von Entwicklungsprojekten
gehört und gelesen. Gepaart mit der hohen Komplexität dieser Projekte, könnte man der Annahme verfallen, dass Probleme vorprogrammiert oder unvermeidbar sind. Doch dem ist nicht so, Risiken können
kalkulierbar sein, und durch Fachwissen kann komplexen Sachverhalten begegnet werden. Die Ergebnisse
vieler Projekte zeigen, dass es hier deutliche Defizite
gibt. Immerhin setzt sich in Europa mehr und mehr die
Einsicht durch, dass Beschaffungsvorhaben gemeinsam geplant und durchgeführt werden. Doch „Pooling
and Sharing“ bedeutet auch, Wissen zu teilen. Insbesondere bei einer Risikoeinschätzung ist dies von elementarer Bedeutung. Doch mit besonderen Aktivitäten
ist Schwarz-Gelb hierbei leider nicht aufgefallen.
Dafür gibt es eine Vielzahl von Plattformen, beispielsweise die Europäische Verteidigungsagentur,
EDA. Doch bereits vor ihrer Gründung war die Organisation für die gemeinsame Rüstungszusammenarbeit, OCCAR, über die wir heute beraten, bereits ein
Beispiel für multinationale Rüstungskooperation.
Trotz genannter Probleme und Fehlschläge birgt sie
das Potenzial zum effizienten Management von Rüstungsvorhaben. Am 27. Juli 2012 unterzeichneten EDA
und OCCAR eine Kooperationsvereinbarung. Beide
Organisationen erfüllen nun komplementäre Rollen in
einer kooperativen Zusammenarbeit bei Rüstungsvorhaben. Nun gilt es auch die potenziellen Vorteile und
Synergien aus dieser vertieften Partnerschaft zu nutzen. Die Lehren aus vergangenen Ad-hoc-Kooperationen müssen nun in anstehende Projekte, wie beispielweise die europäische Befähigung zur Luftbetankung,
einfließen.
Ich möchte hervorheben, dass immer mehr Staaten
die Vorteile des OCCAR-Übereinkommens erkennen
Zu Protokoll gegebene Reden
Omid Nouripour ({1})
und teilhaben wollen. Das ist gut. Jedoch hat der Zu-
wachs auch Auswirkungen auf die Handlungs- und
Funktionsfähigkeit der Organisation selbst Daher
müssen auch Anpassungen in Bezug auf die Beschluss-
fähigkeit vorgenommen werden. Der Anwendungsbe-
reich des Einstimmigkeitsprinzip bei Beschlüssen soll
daher eingeschränkt und der Anwendungsbereich von
Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit gestärkt wer-
den.
Wichtig ist jedoch, dass zentrale Aspekte des Über-
einkommens dadurch nicht berührt sind, und in diesen
Teilen des Übereinkommens weiterhin das Einstimmig-
keitsprinzip aufrechterhalten wird. Insbesondere gilt
das für die Ein- und Ausfuhrbeschränkungen. Auch in
Zukunft dürfen diese Beschränkungen nicht aufge-
weicht werden, selbst wenn das den Panzergeschäften
von Schwarz-Gelb zugute käme. Im vorliegenden Ge-
setzentwurf ist dies explizit aufgeführt. Somit ist durch
die Anpassung des OCCAR-Übereinkommens gewähr-
leistet, dass die Organisation handlungsfähig bleibt,
ohne jedoch zentrale Ein- und Ausfuhrbeschränkun-
gen aufzuweichen.
Zusätzlich baut der Gesetzentwurf Bürokratie ab.
Der Bundesrat hatte diesbezüglich zu Recht keine Ein-
wände eingebracht. Daher stimmen wir auch unter
diesen Gesichtspunkten dem Gesetzentwurf zu. Den-
noch werden wir die weitere Entwicklung der OCCAR
kritisch beobachten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13752, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/13417 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Koalitionsfraktionen, Sozialde-
mokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dage-
gen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-
men.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das ist das gleiche Stimmverhalten wie vorhin. Gegen-
stimmen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand.
Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a und 38 b auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Anette Kramme, Hubertus Heil
({0}), Gabriele Hiller-Ohm, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz
von Hinweisgebern - Whistleblowern ({1})
- Drucksache 17/8567 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Hans-Christian
Ströbele, Dr. Konstantin von Notz, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung von Transparenz
und zum Diskriminierungsschutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern ({2})
- Drucksache 17/9782 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 17/12577 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Andrej Hunko, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Die Bedeutung von Whistleblowing für die
Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber schützen
- Drucksachen 17/6492, 17/12577 Berichterstattung:Abgeordnete Beate Müller-Gemmeke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Er ist 29 Jahre alt, er ist Ex-Techniker der CIA:
Edward Snowden, der zurzeit bekannteste Enthüller
der Welt. Vor drei Wochen kopierte er die letzten Dokumente in seinem Büro des US-Geheimdienstes NSA
und leitete diese an die Medien weiter. Jetzt erschüttert
ein Spionageskandal die USA, nein, die ganze Welt.
Durch den Einsatz von Edward Snowden ist jetzt bekannt, dass die NSA wochenlang Daten sammelte,
auch in Deutschland.
Regelmäßig werden Skandale durch Hinweise von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgedeckt. Sie
zeigen Zivilcourage, vor der ich, vor der wir, die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, größten
Respekt haben. Sie nehmen illegales Handeln, Missstände oder Gefahren nicht schweigend hin, sondern
decken diese auf.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch
ihre Hinweise zur Aufklärung von Straftaten beitragen,
brauchen nicht nur unsere Anerkennung, sondern auch
unseren Schutz. Wer sich so für andere einsetzt, muss
vor Nachteilen geschützt werden; denn Hinweisgeber
gehen häufig ein hohes Risiko ein. Sie setzen ihren Ruf
und ihre Existenz aufs Spiel.
Diese Erfahrung machte auch Brigitte Heinisch,
eine Altenpflegerin aus Berlin. In dem Altenpflegeheim
lagen Bewohner in Urin und Kot; andere wurden ohne
richterlichen Beschluss in ihren Betten fixiert. Brigitte
Heinisch alarmierte ihren Arbeitgeber. Als sie dort keinen Erfolg hatte, erstattete sie eine Strafanzeige wegen
Betruges gegen ihren Arbeitgeber. Daraufhin wurde
ihr gekündigt. Sie musste den Gang durch die Instanzen antreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gab ihr schließlich recht. Er entschied,
dass ihre fristlose Kündigung ungerechtfertigt war.
Der Europäische Gerichtshof untermauerte damit die
Rechtsstellung von Hinweisgebern.
Schon vor der Entscheidung hatten die Linken, nach
der Entscheidung dann auch Bündnis90/Die Grünen
sowie die SPD ein Schutzgesetz gefordert. Offensichtlich ging es jedenfalls den beiden letzten Antragstellern darum, an der damaligen öffentlichen Diskussion
teilzunehmen. Man warf sich in die Brust und verwies
darauf, einen Antrag eingebracht zu haben. Dass es
den Antragstellern dann in der Sache nicht so wichtig
war, zeigt der Umstand, dass diese Anträge seit mehr
als einem Jahr vor sich hin dümpeln. Keine der Oppositionsfraktionen sah einen Anlass, das Thema neu
aufzurufen - bis heute; denn jetzt naht das Ende der
Legislaturperiode und damit der Wahlkampf.
Schade, denn wir sind der Ansicht, dass Hinweisgeber wie Brigitte Heinisch eine andere Wahrnehmung
verdient hätten. Denn sie suchen keinen eigenen Vorteil; Sie folgen ihrem Gewissen, auch dann, wenn es
unbequem für sie werden kann. Deshalb haben wir uns
auch sehr ernsthaft und sorgfältig mit der Frage auseinandergesetzt, ob es eines eigenständigen Gesetzes bedarf. Dazu wurde am 5. März 2012 eine Anhörung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales durchgeführt. Im
Mittelpunkt stand die Frage, ob der Schutz in Deutschland ausreichend ist. Das Fazit der überwiegenden
Mehrheit der Sachverständigen: Spätestens seit der
Entscheidung in Sachen Brigitte Heinisch steht fest,
dass es genau diesen erforderlichen Schutz in unserem
Land gibt. In vielen Gesetzen sind Anzeigerechte von
Mitarbeitern geregelt. Diese finden sich im Betriebsverfassungsgesetz, im Arbeitsschutzgesetz, im BundesImmissionsschutzgesetz, im Bundesdatenschutzgesetz
usw. usf.
Jetzt wird der eine oder andere fragen: Wer soll
bzw. kann diese ganzen Gesetze schon kennen? Was
bringen Schutzinstrumente, die nicht transparent genug sind? Diesen Einwand lasse ich gelten. Denn nicht
jeder Arbeitnehmer ist Jurist, der mit Gesetzbüchern
bewaffnet ist.
Alles das spricht für eine knappe gesetzliche Regelung an zentraler Stelle. Aber diese gibt es schon, nämlich dort, wo die grundsätzlichen Regelungen für jedes
Arbeitsverhältnis zu finden sind: im Bürgerlichen Gesetzbuch, genauer in § 612 a BGB. In dieser Vorschrift
ist das sogenannte generelle Maßregelungsverbot
geregelt. § 612 a besagt, dass der Arbeitgeber einen
Arbeitnehmer bei einer Vereinbarung oder eine
Maßnahme nicht benachteiligen darf, weil der Arbeitnehmer in zulässiger Weise seine Rechte ausübt. Deshalb gibt es schon heute ein allgemeines Anzeigerecht,
das von der Rechtsprechung anerkannt worden ist. Es
ist wiederholt von Arbeitsgerichten entschieden worden, dass Arbeitnehmer einen Arbeitgeber anzeigen
dürfen. Ihnen darf nicht gekündigt werden. Erfolgt
dennoch eine Kündigung, ist diese rechtswidrig. Allerdings sind Spielregeln zu beachten. Denn nur so kann
der Unterschied zwischen Hinweisen zum Wohl der
Gesellschaft und reinem Denunziantentum, die einen
eigenen Vorteil suchen, gezogen werden. Zum einen
muss der Hinweisgeber sich vor der Anzeige ernsthaft
um eine innerbetriebliche Klärung bemüht haben,
Ausnahme: Es handelt sich um eine Straftat mit schweren Folgen. Aber nicht jeder Missstand ist gleich eine
Straftat. Zum anderen darf diese Anzeige nicht leichtfertig erfolgen. Darüber hinaus darf die Anzeige auch
nicht mit dem Ziel erstattet werden, in erster Linie dem
Arbeitgeber oder Kollegen zu schaden. Denn nicht jeden leiten altruistische Motive. Eine Anzeige betrifft
häufig auch Kollegen, die ja zunächst einmal genauso
schutzwürdig sind wie der Hinweisgeber. Ist erst einmal ein Eindruck in der Öffentlichkeit entstanden,
lässt sich dieser kaum mehr korrigieren. Schließlich
muss der Hinweisgeber sich an eine öffentliche Stelle
wenden.
Sie werden jetzt das Gegenargument bringen, dass
diese Rechtsprechung zu Unsicherheiten führt; denn
entscheidend ist der Einzelfall. Ja, aber das geforderte
Gesetz würde daran leider nichts ändern. Denn alle
Entwürfe, die jetzt auf dem Tisch liegen, verwenden offene Rechtsbegriffe. So finden sich in dem Antrag der
SPD unter anderem Begriffe wie „Missstand“ oder
„leichtfertig“. Zu der Auslegung beider Begriffe gibt
es inzwischen eine große Anzahl an Urteilen; das heißt
auch die Auslegung Ihres Gesetzentwurfs würde im
Streit durch ein Gericht erfolgen müssen.
Ebenso ist es bei den Grünen. Auch hier müsste ein
Gericht entscheiden, was für eine Partei „unzumutbar“ ist. Die Fraktion der Linken knüpft schließlich
die Zulässigkeit der Weitergabe von Informationen an
die „Gutgläubigkeit“ des Hinweisgebers an. Ich empfehle hier nur den Blick in die Kommentierungen zum
Beispiel zu § 932 BGB, der den gutgläubigen Erwerb
von einem Nichtberechtigten regelt. Gerade der Begriff der Gutgläubigkeit ist einer, der für Auslegungen
außerordentlich viel Raum gibt. Die Auslegung erfolgt
durch die Gerichte. Die Liste der unbestimmten
Rechtsbegriffe in den vorliegenden drei Anträgen ließe
sich beliebig fortsetzen. Im Streitfall kämen immer die
Gerichte zum Zuge. Damit wären wir dann wieder
beim Anfang, bei der Rechtsprechung. Diese hat sich
übrigens ebenso wie das geschriebene Recht in
Deutschland bewährt. Denn sie ermöglicht eine differenzierte Betrachtung differierender Sachverhalte. Interessen von Betrieben, Hinweisgebern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern können abgewägt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu diesem Ergebnis ist übrigens auch der Europäische Gerichtshof gekommen. Denn er hat die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte bestätigt.
Grundsätzlich muss ein Arbeitnehmer auch nach Ansicht des Gerichtshofs vor einer Beschwerde den internen Beschwerdeweg einhalten. Der Gerichtshof hat
unser Recht auch in einem weiteren wichtigen Punkt
bekräftigt: Ein Arbeitnehmer muss den Missstand beweisen.
Auch die internationalen Vereinbarungen begründen keinen Handlungsbedarf in Deutschland. Denn
weder die Beschlüsse der G-20-Staaten noch die des
Europarates begründen eine Pflicht zur Verabschiedung eines speziellen Gesetzes zum Schutz von Hinweisgebern. Vielmehr laden die G-20-Staaten sowie
der Europarat in ihrem Aktionsplan bzw. ihrer Entschließung dazu ein, Regeln zum Schutz von Hinweisgebern zu erlassen und umzusetzen, um Hinweisgebern, die gutgläubig einen Verdacht auf Korruption
melden, vor Diskriminierung und Vergeltung zu schützen. Diesen wird durch § 612 a BGB Rechnung getragen. Die Vorgaben sind damit erfüllt.
Viele Betriebe haben darüber hinaus bereits freiwillig gehandelt und Möglichkeiten zur Meldung geschaffen - intern und extern. In einem Teil der Betriebe
werden Ombudsmänner berufen, in anderen gibt es innerbetriebliche Regelungen für das Whistleblowing. In
vielen Unternehmen existieren Betriebsvereinbarungen. Bekanntlich werden diese zwischen Betriebsrat
und Betriebsleitung ausgehandelt - passgenau für den
Einzelfall.
Diese sind allesamt näher an der Wirklichkeit als
pauschalierende gesetzliche Regelungen. Mich erstaunt und irritiert, dass es laut der Oppositionsanträge solche Betriebsvereinbarungen künftig nicht
mehr geben soll. Offensichtlich halten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die Mitglieder in
Betriebsräten nicht für geeignet, passende betriebliche
Regelungen zu finden.
Das ist mit uns nicht zu machen. Wenn ich wählen
sollte, wo der gesunde Menschenverstand wohnt,
würde ich mich nicht für die Fraktionsflure der Opposition entscheiden, sondern für die Betriebsratsbüros
in Deutschland. Unsere Betriebsräte wissen besser,
was notwendig und angemessen für ihre Kolleginnen
und Kollegen ist. Sie wissen zu unterscheiden, und das
ist erforderlich. Denn es geht nicht nur um den Hinweisgeber oder den Arbeitgeber selbst. In den meisten
Fällen richtet sich der Hinweis gegen Arbeitskollegen.
Auch diese haben Rechte. Auch diese verdienen
Schutz.
Unser Rechtssystem bietet diesen ausgewogen für
alle Beteiligten. Wir brauchen also keine neuen Regelungen. Deshalb lehnen wir Ihre Anträge ab.
Ganz offenbar ist Rot-Rot-Grün vom Diskontinuitätsfieber erfasst. Nicht anders ist zu erklären, wie
stiefmütterlich die Opposition - durch die Bank - das
Thema der heutigen Debatte im vergangenen Jahr behandelt hat. Erst haben sie Fraktion für Fraktion einen
Antrag gestellt, in dem vollmundig ein umfassender
Schutz von Whistleblowern gefordert wird; zuerst die
Linken, dann die SPD, und schließlich sind auch die
Grünen auf den fahrenden Zug gesprungen. Wir haben
jeden Antrag im Bundestag beraten, den Antrag der
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen zuletzt vor - fast
auf den Tag genau - einem Jahr. Danach ist aber
nichts mehr passiert. Die Antragsteller sind auf Tauchstation gegangen. Erst heute, in der vorletzten Sitzungswoche, hat sich die Opposition aufgerafft, ihre
Vorlagen parlamentarisch abzuschließen. Zuvor haben sie pflichtschuldig eine entsprechende kurze Passage in ihre Wahlprogramme geschrieben und das
Thema damit in die nächste Legislaturperiode geschoben. Das ist schon ein wenig scheinheilig. Echtes
Engagement und Überzeugung sehen jedenfalls anders aus. Da stellt sich für mich die Frage: Sind die
Forderungen reine Lippenbekenntnisse? Wie sonst ist
das zögerliche Verhalten der Opposition zu erklären?
Oder war Ihnen der Verlauf der Anhörung, die wir zu
dem Thema am 5. März 2012 durchgeführt haben,
peinlich? Denn das Ergebnis der Anhörung war klar
und eindeutig: Die Vorschläge der Opposition sind weder geeignet, den Schutz von Hinweisgebern auf eine
neue, brauchbare Grundlage zu stellen, noch sind sie
notwendig, um den Schutz von Hinweisgebern in der
erforderlichen ausgewogenen Weise zu verbessern.
Denn Arbeitnehmer, die den zuständigen Behörden
echte oder vermeintliche Gesetzesverstöße melden,
sind in Deutschland nicht schutzlos. Der Schutz ergibt
sich aus den allgemeinen arbeitsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorschriften und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
und des Bundesverfassungsgerichts. Die Kollegen
Gitta Connemann und Ulrich Lange haben das in der
Bundestagsdebatte am 14. Juni 2012 eindrucksvoll
dargelegt.
In einem wichtigen Urteil hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Recht von Beschäftigten in Deutschland weiter konkretisiert, öffentlich
auf Missstände an ihrem Arbeitsplatz hinzuweisen. Im
konkreten Fall ging es um die Kündigung einer Altenpflegerin, die den Behörden Missstände an ihrem Arbeitsplatz angezeigt hat. Auch dieses Urteil war zentraler Gegenstand der letzten Bundestagsdebatte. Die
Arbeitsgerichte werden das Urteil des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte künftig in ihrer
Rechtsprechung mit zu berücksichtigen haben. Wir
werden die Entwicklung dieser Rechtsprechung aufmerksam beobachten.
Zur Klarstellung: Couragierte Arbeitnehmer, die
helfen, Gesetzesverstöße zu verhindern bzw. wirksam
bekämpfen zu können, zum Beispiel von Korruption,
Aufdeckung von Missständen im Pflegebereich oder
bei Lebensmittelherstellung, verdienen den Schutz der
Rechtsordnung vor Repressalien des Arbeitgebers.
Wer sich für andere einsetzt, muss vor Nachteilen geZu Protokoll gegebene Reden
schützt sein. Darin sind wir uns einig. Allerdings leiten
wir daraus keinen gesetzlichen Handlungsbedarf ab.
Wir halten keine neuen Schutzgesetze für erforderlich.
Aus diesem Grunde werden wir die Vorlagen der Opposition heute ablehnen.
Auch zur zweiten und dritten Lesung unseres
Gesetzentwurfes zum Schutz von Hinweisgebern hat
das Thema Whistleblower mal wieder Aktualität. Mit
Edward Snowden, der Teile des amerikanischen
Überwachungsprogramms Prism an die Öffentlichkeit
brachte, gibt es wieder einen berühmten Whistleblower, einen Menschen, der einen Skandal aufdeckte,
über den nun die ganze Welt redet. Die Debatte, welche Daten staatlich gespeichert werden dürfen, wird
uns, auch in diesem Hause, noch lange beschäftigen.
Auch für den konkreten aufgedeckten Skandal werden
nun Lösungen gesucht und gefunden werden. Das
Schicksal, das Edward Snowden erleiden wird, steht
dagegen noch nicht endgültig fest. Sicher ist jedoch:
Sein Arbeitgeber hat ihn bereits entlassen.
Genau dieses Schicksal teilt Snowden mit nahezu
jedem deutschen Whistleblower der vergangenen
Jahre: mit dem Lkw-Fahrer, der 2007 den Gammelfleischskandal ins Rollen brachte, mit der Prokuristin,
die Verstöße der damaligen DG Bank gegen Insiderregeln publik machte, und mit dem Revisor, der auf gefälschte Statistiken der Arbeitsämter aufmerksam
machte. Sie alle teilen dasselbe Schicksal: Sie alle verloren ihre Arbeitsstellen.
Whistleblower sind Menschen, die Skandale aufdecken, Menschen, die ihre eigene Existenz aufs Spiel
setzen, um Probleme aufzudecken, die für eine Vielzahl
von Menschen von Interesse sind. Solche Menschen
müssen wir unterstützen. Um diese Unterstützung buhlen wir seit Jahren. Die Bundesregierung versagt
Whistleblowern jedoch jeden weitergehenden Schutz.
Die Verankerung eines wirksamen Schutzes für
Whistleblower scheint für die schwarz-gelbe Koalition
unvorstellbar. Vielmehr wird die Legitimierung von
Whistleblowern nach wie vor, jedenfalls von einzelnen
Mitgliedern der Regierungsfraktionen, als Förderung
des Denunziantentums begriffen - eine Reaktion, die
auch manch amerikanische Politiker im Fall des
Edward Snowden reflexartig zeigen.
Doch mit Denunziantentum hat es nichts zu tun,
wenn Missstände nur aufgedeckt und behoben werden
können, indem sie öffentlich gemacht werden. Mit
Denunziantentum hat es erst recht nichts zu tun, wenn
Menschen den Mut aufbringen, bei der Abwägung
„Löse ich das Problem der vielen und riskiere dabei
meine eigene berufliche Zukunft?“ die Entscheidung
für die „vielen“ treffen.
Bedenken haben wir in unserem Gesetzentwurf, der
heute zur Abstimmung steht, berücksichtigt. Wir sehen
deshalb ein Anzeigerecht für Hinweisgeberinnen und
Hinweisgeber vor, das am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausgerichtet ist. Es berücksichtigt die Möglichkeit, ein an den Bedürfnissen und Gegebenheiten
der Arbeitgeberin bzw. des Arbeitgebers angepasstes
Hinweisgebersystem zu implementieren, den offenen
internen Umgang mit und die Vorbeugung vor Missständen.
Bis heute gibt es in Deutschland kaum einen Schutz
für Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber im Arbeitsverhältnis. Die Anzeige innerbetrieblicher Missstände
an externe Stellen ist nur in absolut eng definierten
Ausnahmefällen gestattet. Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer müssten sich im Zweifel auf eine Klärung im Rechtsweg einlassen, um zu klären, ob eine
Rechtfertigung für das Handeln der Arbeitnehmerin
oder des Arbeitnehmers bestand oder nicht. Sowohl
das berufliche als auch das finanzielle Risiko sind
damit immens. Diese Unwägbarkeiten behindern das
Geben von Hinweisen. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer brauchen rechtssicheren Schutz. Wir können es
nicht dulden, dass Zivilcourage blockiert wird.
Andere Länder sind uns weit voraus; das hatte ich
bereits in meinen letzten beiden Reden zu diesem
Thema erwähnt. Spezielle gesetzliche Regelungen zum
Informantenschutz kennen in Europa schon heute
unter anderem Großbritannien, Belgien, Frankreich,
Norwegen, Rumänien und die Niederlande.
In Deutschland unternahmen wir bereits in der
Großen Koalition einen Anlauf zur Stärkung des Informantenschutzes; das war vor nunmehr fünf Jahren.
Die Union blockierte letztlich. Der Entwurf wurde
damals im Rahmen des Gammelfleischskandals erarbeitet. Doch statt zu sagen: „Wir freuen uns, dass der
Gammelfleischskandal aufgedeckt wurde und wir jetzt
darauf reagieren können“, wehrte sich die Union
plötzlich gegen jede Regelung. Der damalige Verbraucherschutzminister Seehofer pinnte dem Whistleblower noch einen Orden an, und das war es dann
auch schon wieder in Sachen Hinweisgeberschutz.
Seitdem herrscht Stillstand.
Die neue Regierungskoalition hat das Thema einfach liegen lassen, und das, obwohl es einen von der
Bundesregierung mitgetragenen Beschluss der G-20Mitgliedstaaten gibt, in dem sich die Staaten verpflichteten, bis Ende 2012 Regeln zum Whistleblowerschutz
zu erlassen und umzusetzen. Wenn sich die Bundesregierung nun auf die bestehenden arbeitsrechtlichen
Vorschriften und die begleitende Rechtsprechung beruft, dann handelt sie entgegen dem damals gefassten
Beschluss. Daher fordere ich Sie heute noch einmal
auf, werte Bundesregierung: Hören Sie endlich auf,
unternehmerische Interessen über das Gemeinwohl zu
stellen! Lassen Sie die Wirtschaftslobby liegen, und
stimmen Sie unserem Hinweisgeberschutzgesetz zu, für
unser aller Wohl! Wir können Missstände nur bekämpfen, wenn wir sie kennen.
Whistleblowing ist in Deutschland seit nun mehr als
zehn Jahren ein bekanntes Konzept. Die letzten Jahre
Zu Protokoll gegebene Reden
haben gezeigt, dass es zunehmend gelungen ist, die
wichtige Bedeutung von Whistleblowern in der Öffentlichkeit und in Unternehmen zu verankern, ein Thema,
das in regelmäßigen Abständen neu diskutiert wird.
Das unterstreicht auch das große mediale Echo, wenn
Korruptions- oder Gammelfleischskandale aufgedeckt
werden oder der aktuelle Enthüllungsskandal um den
„Prism-Whistleblower“ durch die Presse geht.
Die Oppositionsfraktionen fordern in verschiedenen
Anträgen einen Regelungsbedarf für eine gesetzliche
Grundlage zum Schutz der Whistleblower. Unter anderem sollen Änderungen des Bürgerlichen Gesetzbuches vorgenommen werden, die Hinweisgeber besser als bisher vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen
schützen sollen. Es werden Behauptungen aufgestellt,
der deutsche Gesetzgeber sei nach den Beschlüssen
des Europarates und der G-20-Staaten verpflichtet, bis
2012 ein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern zu
verabschieden. Die Entschließung des Europarates
aus dem Jahr 2010 ist jedoch nicht verpflichtend, sondern gilt als unverbindliche Erklärung.
Unsere Rechtslage ist ausreichend. Es existieren bereits zahlreiche spezialgesetzliche Anzeigerechte von
Beschäftigten. Ein ungeschriebenes Anzeigerecht von
Arbeitnehmern ist auch in der Rechtsprechung anerkannt. Solange eine Anzeige nicht leichtfertig erfolgt
und dieser eine ernsthafte Bemühung um eine innerbetriebliche Klärung vorgeht, können sich Arbeitnehmer
an öffentliche Stellen wenden. Eine Ausnahme davon
wird bei Straftaten mit schweren Folgen für Einzelne
oder die Allgemeinheit gemacht. In solchen Fällen
kann von einer innerbetrieblichen Klärung abgesehen
werden.
Als Berichterstatter für dieses Thema verteidige ich
weiterhin das Ziel der FDP-Bundestagsfraktion, einerseits aufrichtig handelnde Whistleblower zu schützen
und andererseits die Interessen des Arbeitsgebers zu
berücksichtigen. Dafür bedarf es keiner zusätzlichen
gesetzlichen Regelung. Denn zum Schutz von Hinweisgebern gibt es bereits ausreichende Normen. Das Anschwärzen von Vorgesetzten trägt für die FDP nicht zu
einer konstruktiven Unternehmenskultur bei. Daher
plädieren wir für den Vorrang einer innerbetrieblichen
Klärung, wie auch vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte bekräftigt.
Die zunehmende offene Diskussionskultur über
Missstände in Betrieben, die dem Schutz von Whistleblowern dient, verdeutlicht die bewusste Auseinandersetzung mit diesem Thema. Viele Unternehmen können mittlerweile die Möglichkeiten zur Meldung von
innerbetrieblichen Missständen aufweisen. Eine Vielzahl von Unternehmen haben sich für eine betriebliche
Regelung von Whistleblowing entschieden, wie zum
Beispiel die Deutsche Bahn.
Wir bleiben dabei: Ein Änderungsbedarf im Bürgerlichen Gesetzbuch und anderen Gesetzen, wie hier gefordert, halten wir nicht für erforderlich.
Whistleblower informieren die Öffentlichkeit über
ungesetzliches Handeln in Unternehmen und Behörden. Sie decken Gammelfleischskandale auf oder machen Steuerbetrug bekannt. Sie machen auf Behördenwillkür oder unhaltbare Zustände in Pflegeheimen
aufmerksam. Statt den Mut dieser Menschen anzuerkennen, werden sie in der Regel gnadenlos gejagt.
Es geht um Menschen, die persönliche Nachteile in
Kauf nehmen, wenn sie sich für das Gemeinwohl einsetzen. Es geht um Zivilcourage. Das ist ein schöner
Begriff, der in Sonntagsreden auch hier im Bundestag
gern Verwendung findet. Wenn es darauf ankommt,
diese Menschen zu unterstützen, wird jedoch weggesehen und geschwiegen. Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion beschimpfen sie sogar als Denunzianten und
Blockwarte. Was für ein abstoßendes Menschenbild
hat die angeblich christliche Union eigentlich?
So ist es kein Wunder, dass in dieser Wahlperiode
kein Gesetz zum Schutz von Whistleblowern mehr verabschiedet wird. Die internationale Verpflichtung der
G-20-Staaten, bis Ende 2012 Regelungen zum gesetzlichen Schutz von Whistleblowern einzuführen und umzusetzen, hat Deutschland damit nicht umgesetzt. Man
sei völkerrechtlich nicht daran gebunden, heißt es aus
Kreisen der Bundesregierung. Ich frage: Welchen Sinn
macht es dann, an den G-20-Beratungen teilzunehmen?
Die Lage der Menschen, die zum Wohle der Gesellschaft wichtige Informationen öffentlich machen, ist
durchweg schlecht. Sie verlieren ihren Arbeitsplatz
und oft die finanzielle Existenzgrundlage. Sie werden
gemobbt, mit Drohungen, Klagen oder anderen willkürlichen Vergeltungsmaßnahmen überzogen. All das
billigt die Bundesregierung bewusst.
Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch hat unhaltbare
und teils menschenverachtende Zustände in einem
Pflegeheim aufgedeckt. Dafür bezahlte sie mit dem
Verlust ihres Arbeitsplatzes und musste in einem siebenjährigen Rechtsstreit bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, um Recht und
eine kleine Entschädigung zu bekommen.
Inge Hannemann, Mitarbeiterin im Jobcenter Hamburg, wurde im April dieses Jahres vom Dienst „freigestellt“. Sie hatte die menschenunwürdige Sanktionspraxis der Arbeitsagentur gegenüber Hartz-IV-Beziehern
angeprangert. In einem Gespräch mit unserer Fraktion spricht sie offen über eine „Sanktionsquote“, die
von der Behörde vorgegeben wurde. Das muss man
sich einmal vorstellen: Der Staat macht Vorgaben zum
Drangsalieren von hilfsbedürftigen Menschen.
Als weiteres tragisches Beispiel von Whistleblowing
muss man wohl den Fall Gustl Mollath bezeichnen.
Seine Hinweise auf umfänglichen Steuerbetrug haben
ihn in die Psychatrie gebracht und einige Jahre Freiheit gekostet.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke sagt: Whistleblowing muss endlich gesellschaftliche Anerkennung und gesetzlichen Schutz
erfahren. Solange verantwortliche Politikerinnen und
Politiker der Regierungskoalition diese mutigen Menschen als Denunzianten beschimpfen und im Nazi-Jargon als Blockwarte diffamieren, wirkt Zivilcourage
existenzgefährdend. Die genannten Beispiele zeigen:
Wer sich für die Gesellschaft starkmacht und Missstände in Betrieben und Behörden aufdeckt, muss damit rechnen, mit Billigung und Unterstützung des Staates ins Abseits gestellt zu werden. Das ist ein Skandal.
Die Linke fordert ein eigenständiges Gesetz zum
Schutz von Whistleblowern und den Aufbau einer unterstützenden und unabhängigen Einrichtung als Anlaufstelle für Whistleblower. Diese soll beraten und
sich um die Durchsetzung der Rechte von Hinweisgebern kümmern. Die bisher auf Richterrecht beruhende
Abwägung im Einzelfall führt zu einer erheblichen
Rechtsunsicherheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und trägt nicht dazu bei, dass Beschäftigte sich
kritisch mit Missständen auseinandersetzen. Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber müssen frei zwischen
interner und behördlicher Offenlegung ihres Wissens
wählen können. Sonst werden unseriöse Unternehmen
und behördliche Heimlichkeiten statt der Whistleblower geschützt. Hinweisgeber müssen das Recht haben,
sich jederzeit an die Öffentlichkeit oder eine Ombudsstelle zu wenden, wenn die Warnungen intern oder gegenüber der Behörde erfolglos geblieben sind oder es
sich um eine Notfallsituation handelt. Ein echtes
Schutzgesetz muss die gutgläubige Weitergabe von Informationen schützen.
Die Linke fordert, dass alle Hinweisgeber vor Vergeltungsmaßnahmen geschützt werden. Das schließt Beamte, Angehörige der Streitkräfte und der Geheimdienste
ein. Wir wollen vermeiden, dass es auch in Deutschland
Fälle wie den des Soldaten Bradley Manning oder den
des Geheimnisverrats beschuldigten IT-Technikers
Edward Snowden geben wird. Diese beiden jungen
Männer hatten die Courage, sich mit dem US-amerikanischen Militär und dem Geheimdienst anzulegen, indem sie ungeheuerliche Verletzungen der Menschenrechte und Grundrechte öffentlich gemacht haben.
Bradley Manning muss nach amerikanischem Militärrecht sogar mit der Todesstrafe rechnen. Deshalb fordere ich Sie alle auf, sich beim US-Präsidenten Barack
Obama für die Freilassung und Rehabilitierung dieser
beiden jungen Männer einzusetzen.
Geschützt werden müssen auch Personen außerhalb
klassischer Arbeitsverhältnisse wie zum Beispiel unabhängige Beraterinnen und Berater, Auftragnehmerinnen
und Auftragnehmer, Praktikantinnen und Praktikanten,
ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vorübergehend Beschäftigte, Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter, ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Arbeitsuchende. Deshalb fordert die
Linke ein Whistleblowerschutzgesetz. Machen Sie
Ernst mit der Stärkung von Zivilcourage und gesellschaftlicher Verantwortung!
In der vergangenen Woche ging ein Aufschrei durch
die weltweite Öffentlichkeit. Eine interne „Informationsquelle“ hatte die Datensammelwut des Geheimdienstes der Vereinigten Staaten von Amerika ans Licht
gebracht.
„In einer besseren Welt … würde ihm ein Orden für
Unterstützung der Demokratie verliehen“, schrieb die
„Zeit“ in ihrer Ausgabe vom vergangenen Freitag
über den zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten
Hinweisgeber im US-Datenskandal. Wenige Tage später suchte der bis dahin anonyme Hinweisgeber,
Edward Snowden, gezielt den Weg an die Öffentlichkeit. Er stellte seine Motive für die Aufdeckung des
Spionageprogramms dar, und er schilderte seine Befürchtungen, seine Arbeitsstelle und seine bisherigen
Lebensumstände zu verlieren.
Von der in der „Zeit“ geschilderten besseren Welt
werden wir vorerst noch träumen müssen. Aber ich
möchte doch an dieser Stelle festhalten: Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber sind engagierte und mutige
Menschen. Sie sind ein essenzieller Bestandteil unserer Demokratie. Sie verdienen den Respekt und die
Anerkennung unserer Gesellschaft. Whistleblower
sind keine „Verräter“. Im Gegenteil, diese Menschen
zeigen Mut und Zivilcourage. Regelmäßig befinden sie
sich in einem schweren Gewissenskonflikt. Sie nehmen
eigene Nachteile in Kauf, weil sie Verantwortung für
die Gemeinschaft übernehmen.
Gleichzeitig fühlen diese Menschen sich von der
Politik im Stich gelassen. Noch immer sind Schutzvorschriften für Whistleblower gesetzlich nicht ausreichend verankert. Der Schutz, den die Rechtsprechung
bietet, ist einzelfallbezogen und zu vage. Auch betriebs- oder behördeninterne Hinweisgebersysteme
können eine weitergehende gesetzliche Verankerung
des Whistleblower-Schutzes nur ergänzen, nicht ersetzen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, seit langem fordern wir Grüne genauso wie die anderen Oppositionsfraktionen, dass Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber besser geschützt werden. Das Bedürfnis hierfür ist da, auch bei uns in Deutschland. Denken Sie nur an den Gammelfleischskandal oder an die
Missstände im Pflegebereich, die die Pflegekraft
Brigitte Heinisch aufgedeckt hat. Die Zeit ist also reif,
endlich auch in Deutschland für einen besseren Schutz
von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern zu sorgen.
Heute beraten wir in abschließender Lesung den
Gesetzentwurf meiner Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen. Mit diesem Gesetz wollen wir Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, Bundes- und Landesbeamtinnen
und -beamte sowie Auszubildende, die Missstände thematisieren, besser vor nachteiligen Konsequenzen
schützen. Wir schlagen eine ausdifferenzierte Lösung
vor, die die Interessen der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der Öffentlichkeit ausgewogen berücksichtigt
und ausgleicht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Kernstück des Gesetzentwurfs ist ein „Anzeigerecht“. Ein Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin
kann sich grundsätzlich zunächst an den Arbeitgeber
oder die Arbeitgeberin oder eine zur innerbetrieblichen Klärung zuständige Stelle wenden, wenn er oder
sie konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass im Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit rechtliche
Pflichten verletzt werden. Eine solche interne Stelle
kann zum Beispiel der Betriebsrat oder der Personalrat sein.
Wenn der Missstand daraufhin nicht beseitigt wird,
können Hinweisgeber sich an eine außerbetriebliche
Stelle richten. Das kann zum Beispiel eine Strafverfolgungsbehörde sein. Hinweisgeber können auch direkt
mit einer solchen außerbetrieblichen Stelle Kontakt
aufnehmen, wenn es ihnen nicht zumutbar ist, sich zuerst intern zu beschweren. Dies ist bei Straftaten der
Fall oder wenn eine gegenwärtige Gefahr für wichtige
Individualrechtsgüter wie Leben oder Gesundheit,
aber auch für die Stabilität des Finanzsystems oder die
Umwelt besteht.
In ganz extremen Fällen können Hinweisgeberinnen
und Hinweisgeber ihre Informationen auch direkt an
die Öffentlichkeit geben. Dies ist unter noch engeren
Voraussetzungen möglich: Das öffentliche Interesse
am Bekanntwerden der Information muss das betriebliche Interesse an deren Geheimhaltung erheblich
überwiegen.
Mit diesem Kaskadensystem legen wir eine praktikable Lösung für den gesetzlichen Schutz von Hinweisgeberinnen und Hinweisgebern vor. Damit fördern wir
Zivilcourage, und wir stärken das Vertrauen von
Menschen mit Verantwortungsbewusstsein in den
Rechtsstaat.
Tagesordnungspunkt 38 a. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zum
Schutz von Hinweisgebern. Der Ausschuss für Arbeit und
Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12577, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8567 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Das sind die
Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? - Die Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung abgelehnt. Damit entfällt die weitere Beratung.
Wir sind noch beim Tagesordnungspunkt 38 a. Abstimmung über den von der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen eingebrachten Entwurf eines WhistleblowerSchutzgesetzes. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12577, den Gesetzentwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9782
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? - Koalitionsfraktionen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Infolgedessen entfällt nach unserer
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 38 b. Wir setzen die Abstimmung zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses
für Arbeit und Soziales auf Drucksache 17/12577 fort.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6492 mit dem Titel
„Die Bedeutung von Whistleblowing für die Gesellschaft anerkennen - Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber schützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die
Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Deutschland bekräftigt EU-Verordnung zum
Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte
- Drucksache 17/13890 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir befassen uns heute mit einem interfraktionellen
Antrag, in welchem wir der Bundesregierung das
Mandat erteilen, auf EU-Ebene nochmals in aller
Deutlichkeit für den Erhalt des Handelsverbotes für
Robbenprodukte einzutreten. Mit der Verabschiedung
der EU-Verordnung ({0}) Nr. 1007/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September
2009 ist der Handel mit Robbenerzeugnissen bis auf
wenige Ausnahmen verboten worden.
Im Vorfeld dieses EU-Beschlusses hatte sich der
Deutsche Bundestag am 19. Oktober 2006 bereits mit
dem klaren Auftrag an die Bundesregierung gewandt,
auf EU-Ebene für den konsequenten Schutz der Robben
einzutreten. Mit großer Mehrheit hat unser Parlament
damals den Auftrag der Wählerinnen und Wähler umgesetzt, wirksam mit politischen Mitteln gegen die
Grausamkeiten beim jährlichen Abschlachten der
Robben vorzugehen.
Der Erfolg dieser EU-Verordnung aus dem Jahre
2009 ist jetzt nach über drei Jahren deutlich messbar;
denn die Anzahl der getöteten Robben ist von circa
350 000 jährlich auf 40 000 bis 70 000 zurückgegangen. Diese positive Entwicklung ist ursächlich auf das
strikte EU-Einfuhr- und -Handelsverbot zurückzuführen. Der kommerzielle Handel mit Robbenprodukten
ist damit nahezu zum Erliegen gekommen. Dies ist angesichts der bis 2009 praktizierten massenhaften Abschlachtungen und der grausamen Tötungsmethoden
mit Spitzhacke oder gar Knüppeln eine erfreuliche
Entwicklung. Kein zivilisiertes Land der Welt kann
seine Blicke vor diesen aus reiner Gewinnsucht erschlagenen Robben abwenden.
Um den Bedürfnissen der Inuit gerecht zu werden,
dürfen Robben in geringem Umfang für den Eigenbedarf erlegt werden. Mit dieser Ausnahme soll den Ureinwohnern von Kanada, Alaska und Grönland die
Aufrechterhaltung ihrer traditionellen Lebensweise ermöglicht werden.
Gegen diese EU-Verordnung haben Kanada und
Norwegen 2009 bei der Welthandelsorganisation,
WTO, Klage wegen Verstoßes gegen WTO-Vorschriften erhoben. Die Entscheidung der WTO in dieser
Sache wird im Laufe des Jahres 2013 erwartet. Falls
Kanada und Norwegen mit ihrer Klage Erfolg haben
sollten, ist das bestehende Handelsverbot in Gefahr.
Denn eine Lockerung oder gar Rücknahme dieser EUVerordnung würde wieder eine Zunahme der Robbenjagd bedeuten.
Dies kann nicht im Sinne des Deutschen Bundestages und des Artenschutzes sein. Deshalb fordert der
Deutsche Bundestag mit diesem Antrag die Bundesregierung auf, sich bei der EU-Kommission mit Nachdruck für das bestehende Import- und Handelsverbot
für Robbenerzeugnisse einzusetzen.
Ende Februar 2013 fand in Genf die erste WTO-Anhörung zu Kanadas und Norwegens Klage gegen die
EU-Verordnung statt. Dabei wurde vor allem deutlich,
dass beide Länder hohe Summen an Steuergeldern in
dieses WTO-Klageverfahren geben. Die Chancen, dass
einer Anfechtung des EU-Importverbots stattgegeben
wird, stehen nicht günstig.
Vielmehr sollte Kanada einen Ausstieg aus der kommerziellen Robbenindustrie anstreben, anstelle die
WTO durch Klageverfahren zu bemühen und dadurch
eine absterbende Industrie im Niedergang zu stützen.
Würde dieses Geld statt an die Anwälte für internationales Handelsrecht an die wenigen verbliebenen
Robbenjäger fließen, dann wäre nicht nur den Robben,
sondern auch den Robbenfängern geholfen.
Mittlerweile haben neben der EU auch andere
wichtige Märkte den Import von Robbenfellen verboten, darunter auch Mexiko, Taiwan, die USA und sogar Russland als bisheriger Hauptimporteur von kanadischen Robbenfellen.
Dennoch versucht die kanadische Regierung immer
wieder, die EU dazu zu bewegen, das Handelsverbot
für Felle und Fleisch von Robben aufzuweichen. Das
Gericht der Europäischen Union in Luxemburg bestätigte gerade erst am 26. April 2013 in erster Instanz
die Rechtmäßigkeit des Handelsverbots für Fell und
Fleisch von Robben aus Gründen des Artenschutzes.
Die Richter wiesen damit eine Klage der kanadischen
Volksgruppe der Inuit sowie kanadischer Robbenhändler
ab, die eine Lockerung des Handelsverbots erwirken
wollten.
Ich bedanke mich an dieser Stelle ausdrücklich bei
den Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, dass in diesem Falle auch eine ergebnisorientierte Zusammenarbeit mit der Opposition gelungen ist. Mit dem vorliegenden Antrag können wir Parlamentarier des Deutschen Bundestages ein Zeichen
setzen und uns geschlossen für den Erhalt der EU-Verordnung aussprechen.
Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen um ein klares Bekenntnis für den Schutz
der Robben. Lassen Sie uns einstimmig diesem fraktionsübergreifenden Antrag zustimmen.
Im Jahr 2009 hatten das Europäische Parlament und
der Rat die Verordnung über den Handel mit Robbenerzeugnissen beschlossen. Dies war nicht nur eine
lange geforderte Harmonisierung der Rechtsvorschriften, sondern insbesondere ein Zeichen für mehr Tierschutz. Denn die Verordnung verbietet glasklar den
Handel mit Robbenprodukten. Die Initiative war damals unter anderem auf den „Aktionsplan der Gemeinschaft für den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren
2006-2010“ zurückzuführen, in dem das Europäische
Parlament die Kommission zum Handeln aufforderte,
endlich ein völliges Verbot der Einfuhr von Robbenerzeugnissen vorzulegen. Auch hatte nicht nur die Parlamentarische Versammlung des Europarats 2006 empfohlen, die Robbenjagd für Mitgliedstaaten des
Europarats zu verbieten. Besonders wir Sozialdemokraten hatten uns in mehreren Anträgen immer wieder
für ein sofortiges Ende der Einfuhr und des Handels
von Robbenprodukten eingesetzt. Die Robbenjagd
muss endlich verboten werden ebenso wie alle grausamen Jagdmethoden, die keine Gewähr für einen
schmerzlosen, unverzüglich eintretenden Tod bieten.
Außerdem muss das Betäuben von Tieren mit Instrumenten wie Spitzhacken, sogenannten Hakapiks, Keulen und Schusswaffen endlich der Vergangenheit angehören.
Der Hintergrund ist klar: Jedes Jahr werden weltweit Hunderttausende Robben getötet. Die größten
Jagden auf zahlreiche Sattelrobben und Klappmützen
finden in Kanada im Frühjahr statt. Allein in Kanada
wurden seit der Wiederaufnahme der Robbenjagd über
3 Millionen Sattelrobben getötet. Angesichts dieser
Zahlen ist langfristig der Erhalt der Population gefährdet. Denn neben der Jagd ist der Bestand durch
weitere Faktoren wie Klimaänderungen, Beifang bei
der Fischerei und Zerstörung des Lebensraums bedroht. So ist zum Beispiel auch die Eisbedeckung der
Arktis rückläufig, was erheblichen Einfluss auf die Populationen haben kann, da Robbenarten wie Sattelrobbe und Klappmütze zur Vermehrung auf Packeis
angewiesen sind. Nicht zuletzt unter dem Tierschutzaspekt erscheinen mir die Robbentötungen als katastrophal. Die Tiere werden teilweise nur mangelhaft
betäubt, sind somit bei der Häutung bei Bewusstsein.
Wie auch bei der Wiederaufnahme der Robbenjagd
im Jahr 1996 wird diese immer wieder damit begründet, dass die Robben die Kabeljaubestände gefährden
Zu Protokoll gegebene Reden
würden. Angesichts von Überfischung, Vermüllung der
Meere und Klimawandel ist dieses Argument mehr als
fragwürdig. Abgesehen von der traditionellen und deswegen ausdrücklich erlaubten Robbenjagd der Inuit,
besteht für die Robbenjagd kein vernünftiger Grund.
Für Fell und andere Produkte gibt es zahlreiche Alternativen.
Zwar ist die Einfuhr von Fellen von Jungsattelrobben
und Jungmützenrobben und der daraus hergestellten
Erzeugnisse zu kommerziellen Zwecken in die Mitgliedstaaten schon seit 1983 verboten. Doch werden
Robben auch weiterhin gejagt und zur Gewinnung von
Fleisch, Öl, Unterhautfett, Organen, Fellen und daraus hergestellten Produkten verwendet. Die morbide
Produktpalette reicht von Omega-3-Kapseln und Textilien bis hin zu verarbeiteten Robbenhäuten und -fellen.
Für die Verbraucherinnen und Verbraucher ist es oftmals nahezu unmöglich, sie von ähnlichen Produkten
zu unterscheiden, die nicht von Robben stammen.
Das Töten und Häuten von Robben ist mit Schmerzen, Qualen und Angst verbunden. Damit die Erzeugnisse, die aus diesem Leid erwachsen, nicht auf den
Markt gelangen, haben mehrere Mitgliedstaaten Vorschriften erlassen, den Handel zu regeln, indem sie die
Einfuhr und die Herstellung dieser Erzeugnisse verbieten. Auch die sogenannte Robbenrichtlinie von
1983 hatte zunächst tatsächlich dazu beigetragen, die
Robbenjagd zu vermindern. Sie reichte aber nicht
mehr aus; denn die massenhaften Robbentötungen fanden einfach zwei Wochen später statt, wenn die Tiere
die in der Richtlinie vorgegebene Altersgrenze überschritten hatten. Es erwies sich daher als äußerst sinnvoll, diese Regelungen EU-weit und im Rahmen der
Verordnung über den Handel mit Robbenerzeugnissen
verbindlich zu harmonisieren, um auch Mitgliedstaaten
mit ins Boot zu holen, die keinerlei Handelsbeschränkungen für diese Erzeugnisse vorweisen konnten.
Selbstverständlich ist diese Regelung mit Handelseinschränkungen verbunden. Zugleich wurde die EUVerordnung aber auch in Kenntnis der geltenden
WTO-Richtlinien erarbeitet. Dennoch hatten Kanada
und Norwegen 2009 bei der WTO Klage wegen Verstoßes gegen den freien Welthandel erhoben, weil sie ein
Handelsverbot für ungerechtfertigt halten. Sie werfen
der EU vor, mit dem Verbot die kommerzielle Robbenjagdindustrie auf unfaire Weise zu diskriminieren. Das
Urteil der WTO wird für Oktober erwartet. Auch wenn
das Urteil der WTO offen ist und die Kommission das
Handelsverbot vehement verteidigt, muss sich die Bundesregierung für die Verordnung starkmachen. Denn
sie hat sich als wirksam erwiesen: Die Anzahl der getöteten Robben ist in den letzten Jahren von circa
350 000 jährlich auf circa 40 000 bis 70 000 jährlich
zurückgegangen. Wir können davon ausgehen, dass
die EU-Verordnung hierfür ursächlich verantwortlich
ist.
Die Bundesregierung und die schwarz-gelbe Regierungskoalition haben den Tier- und Artenschutz in den
vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt. Zuletzt
war sie nicht einmal bereit, einem in sachlicher Zusammenarbeit aller Fraktionen entstandenen Antragstext für eine Einschränkung des Wildtierhandels bedrohter Arten zuzustimmen. Wenn sie auch innerhalb
Deutschlands jede Gelegenheit verstreichen lässt, den
Tierschutz zu stärken, so kann sich die Bundesregierung wenigstens für den Fortbestand des Einfuhr- und
Handelsverbotes für Robbenprodukte einsetzen. Den
Rückhalt des Deutschen Bundestages hätte sie zumindest. Fraktionsübergreifend wollen wir deutlich machen, dass ein Abschwächen dieser Verordnung aus
Tierschutz- und Artenschutzaspekten völlig inakzeptabel wäre, da eine Lockerung oder gar Rücknahme dieser Verordnung erneut eine Zunahme der Robbenjagd
zur Folge hätte, mit all ihren Folgen, die wir nicht länger vor Augen haben wollen: blutüberströmte Eisfelder, auf denen mit mittelalterlichen Methoden Tausende Tiere grausam und elendig umgebracht werden.
Schluss damit!
Deutschland hat das Einfuhr- und Handelsverbot
für Robbenerzeugnisse initiiert und sich dafür auf internationaler Ebene stark gemacht. Weil wir uns in den
vergangenen Jahren im Deutschen Bundestag geschlossen - über die Fraktionsgrenzen hinweg - für
ein Ende der tierquälerischen Robbenjagd eingesetzt
haben, haben wir erreicht, dass sich auch die Europäische Kommission mit dem Thema auseinandergesetzt
und im Jahr 2009 eine EU-Verordnung vorgelegt hat,
die das Inverkehrbringen von Robbenerzeugnissen in
die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbietet.
Für Erzeugnisse aus der traditionellen Robbenjagd
von Inuit und weiteren einheimischen Gemeinschaften
gelten Ausnahmen. Somit sind die Interessen der Ureinwohner berücksichtigt, und die Lebensgrundlage
der indigenen Gruppen ist gesichert. Darüber hinaus
gilt das Verbot nicht für Robbenerzeugnisse aus Nebenprodukten einer Jagd, die ausschließlich der nachhaltigen Bewirtschaftung der Meeresressourcen dient.
Das seit dem 20. August 2010 geltende Verbot war
ein großer Tierschutzerfolg - unser gemeinsamer Tierschutzerfolg. Denn die Anzahl der getöteten Robben ist
in den letzten Jahren von circa 350 000 auf circa
40 000 bis 70 000 pro Jahr gesunken.
Dass Kanada und Norwegen an dem EU-weiten
Konsens, keine Robbenerzeugnisse in die Europäische
Gemeinschaft einzuführen, mittels einer Klage bei der
Welthandelsorganisation zu rütteln versuchen, ist kein
gutes Signal für den Tierschutz. Deutschland muss auf
internationaler Ebene seine klare Position gegen die
Robbenjagd bekräftigen. Denn das Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenerzeugnisse darf aus Tier- und
Artenschutzgründen nicht gelockert werden. Mit dem
vorliegenden interfraktionellen Antrag setzen wir ein
deutliches Zeichen für Tierschutz in dem Streit über
das Verbot.
Es ist nicht zu tolerieren, dass die Jagd auf Robben
weiterhin mit Methoden durchgeführt wird, die nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
den Grundsätzen einer tierschonenden und ordnungsgemäßen Jagd entsprechen. Immer noch werden Robben durch Schläge mit dem Hakapik oder Knüppeln
umgebracht. Problematisch daran ist weiterhin, dass
der Vorwurf laut wird, dass die Tiere teilweise noch bei
Bewusstsein sind, wenn sie gehäutet werden. Zwar
werden zum Beispiel vonseiten der kanadischen Regierung positive Veränderungen in der Art der Durchführung der Robbenjagd betont, aber Deutschland und
die Europäische Union müssen sich von der Einfuhr
der Produkte distanzieren und an dem EU-weiten Verbot festhalten. Es gibt keinen haltbaren Grund, Erzeugnisse von Tieren, denen bei der Jagd unnötig
Leiden und Schmerzen zugefügt wurden, nach Deutschland und in die anderen EU-Staaten einzuführen. Wir
Parlamentarier müssen uns entschlossen und geschlossen - mit der Bundesregierung auf unserer Seite - dagegen wehren. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr erfreut über unseren gemeinsamen Antrag, hinter dem
die gesamte FDP-Fraktion steht.
Es geht bei diesem Antrag um das in der EU existierende Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte, wie der Titel schon sagt. Eins ist völlig klar:
Deutschland und die EU dürfen sich nicht von Kanada, Norwegen oder wem auch immer unter Druck
setzen lassen.
Viele Menschen waren und sind empört über das
grausame Schlachten von Robben oder sogar Robbenbabys wegen ihres Fells oder des Fleisches. Jahrzehntelang haben Tierschützer dagegen gekämpft, und endlich, nach langer Zeit, kam es 2009 zu einem EUweiten Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenprodukte, um diesem Schlachten Einhalt zu gebieten. Im
Sinne des Tier- und Artenschutzes darf das Einfuhrund Handelsverbot für Robbenprodukte nicht gelockert werden, so wie dies Norwegen und Kanada fordern.
So ist es im vorliegenden Antrag formuliert, und das
ist gut so. Aber Deutschland und die EU müssen auch
dann, wenn die Welthandelsorganisation WTO in Zukunft etwas anderes vorsehen sollte, am Einfuhr- und
Handelsverbot für Robbenprodukte festhalten.
Weniger gut ist, was über dem Antrag steht: die Aufzählung der Einreicherinnen, nämlich der Fraktionen
der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ein großer Konservativer hat mal gesagt:
„Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unserer
Epoche.“ Das war Thomas Mann. Und nun geht es
nicht einmal um Kommunistinnen und Kommunisten,
es geht um die Linke. Sie von CDU und CSU sorgen in
Ihrer ideologischen und zutiefst undemokratischen
Verblendung dafür, dass der Bundestag sich nicht gemeinsam und geschlossen zum Robbenschutz bekennen
kann, weil Sie aus Prinzip mit uns Linken keine gemeinsamen Anträge stellen wollen. Und Sie, meine
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, Sie
machen dieses undemokratische Spielchen immer brav
mit.
Ich bin sicher, die absolut überwiegende Mehrheit
der Menschen in Deutschland will die Robben schützen und begrüßt das Einfuhr- und Handelsverbot. Die
Linke ist nicht so ideologisch verbohrt wie die CDU
und CSU.
Wir werden deshalb diesem Antrag zustimmen, damit der Bundestag einstimmig eine klare Botschaft für
einen konsequenten Robbenschutz sendet.
Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode ist es ge-
lungen, noch einen interfraktionellen Antrag zum Rob-
benschutz zu vereinbaren. Darin fordert der Bundestag
die Bundesregierung auf, auch in Zukunft an der EU-
Verordnung festzuhalten, die das Inverkehrbringen von
Robbenerzeugnissen regelt, und sich dieses wichtige
Instrument zum Schutz der Robben nicht aus der Hand
schlagen zu lassen.
Über diesen Antrag bin ich besonders froh, nicht
nur weil er den Schutz der Robben stärkt, sondern weil
er auf unserer bündnisgrünen Initiative beruht. Es ist
keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass es uns als
Oppositionsfraktion gelingt, die Regierungsfraktionen
von einer eigenen Initiative zu überzeugen! Das ist
- das kann ich nach elf Jahren im Bundestag sagen -
schon etwas Besonderes. Daher möchte ich mich be-
sonders bei den Kolleginnen und Kollegen der Union
und der FDP, aber natürlich auch der SPD, bedanken,
dass sie bereit waren, unsere Initiative mit leichten
Veränderungen mitzutragen und diesen Antrag einzu-
bringen. Das zeigt, dass der Deutsche Bundestag beim
Schutz der Robben - wie im Übrigen auch beim Schutz
der Wale - im Großen und Ganzen an einem Strang
zieht; denn schon 2006 hat sich der Deutsche Bundes-
tag mit Zustimmung aller Fraktionen für ein gemein-
schaftsweit gültiges Einfuhr- und Handelsverbot von
Produkten aller Robbenarten ausgesprochen.
Dass die Union seit Jahren darauf beharrt, dass sie
keine interfraktionellen Anträge mit der demokratisch
gewählten Fraktion der Linken macht, auch wenn es in
der Sache absolut keinen Dissens gibt, halten wir
Grüne für falsch. Wir haben jedoch keine Möglichkeit,
bei der Union ein anderes Verhalten durchzusetzen.
Ein Verzicht auf interfraktionelle Anträge als Konse-
quenz daraus kommt für uns im Interesse der Sache je-
doch nicht infrage.
Warum diese Aufforderung an die Bundesregie-
rung? Warum die Bekräftigung der Position, dass
Deutschland an der EU-Verordnung zum Einfuhr- und
Handelsverbot für Robbenprodukte, das die EU 2009
nach jahrelangem Drängen unter anderem aller Frak-
tionen des Deutschen Bundestages verabschiedet hat,
festhält? Der Grund liegt darin, dass dieses internatio-
nal angefochten wird - konkret vor der Welthandelsor-
ganisation. Kanada und Norwegen haben gegen die
EU-Verordnung bei der WTO Klage wegen Verstoßes
Zu Protokoll gegebene Reden
gegen den freien Welthandel erhoben. Im Laufe des
Jahres 2013 ist mit einer Entscheidung der WTO zu
rechnen.
Zwar bestehen angesichts der Tatsache, dass die
EU-Verordnung in Kenntnis der geltenden WTO-Richt-
linien erarbeitet und beschlossen wurde, realistische
Aussichten, dass diese Verordnung vor der WTO Be-
stand haben wird. Aber der Ausgang auch dieses Ver-
fahrens ist selbstverständlich offen. Eine Gewähr für
einen juristischen Erfolg gibt es selbstredend nicht.
In diesem Verfahren kommt es sehr darauf an, wie
und wie stark die EU-Kommission die EU-Verordnung
begründet und verteidigt. Damit die EU-Kommission
hier bei ihrer konsequenten Linie bleibt, sind die Si-
gnale aus den Mitgliedstaaten wichtig. Sie sollten
deutlich machen, dass für sie ein Abschwächen dieser
Verordnung aus Gründen des Tier- und Artenschutzes
nicht akzeptabel ist. Entgegengesetzte Signale wären
hingegen sehr kontraproduktiv.
Warum ist es so wichtig, diese EU-Verordnung zu
verteidigen? Der Grund liegt darin, dass sich diese
Verordnung als wirksam erwiesen hat: Die Anzahl der
getöteten Robben ist in den letzten Jahren von circa
350 000 jährlich auf circa 40 000 bis 70 000 jährlich
zurückgegangen. Das ist zwar noch kein Ende des tier-
schutzwidrigen Robbenschlachtens, aber doch eine er-
hebliche Abnahme. Es ist davon auszugehen, dass die
EU-Verordnung hierfür ursächlich verantwortlich ist.
Bei einer Lockerung oder gar Rücknahme dieser Ver-
ordnung wäre daher erneut eine bedrohliche Zunahme
der Robbenjagd zu befürchten.
Das wollen wir Grüne unbedingt verhindern. Von
daher bin ich froh, dass auch die anderen Fraktionen
in diesem Haus das so sehen und diesem Antrag zu-
stimmen. Und zudem bin ich dankbar, dass mir die
Kolleginnen und Kollegen zum Ende meiner parla-
mentarischen Arbeit noch einmal die seltene Gelegen-
heit geben, einen gemeinsamen Antrag zu beschließen.
Ich hoffe, dass er seine Wirkung in Richtung EU-Kom-
mission und WTO entfaltet.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag auf
Drucksache 17/13890. Wer stimmt für diesen Antrag? -
Das sind alle Fraktionen des Hauses. Gegenstimmen? -
Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Der Antrag ist an-
genommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 45 a bis 45 c auf:
a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Weiterfinanzierung von Schulsozialarbeit und Mittagessen in Horteinrichtungen
- Drucksache 17/13663 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})-
Innenausschuss-
Rechtsausschuss-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung-
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({1}) zu dem An-
trag der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein,
Diana Golze, Agnes Alpers, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE
Für ein neues Verständnis der Zusammen-
arbeit von Schule und Jugendhilfe - Schul-
sozialarbeit an allen Schulen
- Drucksachen 17/11870, 17/13180 -
Berichterstattung:-
Abgeordnete Dr. Peter Tauber-
Sönke Rix-
Florian Bernschneider-
Diana Golze-
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Angelika KrügerLeißner, Anette Kramme, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Bildung und Teilhabe für alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland
sicherstellen - Das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren
- Drucksachen 17/13194, 17/13825 Berichterstattung:Abgeordneter Johannes Vogel ({3})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der Schlüssel für die Zukunft unserer Kinder heißt
Bildung. Bildung ebnet den Weg für Selbstständigkeit
und Entwicklung. Bildung legt den Grundstein für eine
erfolgreiche Schullaufbahn und den späteren Eintritt
ins Arbeitsleben. Der Zugang zu guter Bildung wird
über gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht.
Wir in der CDU/CSU wollen, dass alle Kinder und
Jugendlichen in Deutschland unabhängig von den
finanziellen Möglichkeiten ihrer Familien eine Chance
auf Bildung und Teilhabe erhalten. Aus diesem Grund
haben wir das Bildungs- und Teilhabepaket infolge des
Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar
2010 rückwirkend zum 1. Januar 2011 eingeführt.
Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der
SPD fordern in ihrem Antrag, Bildung und Teilhabe für
alle Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Ich
möchte daran erinnern, dass wir mit der Einführung
des Bildungs- und Teilhabepakets Kindern und JuHeike Brehmer
gendlichen aus sozial schwächeren Familien erstmals
seit Einführung der Hartz-IV-Gesetze durch die rotgrüne Bundesregierung 2005 eine echte Chance auf
Bildung und Teilhabe gegeben haben. So gehören beispielsweise die Mitgliedschaft in einem Musik- oder
Sportverein, die Schülerbeförderung, die Teilnahme an
Klassenausflügen oder das warme Mittagessen in der
Kita, im Hort oder in der Schule zu den Leistungen des
Bildungs- und Teilhabepakets.
In ihrem Antrag bemängelt die SPD weiterhin die
mangelnde Inanspruchnahme des Bildungs- und Teilhabepakets. Dazu hat unsere Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Frau Dr. von der Leyen, im April
2013 die aktuellen Zahlen zur Inanspruchnahme des
Bildungspakets veröffentlicht. Demnach nehmen bundesweit im Durchschnitt 73 Prozent aller leistungsberechtigten Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren
das Bildungs- und Teilhabepaket in Anspruch. Das ist
ein positiver Trend.
Am 21. Februar 2013 haben wir im Deutschen Bundestag dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze zugestimmt. Mit diesem Gesetzentwurf,
dem auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD zugestimmt haben, wurde der Weg für eine Vereinfachung
des Bildungspakets geebnet. Hierfür wurden im Vorfeld viele konstruktive Vorschläge vom Deutschen
Landkreistag als Vertreter der deutschen Landkreise
unterbreitet.
So können zum Beispiel Leistungen, die vor einem
Schulausflug nicht rechtzeitig erbracht wurden, auch
im Nachhinein erstattet werden. Den Eigenanteil bei
der Schülerbeförderung und die Kostenabrechnung
von Klassenausflügen sollten mit dem Gesetzentwurf
insgesamt praktikabler gefasst werden. Deshalb ist es
höchst fraglich, weshalb die SPD, welche dem Gesetzentwurf des Bundesrates noch vor wenigen Monaten
zugestimmt hat, heute die Reformierung des Bildungsund Teilhabepakets fordert.
Die SPD fordert weiterhin kostenlose Betreuungsangebote, Lernmittelfreiheit und gebührenfreien Förderunterricht. Wer das alles bezahlen soll, wird im Antrag nicht erwähnt. Weiterhin fordert die SPD - ich
zitiere - „Anstrengungen … für ein … für alle zugängliches Mittagessen in Schulen, Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege und Horten sowie für die notwendige finanzielle Absicherung der zusätzlichen
Bildungsanstrengungen von Bund und Ländern“.
Denken wir doch einmal an diejenigen Familien,
welche keine Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erhalten und für ihre Kinder jeden Cent
zweimal umdrehen müssen. Alle Wohltaten, die die
SPD in ihrem Antrag verteilen will, müssen erst erarbeitet und vor allem sozialverträglich gegenfinanziert
werden. Nur so können wir unsere politischen Rahmenbedingungen in der Praxis auch mit Leben füllen.
Um die Förderung von Bildung und Teilhabe voranzubringen, hat sich der Bund im Rahmen des Gesetzes
zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung
des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch an
den Mitteln für die Schulsozialarbeit beteiligt.
Die Fraktion der Linken befasst sich in ihrem Antrag mit dem Thema Schulsozialarbeit. Darin fordern
die Linken „Schulsozialarbeit im Jugendhilferecht des
SGB VIII als Regelleistung im Wege einer Präzisierung und Neuverortung der schulbezogenen Angebote
in Form einer eigenständigen Angebotsform vorzunehmen“. Die Schulsozialarbeit wurde damals im Frühjahr 2011 im Vermittlungsausschuss zum Bildungsund Teilhabepaket mit Bund und Ländern verhandelt.
Es wurde vereinbart, dass 400 Millionen Euro pro Jahr
vom Bund unter anderem für die Schulsozialarbeit und
das Mittagessen in Horten für den Zeitraum von 2011
bis 2013 zur Verfügung gestellt werden.
Aus diesem Grund hat der Bund die Mittelübernahme über eine um 2,8 Prozentpunkte erhöhte Beteiligung an den Leistungen für Unterkunft und Heizung
zur Verfügung gestellt. Dieser Weg wurde damals gewählt, weil der Bund laut Verfassung nicht für den Bereich Schule zuständig ist. Dies fällt in Deutschland
nach unserem föderalen System in die Zuständigkeit
der Länder.
Die Schulsozialarbeit ist ein gutes pädagogisches
Angebot, aber wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass das Schulwesen Aufgabe der Länder ist. Die
Verantwortung der Länder für Bildung spielt auch
beim Thema Finanzierung eine wichtige Rolle.
So belegte das Bundesland Thüringen beim INSMBildungsmonitor 2012 den ersten Platz, als es darum
ging, wie viele Finanzmittel ein Bundesland in seine
Bildungssysteme pro Kopf investiert. Die Länder Berlin und Bremen hingegen belegten dabei die letzten
Plätze. Das zeigt: Wo die CDU in der Regierungsverantwortung ist, wird in Bildung und die Chancen unserer Kinder investiert.
In ihrem Antrag fordert die Linke die Bundesregierung auf, die Finanzierung der Schulsozialarbeit
durch den Bund, die Länder und die Kommunen für die
Weiterentwicklung zu einem flächendeckenden sozialpädagogischen Angebot sicherzustellen.
In dem vom Bundesrat eingebrachten Gesetzentwurf wird ebenfalls gefordert: „Zur Weiterfinanzierung von Sozialarbeit oder sonstigen Projekten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die den
Zugang von Kindern und Jugendlichen zu Leistungen
des Bildungs- und Teilhabepakets sicherstellen, ist
eine Entfristung der Bundesfinanzierung erforderlich.“
Ich möchte daran erinnern, dass unsere unionsgeführte Bundesregierung bereits eine Vielzahl von Maßnahmen auf den Weg gebracht hat, um Länder und
Kommunen dauerhaft zu entlasten. So übernimmt der
Bund in den Kommunen die Finanzierung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zum
Jahr 2014 vollständig. Das bedeutet für die KomZu Protokoll gegebene Reden
munen bis zum Jahr 2016 eine Entlastung von rund
18,5 Milliarden Euro. Eine vergleichbare Entlastung
für Kommunen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben. Aus diesem
Grund appelliere ich an die zuständigen Länder, welche in der Pflicht sind, ihr Bildungswesen auszugestalten und eigenverantwortlich zu handeln.
Die SPD geht in dieser Hinsicht nicht gerade mit
gutem Beispiel voran, wie man derzeit in Niedersachsen beobachten kann, wo die SPD in der Regierungsverantwortung ist und wo sie das Sitzenbleiben in der
Schule abschaffen will.
Wir in der CDU/CSU wollen, dass alle Kinder und
Jugendlichen in Deutschland ein Anrecht auf Bildung
und gesellschaftliche Teilhabe haben. Unabhängig
vom Geldbeutel ihrer Eltern sollen Kinder und Jugendliche eine echte Chance erhalten, um eigenverantwortlich ins Leben zu starten. Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen recht herzlich einladen, sich
mit Herz und Verstand für die Perspektiven unserer
Kinder und Jugendlichen einzusetzen. Die Anträge der
Fraktionen SPD und der Linken sowie des Bundesrates lehnen wir ab.
Über das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung für Kinder von Sozialleistungsempfängern
wurde in den zwei Jahren seiner Einführung viel diskutiert - Kritik wurde vor allem am bürokratischen Bewilligungsmodus geübt.
Die aktuellen Zahlen belegen jedoch, dass das Bildungs- und Teilhabepaket ankommt: 73 Prozent der berechtigten Kinder und Jugendlichen erhalten tatsächlich Leistungen aus dem Bildungspaket. Am häufigsten
genutzt werden dabei das Mittagessen, die 100 Euro für
den Schulbedarf und die Übernahme der Kosten für
Klassenfahrten. Zu einem Viertel wird es für „Teilhabe“
genutzt - also für Musikunterricht oder die Mitgliedschaft in Sportvereinen. Weiter hinten auf der Liste stehen Schülerbeförderung und Lernförderung. Diese
positive Bilanz verdeutlicht doch vor allem das nach
wie vor große Potenzial des Programms der Bundesregierung. Unser Ziel ist es, dass noch mehr Kinder die
Teilhabeangebote nutzen, insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder, deren Eltern das Bildungspaket noch nicht kennen.
Für das Programm stellt der Bund den Kommunen
über 433 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung hinzu kommen 160 Millionen für die Verwaltung. Um
den Verwaltungsaufwand bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets zu verringern, hat der
Deutsche Bundestag am 22. Februar dieses Jahres
zahlreiche Erleichterungen beschlossen: In bestimmten Fällen kann vom Sachleistungsprinzip abgewichen
werden, sodass beispielsweise bei Schulausflügen und
Klassenfahrten Geldleistungen gewährt werden können. Unter bestimmten Voraussetzungen können von
den Eltern ausgelegte Beträge für Zwecke des Bildungs- und Teilhabepakets erstattet werden. Um bestehende Schwierigkeiten bei der Ermittlung des im Regelsatz enthaltenen Anteils für die Schülerbeförderung
zu beheben, wird als Eigenleistung ein Pauschalbetrag
von 5 Euro festgelegt. Der für die Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben in der Gemeinschaft vorgesehene Betrag von 10 Euro monatlich kann unter bestimmten Voraussetzungen auch für die Beschaffung
von erforderlicher Ausstattung genutzt werden. Da ein
Antrag auf den Beginn des aktuellen Bewilligungszeitraums zurückwirkt, können auch Mittel entsprechend
angespart werden. Insgesamt verringert die Neuregelung den Verwaltungsaufwand und entlastet damit die
Träger des Bildungs- und Teilhabepakets.
Im Rahmen des Vermittlungsausschusses zum Bildungs- und Teilhabepaket SGB II wurde auch ein weiterer Aspekt verhandelt, der heute Thema dieser Debatte ist, nämlich die durch den Bund geförderte
Schulsozialarbeit. Im Vermittlungsausschuss wurde
vereinbart, dass vom Bund von 2011 bis 2013 pro Jahr
400 Millionen Euro für Schulsozialarbeit und Mittagessen in Horten zur Verfügung gestellt werden.
Bei der Schulsozialarbeit handelt es sich um ein
professionelles pädagogisches Angebot, das gezielte
Präventionsmaßnahmen und eine individuelle Förderung ermöglicht, welche Fehlentwicklungen frühzeitig
und ganzheitlich korrigierend entgegenwirken können.
Es ist vollkommen unstrittig, dass Schulsozialarbeit
als Schnittstelle zwischen Schulen, Familien und Jugendhilfe immer wichtiger wird. Sie entlastet Lehrerinnen und Lehrer und wirkt nicht nur an Brennpunktschulen stabilisierend, weil sie auf das Schulklima
positive Effekte hat.
Den sicherlich nicht immer einfachen und engagierten Einsatz der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter
sowie der Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen
an den Schulen möchte ich hiermit ausdrücklich würdigen.
Nichtsdestotrotz liegt dieser Bereich verfassungsrechtlich auf dem Gebiet der allgemeinen Bildung und
des Schulwesens bei den Ländern bzw. den kommunalen Gebietskörperschaften. Diese Zuständigkeit müsste
auch den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei bekannt sein, die fordern, das im Grundgesetz verankerte Kooperationsverbot von Bund und
Ländern im Bereich der allgemeinen Bildung aufzuheben, um die dauerhafte Absicherung der Schulsozialarbeit als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern zu gewährleisten. Nach dem Auslaufen der
Anschubfinanzierung liegt die Verantwortung bei den
Ländern.
Zwar war mit den Ländern im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch vereinbart worden, ihnen und
den Kommunen befristet bis 2013 zusätzlich
400 Millionen Euro zur Unterstützung ihrer Aufgaben
in Einrichtungen nach § 22 SGB VIII ({0}) und zum
Zu Protokoll gegebene Reden
Ausbau von Schulsozialarbeit zur Verfügung zu stellen aber dies war von Anfang an befristet. Eine dauerhafte
Finanzierung der Schulsozialarbeit durch den Bund war
und ist nicht vorgesehen.
Da der Bund ab dem Jahr 2014 die Nettoausgaben
des Vorvorjahres für die Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung vollständig erstattet, stehen
Ländern und Kommunen dann ausreichend Finanzmittel zur Verfügung, um auch die kommunalen Aufwendungen für Mittagessen und Schulsozialarbeit dauerhaft selbst finanzieren zu können. Im mittelfristigen
Finanzplanungszeitraum von 2013 bis 2016 bedeutet
dies für die Kommunen eine Entlastung um 18,5 Milliarden Euro. Wir sprechen hier vom umfangreichsten
Kostenentlastungsgesetz für die deutschen Kommunen
seit Bestehen der Bundesrepublik - eine vergleichbare
kommunale Entlastung hat es noch nie gegeben. Das
heißt aber eben auch, dass mit dem Auslaufen der Anschubfinanzierung die Finanzierung der Schulsozialarbeit durch die Länder und Kommunen gewährleistet
werden kann. Die dafür erforderlichen finanziellen
Spielräume sind vorhanden.
Aus diesem Grund können und werden wir Ihrem
Antrag nicht zustimmen.
Wir sprechen heute abschließend über unseren
SPD-Antrag zum Bildungs- und Teilhabepaket und
über zwei Initiativen zur Schulsozialarbeit. Dass im
Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt Mittel für die
Schulsozialarbeit verankert werden konnten, ist ein
großer sozialdemokratischer Verhandlungserfolg, den
wir gemeinsam mit unseren Ländern Anfang 2011 im
Vermittlungsausschuss erzielt haben.
Die Erfahrungen vor Ort haben gezeigt, dass die
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter eine
ganz wichtige Arbeit leisten: Sie tragen dazu bei, dass
unsere Schülerinnen und Schüler besser unterstützt
und gefördert werden. Und sie sorgen auch dafür, die
Angebote des Bildungspakets bekannter zu machen.
Denn sie sind vor Ort und kennen die Lebensverhältnisse der Kinder und Jugendlichen an ihrer Schule
sehr genau. Sie sind somit ein wichtiger Baustein für
mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land.
Die Finanzierungszusage des Bundes läuft zum Jahresende aus. Schwarz-Gelb ist nicht bereit, die unbestritten wichtige Schulsozialarbeit weiter zu unterstützen. Den Hilfeschrei der Länder - stellvertretend für
die Kommunen - haben wir heute alle aus dem Bundesrat vorliegen. Wir wollen, dass der Bund in der Verantwortung bleibt. Warum, so frage ich Sie, meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen, tun Sie
nichts? Warum unternimmt Ihre Bundesregierung
nichts, um die soziale Situation an den Schulen und die
der Schülerinnen und Schüler, der Eltern und der
Lehrkräfte zu verbessern? Hier kann und muss doch
gehandelt werden. Oder ist Ihnen der Bildungserfolg
von Kindern aus armen Elternhäusern egal?
Die Linken fordern in ihrem Antrag mehr Schulsozialarbeit. Das ist richtig. Es fehlen aber Aussagen zur
Finanzierung. Deshalb werden wir uns bei diesem Antrag enthalten.
Die SPD hingegen hat mit dem „Nationalen Pakt
für Bildung und Entschuldung“ einen umfassenden
Vorschlag vorgelegt, die Bildungsfinanzierung von
Bund und Ländern auszuweiten und so auch Mittel für
die Schulsozialarbeit bereitzustellen. Wir wollen für
Bildung zusätzlich 20 Milliarden Euro im Jahr bereitstellen, je 10 Milliarden Euro von Bund und Ländern,
finanziert aus Einsparungen, dem Abbau von überflüssigen Subventionen, der Wiedereinführung der Vermögensteuer und der Reform der Erbschaftsteuer zugunsten der Länder, die für die Bildung unserer Kinder die
Verantwortung tragen.
Eine wichtige Voraussetzung für bessere und gerechtere Bildungschancen in ganz Deutschland ist,
dass Bund und Länder in der Bildungspolitik enger zusammenarbeiten. Dafür muss das Kooperationsverbot
im Grundgesetz aufgehoben werden, das diese Zusammenarbeit verbietet. Nur gemeinsam wird es gelingen,
Ganztagsschulen und Kitas in Deutschland - mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern - auszubauen und
sie besser auszustatten.
SPD-regierte Länder engagieren sich übrigens bei
der Finanzierungsbeteiligung für die Schulsozialarbeit
stärker als andere. In Rheinland-Pfalz und in meiner
Heimat in Schleswig-Holstein sind die Mittel für
Schulsozialarbeit vor kurzem erhöht worden. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind davon
überzeugt, dass eine gute und leistungsfähige Schulsozialarbeit einen wichtigen Beitrag zur Bildungs- und
Chancengerechtigkeit leistet.
Wir sagen Ja zum Bildungspaket. Aber es muss auch
bei den Kindern ankommen. Eltern im Sozialleistungsbezug haben seit 2011 einen Rechtsanspruch für ihre
Kinder auf diese wichtigen Leistungen, zum Beispiel
auf Übernahme der Kosten für Klassenfahrten oder
Ausflüge, für ein warmes Mittagessen, für Lernmaterial und Nachhilfe. Inzwischen sind über zwei Jahre
vergangen, und immer noch gehen viele Kinder und
Jugendliche trotz des Rechtsanspruchs leer aus. Die
zuständige Sozialministerin Ursula von der Leyen versucht, diese beschämende Wahrheit mit fadenscheinigen Zahlen über die Inanspruchnahme aus einer selbst
in Auftrag gegebenen Studie zu verschleiern. Danach
würden 73 Prozent der leistungsberechtigten Kinder
und Jugendlichen das Bildungs- und Teilhabepaket in
Anspruch nehmen. Doch auf Nachfrage musste die
Ministerin einräumen, dass beispielsweise ein aus dem
Paket geförderter Schulausflug schon ausreiche, um in
die Statistik aufgenommen zu werden. So kämen die
73 Prozent zusammen, selbst wenn andere Leistungen
wie Lernförderung, Mittagessen, Teilnahme an Sport
und Kultur nicht genutzt werden können.
Damit wird deutlich: Von Bildungsgerechtigkeit und
Teilhabe an Kultur und Freizeit für alle Kinder sind
Zu Protokoll gegebene Reden
wir immer noch weit entfernt. Lernerfolg und Mitmachmöglichkeiten hängen nach wie vor vom Geldbeutel der Eltern ab. Die Chancen, die das Bildungspaket bietet, wurden von der schwarz-gelben
Bundesregierung nicht genutzt. Im Gegenteil: Durch
unnötigen und teuren Bürokratieaufbau wird Bildungsgeld an den Kindern und Jugendlichen vorbei
verschwendet.
Nach Umfragen des Deutschen Städtetages und des
Deutschen Landkreistages erhalten nur rund die
Hälfte der 2,5 Millionen berechtigten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen Leistungen aus dem
Bildungs- und Teilhabepaket. Und „Anspruch nicht
eingelöst“ heißt zum Beispiel die Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Anstatt schöner Worte
sollte Frau von der Leyen dafür sorgen, dass die Leistungen unbürokratisch in Anspruch genommen werden
können, die Bildungsinfrastruktur gestärkt und die
Schulsozialarbeit ausgeweitet wird.
Unser Antrag enthält einen umfangreichen Forderungskatalog, mit dem Bildung und Teilhabe für alle
Kinder und Jugendlichen gewährleistet werden wird.
Kurzfristig muss das Bildungs- und Teilhabepaket folgendermaßen umgebaut werden: Die 10 Euro monatlich zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in
der Gemeinschaft sollen ohne Antrag mit dem Regelsatz ausgezahlt sowie grundsätzlich überprüft werden.
Wie die Regelsätze selbst muss dieser Betrag fortlaufend angepasst werden. Ebenso soll mit dem Schulbedarfspaket von 100 Euro jährlich verfahren werden.
Der Zugang zur Lernförderung soll vereinfacht und
möglichst direkt an den Schulen angeboten werden. An
Schulen, Horten und Kitas muss eine diskriminierungsfreie gemeinsame und gesunde Essensverpflegung gewährleistet werden. Auf den Eigenanteil von
1 Euro soll verzichtet werden, was zudem Verwaltungskosten spart. Zur Entbürokratisierung soll der
Finanzierungsbeitrag des Bundes pauschal orientiert
an der Zahl der Leistungsberechtigten erfolgen. Lediglich Einmal- und Härtefallleistungen sowie nur schwer
pauschalierbare Kosten wie für Kita- und Schulausflüge und Beförderungskosten sollen weiterhin auf unbürokratischen Antrag gewährt werden. Außerdem
muss die Direktzahlung an die Eltern ohne Gutscheinoder Sachleistungsabwicklung zur Verringerung des
Verwaltungs- und Kostenaufwands ermöglicht werden.
Darüber hinaus wollen wir mittel- und längerfristig
durch zusätzliche Investitionen in unsere Bildungsinfrastruktur für mehr Bildungsgerechtigkeit sorgen.
Kitas und Horte müssen flächen- und bedarfsdeckend ausgebaut und Schulen zu Ganztagsschulen umgestaltet werden - mit Betreuungs-, Freizeit,- und
Lernförderangeboten und Schulsozialarbeitern sowie
diskriminierungsfrei zugänglicher und gesunder Essensverpflegung.
Die Finanzierung ist gesichert über unseren bereits
dargestellten „Nationalen Pakt für Bildung und Entschuldung“. Zudem wollen wir das völlig verfehlte Betreuungsgeld schnellstmöglich abschaffen und die so
gewonnenen rund 2 Milliarden Euro jährlich zusätzlich in die Bildungsinfrastruktur stecken.
Gerechte Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu schaffen ist unser Ziel. Gute Bildung von
Anfang an muss für alle möglich sein: von der Kita
über die Schule bis zum Studium und Berufsabschluss.
Schließen Sie sich unseren Forderungen an - für die
Bildungs- und Zukunftschancen unserer Kinder.
Wiederholt haben wir in den vergangenen Monaten
über das Bildungs- und Teilhabepaket gesprochen. Für
rund 2,5 Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sollte es das soziokulturelle Existenzminimum gewährleisten. Die Erwartungen waren groß.
Seit seiner Einführung 2011 kritisieren wir und die sozialen Träger in diesem Land die bürokratische und
wenig praxisnahe Umsetzung. Es war gut gemeint,
aber schlecht gemacht.
Die vor gut einem Monat durch Ministerin von der
Leyen präsentierten Zahlen zur Inanspruchnahme der
Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket können über diesen Fakt nicht hinwegtäuschen; denn die
Zahlen aus der Studie sind wenig aussagekräftig. So
reicht die Förderung eines einzigen Schulausfluges,
um in die Statistik mit aufgenommen zu werden. Das
hat nichts mit der Gewährleistung des soziokulturellen
Existenzminimums zu tun. Das wahre Ergebnis der
Studie, welches Ministerin von der Leyen gerne verschweigt, ist, dass in Regionen mit schlechter Bildungs- und Sozialinfrastruktur das Bildungs- und Teilhabepaket überhaupt nicht ankommt. So wichtige
Bereiche wie die Lernförderung werden nur durch
5 Prozent in Anspruch genommen. Leistungen für Teilhabe erreichen nur jeden vierten Anspruchsberechtigten. Und das ist ein Armutszeugnis. Anstatt die Probleme anzupacken, schmückt sich diese Koalition
lieber mit bunt angemalten Federn.
In unserem Antrag „Bildung und Teilhabe für alle
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in
Deutschland sicherstellen - Das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren“ setzten wir genau dort an, an der
Bildungsinfrastruktur. Wir wollen keine Flickschusterei an einem Paket, das dem Grunde nach falsch gestrickt wurde. Das ließ sich im Vermittlungsausschuss
leider nicht verhindern und muss dringend korrigiert
werden.
Wir wollen, dass das Geld, welches wir für das Bildungs- und Teilhabepaket bereitstellen, in die Infrastruktur vor Ort investiert wird. Wir wollen damit den
Ganztagsschulausbau vorantreiben. Wir wollen mehr
Kitaplätze damit finanzieren. Wir wollen, dass an den
Schulen mit den finanziellen Mitteln Lernförderung
stattfinden kann, die man nicht erst beantragen muss.
Wir wollen gute und vor allem unkomplizierte Angebote, damit wir alle Kinder und Jugendlichen erreichen, und wir wollen die Schulsozialarbeit als wichZu Protokoll gegebene Reden
tige Institution für mehr Chancengleichheit fördern
und ausbauen.
Als 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket verhandelt wurde, war es die SPD, die darauf bestand, dass
die Schulsozialarbeit ein Teil dessen wird. Aus der täglichen Praxis wissen wir, dass Schulsozialarbeit sich
als effektives Instrument erwiesen hat, um Bildungsarmut und soziale Exklusion abzubauen. Sie verfolgt
einen präventiven Ansatz und unterstützt insbesondere sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler,
Bildungschancen wahrzunehmen. Die Bedeutung von
Schulsozialarbeit wurde an diesem Montag, dem
10. Juni 2013, während der Anhörung im Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durch die
anwesenden Experten deutlich unterstrichen.
Mit der Einführung des Bildungs- und Teilhabepakets stellt der Bund seit 2011 über eine 2,8 Prozent
erhöhte Bundesbeteiligung an den Kosten der Unterkunft circa 400 Millionen Euro jährlich bereit, mit denen unter anderem der Einsatz von pädagogischem
Fachpersonal in den Schulen finanziert wird, sprich:
Schulsozialarbeitern. Diese Regelung läuft in diesem
Jahr aus. Daher fordert der Bundesrat im Sinne der
Fortführung der erfolgreichen Arbeit der Schulsozialarbeiter zu Recht die Entfristung der Mittel, damit vielerorts in Deutschland nicht mitten im nächsten Schuljahr auf einmal die Schulsozialarbeiter fehlen. Jedem
leuchtet dieser notwendige Schritt ein. Wir brauchen
mehr anstatt weniger Schulsozialarbeit. Meine Fraktion hat die Bundesregierung gefragt, ob sie die Finanzierungszusage für Schulsozialarbeit verlängern will.
Die klare Aussage: Nein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht haben
auch Sie von Schülerinnen und Schülern, von Eltern
sowie von Lehrerinnen und Lehrern aus Ihrem Wahlkreis Post bekommen. So schreibt mir Alicia aus Falkensee: „Unsere Schulsozialarbeiterin soll bleiben.
Sie hilft uns bei vertraulichen Angelegenheiten. Sie
hilft Schülern und Eltern.“ Genau das wollten wir. Das
macht Sinn. Für mich ist es unverständlich, warum
sich die Regierungskoalition dafür nicht einsetzt. Mit
Worten treten Sie doch auch immer für die Unterstützung von benachteiligten Familien auf. Leider fehlen
Ihre Taten.
Unser Antrag zum Bildungs- und Teilhabepaket sowie die Anträge des Bundesrates und der Linken haben
das richtige Ziel, und wir meinen es ernst. Wir wollen
mehr Schulsozialarbeit. Es darf keinen Abbruch geben.
Darüber hinaus wollen wir für die Zukunft mehr
Ganztagsbetreuung für Kinder, mehr Ganztagsschulen,
mehr Förderangebote an Schulen für lernschwache
wie lernstarke Schüler, damit Bildung und Teilhabe für
alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sichergestellt wird und dies nicht nur leere Worte bleiben.
Schulsozialarbeit ist eine wichtige Aufgabe. Aber
um es gleich vorwegzunehmen: Sie ist nach der föderalen Ordnung unseres Landes eine wichtige Länderaufgabe, also nicht in der Verantwortung des Bundes.
Es ist daher vielleicht auf den ersten Blick etwas überraschend, dass wir einen Gesetzentwurf des Bundesrates beraten, der den Bund zum dauerhaften Einstieg in
die Schulsozialarbeit auffordert. Weniger überraschend ist das Ganze, wenn man sich anschaut, dass es
vor allem um Bundesmittel für eine originäre Landesaufgabe gehen soll.
Es ist hier ein wenig so wie beim Sprichwort mit
dem kleinen Finger und der ganzen Hand. Für die
Jahre 2011 bis 2013 hatte der Bund - nicht zweckgebunden, aber in Kenntnis des erklärten politischen Interesses der Länder - 400 Millionen Euro zusätzlich
für Schulsozialarbeit und Mittagessen in Horteinrichtungen zur Verfügung gestellt. Das war der damals gefundene Kompromiss im Vermittlungsverfahren bei der
Neuberechnung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II. So ist auch festzuhalten, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Regelung beim Bildungsund Teilhabepaket und der befristeten Förderung der
Schulsozialarbeit gab, anders als dies im Gesetzentwurf des Bundesrates zum Ausdruck gebracht wird. Es
hat hier einen politischen Kompromiss gegeben, der
zwei unterschiedliche Themen miteinander verbunden
hat. Die 400 Millionen Euro für Schulsozialarbeit und
außerschulisches Hortmittagessen sind nicht Bestandteil des Bildungs- und Teilhabepakets. Sie sind ergänzend als eigener Bestandteil des Kompromisses beschlossen worden. Gleichwohl hat sich der Bund in der
Vereinbarung bereit erklärt, für drei Jahre die entsprechenden Ausgaben zu finanzieren. Zudem hat diese
christlich-liberale Bundesregierung die Länder und
Kommunen durch die vollständige Übernahme der
Kosten für die Grundsicherung im Alter allein im Zeitraum 2012 bis 2016 um 20 Milliarden Euro entlastet.
Auch dies war Teil des Kompromisses, der am 22. Februar 2011 zwischen Bund und Ländern geschlossen
wurde.
Sie distanzieren sich von gemeinsam gefundenen
Kompromissen, die Sie sogar selbst als Ihren Erfolg
gefeiert haben. Sie kritisieren dann diese christlich-liberale Regierungskoalition für die gemeinsam mit Ihnen gefundenen Lösungen und fordern am Ende eine
komplette Änderung und Umdeutung Ihrer ursprünglichen Ziele.
Im Übrigen möchte ich festhalten, dass wir es zum
Beispiel durch die vom Bundesministerium für Arbeit
und Soziales initiierten Runden Tische geschafft
haben, Startschwierigkeiten beim Bildungs- und Teilhabepaket zu lösen. Unter anderem deshalb ist es gelungen, die Inanspruchnahme der Leistungen auf
73 Prozent zu erhöhen. Diesen Weg der schnellen und
konstruktiven Zusammenarbeit im Sinne der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen werden wir weiter fortsetzen.
Schulsozialarbeit ist aus erfolgreicher Bildungspolitik in allen Ländern und Kommunen nicht mehr
wegzudenken. Durch erfolgreiche Schulsozialarbeit
Zu Protokoll gegebene Reden
können Lernende nachhaltig unterstützt und Lehrerinnen und Lehrer spürbar entlastet werden. Die Herausforderungen in der Arbeit in den Schulen aller Schulformen in Deutschland, die komplizierter werdenden
Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft, die Anforderungen an
inklusive Bildungsarbeit und der hohe Stellenwert von
Bildung in der Gesellschaft erfordern zunehmend eine
multiprofessionelle Arbeit an Schulen. Schulsozialarbeit gehört unbedingt dazu. Bislang ist Schulsozialarbeit aber eine mehr oder weniger freiwillige Aufgabe in der Verantwortung der Kommunen, die vor
allem auf Schulen in besonderen sozialen Brennpunkten beschränkt bleibt und oft genug der angespannten
Haushaltslage zum Opfer fällt. Das wird der neuen Bedeutung von Schulsozialarbeit in keiner Weise gerecht.
Zwar hat die SPD als Kaufpreis für ihre Zustimmung zum Bildungs- und Teilhabepaket im Bundesrat
der Bundesregierung ein 400 Millionen Euro schweres
Paket für Hortmittagessen und Schulsozialarbeit abringen können, aber das läuft zum Ende dieses Jahres
aus. Wenn man bedenkt, wie viele Kommunen über
diese zusätzliche Bundesfinanzierung deutlich mehr
Stellen für Schulsozialarbeit finanzieren konnten, als
das bislang der Fall war, dann ist auch absehbar, was
passiert, wenn diese Mittel mit dem Ende dieses Jahres
wegfallen. In manch einer Kommune könnte es dann
gar keine Schulsozialarbeit mehr geben.
Dem soll nun durch den Gesetzentwurf des Bundesrates abgeholfen werden. Doch so wichtig die Verstetigung des Mittelflusses aus Bundesgeldern ist, so falsch
ist der Weg, über den das passieren soll. Die Bundesregierung weist in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf zu Recht darauf hin, dass die Erhöhung der Zuweisung der Kosten der Unterkunft um 400 Millionen
Euro zur Finanzierung von Hortmittagessen und
Schulsozialarbeit rechtlich nicht bindend ist. Eine
dauerhafte Lösung über eine Entfristung dieser Finanzierung ist also nicht sachgerecht und auf Dauer auch
nicht zielführend.
Die Linke fordert darum, Schulsozialarbeit als Regelleistung im Kinder- und Jugendhilferecht zu verankern und zudem ein Bundesprogramm zur Beteiligung
von Bund und Ländern an der dauerhaften Finanzierung von Schulsozialarbeit aufzulegen. Damit käme
Verlässlichkeit, Planbarkeit und Qualität auch für die
Träger von Schulsozialarbeit in die Sache.
Das alles wäre auch unter den heutigen grundgesetzlichen Bedingungen schon machbar, aber es geht
natürlich besser, viel besser, wenn das leidige Verbot
der Zusammenarbeit in Bildungsfragen zwischen Bund
und Ländern, das es seit der Föderalismusreform 2006
gibt, zugunsten einer neuen Gemeinschaftsaufgabe
Bildung aufgehoben würde. Darum ist das unsere
dritte, nicht zum ersten Mal erhobene Forderung. Der
Bund kann sich nicht mehr aus dem herausziehen, was
in Schulen, was in der Bildung überhaupt geschieht.
Ein hohes Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung
ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das gesamtstaatliches Handeln erfordert. Immerhin steht in Art. 7
des Grundgesetzes auch: „Das gesamte Schulwesen
steht unter der Aufsicht des Staates.“ Momentan
schaut aber der Staat Bundesrepublik nicht hin, was im
Schulwesen warum schlecht läuft. Oder besser: Er
schaut gelegentlich hin und ist hilflos. Oder er erfindet
Bildungs- und Teilhabepakete, die kaum Teilhabe und
schon gar nicht Bildung sichern. Vielmehr rechnet sich
die Bundesregierung die Welt schön, indem sie die Beanspruchung von Bestandteilen des Paketes einfach
addiert. So entsteht der Eindruck, als ob zwei Drittel
der berechtigten Kinder und Jugendlichen von dem
Angebot profitieren. Schaut man ins Detail, so erfährt
man, dass alle Bestandteile des Paketes von nicht einmal einem Drittel aller Kinder und Jugendlichen, die
Anspruch hätten, wahrgenommen werden oder wahrgenommen werden können. So nutzt die Möglichkeit
eines gestützten Mittagessens nichts, wenn vor Ort gar
keines angeboten wird. Die Möglichkeit zur Teilhabe
gar wird selbst in der geschönten Statistik der Bundesregierung nur von 27 Prozent der Berechtigten genutzt, Lernförderung gar erhalten nur 5 Prozent der
Berechtigten.
Das Bildungs- und Teilhabepaket hat sich nicht nur
als bürokratisches Monstrum erwiesen, es kommt auch
nicht dort an, wo es nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichtes hin sollte. Das hätten die Eltern allemal besser hinbekommen. Und es wäre gerechter
gewesen. Das Bildungs- und Teilhabepaket ist darum
nicht zu reformieren, sondern die Mittel müssen umgelenkt werden in eine vernünftige finanzielle Absicherung von Kindern in Bedarfsgemeinschaften, Familien, die Wohngeld oder Kinderzuschlag erhalten oder
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch haben. Wie einfach das gehen kann, zeigt das Schulbedarfspaket.
Das alles hat nun auch die SPD erkannt. Aber wenn
sie nun die Finanzierung von Bildungsleistungen und
Schulsozialarbeit weiter über das SGB II absichern
will, bleibt sie in der falschen Logik stecken. Sicher
kann man für Anspruchsberechtigte einfach zweckgebunden Mittel auszahlen. Aber Rechtsansprüche sind
für alle und diskriminierungsfrei zu verankern. Damit
aber gehören sie ins Kinder- und Jugendhilferecht,
also ins SGB XIII. Die soziale Absicherung von Kindern in benachteiligten Familien könnte über eine Kindergrundsicherung wirkungsvoller gewährleistet werden.
Im SPD-Antrag finden wir einige gute und auch aus
unserer Sicht richtige Forderungen. Schade nur, das
die SPD für ihre Einsichten den Umweg über das SGB
II brauchte. Vielleicht hat ja auch die Nähe zur Bundestagswahl beim Erkenntnisgewinn geholfen. Dann
bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht nach der Wahl
nicht wieder verschwindet.
Die Linke bleibt dabei: Eine auskömmliche Kindergrundsicherung für alle Kinder und Jugendlichen, ein
besser ausfinanziertes System von GemeinschaftsschuZu Protokoll gegebene Reden
len, in denen alle Kinder individuell gefördert werden
können, mit Schulsozialarbeit an allen Schulen, finanziell besser ausgestattete Kommunen, damit sie das
auch leisten können, und eine dauerhafte und stärkere
Beteiligung von Bund und Ländern an der Finanzierung von Schulsozialarbeit als Regelleistung der Kinder- und Jugendhilfe, das würde mehr bringen als die
bisherigen hilflosen Versuche des Bundes zur Kompensation des unterfinanzierten Sozial- und Bildungssystems.
Die Linke wird sich bei dem Antrag der SPD darum
auch enthalten.
Mit ihrem Antrag zu Schulsozialarbeit spricht die
Fraktion Die Linke in der Tat ein sehr wichtiges
Thema an und setzt es auf die Tagesordnung, wo es
sonst oft nicht genügend Aufmerksamkeit bekommt.
Schulsozialarbeit kann jungen Menschen Möglichkeiten aufzeigen und helfen, gerade in schwierigen Situationen Herausforderungen zu meistern. Darüber
hinaus ist die Schulsozialarbeit ein wichtiger Faktor,
damit Schülerinnen und Schüler ihre Schule als Lebensraum wahrnehmen können. Gerade in Ganztagsschulen ist dies von zentraler Bedeutung. Schule darf
nicht mehr nur als ein Ort verstanden werden, an dem
Lerninhalte vermittelt werden, sondern muss Raum
und Möglichkeiten bieten, dass Jugendliche sich wohlfühlen, unterschiedliche Erfahrungen machen und sich
entwickeln können.
Die derzeitige Situation, in der gerade einmal
7,5 Prozent aller Schulen mit Angeboten der Schulsozialarbeit versorgt sind, ist angesichts der Anforderungen, die nun an den Lern- und Lebensraum Schule gestellt werden, untragbar. Hier ist jahrelang vonseiten
der Regierung eine Entwicklung verschlafen worden.
Anstatt sich mit Fragen wie der Gewährleistung von
qualitativ hochwertigen und flächendeckenden Angeboten der Schulsozialarbeit auseinanderzusetzen, will
die schwarz-gelbe Regierung lieber das blödsinnige
Betreuungsgeld einführen und damit Milliarden von
Euro aus dem Bundeshaushalt aus dem Fenster werfen. Diese Entwicklung muss gestoppt werden! Bildung
- sowohl formal als auch nonformal - muss in all ihren
Facetten endlich wieder ernst genommen werden, weil
sie entscheidend ist für die Perspektiven, die junge
Menschen in ihrem Leben haben werden.
Deshalb muss hier sinnvoll investiert werden! Der
Bund kann die Kommunen und die Länder im Finanzierungsbedarf allerdings nicht alleine lassen. Deshalb muss - wie im Antrag vorgeschlagen - das Kooperationsverbot von Bund und Ländern abgeschafft
werden.
Allerdings schafft der Antrag es nicht, hier von Bundesseite Finanzierungsquellen aufzuzeigen. Der derzeitigen Unterfinanzierung und damit verbunden der
fehlenden Gewährleistung von flächendeckender
Schulsozialarbeit ist nicht mit der bloßen Forderung
beizukommen, hier einen Rechtsanspruch zu formulieren. Schulsozialarbeit darf dabei nicht auf Kosten anderer Leistungen der Jugendhilfe oder Jugendarbeit
gehen. Hier muss langfristig ein tragfähiges Konzept
erarbeitet werden, wie Kommunen, Bund und Länder
gemeinsam diese Herausforderungen meistern können, ohne die unterschiedlichen Felder gegeneinander
auszuspielen.
Die Grünen haben im Wahlprogramm durchgerechnete Finanzvorschläge für Investitionen insbesondere
in Bildung und damit auch in Schulsozialarbeit gemacht. So werden wir das Thema nach der Wahl angehen und eine bessere Versorgung mit Angeboten der
Schulsozialarbeit umsetzen!
Wir sind beim Tagesordnungspunkt 45 a. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13663 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir
dies gerade so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 45 b. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag
der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für ein neues Verständnis der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe - Schulsozialarbeit an allen Schulen“. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13180, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/11870 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 45 c: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Bildung und Teilhabe
für alle Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in
Deutschland sicherstellen - Das Bildungs- und Teilhabepaket reformieren“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13825, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13194 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes
zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes
- Drucksache 17/13427 Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13931 31518
Abgeordnete Klaus-Peter WillschCarsten Schneider ({0})Otto FrickeDr. Gesine LötzschPriska Hinz ({1})
In der Tagesordnung ist ausgewiesen, dass die Reden
zu Protokoll genommen werden.
Wir beraten heute abschließend eine Änderung des
Finanzausgleichsgesetzes. Inhaltlich geht es um Folgendes: Seit 2005 erhalten die Länder Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich von Sonderlasten durch die
strukturelle Arbeitslosigkeit und die daraus entstehenden überproportionalen Lasten bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige, sogenannte Hartz-IV-SoBEZ. Diese
Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen werden
durch die Ländergesamtheit finanziert, indem Umsatzsteuereinnahmen in Höhe der Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen aus dem Länderanteil auf den
Bund übertragen werden. Die Höhe der Sonderlasten
ist dabei regelmäßig zu überprüfen. In einem Abstand
von drei Jahren überprüfen Bund und Länder, in welcher Höhe die Sonderlasten ab dem jeweils folgenden
Jahr durch die Hartz-IV-SoBEZ auszugleichen sind. In
diesem Jahr wurde die Überprüfung für das Jahr 2012
mit Wirkung ab 2014 vorgenommen.
Als Ergebnis dieser Überprüfung hat sich ein Betrag von 777 Millionen Euro ab dem Jahr 2014 und
damit eine Absenkung gegenüber der bisherigen Höhe
um 30 Millionen Euro ergeben. Dieses Gesetz setzt das
Ergebnis der Überprüfung rechtlich um. Da für den
Bund das Gesetz finanzneutral ist, sprechen keine
Gründe gegen den Gesetzentwurf. Die Koalition verhält sich ländertreu und wird dem Gesetzentwurf zustimmen.
Ich nutze die Gelegenheit in diesem Zusammenhang
aber, daran zu erinnern, dass der Bund den Ländern in
dieser Legislaturperiode in vielen Bereichen finanziell
sehr weit entgegengekommen ist und hohe finanzielle
Zugeständnisse gemacht hat. In den Jahren 2010 bis
2016 summieren sich diese Zugeständnisse des Bundes
an die Länder auf rund 55 Milliarden Euro. Als Beispiele nenne ich nur die Bundesmittel für den Hochschulpakt 2020 zur Sicherung der Leistungsfähigkeit
der Hochschulen bei steigenden Studierendenzahlen,
die zusätzlichen Investitionen zum Ausbau der öffentlich geförderten Betreuung von Kindern unter drei
Jahren und viele Kompensationszahlungen des Bundes
bei Steuergesetzen.
Mit dem Gesetzentwurf wird es auch Änderungen
der Bundeshaushaltsordnung geben. Ich begrüße, dass
wir fraktionsübergreifend den Zugang zu Prüfungsergebnissen und Berichten des Bundesrechnungshofs
klarstellen und konkretisieren und Regelungen zur Veröffentlichung von Bemerkungen und Berichten im Internet treffen. Die Einsichtnahme in noch nicht abgeschlossene Prüfungsverfahren und vom Parlament
noch nicht beratene Berichte schließen wir aus. Damit
verhindern wir eine Gefährdung der externen Rechnungskontrolle und sichern den Erfolg der parlamentarischen Finanzkontrolle.
Zu später Stunde geht es um die Schlussberatung
eines vor allem für die ostdeutschen Bundesländer
wichtigen Gesetzes.
Seit 2005 erhalten die Länder Brandenburg,
Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, sogenannte SoBEZ, damit sie besondere
Lasten ausgleichen können, die durch die strukturelle
Arbeitslosigkeit und die daraus entstehenden überproportionalen Lasten bei der Zusammenführung von
Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbsfähige
entstehen. Diese Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen werden durch die Ländergesamtheit
finanziert, indem Umsatzsteuereinnahmen in gleicher
Höhe aus dem Länderanteil auf den Bund übertragen
werden.
Das Gesetz schreibt zu Recht vor, die Höhe der
Sonderlasten regelmäßig zu überprüfen. Neben vielen
Erfolgsmeldungen am bundesweiten Arbeitsmarkt der
vergangenen Jahre, die übrigens immer SPD-Arbeitsminister erreicht haben, bleibt in den ostdeutschen
Ländern noch einiges zu tun. Wenn ich mir ansehe, wo
wir beispielsweise in Thüringen gestartet sind, dann
stelle ich fest, dass es dem Engagement der Länder,
mehr aber noch den Menschen selbst zu verdanken ist,
dass sich in vielen Regionen und Branchen die Lage
für Erwerbsfähige verbessert hat. In einigen aber noch
nicht. Daher gibt es nichts daran zu rütteln, dass der
Bedarf an SoBEZ grundsätzlich weiter besteht.
Der Gesetzentwurf setzt deshalb das Ergebnis der
letzten Überprüfung im Jahr 2013 für die Jahre ab
2014 gesetzlich um. Die Basis für die Überprüfung
bildet das Relationsmodell, das sich bewährt hat. Als
Ergebnis hat sich ein Betrag von 777 Millionen Euro
ab dem Jahr 2014 und damit eine Absenkung gegenüber der bisherigen Höhe um 30 Millionen Euro ergeben. Die horizontale Verteilung erfolgt unter Beibehaltung der bisherigen prozentualen Anteile.
Selbst wenn der Gesetzentwurf etwas technisch
anmutet: Er ist Ausdruck der Solidarität der Länder
untereinander und ein gutes Stück gelebter Solidarität;
denn - untechnisch gesprochen - die Länder sind Teil
des Bundes, aber auch untereinander verbunden. Sie
stehen nicht nebeneinander, sondern miteinander. Ich
wünschte, das wäre etwas häufiger so.
Während der Gesetzesberatungen haben wir im
Haushaltsausschuss übrigens fraktionsübergreifend
noch eine weitere Änderung aufgenommen. Wir haben
die Bundeshaushaltsordnung ergänzt und den Zugang
Carsten Schneider ({0})
zu Prüfungsergebnissen und Berichten des Bundesrechnungshofs konkretisiert. Damit wurde eine Gesetzeslücke geschlossen, sodass jetzt klare Regeln für die
Veröffentlichungspflicht von Bemerkungen und
Berichten im Internet bestehen. Laufende Prüfungsverfahren und vom Parlament noch nicht beratene
Berichte werden weiter geschützt, damit der Bundesrechnungshof seine besonders für uns im Haushaltsausschuss, aber auch für das ganze Parlament wichtigen Kontrollen und Prüfungen unabhängig fortsetzen
kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
sieht eine Änderung des Finanzausgleichsgesetzes vor,
mit der die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen im Bereich Hartz IV neu geregelt werden. Seit
2005 erhalten die Länder Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen
Ergänzungszuweisungen zum Ausgleich von Sonderlasten durch die strukturelle Arbeitslosigkeit. Die
Höhe der Sonderlasten war dabei regelmäßig zu überprüfen. Bei der letzten Überprüfung wurde ein Bedarf
von 777 Millionen Euro ermittelt, was einer Absenkung gegenüber der bisherigen Höhe um 30 Millionen
Euro entspricht. Diese Ermittlung ist sachlich nachvollziehbar und für den Bund finanzneutral.
Mit dem Gesetzentwurf wird es auch Änderungen
der Bundeshaushaltsordnung geben. Ich begrüße, dass
wir fraktionsübergreifend den Zugang zu Prüfungsergebnissen und Berichten des Bundesrechnungshofes
klarstellen und konkretisieren und Regelungen zu Veröffentlichungen von Bemerkungen und Berichten im
Internet treffen konnten.
Die Einsichtnahme in noch nicht abgeschlossene
Prüfungsverfahren und vom Parlament noch nicht beratene Berichte schließen wir aus. Damit verhindern
wir eine Gefährdung der externen Rechnungskontrolle
und sichern den Erfolg der parlamentarischen Finanzkontrolle. Eine Veröffentlichung von Prüfungen und
Prüfergebnissen zu einem früheren Zeitpunkt würde
eine effektive Überprüfung durch den Bundesrechnungshof verhindern, da Berichte nur noch in der Öffentlichkeit unschädliche Feststellungen beinhalten
und somit zu keiner positiven Mitwirkung der untersuchten Stelle führen würden. Eine solche Regelung ist
wichtig für die Arbeit des Bundesrechnungshofes und
für eine vertrauensvolle, positive Ergebnisse zeitigende Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure.
Sicherlich hätte man auch eine Lösung über das Informationsfreiheitsgesetz unmittelbar suchen können.
Dieses kann sicherlich auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Solange jedoch eine Regelung im
Informationsfreiheitsgesetz noch nicht gefunden ist,
bietet eine spezialgesetzliche Regelung über die Bundeshaushaltsordnung den besten Lösungsweg. Dass es
sich hierbei um ein Lex specialis nach Ansicht der
Fraktionen handelt, die diesem Gesetz zustimmen, haben wir deswegen auch noch durch die Formulierung
„im Übrigen“ in der Begründung des Änderungsantrages der vier Fraktionen festgehalten.
Ich darf mich daher ausdrücklich für die gute interfraktionelle Zusammenarbeit zur Lösung dieser Problematik bedanken.
Zu unserer und der Bürgerinnen und Bürger Erinnerung will ich an den Anfang meiner Ausführungen die
Frage stellen, worüber wir hier eigentlich sprechen,
wenn wir Stellung beziehen zur Änderung des Finanzausgleichsgesetzes. Durch die Strukturreformen der
rot-grünen Bundesregierung in den Sozialsystemen
und die Einführung des Hartz-IV-Systems wurden die
damalige Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe zusammengelegt. Diese Zusammenlegung betraf in ihrer
Härte und Konsequenz vor allem die ostdeutschen
Flächenländer, die damals wie heute unter einer signifikant höheren Arbeitslosigkeit zu leiden hatten und
haben. Damit im Zusammenhang steht auch der hohe
Anteil der Zeit- und Leiharbeit im Osten.
Diese strukturelle Arbeitslosigkeit belastet die
Haushalte der ostdeutschen Bundesländer dementsprechend stärker als die Haushalte ihrer westdeutschen Schwesterländer. Im Fachjargon redet man dann
von einer überproportionalen Belastung. Um dieser
überproportionalen Belastung entgegenzuwirken, erhalten die Länder seit 2005 über den Finanzausgleich
zwischen Bund und Ländern die sogenannten Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen, Hartz-IVSoBEZ, deren Höhe regelmäßig überprüft wird. Nun
erfolgt also die nächste Anpassung in Form einer um
diesmal 30 Millionen Euro gekürzten Summe. Ab 2014
erhalten die ostdeutschen Flächenländer dann insgesamt 777 Millionen Euro Hartz-IV-SoBEZ. In den Jahren 2012 bis inklusive 2013 lag die Summe noch bei
807 Millionen Euro, in den Jahren zwischen 2005 und
2011 noch bei circa 1 Milliarde Euro.
Nun haben alle ostdeutschen Bundesländer der Änderung des Finanzausgleichsgesetzes zugestimmt. Wir
als Linke, die in einer besonderen Verantwortung für
Ostdeutschland stehen, werden uns dem einheitlichen
Votum der ostdeutschen Finanzminister, darunter auch
ein Linker, nicht entgegenstellen. Jedoch fordern wir
im Interesse der Betroffenen, dass die Bundesregierung
endlich eine aktive Ostdeutschlandpolitik betreibt.
Denn die alltäglichen Probleme und Nöte der ostdeutschen Bevölkerung werden durch Hartz-IV-SoBEZ,
egal in welcher Höhe, nicht gelöst. Die Linke fordert
seit langem einen grundlegenden Kurswechsel in der
Ostdeutschlandpolitik. Der Nachbau West ist final gescheitert. Stattdessen bedarf es einer klugen Strukturund Regionalpolitik, in deren Zentrum der sozial-ökologische Umbau steht. Vor diesem Hintergrund will die
Linke zu regionaler Wertschöpfung, zum Entstehen
guter Arbeit, zur Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Ost und West gelangen; denn die gesamte
Republik steht vor einem einschneidenden Strukturwechsel. Nur so kann und wird unserer Ansicht nach
gute und neue Arbeit für die Betroffenen entstehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Seit 2005 erhalten die Länder Brandenburg, Meck-
lenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und
Thüringen sogenannte Sonderbedarfs-Bundesergän-
zungszuweisungen, also finanzielle Unterstützung vom
Bund zum Ausgleich von Sonderlasten durch die struk-
turelle Arbeitslosigkeit und die daraus entstehenden
überproportionalen Lasten bei der Zusammenführung
von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für Erwerbs-
fähige. Das ist eine richtige und sinnvolle Regelung,
deren Umsetzung regelmäßig evaluiert wird. Nachdem
die Höhe der Sonderlasten wie vereinbart überprüft
wurde, haben die Länder nun eine Absenkung der
Mittel für das Jahr 2014 um 30 Millionen Euro auf
dann 777 Millionen Euro beantragt. Das entspricht
der tatsächlichen Entwicklung der Sonderlasten, des-
halb ist es richtig, die Absenkung durch die beantragte
Änderung des Finanzausgleichsgesetzes zu vollziehen.
Wir unterstützen diesen Gesetzentwurf des Bundesra-
tes zur Anpassung der Mittel selbstverständlich.
Gleichzeitig wollen wir den Gesetzentwurf zum
Finanzausgleichsgesetz nutzen, um die Transparenz-
pflichten des Bundesrechnungshofes zu konkretisieren,
dessen unklare Pflichten zur Herausgabe von Unter-
lagen in der Vergangenheit zu Unsicherheiten geführt
hat. Ich finde es positiv, dass wir dazu einen interfrak-
tionellen Beschluss zur Änderung der Bundeshaus-
haltsordnung erreicht haben. Mit dem Antrag wird die
einstimmige Empfehlung des Rechnungsprüfungsaus-
schusses umgesetzt, der sich für eine Konkretisierung
eingesetzt hat. Der Zugang zu relevanten Prüfungs-
ergebnissen des Bundesrechnungshofes soll künftig
verbessert werden. Bei besonders wichtigen Vorgän-
gen soll der Rechnungshof die entsprechenden Be-
richte von sich aus veröffentlichen.
Es ist richtig, dass der Rechnungshof erst nach ab-
geschlossener Prüfung berichten soll, nicht bereits
während des laufenden Prüfprozesses. Wir alle haben
ein gemeinsames Interesse daran, die wichtige Arbeit
des Rechnungshofes weiterhin zu ermöglichen. Die al-
lermeisten Mängel, die bei Prüfungen zutage treten,
können nur deshalb direkt von der zuständigen Stelle
beseitigt werden, weil eine vertrauliche Zusammenar-
beit mit dem Rechnungshof möglich ist. Diese erfolg-
reiche Praxis soll weiterhin möglich sein.
Außerdem haben wir als Abgeordnete ein großes
Interesse an weiterhin qualifizierten Berichten, die un-
sere parlamentarische Arbeit unterstützen. Dieses
muss abgewogen werden gegen das Interesse an öf-
fentlicher Information. Ich glaube, uns ist das in einem
ersten Schritt gelungen. In der kommenden Legislatur-
periode wollen wir Grüne das Informationsfreiheitsge-
setz reformieren und für mehr Transparenz und bessere
Zugänge zu Informationen sorgen. In diesem Prozess
sollte dann auch die Regelung zum Rechnungshof von
der Bundeshaushaltsordnung in das neue Informa-
tionsfreiheitsgesetz übernommen werden.
Bei der jetzt geplanten Regelung der Herausgabe-
pflichten muss immer auch klar sein, dass der BRH der
Transparenz verpflichtet ist und seinen Ermessens-
spielraum nicht missbrauchen darf, um unliebsame
Informationen zurückzuhalten. Wenn sich dies in
Zukunft abzeichnen sollte, müsste entsprechend nach-
gesteuert werden. Ich habe jedoch großes Vertrauen in
das Urteilsvermögen des Bundesrechnungshofes, der
bisher stets hervorragende Arbeit geleistet hat, und
begrüße den Antrag aller Fraktionen zur Klarstellung
der Herausgabepflichten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13931, den Gesetzentwurf des Bundesra-
tes auf Druckache 17/13427 in der Ausschussfassung an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Das sind alle Fraktionen des Hauses.
Wer stimmt dagegen? - Niemand. Enthaltungen? - Auch
niemand. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Das sind wieder alle Fraktionen des Hauses. Vorsichts-
halber: Gegenprobe! - Niemand erhebt sich. Enthaltun-
gen? - Auch jetzt erhebt sich niemand. Der Gesetzent-
wurf ist somit angenommen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 46 a und 46 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil
({1}), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der SPD
Deutschland 2020 - Zukunftsinvestitionen für
eine starke Wirtschaft: Infrastruktur moder-
nisieren, Energiewende gestalten, Innovatio-
nen fördern
- Drucksachen 17/12682, 17/13200 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Oliver Krischer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Garrelt Duin, Hubertus Heil ({3}),
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Impulse für den Standort Deutschland - Für
eine moderne Industriepolitik
- Drucksachen 17/8572, 17/9132 Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Joachim Pfeiffer
In der Tagesordnung war ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen werden.
Der Titel des heute vorliegenden Antrags der SPD
ist eher als eine Kurzversion der wirtschaftspolitischen Bilanz der bürgerlichen Koalition zu lesen:
„Deutschland 2009-2013: Zukunftsinvestitionen für
eine starke Wirtschaft möglich gemacht: Infrastruktur
modernisiert, Energiewende gestaltet, Innovationen
gefördert“. Denn die meisten von Ihnen angesprochenen Maßnahmen sind nicht neu. Viele Ihrer Forderungen haben wir in den letzten Monaten und Jahren
schon umgesetzt oder auf den Weg gebracht.
Sie schreiben, dass die deutsche Wirtschaftpolitik
„die materielle Basis des wirtschaftlichen Erfolgs“
vernachlässige. Ausgehend von dieser falschen Prämisse fordern Sie eine moderne Energie-, Verkehrsund Kommunikationsinfrastruktur, eine „verlässliche,
umweltgerechte und nachhaltige Energiepolitik, die
Versorgungssicherheit zu wettbewerbsfähigen Kosten
garantiert“ und geeignete Rahmenbedingungen für
Innovationen, industrielle Forschung und Entwicklung, Fachkräftesicherung, die Unterstützungen von
Gründungen und die Förderung von Wagniskapital.
Wie in so vielem, was uns die SPD als „neu“ oder
„innovativ“ vorsetzt, ist auch dieser Antrag weitgehend überholt. Schauen wir auf die Energienetze:
Schon im Jahr 2011 hat die Koalition wichtige
Rahmenbedingungen für die Beschleunigung des Netzausbaus geschaffen. Denken wir nur an das Bundesbedarfsplangesetz oder an die von uns neu gestalteten
einheitlichen Planungs- und Genehmigungsverfahren.
Auch der Sachverständigenrat hat unser Engagement
in diesem Bereich gewürdigt, das wir freilich noch
lange nicht einstellen können und wollen.
Zum schnelleren und kostengünstigeren Breitbandausbau haben wir mit dem neuen Telekommunikationsgesetz eine Vielzahl von wichtigen Maßnahmen
auf den Weg gebracht, die die Rahmenbedingungen für
den Aus- und Aufbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen
verbessern und Anreize für Investitionen in neue Netze
setzen.
Im Bereich Verkehr haben wir schon 2012 die LkwMaut auf ausgewählte vier- und mehrstreifige Bundesstraßen ausgeweitet. Das stärkt den Finanzierungskreislauf des Verkehrsträgers Straße spürbar. Außerdem stellt der Bund im Rahmen des von CDU/CSU und
FDP durchgesetzten Infrastrukturbeschleunigungsprogramms II ab diesem Jahr zusätzlich 750 Millionen
Euro für Neu- und Ausbauprojekte zur Verfügung.
Mehr ist mit Blick auf den Bundeshaushalt, den wir im
Gegensatz zu Ihnen konsolidieren und nicht zulasten
kommender Generationen ruinieren wollen, nicht drin.
Mit dem Eisenbahnregulierungsgesetz und dem Personenbeförderungsgesetz stärken wir den Wettbewerb
auf der Schiene.
Auch bei der Fachkräftesicherung haben wir gehandelt: Unser Fachkräftekonzept zielt unter anderem
auf Aus- und Weiterbildung vornehmlich inländischer
Arbeitskräfte, auch älterer Arbeitnehmer, auf eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf und auf
eine gezielte Zuwanderungspolitik. So öffnen wir das
Zuwanderungsrecht zum 1. Juli 2013 dahin gehend,
dass auch Fachkräfte in Ausbildungsberufen Zugang
zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten können, wenn ihr
Abschluss einem der deutschen Berufsausbildung
gleichsetzbaren Abschluss entspricht.
Der rote Antrag ist im Wesentlichen ein industriepolitisches Konzept. Die SPD setzt dabei weiter auf
eine vom Staat gelenkte Wirtschaft, bei der der Staat
als Nachfrager und Entscheider über wirtschaftspolitische Weichenstellungen entscheidet. Dieser Geist
durchdringt die SPD leider nach wie vor, wenngleich
sie versucht, sich modern und innovationsfreudig zu
geben. Auch Ihr nett formulierter Antrag kann Ihr etatistisches Denken nicht kaschieren. Sätze wie:
„Deutschland hat mit seiner breiten industriellen
Basis, seinen weit verzweigten Wertschöpfungsketten
und seinen exzellenten Fachkräften die besten Voraussetzungen, als europäischer Motor einer schwächelnden Euro-Zone Antrieb zu verleihen“ könnte auch ich
unterschreiben, weiß aber mit Blick auf ihre „Realpolitik“, dass das nur heiße Luft ist.
In Ihrem Antrag lassen Sie einen umfassenden gesamtwirtschaftlichen Ansatz vermissen. Entscheidende
Grundvoraussetzungen für Wettbewerbsfähigkeit und
Wachstum, wie etwa ein flexibler Arbeitsmarkt, die
Bedeutung der Arbeitskosten oder die dringend notwendige und von uns strikt betriebene Konsolidierung
der öffentlichen Haushalte, werden in Ihrem Pamphlet
gar nicht erst erwähnt.
Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Koalition
berücksichtigt dagegen das Ziel der Haushaltskonsolidierung, ohne die erforderlichen Investitionen in Zukunftsbereiche wie Bildung und Forschung, aber auch
Infrastruktur zu vernachlässigen. Nur so können wir
Generationengerechtigkeit und langfristige Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte wahren und
zugleich unsere wirtschaftsnahe Infrastruktur erhalten
und dauerhaft fördern. Sie hingegen versprechen vieles auf Pump. Das ist unverantwortlich.
Verantwortliche Politik haben wir in den vergangenen dreieinhalb Jahren vorgemacht, wenn wir etwa
Prioritäten im Bereich Verkehr und bei Bildung und
Forschung gesetzt haben. Insgesamt liegen die Ausgaben des Bundes für Investitionen nach den schon beschlossenen Eckwerten für den Bundeshaushalt 2014
mit 29,6 Milliarden Euro deutlich über den investiven
Ausgaben von noch vor einigen Jahren. Der Bund wird
am Ende dieser Legislaturperiode voraussichtlich
rund 13,3 Milliarden Euro mehr für Bildung und
Forschung ausgegeben haben als noch die Große Koalition davor.
Lassen Sie mich nun auf ein paar von Ihnen erhobene Forderungen etwas genauer eingehen, um auch
Ihnen, werte SPD-Kollegen, vor Augen zu führen, was
wir in dieser Legislaturperiode schon erreicht haben
und Sie noch immer fordern. Offenbar sind Sie die
Zu Protokoll gegebene Reden
ganze Zeit so sehr damit beschäftigt, Anträge zu
schreiben, die am Ende der Legislaturperiode noch um
2.35 Uhr im Plenum debattiert werden sollen, dass Sie
die Realität gar nicht mitbekommen.
Sie fordern, jährlich drei Milliarden Euro mehr für
die Modernisierung der Infrastruktur und für die Energiewende zur Verfügung zu stellen. Dazu sei angemerkt, dass der Bund bereits gezielte Prioritäten in
diesen Bereichen setzt. Im Energiebereich gibt es zahlreiche Impulse, Instrumente und Maßnahmen zur
Unterstützung der Energiewende. Insgesamt liegen die
Ausgaben des Bundes für Investitionen nach den
Eckwerten für den Bundeshaushalt 2014 mit 29,6 Milliarden Euro deutlich über den investiven Ausgaben
von noch vor einigen Jahren. Selbst bei Berücksichtigung der ESM-Tranche liegen die Investitionen 2014
mit rund 25,3 Milliarden Euro über dem Wert von 2008
mit 24,3 Milliarden Euro.
Die Eckwerte für den Haushalt 2014 sehen eine
Verstetigung der Investitionen im Bereich Verkehr auf
hohem Niveau vor. Zum Erhalt und weiteren Ausbau
des Netzes der „klassischen“ Verkehrsträger Straße,
Schiene, Wasserstraße und für den kombinierten
Verkehr sind Ausgaben von 10 Milliarden Euro jährlich veranschlagt. Für das Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II werden beispielsweise zusätzlich
150 Millionen Euro eingeplant.
Neben den eigenen Sachinvestitionen des Bundes
liegt ein Schwergewicht auf den Finanzierungshilfen
zugunsten von Investitionsvorhaben Dritter. Auch die
Kreditinstitute des Bundes, zum Beispiel die KfW,
tragen in erheblichem Umfang zu öffentlichen und privaten Investitionen bei. Ich weiß, dass Sie, Genossinnen und Genossen, in staatlichen Anreizen keinen Reiz
sehen. Wir wollen aber keine staatlichen Anordnungen, weil das bislang immer schiefgegangen ist, wie
uns die Geschichte lehrt.
Zu Ihren Forderungen für den Netzausbau im Bereich der Energieinfrastruktur darf ich Ihnen wie folgt
Hinweise geben: Schon 2011 hat die unionsgeführte
Bundesregierung wichtige Rahmenbedingungen für
die Beschleunigung des Netzausbaus geschaffen und
alle Akteure in einer Netzplattform „Zukunftsfähige
Energienetze“ zusammengebracht. Hier werden für
die vielfältigen Aspekte des Netzausbaus - vom Regulierungsrahmen über Smart Grids bis hin zu Speichern
- Lösungsvorschläge für den Netzausbau und die
Modernisierung der Stromnetze erarbeitet.
Grundlage für den Ausbau der Übertragungsnetze
ist der zehnjährige Netzentwicklungsplan der vier
Übertragungsnetzbetreiber. Dieser Plan weist die
vorrangigen nationalen und grenzüberschreitenden
Netzausbauprojekte aus. Auf Basis des ersten Netzentwicklungsplans, der 2012 von der Bundesnetzagentur
bestätigt wurde, haben CDU/CSU und FDP im April
dieses Jahres das Bundesbedarfsplangesetz beschlossen, mit dem wir eine Beschleunigung der Planungsund Genehmigungsverfahren für die vorrangigen
Netzausbauprojekte auf Übertragungsnetzebene bewirken. Zur Steigerung der Akzeptanz des Netzausbaus
sehen wir in den neuen Verfahren zur Netzausbaubedarfsplanung und in den anschließenden Planungsund Genehmigungsverfahren nach dem Netzausbaubeschleunigungsgesetz eine frühzeitige und umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung vor.
Um den Ausbau der Offshorewindenergie zu beschleunigen, haben wir 2012 einen Systemwechsel bei
der Anbindung von Offshorewindparks eingeleitet. Zukünftig soll durch einen Offshorenetzentwicklungsplan
ein bedarfsgerechter und effizienter Ausbau des Offshorestromnetzes in einem geordneten Verfahren sichergestellt werden. Der Systemwechsel wird mit einer
Haftungsregelung für Verzögerungen und Störungen
der Netzanbindung verknüpft. Das alles erhöht die
Planungssicherheit der Investoren und baut Investitionshindernisse ab.
Das Interesse von Investoren an deutschen Netzen
- und nicht zuletzt die Vereinbarung zwischen Tennet
und Mitsubishi Anfang 2013 über die Beteiligung bei
vier Offshoreanbindungsprojekten - zeigt, dass in
Deutschland mit der Anreizregulierung ein wirtschaftlich attraktiver Investitionsrahmen vorhanden ist. Den
muss die SPD nicht schlechtreden. Mit Blick auf Effizienz und Kostenbegrenzung ist es klar vorzuziehen,
den Ausbau und Betrieb der Stromnetze marktwirtschaftlich und nicht planwirtschaftlich zu organisieren.
Dass Sie der Speicherthematik in Ihrem Antrag einen zentralen Platz einräumen, ist richtig. Aber auch
hier haben wir nicht geschlafen: Um die Technologieentwicklung voranzutreiben, hat die schwarz-gelbe
Bundesregierung im Rahmen ihres Energieforschungsprogramms die Förderinitiative „Energiespeicher“
gestartet, die mit 200 Millionen Euro ausgestattet ist.
Über 400 Vorschläge wurden im Rahmen der Initiative
eingereicht. Davon wurden im letzten Jahr schon mehr
als 100 Projekte bewilligt. Aber das bleibt eine
Herausforderung, der sich Politik, Wirtschaft und
Forschung weiterhin stellen müssen.
Kommen wir zum Breitbandausbau: Auch wir wollen eine schnelle, flächendeckende Breitbandversorgung, und zwar eben nicht nur in Städten und Ballungsgebieten, sondern genauso auch in den kleinen
Gemeinden, Ortsteilen und Dörfern. Mit der Novelle
des Telekommunikationsgesetzes im Mai 2012 haben
wir - ergänzend zur Breitbandstrategie der Bundesregierung - die Rahmenbedingungen für den Aus- und
Aufbau von Hochgeschwindigkeitsnetzen umfassend
optimiert. Dazu gehören die Zulassung des sogenannten Microtrenching, einer Verlegetechnik, bei der die
Breitbandkabel in den Asphalt bzw. in den Erdboden
eingefräst werden. Das spart hohe Grabungskosten.
Weiter haben wir im TKG die Mitnutzung von vorhandener Infrastruktur geregelt. Wenn ein TKUnternehmen Infrastruktur der öffentlichen Hand mitnutzen will, besteht sogar ein Anspruch darauf, bei der
Infrastruktur privater Inhaber zumindest ein AntragsZu Protokoll gegebene Reden
recht. Dass die SPD am liebsten auch private Unternehmen und Einrichtungen von Staats wegen zur
Mitnutzung verpflichten würde, ist klar. Wohin Planwirtschaft am Ende führt, hat uns die Geschichte aber
deutlich gelehrt. So schaffen wir Synergien, vermeiden
Doppelkosten, neue Grabungsarbeiten und so weiter.
Mit dem sogenannten Hausstich haben Telekommunikationsunternehmen nun das Recht, ihre Breitbandkabel im Rahmen einer einzigen Baumaßnahme nicht nur
entlang der Straße zu verlegen, sondern gleich in die
entlang der Straße befindlichen Häuser, auch wenn der
Haus-/Grundstückseigentümer das vielleicht nicht
will: Das spart enorme Kosten, weil die Straße nicht
für jedes Haus erneut und separat aufgerissen werden
muss. Darüber hinaus erlauben wir eine stärker regionalisiert betrachtete Regulierung. Das fördert den
Wettbewerb dort, wo regionale Monopole drohen.
Schließlich haben wir ein Antragsrecht für Telekommunikationsunternehmen ins TKG hineingeschrieben,
womit die Netzbetreiber jetzt verbindliche Auskunftsrechte haben, welche Regulierungsmaßnahmen bei Investitionen in der Stadt bzw. Region X auf sie zukommen. Das schafft Planungssicherheit und macht Mut zu
Investitionen.
Bei der Breitbandstrategie liegen wir im Zeitplan:
Die Grundversorgung mit 1 Megabit pro Sekunde flächendeckend ist bis auf wenige Ausnahmen gesichert.
Dazu trägt sicherlich auch der LTE-Ausbau in
Deutschland bei, der aber nicht der Weisheit letzter
Schluss ist, sondern nur als Zwischenlösung gesehen
werden kann. Unser weitergehendes Ziel, 2018 der
ganzen Bundesrepublik 50 Megabit pro Sekunde zur
Verfügung stellen zu können, werden wir mit LTE allein sicherlich nicht erreichen können. Langfristig sind
Glasfaser und die Kabelnetze in meinen Augen die
technisch sicherste Lösung.
Was die Förderkulisse für den Breitbandausbau
angeht, ist zu sagen, dass die bestehenden Förderprogramme des Bundes - KfW, Landwirtschaftliche
Rentenbank - und der Länder auch Impulse setzen
können. Bestehende Programme der KfW für die Finanzierung des Breitbandausbaus sind in den letzten
Monaten transparenter und besser nutzbar gemacht
worden. Derzeit läuft eine Evaluation darüber, wie
diese Programme besser in Anspruch genommen werden können. Außerdem haben wir noch die Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der Agrarstruktur und
des Küstenschutzes“ und „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den Ländern, die für den
Ausbau des schnellen Internets angezapft werden können.
„Für den Fall, dass wettbewerbliche Lösungen
allein nicht zum Ziel führen“ fordern Sie, „die Grundversorgung durch einen gesetzlichen Universaldienst
abzusichern, mit dem die Unternehmen je nach Marktanteil über ein Umlageverfahren zum Aufbau einer
flächendeckenden Internetgrundversorgung verpflichtet werden“. Ich muss Ihnen sagen, dass ich bei diesem
Punkt gar nicht so weit weg von Ihnen bin. Schon jetzt
ist absehbar, dass es entlegene Regionen oder Siedlungen gibt, bei denen sich ein hochbitratiger Anschluss
für den Netzbetreiber finanziell nicht lohnt und auch
nie lohnen wird. Für solche Fälle müssen wir uns etwas einfallen lassen.
Kommen wir zur Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur: Wie eingangs erwähnt, haben wir die LkwMaut seit dem 1. August 2012 auf ausgewählte vierund mehrstreifige Bundesstraßen bereits ausgeweitet.
Die Mauteinnahmen daraus fließen direkt in den
Erhalt und den Ausbau der Bundesfernstraßen und
nicht in den Sozialhaushalt oder sonst wohin. Das ist
nur richtig so. Wie Bundesverkehrsminister Peter
Ramsauer halte auch ich mittelfristig eine Pkw-Maut
auf deutschen Straßen für unumgänglich, wenn wir
den Zustand unserer Straßen so erhalten wollen, wie
wir ihn schätzen und lieben, um ihn werden wir international beneidet.
Der Investitionsrahmenplan 2011 bis 2015 für die
Verkehrsinfrastruktur des Bundes vom März 2012 setzt
erstmals einen klaren Schwerpunkt auf Ersatz- und
Erhaltungsmaßnahmen, wie auch Sie das fordern. Um
aber auch den Ausbau der Bundesverkehrswege
voranzubringen, stellen wir mit dem Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II ab diesem Jahr zusätzlich
750 Millionen Euro für Neu- und Ausbauprojekte bereit. Das könnten Sie, werte SPD-Kollegen, sicherlich
auch - auf Pump, zulasten unserer Kinder und Enkel.
Wir kriegen das aber - im Gegensatz zu Ihnen gleichzeitig mit dem Abbau der Verschuldung hin. Das
ist die politische Kunst: Für 2013 haben wir für Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur rund 10,7 Milliarden Euro eingeplant. Das kann sich sehen lassen.
Unter der Überschrift „Ökonomischen und ökologischen Wandel gestalten - Für eine sichere Energieund Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft“
kommen Sie in Ihrem Antrag auf eine, wenn nicht die
zentrale Herausforderung für die deutsche Wirtschaft
zu sprechen, die Energiewende. Dabei fordern Sie
auch eine grundlegende Reform des EEG. Die wird
kommen müssen, ohne Zweifel. Eine solche Novelle
wird darauf abzielen müssen, ein hohes Maß an Investitionssicherheit zu gewährleisten, das Zusammenspiel
von erneuerbaren Energien mit der übrigen Energieversorgung, insbesondere bei den Stromnetzen und flexiblen Kraftwerken, zu verbessern und zugleich die
Kosten auf ein vertretbares Maß zu begrenzen. Auch
die Ausnahmetatbestände und die Berechnungsgrundlagen müssen einer Prüfung unterzogen werden.
Die Bundesregierung arbeitet seit Herbst 2011 im
Kraftwerksforum mit Branchenvertretern, Umweltverbänden und den Ländern an der Frage einer möglichen Änderung des Marktdesigns, um eine nachhaltige
Lösung für die notwendigen konventionellen Kraftwerke einschließlich der Marktintegration der Erneuerbaren zu erreichen.
Zur Frage der Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver Unternehmen: Meines Erachtens sind EntlastunZu Protokoll gegebene Reden
gen für im internationalen Wettbewerb stehende energieintensive Industrien im Grundsatz so lange richtig
und notwendig, wie international nicht vergleichbare
Rahmenbedingungen gelten. Anderenfalls droht nämlich der Verlust von Arbeitsplätzen in Deutschland und
gleichzeitig eine höhere Belastung des globalen Klimas durch den sogenannten Carbon-Leakage-Effekt.
Gleichwohl müssen wir Ausnahmeregelungen so ausgestalten, dass die Entlastungen nicht zu Mitnahmeeffekten bei nicht betroffenen Unternehmen führen.
Die Bundesregierung hat im Februar eine Förderrichtlinie zur Kompensation emissionshandelsbedingter Stromkosten - die ab 2013 anfallen - für diejenigen
Industriesektoren erlassen, bei denen das Risiko einer
emissionshandelsbedingten Verlagerung von Betrieben ins Ausland besteht.
Natürlich darf in Ihrem Antrag die Energie-,
Rohstoff- und Materialeffizienz nicht fehlen: Es ist zentrales Ziel unseres Energiekonzepts, bis 2050 einen nahezu klimaneutralen Gebäudebestand zu haben. Dafür
streben wir bis 2050 eine Minderung des Primärenergiebedarfs in der Größenordnung von 80 Prozent an.
Deutschland hat bereits einen - im Vergleich mit anderen Ländern - gut entwickelten Markt für Energiedienstleistungen. Mit dem Energiedienstleistungsgesetz und der Einrichtung der Bundesstelle für
Energieeffizienz haben wir in den letzten Jahren wichtige Schritte zur Förderung und weiteren Stärkung des
Marktes unternommen. Im Rahmen der Umsetzung der
EU-Effizienzrichtlinie wird derzeit innerhalb der Bundesregierung geprüft, ob und inwieweit sich daraus
weiterer Umsetzungsbedarf ergibt.
CDU und CSU setzen auf finanzielle Anreize für Investoren und private Haushalte. Die SPD dagegen
würde am liebsten auch die Privathaushalte dazu verdonnern, teuer energetisch zu sanieren. Der Staat ruft
und der Häuslebesitzer kann’s dann nicht bezahlen. So
nicht! Bis 2014 stellen wir jährlich 1,5 Milliarden
Euro im CO2-Gebäudesanierungsprogramm bereit.
Zusätzlich gibt es ab 2013 eine verbesserte Zuschussförderung um 300 Millionen Euro, die besonders hocheffiziente Sanierungsmaßnahmen von selbstnutzenden
Wohnungseigentümern unterstützt. Außerdem wollen
wir die energetischen Mindestanforderungen an Neubauten schrittweise erhöhen und so wichtige Schritte
in Richtung Niedrigstenergiegebäudebestand tun, der
bis spätestens 2020 im Neubau erreicht werden soll.
Das von der Koalition im Bundestag schon
beschlossene Gesetz zur steuerlichen Förderung energetischer Sanierungsmaßnahmen haben die rot-grün
regierten Bundesländer im Januar dieses Jahres aus
parteitaktischen Erwägungen heraus leider im
Bundesrat scheitern lassen. Unser Plan hätte nicht nur
Immobilienbesitzern, Wohneigentümern und auch
Mietern kräftig unter die Arme gegriffen, sondern
auch spürbare Impulse für das deutsche Handwerk
und mittelständische Unternehmen gesetzt. Diese Haltung ist unverantwortlich. Wenigstens haben wir vonseiten der Koalition ankurbeln können, dass die KfW
ab 2013 jährlich Mittel von 300 Millionen Euro für die
energetische Sanierung von selbstgenutztem und vermietetem Wohnraum zur Verfügung stellt, wobei selbstgenutzter Wohnraum durch Zuschüsse gefördert wird.
Die von uns 2012 verabschiedete Novelle des KWKGesetzes gestaltet die Förderung in wichtigen Punkten
attraktiver: In Zukunft werden auch Wärme- oder Kältespeicher gefördert, die Förderung von Wärme- und
Kältenetzen ausgeweitet und die Modernisierung von
KWK-Anlagen erleichtert und auch Kraft-WärmeKopplung mit einbezogen. Im Rahmen des Marktanreizprogramms zur Förderung Erneuerbarer Energien
im Wärmemarkt werden große Wärmespeicher und
Wärmenetze gefördert, sofern die Wärme aus Mindestanteilen erneuerbarer Energien bereitgestellt wird und
sofern Fördermöglichkeiten im KWK-Gesetz nicht bestehen.
Deutschland nimmt in Sachen Ressourceneffizienz
und Recycling EU-weit einen Spitzenplatz ein. Im vergangenen Jahr haben wir die Rahmenbedingungen für
mehr Recycling und höhere Ressourceneffizienz weiter
verbessert. Die Bundesregierung hat im Februar 2012
das Deutsche Ressourceneffizienzprogramm, ProgRess,
verabschiedet. Im Juni 2012 trat außerdem das von
uns gemachte neue Kreislaufwirtschaftsgesetz in
Kraft. Im Zentrum hier stehen die Abfallvermeidung
und die Stärkung des Recyclings.
Ganz klar: Eine sichere Rohstoffversicherung ist
das A und O für die deutsche Industrie. Politisch unterstützen wir die Rohstoffverbrauchende Wirtschaft
bei der Sicherung ihrer nachhaltigen Versorgung mit
mineralischen Rohstoffen durch Beratungsleistungen
der Deutschen Rohstoffagentur. Mit dem neu aufgelegten Explorationsförderprogramm werden Rohstoff
fördernde Unternehmen bei der Erschließung von
Rohstoffprojekten im In- und Ausland unterstützt. Mit
dem Programm „Wirtschaftsstrategische Rohstoffe für
den Hightech-Standort Deutschland“ stärken wir
gezielt die Forschung und Entwicklung umwelt- und
ressourcenschonender Technologien.
Zusätzlich zu den Rohstoffpartnerschaften mit der
Mongolei und mit Kasachstan hat Deutschland auf
Initiative der Bundesregierung eine weitere Partnerschaft mit Chile abgeschlossen. Deutschland unterstützt die internationalen Initiativen zur Erhöhung der
Transparenz im Rohstoffsektor, zum Beispiel im Rahmen der Initiative „Extractive Industries Transparency
Initiative“. Bei der noch abzuschließenden DohaRunde steht im Sinne der Rohstoff verbrauchenden
Industrie der Abbau bestehender nichttarifärer und
WTO-widriger Handelsbeschränkungen im Vordergrund.
Das Kapitel III überschreibt die SPD mit „Technologische Leistungsfähigkeit der Industrie sichern Innovationen fördern und den Mittelstand stärken“.
Alles schön und gut. Aber wie wollen Sie denn den Mittelstand stärken, wenn Sie ihn gleichzeitig mit massiven steuerlichen Belastungen erdrücken wollen? Wenn
Zu Protokoll gegebene Reden
Sie die Einkommensteuer erhöhen, wenn Sie den Spitzensteuersatz von 42 auf 49 Prozent erhöhen, wenn Sie
die Vermögensteuer wieder einführen, träfe das eben
nicht nur die oberen 10 000, sondern eben auch unsere
Leistungsträger aus dem Mittelstand. Ihre Steuererhöhungspläne sind leistungs- und mittelstandsfeindlich
und gefährden Arbeitsplätze. Der DIHK warnt davor,
dass mit einer Vermögensteuer oder -abgabe 450 000
Arbeitsplätze verloren gehen. Wollen Sie das?
Leistungsfeindlich ist auch die Blockadehaltung der
rot-grün regierten Länder, die im Bundesrat die von
uns schon beschlossene Abmilderung der kalten
Progression zu Fall gebracht haben. Damit hätten wir
die deutschen Arbeitnehmer jährlich um drei Milliarden Euro entlastet. Rot-Grün ist für Deutschland eine
Belastung, keine Entlastung. Wer so billige parteitaktische Spielchen auf Kosten der Bürger macht, handelt
gegen das Wohl unseres Volkes. Ich hoffe, dass RotGrün bei der Bundestagswahl auch die Quittung dafür
bekommt.
Zu Recht thematisieren Sie in Ihrem Antrag die
Sicherung des Fachkräftebedarfs. Eine ungezügelte
Zuwanderung aus dem Ausland in unsere Sozialsysteme darf es dabei aber nicht geben. Unser Fachkräftekonzept ist umfassend darauf ausgerichtet, Fachkräfteengpässe abzuwenden. Dabei steht für uns die
Nutzung und Förderung inländischer Potenziale im
Vordergrund. Dazu gehört es auch, das Wissen und die
Erfahrung älterer Arbeitnehmer stärker und länger in
die Berufswelt zu integrieren. Sicherlich muss das aber
auch um mehr qualifizierte Zuwanderung aus dem
Ausland ergänzt werden. Der erstmals im Januar 2013
von der Bundesregierung beschlossene - zukünftig
jährlich erscheinende - Fortschrittsbericht zum Fachkräftekonzept beschreibt die bereits erzielten Fortschritte und ergriffenen Maßnahmen. BMWi, BMAS
und die Bundesagentur für Arbeit begleiten das Fachkräftekonzept mit einer öffentlichkeitswirksamen
Fachkräfte-Offensive. Außerdem wurden Arbeitsgruppen der Demografiestrategie der Bundesregierung
eingerichtet, die darüber beraten, wie die Deckung des
Fachkräftebedarfs gesichert werden kann: zum Beispiel mit dem Ausbau der Kindertagesbetreuung für
Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Darauf
haben die Bundesbürger ab dem 1. August 2013 einen
Rechtsanspruch. Der Nationale Pakt für Ausbildung
und Fachkräftenachwuchs - Ausbildungspakt - hat
sich als sehr erfolgreich dabei erwiesen, ausbildungswilligen und ausbildungsfähigen Jugendlichen ein Angebot auf Ausbildung oder Qualifizierung zu machen.
Die Durchlässigkeit in unserem Bildungssystem wird
durch das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, das
„Meister-BAföG“, und das Aufstiegsstipendium unterstützt. Die Kampagne „Berufliche Bildung - praktisch
unschlagbar“ informiert über die Vorteile der dualen
Aus- und Weiterbildung. Der duale Bildungsweg ist ein
gewichtiger Faktor dafür, dass der deutsche Arbeitsmarkt und die deutsche Wirtschaft so gut durch die
Euro-Schuldenkrise kommen. Das Modell wird mehr
und mehr zum Exportschlager und verdient jede Förderung.
Um Fachkräften aus Drittstaaten einen Zugang zum
deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, haben wir
2012 die Blue Card EU und das Visum zur Arbeitssuche eingeführt sowie umfassende Erleichterungen
für Hochschulabsolventen und Unternehmensgründer
geschaffen. Zum 1. Juli 2013 öffnen wir das Zuwanderungsrecht zusätzlich dadurch, dass auch Fachkräfte
in Ausbildungsberufen mit einem der deutschen Berufsausbildung gleichsetzbaren Abschluss Zugang zum
deutschen Arbeitsmarkt erhalten können. Mit dem
Willkommensportal „Make it in Germany“ sollen
mehr internationale Fachkräfte für Deutschland begeistert werden.
Statt für den Mittelstand Steuern und Bürokratiekosten zu erhöhen, wie es die SPD vorhat, wollen wir
kleine und mittlere Unternehmen von bürokratischen
Auflagen entlasten. Dazu haben wir zahlreiche
Maßnahmen, wie zum Beispiel das E-GovernmentGesetz, Maßnahmen im Rahmen der 8. GWB-Novelle,
das Gesetz zur Änderung und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts auf den Weg gebracht. Das Ziel der
Koalition, bis Ende 2011 ein Viertel der Bürokratiekosten der Wirtschaft im Vergleich zu 2006 einzusparen, haben wir nahezu erreicht.
Des Weiteren stärken wir die Gründungskultur in
Deutschland. Mit dem neuen Investitionszuschuss
Wagniskapital verfolgen wir das Ziel, den Kapitalzugang für junge innovative Unternehmen zu verbessern.
Stellen private Investoren solchen Unternehmen für
mindestens drei Jahre Kapital zur Verfügung, bekommen sie 20 Prozent ihrer Investition erstattet. Dafür
sind ab diesem Jahr für vier Jahre insgesamt 150 Millionen Euro vorgesehen. Der Investitionszuschuss
Wagniskapital ergänzt den European Angels Fund, den
wir gemeinsam mit dem Europäischen Investitionsfonds im Volumen von 70 Millionen Euro aufgelegt
haben. Auch der High-Tech-Gründerfonds bietet vielversprechenden Technologiegründungen eine erste Finanzierungsmöglichkeit.
Innovative Unternehmen und Unternehmensgründungen sind seit vergangenem Jahr auch der Schwerpunkt der Kreditprogramme aus dem ERP-Sondervermögen. 2013 kann ein Volumen von rund
6,6 Milliarden Euro für neue Zusagen bereitgestellt
werden. Der neue Mezzanin-Dachfonds für Deutschland wurde von uns mit dem Ziel aufgelegt, für mittelständische Unternehmen das Angebot an Finanzierungen zu erweitern, die die Funktion von fehlendem
Eigenkapital übernehmen können. Er hat ein Volumen
von insgesamt 200 Millionen Euro und beteiligt sich
seit Juni 2012 an Fonds, deren Fokus auf Investitionen
im deutschen Mittelstandssegment liegt.
Das ist effiziente, förderliche und gezielte Politik für
den Mittelstand.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die schon genannte Hightech-Strategie bündelt die
Forschungs- und Innovationsaktivitäten der Bundesregierung. Außerdem haben wir ein innovationspolitisches
Konzept erarbeitet, das darauf abzielt, Technikakzeptanz
und Technikoffenheit zu stärken, die Rahmenbedingungen für eine innovationsfreundliche Wirtschaft zu verbessern und das Innovationspotenzial der mittelständischen Unternehmen zu stimulieren. Darüber hinaus
richten wir vermehrt Schülerlabore in vom Bund finanzierten Forschungseinrichtungen wie dem Deutschen
Zentrum für Luft- und Raumfahrt, der PhysikalischTechnischen Bundesanstalt oder der Bundesanstalt für
Materialforschung und -prüfung ein. Auf mehreren
Workshops für Lehrer werden zudem Empfehlungen
ausgearbeitet, wie bei Jugendlichen mehr Interesse für
Technik geweckt werden kann. Grundsätzlich muss ich
hier aber auf die Kompetenz der Bundesländer verweisen, die für Bildung und Technikverständnis das erste
Wort haben.
Am Ende meiner Rede möchte ich noch auf die
Außenwirtschaftsförderung eingehen, die Sie auch
ansprechen. Die Priorität der Koalition beim Abschluss bilateraler EU-Freihandelsabkommen liegt im
asiatischen und lateinamerikanischen Raum sowie in
Nordamerika. Hier haben wir in den vergangenen
Jahren einige Fortschritte erzielt. Die neuen Freihandelsabkommen mit Kolumbien und Peru sowie der
Handelsteil des Assoziierungsabkommens mit Zentralamerika und Panama können bald angewendet werden. Die Verhandlungen der Bundesregierung über
Freihandelsabkommen mit Vietnam und Malaysia
kommen voran. Weitere Verhandlungen laufen - auch
auf EU-Ebene.
Die Exportkreditgarantien des Bundes, die HermesDeckungen, schützen deutsche Exporteure und deren
finanzierende Banken vor dem Risiko eines Zahlungsausfalls bei Ausfuhrgeschäften. Im letzten Jahr wurden
Exportgeschäfte im Umfang von mehr als 29 Milliarden Euro auf diesem Wege abgesichert. Mitte 2012
wurden die OECD-Umweltleitlinien für staatlich unterstützte Exportkredite verabschiedet. Eine systematische und vergleichbare Anwendung der Umwelt- und
Sozialstandards in OECD-Ländern bietet unseren
deutschen Exporteuren ein Tätigkeitsfeld in der OECD
und stärkt so die Wachstums- und Beschäftigungschancen der deutschen Wirtschaft.
Das ist Wirtschafspolitik, wie sie die Unternehmer
und die Arbeitnehmer in unserem Land nach all den
Unwägbarkeiten und den Unsicherheiten infolge der
Euro-Schuldenkrise verdient haben. Unseren vielen
Arbeitnehmern, die tagtäglich ihre Arbeit verrichten
und eventuell in Kurzarbeit waren und trotzdem den
Mut nicht verloren haben, und unseren Unternehmern,
die ihre Schiffe und ihre Mannschaften durch diese
stürmische ökonomische See steuern und gesteuert haben, ohne aufzugeben, danke ich an dieser Stelle ganz
herzlich für ihr Engagement, ihren Willen und ihre
Leistungsbereitschaft. Ob das unter Rot-Grün so laufen würde, muss ich mehr als bezweifeln.
In einer Zeit, in der Europa und seine Staaten vor
großen Herausforderungen stehen, stellt sich für uns in
Deutschland die Frage, wie wir als Industrienation auf
die Probleme einer alternden Gesellschaft und einen
stetig wachsenden Wettbewerb mit den Schwellen- und
Entwicklungsländern antworten wollen.
Der Schlüssel für den Industriestandort Deutschland liegt in einer konsequenten Fortführung einer
modernen Industriepolitik, verzahnt und damit einhergehend in einer notwendigen Sicherung des Fachkräftebedarfs nicht nur für den Mittelstand. Deutschland
braucht eine starke Industrie. Eine Voraussetzung dafür ist eine gute Ausbildung von jungen Menschen sowie eine konsequente Fort- und Weiterbildungspolitik.
Die Kreativität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen und deren Engagement in den Unternehmen stellen einen Schwerpunkt für den Erfolg der deutschen
Wirtschaft dar. Moderne Industriepolitik in einer modernen Gesellschaft bedeutet aber auch faire Arbeitsstandards und Beteiligung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen an Unternehmensprozessen - kurz:
Moderne Industriepolitik braucht eine Arbeitnehmerpolitik des 21. Jahrhunderts!
Industriepolitik ist ohne aktive Arbeitspolitik nicht
zu denken. Denn der Faktor Arbeit ist entscheidend für
den Erfolg eines Unternehmens. Die Ausgestaltung
des sozialen Umfelds eines Unternehmens ist daher
von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Es werden
zukünftig nicht nur der Lohn und nicht nur die Leistungen aus Betriebsvereinbarungen sein, die die Innovationskraft eines Betriebes hochhalten. Aus-, Fort- und
Weiterbildung, Mitbestimmung, Zeitmanagement, familienfreundliche Angebote, also die sozialen Innovationskräfte, werden die Kriterien sein, die für den Mitarbeiter zählen. Schon heute ist zu erkennen, dass
Fachkräfte nachgefragt werden, dass Fachkräfte sich
den Betrieb aussuchen können, für den sie arbeiten
wollen. Deshalb kann es nur im eigenen Interesse der
Unternehmen sein, ihre Arbeitskräfte durch betriebliche Aus- und Weiterbildung zu fördern. Denn durch
den stetigen Wandel in Produktionsprozessen werden
auch immer neue Berufsbilder entstehen, welche wiederum völlig neue Qualifizierungsmodelle mit sich
bringen. Die Ausbildungsordnungen müssen angepasst, die Fort- und Weiterbildungsangebote für die
Beschäftigen in den betroffenen Unternehmen aber
auch durch die Arbeitsagentur weiterentwickelt werden. Eine nach sozialdemokratischen Vorstellungen
gestaltete Industriepolitik setzt sich nicht nur für industrielle Forschung und Entwicklung von „HighEnd-Produkten“ ein, sondern unterstützt ebenso den
Wandel in der Produktion, damit die industrielle und
gewerbliche Wertschöpfungskette so weit wie möglich
am Standort Deutschland erhalten bleibt. Zur Innovationsfähigkeit werden kompetente Fachkräfte und
wandlungsfähige Unternehmen gebraucht. Im Vordergrund muss insbesondere die Innovationsfähigkeit
durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stehen das Know-how der Beschäftigten ist Motor der InnoZu Protokoll gegebene Reden
vation. Grundlage dafür bildet das „Lernen lernen“,
also „Bildung von Anfang an“, das die Landesregierung Rheinland-Pfalz erfolgreich initiiert hat.
Der demografische Wandel wird den Bedarf an gut
ausgebildeten Fachkräften enorm verstärken. Wir
müssen deshalb schon heute dafür Sorge tragen, dass
wir einem Fachkräftemangel in der Zukunft vorbeugen. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine Allianz für die Sicherung von Fachkräften. Es liegt in den
Händen von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften,
an einem Strang zu ziehen und die Potenziale unserer
Gesellschaft entscheidend abzurufen. Dies gilt für die
bessere Förderung und Ausbildung von Geringqualifizierten, aber auch für eine gezielte Einwanderungspolitik. Gerade jetzt wollen viele junge und hochqualifizierte
Menschen aus den europäischen Nachbarstaaten in
Deutschland arbeiten. Dieses Potenzial dürfen wir
nicht leichtfertig verschenken, denn in naher Zukunft
werden wir auf qualifiziertes Fachpersonal aus dem
Ausland angewiesen sein. Wir wollen deshalb eine
konsequente Weiterentwicklung des deutschen Einwanderungsrechts, um dringend gebrauchte Fachkräfte noch stärker als bisher anzuwerben und diesen
eine unkomplizierte Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Mitbestimmung und Wirtschaftsdemokratie sind
eine bewährte Grundlage für eine gute Unternehmenskultur. Wir wollen den Missbrauch von Leiharbeit verhindern. Dazu gehören gleiche Bezahlung für gleiche
Arbeit und eine Begrenzung der Verleihzeit. Die Mitbestimmungsrechte für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind Bestandteil einer modernen Unternehmenskultur. Sie gehen einher mit der Stärkung von
Betriebsräten und Gewerkschaften. Im Gegensatz zu
Schwarz-Gelb sind wir der festen Ansicht, dass Unternehmen von den starken Mitbestimmungsrechten ihrer
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen profitieren werden. Gezielte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen
zum Beispiel, die von den Betriebsräten initiiert wurden, können den Unternehmen später zu Innovationsschüben verhelfen.
Gute Arbeit bedeutet übrigens auch gleicher Lohn
für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitsbedingungen für
Frauen und Männer. In unserer modernen Arbeitswelt
sollte man dies eigentlich nicht mehr betonen müssen.
Vor allem aber bedeutet gute Arbeit auch eine Entlohnung ohne Aufstockung. Soziale Marktwirtschaft
beinhaltet die Verantwortung der Unternehmen für
ihre Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Unternehmen, die ihren Angestellten so wenig bezahlen, dass
diese aufstocken müssen, werden von den Arbeitsagenturen quersubventioniert, drücken sich vor ihrer Verantwortung in der Gesellschaft. Letztendlich aber
schneiden sie sich ins eigene Fleisch. Denn nur Unternehmen, die ihren Beschäftigten vernünftige Standards
auch bei der Entlohnung anbieten können, werden in
Zukunft keine Personal- und Nachwuchsprobleme haben. Wir bleiben übrigens bei unserer Forderung eines
einheitlichen flächendeckenden Mindestlohnes, der
auch nur mit uns so kommen wird.
Zu einer modernen Industriepolitik gehört letztendlich ein zeitgemäßes Miteinander von Arbeit und Kapital und somit eine zeitgemäße Mitbestimmung. Denn es
geht nicht nur um den Gewinn des Unternehmens, sondern auch um den Fortbestand von guten Arbeitsplätzen, die den Gewinn erst erwirtschaften. Dabei dürfen
wir uns nicht nur auf Deutschland beschränken. Gute
Unternehmensführung steht für Kooperation. Sozialpartnerschaft lohnt sich. Dazu gehört auch Corporate
Social Responsibility ({0}), also die Wahrnehmung
gesellschaftlicher Verantwortung durch die Unternehmen über gesetzliche Anforderungen hinaus. Wir
erwarten von unseren Unternehmen, dass sie bei Auslandsaktivitäten ökologische, soziale und menschenrechtliche Standards einhalten. Für im Ausland tätige
Unternehmen bieten die ILO-Kernarbeitsnormen und
die OECD-Leitsätze gute Orientierungsmöglichkeiten,
faire Rahmenbedingungen für ihre Arbeitnehmer und
Arbeitnehmerinnen zu schaffen.
Dass es der deutschen Wirtschaft verhältnismäßig
gut geht, hat mit der Politik der gegenwärtigen Bundesregierung wenig zu tun. Es sind vor allem Deutschlands starke industrielle Basis und die weltweit einzigartige mittelständische Struktur, die dazu beigetragen
haben, dass wir besser durch die Krisenjahre gekommen sind als manch andere europäische Volkswirtschaft. Die Robustheit unserer Wirtschaft heute beruht
dabei auch auf Entscheidungen von gestern. Wir Sozialdemokratien haben vor zehn Jahren Deutschland
aus einer Position der Schwäche heraus modernisiert.
Dass Deutschland heute vergleichsweise gut dasteht, sollte jedoch nicht zu Überheblichkeit führen,
wie ich sie gelegentlich bei dem einen oder anderen
Vertreter meiner Zunft feststelle. Dafür gibt es keinen
Anlass, und dafür sind die Herausforderungen auf europäischer Ebene nach wie vor viel zu groß. Laut aktuellem Bericht des Internationalen Währungsfonds
traut der IWF Deutschland kaum noch Wachstum zu.
Dieses werde durch die anhaltende Investitionsschwäche in der deutschen Wirtschaft verhindert, was wiederum mit Unsicherheiten über die Politik im Euro-Raum
zusammenhänge.
Diese Unsicherheiten hängen auch mit der Untätigkeit dieser Bundesregierung zusammen. Statt Zukunftsvorsorge zu betreiben, ruht sie sich auf den Lorbeeren
der Vergangenheit aus, die nicht einmal ihre sind. Bei
der Infrastruktur sowie bei Investitionen auf Zukunftsmärkten - also bei entscheidenden Grundlagen für
künftiges Wirtschaftswachstum - gerät Deutschland immer mehr ins Hintertreffen. Mit einer Nettoinvestitionsquote von gerade einmal 3 Prozent im Jahr 2011 liegt
Deutschland im Vergleich der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung weit
hinten. Deutschland lebt von der Substanz.
Zu Protokoll gegebene Reden
Unsere öffentliche Infrastruktur leidet an Unterfinanzierung - egal ob im Verkehrs-, Energie- oder Telekommunikationsbereich. Bei der Verkehrsinfrastruktur
verlieren sich CDU, CSU und FDP in Streitereien über
die Einführung einer Pkw-Maut, anstatt sich um tragfähige Konzepte zu bemühen. Im Bereich Energie hinkt
der Ausbau von Übertragungsnetzen und Speichern
der Entwicklung der erneuerbaren Energien meilenweit hinterher. Die Bundesregierung sperrt sich dennoch weiterhin gegen unsere Idee einer Deutschen
Netz AG. Beim Breitbandausbau vertraut Wirtschaftsminister Rösler wie sein Vorgänger Rainer Brüderle
allein auf den Wettbewerb. So verliert Deutschland
bei der Breitbandinfrastruktur international den Anschluss.
Nicht nur bei der wirtschaftsnahen Infrastruktur tut
diese Bundesregierung viel zu wenig, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu erhalten.
Wenn wir insbesondere unseren industriellen Mittelstand fördern wollen, müssen wir ihn in seiner Innovationsfähigkeit stärken. Daher wollen wir eine steuerliche Forschungsförderung einführen. Dazu hat Kollege
Dr. Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion bei der ersten
Debatte zu unserem Antrag „Impulse für den Standort
Deutschland“ am 9. Februar 2012 Folgendes gesagt:
„Deshalb muss Ziel dieser Regierung sein - und ist es
auch -, in dieser Legislatur den Einstieg in die steuerliche Forschungsförderung zu schaffen.“ Als wir dann
ein Jahr später, am 20. Februar 2013, nachgefragt haben, ob die steuerliche Forschungsförderung noch in
dieser Legislatur kommt, erhielten wir die lapidare
Antwort der Bundesregierung: „Im Bundeshaushalt
2013 und im geltenden Finanzplan ist eine steuerliche
Förderung von Forschung und Entwicklung nicht berücksichtigt.“ Mit anderen Worten: Einmal mehr verfehlt die Koalition ihre selbst gesteckten Ziele. Die Bilanz des Koalitionsvertrags lässt sich auf die kurze
Formel reduzieren: Versprochen, gebrochen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat auf die industriepolitischen Fragen unserer Zeit eigene Antworten vorgelegt: vom Positionspapier zur sozialdemokratischen
Industriepolitik über das Energiekonzept und die zahlreichen Papiere im Rahmen des Projekts „Infrastrukturkonsens“ bis hin zu den Positionen für eine bessere
Mittelstandspolitik. Die beiden vorliegenden Anträge
fassen die wesentlichen Maßnahmen zusammen, um
den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken. Die
Zögerlichkeit und die Tatenlosigkeit der schwarz-gelben Bundesregierung müssen ein Ende haben. Wir
brauchen endlich wieder eine aktive Wirtschaftspolitik!
Die deutsche Wirtschaft ist der Anker für Stabilität
und Wachstum in der derzeit rauen europäischen See.
Unsere äußerst solide wirtschaftliche Basis sichert unsere Konkurrenzfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung und des damit einhergehenden weltweiten Standortwettbewerbs. Die deutsche Wirtschaft ist auf den
Weltmärkten außerordentlich erfolgreich; etwa jedes
zweite deutsche Industrieerzeugnis wird beispielsweise ins Ausland exportiert.
Aber die deutsche Wirtschaft hat nicht nur im Ausland Erfolg, sondern genießt auch eine herausragende
Stellung innerhalb unseres Landes: Die Leistungs- und
Wettbewerbsfähigkeit der vielen, vor allem mittelständischen Unternehmen in Deutschland leistet einen signifikanten Beitrag zu Wohlstand und Beschäftigung.
Liebe Opposition, um Ihr bisher vernachlässigtes
wirtschaftspolitisches Profil vor der Wahl noch einmal
populistisch-öffentlichkeitswirksam zu schärfen, legen
Sie uns hier nun einen zehnseitigen Antrag mit einem
Sammelsurium von Forderungen aus den verschiedenen Wirtschaftsbereichen vor. Mir wird dabei aber
nicht ganz klar, ob und, wenn ja, welchem konsistenten
gesamtwirtschaftlichen Konzept Sie dabei folgen.
Ihr Vorwurf, der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik
mangele es an klaren Vorstellung und konkreten Konzepten, ist haltlos und schlichtweg falsch. Ganz im
Gegenteil: Die FDP hat in ihrer Regierungsverantwortung das Bestmögliche getan, der Wirtschaft in
Deutschland bedarfsgerechte und verlässliche Rahmenbedingungen zu setzen. Wir haben Impulse für
Wachstum und Innovationen gesetzt und dafür gesorgt,
dass Deutschland auch in Zukunft seine Chancen als
einer der weltweit führenden Wirtschaftsstandorte nutzen kann.
So haben wir beispielsweise in Anbetracht des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels die
Themen Bildung und ({0})Qualifikation ganz oben
auf unsere Agenda gesetzt und dort beachtliche Erfolge erzielt:
Im Rahmen des Fachkräftekonzepts und der Fachkräfteoffensive der Bundesregierung haben wir wichtige Schritte unternommen, um verstärkt die inländischen Fachkräftepotenziale zu nutzen und gleichzeitig
auch ausländische Fachkräfte zu gewinnen. Mit dem
Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen haben wir dafür gesorgt, dass die beruflichen
Qualifikationen von Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund besser als bisher bewertet werden
können. Darüber hinaus erleichterten wir mit dem Gesetz zur Umsetzung der Hochqualifizierten-Richtlinie
der EU die Zuwanderung von hoch qualifizierten
Fachkräften aus Drittstaaten, und zwar spürbar.
Bei Ihrer Forderung im Antrag nach Aufstockung
der Investitionen in Forschung haben Sie aber offenbar übersehen, dass wir mit unserem Koalitionspartner im Bereich von Technologie und Innovation trotz
der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierung in
dieser Legislaturperiode 13 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung, Entwicklung und Bildung bereitgestellt haben. Das ist der höchste Betrag, der dafür in
diesem Land je zur Verfügung gestellt wurde. Wir Liberalen sind der Überzeugung, dass das eine gute, nachhaltige und zukunftsgerichtete Investition war.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Mittel fließen beispielsweise in die HightechStrategie 2020, die Forschung und Innovation in einer
kohärenten Gesamtstrategie zusammenfasst und in den
Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stellt. Weitere
Mittel werden im ERP-Startfonds und den neuen Hightech-Gründerfonds zur Verfügung gestellt und tragen
dazu bei, mehr junge, innovative Unternehmen zu mobilisieren. Nicht zuletzt wurden das „Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand“ finanziell aufgestockt
und somit pro Jahr circa 5 000 Forschungs- und
Innovationsprojekte in kleinen und mittleren Unternehmen finanziert.
Im Hinblick auf die Sicherung der Rohstoff- und
Energieversorgung haben wir die deutsche Wirtschaft
durch die Verbesserung der institutionellen und politischen Rahmenbedingungen maßgeblich unterstützt,
indem wir uns für die Stärkung offener und effizienter
Märkte eingesetzt und die Umsetzung der Rohstoffstrategie weiter vorangetrieben haben. So hat die Bundesregierung mit der Erarbeitung eines Deutschen
Ressourceneffizienzprogramms beispielsweise dazu
beigetragen, die Beeinträchtigung der Umweltmedien
durch Rohstoffgewinnung und -verarbeitung zu minimieren und die Ressourcennutzung in Deutschland
weiter zu optimieren.
Wir haben dafür gesorgt und werden dafür sorgen,
dass mit unserer Energiepolitik, durch einen breiten
und effizienten Energiemix, ein sicheres und preisgünstiges Energieangebot sichergestellt wird.
Dabei ist es uns besonders wichtig, die Übersubventionierung zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher, die durch das derzeitige EEG entstanden ist,
zu reduzieren. Aus diesem Grund wollen wir auch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, reformieren und
dadurch unter anderem künftig auch Unternehmen des
energieintensiven industriellen Mittelstands Erleichterungen bei der EEG-Umlage gewährleisten.
Wir Liberale sind der unbedingten Auffassung, dass
Energie bezahlbar bleiben muss; dies ist nicht nur entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft, sondern auch eine soziale Frage. Wenn ich
dann in Ihrem Antrag lese, dass Sie „die Belastungen
sowohl für den einfachen Stromkunden als auch für die
in Deutschland produzierende Industrie so gering wie
möglich … halten“ wollen, muss ich sagen, dass Sie
auch an dieser Stelle wieder nur reden, während wir
schon längst handeln.
Ich möchte aber auch nicht unerwähnt lassen, dass
die Energiewende bei allen Herausforderungen, mit
denen sie uns konfrontiert, auch neue technologische
und ökonomische Chancen für die innovativen deutschen Unternehmen eröffnet hat, die es jetzt zu nutzen
gilt.
Im Antrag fordern Sie weitere Investitionen für die
Modernisierung der Infrastruktur. Doch auch dabei
scheinen Sie einfach zu ignorieren, dass unser Investitionsrahmenplan vorsieht, in den nächsten Haushalten das Niveau von 10 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen zu erhalten. Darüber hinaus wirkt
2013 zusätzlich ein Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II, das weitere 750 Millionen Euro umfasst.
Wenn Sie allein 2 Milliarden Euro jährlich für die Verkehrsinfrastruktur fordern, muss ich Sie darauf hinweisen, dass Sie in der Vergangenheit deutlich weniger
in die Verkehrswege unseres Landes investiert haben,
als wir es jetzt tun. Das ist heuchlerisch.
Es ist uns Liberalen durchaus wichtig, in die Verkehrsinfrastruktur zu investieren, und das tun wir auch
im Rahmen der Möglichkeiten, die uns der Haushalt
bietet. Wir gehen vernünftig mit den uns zur Verfügung
stehenden Mitteln um. Sie aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen der SPD, greifen den Bürgerinnen und Bürgern durch Steuererhöhungen noch tiefer in die Tasche, wenn es beim Bund nichts mehr zu holen gibt.
Das ist so simpel wie ungerecht. So wollen sie beispielsweise die Lkw-Maut auf alle Bundes-, Landesund kommunalen Straßen ausweiten und beschwören
somit eine wirtschaftliche Katastrophe für Logistikunternehmen, das Transportgewerbe und das Handwerk
herauf. Berücksichtigt man dann noch die Pläne der
Grünen zur Einführung einer Logistikabgabe von
2 Milliarden Euro im Jahr, denke ich, dass es schon
längst überfällig ist, Ihnen ein ganz großes Stoppschild
vor die Nase zu halten.
Zu einer modernen Infrastruktur gehört zweifelsfrei
auch eine ausreichende Versorgung mit schnellem Internet, das zu einem wichtigen Standortfaktor im globalen Wettbewerb geworden ist. Diesem Umstand haben wir Rechnung getragen und im vergangenen Jahr
das Telekommunikationsgesetz novelliert und dadurch
erhebliche Verbesserungen für die Wirtschaft und die
Verbraucher erzielt.
Wir konnten investitionsfreundliche Rahmenbedingungen und verbesserte wettbewerbliche Strukturen
für den Aufbau der schnellen Datennetze der nächsten
Generation schaffen, von denen die Unternehmen, die
vor allem in den ländlichen Räumen Deutschlands Arbeitsplätze bieten, profitieren.
Die auf den drei Säulen Wettbewerb, Regulierung
und Kooperation beruhende Breitbandstrategie der
Bundesregierung hat darüber hinaus entscheidende
Anstöße für die Entwicklung von flächendeckenden
Hochleistungsnetzen gegeben. Beim Ausbau der Breitbandinfrastruktur und der damit einhergehenden Versorgung der Bevölkerung und der Unternehmen mit
breitbandigem Internet setzen wir auch weiterhin auf
einen Technologiemix und die wettbewerbliche Dynamik des Marktes.
Im Hinblick darauf bin ich sehr froh, dass wir
durchgesetzt haben, dass die Dynamik im Telekommunikationsmarkt erhalten bleibt und nicht - wie es die
Opposition, und damit auch die SPD, geplant hatte mit einer Universaldienstverpflichtung per Gesetz erstickt wird. Somit haben wir bis zu 10 000 Arbeitsplätze gesichert und über 90 Milliarden Euro AusbauZu Protokoll gegebene Reden
kosten, die letztlich der Bürger gezahlt hätte,
verhindert. Das ist gute Wirtschaftspolitik.
Als mittelstandspolitische Sprecherin meiner Fraktion liegen mir besonders die kleinen und mittleren
Unternehmen unseres Landes am Herzen. Sie haben
einen beträchtlichen Anteil am Wachstum und Wohlstand unseres Landes und tragen maßgeblich dazu bei,
dass die deutsche Wirtschaft so gut dasteht. Daher finden sie in der liberalen Wirtschaftspolitik auch besondere Berücksichtigung.
99 Prozent aller deutschen Unternehmen gehören
zum Mittelstand und erwirtschaften beinahe die Hälfte
der Bruttowertschöpfung. Unsere mittelständischen
Unternehmen bieten 70 Prozent unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger einen Arbeitsplatz und somit soziale Absicherung, gesellschaftliche Anerkennung und
eine solide Lebensgrundlage. Die mittelständischen
Unternehmen haben in Deutschland auch deshalb eine
so besondere soziale Bedeutung, weil sie eine große
gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, nicht
zuletzt deshalb, weil der Mittelstand in Generationen
und nicht in Quartalen denkt. Die kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland bieten vielen jungen
Menschen in unserem Land eine solide Zukunftsperspektive, indem sie 80 Prozent der Ausbildungsplätze
zur Verfügung stellen. Viele unserer fleißigen und
ideenreichen Mittelständler sind sogenannte Hidden
Champions, kleine, teilweise relativ unbekannte Unternehmen, die in ihrem Markt jedoch durch ihre Innovationskraft, enorme Kreativität und Flexibilität
Marktführer sind. Die haben einen erheblichen Anteil
am deutschen Exporterfolg.
Damit die Situation in Deutschland so positiv bleibt,
benötigt der Mittelstand eine Wirtschaftspolitik der ruhigen Hand, eine Politik, die auf die Bedürfnisse der
mittelständischen Unternehmen eingeht, eine Politik,
die vorausschauend und verlässlich ist, eine Politik,
die die richtigen Rahmenbedingungen setzt, eine Politik, die sich nicht in betriebsinterne Abläufe und Strukturen einmischt, eine Politik, die für eine schlanke, effektive Bürokratie sorgt.
Der Mittelstand repräsentiert nicht nur die Stärke
Deutschlands, er ist die Stärke unseres Landes. Wir,
das heißt meine Kollegen und ich, fühlen uns verpflichtet, dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Auch in der
nächsten Legislaturperiode wird daher die Mittelstandspolitik ein Kernthema der liberalen Wirtschaftspolitik sein.
Die FDP-Bundestagsfraktion setzt auf eine aktivierende Wirtschaftspolitik, die die Innovations- und
Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes und seiner Unternehmen fordert und fördert. Wir halten uns dabei
aber, im Gegensatz zur Opposition, an die Haushaltsdisziplin. Wir Liberale sind nämlich der Meinung, dass
wir keine leichtfertigen Wohltaten verteilen und den
Bundeshaushalt damit noch weiter belasten dürfen.
Die Haushaltsdisziplin aufzukündigen, befeuert neue
Risiken, die keine Freiräume schaffen, sondern notwendige Investitionen in Forschung, Innovation und
Infrastruktur zukünftig einschränken. Sicherlich würden wir gerne noch mehr investieren, doch wir sehen
uns in der Verantwortung, eine kluge, umsichtige und
generationengerechte Politik für die Menschen in unserem Land zu gestalten.
Auch deshalb können sich die Unternehmen in
Deutschland sicher sein, mit der FDP einen verlässlichen Partner für die nächste Legislaturperiode an
ihrer Seite zu haben, einen verlässlichen Partner, der
nicht durch eine exorbitante Steuererhöhung die Unternehmen zur Ader lassen möchte, sondern durch eine
kluge Ausgabenpolitik den Haushalt saniert.
Wenn Rot-Grün in Regierungsverantwortung käme,
wäre das für den Industriestandort Deutschland verheerend. Was passieren kann, sehen wir im Industrieland Nordrhein-Westfalen. Dort hat die rot-grüne Landesregierung inzwischen das Vertrauen der Wirtschaft
in die Politik verspielt. Vor allem die grüne Politik der
Deindustrialisierung bedroht Arbeitsplätze, Wohlstand
und die soziale Sicherheit.
Wir Liberale sind im Gegensatz dazu der Meinung,
dass eine verantwortungsvolle, zukunftsgerichtete und
generationengerechte Wirtschaftspolitik am besten geeignet ist, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum, Wohlstand, Beschäftigung und gute Arbeitsbedingungen in
Deutschland dauerhaft zu stärken.
Das ist unser Beitrag dazu, dass Deutschland auch
im Jahr 2020 ein lebenswertes, gerechtes und vor allem wirtschaftlich modernes Land mit einer selbstbewussten Demokratie ist.
Verehrte Opposition, es gibt einen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün: Wir machen
gute Wirtschaftspolitik. Sie reden nur darüber. Wir
wissen, was wir tun müssen, um Deutschland voranzubringen, Sie nicht.
Die SPD präsentiert uns hier in Gestalt zweier Anträge einen Wahlkampfblock. Der eine Antrag stammt
vom Februar 2012, und da war es mit dem Wahlkampf
noch nicht gar so schlimm. Aber bei dem zweiten, dem
vom 12. März 2013 stammenden „Deutschland 2020“Antrag, da kommt es ganz dicke. „Wir brauchen wieder“, heißt es da, „ein klares Bild von Deutschlands
Zukunft“. Das klingt fast umstürzlerisch. Es gibt ein
solches Bild nicht, will uns der Antrag sagen, und er
weckt Hoffnung darauf, dass mit ihm nun ein solches
Bild präsentiert würde. Aber keine Angst, das geschieht nicht. Entscheidend ist hier zunächst das Wörtchen „wieder“, und das will ja wohl sagen, dass es ein
solches klares Bild schon einmal gegeben hat. Es wird
dann zwar nicht gesagt, wann das gewesen sein soll
und welches seine Kernpunkte waren, aber man muss
wohl annehmen, dass die Zeit von 1998 bis 2005 gemeint ist, also die Zeit der SPD-Grünen-Regierung.
Da also - so suggeriert uns der Antrag - hatten wir
„ein klares Bild von Deutschlands Zukunft“. Da darf
Zu Protokoll gegebene Reden
man sich kurz erinnern: Teilnahme am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien, bedingungslose
Solidarität mit den USA und folglich bis heute andauernde Teilnahme am Krieg in Afghanistan, im Innern
Hartz IV, Billiglöhne, Zeitarbeit, mithin Konditionierung Deutschlands für jene Rolle als Zuchtmeister Europas, die die Kanzlerin mit ihrem CDU/CSU-FDPKabinett seit 2005 auf jene Europa gefährdende Weise
ausfüllt, für die sie bei allen entscheidenden Beschlüssen übrigens immer auch die Unterstützung von SPD
und Grünen hatte.
Und nun also „Zukunft“. Die Medien haben in den
vergangenen Monaten des Öfteren das Bild von einem
Linksruck in der SPD gezeichnet, und vielleicht ist da
ja auch auf der einen oder anderen Parteiversammlung Entsprechendes verlautbart worden. Dieser Antrag „Deutschland 2020“ jedoch beweist, dass es einen solchen nicht gibt; denn in diesem „Deutschland
2020“ spielt das Soziale nur eine Rolle ganz, ganz am
Rande. „Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirtschaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende gestalten, Innovationen fördern“. Das sind die weiteren
Teile der Überschrift, und so ist der ganze Antrag auch
gestrickt. Der Mindestlohn, den die SPD angeblich in
den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes gestellt hat, gehört, wenn es um eine starke Wirtschaft geht, offenbar
nicht dazu. Auch von den Gewerkschaften ist keine
Rede, und von Wirtschaftsdemokratie, also von tatsächlicher Mitbestimmung in den Betrieben, schon gar
nicht.
Nein, nein, der Antrag hält sich nicht mit der Suche
nach einer eigenständigen Antwort auf die drängendsten Fragen der Wirtschaftsentwicklung auf, sondern
demonstriert eher eine durchgängige Passfähigkeit mit
der CDU. Es ist der Wunsch nach der Rolle des Juniorpartners in der sogenannten Großen Koalition mit
CDU/CSU, der hier die Feder geführt hat, aber nicht
der Kampf um einen wirklichen Politikwechsel.
Braucht die bis in ihre tiefsten Wurzeln erschütterte
Europäische Union tatsächlich ein Deutschland, das,
wie es im Antrag heißt, als „europäischer Motor einer
schwächelnden Euro-Zone“ fungiert? Ist das angesichts der Verheerungen, die Deutschland mit seinem
Billiglohn- und Zwangssparkurs in Europa angerichtet
hat, wirklich ein „klares Zukunftsbild“? Wen meint die
SPD, wenn sie von „anderen Ländern“ spricht, die
„im letzten Jahrzehnt ihr Heil vornehmlich in der
Finanzwirtschaft gesucht haben“? Und wieso ist die
SPD nicht bereit, klar und deutlich den Zusammenhang herzustellen zwischen dem deutschen Spardiktat
auf der einen Seite und dem dennoch unablässig steigenden Privatvermögen der reichsten 5 und 10 Prozent in Deutschland und in Europa? Wieso spricht sie
nicht, wenn es um ein „klares Bild von Deutschlands
Zukunft“ geht, von der Zukunft Europas und somit von
der dringendst auf die Tagesordnung gehörenden Sozialunion?
Die Anträge der SPD sind gerichtet auf Technik und
Verwaltung, ein bisschen auch noch auf Forschung
und technische Wissenschaft, und, ja, der ökologische
Umbau kommt auch vor, allerdings auch er ohne alles
Soziale.
Aber genau das wäre doch, wollte man all den Lobgesängen auf die 150 Jahre der Partei Glauben schenken und ernst nehmen, wie mächtig da Ferdinand
Lassalle gehuldigt worden ist, die Kernaufgabe der
SPD: eine starke Wirtschaft gar nicht anders denken
zu lassen als eine Wirtschaft der guten Arbeit, der solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen, der
Umverteilung von oben nach unten, des Ausschließens
aller Diskriminierungen, der gleichen Löhne für Frau
und Mann. Und es wäre Kernaufgabe der SPD, tatsächlich europäisch zu denken und zu planen und wegzukommen von „deutscher Führungsmacht“.
Aber weit gefehlt. Das alles will sie nicht, die SPD,
das machen ihre Anträge nur allzu klar. Und auch
dies: Nirgends in „Deutschland 2020“ spielt Ostdeutschland eine Rolle. Die SPD nimmt es ernst: das
Auslaufen des Solidarpaktes 2019. Für sie ist das Problem damit offensichtlich erledigt. Nur, die Realität
spricht eine völlig andere Sprache. Noch immer ist die
ostdeutsche Wirtschaft von einem selbsttragenden Aufschwung himmelweit entfernt - und übrigens: die gewaltige Flut des Jahres 2013 wird den Abstand erneut
vergrößern; denn die ungleich größeren und länger
anhaltenden Schäden sind im Osten entstanden -, noch
immer klafft eine 25-Prozent-Lücke zwischen den Einkommen in Ost und West, noch immer gibt es keine einheitliche Rentenberechnung. Aber das ficht die SPD
nicht an. Der Osten ist ihr egal. Die Anträge sprechen
eine unmissverständliche Sprache.
Was nun die Abstimmung angeht, so hat sich meine
Fraktion Die Linke trotz aller Kritik an den Anträgen
für Stimmenthaltung entschieden. Es könnte ja sein,
dass sich in der SPD doch noch mal jemand besinnt,
wenn schon nicht auf Marx, so doch wenigstens auf
Lassalle.
Die zentrale Rolle der Energiewende kann im Kontext der Industriepolitik nicht oft genug betont werden.
In ihr schlummert ein enormes Potenzial für die Unternehmen, und zwar gleich in mehrerer Hinsicht. Dies
gilt erstens bezüglich Energieeinsparungen, zweitens
bezüglich Energieeffizienz und drittens bezüglich innovativer Ideen. Die deutsche Wirtschaft, aber auch die
Wirtschaftspolitik müssen in der Energiepolitik umsteuern und die Energiewende endlich konsequent als
Chance nutzen.
Als drittstärkste Industrienation sind die Augen der
Welt auf uns gerichtet. Wir werden genau dabei beobachtet, wie wir die Energiewende umsetzen, ob wir
als Industrienation dieses wegweisende, aber auch äußerst fordernde Projekt zum Erfolg bringen.
Leider - das muss ich hier sagen - wird diese
schwarz-gelbe Bundesregierung dem Modellcharakter
der deutschen Energiewende und somit ihrer Aufgabe
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht gerecht. Der Zickzackkurs, den Sie hier vorlegen
- drei EEG-Novellen in vier Jahren - ist Gift für die
Wirtschaft. Sie haben es geschafft, dass die Investitionen in die Energiewende fast vollständig zum Erliegen
gekommen sind. Sie haben die Unternehmen so verunsichert, dass sie keine Investitionen mehr wagen.
Unsere grüne Industriepolitik nimmt die Zeichen
der Zeit wahr, und wir bekennen uns konsequent zur
Energiewende. Klimaschutz, knapper werdende Ressourcen und der Umstieg auf erneuerbare Energien
sind „Win-win-Themen“. Wir sehen diesen Wandel als
Chance, und wir wollen diesen Wandel aktiv gestalten.
Grüne Industriepolitik ist Innovationspolitik. Entscheidend ist deshalb auch, dass es eine unbürokratische
Forschungsförderung für kleine und mittelständische
Unternehmen gibt. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich dies auch in den Koalitionsvertrag geschrieben, aber in keiner Weise umgesetzt.
Wir Grüne bekennen uns zum Industriestandort
Deutschland; deshalb wollen wir gewisse Ausnahmeregelungen für energieintensive Industrien im Grundsatz beibehalten. Doch die Energiewende bedarf einer
fairen Kostenverteilung; denn sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Somit müssen die Ausweitungen von Schwarz-Gelb, welche Golfplätze und
Pommesfabriken in großer Zahl befreiten, zurückgenommen werden. Wir wollen eine Befreiung nur für
die wirklich im internationalen Wettbewerb stehenden
Unternehmen, damit nicht Verschwendung und Investitionsstillstand gefördert werden.
Die vorliegenden Anträge der SPD „Deutschland
2020“ und „Impulse für den Standort Deutschland“
haben bezüglich der Energiewende einen blinden
Fleck. Es ist doch erstaunlich, wie eine moderne Industriepolitik formuliert wird, ohne auf die zentrale
Zukunftsherausforderung der Energiewende konkreter
einzugehen, und zwar eben nicht nur im Sinne von Versorgungssicherheit. Natürlich ist eine sichere Energieund Rohstoffversorgung wichtig für die deutsche Industrie; insbesondere bei den metallischen Rohstoffen
ist die Industrie zu nahezu 100 Prozent von Importen
abhängig. Aber Sie stellen es ja gerade so dar, als bestehe die Gefahr, dass uns der Strom durch die Energiewende abgestellt würde. Im Rohstoffbereich müssen
wir von der reinen Beschaffungsstrategie wegkommen
und Substitution und Recycling stärken. Das ist moderne Industriepolitik und nicht, wie im Antrag formuliert, die Sicherung der Zugänge zu Minen. Das ganze
Potenzial der Energiewende, der Innovationsschub,
der ausgelöst werden kann, und die Vorreiterrolle
Deutschlands für andere Industrienationen werden
verkannt.
Der Forderung in dem Antrag, der ich allerdings
zustimme, ist die nach einem Masterplan für die einzelnen Schritte der Energiewende. Und wo wir der SPD
auch zustimmen, ist die steuerliche Forschungsförderung für kleine und mittelständische Unternehmen.
Seit beinahe vier Jahren wartet die Wirtschaft auf die
Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung,
wie im Koalitionsvertrag angekündigt. Die Bundesregierung vertröstet die Wirtschaft Jahr um Jahr. Angesichts von Verschwendungen wie dem Betreuungsgeld und Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers ist dies
nicht akzeptabel.
Wir Grüne haben ein ausfinanziertes Konzept für
die Einführung der steuerlichen Forschungsförderung
vorgelegt. Unser Konzept beinhaltet eine Steuergutschrift von 15 Prozent für alle nachgewiesenen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen für Personal-, Sach- und Investitionskosten. Gefördert werden
sollen alle Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitern.
Ein weiterer Punkt, der uns in den Anträgen fehlt,
ist die Sicherung des Fachkräftebedarfs, und dazu gehört eine gute Bildung. Wir müssen in unsere Bildungsinfrastrukturen investieren. Dazu findet sich kein
Wort in den Anträgen. Wir müssen dazu kommen, dass
die Bildungschancen gleichmäßiger und gerechter
verteilt werden. Wir müssen dafür sorgen, dass Familien dabei unterstützt werden, Arbeit und Familie unter
einen Hut zu bekommen. Wir müssen dafür sorgen,
dass gute Arbeit auch gut bezahlt wird.
Abschließend möchte ich feststellen, dass die beiden
Anträge einerseits wichtige Themen bezüglich einer
modernen Industriepolitik ansprechen, aber andererseits zukunftsweisende Bereiche ausblenden. Deshalb
enthalten wir uns bei beiden Anträgen.
Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 46 a. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13200, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/12682 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Das sind die Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 46 b. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9132, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8572 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind
die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen und
Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundeszentralregistergesetzes und anderer
registerrechtlicher Vorschriften zum Zweck
der Zulassung der elektronischen Antragstellung bei Erteilung einer Registerauskunft
- Drucksache 17/13222 Vizepräsident Eduard Oswald
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes und anderer registerrechtlicher Vorschriften zum Zweck der Zulassung der elektronischen Antragstellung bei
Erteilung einer Registerauskunft
- Drucksache 17/13616 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13953 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Patrick SensburgDr. Edgar FrankeManuel HöferlinHalina WawzyniakJerzy Montag
In der Tagesordnung war ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und FDP vom 23. April 2013 wurde in erster Lesung am 25. April 2013 im Deutschen Bundestag
beraten. Am 21. Mai 2013 legte die Bundesregierung
einen inhaltsgleichen Entwurf vor. Am Mittwoch, dem
12. Juni 2013, stimmte der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages dem Gesetzentwurf der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP mehrheitlich zu; der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde für erledigt erklärt. Auch der Innenausschuss des Deutschen
Bundestages stimmte dem Gesetzentwurf in seiner Sitzung am 12. Juni 2013 zu. Mit der heute, dem 13. Juni
2013, stattfindenden zweiten und dritten Lesung wird
das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen.
Zum Inhalt des Gesetzentwurfs verweise ich zunächst auf meine Ausführungen vom 25. April 2013.
Dennoch möchte ich nochmals kurz vorstellen, wie die
bisherige Lage war, welche Änderungen vorgenommen
wurden, wem dies welche Vorteile bringt und, letztlich,
welche Herausforderungen perspektivisch zu meistern
sein werden.
Bisher war es grundsätzlich notwendig, persönlich
bei der entsprechenden Meldebehörde vorzusprechen,
wenn man einen Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses aus dem Zentralregister oder einen Antrag
auf Erteilung einer Auskunft aus dem Gewerbezentralregister stellen wollte. Wenn der Wohnsitz im Ausland
besteht, war es nach bisheriger Gesetzeslage nach
§ 30 Abs. 3 BZRG sogar notwendig, einen schriftlichen Antrag mit Identitätsnachweis durch Bescheinigung einer deutschen Konsularbehörde einzureichen.
Durch den vorliegenden Gesetzentwurf wird dieses
Verfahren nun erheblich erleichtert. Die Regelungen
im Bundeszentralregistergesetz werden dahin gehend
geändert, dass zukünftig der Antrag auf elektronischem Wege unmittelbar bei der Registerbehörde
gestellt werden kann. Die entsprechende Regelung
enthält der neue § 30 c BZRG. Für das Gewerbezentralregister findet sich die entsprechende Regelung in
§ 150 e GewO.
Die Identifizierung des Antragsstellers wird mittels
eID gemäß § 18 Abs. 2 PAuswG erreicht. Ein Abgleich
mit dem Melderegister wird insoweit entbehrlich.
Durch dieses Verfahren profitieren vor allem Bürgerinnen und Bürger und im Bereich der Gewerbeordnung
die Wirtschaft. Das Verfahren wird erleichtert, beschleunigt und verbilligt. Die Antragstellung kann nun
online erfolgen. Somit wird Zeitaufwand bei der Antragstellung eingespart. Auch ist eine Reduzierung der
Gebühr im elektronischen Rechtsverkehr zu erwarten.
Perspektivisch sind im Bereich des elektronischen
Rechtsverkehrs aber noch Herausforderungen zu
meistern. Um nämlich den elektronischen Identitätsnachweis zu führen, bedarf es eines entsprechenden
Lesegerätes, das derzeit nur wenige Bürgerinnen und
Bürger haben. Die zukünftige Entwicklung hin zu mehr
elektronischem Rechtsverkehr wird aber dafür sorgen,
dass die Möglichkeit der elektronischen Antragstellung auch von Bürgerinnen und Bürgern mehr und
mehr genutzt wird. Insbesondere bei der Auskunft aus
dem Bundeszentralregister bedarf es nur einer einfachen Identifizierung, sodass die Sicherheitsschwelle
eher gering anzusetzen ist. Auch dies wird dazu führen,
dass sich die elektronische Antragstellung durchsetzen
wird.
Zuerst wird das Angebot sicher eher durch die Wirtschaft wahrgenommen werden. Hier wird sich - sofern
dies noch nicht erfolgt ist - die Anschaffung entsprechender Lesegeräte empfehlen, da Auskünfte in größerem Umfang eingeholt werden müssen. Sicher wird
sich das Verfahren aber auch bald bei den Bürgerinnen
und Bürgern, die sich den Gang zur Behörde ersparen
möchten, durchsetzen können.
Die zuvor genannten Vorteile und Verbesserungen
für viele Teile unserer Gesellschaft überwiegen anfänglichen Herausforderungen. Im Laufe der Zeit ist
durch die weitere Verbreitung des neuen Personalausweises auch mit einer Zunahme der elektronischen Anträge zu rechnen. Die Einführung neuer Anwendungen
wird die Attraktivität der eID-Funktion steigern. Auch
der vorliegende Gesetzentwurf trägt dazu bei.
Am 7. Juni 2013 gab der Bundesrat eine Stellungnahme zu dem vorliegenden Gesetzentwurf ab. Hierbei
wurden vier Punkte problematisiert. Zwei der angesprochenen Punkte trat die Bundesregierung in ihrer
Gegenäußerung entgegen. Hierbei handelt es sich um
Folgendes: Der Bundesrat schlug zum einen vor, nicht
ausschließlich die Registerbehörde mit der elektronischen Antragsstellung zu betrauen. Diesem Vorschlag
tritt die Bundesregierung zutreffenderweise entgegen.
Würde man auch andere Behörden in den Prozess mit
einbinden, so würde unnötigerweise eine mehrfache
Datenübermittlung erfolgen. Weiter schlug der
Bundesrat vor, den Verteilungsschlüssel für die Gebühren zugunsten der Länder zu verschieben. Da die
Hauptlast bei der Erteilung und Einziehung der Gebühren aber beim Bundesamt für Justiz liegt, ist der im
Gesetzentwurf dargelegte Gebührenverteilungsschlüssel angemessen.
Die zwei weiteren vom Bundesrat in seiner Stellungnahme angesprochenen Punkte sind dagegen sehr
bedenkenswert. Hierbei handelt es sich um den
Vorschlag, nicht nur die Änderung des Vornamens,
sondern auch die Änderung des Geburtsdatums einzutragen. Diesem Vorschlag ist grundsätzlich zuzustimmen. Eine Prüfung wird im weiteren Gesetzgebungsverfahren erfolgen.
Ebenso verhält es sich mit dem Vorschlag des
Bundesrates, hinsichtlich neuer Verfahren zur elektronischen Identifizierung eine Rechtsverordnung zu erlassen. Sobald solche Verfahren bekannt werden, wird
über die Regulierung dieser Verfahren erneut diskutiert werden müssen. Gemeinsam mit der Bundesregierung werden wir so den zukünftigen Prozess weiterbegleiten.
Mit Initiativen wie dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingt es der Union als Vorreiterin eines modernen E-Government, zum Bürokratieabbau beizutragen. Durch eine Modernisierung der Abläufe können
hier für die Bürgerinnen und Bürger sowohl zeitliche
als auch finanzielle Entlastungen geschaffen werden.
Somit ist auch der vorliegende Gesetzentwurf ein Baustein der guten und vorausschauenden Rechtspolitik
der Union.
Durch den Übergang auf die automatisierte Antragstellung durch die Bürgerinnen und Bürger selbst
schaffen wir die Grundlage dafür, dass Anträge von
Bürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses
wesentlich schneller bearbeitet werden können. Damit
nutzen wir den Stand der Technik. Schon 2008 hat die
damalige SPD-Justizministerin Brigitte Zypries eine
grundlegende Überarbeitung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Bundeszentralregistergesetzes vorgelegt, der wir dann auch hier im
Parlament zugestimmt haben. Damit konnten die
Meldebehörden beim Bundeszentralregister das Führungszeugnis elektronisch anfordern.
Ich hatte dies bereits ausgeführt, doch erachte ich
es für sinnvoll, das - zu Protokoll Gegebene - auch
hier in diesem hohen Haus deutlich und öffentlich auszusprechen. Durch den Übergang von der schriftlichen
auf die elektronische Antragstellung schufen wir die
erste Grundlage dafür, dass Anträge von Bürgerinnen
und Bürgern auf Erteilung eines Führungszeugnisses
wesentlich schneller bearbeitet werden konnten. Aber
die Bürgerinnen und Bürger mussten zunächst auch
weiterhin einen Antrag auf Erteilung des Führungszeugnisses bei der Meldebehörde stellen. Problematisch war nämlich der elektronische Identitätsnachweis. Nun können es die Bürgerinnen und Bürger
selbst, online und direkt, in die Hand nehmen.
Die Problematisierung technischer Einführungsschwierigkeiten mit dem neuen Ausweis dürfen diesen
Fortschritt eben nicht infrage stellen, wie es die
Fraktion der Grünen tut. So jedenfalls wurde es in dem
Redebeitrag des Kollegen Wieland formuliert. Wir
müssen den technischen Fortschritt auch im elektronischen Antragsverfahren direkt ermöglichen.
Nachdem mit dem neuen Personalausweis der elektronische Identitätsnachweis realisiert wurde, muss
nun auch die elektronische Antragstellung durch die
Bürgerinnen und Bürger bei Gewährung des dafür notwendigen Datenschutzes möglich sein. Natürlich muss
die Datensicherheit zwingend gegeben sein. Wir wissen ja alle, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eine besonders hohe Bedeutung genießt.
Durch die Einführung des elektronischen Datenaustauschs können Anfragen der Bürgerinnen und Bürger
künftig rascher und einfacher erledigt werden, denn
der Umweg über die Meldebehörden entfällt. Mit der
geplanten Rechtsänderung werden die Verfahrensabläufe bei Auskünften aus dem Bundeszentralregister
also weiter beschleunigt. Der einmal beschrittene Weg
wird konsequent fortgeführt. Wer ein einfaches oder
erweitertes Führungszeugnis aus dem Zentralregister
benötigt, zum Beispiel wenn bei einer Bewerbung ein
Führungszeugnis verlangt wird, braucht also künftig
nicht mehr wie bisher zum Einwohnermeldeamt zu
gehen.
Der Antrag auf Erteilung eines Führungszeugnisses
kann direkt und online beim Bundesamt für Justiz als
zuständige Registerbehörde gestellt werden. Das kann
doch nicht allen Ernstes infrage gestellt werden.
Vielmehr sind technische Schwierigkeiten, die möglicherweise die Datensicherheit beeinträchtigen, beim
neuen Personalausweis schnellstens auszuräumen.
Bedenken Sie bitte auch: Mit der direkten elektronischen Antragstellung werden auch die Kommunen entlastet. Die Umstellung auf das automatisierte Verfahren verringert den bisherigen personellen Aufwand
und rationalisiert das Registerverfahren. Als ehemaliger Bürgermeister weiß ich diese Vorteile zu schätzen.
Die Überprüfung der Angaben zur Person erfordert
auch die Angabe des Geburtsnamens für die registerrechtliche Zuordnung. Erst mit dem neuen Personalausweis ist die elektronische Übermittlung des
Geburtsnamens möglich. Damit kann die Richtigkeit
und Vollständigkeit der Angaben zur Person und zum
Wohnort, die bei elektronischer Übermittlung denen
des Personalausweises entsprechen müssen, durch den
Empfänger überprüft werden. Das ist erst seit dem
21. Juni 2012 möglich. Um auch Personen, die
Dokumente besitzen, in denen der Geburtsname nicht
gespeichert wurde, die elektronische Antragstellung zu
ermöglichen, können sie den Geburtsnamen im Antrag
angeben. Wieso sehen sie hier Sicherheitslücken? In
diesen Fällen wird die Registerbehörde dann eben
Zu Protokoll gegebene Reden
einen Datenabgleich mit dem Melderegister vornehmen müssen. Es ist sinnvoll, die elektronische Antragstellung auch zur Erteilung der Auskunft aus dem
Gewerbezentralregister zu ermöglichen, wie es der
vorliegende Gesetzentwurf vorsieht.
Nun, das Bundeszentralregistergesetz regelt die
Grundlagen der Organisation, Führung und Verwaltung des Zentralregisters, ferner Inhalt, Reichweite,
Dauer und Tilgung der Eintragungen sowie die
Voraussetzungen zur Erlangung von Auskünften aus
dem Register. Da ist es doch notwendig und sinnvoll,
die effiziente und vereinfachte elektronische Antragstellung im Gesetz zu verankern und so an die moderne
Informationstechnologie anzupassen. Das Gesetz führt
letztlich das zu Ende, was eine sozialdemokratische
Justizministerin konzeptionell angelegt hatte. Wir
werden uns dieser Entwicklung nicht entgegenstellen,
sondern sie deutlich unterstützen und ihr zustimmen.
Wie ich auch schon in meiner Protokollrede zur ersten Lesung des Bundeszentralregistergesetzes am
25. April 2013 niedergeschrieben habe, möchten wir
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf für Bürgerinnen
und Bürger die Möglichkeit schaffen, zukünftig auch
digital Handelsregisterauskünfte und polizeiliche Führungszeugnisse zu beantragen. In puncto Bürgerfreundlichkeit ist dies ein weiterer wichtiger Baustein des liberalen Konzepts zur Verwaltungsmodernisierung,
und er erspart den Menschen in Deutschland lange
Wartezeiten auf den Ämtern. Damit unterstreicht die
FDP auch für die Verwaltungsmodernisierung: Es waren vier gute Jahre für Deutschland.
Bereits in der ersten Lesung habe ich angekündigt,
dass wir uns den Antrag der Bundesregierung noch
einmal genau anschauen werden und prüfen, ob es
noch Verbesserungen am Gesetz geben kann. Das Ergebnis dieser Prüfungen: Mit dem vorliegenden Antrag werden die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation bestmöglich ausgeschöpft. Die Authentizität
der Daten wird durch den Einsatz des neuen Personalausweises, nPA, gewährleistet. Die Sicherheit beim
Ausfüllen des Formulars wird durch den hohen Standard einer Verschlüsselung hergestellt. Die Bürgerinnen und Bürger haben so für die Stellung der
Anträge nun die Möglichkeit - analog zum verabschiedeten E-Justice^-Gesetz -, unkompliziert im Webbrowser ohne zusätzliche Hilfsprogramme Führungszeugnisse und Registerauskünfte zu beantragen. Das ist ein
Fortschritt.
Wie Sie sehen, konnten wir mit dem Bundeszentralregistergesetz für die Menschen in Deutschland den
Alltag ein wenig leichter machen. Ich bitte Sie daher
um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz.
Wir reden hier heute - einmal mehr leider nur zu
Protokoll - über die von der Koalition geplanten
Änderungen im Bundeszentralregistergesetz, BZR, die
Sie nicht müde werden über den grünen Klee zu loben.
Ja, im Prinzip wäre natürlich die Schaffung eines
elektronischen Zugangs zu Führungszeugnissen und
Auskünften aus dem Gewerbezentralregister eine sinnvolle Sache. Die bisher unbedingt vorgeschriebene
persönliche Antragstellung wäre damit hinfällig. Vom
Gesichtspunkt der Aufwandserleichterung bei der Antragstellung wäre es zu begrüßen, dass sich diese künftig unabhängig vom Wohn- und Aufenthaltsort des Antragstellers bequem online erledigen lassen soll. Es ist
ja eine wunderbare Vorstellung, Behördengänge durch
Mausklicks zu ersetzen. Allerdings spricht einiges gegen die Ergänzung des BZR, und ich möchte Ihnen dies
hier noch einmal vor Augen führen.
Der Gesetzentwurf ist Teil einer ganzen Reihe von
Gesetzesänderungen und Initiativen, die man nicht
losgelöst voneinander bewerten kann. Man muss sie
vielmehr als logisch verknüpft betrachten. Und sie
sind durch bestimmte technische Instrumente und
Lösungen verknüpft, die in keinem Fall wirklich ausgereift sind. Sie sind teuer und haben sich bisher im
hart umkämpften Markt der Digitalisierung auch mangels Akzeptanz bei den Menschen nicht durchsetzen
können. Das genau ist der Grund dafür, dass schon auf
der ersten Seite der Gesetzesbegründung auf die neuen
Regelungen des erst vor kurzem verabschiedeten sogenannten E-Government-Gesetzes verwiesen wird. Dieses wiederum basiert auf dem De-Mail-Gesetz und der
damit verbundenen unsicheren Technik. Ebenfalls unsicher, weil unausgegoren, ist die im BZR noch viel
stärker wirkende eID-Technik, zu der ich gleich noch
kommen werde.
Beides sind gravierende Systemfehler der angestrebten und theoretisch oder abstrakt durchaus
begrüßenswerten elektronischen Verwaltung. Auf der
Sachverständigenanhörung zum E-GovernmentGesetz wurde das für das De-Mail-Verfahren ausgesprochen anschaulich dargestellt. Die Bundesregierung und Teile der Opposition scheint das nicht zu
stören. Statt alles auf den Prüfstand zu stellen und
nach Alternativen zu suchen, senkte man die Sicherheitsstandards in den Behörden zur Weitergabe von
Daten ab, wie bei De-Mail, so auch hier.
Der Gesetzentwurf räumt jegliche Sicherheitsbedenken beiseite: Es soll ein einfaches Verfahren sein,
also können ohne ernstzunehmende technische Sicherung auch schriftliche Nachweise eingescannt und zugeschickt werden. Selbst eine Versicherung an Eides
statt über die Echtheit der Nachweise kann elektronisch abgegeben werden. Im Ergebnis droht die Identifikationsfunktion zur „Signatur light“ zu werden.
An den seit vielen Jahren vorangetriebenen ITGroßprojekten und Konzeptionen soll mit aller Macht
und gegen jede praktische Vernunft festgehalten werden, und das kritisieren nicht nur Bürgerrechtsorganisationen oder Die Linke. So bemängelt zum Beispiel
der Bundesrat zu Recht, dass die Vorschrift eine techZu Protokoll gegebene Reden
nologieoffene und binnenmarktfreundliche Gestaltung
verhindert. Denn neben der gesetzlich zur elektronischen Identifizierung und ihrer Authentifizierung zugelassenen Möglichkeit würden zukünftig im Wege der
Rechtsverordnung keine anderen Verfahren zur elektronischen Identifizierung und zu ihrer Authentifizierung zugelassen. Sie verengen das Ganze auf ein unsicheres Verfahren und verhindern durch diese
Festlegung die Suche und Nutzung alternativer sicherer Verfahren. Dies wäre aber vor allem für Angehörige von Staaten der Europäischen Union von Bedeutung, die nicht über Dokumente nach § 18 des
Personalausweisgesetzes oder nach § 78 des Aufenthaltsgesetzes verfügen.
Der Bundesrat kritisiert außerdem, dass mit der
Formulierung zu § 30 c Abs. 1 BZRG-E sowie zu
§ 150 e Abs. 1 GewO-E, wonach der Antrag unter
Nutzung des im Internet angebotenen Zugangs unmittelbar bei der Registerbehörde zu stellen ist, eine Ausschließlichkeitsregelung geschaffen würde. Dies
würde aber das in den Kommunen bereits aufgebaute
kommunale Onlinedienstleistungsangebot im Hinblick
auf die Onlinebeantragung von Führungszeugnissen
und Auskünften aus dem Gewerbezentralregister teilweise obsolet machen. Dies ist insbesondere vor dem
Hintergrund der erheblichen Investitionen, die zum
Aufbau dieser Onlinebürgerdienste getätigt wurden,
nicht hinnehmbar. Der Bundesrat kritisiert auch hier
völlig zu Recht, dass ein sachlicher Grund, warum entsprechende Anträge auf elektronischem Weg ausschließlich bei der Registerbehörde gestellt werden
können sollen, der Begründung des Gesetzentwurfs
nicht zu entnehmen ist.
All das ficht Sie offenbar nicht an. Genauso wenig
hat es Sie interessiert, dass laut Bundesrechnungshof
bis heute bei der eID keine zertifizierte Software für
den Identitätsnachweis der notwendigen Ausweis-App
vorliegt. Sie wollen trotzdem mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf die Bürgerinnen und Bürger dazu zwingen, eine höchstwahrscheinlich unsichere Technik einzusetzen. Warum? Recht offenherzig hat es neulich in
der Debatte der Kollege Sensburg für die Unionsfraktion auf den Punkt gebracht: Der vorliegende Gesetzentwurf soll durch die zwangsweise Einführung neuer
Anwendungen die Attraktivität der bisher völlig gefloppten und unsicheren eID-Funktion steigern. Das
Angebot, das „sicher eher durch die Wirtschaft wahrgenommen werden“ - MdB Dr. Patrick Sensburg
({0}), Plenarprotokoll der 237. Sitzung vom
25. April 2013 - würde, muss per Gesetz künstlich gesteigert werden.
Ihre ganzen IT-Träume basieren auf unausgereiften
Techniken. Das Risiko wälzen Sie auf die Bürgerinnen
und Bürger ab. Ein Beispiel: Nach der Personalausweisverordnung müssen die Nutzer der Ausweis-App
auf ihrem PC, Laptop oder anderem sicherstellen, dass
sie nur eine vom BSI zertifizierte Software einsetzen.
Wenn sie das nicht tun - und das ist das Entscheidende - gehen sie unkalkulierbare Haftungsrisiken
ein. Das betrifft sowohl Datenverluste als auch kommerzielle Aktivitäten, auf die das alles ja im Kern abzielt.
Nun wurden zwar über 4 Millionen Euro ausgegeben; eine zertifizierte Software für den Identitätsnachweis der notwendigen Ausweis-App kam dabei aber,
wie gesagt, bisher nicht heraus. Dieser neuerliche
Softwaremurks allein wäre an dieser Stelle ja schon
einmal Grund für eine Erklärung Ihrerseits. Noch heftiger wird es aber, wenn man dem Bundesrechnungshof
Glauben schenkt, bei Ihrer Informationspolitik. Demnach wurden die Nutzerinnen und Nutzer weder über
die Nichtzertifizierung noch über die damit verbundenen rechtlichen Probleme und Risiken informiert.
Hierzu erwarte nicht nur ich von Ihnen eine plausible
Erklärung.
Nun noch ein paar kurze Worte zu Ihren Kostenkalkulationen: Bislang konnte noch bei keinem IT-Großprojekt das Versprechen auf eine Verringerung von
Aufwand und Kosten eingehalten werden. Stets war
das Gegenteil der Fall, und ich prophezeie Ihnen das
auch für diesen Fall. Für die Kommunen ist der Gesetzentwurf eh nur wenig attraktiv, sollen doch die Gebühren künftig nicht mehr ihnen, sondern dem Bund
zufließen. Ob die Kommunen tatsächlich die von Ihnen
prognostizierten erheblichen Kosteneinsparungen für
Personal und Sachmittel haben werden, kann ebenfalls
getrost angezweifelt werden.
Wenn sich jetzt also die SPD-Fraktion, wie in der
ersten Lesung der Kollege Franke, ins Zeug wirft und
die Urheberschaft für den Gesetzentwurf für sich
reklamiert, wirft das einmal mehr ein erhellendes Licht
auf Ihre konzeptionell verfehlte Politik. Seit eh und je
steht die Sozialdemokratie leider unbeirrbar bei ITGroßprojekten an der Seite der Union. Auf Emanzipation in dieser Frage warten wir bisher vergeblich.
Zum Schluss bleibt daher nur festzustellen, dass wir
es hier mit einem weiteren Baustein einer datenschutzfeindlichen IT-Großprojekte-Politik zu tun haben,
einem Projekt, das niemand außer einigen Unternehmen braucht, das voller technischer Mängel steckt und
damit einer bürgerfreundlichen E-Government-Strategie zuwiderläuft. Die LINKE wird daher bei ihrer
Ablehnung des Entwurfs bleiben.
Dieses Gesetz ist ein recht einfacher Fall: Bürger
und Unternehmen sollen Zeit, Geld und Aufwand sparen können, weil sie in Zukunft nicht mehr zum Amt
gehen müssen, um eine Auskunft aus dem Bundeszentralregister - sprich: ein Führungszeugnis - zu bekommen, sondern können das bequem von zu Hause aus
beantragen. Ähnlich soll es mit Informationen aus dem
Gewerbezentralregister werden. Da könnte man sagen: Alles gut, kann man zustimmen.
Aber so einfach ist es dann bei näherem Hinsehen
doch nicht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum einen stellt sich die Sinnfrage. Bei der vergleichsweise geringen jährlichen Fallzahl drängt es
sich ja förmlich auf, zu fragen: Warum soll nun ausgerechnet hier die elektronische Erledigung von so großer Bedeutung sein, dass sie jetzt eingeführt wird? Es
sind rund eine halbe Million Anträge jedes Jahr, die
die Bürgerinnen und Bürger stellen. Das ist keine
kleine Zahl, aber wenn man die umgekehrt liest, dann
wird klar, warum man sich über die Prioritätensetzung
nur wundern kann: Bei rund 80 Millionen Bürgerinnen
und Bürgern fragt jeder Einzelne also statistisch gesehen alle 160 Jahre beim Bundeszentralregister an. Die
lebenspraktische Erleichterung hält sich also in Grenzen, würde ich meinen.
Das ist das Argument, das nicht für eine Änderung
spricht. Aber es gibt auch noch eines, das dagegen
spricht: die Nutzung des elektronischen Personalausweises.
Die Informationen, die im Bundeszentralregister
gespeichert sind, sind von großer Tragweite - Vorstrafen, Maßregeln, gerichtlich festgestellte Drogenabhängigkeit, so etwas geht nur ganz wenige Leute unter
ganz bestimmten Umständen etwas an. Deswegen sind
der Schutz und die Sicherheit dieser Daten von allerhöchster Priorität; sie entscheiden über Schicksale
und Lebensläufe; an ihrer Geheimhaltung hängt gegebenenfalls die berufliche und soziale Existenz.
Nun soll der Zugang mit dem elektronischen Personalausweis erfolgen. Das ist uns nicht sicher genug.
Nach wie vor warten wir auf zertifizierte Software für
die Arbeit mit dem Ausweis. Der Bundesrechnungshof
hat das im April erst wieder in einer aktuellen Stellungnahme kritisiert. Das erinnert fatal an das Problem mit den zertifizierten Lesegeräten, die erst gar
nicht zu bekommen waren, dann nur solche der untersten Sicherheitsstufe. Angesichts der Art der Daten im
Register darf hier keinerlei Risiko eingegangen werden.
Bleibt als Fazit: Dieses Gesetz ist ein sinnloses Unterfangen. Für einen kaum zu erkennenden Nutzen für
die Bürgerinnen und Bürger werden ein Datensicherheitsrisiko und umständliche Veränderungen der Verwaltung - neben der neuen Softwareinfrastruktur muss
die Registerbehörde ja in Zukunft auch selbst etwaige
vorzulegende Nachweise bearbeiten - in Kauf genommen. Und begründet wird das dann auch nur mit einer
Hoffnung - nämlich der, dass die Nutzung der elektronischen Identifikationsfunktion in Zukunft mehr Akzeptanz finden wird. Dafür gibt es keinerlei Anzeichen,
das taugt also zur Begründung gar nicht. Unser Rat:
Bleiben lassen!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13953, den Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13222 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. Wer stimmt dagegen? Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Koalitionsfraktionen und Sozialdemokraten. - Wer stimmt dagegen? - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13953 empfiehlt der Rechtsausschuss,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/13616 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen des
Hauses. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Mehr Mitsprache des Parlaments bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei
- Drucksachen 17/8381, 17/13316 Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster ({1})Dr. Dieter WiefelspützGisela PiltzUlla JelpkeWolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Forderung nach mehr Mitspracherecht des Parlaments bei den Einsätzen der Bundespolizei im Ausland steht immer wieder zur Debatte. Zwar kann ich
die Intention verstehen, jedoch ist die Diskussion aus
meiner Sicht überflüssig, da der Deutsche Bundestag
bereits über weitreichende Informations- und Handlungsrechte verfügt, um die Auslandseinsätze der
Bundespolizei zu kontrollieren und gegebenenfalls zu
beenden. Beteiligt sich die Bundespolizei an internationalen Einsätzen, ist gesetzlich vorgesehen, dass der
Deutsche Bundestag über diesen Einsatz unterrichtet
wird. Sollte man nach einer Unterrichtung zu der Erkenntnis gelangen, dass ein Einsatz - aus welchen
Gründen auch immer - nicht gerechtfertigt ist, kann
das Parlament den Beschluss fassen, den Einsatz zu
beenden. Der Einsatz ist in diesem Falle dann zu beenden, und die Beamten werden abgezogen. Zudem sind
unsere Mandate mit Auslandsbezug in der Regel auf
ein Jahr begrenzt, sodass das derzeitige Unterrichtungs- und Rückholrecht das Parlaments ein umfassendes Kontrollrecht darstellt.
Die mit diesem Antrag geforderte Zustimmungspflicht des Deutschen Bundestages zu Auslandseinsätzen der Bundespolizei führt zu weit und findet auch
keine verfassungsrechtliche Legitimation. Vielmehr ist
die derzeitige Regelung vollkommen ausreichend, da
diese neben Rechtssicherheit auch der besonderen
Stellung der Bundespolizei Rechnung trägt. Es darf
nicht verkannt werden, dass die Bundespolizei eben
nicht die gleiche Funktion übernimmt wie die Bundeswehr. Hier muss strikt zwischen den Sicherheitskräften
getrennt werden.
Vorrangige Aufgabe der Bundespolizei ist die Wahrung der Sicherheit und Ordnung innerhalb der Bundesrepublik. Neben diesem traditionellen Auftrag kann
die Bundespolizei auch für Einsätze mit Auslandsbezug herangezogen werden. Eine Verwendung der Einsatzkräfte der Bundespolizei im Ausland ist in § 8 Bundespolizeigesetz vorgesehen.
Aktuell sind 92 Beamte an Internationalen Polizeimissionen beteiligt. Etwa 300 deutsche Polizeibeamtinnen und -beamte des Bundes und der Länder sind
derzeit in vier UN-Missionen, sieben EU-Missionen
und bilateralen Projekten tätig.
Werden Bundespolizisten für Auslandseinsätze eingesetzt, so unterscheiden sich die Aufgaben erheblich
von den Aufgaben der Bundeswehr bei Einsätzen im
Ausland. Wenn in dem Antrag davon gesprochen wird,
dass die Aufgabenfelder annähernd identisch sind,
muss ich daher widersprechen. Bundeswehrsoldaten
übernehmen militärische Aufgaben während einer
Auslandsmission, welche - und das ist auch richtig nur mit Zustimmung vom Deutschen Bundestag durchgeführt werden darf. Die Bundespolizei hingegen wird
ausdrücklich nur zu nichtmilitärischen Aufgaben herangezogen. Den Polizeibeamten obliegt es, die Zivilgesellschaft vor Ort zu schulen und sie auf ein selbstbestimmtes Leben nach Abzug aller Sicherheitskräfte
vorzubereiten. Insbesondere die auszubildenden Polizeibeamte in den jeweiligen Ländern profitieren von
den Erfahrungen der Bundespolizei und deren Ausbildungsmöglichkeiten. Neben Schulungen und Ausbildung wird die Bundespolizei bei Rettungseinsätzen
und Friedensmissionen der NATO und EU eingesetzt.
Ihrer Begründung, dass Bundespolizisten - welche
mit ihrer Arbeit ihr Leben riskieren, um das auch zu erwähnen - ihre Kompetenzen verkennen und mit negativen Kräfte in einem Land zusammenarbeiten, trete ich
entschieden entgegen. Jeder Bundespolizist erfüllt
seine Aufgabe pflicht- und verantwortungsbewusst und
seiner Weisung entsprechend. Zudem wird von jedem
Bundespolizisten in internationalen Friedenseinsätzen
multikulturelle Kompetenz, Charakterstärke, Teamfähigkeit, hohe Einsatzbereitschaft und diplomatisches
Geschick verlangt, welches auch nachgewiesen werden muss. Mögliches Fehlverhalten von Polizisten im
Einsatz kann darüber hinaus auch nicht mit einer Zustimmungspflicht des Parlaments verhindert werden.
Insoweit kann ihrer Begründung kein Argument entnommen werden.
Sofern gefordert wird, dass alle Einsätze der Bundespolizei im Ausland den völkerrechtlichen Normen
und dem Grundgesetz entsprechen müssen, so sei an
dieser Stelle darauf hingewiesen, dass alle Einsätze
deutscher Sicherheitskräfte - gleich welcher Art - den
völkerrechtlichen Normen entsprechen und mit dem
Grundgesetz im Einklang stehen. Ziehen Sie dies in
Zweifel, ziehen Sie nicht nur die Arbeit des Deutschen
Bundestages, sondern auch Ihre eigene in Zweifel.
Aufgrund der klaren und deutlichen Trennung der
Aufgabenfelder der bewaffneten Streitkräfte und der
Bundespolizei bei Auslandseinsätzen ist ein Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundespolizei demnach nicht erforderlich. Ferner geht die Normierung eines Rückholrechtes im Bundespolizeigesetz
in die falsche Richtung. Die weitreichenden Befugnisse
des Parlaments sind bestens ausgestaltet. Der Antrag
ist abzulehnen.
Die SPD-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag
„Mehr Mitsprache des Parlaments bei Auslandseinsätzen der Bundespolizei“, Bundestagsdrucksache
17/8381, der Fraktion Die Linke ab. Der Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke enthält Richtiges,
aber auch elementar Falsches, sodass nur eine Ablehnung des Antrags in Betracht kommt.
Es trifft zu, dass das Bundespolizeigesetz im Hinblick auf Auslandseinsätze überarbeitet werden muss.
Die vorhandenen Regelungen für Auslandseinsätze der
Bundespolizei im Bundespolizeigesetz entsprechen
nicht mehr dem gewandelten Aufgabenprofil der Bundespolizei bei Auslandseinsätzen.
Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Auslandseinsätze deutscher Polizei nur in Übereinstimmung mit
dem Völkerecht und mit dem Grundgesetz erfolgen dürfen. Das ist geltendes Recht. Der von der Fraktion Die
Linke geforderte Parlamentsvorbehalt gilt allerdings
nicht für Auslandseinsätze der Polizei, sondern nur und
ausschließlich für bewaffnete Unternehmungen der
deutschen Streitkräfte im Ausland. Die einfachgesetzliche Einführung eines konstitutiven Parlamentsvorbehalts für Auslandseinsätze der Bundespolizei wäre evident verfassungswidrig. Bereits dies gebietet eine
Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion
Die Linke. Der Deutsche Bundestag darf keine verfassungswidrigen Gesetze verabschieden.
Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich insbesondere für die verbesserte Information des Parlamentes
über Auslandseinsätze der Bundespolizei, für bessere
parlamentarische Kontrollmöglichkeiten, für eine verbesserte Vorbereitung der eingesetzten Kräfte sowie
für eine angemessenere dienstrechtliche und soziale
Absicherung der eingesetzten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ein. In diesem Sinne ist eine Novellierung
des Bundespolizeigesetzes sachdienlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Den Worten meines Kollegen Joachim Spatz in der
ersten Beratung dieses Antrags kann ich mich anschließen: Der Antrag der Linken ist intellektuell nicht
satisfaktionsfähig.
Glaubt man der Linken, dann ist unsere deutsche
Polizei der - ich zitiere - „quasi-militärische Arm der
deutschen Außenpolitik“. Das passt ins Bild, das die
Linke hier immer wieder von der Polizei zeichnet.
Die beständige Diffamierung der Polizistinnen und
Polizisten, die die Linke betreibt, ist nicht hinnehmbar.
Es ist richtig, dass in einem Rechtsstaat genau hingesehen werden muss, welche Befugnisse die Polizei hat
- und darüber kann man auch trefflich diskutieren und
streiten - und auch, wie sie bestehende Befugnisse einsetzt. Aber hier so zu tun, als lebten wir in einem Polizeistaat, in dem eine von rechtsstaatlichen Grundsätzen völlig entfremdete Polizei willkürlich gegen die
Menschen vorginge, ist absurd und muss vehement zurückgewiesen werden.
Es fällt unter diesen Voraussetzungen schwer, sich
überhaupt mit einer Sachfrage auseinanderzusetzen;
denn die Grundannahme der Linken, mit der sie ihren
Antrag begründet, steht nicht mehr auf dem Grundkonsens, den ansonsten wohl alle hier im Hause teilen.
Da es aber auch durchaus vernünftige Menschen
gibt, die sich mit der Frage eines Parlamentsvorbehalts für Polizeieinsätze befassen, lege ich gerne dar,
warum die FDP-Fraktion dieser Forderung skeptisch
gegenübersteht.
Selbstverständlich ist es wünschenswert, dass die
Öffentlichkeit und die Abgeordneten die Einsätze würdigen und diese damit auf einem breiten Fundament
stattfinden. Ein Parlamentsvorbehalt ist jedoch dafür
weder erforderlich noch praktikabel. Polizeimissionen
sind mit einer Entsendung von Soldaten ins Ausland
nicht vergleichbar. Weder sind sie vergleichbar im
Hinblick auf die Art des Einsatzes und die Aufgaben,
die vor Ort erledigt werden müssen, noch sind sie vergleichbar bezüglich des Umfangs in personeller Hinsicht. Beim Großteil der Auslandseinsätze werden nur
eine Handvoll von Polizeibeamten ins Ausland geschickt. Für jeden einzelnen Einsatz bedürfte es eines
Parlamentsbeschlusses. Da zudem - richtigerweise in
unserem föderalen Staat - nicht nur die Bundespolizei
und das BKA, sondern auch Länderpolizeien beteiligt
sind, müssten die Länderparlamente ebenfalls zustimmen.
Zentraler Punkt ist jedoch, dass bei Polizeimissionen Deutschland keine militärisch ausgestatteten
Truppen in andere Staaten schickt, sondern sich am
Rechtsstaatsaufbau beteiligt und dazu beiträgt, dass
rechtsstaatliche Grundsätze der Polizeiarbeit verbreitet werden.
Natürlich muss immer kontrolliert werden, ob die
Ziele erreicht werden. Auch ist ein parlamentarisches
Nachhaken - und beharrliches Nachbohren, wo nötig erforderlich, wenn Zweifel bestehen, ob alles richtig
läuft. Es ist aber doch mitnichten so, dass die Einsätze
der deutschen Polizei im Ausland, wie es die Linke
glauben machen will, vorrangig der Stabilisierung diktatorischer Regime dienten. Wer so argumentiert, entzieht wirklich jeder vernünftigen Debatte den Boden.
Zu dem Antrag der Linken sagt die FDP-Fraktion
deshalb klar und deutlich: Nein. So nicht.
Die Linke will, dass Auslandseinsätze der Bundespolizei aus ihrer bisherigen Grauzone herauskommen
und einer ordentlichen Kontrolle durch das Parlament
unterliegen, so wie andere Aspekte der Außenpolitik
auch. Wir halten es für einen untragbaren Zustand,
dass bisher alleine die Bundesregierung darüber entscheidet, ob und wohin deutsche Polizisten entsandt
werden. In den allermeisten Fällen muss sie den Bundestag noch nicht einmal über diese Entscheidungen
informieren, geschweige denn, dass das Parlament ein
Rückholrecht hätte.
Es hat im vorigen Sommer viel Protest gegeben, als
herauskam, über wie viele Jahre hinweg deutsche
Polizisten Ausbildungshilfe für die belarussische Miliz
geleistet haben. Vor allem die Kollegen von SPD und
Grünen haben sich empört, wie es denn sein könne,
dass am Parlament vorbei mit Sicherheitsbehörden einer Diktatur kooperiert werde. Mich hat das damals
wenig gewundert, und ich finde, es gibt noch weit bessere Beispiele, über die man sich empören müsste.
Etwa der Polizeieinsatz in Afghanistan, mit dem deutsche Polizisten zum Krieg am Hindukusch beitragen.
Denn jeder weiß, dass die afghanische Polizei dazu da
ist, zusammen mit dem Militär die Aufständischen zu
bekämpfen und dass sie schwere Menschenrechtsverletzungen begeht.
Oder nehmen wir den Einsatz der Bundespolizei in
Saudi-Arabien. Da wird den sogenannten Sicherheitskräften einer feudalen Diktatur, die auf jegliche Menschenrechte pfeift, Unterstützung geleistet, die bis
dahin geht, ihnen den Umgang mit Schusswaffen beizubringen, bezeichnenderweise ausgerechnet mit dem
Sturmgewehr G 3 aus deutscher Produktion. SaudiArabien hat während des Arabischen Frühlings mit
Panzern geholfen, die Demokratiebewegung in Bahrain zu überrollen, aber das hindert die Bundesregierung nicht daran, den saudischen Repressionsapparat
mittels deutscher Polizisten noch stärker aufzurüsten.
Belarus, Afghanistan, Saudi-Arabien - das sind nur
einige Beispiele dafür, die zeigen, was dabei herauskommt, wenn man die Bundesregierung unkontrolliert
tun lässt. Die Union wird hier behaupten, es gebe
schon eine vollumfängliche Aufklärung über Polizeieinsätze. Das ist Unsinn, wie schon ein einfacher Blick
in das Bundespolizeigesetz zeigt. Denn so unglaublich
es klingt: Der Deutsche Bundestag hat keine Mitsprache bei solchen Einsätzen. Deswegen konnte ja letztes
Jahr erst die Empörung wegen des Belarus-Einsatzes
Zu Protokoll gegebene Reden
entstehen, weil man über den niemals informiert worden ist.
Einzige Ausnahme sind Einsätze im Rahmen von
EU- oder UN-Missionen, da gibt es rudimentäre Parlamentsrechte, aber die Masse machen bilaterale Einsätze aus. Die müssen nicht vom Bundestag beschlossen werden, er kann bei der Ausgestaltung nicht
mitreden, er kann sie nicht beenden, und in den meisten Fällen braucht er von der Bundesregierung nicht
einmal informiert zu werden, es sei denn, er fragt konkret nach. Aus diesem Grund erkundigt sich Die Linke
jedes Quartal nach den aktuellen Einsätzen. Wenn wir
das nicht täten, wüsste man praktisch überhaupt nichts
über das Thema.
Dieser vordemokratische Zustand ist umso weniger
haltbar, als die Bedeutung von Polizeieinsätzen
wächst. Die Entsendung von Polizisten ist von strategischer außenpolitischer Bedeutung. Es geht darum,
prowestliche Regime zu stärken, siehe Saudi-Arabien.
Es geht darum, nach Kriegseinsätzen die Polizei in ein
umfassendes Besatzungsmanagement einzubinden,
siehe Afghanistan. In diesen Tagen beginnt eine Polizeimission in Libyen, deren zivil-militärischer Charakter ebenfalls auf der Hand liegt, und bei der es ebenfalls nicht um Menschenrechte geht, sondern um den
strategischen Einfluss der EU auf Nordafrika. Und
dies alles geschieht, ohne dass es wie im Falle der
Bundeswehr wenigstens noch einer öffentlichen Debatte in Form einer Befassung des Parlaments bedarf.
Die Linke sagt nicht, dass jeder Polizeieinsatz im
Ausland ein Skandal ist. Natürlich haben wir nichts
gegen eine grenzüberschreitende Verfolgung gewöhnlicher Verbrecher. Aber manchmal sind diese Einsätze
eben skandalös, und deshalb will die Linke, dass mit
dieser Heimlichtuerei Schluss ist. Ich bin der Meinung: Wer sich darüber empört, und zwar zu Recht,
dass deutsche Polizisten bisweilen zur Stärkung autoritärer Regime benutzt werden, muss unserem Antrag
zustimmen. Wer nicht will, dass deutsche Polizisten in
Kriege eingebunden werden, muss unserem Antrag zustimmen. Deswegen muss der Bundestag endlich das
Recht bekommen, solche Einsätze zu verhindern bzw.
sie abzubrechen. Wir sind uns wenigstens auf der formalen Ebene darin auch mit der Gewerkschaft der
Polizei einig.
Im federführenden Innenausschuss ist unser Antrag
aber nicht nur von der Koalition, sondern auch von
SPD und Grünen abgelehnt worden. Das wird wohl
damit zu tun haben, dass auch diese Oppositionsparteien gerne an dem Mittel klammheimlicher Polizeieinsätze festhalten wollen, wenn sie wieder mal an der
Regierung sind. Denn edle Motive kann es nicht geben,
wenn man es ablehnt, solche politisch mitunter sehr
heiklen Einsätze besser vom Parlament und der Öffentlichkeit kontrollieren zu lassen. Die Linke jedenfalls gesteht der Bundesregierung, egal in welcher Zusammensetzung, kein legitimes Interesse daran zu, die
polizeiliche Kooperation mit Diktaturen zu verheimlichen.
Ein Antrag typisch Linkspartei: relevantes Thema
erkannt, dann aber in den eigenen Widersprüchen verheddert und auch mal wieder nicht willens, die eigenen
Wünsche auch in Gesetzesform zu gießen.
Die Bundespolizei hat in den letzten Jahren immer
mehr auch Aufgaben im Ausland übernommen. Das ist
im Rahmen ihres Auftrags, und viele Bundespolizistinnen und Bundespolizisten, aber auch Kolleginnen und
Kollegen aus den Ländern haben wichtige Missionen
übernommen. Vor allem bei Ausbildung und Beratung
der Polizei vor Ort, wie zum Beispiel in Afghanistan,
haben diese Beamtinnen und Beamten einen wichtigen
Beitrag zur Umsetzung außenpolitischer Ziele und für
den Aufbau einer zivilen Ordnung geleistet.
Natürlich sind diese Einsätze schwierig, oft genug
auch frustrierend. Der Fortschritt ist, wie immer, eine
Schnecke; die Koordination zwischen Bund und Ländern ist holprig, Auslandseinsätze sind besonders belastend, und wenn sie wieder zu Hause ankommen,
müssen nicht wenige Polizistinnen und Polizisten feststellen, dass der ganze Aufwand eher nicht karrierefördernd war. Es braucht also bessere Planung und
eine Steigerung der Attraktivität, damit es auch weiterhin sinnvolle Einsätze der Bundespolizei im Ausland
geben kann. Das ist aber nicht Thema dieses Antrages
- zu seinem Schaden, wie ich meine -, sondern hier
geht es um die Frage der parlamentarischen Mitsprache bei den Einsätzen.
Bisher ist es ja so, dass die Bundespolizei im Wesentlichen von der Bundesregierung zu Einsätzen entsandt wird; eine Mandatierung analog des Bundeswehreinsatzes gibt es nicht. Und es gibt auch nur eine
rudimentäre Kontrolle und Information des Parlamentes. Ersteres ist zwar aus unserer Sicht nicht richtig,
aber verfassungsrechtlich gedeckt; der Mangel an Information gefährdet aber ganz eindeutig die Rolle des
Bundestages als Kontrolleur der Bundesregierung.
Deswegen sind die Forderungen im Antrag der Linkspartei auch dem Grunde nach richtig. Was aber nicht
geht, ist, so einen Antrag vorzulegen und ihn dann
schon im ersten Absatz wieder ad absurdum zu führen;
denn Sie wollen das alles nur, wenn die Bundespolizei
nicht „zur Unterstützung von Kriegen“ eingesetzt
wird. Das ist ja auch richtig, nur wir kennen Ihre Definition von Krieg; denn Sie haben noch quasi jeden
Einsatz der Bundeswehr in den letzten Jahren als imperialistischen Akt gewertet; und demzufolge wäre
auch das hier von Ihnen eingeforderte Gesetz nie anwendbar. Das ist natürlich auch, wie immer, Ihr formales Problem, dass Sie - als Teil der gesetzgebenden
Gewalt - von der Exekutive die Vorlage eines Gesetzentwurfes fordern; das gewöhnen wir Ihnen nicht mehr
ab. Wir haben stattdessen selbst einen Gesetzentwurf
formuliert, der den vernünftigen Teil Ihrer Ziele dann
auch tatsächlich in gesetzliche Form gießt. Den werden wir hier nicht mehr abschließend behandeln können. Er liegt Ihnen als Drucksache 17/12710 vor; Sie
können sich das ja schon einmal zu Gemüte führen,
Zu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang Wieland ({0})
denn wir werden diesen Entwurf sicher in der neuen
Wahlperiode wieder einbringen. Wir regeln darin sehr
ausführliche Informationspflichten und schaffen ein
Rückholrecht des Bundestages. Denn wir wollen nicht,
dass die Bundespolizei quasi als Armee-Ersatz in die
Welt geschickt wird. Deswegen müssen wir einen Einsatz auch beenden können, wenn wir die Situation für
zu gefährlich halten. Eine konstitutive Zustimmung
halten wir nicht für notwendig, wenn die Information
dicht genug ist. Dann reicht es aus, wenn der Bundestag im Notfall die sofortige Beendigung einer Mission
einfordern kann.
An Ihrem Antrag fehlt uns zu viel, an Inhalt, an Genauigkeit, letztlich auch an Ernsthaftigkeit. Deswegen
lehnen wir ihn ab.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13316, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/8381 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen.
Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Infolgedessen niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu der
Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für
den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2009 und 2010 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
- 23. Tätigkeitsbericht - Drucksachen 17/5200, 17/13936 Berichterstattung:Abgeordnete Stephan Mayer ({1})-
Gerold Reichenbach-
Gisela Piltz-
Jan Korte-
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) -
Alle sind damit einverstanden.
Wir kommen infolgedessen gleich zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13936, in Kenntnis des
genannten Berichts auf Drucksache 17/5200 eine Ent-
schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Das sind alle Fraktionen des Hau-
ses. Gegenprobe! - Niemand. Enthaltungen? - Niemand.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
1) Anlage 16
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Schneider, Kai
Gehring, Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Queere Jugendliche unterstützen
- Drucksachen 17/12562, 17/13932 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Peter TauberChristel HummeFlorian BernschneiderCornelia MöhringUlrich Schneider
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir debattieren heute erneut über den Antrag der
Grünen zur Unterstützung von queeren Jugendlichen.
In der zurückliegenden Debatte bestand fraktionsübergreifend Einigkeit darüber, dass gerade schwule, lesbische und transsexuelle Jugendliche hohen Belastungen ausgesetzt sind. Andererseits ist erfreulich, dass
sich zwischenzeitlich das gesellschaftliche Klima gegenüber schwulen, lesbischen und transsexuellen Jugendlichen stark verbessert hat. Dies ist eine erfreuliche Entwicklung, an der auch die Politik mit den von
ihr vorgenommenen Maßnahmen ihren Anteil hat. Keinesfalls sind wir jedoch am Ziel, was ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Menschen mit ihren unterschiedlichen sexuellen Ausprägungen anbetrifft.
In dem vorliegenden Antrag werden eine ganze
Reihe von Forderungen erhoben. Wir hatten zwischenzeitlich bereits mehrfach die Gelegenheit, darüber zu
sprechen. Es bleibt dabei, dass ein Großteil der vorgeschlagenen Maßnahmen nicht in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt und dem Antrag allein schon
dadurch die nötige Präzision fehlt. Vielfach handelt es
sich um Zuständigkeiten der Länder sowie der Kommunen. Zu nennen ist hier beispielhaft die Forderung
nach Beratungsangeboten für Jugendliche im ländlichen Raum, eine sicherlich zutreffende Forderung,
allerdings an den falschen Adressaten. Es handelt sich
hierbei um Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, die
der Bund - wenn überhaupt - dann über den Kinderund Jugendplan unterstützen kann. Mit Blick auf die
hier zur Verfügung stehenden Mittel und die vielfältigen Anforderungen an den KJP können flächendeckende Maßnahmen nicht erwartet werden. Dies gehört nicht in den Aufgabenbereich des KJP. Ich denke,
dies ist den Fachkollegen auch allen bewusst.
Zudem ist es ja auch nicht so, dass es keine Unterstützung aus dem KJP gibt. Zu nennen ist hier das bundesweit agierende Jugendnetzwerk Lambda e.V. Es
vertritt die Interessen junger Lesben, Schwuler, Bisexueller und Transgender in der Öffentlichkeit und wird
seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans gefördert. Lambda hält für Jugendliche spezielle Angebote vor, in denen die Jugendlichen in einer
Peer-to-Peer-Beratung wichtige Unterstützung bei
Themen wie Coming-out, Partnerschaft und Diskriminierung erhalten.
Auch die Forderungen im Zusammenhang mit der
Schule richten sich nicht an den richtigen Adressaten.
Hier ist einmal mehr die Hoheit der Länder berührt und wir tun gut daran, diese auch zu respektieren.
Adressat wäre hier viel eher die Kultusministerkonferenz, die ein abgesprochenes Vorgehen der Länder auf
den Weg bringen könnte. Zum Bereich der Kinder- und
Jugendhilfe habe ich ja schon erwähnt, dass wir hier
die Länder in die Pflicht nehmen müssen, um die staatlichen Kompetenzen zu wahren.
Wie schon im Ausschuss besprochen, geht die Forderung nach der Erstellung von Broschüren durch die
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in
mehreren Sprachen am tatsächlichen Bedarf vorbei.
Schließlich haben sich lediglich 8 Prozent der betroffenen Migrantinnen und Migranten für eine Broschüre
in der eigenen Sprache starkgemacht. Im Hinblick auf
die bestehende Knappheit der Ressourcen ist dies sicherlich kein zielführender Vorschlag. Zielführend ist
sicherlich auch nicht der Vorschlag, in die Arbeitsschritte der in Auftrag gegebenen Studie einzugreifen.
Dies würde zulasten der Qualität gehen. Das ist sicherlich nicht in unserem Sinne. Das BMFSFJ hat
deutlich gemacht, dass bis 30. Juni der Zwischenbericht vorgelegt wird. Sämtliche Ergebnisse der Pilotstudie werden im Herbst 2013 als Abschlussbericht
vorliegen. Nach jetzigem Stand ist auch nicht von Verzögerungen auszugehen. Es ist sehr vernünftig, eine
solide Grundlage zur weiteren Entscheidungsfindung
zu erhalten.
Unser Ziel bleibt: Es muss in unserer Gesellschaft
die Kultur der Vielfalt ausgebaut werden. Aus diesem
Grund ist es wichtig, besonders den Jugendlichen und
jungen Erwachsenen ein Umfeld zu ermöglichen, in
dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle Orientierung leben können. Dies sage ich in dem Bewusstsein, dass
wir in den zurückliegenden Jahren bei dem Thema
Schritt für Schritt weiterkommen, sowohl bei den konkreten politischen Maßnahmen wie zum Beispiel die
Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften im Beamtenrecht als auch im gesellschaftlichen Bereich.
Sehr erfreulich ist in diesem Zusammenhang die
Entwicklung bei den intersexuellen Menschen, für die
wir konkrete Verbesserungen erreichen konnten. Ich
bin mir sicher, dass wir erst den Anfang einer umfassenden Entwicklung in diesem Bereich gemacht haben.
Der Kongress im zurückliegenden Monat hat deutlich
gemacht, dass es eine entsprechende Aufbruchsstimmung gibt. Diese sollten wir nutzen.
Wir debattieren heute abschließend über den Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen „Queere Jugendliche
stärken“. Um es direkt vorwegzunehmen: Ich unterstütze für die SPD-Bundestagsfraktion diesen wichtigen und richtigen Antrag!
Auch in der gestrigen abschließenden Befassung im
zuständigen Familienausschuss wurde es wieder einmal deutlich: Für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, besteht weitestgehend kein Handlungsbedarf. Sie verweisen auf gesellschaftliche Fortschritte auch bei der Akzeptanz schwul-lesbischer Lebensformen und auf Aufklärungsprojekte, die durch
das Bundesfamilienministerium im Rahmen des Kinder- und Jugendplans gefördert werden.
Dies alles ist durchaus richtig, aber bei weitem
noch nicht genug.
In vielen Staaten Osteuropas oder in Russland ist
das Leben für Lesben, Schwule, Bi-, Inter- und Transsexuelle schwer erträglich. Die russische Duma etwa
beschloss in dieser Woche ein skandalöses „Gesetz gegen die Propaganda von nicht traditionellen Verhältnissen“, nach dem allen Menschen, die in der Öffentlichkeit von Homosexualität sprechen oder für Respekt
gegenüber Transsexuellen werben, künftig Strafen von
1 Million Rubel drohen. Nur vor diesem Hintergrund
erscheint ein „queeres Leben“ hierzulande fast schon
paradiesisch.
Für viele junge Menschen ist ihre Schulzeit in
Deutschland allerdings die Hölle. Sie erleben dort Tag
für Tag ein Klima der Homophobie und der Angst. Von
Mitschülerinnen und Mitschülern, der Lehrerschaft
sowie in Unterrichtsmaterialien wird ihnen Heterosexualität als einzige gesellschaftliche Norm vermittelt.
Schimpfwörter und Beleidigungen wie „schwule Sau“,
„Tunte“, „Transe“, „Schwuchtel“ oder „Kampflesbe“
machen ihnen immer wieder schmerzhaft deutlich, wie
borniert eng und vorurteilsbehaftet unter ihren Altersgenossen Geschlechterrollen und vermeintlich „richtiges“ Mann- und Frau-Sein ausgelegt werden.
Ein aktueller Bericht der Europäischen Union für
Grundrechte, in der die Diskriminierungs- und Gewalterfahrung von mehr als 93 000 Lesben, Schwulen, Biund Transsexuellen, GLBT, ab 18 Jahren in allen Staaten der Europäischen Union und Kroatien untersucht
wurden, bestätigt diesen besorgniserregenden Befund.
So erinnerten sich mehr als 80 Prozent aller Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer an negative Bewertungen oder Mobbing von lesbischen, schwulen, bioder transsexuellen Mitschülerinnen und Mitschülern.
Zwei Drittel aller Befragten haben in der Konsequenz
ihre eigene sexuelle Ausrichtung häufig oder immer
verschwiegen. 46 Prozent und damit fast jede Zweite
aus der Gruppe der GLBT fühlt sich in Deutschland
aufgrund der sexuellen Orientierung/Identität diskriminiert. Der EU-Durchschnitt liegt mit 47 Prozent
Diskriminierungserfahrung nur leicht über diesem
Wert.
Zu Protokoll gegebene Reden
In diesem Klima wagen es auch hierzulande viele
verständlicherweise nicht, zu ihrer eigenen sexuellen
Identität, zur eigenen sexuellen Orientierung zu stehen. Sie verleugnen sich, ihre Bedürfnisse und ihre
Sehnsüchte - vor anderen und vor sich selbst. Die
schlimmen Konsequenzen sind bekannt. Isolation und
Depression, die zu einem signifikant höheren Suizidrisiko bei Jugendlichen führen, sind verzweifelte Hilferufe, denen wir entschiedener als bisher begegnen
müssen.
Der Schulhof ist in diesem Fall der beschämende
Spiegel von Ressentiments und offenen Diskriminierungen, denen Lesben, Schwule, Trans- und Intersexuelle in unserer Gesellschaft noch immer ausgesetzt
sind. Daher müssen die Themen sexuelle Vielfalt und
Homosexualität dringend verbindliche Querschnittsthemen in den Lehrplänen aller Bundesländer werden.
Außerdem sind die Länder in der Verantwortung, während des Studiums und der Weiterbildung Lehrkräfte
entsprechend für das Thema zu sensibilisieren.
Es darf nicht länger eine Frage des persönlichen
Engagements von Schulleitung und Lehrerinnen und
Lehrern sein, um an jeder Schule bundesweit ein
angst- und diskriminierungsfreies Umfeld sicherzustellen. Dies ist auch eine zentrale Forderung der bereits erwähnten Untersuchung der EU-Grundrechtsagentur. Denn nur so können wir selbstverständliche
Akzeptanz auch für sexuelle Minderheiten stärken.
Und das gilt nicht nur für die Schülerinnen und Schüler, sondern auch für schwule oder lesbische Lehrer
und Lehrerinnen, von denen es verständlicherweise in
einem homophoben Klima viele vorziehen, sich nicht
zu outen.
Dabei ist die Sichtbarkeit von Vielfalt ein unverzichtbarer Schritt zur Wahrnehmung und Akzeptanz.
Hier ist also konkretes Handeln gefragt. Das Rad muss
nicht neu erfunden werden - gute Rezepte liegen bereits vor.
Vor allem mein Heimatland Nordrhein-Westfalen
und auch Berlin haben sehr gute Aktionspläne mit konkreten und umfangreichen Maßnahmen für Schulen
und Hochschulen erarbeitet, mit denen die Sichtbarkeit und die Akzeptanz von sexuellen Minderheiten gestärkt werden soll.
Der Berliner Fünf-Punkte-Plan beispielsweise bietet konkrete Sofortmaßnahmen, mit denen Schulen zum
angst- und diskriminierungsfreien Lernort für alle
werden können. Dazu gehören: konkrete Ansprechperson für GLBT benennen, konsequente Intervention bei
allen schwulen- und lesbenfeindlichen Äußerungen,
Sichtbarkeit sexueller Vielfalt fächerübergreifend in
Aufgabenstellungen/Grafiken stärken, dazu gehört
auch die Einladung externer „Aufklärungsteams“ Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten von Kindern
und Jugendlichen, umfassende und altersgemäße Sexualerziehung.
Ein großer Einfluss kommt auch der Ausgestaltung
der Schulbücher zu. Es ist nicht nachvollziehbar, warum das dort vermittelte Familienbild noch immer
schwule oder lesbische Lebensformen ausschließt und
auf diese Weise ein geschlossenes heteronormatives
Gesellschaftsbild zeichnet, das in dieser Form nicht
der Realität entspricht.
Hier ist die Kultusministerkonferenz der Länder in
der Verantwortung, kritisch zu hinterfragen, ob die aktuellen Lehrwerke tatsächlich ihren Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Realitäten abzubilden und positive Rollenvielfalt zu ermöglichen. Dieser Anspruch
muss sich als konkreter Qualitätsstandard zur Bewertung künftiger Lehrwerke finden.
Um Schule tatsächlich zu einem Lern-Ort der Toleranz und des gegenseitigen Respekts zu machen, sollten wir außerdem einen Blick auf die ursprüngliche
Bedeutung des Begriffs der Inklusion werfen. Aktuell
wird der Begriff mit Bezug auf die UN-Konvention
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auf
das gleichberechtigte Miteinander von Menschen mit
und ohne Behinderung verwendet. Doch im Kern geht
es um viel mehr. Der Inklusionsgedanke besagt: Es
gibt nicht die Normalität. Normalität bedeutet Vielfalt
und Verschiedenheit und gleiche Teilhabe für alle
Menschen. Hier wünsche ich mir auch in Deutschland
eine breite gesellschaftliche Debatte, um auch auf diesem Weg für sexuelle Minderheiten ihr Recht auf eine
diskriminierungsfreie und gleichberechtigte Teilhabe
am ({0})Leben zu sichern.
Ich erwähnte es eingangs: Schule ist das Spiegelbild unserer Gesellschaft. So richtig und wichtig es
hier ist, sexuelle Vielfalt unverkrampft und positiv zu
vermitteln - auch die Politik steht in der konkreten
Verantwortung, durch ihre Gesetzgebung entsprechende Normen und Werte für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft zu setzen.
Dieser Verantwortung, meine Damen und Herren
vor allem von der Union, sind Sie in dieser Legislatur
fahrlässig nicht nachgekommen! Indem Sie - auch gegen zunehmenden Widerstand in Ihren eigenen Reihen
und gegen die Mehrheit unserer Bevölkerung - noch
immer stur an einer Zweiklassengesellschaft bestehend aus heterosexueller Ehe auf der einen und eingetragener Lebenspartnerschaft auf der anderen Seite
festhalten, senden Sie die Botschaft: Alle Menschen
sind gleich, aber heterosexuelle Menschen bleiben
doch ({1})werter als homosexuelle. Dies ist
nicht nur in hohem Maße diskriminierend, sondern,
wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt beim Ehegattensplitting für homosexuelle Paare urteilte, auch
gesetzeswidrig!
Doch solange selbst eine als fortschrittlich geltende
Ministerpräsidentin der CDU öffentlich erklärt, sie
müsse sich beim Thema Adoptionsrecht für homosexuelle Paare „zwingen, zwischen dem zu unterscheiden,
was mir der Intellekt sagt und meinem Bauchgefühl“,
werden wir noch einen langen Atem brauchen, um
nicht nur an Schulen endlich alle Vorbehalte und DisZu Protokoll gegebene Reden
kriminierungen gegenüber Schwulen, Lesben, transund intersexuellen Menschen abzubauen.
Die Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe schreitet voran, Politiker gehen
heute selbstverständlicher mit ihrer Homosexualität
um. In staatlichen Institutionen wie der Bundeswehr
wird auf Nichtdiskriminierung geachtet - all das sind
positive Signale an Jugendliche, dass es normal ist,
verschieden zu sein, eben auch hinsichtlich der sexuellen Orientierung. Dennoch reichen diese Signale nicht
aus. Die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Lebenssituation und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen Jugendlichen macht den gesellschaftlichen
Handlungsbedarf deutlich. Auch Umfragen unter Jugendlichen über die Haltung gegenüber Homosexualität zeigen, dass Toleranz und Akzeptanz in jeder Generation neu erarbeitet werden müssen.
Für die FDP gilt: Diskriminierung ist nicht zu akzeptieren - egal wo und in welcher Form sie in unserer
Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es für uns auch
ein wichtiges Anliegen, dass schwule, lesbische, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Jugendliche
gleichberechtigte Chancen haben und ohne Diskriminierung aufwachsen. Auch heute noch ist das Comingout eine Herausforderung. Lesbische und schwule Jugendliche müssen ebenso wie trans- und intersexuelle
junge Menschen ihre Identität finden. Sie müssen in
Teilen der Gesellschaft stärker um ihre Akzeptanz
kämpfen und brauchen dafür Anerkennung und Unterstützung. Aber wir sollten die Augen nicht davor verschließen, dass ein Großteil der Vorschläge im vorliegenden Antrag, insbesondere zur Schulpolitik und
Jugendhilfe vor Ort, in die Kompetenz der Bundesländer fallen. Die Länder und Kommunen sind hier in der
Verantwortung und müssen dafür auch entsprechende
Mittel bereitstellen. Auch ein möglicher Aktionsplan
muss diese föderale Aufgabenverteilung beachten.
Unterstützung für Jugendliche im Coming-out darf
die Jugendlichen nicht durch eine falsche Antidiskriminierungsrhetorik in eine Opferecke stellen. Stattdessen müssen wir sie stolz und stark machen, dass sie
ihre Identität finden. Denn selbstbewusste Jugendliche
sind seltener Opfer von Diskriminierung.
Und: Die Sprache des Antrags geht an der Lebenswelt der Jugendlichen vorbei. Kaum ein schwuler
Junge, kaum ein lesbisches Mädchen definiert sich als
„queer“. Sie sind zunächst froh, wenn sie ihre Identität
als schwul oder lesbisch gefunden haben. Man kann
die im Antrag erwähnten Zielgruppen nicht alle über
einen Kamm scheren. Eine junge Lesbe im Coming-out
hat andere Bedürfnisse als ein transsexueller Jugendlicher - und dieser oder diese wiederum andere als ein
Intersexueller. Für alle gemeinsam ist es aber ein guter
Ansatz, eine vielfältige und tolerante Gesellschaft zu
unterstützen, in der das Individuum in seiner Einzigartigkeit im Mittelpunkt steht.
Die FDP hat in dieser Wahlperiode die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld durchgesetzt. Die Stiftung
wurde bereits im Jahr 2000 vom Bundestag versprochen. Dieses Versprechen wurde weder von Rot-Grün
noch von Schwarz-Rot in die Realität umgesetzt. Wir
haben es gemacht. Die Stiftung tritt durch Bildung und
Forschung der Diskriminierung entgegen. Mehr als
10 Millionen Euro hat die Bundesregierung hier investiert. Wir Liberale wollen in der nächsten Wahlperiode
dieses Stiftungskapital aufstocken. Mit dieser verbesserten Finanzausstattung wollen wir es ermöglichen,
gerade Aufklärungsprojekte in der schulischen und beruflichen Bildung sowie der Jugendarbeit stärker zu
unterstützen. Schwul-lesbische Schulaufklärungsprojekte wie SCHLAU NRW, das Nachahmer in anderen
Bundesländern gefunden hat, müssen bundesweit verbreitet werden. Dazu leistet die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld bereits heute einen wichtigen Beitrag.
Sie finanzierte als ihr erstes Projekt die Bundesvernetzung der Schulaufklärungsprojekte.
In diesen Tagen finden in vielen deutschen Städten
die Christopher-Street-Days statt. In anderen Ländern
heißen sie Gay Pride. Und dieser Pride, dieser Stolz,
ist das, was wir allen vermitteln wollen. Wir wollen,
dass schwule, lesbische, bi-, trans- und intersexuelle
Jugendliche so fühlen, so lieben und so leben können,
wie sie es wollen - frei von Diskriminierung und stolz
darauf, wie sie sind.
Queere Jugendliche zu unterstützen, ist eine wichtige Aufgabe. Deshalb begrüßen wir den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen. Immer wieder schrecken Berichte über gemobbte Schülerinnen und Schüler auf.
Bei der genaueren Betrachtung stellt man fest, dass
häufig die vermeintliche oder tatsächliche Sexualität
des Schülers oder der Schülerin von Bedeutung ist. Die
Bezeichnung „schwul“ ist nicht nur die selbstbewusste
Eigenbezeichnung homosexueller Männer, es ist zugleich eines der häufigst gebrauchten Schimpfworte
insbesondere in Fußballstadien und Schulen. Die eine
oder der andere mag nun beschwichtigen, dies sei ja
nicht so gemeint oder „schwul“ würde halt einfach als
abwertendes Synonym gebraucht. Aber versetzen Sie
sich einmal in die Situation eines Schülers im schwierigen Prozess des Coming-out. Er weiß noch nicht
wirklich, ob er sich dem männlichen Geschlecht zugezogen fühlt, aber sein Umfeld vermittelt ihm, dass dies
etwas sehr Schlimmes und Verachtenswürdiges sei.
Diese Jugendlichen und viele andere lassen wir derzeit
allein.
Es ist unsere Pflicht, Kinder und Jugendliche auf allen Ebenen vor jedweder Diskriminierung zu schützen.
Dieser Pflicht kommen wir nur unzureichend nach.
Im Jahr 2008 initiierte die Berliner Linke das Programm des Berliner Senats „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz der sexuellen Vielfalt“. Mit
mehr als 2 Millionen Euro wurden ein Wandel der Verwaltungen und ein umfangreiches Bildungsprogramm
Zu Protokoll gegebene Reden
gefördert. Der Schwerpunkt lag auf der Stärkung und
der Akzeptanz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt bei Kindern und Jugendlichen. Jungen Menschen
sollte vermittelt werden, dass die Vielfalt der Gesellschaft eine Bereicherung auch für ihre eigene Entwicklung ist. Lehrkräfte wurden fortgebildet; Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner an Schulen halfen
Schülerinnen und Schülern, sich selbst zu finden oder
sie vor Verletzungen zu schützen. Lehrerinnen und
Lehrern wurden Module an die Hand gegeben, die sie
in allen Fächern einsetzen konnten. Vor kurzem berichtete mir ein Vertreter des Lesben- und Schwulenverbands Berlin-Brandenburg, dass ihre Schulaufklärungsprojekte noch vor einigen Jahren Probleme
hatten in die Schulen und damit in die Klassenzimmer
zu kommen. Mittlerweile fragen so viele Schulen bei
ihnen an, dass sie eine mehrmonatige Warteliste haben. Sie sehen, der Bedarf ist da.
Leider hat der derzeitige schwarz-rote Senat in Berlin das Programm „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz der sexuellen Vielfalt“ massiv gekürzt, sodass erste Erfolge verspielt werden könnten.
Die Bundesländer NRW und Baden-Württemberg haben die Berliner Akzeptanzinitiative zum Vorbild für
eigene Programme zur Förderung der sexuellen und
geschlechtlichen Vielfalt genommen.
Leider ist die Aufklärungsarbeit zur Akzeptanz der
sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt nicht in allen
Bundesländern Teil der Schul- und Berufsausbildung.
Die Bild verunglimpfte kürzlich sogar die Initiative der
Linksfraktion im sächsischen Landtag als „SchwulUnterricht“, wohlwissend dass es bei der Akzeptanzförderung nicht darum geht, Jugendliche zu einer bestimmten sexuellen Identität zu drängen, was sowieso
nicht geht. Es geht vielmehr darum, jungen und heranwachsenden Menschen zu vermitteln, dass die Welt
bunt ist und dass es mehr als Mann und Frau gibt, die
einander begehren. Es gibt Lesben, Schwule, Transsexuelle, Transgender, Bisexuelle und Intersexuelle, und
das ist okay - und dieses „okay“ ist schon eine ganze
Menge.
Auch wenn Bildung in der Verantwortung der Länder liegt, sind wir als Bund in der Pflicht. Zudem ist es
geboten, die Situation von transsexuellen Jugendlichen und obdachlosen queeren Jugendlichen schnellstens zu verbessern. Deshalb unterstützt die Linke den
vorliegenden Antrag.
Als wir das letzte Mal hier über queere Jugendliche
debattiert haben, war gerade die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichtes zur Sukzessivadoption
beschlossen worden. In der letzten Woche wurde das
Ehegattensplitting auf eingetragene Lebenspartnerschaften ausgeweitet. Die Gleichstellung von Lesben
und Schwulen ist das Topthema in den Nachrichten,
die Gleichstellung von Lesben und Schwulen bewegt
die Republik.
Leider immer noch aktuell: Wir dürfen über diesen
Debatten lesbische und schwule Jugendliche nicht vergessen. Die Bundesregierung hat das versprochene
Zwischenergebnis der Pilotstudie „Lebenssituationen
und Diskriminierungserfahrungen von homosexuellen
Jugendlichen in Deutschland“ noch immer nicht dem
Bundestag vorgelegt.
Leider immer noch aktuell: Lesbischen und schwulen Jugendlichen fehlen die Bezugspersonen. Sie haben oftmals keine Vorbilder in ihrer Familie, an ihrer
Schule oder im Freundeskreis. Lesbische und schwule
Jugendliche finden in Deutschland medial nicht statt.
Lesben und Schwule sind heute sichtbarer in den Medien als noch vor 20 Jahren, aber es sind Menschen,
die dem Jugendalter längst entwachsen sind.
Leider immer noch aktuell: Junge Lesben und
Schwule wachsen immer noch häufig in einem Umfeld
auf, das strukturell homophob ist. Hinzu kommt:
„Schwul“ ist eines der häufigsten Schimpfwörter auf
deutschen Schulhöfen. Lehrerinnen und Lehrer gehen
bei ihren Klassen unausgesprochen von deren Heterosexualität aus. Mädchen, die nicht der klassischen Geschlechterrolle entsprechen, werden als Lesben denunziert, „Schwuchtel“ ist gleichbedeutend mit Versager.
Leider immer noch aktuell: Für diese Lücke hat die
Bundesregierung keine Sensibilität. Die Redner der
Regierungsfraktionen haben damals zu Protokoll gegeben, dass die Bundesregierung große Teile unseres
Antrags ja nicht selber umsetzen könne und in Länderkompetenz eingreifen würde. Ich sage Ihnen: Ich wünsche mir eine Bundesregierung, die Probleme erkennt
und anpackt, die mit den Bundesländern in Kontakt
steht, die auf die Bundesländer zugeht und sagt: „Dort
gibt es ein Problem. Wie können wir das gemeinsam
lösen, sodass es am besten für die Menschen in
Deutschland ist?“ Aber der Umgang mit unserem Antrag und vor allem unserem Anliegen ist symptomatisch für den Umgang dieser Bundesregierung mit Lesben und Schwulen. Die Politik für Lesben, Schwule,
Bisexuelle, Transsexuelle und Intersexuelle steht unter
dem Motto: Wenn Karlsruhe sich beschwert, dann ändern wir unsere Politik, vielleicht nachdem wir das
Verfassungsgericht beschimpft haben. Und bei allen
anderen Themen machen wir nichts.
Diese Regierung muss zum Handeln gezwungen
werden. Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft
mit der Ehe ist längst gesellschaftlich akzeptiert, aber
Schwarz-Gelb braucht bei jedem kleinen Schritt eine
Vorgabe aus Karlsruhe. So war es bei der Adoption
von zuvor adoptierten Kindern, die in eine Lebenspartnerschaft mitgebracht werden. So war es bei der
Gleichstellung im Steuerrecht. Aber muss das so sein?
Müssen erst Frauen, deren Partnerin ein Kind bekommen hat, ihre rechtliche Stellung als Elternteil einklagen? Müssen bei den vielen kleinen Punkten der
Benachteiligung erst wieder Menschen klagen? Eine
Bundesregierung, wie ich sie mir vorstelle, sagt: Wir
öffnen die Ehe für alle Partnerschaften. Mit SchwarzGelb ist das nicht möglich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Schlimmer noch trifft es Regenbogenfamilien und
Patchworkfamilien. Wir müssen in Deutschland endlich anfangen, das Zusammenleben mit Kindern zu
fördern und nicht mehr das Zusammenleben mit Trauschein. Es gibt heute viele Menschen in den unterschiedlichsten Konstellationen, die faktisch Verantwortung für Kinder übernehmen. Diese Menschen
verdienen unsere Unterstützung. Die Bundesregierung
dagegen läuft immer noch einem alten Modell einer
Kernfamilie mit einem Alleinverdiener nach, das sie
notfalls auch durch ein milliardenteures Betreuungsgeld retten will.
Und schließlich, ich habe es bereits angesprochen:
Viele Bundesländer haben einen Aktionsplan gegen
Homophobie. Was fehlt und was wir dringend brauchen, ist ein bundesweiter Aktionsplan gegen Homophobie und Transphobie! Wir brauchen einen Aktionsplan für Toleranz und Vielfalt. Der bundesweite
Aktionsplan ist insbesondere für Jugendliche wichtig.
Dort brauchen wir gezielte Beratungsangebote und
Antidiskriminierungsmaßnahmen in den Bereichen Elternhaus, Schule, Jugendhilfe und Sport. Forschung zu
queeren Lebensweisen und zur gezielten Bekämpfung
von Diskriminierung muss in Deutschland endlich gefördert werden. Anstatt sich hier an die Speerspitze der
Bewegung zu setzen, läuft Schwarz-Gelb nur immer
hinterher.
Auch Menschen, die nicht dem heterosexuellen Leitbild entsprechen, das Schwarz-Gelb vorschwebt, brauchen die Unterstützung der Politik! Meine Hoffnung
ist, dass es das nächste Mal, wenn wir über die Anliegen queerer Jugendlicher reden, eine andere Bundesregierung gibt, die diese Anliegen ernst nimmt. Dafür
werde ich in diesem Sommer kämpfen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13932, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12562 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 49 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Gerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi
Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Starke Forschung für die Energiewende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energieforschung konsequent am Atomausstiegsbeschluss des Deutschen Bundestages
ausrichten
- Drucksachen 17/11201, 17/11688, 17/12450 Berichterstattung:Abgeordneter Klaus Breil
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Energieforschung ist der Schlüssel zum Gelingen
der Energiewende. Wir brauchen zukünftig Energiespeicher und intelligente Energiesysteme, die die
fluktuierenden erneuerbaren Energien ausgleichen.
Wir brauchen optimierte Gebäudehüllen, die es ermöglichen, dass Haushalte intelligent Energie einsparen können. Wir brauchen ein intelligentes Lastmanagement, um Angebot und Nachfrage besser
aufeinander abzustimmen. Die Energiewende kann
also nur dann zum Erfolg werden, wenn wir neue Ideen
und Innovationen voranbringen und technologisch
zum Vorreiter werden. Dazu braucht es eine starke
Forschung. Nur mit einer starken Energieforschung
können wir optimale Lösungen für die anstehenden
Herausforderungen der Energiewende finden. Deshalb
ist unser Anspruch, weltweit führend bei der Energieforschung zu sein. Das ist unser Ziel, und deshalb haben wir die passenden Rahmenbedingungen gesetzt.
Wir haben im Sommer 2011 das 6. Energieforschungsprogramm verabschiedet und die Mittel für die
Energieforschung auf 3,5 Milliarden Euro aufgestockt.
Die Schwerpunkte liegen auf den Schlüsselthemen der
Energiewende: erneuerbare Energien, Energieeffizienz, Speicher und Netze. Nach zwei Jahren zeigt die
Resonanz deutlich, dass unser Energieforschungsprogramm ein Erfolgsprogramm ist. So wurden in den
Bereichen erneuerbare Energien und Energieeffizienz
allein innerhalb des ersten Jahres mehr als 900 neue
Forschungsprojekte mit einem Gesamtfördervolumen
von rund 550 Millionen Euro auf den Weg gebracht.
Hinzu kamen rund 215 Millionen Euro, die die Wirtschaft als Eigenmittel beigesteuert hat.
Und auch die Zusammenarbeit zwischen den
Ressorts funktioniert, entgegen dem Antrag der SPD,
sehr gut. So wurden mit dem 6. Energieforschungsprogramm erstmals ressortübergreifende Projekte vereinbart. Bundesumweltministerium, Bundeswirtschaftsministerium sowie das Bundesbildungsministerium
haben erfolgreich Projekte wie die Förderinitiativen
„Speicher“ oder „Zukunftsfähige Stromnetze“ auf den
Weg gebracht.
Wir haben schon heute in Deutschland eine hochaktive Energieforschungslandschaft. In Deutschland
forschen derzeit mehr als 180 Hochschulen und
120 Forschungsinstitute zu Themen der Energiewende. Das zeigt auch die von uns im März veröffentlichte „Landkarte der Energieforschung“. Mit dieser
Landkarte ist es uns gelungen, Fachkompetenzen
sichtbar und die deutsche Energieforschung transparenter zu machen. Das verschafft einen detaillierten
Überblick darüber, wer wo mit welchen Mitteln an
welchen Energiethemen arbeitet, und erleichtert den
fächerübergreifenden Wissenstransfer.
Zusätzlich bündeln wir mit dem von uns ins Leben
gerufenen Akademienprojekt „Energiesysteme der
Zukunft“ und der gemeinsamen Dialogplattform
„Forschungsforum Energiewende“ das Know-how
von Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft
in seiner gesamten Breite und treiben damit die Energiewende voran.
Neben der Koordinierung haben wir auch verschiedenste Förderinitiativen auf den Weg gebracht. Besonders hervorheben möchte ich die Förderaktivitäten im
Bereich Speicher und Netze. Beide Themen sind für die
Energiewende von herausragender Bedeutung. Denn
für die Integration der fluktuierenden erneuerbaren
Energien braucht es sowohl intelligente Netze als auch
Speichertechnologien. Ohne diese Technologien wird
die Versorgungssicherheit gefährdet und die Windräder müssen still stehen. Deshalb haben wir mit der
Förderinitiative „Speichertechnologien“ für die Forschung und Entwicklung von Speichertechnologien
200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt und so die
Entwicklung neuer Speichertechnologien und Speicherkonzepte sowie die Verbesserung bestehender
Techniken gefördert. Mit einer fünffachen Überzeichnung ist dieses Programm ein voller Erfolg. Es zeigt
auch deutlich, dass der Energieforschungsstandort
Deutschland hoch aktiv ist.
Auch mit der Förderinitiative „Zukunftsfähige
Stromnetze“, die beispielsweise neue Konzepte zur
Netzplanung, intelligente Stromnetze sowie innovatives Lastmanagement fördert, soll der Einstieg in das
zukünftige Netz gelingen. Hierfür haben wir rund
150 Millionen zur Verfügung gestellt.
Die Förderinitiativen „Speicher“ und „Netze“ sind
nur ein Teil des umfassenden Energieforschungsprogramms. Aber sie zeigen deutlich: Zukunftstechnologien sind für uns ein wesentlicher Bestandteil der
Energiewende. Wir haben die Energieforschung zum
zentralen Baustein unserer Technologiestrategie und
damit zum Garanten für Wachstum und Wohlstand gemacht.
Zunächst einmal möchte ich Ihnen, meine lieben
Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, eine
Frage stellen: Warum belästigen Sie uns denn immer
wieder mit Anträgen zum selben Thema oder teilweise
sogar mehrmals mit identischen Anträgen?
Für mich ist klar: Sie haben nicht wirklich etwas
parat, mit dem Sie uns ernsthaft Paroli bieten können.
Das lässt Sie auch ziemlich verzweifelt aussehen und
zwingt Sie zur Redundanz.
Sie überfrachten die Tagesordnung des Deutschen
Bundestages und strapazieren seine Arbeitsfähigkeit.
Das ist der Bedeutung des Hohen Hauses nicht angemessen, ja unwürdig. Und last but not least kommen
wir zu Pseudo-Protokoll-Debatten! Deshalb meine
Empfehlung für das nächste Mal: Verschonen Sie uns
und sich selbst auch mit solchen Anträgen und „Debatten“!
Aber lassen Sie mich jetzt zum Inhaltlichen kommen: Wir wollen das Zeitalter der erneuerbaren
Energien schnell erreichen. Nicht nur hierzu brauchen
wir technologischen Fortschritt und Innovationen.
Das sind Schlüsselfaktoren für Wachstum und Beschäftigung und ein Lebenselixier für unsere Wirtschaft.
Deutschland ist Spezialist für Innovation, nicht für
Massenproduktion. Trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung haben wir in dieser Legislaturperiode
12 Milliarden Euro zusätzlich für Forschung, Entwicklung und Bildung zur Verfügung gestellt. Das zeigt:
Forschung und Entwicklung sind der christlich-liberalen Koalition wichtig.
Von Ihnen kann man das nicht behaupten, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Opposition!
Das Beispiel Photovoltaik zeigt, dass Sie davon nichts
verstehen. Etliche von Ihnen glauben noch, man
könnte mit der EEG-Vergütung Industriepolitik
machen.
Mal davon abgesehen, dass 8 bis 10 Milliarden
Euro pro Jahr für 5 000 bis 10 000 Arbeitsplätze in keinem Verhältnis stehen, hilft auch hier nur Innovation.
Wenn ein Investor, der eine Photovoltaik-Anlage
bauen will, dieselben Module aus Asien billiger bekommt, kann er seine Rendite maximieren. Das wird er
bei jedem noch so hohen Vergütungssatz tun. Deshalb
wäre es an den Modulherstellern gewesen, die Effizienz durch F&E-Anstrengungen zu befördern. Stattdessen haben sie die F&E-Quote niedrig gehalten und
sich die Taschen gefüllt. Und jetzt soll die Politik helfen, mindestens aber Schuld an der Misere sein.
Für uns ist klar, dass in Sachen Forschung und Entwicklung insbesondere die Unternehmen gefordert
sind. Diese entscheiden, wo sie ihr Geld einsetzen.
Allerdings müssen wir in der neuen Legislaturperiode
weitere Anreize für F&E schaffen. Ich denke hierbei
zum Beispiel an die Einführung einer steuerlichen
Forschungsförderung. Hiervon würden große Impulse
ausgehen, und deshalb wäre sie gut investiertes Geld.
Aber von gut investiertem Geld haben Sie ja nicht so
viel Ahnung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition. Das wird uns ja nahezu täglich in den von
Ihnen regierten Bundesländern vor Augen geführt.
Vielmehr sind Sie Experten darin, Geld für unnütze
Dinge auszugeben und sich diese auch noch vom Steuerzahler über Steuererhöhungen finanzieren zu lassen.
Sie haben offenbar nicht erkannt, dass dieser Staat
kein Einnahmen-, sondern nach wie vor ein Ausgabenproblem hat, an dem wir arbeiten müssen. Deshalb ist
es auch gut, dass nicht Sie an der Regierung sind, sondern die christlich-liberale Koalition. Das sollte auch
Zu Protokoll gegebene Reden
so bleiben - im Sinne unseres Landes und der Menschen, die hier leben!
Eines möchte ich noch zur Kernenergie sagen: Klar
ist, dass wir aus der Kernenergie aussteigen wollen.
Klar ist aber auch, dass wir dort, wo es um technologische Fragen bei der Kernenergie geht, am Ball
bleiben müssen. Hierfür brauchen wir auch weiterhin
Forschung und Entwicklung in diesem Bereich. Es
geht hierbei ja nicht zuletzt darum, dass unsere Kernkraftwerke bis zum Schluss sicher sind - aber auch die
unserer Nachbarn.
Und auch das Thema Entsorgung steht noch an. Ich
bin gespannt, ob Sie hier Ihrer Verantwortung gerecht
werden oder sich doch lieber der Realität verweigern
werden, wie es der vorliegende Antrag andeutet. Aber
es ist mir schon klar, dass es eh nicht die Stärke insbesondere der Grünen ist, sich der Realität zu stellen.
Wir jedenfalls wollen das Zeitalter der erneuerbaren Energien so schnell wie möglich erreichen. Wir
wollen den Weg für mehr Innovationen ebnen. Wir sind
die Koalition, die das kann und auch die Kosten im
Blick hat. Eine rot-grüne Bundesregierung wäre diesen großen Herausforderungen nicht gewachsen.
Deshalb ist es gut, dass die christlich-liberale Koalition regiert!
Ich beginne mit einem kleinen Lob: Es ist gut, wenn
die Bundesregierung auf uns hört und Verbesserungsvorschläge der SPD-Fraktion aufnimmt. So geschehen
beim Energie- und Klimafonds. Über Monate hinweg
haben wir die Unterfinanzierung des Fonds bemängelt
und vor den Risiken für die Energieforschung gewarnt.
Das Magazin „Der Spiegel“ berichtete im März sogar
von einer Streichliste im Ressort von Herrn Altmaier.
Demnach standen die Förderprogramme zur Elektromobilität und zur Erforschung von Stromspeichern
kurz vor dem Aus. Damit wären zentrale Bausteine der
Energiewende weggefallen.
Im April kam dann die Einsicht der Bundesregierung. Der Finanzminister meldet sich mit der Schlagzeile „BMF schafft Planungssicherheit beim Energieund Klimafonds ({0})“. Und das trotz der sinkenden
Einnahmen aus dem CO2-Zertifikatehandel. Klingt
gut. Aber die Enttäuschung kam beim Lesen der gesamten Pressemitteilung aus dem BMF: Schwarz-Gelb
bleibt hinter den eigenen Plänen zurück. In 2013 stehen nämlich nur 70 Prozent der Mittel des EKF zur
Verfügung. 30 Prozent des Geldes fehlen. Knapp ein
Drittel der notwendigen Maßnahmen aus den Bereichen Gebäudesanierung, Klimaschutz oder Energieforschung kann nicht starten. Viele gute Ideen für Forschungsprojekte werden also im Keim erstickt. So
kommt die Energiewende nicht voran.
Was dafür immer gut funktioniert, das sind die
Ankündigungen der Bundesregierung. In einem aktuellen Regierungspapier zur Energiewende heißt es: „Die
Bundesregierung wird ein zentrales Informationssystem einrichten und einen ‚Bundesbericht Energieforschung‘ vorlegen.“ Ich bin gespannt, bis wann uns
dieser Bericht vorliegt. Die Zeit bis zum 22. September
wird knapp.
Die Energiewende muss Wirklichkeit werden. Noch
aber hakt es bei der Umsetzung. Sicherlich, die Herausforderung könnte kaum größer sein: Deutschland
ist Europas stärkstes Industrieland und gleichzeitig
der größte Energieverbraucher in der EU. Wir haben
uns den Umbau der kompletten Energieinfrastruktur
vorgenommen. Das ist eine Großbaustelle. Gerade
deshalb brauchen wir eine bessere Koordinierung der
Energiepolitik. Und wir brauchen jede Idee aus der
Wissenschaft zur Steigerung der Energieeffizienz. Wir
wollen eine starke, leistungsfähige und breit aufgestellte Forschungslandschaft. Wir müssen diejenigen
fördern, die neue Technologien, neue Materialien und
neue Energiedienstleistungen entwickeln.
Die Bundesregierung hat im August 2011 das
6. Energieforschungsprogramm vorgelegt. Kritisch
muss angemerkt werden, dass sich die Tragweite und
Komplexität der Energiewende nicht im Programm
widerspiegelt. Insbesondere die hohen Ausgaben für
die Atomforschung entsprechen nicht dem beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft.
Das Programm teilt die Energieforschung auf
mehrere Ressorts auf. Das führt dazu, dass für die Wissenschaft nur schwer zu erkennen ist, welches Ministerium den Hut aufhat und wer wann Forschungsgelder
verteilt. Auch ist zu befürchten, dass die Ressortaufteilung Synergien verhindert und der ganzheitliche Blick
auf die Umgestaltung der Energieversorgung fehlt. Zu
dieser Einschätzung komme ich übrigens nicht nur,
weil ich derzeit Oppositionspolitiker bin. Nein, das sagen auch die Berater der Bundesregierung. Ich darf
die Expertenkommission Forschung und Innovation,
EFI, aus ihrem aktuellen Gutachten zitieren: „Die
Fragmentierung der Zuständigkeiten für die Energieforschung in Deutschland ist bizarr.“ Darüber hinaus
müssen die einzelnen Forschungsprojekte besser zueinander geführt werden. Die Bundesregierung hat die
genannten Schwächen im Energieforschungsprogramm wohl erkannt. Seit März gibt es nun die Nationale Forschungsplattform Energiewende. Ich begrüße
diesen Schritt. Hoffen wir, dass die notwendigen
Impulse und Ideen aus der Wissenschaft dadurch
schneller in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen werden können.
Ich möchte noch auf eine Lücke im 6. Energieforschungsprogramm hinweisen: Es fehlt ein klares
Bekenntnis zur Verbraucherforschung. Die Erforschung der sozialen Dimension der Energiewende
muss intensiviert werden, zumal die Umsetzung der
Energiewende maßgeblich von privaten Investitionsentscheidungen abhängt. Akzeptanz, Identifikation und
thematische Sensibilisierung zur Änderung des Nutzerverhaltens, aber auch Aufklärung und Nachvollziehbarkeit technischer Neuerungen sind wesentliche
Bedingungen für den dauerhaften Erfolg der EnergieZu Protokoll gegebene Reden
wende. Die steigenden Energiepreise sind für viele
Familien zur Belastung geworden. Es ist Teil unserer
sozialen Verantwortung, danach zu fragen, wie Energie bezahlbar bleibt.
Die SPD-Fraktion fordert deshalb eine grundsätzliche Ausweitung der Energieforschungsaktivitäten.
Dabei muss die gesamte Bandbreite der erneuerbaren
Energien, der Effizienztechnologien und der Speichertechnologien bedacht werden.
Die Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses zur Ablehnung der Anträge ist aus den folgenden
- schon in erster Lesung der Drucksachen
angeführten - Gründen anzunehmen: Erstens lag die
Atomkatastrophe von Fukushima gerade ein Jahr zurück, als die Bundesregierung mit dem 6. Energieforschungsprogramm eine Definition der Schwerpunkte
für die Forschungsförderung der kommenden Jahre
beschloss. Dieses umfasst alle Forderungen aus den
Anträgen der Opposition - Forschungsförderung der
unterschiedlichsten Bereiche, entweder durch einzelne
Ministerien oder in Zusammenarbeit. Diese Programme werden stetig erweitert, sodass keine Belehrungen vonseiten der Opposition im Bereich der Energieforschung vonnöten sind.
Zweitens dient der Euratom-Vertrag nicht alleine
der Erforschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Tatsächlich nämlich sind auch einheitliche Sicherheitsanforderungen beim Strahlenschutz sowie
Kontrollmaßnahmen Gegenstand des Vertrags. Das
macht ihn zu einem wichtigen Teil für die Sicherheitsvorsorge der Bevölkerung. Er dient dem Schutz der
Gesundheit aller Bürgerinnen und Bürger - auch derer, die ihn aufkündigen wollen.
Die Wissenschaftspolitiker stehen vor einer grundlegenden Frage: Wie kann eine Energieforschung aussehen, die die Herausforderung der Energiewende
meistert? Es geht also um die Unterstützung für einen
Prozess des strukturellen Umbaus unserer Energieversorgung - um eine Transformation und damit auch um
Transformationsforschung. Zunächst bedeutet dies,
Finanzen zu priorisieren. Welche Forschungsfelder,
welche Technologiebereiche sind nachhaltig - und
welche eben nicht?
Die Grünen fordern wie meine Fraktion die weitgehende Einstellung der Forschungsförderung in der
Kernenergie. Sie weisen darauf hin, dass der europäische Fusionsreaktor ITER ein Milliardengrab mit geringen Erfolgsaussichten ist und die Beiträge Deutschlands zur europäischen Atomforschung intransparent
blieben. Künftige Energieforschungsprogramme sollten keinerlei Mittel mehr für Atomenergie - ob Fusion,
Transmutation oder Reaktoren der sogenannten vierten Generation - vorsehen. Die Grünen fordern den
Ausstieg aus dem Fusionsprojekt ITER und eine
grundlegende Revision, gegebenenfalls den Ausstieg
aus Euratom. Der Antrag bleibt schlaglichtartig und
verkürzt. Er fokussiert jedoch auf die richtigen Konfliktlinien und nimmt dort eine klare Position ein, die
auch wir Linke in unseren Anträgen vertreten haben.
Auch die Linke spricht sich energisch gegen die Förderung von Projekten aus, die die Entwicklung neuer
Reaktoren zum Ziel haben. Solche Projekte werden
derzeit vor allem im Rahmen von Euratom und weiteren internationalen Kooperationen gefördert. Auch
deutsche Wissenschaftler sind dabei involviert. Dabei
darf der Begriff Reaktorsicherheitsforschung nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei der Entwicklung neuer
Reaktoren immer Sicherheitsaspekte im Mittelpunkt
stehen und sich dieser Begriff kaum zur Abgrenzung
eignet.
Die SPD kann sich offenbar nicht auf eine konkrete
Position zur Atomforschung einigen. Es fehlen in ihrem Antrag jegliche Vorschläge zum Umgang mit ITER
und den angeschlossenen deutschen Projekten sowie
mit Euratom, die wie die Kernfusion ebenfalls den
Großteil der Mittel beansprucht. Die Fusionsforschung macht mit circa 130 Millionen Euro immerhin
etwa ein Fünftel der gesamten Energieforschung des
Bundes aus.
Anzumerken bleibt, dass Euratom fast automatisch
vor dem Ende steht, wenn ITER nicht weitergeführt
wird. Von 2,2 Milliarden Euro Euratom-Mitteln allein
von 2007 bis Ende 2011 waren gut 1,9 Milliarden Euro
für den Bau des Reaktors vorgesehen, also knapp
90 Prozent. Angesichts der Kostensteigerungen wird
dieser Anteil nicht geringer. Für die neue Förderperiode des EU-Forschungsprogramms Horizont 2020 sind
allein 2,573 Milliarden Euro für den ITER-Reaktor
vorgesehen. Die Gesamtausgaben der Bundesrepublik
für die Kernfusion hatten sich bis 2009 schon auf
3,3 Milliarden Euro summiert. Die Kernfusion, so
spannend sie aus wissenschaftlicher Sicht zu betrachten ist, wird auf absehbare Zeit keinen Beitrag zur
Energiewende leisten, sondern befindet sich trotz
jahrzehntelanger Unterstützung im Stadium der
Grundlagenforschung. Es geht uns also nicht um Technikfeindlichkeit, sondern um energiewissenschaftliche
Vernunft. Wir brauchen diese Fördermittel einfach für
andere, nachhaltigere und dezentral anwendbare
Technologien.
Meine Fraktion hat sich ebenfalls klar zur unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid positioniert. Im
SPD-Antrag hingegen fehlt eine solche Position zur
Erforschung und Entwicklung von kohlebasierten
Kraftwerkstechnologien und zur CO2-Speicherung,
CCS. Dabei wäre gerade dazu angesichts der Kakofonie aus der Bundesregierung und auch der unklaren
Haltung des Forschungsministeriums zu dem Thema
eine Position wichtig. Allein die Projektförderung in
dem Bereich machte im vergangenen Jahr über 30 Millionen Euro aus. Die ehemalige Ministerin Schavan
erklärte zwar im vergangenen Sommer, CCS vorerst
nicht weiter fördern zu wollen. Allerdings gelte dies
Zu Protokoll gegebene Reden
nur bis zur Schaffung entsprechender gesetzlicher
Regelungen.
Damit komme ich zur Frage, wo wir denn die Prioritäten in der Energieforschung setzen sollten. Die
Situation der deutschen Solarbranche zeigt es deutlich: Wenn Brüche gemeistert werden müssen, sollte
der Staat die richtigen Rahmenbedingungen setzen.
Wir wollen eine klare Fokussierung auf Innovationen
für die Energiewende: Speicher spielen dabei eine
ebenso große Rolle wie leistungsfähige Netze sowie
das große Feld der Effizienz. Auch die Technologien
zur Energieproduktion müssen weiterentwickelt
werden, da sind längst nicht alle Möglichkeiten ausgereizt. Nicht zuletzt müssen wir an den Rahmenbedingungen der Energiewende forschen: Nachwuchsförderung und Berufsausbildung sollen auf eine
dezentrale Energieversorgung eingestellt werden.
Auch neue ökonomische und soziale Rahmenbedingungen wie der Trend zur Rekommunalisierung von
Netzen und Erzeugern sind wissenschaftlich zu begleiten und zu unterstützen. Und nicht zuletzt steht die
große Aufgabe, diese Transformation ohne soziale
Härten, sondern in einem gerechten Verteilungsmodus
zu gestalten. Positiv können wir an diesem Punkt die
Position der SPD-Fraktion zur Förderung von Dienstleistungen, zur Ausbildung und zu den sozialen
Rahmenbedingungen rund um die Energiewende aufnehmen. Insbesondere zur Verteilung der Kosten bzw.
zur Bevorzugung der Industrie gegenüber den privaten
Verbrauchern und zu notwendigen Fragen des Eigentums an Netzen wäre aus unserer Sicht mehr
Forschung angebracht.
Die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fu-
kushima, der jahrzehntelange Kampf um Gorleben,
der fraktionsübergreifende Atomausstiegsbeschluss
des Deutschen Bundestages und die derzeitigen Ver-
handlungen über ein Standortauswahlgesetz für die
Lagerung des hochradioaktiven Mülls haben deutlich
gemacht, dass Atomkraft eine Technologie ohne Zu-
kunft ist, die wir unseren Kindern und Enkelkindern
besser erspart hätten. Der Ausstieg daraus bedeutet
aber gleichzeitig und konsequenterweise auch, dass
keine weitere Forschung in den Bereichen Kernfusion,
Transmutation und Reaktoren der vierten Generation
betrieben wird und die Fördergelder, die derzeit noch
in die atomare Forschung gesteckt werden, schnellst-
möglich gestoppt werden. Sie müssen umgewidmet
werden in die Erforschung der erneuerbaren Energien,
damit sie einen Beitrag zum Gelingen der Energie-
wende leisten können.
In der Energieforschung gibt es allerdings seitens
der Bundesregierung derzeit keinerlei Bewegung in
die richtige Richtung. Nach wie vor fließt mehr als ein
Drittel des 2,7 Milliarden Euro schweren 6. deutschen
Energieforschungsprogramms - 2011 bis 2014 - in die
atomare Forschung.
Ich habe erst kürzlich eine Kleine Anfrage an die
Bundesregierung mit der Bitte um Aufschlüsselung der
Fördersummen für atomare Forschung am Karlsruher
Institut für Technologie, das sich in meinem Wahlkreis
befindet, gestellt. Die Antwort hat gezeigt, dass derzeit
dort Projekte in Höhe von mehr als 28 Millionen Euro
gefördert werden, darunter auch Forschung für den
Fusionsreaktor ITER. Dieser entpuppt sich bereits seit
geraumer Zeit als Milliardengrab mit geringen Aus-
sichten auf Erfolg und wird in einer Zukunft, in der die
erneuerbaren Energien unschlagbar billig sein wer-
den, nicht mehr gebraucht. Die Bundesregierung sollte
aus diesem Projekt schnellstmöglich aussteigen und
auch die Förderung der Forschung für ITER einstel-
len.
Absenken will die Bundesregierung ihre Fördergel-
der für Atomforschung am KIT im kommenden Pro-
jektzeitraum ab dem Jahr 2015 gerade einmal um
8 Prozent. Diese Zahlen machen deutlich, dass die
derzeitige Bundesregierung die Energiewende nicht
hinreichend ernst nimmt.
In Zeiten der menschengemachten Klimaerwär-
mung, der Jahrhunderthochwasser und der zunehmen-
den Wetterextreme müssen vor allem die Industrienati-
onen es schaffen, bis zum Jahr 2050 mit einem
wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen
und ihre Energieproduktion auf 100 Prozent erneuer-
bare Energien umzustellen. Andernfalls können die
Klimaschutzziele nicht erreicht werden.
Die Energiewende auf der Basis von erneuerbaren
Energien und Energieeffizienz bedeutet eine große
Chance für den Innovations- und Industriestandort
Deutschland. Die Energieforschung muss Wege in eine
klimaverträgliche und ressourcenschonende Energie-
versorgung aufzeigen und dazu beitragen, die erfor-
derlichen Technologien weiterzuentwickeln sowie de-
ren Anwendung und Markteinführung durch öko-
nomische, ökologische und soziale Begleitforschung
zu verbessern. Eine solche Forschungsstrategie ver-
spricht nicht nur die Stärkung der Energiesicherheit
und Nachhaltigkeit, sondern birgt auch enorme wirt-
schaftliche Potenziale.
Die deutsche Forschungslandschaft ist für diese
Neuausrichtung in weiten Teilen gut gerüstet, viele
Forschungseinrichtungen in Deutschland haben durch
ihre Arbeit die Möglichkeit einer Energiewende über-
haupt erst eröffnet. Doch für viele der vor uns liegen-
den Aufgaben fehlt es noch an Grundlagen und geziel-
ten Forschungsprogrammen: So sind zum Beispiel
Speichertechnologien wie auch Mobilitätskonzepte
und energetische Lösungen im Gebäudebereich nicht
ausreichend erforscht und entwickelt. Effizienztechno-
logien für den Energieverbrauch, innovative Technolo-
gien für den erforderlichen großräumigen und verlust-
armen Stromtransport müssen ebenso entwickelt
werden wie Methoden zur Erhöhung der gesellschaftli-
chen Partizipation beim Ausbau der Energiewende.
Gerade die interdisziplinäre Forschung zu sozialwis-
senschaftlichen und technischen Fragen einer Ener-
Zu Protokoll gegebene Reden
giewende mit ihren dezentralen Strukturen wird in der
Hochschullandschaft eher ab- als ausgebaut.
Ein konsequenter Weg hin zu mehr erneuerbaren
Energien, Energieeinsparungen und Energieeffizienz
führt nicht über den Irrweg ITER und den Wiederein-
stieg in atomare Großtechnologien, sondern kann nur
durch eine Umwidmung der Forschungsmittel gelin-
gen.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Bundes-
regierung auf, die Gelder, die derzeit in atomare For-
schung gesteckt werden, einzustellen und sich für ein
möglichst schnelles und umfassendes Gelingen der
Energiewende einzusetzen. Darüber hinaus muss auf
europäischer Ebene eine Revision von Euratom in Be-
zug auf die Sonderstellung der Atomkraft vorgenom-
men werden und, falls diese nicht durchsetzbar ist, der
Euratom-Vertrag von deutscher Seite aus gekündigt
werden. Für privat finanzierte Forschung und Techno-
logieentwicklung muss es finanzielle Anreize geben,
interdisziplinäre Kompetenzzentren für die Energiefor-
schungslandschaft müssen ebenso geschaffen werden
wie zentrale Datenbanken, die den Bürgerinnen und
Bürgern einen verständlichen und transparenten Ein-
blick in die Verwendung öffentlicher Forschungsgel-
der ermöglichen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 17/12450.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11201. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koali-
tionsfraktionen und die Linksfraktion. - Gegenprobe! -
Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/11688. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 50 a und 50 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Gabriele Fograscher, Petra
Ernstberger, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Schaffung einer aufenthaltsrechtlichen Bleiberechtsregelung
- Drucksache 17/7933 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/13565 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff ({1})-
Ulla Jelpke-
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/13424 Überweisungsvorschlag:Innenausschuss ({2})Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion
greift das Thema Bleiberecht für langjährig in
Deutschland lebende ausreisepflichtige Ausländer auf,
das in den letzten Jahren sowohl auf Bundes- als auch
auf Landesebene immer wieder Gegenstand von Anträgen, parlamentarischen Anfragen und kontrovers
geführten Diskussionen war. Er bietet aber keine Lösung. Die Innenministerkonferenz einigte sich im Dezember 2011 darauf, dass eine Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen nach der Bleiberechtsregelung
nicht immer nötig ist, da das Bleiberecht individuell
von den einzelnen Bundesländern verlängert werden
kann. Für die sogenannten Langzeitgeduldeten war im
Jahr 2007 ein Bleiberecht „auf Probe“ mit einer Probezeit von zwei Jahren beschlossen worden. In dieser
Zeit konnten die Betroffenen nachweisen, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst sichern konnten. Das gelang vielen Geduldeten bis Ende 2011 nicht, weswegen
ihre Duldung auf Probe um weitere zwei Jahre verlängert wurde.
Diese Kettenduldungen sind sowohl für die Betroffenen als auch für die Allgemeinheit unbefriedigend.
Die in dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion geforderte Herabsetzung aller Anforderungen für eine Aufenthaltserlaubnis bietet aber weder den Betroffenen
noch der Gesellschaft eine positive Perspektive. Es
können nicht alle betroffenen Ausreisepflichtigen eine
Aufenthaltserlaubnis allein deshalb erhalten, weil sie
eine bestimmte Aufenthaltsdauer in Deutschland vorweisen können. In dem vorgelegten Gesetzentwurf wird
nicht beachtet, dass für einen gesellschaftlichen Zusammenhalt zunächst die erfolgreiche Integration eine
Voraussetzung ist.
Als Integrationsbeauftragter der CDU/CSU-Fraktion betone ich, dass Integrationspolitik erfolgreich
und praktikabel organisiert werden muss, damit wir zu
einem gedeihlichen Miteinander kommen. Wenn wir
das nicht tun, werden wir den Menschen nicht gerecht.
Geduldeten, die sich mangels Sprachkenntnissen und
fehlender Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu sichern, dauerhaft nicht in die Lebensverhältnisse in
Deutschland einfügen können, wird es schwerfallen,
hier eine Zukunft aufzubauen.
Die Anforderungen an die Sicherung des Lebensunterhalts und die Sprachkenntnisse sind ein Anreiz für
Integration. Diese Anforderungen sind auch notwendig, um Pull-Effekte und Zuwanderung in die Sozialsysteme zu vermeiden. Bleiberechtsregelungen sollen
diejenigen fördern, die Anstrengungen unternehmen,
sich in unserem Land zu integrieren, und nicht Ausnahmen schaffen, um Altfälle zu begünstigen.
Die Zahl der geduldeten Ausländer hat in den vergangenen Jahren leicht abgenommen. Heute leben
rund 8 000 Menschen mit einer Duldung in Deutschland, etwa die Hälfte davon bereits länger als sechs
Jahre. Bereits im Koalitionsvertrag hatte die christlich-liberale Koalition einen Handlungsbedarf beim
Bleiberecht festgehalten und zahlreiche Verbesserungen auf den Weg gebracht.
Mit der Einführung eines eigenständigen Aufenthaltstitels für gut integrierte geduldete Jugendliche
und Heranwachsende, die sich schon lange in
Deutschland aufhalten, erfolgreich die Schule besuchen oder einen Schul- oder Berufsabschluss haben,
wurde eine fundamentale humanitäre Verbesserung
und Zukunftssicherung ermöglicht. Mit dieser Regelung werden die erbrachten Integrationsleistungen von
jungen Menschen entsprechend honoriert. Ihr Aufenthaltstitel ist nicht mehr untrennbar mit dem Schicksal
ihrer Eltern verbunden. Gut integrierten Jugendlichen
wird eine Perspektive in Deutschland nicht deshalb genommen, weil die Eltern keine Aufenthaltsberechtigung haben.
Die Beherrschung der Sprache ist der Schlüssel zu
einem selbstbestimmten Leben und wirtschaftlicher
Unabhängigkeit. Es wäre deshalb nicht im Interesse
der Betroffenen selbst, die Anforderungen an ihre
Sprachkenntnisse herabzusetzen. Ohnehin sind die jetzigen Anforderungen als Mindeststandard anzusehen.
Eine aufenthaltsrechtliche Bleiberechtsregelung
sollte beachten, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an einen geduldeten und somit eigentlich
ausreisepflichtigen Ausländer nur sinnvoll ist, wenn
der Betroffene Deutschland aus von ihm unverschuldeten Gründen über längere Zeit nicht verlassen konnte,
er sich unter Aneignung von Sprachkenntnissen integriert hat und seinen Lebensunterhalt selbst sicherstellen kann. Eine Bleiberechtsregelung, die auch zu einer
Begünstigung von Geduldeten führt, die die Ursache
für die Kettenduldungen, zum Beispiel durch fehlende
Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung, selbst herbeigeführt haben, ist abzulehnen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorliegende Gesetzentwurf den praktischen Anforderungen
einer Bleiberechtsregelung nicht gerecht wird und deshalb abzulehnen ist.
Wir sprechen heute über einen Gesetzentwurf, den
wir fast inhaltsgleich schon einmal 2009 in den Bundestag eingebracht haben und dann wiederholt im November 2011. Es geht um den Umgang mit Menschen,
die seit Jahren mit uns in Deutschland leben, keinen
gesicherten Aufenthaltsstatus und keine gesicherte Lebensperspektive haben, die wir auf der anderen Seite
jedoch auch nicht haben abschieben können und die
sich in Deutschland integriert haben. Es geht also um
den Umgang mit sich langjährig bei uns aufhaltenden
Geduldeten.
Wenn es allein nach uns gegangen wäre, dann gäbe
es heute keine Geduldeten mehr: In den Beratungen
zum Zuwanderungsgesetz hatten wir gefordert, die
Duldung grundsätzlich abzuschaffen. Damit konnten
wir uns gegenüber der Unionsfraktion aber im Bundestag und Bundesrat nicht durchsetzen.
Immer wieder haben die Innenminister der Länder
mit verschiedenen Altfall-/Bleiberechtsregelungen versucht, Menschen, die lange Voraufenthaltszeiten in
Deutschland haben, unter bestimmten, genau definierten Bedingungen dann einen gesicherten Aufenthalt zu
ermöglichen. Diese Regelungen waren allerdings alle
- ebenso wie die im Jahr 2007 über §§ 104 a und b in
das Aufenthaltsgesetz aufgenommene Bleiberechtsregelung - Stichtagsregelungen.
Die gesetzliche Bleiberechtsregelung gewährte zudem häufig nur eine Aufenthaltserlaubnis auf Probe,
nämlich immer dann, wenn die eigene Sicherung des
Lebensunterhalts noch nicht gegeben war. Innerhalb
der Probezeit hatte der Ausländer dann die Pflicht,
sich um eine entsprechende Arbeit zu bemühen, was
aus vielerlei Gründen nicht immer gelingen konnte.
Lediglich mit § 25 a Aufenthaltsgesetz wurde eine
stichtagsunabhängige Regelung für Jugendliche getroffen.
Diese Maßnahmen zeigten durchaus Wirkung und
waren für viele ehemals Geduldete ein Weg hin zu einem gesicherten Aufenthaltsrecht in Deutschland. Bis
zur Einführung der gesetzlichen Bleiberechtsregelung
2007 gab es in Deutschland schätzungsweise 180 000
Geduldete, danach sank die Zahl auf schätzungsweise
100 000. Im Ergebnis haben jedoch weder die Bleiberechtsregelungen der Innenminister noch die bestehende gesetzliche Bleiberechtsregelung das Problem
der Kettenduldungen abgeschafft.
Jedes Jahr, das seither verstreicht, wachsen wiederum weitere Menschen mit einer ungesicherten Aufenthaltsperspektive bei uns heran, deren Aufenthaltszeiten sich summieren. Deshalb werden wir nicht müde
werden, hier endlich für Abhilfe zu sorgen.
Wir wollen eine stichtagsunabhängige Regelung.
Ausländer, die unverschuldet nicht ausreisen können,
sollen eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Erfasst werden sollen Personen, die als Alleinstehende seit acht
Zu Protokoll gegebene Reden
Jahren in Deutschland leben, bzw. seit sechs Jahren,
wenn sie mit einem oder mehreren Kindern in häuslicher Gemeinschaft leben. Um möglichst viele Personen aufzufangen und eine realistische Regelung zu
schaffen, wollen wir die Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherung so ausgestalten, dass an erster
Stelle zwar die überwiegende Sicherung des Lebensunterhaltes steht, aber auch das ernsthafte Bemühen um
Arbeit als ausreichend anzusehen ist. Für Ausländer,
die ihren Lebensunterhalt aufgrund von Krankheit, Behinderung oder aufgrund der Versorgung und Erziehung von Kindern nicht überwiegend haben sichern
können, wollen wir Ausnahmen. Außerdem wollen wir
eine Regelung für Minderjährige schaffen. Diese sollen bei günstiger Integrationsprognose nach vier Jahren eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Menschen, die
einen Schulabschluss in Deutschland gemacht haben,
wollen wir sofort eine Aufenthaltserlaubnis erteilen.
Schließlich wollen wir für Altfälle mit einem Aufenthalt von einem Jahrzehnt und mehr eine noch weitreichendere Ausnahme von den allgemeinen Voraussetzungen einführen.
Die von uns angestrebte echte fortlaufende Bleiberechtsregelung unterscheidet uns deutlich von den Vorstellungen der Regierungsfraktionen. Wir wollen die
immer noch bestehende unsägliche Praxis der Kettenduldungen endlich abschaffen, Menschen, die jahrelang in Deutschland leben, eine Perspektive geben und
Integrationsleistungen honorieren und würdigen.
Am 8. Mai 2013 hat der Bundesrat ebenfalls einen
Gesetzentwurf für eine Bleiberechtsregelung vorgelegt. Viele der von uns für wichtig erachteten Regelungen sind auch in diesem Entwurf enthalten. Ausschlaggebendes Kriterium sind für den Bundesrat erbrachte
Integrationsleistungen. Dem können wir uns gut anschließen. Der Antrag des Bundesrates stellt allerdings höhere Anforderungen an die Lebensunterhaltssicherungspflicht. Er lässt anders als unser Entwurf
das ernsthafte Bemühen um Arbeit nicht ausreichen,
lässt allerdings aber auch Ausnahmen für Familien
und Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern zu.
Ich empfehle selbstverständlich Zustimmung zu unserem Gesetz. Im Falle der Zustimmung halte ich die
Bundesratsinitiative für erledigt, weil alle im Gesetzentwurf des Bundesrates enthaltenen Neuerungen
auch in unserem Gesetz zu finden sind. Sollte unser
Gesetz aber keine Zustimmung bekommen, dann empfehle ich die Zustimmung zu dem Gesetzentwurf des
Bundesrates.
Wir, die Koalition aus CDU/CSU und FDP, haben
vor zwei Jahren den Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung geschaffen. Erstmals wurde für minderjährige und heranwachsende
geduldete Ausländer ein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in einem Bundesgesetz
geschaffen. Das ist humanitäre Rechtssicherheit. Die
große Schwierigkeit einer sinnvollen, alle Betroffenen
erfassenden Bleiberechtsregelung besteht darin, einerseits den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen
abzuschaffen, andererseits aber die Zuwanderung
nach Deutschland so zu steuern, dass diese auch nachhaltige Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern
findet. Eine dauerhafte Regelung zu finden, die das
Problem der Kettenduldungen nachhaltig löst, zugleich aber keine unerwünschten Anreize zur Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme Deutschlands schafft, ist nach wie vor eine Herausforderung.
Daran ändert auch der fast zwei Jahre alte SPD-Antrag nichts.
Der vorliegende Gesetzentwurf thematisiert zwar
zum wiederholten Male tapfer das erstgenannte Problem, zeigt aber keine Lösung für das zweite auf. Als
FDP sind wir sehr daran interessiert, eine nachhaltige
Lösung beim Bleiberecht zu finden, die stichtagsunabhängig an Integrationsmerkmalen orientiert sein
sollte. Bemerkenswert ist der Zeitpunkt des Antrags.
Ein ernsthaftes Bemühen der SPD, hier eine Lösung zu
finden, kann nicht in der vorletzten Sitzungswoche der
Legislaturperiode beginnen. Inhaltlich gilt: Es hilft
niemandem weiter, wenn die SPD de facto fordert, auf
jegliche Zuwanderungssteuerung zu verzichten. Vielmehr erweist die SPD damit den Bemühungen um Ausländerintegration einen Bärendienst. Wer einem schrankenlosen Daueraufenthaltsrecht in vermeintlich humanitärer Gesinnung das Wort redet, riskiert die steigende
Ablehnung der Bevölkerung gegen Zuwanderer. Tatsächliche Integration in Deutschland muss das zentrale Kriterium sein. Der eigenständige Lebensunterhalt ist dabei, anders als die Sozialdemokraten es sehen, von
entscheidender Bedeutung. Ihr Antrag verneint die
Notwendigkeit einer tatsächlichen eigenständigen Lebensunterhaltssicherung für Menschen, die ein Aufenthaltsrecht in Deutschland suchen. Ein „ernsthaftes Bemühen“ darum soll reichen. Wie und mit welchem
Aufwand die Behörden dieses „ernsthafte Bemühen“
kontrollieren sollen, bleibt eine offene Frage. Klar ist,
dass ernsthaftes Bemühen allein die Sozialkassen nicht
entlastet. Wer die Zahl der Sozialleistungsempfänger
vergrößern will, wie die SPD das mit dem vorliegenden Gesetzentwurf tut, der sollten den bisherigen Leistungsempfängern sagen, dass sie Konkurrenz bekommen.
Die Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständigen Lebensunterhalt, wenn auch nach einer
Übergangszeit, zu bestreiten, ist sehr wohl ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Das dient der
Integration. Aber auch hier gilt: Es muss den Betroffenen frühzeitig ermöglicht werden, arbeiten zu dürfen.
Die FDP begrüßt mit Nachdruck, dass nun die Frist
für die Arbeitserlaubnis auf neun Monate verkürzt
wird. Das war Ergebnis unserer Bemühungen. Es
bleibt unser Ziel, sie weiter herabzusetzen. Human ist
nicht die Zementierung eines Bittstellerstatus für imZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
mer mehr Menschen in unserem Land, sondern die Eröffnung von Lebenschancen, wie die Koalition aus
CDU/CSU und FDP es tut. Zuwanderer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche
Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, die Grund- und
Menschenrechte sind das für alle geltende Fundament
unserer Gesellschaft.
Wir verbinden wirksame Integration mit der aktiven
Steuerung von Zuwanderung, ökonomische Vernunft
und Fairness, Offenheit und Klarheit, Fördern und
Fordern. Dieser rote Faden zieht sich durch die christlich-liberale Integrations- und Migrationspolitik: Wir
haben die Visawarndatei eingeführt. Wir erleichtern so
den für ein weltoffenes Industrieland wie Deutschland
unverzichtbaren internationalen Reiseverkehr und
stärken zugleich die Sicherheit unseres Landes - ohne
ausufernde Datenerfassung und unter Wahrung der
Bürgerrechte. Wir haben die aufenthaltsrechtlichen
Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen geändert,
um den Schul- und Kindergartenbesuch von Kindern
zu gewährleisten, und die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Wir haben die Stabilisierungszeit für
Menschenhandelsopfer auf drei Monate ausgedehnt
und sind damit einem dringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Polizei gefolgt. Wir haben es
ermöglicht, dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch
hin von Nichtregierungsorganisationen besucht werden dürfen, und die Bedingungen für die Abschiebehaft
signifikant verbessert. Wir haben erstmals ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen geschaffen
und den eigenständigen Straftatbestand der Zwangsheirat eingeführt. Das ist aktiver Opferschutz und ein
klarer Appell, unsere freiheitliche Werteordnung zu
achten.
Die Koalition aus Union und FDP hat tatsächlich
eine neue Zuwanderungs- und Integrationspolitik auf
den Weg gebracht, die sich vom ideologischen Ballast
links-rot-grüner Utopien befreit hat. Die zu Ende gehende Legislaturperiode waren vier gute Jahre für
Deutschland. Wir Liberale realisieren eine neue Kultur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen
auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen
und Perspektiven eröffnet. Wir geben Menschen Chancen. Hier werden wir weiterarbeiten.
Das Problem von Kettenduldungen besteht in
Deutschland seit Beginn der 90er-Jahre. Der Begriff
Kettenduldungen meint, dass über einen langen Zeitraum hinweg immer wieder nur kurzfristige Bescheide
über die Duldung des Aufenthalts erteilt werden, zum
Teil nur für wenige Tage, und das jahrelang. Mitte der
90er-Jahre war zeitweise der Aufenthalt von über
400 000 Menschen lediglich geduldet. Sie waren durch
die weiten Maschen des Asylrechts gefallen und hatten
keine Chance auf Anerkennung. Durch mehrere Altfallregelungen, aber leider auch durch zahlreiche Abschiebungen und noch mehr erzwungene „freiwillige“
Ausreisen wurde die Zahl der Geduldeten mittlerweile
auf 85 000 reduziert. Die im Zuwanderungsgesetz von
2005 vorgesehenen Regelungen zur Vermeidung sogenannter Kettenduldungen sind nahezu wirkungslos geblieben. Entsprechende Aufenthaltserlaubnisse - nach
§ 25 Abs. 5 AufenthG - werden kaum erteilt, weil die
misslungene rot-grüne Gesetzesvorschrift daran anknüpft, dass Betroffene „unverschuldet“ an der „Ausreise“ gehindert sein müssen, was Ausländerbehörden
nahezu immer verneinen. Fast die Hälfte der langjährig Geduldeten hält sich schon seit über fünf Jahren in
der Bundesrepublik auf. Deshalb debattieren wir im
Bundestag seit Jahren über Vorschläge, wie Kettenduldungen endlich wirksam beendet werden können.
Denn das Leben in jahrelanger Ungewissheit über die
weitere Zukunft und die zahlreichen Einschränkungen
des lediglich geduldeten Aufenthalts zermürben viele
Menschen.
Unter den 85 000 Geduldeten in Deutschland sind
22 000 noch minderjährig. Sie wachsen in Verhältnissen auf, die alles andere als förderlich für ihre Entwicklung sind: Sie leben in Sammelunterkünften, sie
unterliegen der Residenzpflicht, ihre Eltern haben
über viele Jahre hinweg keinen normalen Zugang zum
Arbeitsmarkt, und auch für die Kinder ist nicht absehbar, ob sie jemals die Erlaubnis erhalten, eine Ausbildung zu beginnen.
Gerade auf diese jungen Menschen zielte die letzte
von der Regierungskoalition beschlossene Bleiberechtsregelung für besonders gut integrierte Jugendliche.
Nach sechs Jahren Aufenthalt und guten Schulleistungen oder einer begonnenen Ausbildung erhalten sie nun
eine Aufenthaltserlaubnis. Davon haben bislang etwa
2 500 Jugendliche profitiert. Das begrüßen wir. Angesichts der großen Zahl an minderjährigen Geduldeten
bleibt aber festzuhalten: Auch diese Regelung setzt die
Hürden für eine Aufenthaltserlaubnis deutlich zu hoch
an. Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
will zumindest die geforderte Voraufenthaltszeit der
Jugendlichen von sechs auf vier Jahre absenken. Allerdings hält er zugleich an der Ausschlussklausel fest,
dass den Jugendlichen vermeintliche Täuschungen
über ihre Identität oder fehlende Mitwirkung bei der
Abschiebung als Grund vorgehalten werden können,
ihnen ein Bleiberecht zu verweigern. Wohlgemerkt, es
sind Handlungen der Eltern, die den Jugendlichen hier
vorgehalten werden, die sie also selbst gar nicht zu
verantworten haben. Auch die Regelung, dass die Eltern nur bei eigenständiger Lebensunterhaltssicherung ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, ansonsten aber weiter nur geduldet werden, lässt der
Gesetzentwurf des Bundesrates unangetastet.
Daneben will der Bundesrat die sogenannte Altfallregelung aus dem Jahr 2009 zu einer allgemeinen
Bleiberechtsregelung ausbauen; die vorgeschlagene
Zu Protokoll gegebene Reden
Regelung enthält also keinen Stichtag mehr. Allerdings
stellt auch die vorgeschlagene Regelung Anforderungen an die eigenständige Lebensunterhaltssicherung,
Deutschkenntnisse, einen mindestens sechsjährigen
Voraufenthalt bei Familien oder acht Jahre bei Alleinstehenden. Vermeintliche Täuschungen über die
Identität und fehlende Mitwirkung sollen auch nach dem
Bundesratsvorschlag zum Ausschluss vom Bleiberecht
führen. Damit werden wiederum zahlreiche Anforderungen geschaffen, die für viele der Betroffenen kaum
erfüllbar sind.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sieht an dieser Stelle wenigstens eine Art Auffangregelung für diejenigen vor, die diese Anforderungen nicht erfüllen
können. Ihnen soll nach spätestens zwölf Jahren eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn keine Sicherheitsbedenken bestehen und keine rechtskräftige
Ausweisungsverfügung vorliegt. Derzeit sind immerhin etwa 16 000 Menschen seit zwölf Jahren und mehr
geduldet. Auch ansonsten sieht der Gesetzentwurf gegenüber dem Entwurf des Bundesrates mildere Anforderungen vor. Beispielsweise soll ein Bemühen um Arbeit ausreichend sein, Kindern soll bei guter Integrationsperspektive bereits nach vier Jahren ein Bleiberecht erteilt werden, die Eltern werden einbezogen.
Wir begrüßen den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion
deshalb als Schritt in die richtige Richtung und werden
ihm zustimmen.
Generell bleibt es aber bei der Kritik der Fraktion
Die Linke an den Bedingungen, die immer wieder für
die Erteilung eines Bleiberechts gestellt werden. Es ist
geradezu zynisch, nach jahrelanger erzwungener Untätigkeit und Unterbringung in entlegenen Sammelunterkünften eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung und Deutschkenntnisse zu verlangen. Die meisten
Betroffenen unterliegen seit ihrer Ankunft in Deutschland der Residenzpflicht; sie durften über Jahre ihre
Kommune oder ihren Landkreis, im besten Fall ihr
Bundesland nie ohne Erlaubnis verlassen. Der Verlust
jedweder Selbstbestimmung über das eigene Leben ist
das zentrale Integrationshemmnis für diese Menschen.
Eine Bleiberechtsregelung, die das berücksichtigt,
wird deshalb keine andere Anforderung stellen als eine
Voraufenthaltszeit von höchstens fünf Jahren. Einen
entsprechenden Vorschlag für eine kurze und einfache
Neuregelung im Aufenthaltsgesetz haben wir in dieser
Wahlperiode bereits vorgelegt. Sie entspricht auch den
Forderungen zahlreicher Initiativen und Verbände, die
sich seit Jahren für eine Bleiberechtsregelung einsetzen. Deren Anliegen werden wir auch künftig in den
Bundestag tragen.
Die vom Bundesrat beschlossene Bleiberechtsregelung kann das immer noch bestehende Problem der
Kettenduldungen deutlich eingrenzen. Der Gesetzesvorschlag sieht vor, dass Flüchtlinge eine dauerhafte
Perspektive in Deutschland erhalten können, wenn sie
sich seit mehr als acht Jahren oder als Familie mehr
als sechs Jahre in Deutschland aufhalten.
Grundsätzlich müssen sie ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern und straffrei geblieben sein. Aus
humanitären Gründen bezieht die neue Bleiberechtsregelung aber auch die Menschen mit ein, die Anforderungen wie die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts nicht erfüllen können, weil sie zum Beispiel
alt oder krank sind.
Die neue Bleiberechtsregelung könnte mindestens
35 000 Menschen zugutekommen, die laut Aussage der
Bundesregierung Ende 2012 mehr als sechs Jahre nur
geduldet in Deutschland lebten. Sie hätten nach Jahren des unsicheren Aufenthalts in Deutschland endlich
einen rechtmäßigen Aufenthaltsstatus und endlich eine
Zukunftsperspektive.
Aus Sicht der grünen Bundestagsfraktion hätten wir
uns einen noch großzügigeren Gesetzesvorschlag gewünscht - dies ist derzeit aber nicht mehrheitsfähig.
An die Erfüllung von Mitwirkungspflichten dürfen
aus unserer Sicht vor allem für minderjährige Kinder
keine überzogenen Anforderungen gestellt werden. Allenfalls fortgesetzte, vorsätzliche und schwerwiegende
Verletzungen von Mitwirkungspflichten sollten zum
Ausschluss von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Insbesondere die Frage, ob eine Passlosigkeit selbst verschuldet ist, ist oftmals nicht eindeutig zu
beantworten. Asylfolgeanträge sind in vielen Fällen
aufgrund der politischen Entwicklungen im Herkunftsland oder einer Änderung der Rechtsprechung sinnvoll
und gerechtfertigt. Das Ausschöpfen des Rechtsweges
darf im Rechtsstaat nicht negativ sanktioniert werden.
Es bleibt festzuhalten, dass trotz verschiedener Altfall- und Bleiberechtsregelungen in den vergangenen
Jahren eine grundlegende Lösung jedoch weiterhin
fehlt.
Stichtagsregelungen führen immer wieder zu neuen
humanitären Härtefällen. Daher ist eine dauerhafte
gleitende Bleiberechtsregelung ohne festen Stichtag
notwendig, die auch auf zukünftige Fälle Anwendung
finden kann.
Nur eine großzügige Bleiberechtsregelung, die auch
humanitären Grundsätzen genügt, ist auf Dauer geeignet, das Problem der Kettenduldungen zu lösen und
den betroffenen Menschen eine gesicherte Lebensperspektive zu eröffnen.
Es bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Gesetzesvorstoß des Bundesrates zur Schaffung einer gesetzlichen Bleiberechtsregelung auch bei den Koalitionsfraktionen auf Zustimmung stößt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 50 a. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13565, den Gesetzentwurf der Fraktion der
SPD auf Drucksache 17/7933 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Das sind Sozialdemokraten und
Linksfraktion. Wer stimmt dagegen? - Koalitionsfraktionen. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit
entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 50 b. Interfraktionell wird
die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13424 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 47 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Uranmunition ächten
- Drucksachen 17/11898, 17/13559 Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterUta ZapfBijan Djir-SaraiJan van AkenHans-Christian Ströbele
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir sind heute hier, um einen Antrag der Linken zu
diskutieren, der unter anderem die Forderung enthält,
Uranmunition zu ächten. Zunächst eine Klarstellung
vorweg: Welche Intention die Abgeordneten von der
Linken dabei verfolgen, erschließt sich mir nicht; denn
die deutsche Bundeswehr verwendet überhaupt keine
uranhaltigen Geschosse. So hat die Bundesregierung
bereits 2008 in einer Sitzung der Generalversammlung
der Vereinten Nationen zusammengefasst, dass - ich
zitiere - „the German Federal Armed Forces are not
stockpiling and have never used armaments or deployed ammunition containing depleted uranium“.
Eine Ächtung von Uranmunition hätte demnach innerhalb Deutschlands keinen Effekt, und durch ein Verbot
würde sich nichts ändern.
Was können wir auf globaler Ebene mit einer Ächtung erreichen. Wenig, das muss ich leider konstatieren. Souveräne Staaten setzen ihr Recht selbst, unsere
Gesetze gelten nur innerhalb Deutschlands. Eine Ächtung von Uranmunition hätte somit außerhalb unseres
Staates keinen direkten Effekt. Mit einem unilateralen
Akt der Ächtung isolieren wir uns nur auf der internationalen Bühne. Ein Verbot von Urangeschossen hat
allein im Zuge von langfristigen bilateralen Verhandlungen oder im Rahmen internationaler Foren wie beispielsweise den Vereinten Nationen oder der Europäischen Union eine Aussicht auf Erfolg. Kooperation
statt Konfrontation sollte die Maxime unserer Politik
hier lauten. Statt vorschnell vorzupreschen, ist es besser, zuerst den Dialog mit unseren Verbündeten zu suchen.
Nicht zuletzt muss uns bewusst sein, dass ein Großteil wissenschaftlicher Studien keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Urangeschossen und negativen
gesundheitlichen Folgewirkungen nachweisen konnte.
Die Weltgesundheitsorganisation hat umfangreiche
Analysen zu dieser Thematik vorliegen, in denen sie zu
dem Schluss kommt, dass 98 Prozent der über die Nahrung aufgenommenen und 95 Prozent der eingeatmeten Uranpartikel schon nach wenigen Tagen vollständig abgebaut sind. Das Institut für Radiobiologie der
Bundeswehr, das fachlich-wissenschaftliche Kompetenzzentrum der Bundeswehr zu medizinischen Fragen
im Zusammenhang mit ionisierender Strahlung, wertet
die wissenschaftliche Fachliteratur zum Thema „abgereichertes Uran“ regelmäßig aus. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die eine Neubewertung des
gesundheitlichen Risikos durch den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran notwendig machen, liegen bisher nicht vor.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, eine breite Koalition internationaler Organisationen schließt sich dieser Meinung an. Fleißige, engagierte Helferinnen und Helfer wie zum Beispiel vom
Internationalen Roten Kreuz, die oftmals jahrzehntelang in Krisenregionen aktiv waren, in denen Uranmunition zur Anwendung kam, sehen immer noch keinen
Grund, eine Ächtung von uranhaltigen Geschossen zu
fordern. Das sollte uns nachdenklich stimmen.
Auf nationaler Ebene hat sich unter anderem auch
das Institut der Radiobiologie unserer Bundeswehr mit
der Debatte um die Urangeschosse befasst und ist zum
gleichen Schluss gekommen: Der Einsatz von Uranmunition kann nicht als ursächlich für den Ausbruch
verschiedener Krankheiten in den Folgejahren nachgewiesen werden. Gleichwohl gilt es, die Bedenken
ernst zu nehmen und durch weitergehende Untersuchungen eventuelle Risiken schließlich einzugrenzen
oder ganz auszuschließen.
Als Sicherheitspolitiker und Präsident des Reservistenverbandes geht mir diese Thematik besonders nahe,
und ich stimme den Antragstellern zu, dass jede Gefährdung unserer Soldatinnen und Soldaten wie auch
der Zivilgesellschaft in den Einsatzgebieten unter allen Umständen zu verhindern ist. Deshalb bin ich auch
erleichtert, dass uns keine Erkenntnisse vorliegen, die
ein gesundheitliches Gefährdungspotenzial durch
Urangeschosse validieren. Die Implikation des Antrags der Linken, dass Deutschland nicht genügend
Sorge für die Sicherheit seiner Soldaten und Soldatinnen trägt, finde ich empörend und traurig. Es passt
aber zum allgemeinen sicherheitspolitischen Erscheinungsbild dieser Partei.
Um das gesundheitliche Wohlbefinden unserer Soldatinnen und Soldaten auch in Zukunft optimal gewährleisten zu können, schlage ich eine Fortdauer und
Intensivierung der Forschung über die Spätfolgen der
Verwendung von uranhaltigen Geschossen vor. Nicht
zuletzt sollte dafür auch der Schulterschluss mit der internationalen Staatengemeinschaft gesucht werden.
Unsere Verbündeten wie die Vereinigten Staaten,
Großbritannien und Frankreich leisten bereits heute
einen substanziellen Beitrag zur wissenschaftlichen
Aufarbeitung des Sachverhaltes - von einer Vernetzung der Anstrengungen können wir alle profitieren.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich die Debatte
um die Urangeschosse noch einmal innerhalb eines
breiteren Kontextes beleuchten. Auch wenn der Antrag
der Linken etwas anderes nahelegt, so ist Deutschland
doch den Statuten des humanitären Völkerrechtes tief
verpflichtet und verbunden. Als etwa im August 2010
das Abkommen über Streumunition verabschiedet
wurde, haben wir sofort Schritte ergriffen, um unsere
Restbestände zu vernichten. Durch großzügige Finanzhilfen der Regierung wird es uns voraussichtlich sogar
gelingen, die Auflagen des Vertrages lange vor Ablauf
der Frist zu erfüllen. Das ist ein echter politischer Erfolg.
Oder um auf ein noch aktuelleres Beispiel zu verweisen: Erst vor wenigen Tagen hat unser Außenminister Guido Westerwelle in New York den internationalen Waffenhandelsvertrag unterzeichnet. In den letzten
Sitzungswochen wird er vom Deutschen Bundestag ratifiziert. Das völkerrechtliche Übereinkommen wird
nicht nur den Handel mit konventionellen Waffen regulieren, sondern auch kontrollieren, dass keine Abgabe
an Akteure erfolgt, die verdächtigt werden, Verbrechen
im Sinne des Völkerstrafrechts damit zu planen. NonProfit-Organisationen wie Amnesty International haben sich sehr lobend über das Abkommen geäußert,
und auch wir sind zuversichtlich, dass es in Zukunft
dazu beitragen wird, ethische Standards und Rüstungsexporte miteinander zu balancieren.
Unser Engagement gegen Streumunition und die
Zustimmung zum Waffenhandelsvertrag verdeutlichen,
dass unsere Position im Fall der uranhaltigen Geschosse nicht das Produkt politischer Apathie, sondern
eine Reflexion politischer und diplomatischer Rationalität darstellt. Zum momentanen Zeitpunkt ist eine Bewertung von Uranmunition als völkerrechtswidrig unzulässig. Selbst Staaten wie die Niederlande und
Schweden - üblicherweise nicht bekannt als Verächter
des humanitären Völkerrechts - verwenden uranhaltige Geschosse. So kann ein Konsens für die Ächtung
nicht einmal auf europäischer, geschweige denn auf internationaler Ebene angenommen werden.
Wir sollten unsere Anstrengungen auf ein realistisches und sinnvolles Ziel lenken: einen vertieften Dialog mit unseren Verbündeten und eine kontinuierliche
wissenschaftliche Aufarbeitung.
Die Fraktion der Linken fordert heute zum wiederholten Male den Bundestag auf, Uranmunition international zu ächten. Ihrer Meinung nach ist Munition
mit abgereichertem Uran, Depleted Uranium, DU,
umweltschädlich und verantwortlich für Umweltverseuchung in den Einsatzgebieten, in denen sie verwendet wurde. Liebe Kollegen der Linkspartei, Sie unterlegen Ihren Antrag nicht etwa mit wissenschaftlich
fundierten Beweisen oder Erkenntnissen. Stattdessen
betonen Sie, dass „der Einsatz von DU-Munition gravierende langfristige Folgen für die Menschen und die
Umwelt haben [kann]“. Sie erwecken damit den Eindruck, dass es Beweise für die Gefahr von DU-Munition gibt. Studien der NATO,UNEP, IAEA, WHO und
der Europäischen Union beweisen hingegen, dass kein
Zusammenhang zwischen DU-Munition und den hier
vorgebrachten Vorwürfen besteht. Selbst das Internationale Rote Kreuz sieht keinen Anlass, ein Moratorium für DU-Munition zu fordern.
Lassen Sie mich eins klarstellen: Die Bundeswehr
setzt keine DU-Munition ein und beabsichtigt auch
nicht, sie einzusetzen. Deutsche Unternehmen sind
nicht an der Produktion von DU-Munition beteiligt.
Auch wenn die Eigenschaft des Materials für eine Verwendung sprechen würde, haben wir uns dazu entschieden, anderes Material zu verwenden. Unsere
Soldaten sind mit besseren und sichereren Materialien
ausgestattet, die eine höhere Wirkung und einen besseren Schutz bieten, als dies mit DU-Munition und DUPanzerung möglich wäre. Auch wenn diese Alternativprodukte in der Herstellung kostenintensiver sind, so
liefern sie doch eine bessere Schutzwirkung für unsere
Soldatinnen und Soldaten. Dies sollte und ist auch die
oberste Prämisse, die wir als christlich-liberale Koalition an unsere Beschaffungen für die Bundeswehr
haben.
Realistisch betrachtet, gibt es zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keinen Grund, den Einsatz der DU-Munition
zu verbieten. Es gilt den Antrag der Linkspartei abzulehnen, da er sich nur auf Vermutungen und moralisch
aufgeladene Behauptungen stützt, die allesamt durch
wissenschaftliche Studien widerlegt wurden.
Ein Geschoss soll ein Ziel zerstören. Enthält das
Geschoss, wie Uranmunition, keinen Sprengstoff, beruht seine zerstörerische Wirkung allein auf seiner Bewegungsenergie. Kaum eine andere Waffe kann so gut
Zu Protokoll gegebene Reden
Panzer und Bunker „knacken“ wie Uranmunition. Ihre
durchschlagende Wirkung erreichen die Geschosse
dank ihres Kerns aus abgereichertem Uran, das aufgrund seines großen Gewichts eine extreme Wucht
beim Aufprall entfaltet und die meisten Panzerungen
mühelos durchbohrt. Die beim Einschlag entstehenden
Temperaturen und Kräfte sind so hoch, dass das Geschoss schmilzt und zum Teil zerstäubt. Der entstehende Uranstaub entzündet sich und verstärkt den Zerstörungseffekt des Geschosses. Damit ist das
militärische Ziel des Geschosses erreicht.
Urangeschosse hinterlassen aber noch einen Nebeneffekt. Durch das Schmelzen, Zerstäuben und Entzünden des Urans entstehen Uranpartikel und Uranoxide, die als Schwebteilchen - Aerosole - und Stäube
in die Umgebungsluft gelangen. Menschen, die sich
am Ort der Einschläge aufhalten, atmen diese Teilchen
und Stäube ein oder nehmen sie mit der Nahrung auf.
Da Uran immer radioaktiv ist, sind es auch die Aerosole und Stäube. Folglich sind die betroffenen Menschen neben der chemischen Belastung durch das
Schwermetall Uran einer zusätzlichen Belastung
durch radioaktive Strahlung ausgesetzt. Beides kann je
nach aufgenommener Uranmenge zu einer schwerwiegenden Erkrankung führen.
Uranmunition wurde in den 1970er- und 1980erJahren entwickelt und erstmalig im großen Stil von den
USA im Golfkrieg 1991 eingesetzt. Seitdem haben immer mehr Länder die Geschosse in ihre Waffenarsenale aufgenommen, und in vielen Konflikten, vom
Jugoslawieneinsatz bis zum Irakkrieg, wurde Uranmunition verschossen.
Nach NATO-Angaben wurde Uranmunition im
Golfkrieg und auf dem Balkan eingesetzt; auch im
Irakkrieg im Jahre 2003 kam Uranmunition zum Einsatz. Informationen des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums zufolge wurde im Golfkrieg von
verschiedenen Waffensystemen eine Uranmenge von
insgesamt etwa 330 Tonnen verschossen. Nach Angaben des deutschen Verteidigungsministeriums wurden
im Kosovo 31 000 Urangeschosse und in Bosnien-Herzegowina 10 800 Urangeschosse abgefeuert. Dies entspricht einer Uranmenge von circa 11,5 Tonnen.
Es gibt aber immer mehr Hinweise, dass diese Supermunition gefährliche Spätfolgen für Mensch und
Umwelt hat. In den betroffenen Gebieten sind durch
den Einsatz von Uranmunition erhebliche Mengen von
Uranstäuben und uranhaltigen Aerosolen entstanden,
die durch Aufwirbelung immer wieder in die Umgebungsluft gelangen und somit eine Gefahr für sich dort
aufhaltende Menschen bilden können. Eine mögliche
Gefährdung durch die Strahlung von auf dem Boden
abgelagertem Uran oder von dort liegenden Blindgängern ist demgegenüber vernachlässigbar.
In Gebieten, in denen Uranmunition eingesetzt
wurde, steigen auf Verstrahlung und Vergiftungen zurückzuführende Erkrankungen und Missbildungen
massiv an; besonders häufig sind Kinder betroffen. Im
Boden stecken gebliebene Projektile verrosten und
verseuchen Grundwasser, Pflanzen und Tiere. Die Gefährlichkeit von Uranmunition wird seit ihrem ersten
Einsatz diskutiert. Schon 2001 versuchten Deutschland, Italien und Belgien vergeblich, die Verwendung
der Munition durch die NATO zu stoppen.
Über das tatsächliche Ausmaß der Bedrohung
herrscht Uneinigkeit. Von Gegnern dieser Waffen wie
der Organisation Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges wird Uranmunition für Krebserkrankungen,
Missbildungen und Folgeschäden wie das Golfkriegssyndrom verantwortlich gemacht. Sie führen an, dass
Statistiken einen nicht zu übersehenden Anstieg gerade
von Haut- und Lungenkrebserkrankungen in betroffenen Kriegsgebieten zeigen. Nach Studien der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen Atomenergieorganisation liegt keine besondere Gefährdung
vor. Im WHO-Bericht heißt es wörtlich, dass keine Studie eine Verbindung zwischen Kontakt mit abgereichertem Uran und dem Auftreten von Krebs oder angeborenen Defekten finden konnte. Kritiker bemängeln
zwar die Methodik und die angeblich mangelnde Unabhängigkeit der Studien und fordern die Durchführung neuer Auswertungen und Bewertungen. Ein
Bericht über Gesundheitsschäden bei britischen Golfkriegsveteranen zeigte die Existenz des Golfkriegssyndroms auf und untersuchte eine Reihe von potenziellen
Auslösern dafür. Uranmunition wurde dabei als ein
potenzieller Auslöser bezeichnet; allerdings verwies
die Studie auch klar auf den Mangel an gesicherten
Fakten über die Risiken. Besonders hervorgehoben
wurde ein früherer Bericht der Royal Society, der die
Gefahr von Uranmunition für Soldaten als nach heutigem Wissensstand eher gering einschätzte, allerdings
ebenfalls Langzeitstudien und weitergehende Untersuchungen forderte.
Es gibt aber noch immer keine weltweiten Untersuchungen zum Thema, sondern nur Einzelstudien aus
den betroffenen Gebieten. So ist bis heute kein internationales Abkommen zur Ächtung von Uranmunition zustande gekommen. Sowohl das Europaparlament als
auch die Menschenrechtskommission der Vereinten
Nationen verabschiedeten Entschließungen gegen
Uranmunition. Eine entsprechende Resolution der
UN-Vollversammlung im Jahre 2010 unterstützten
148 Staaten; Frankreich, Großbritannien, Israel und
die USA allerdings votierten dagegen. Nur Belgien hat
sich 2009 selbst jeglichen Umgang mit Uranmunition
gesetzlich verboten.
Obwohl kein internationales Abkommen Uranmunition ausdrücklich verbietet, ist ihr Einsatz gerade wegen der unterschiedslosen Wirkung rechtlich geächtet.
Das sogenannte humanitäre Völkerrecht stellt Verhaltensregeln für die Kriegsführung auf, um das Leid
nicht direkt an den Kämpfen beteiligter Personen zu
Zu Protokoll gegebene Reden
lindern. So verbietet die IV. Genfer Konvention zum
Schutz von Zivilpersonen zum Beispiel militärische
Angriffe auf Zivilkrankenhäuser, Sanitätstransporte,
Frauen und Kinder. Nach Art. 35 des ersten Zusatzprotokolls ist es verboten, Waffen, Geschosse und Material sowie Methoden der Kriegsführung zu verwenden,
die überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden
verursachen. Ob der beim Beschuss mit Uranmunition
entstehende hochgiftige Dampf unter das Verbot des
Genfer Giftgasprotokolls und der Chemiewaffenkonvention fällt, wäre zusätzlich zu prüfen.
Vor diesem Hintergrund ist nun der Antrag der
Fraktion Die Linke zu sehen, der die Bundesregierung
auffordert, die Ächtung und das Verbot solcher Munition auf nationaler wie internationaler Ebene zu verfolgen. Sinnvoll wäre es - und dies hat meine Kollegin
Uta Zapf schon in der ersten Lesung ausgeführt -,
wenn es ein sofortiges Moratorium für jeglichen Einsatz dieser Munition geben würde, eine Forderung, die
bereits von der SPD-Bundestagsfraktion im Jahre
2001 angesichts der damaligen aktuellen Diskussion
erhoben wurde.
Die Bundeswehr hat allerdings keine Uranmunition
in ihrem Arsenal. Sie wird auch in Deutschland nicht
hergestellt. Ein unmittelbarer Handlungsbedarf für
Deutschland selbst besteht also nicht. Trotzdem ist das
Thema im Auge zu behalten. Initiativen auf europäischer Ebene oder auf Ebene der Vereinten Nationen
sind von der Bundesrepublik zu unterstützen; aber ein
im Antrag gefordertes Verbot schießt meines Erachtens zurzeit über das Ziel hinaus.
Die Bundesrepublik selbst besitzt keine DU-Munition und hat solche nach allem, was wir wissen, auch
nie vorsätzlich eingesetzt. Auf nationaler Ebene besteht deshalb für uns kein unmittelbarer Handlungsbedarf. In den letzten zehn Jahren hat es auch keinen bestätigten Einsatz von DU-Munition durch andere
Staaten mehr gegeben.
International ist deshalb der Handlungsdruck
niedrig und die Aussicht, zu einem Konsens zu kommen, gering. Zu dieser Situation haben auch zahlreiche wissenschaftliche Studien beigetragen. Die
Weltgesundheitsorganisation hat die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen des Einsatzes von Munition aus abgereichertem Uran ebenso untersucht wie
dies das Umweltprogramm der Vereinten Nationen, die
Europäische Kommission und die Gesellschaft für
Strahlenforschung getan haben. Einen ursächlichen
Zusammenhang zwischen DU-Munition und den verschiedentlich damit in Verbindung gebrachten Krankheiten konnte keine der Studien nachweisen. Laut
WHO ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Zivilbevölkerung und die Soldaten einer unnatürlich hohen
Strahlung ausgesetzt werden. SCHER, ein wissenschaftlicher Ausschuss der Europäischen Kommission,
kam zu den gleichen Ergebnissen. Auch deshalb
konnte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz
im Einsatz von Uranmunition bisher keinen Verstoß
gegen das Völkerrecht erkennen und sah wegen der
unbestätigten Faktenlage auch keinen Anlass, ein Verbot der Munition zu fordern.
Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern,
dass sich derzeit innerhalb der VN noch nicht einmal
ein Konsens über eine Resolution mit Minimalforderungen herstellen lässt. Ein Moratorium oder gar ein
Verbot ist deshalb weit weg.
Das war es offenbar auch 2001, sonst hätte die
SPD-Fraktion sich nicht nur hier im Bundestag für ein
Moratorium ausgesprochen, sondern sich auch international dafür eingesetzt. Vielleicht gab es aber auch
einfach nicht den Willen in der rot-grünen Regierung.
Immerhin erklärte der damalige Verteidigungsminister
Scharping die Munition nach dem Balkankrieg für unbedenklich. Vom damaligen Außenminister Fischer
sind mir auch keine Initiativen zu DU-Munition bekannt.
Umso größer war mein Erstaunen über den jüngsten Beschluss der Grünen. Noch bis vor kurzem plädierten die Grünen im Bundestag lediglich für ein Moratorium. So hat es die Kollegin Brugger auch in der
ersten Lesung zu diesem Antrag formuliert: „Eine
Forderung nach einem Verbot schießt angesichts der
wissenschaftlichen Unklarheit über das Ziel hinaus.“
Im Bundestagswahlprogramm heißt es jetzt aber:
„Auch Uranmunition wollen wir umfassend ächten.“
Konsequenterweise müssten die Grünen dem vorliegenden Antrag der Linken also zustimmen. Ich bin gespannt.
Die FDP lehnt den Antrag der Fraktion Die Linke
ab. Statt unrealistischer Verbotsforderungen ist Transparenz gefragt, ebenso wie Aufklärung und Vorsichtsmaßnahmen.
Im April diesen Jahres habe ich während einer Balkanreise viele Gespräche zum Thema Uranmunition
geführt - mit Medizinern und Parlamentarierinnen sowie Aktiven in sozialen Bewegungen. Besonders in
Serbien denkt eine Mehrheit der Bevölkerung, dass es
einen Zusammenhang gibt zwischen der seit dem
NATO-Krieg 1999 dramatisch steigenden Krebsrate
und dem Einsatz von Uranmunition durch die USA und
Großbritannien. Bloß die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Serbien sind
scheinbar sehr auf die EU-Beitrittsperspektive gepolt.
Sie lehnen es ab, langfristige Studien zu finanzieren
oder gar Schritte einzuleiten, um die NATO-Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Da sieht man mal,
welche negativen Auswirkungen die Anziehungskraft
der EU haben kann.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dabei haben Gerichte im EU-Mitgliedstaat Italien
anerkannt, dass der Tod von über 100 italienischen
KFOR-Soldaten auf Uranverseuchung zurückzuführen
ist. Was in Italien Recht ist, kann doch in Deutschland
nicht falsch sein.
Ein Vertreter der Regierungsfraktionen hat in der
ersten Lesung die Behandlung mit dem Thema Uranmunition als belanglosen Wahlkampftrick der Linken
gebrandmarkt. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten, insbesondere wenn man bedenkt, dass es hier um
Menschenleben geht. Eine Koalition, die sich christlich-liberal nennt, deren Politik jedoch an Menschenverachtung grenzt, ist eine Zumutung.
Allerdings kann ich auch über die angekündigte
Enthaltung durch SPD und Grüne nur den Kopf schütteln. Sie sagen, es gebe noch nicht ausreichend wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema. Keiner
hindert den Deutschen Bundestag und die Regierung
daran, solche Studien voranzutreiben und zu finanzieren - genau das sollte gleich zu Beginn der nächsten
Legislaturperiode auch passieren.
Die Hauptforderung der Linken ist allerdings der
Vorsorgeansatz. Das bedeutet, Uranmunition wird so
lange verboten, bis wissenschaftlich ohne Zweifel
festgestellt ist, dass diese Waffen keinen Schaden für
Zivilistinnen und Zivilisten und die Umwelt verursachen. Dem Prinzip der Beweislastumkehr hat die Bundesregierung in der UN-Vollversammlung im Dezember 2012 zugestimmt. Und genau das fordern wir in
unserem Antrag. Schade, dass CDU/CSU, FDP, SPD
und Grüne hinter das kluge Abstimmungsverhalten
der Bundesregierung in der UN zurückfallen.
Erhellend war in dieser Sache auch mein Besuch im
Kosovo. Die KFOR hat den Behörden in Pristina dazu
geraten, sich des Themas Uranverstrahlung weiter
anzunehmen. Viele Kosovo-Albanerinnen und -Albaner gehen davon aus, dass das Problem nicht so groß
sein kann. Schließlich leben zahlreiche Beschäftigte
der NATO und anderer Organisationen im Kosovo.
Die KFOR-Truppen trinken allerdings das lokale,
wahrscheinlich uranverseuchte Wasser nicht. Sie importieren ihr Wasser. Dieser Politik nach Kolonialherrenart stellt sich die Linke entgegen.
Wir appellieren an Ihr Mitgefühl mit den Opfern.
Schließlich heißt es, dass auch Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten betroffen sind. Leider liegen hierzu
keine empirischen Studien vor, wie mir die Bundesregierung mitteilte. Die Anfertigung solcher Untersuchungen ist dringend geboten.
Im Sinne der Menschen in den Gebieten, in denen
Uranmunition eingesetzt wurde und wird und im Sinne
der dort gegen den Willen der Linken eingesetzten Soldatinnen und Soldaten: Uranmunition weltweit ächten
ist das Gebot der Stunde.
Aus gutem Grund beschäftigen wir uns zum wiederholten Male mit den Folgen des Einsatzes sogenannter
Uranmunition. Denn die Risiken und Schäden für die
Umwelt und den Menschen durch den Einsatz von
Uranmunition dürfen wir nicht ignorieren. Medienberichte und NGOs weisen darauf hin, dass auch zehn
Jahre nach dem Krieg gegen das Regime von Saddam
Hussein noch immer weite Teile des Landes - darunter
auch bewohntes Gebiet - wegen des Beschusses mit
Uranmunition mit radioaktiven Überresten des Krieges verseucht seien. In manchen Gebieten wie im Süden des Irak soll die Strahlenbelastung das 20-Fache
des Normalwertes betragen. Gleichzeitig verzeichnen
irakische Krankenhäuser einen massiven Anstieg von
Leukämie, Fehlgeburten und anderen gesundheitlichen Schädigungen.
Dies ist doch Anlass genug, sich für eine ernsthafte
Regulierung des Einsatzes von Uranmunition einzusetzen. Ich halte es für richtig, sich dabei auf einwandfreie wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen. Da die
bisherigen einschlägigen Gutachten und Studien jedoch in teils gegensätzliche Richtungen weisen, müssen wir einen Weg finden, mit dieser Unsicherheit umzugehen. Die Hinweise auf die langfristige Umweltund Gesundheitsgefährdung durch Uranmunition sind
Grund für ernsthafte Zweifel an der Harmlosigkeit dieser Waffen.
Solange nicht sichergestellt ist, dass der Einsatz von
Uranmunition keine langfristigen Schäden für Mensch
und Umwelt nach sich zieht, muss das Vorsorgeprinzip
gelten, und es muss auf den Einsatz verzichtet werden.
Der Beschluss der Vereinten Nationen zum Vorsorgeprinzip und zum kompletten Verzicht auf den Einsatz
von Uranmunition ist richtig, und wir unterstützen ihn
ausdrücklich. Es ist eine richtige Entscheidung, einen
belastbaren Nachweis der Harmlosigkeit dieser Munitionsart für Mensch und Umwelt einzufordern, bevor
sie weiter verwendet werden soll.
Hierzu bedarf es vor allem mehr Langzeitstudien
auf internationaler Ebene, um den möglichen kausalen
Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Uranmunition und den Umwelt- und Gesundheitsschäden in betroffenen Gebieten nachzuweisen. Ohne Frage benötigt die Wissenschaft dazu nicht nur die finanziellen
Mittel, sondern auch Zugang zu Informationen darüber, in welchen Gebieten Uranmunition überhaupt
zum Einsatz gekommen ist. Ich fordere die Bundesregierung deshalb dazu auf, sich bei unseren Partnern in
der Europäischen Union und der NATO dafür einzusetzen, diese Informationen zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Somit könnte nicht nur eine umfängliche Langzeitstudie auf den Weg gebracht, sondern
auch die dringend notwendige Absperrung und Dekontamination von betroffenen Gebieten zügiger durchgeführt werden.
Unsere Forderung nach einem internationalen Moratorium für den Einsatz von Uranmunition ist der
Zu Protokoll gegebene Reden
richtige Weg, um jetzt schnell zu handeln und gleichzeitig einen Prozess anzustoßen, an dessen Ende die
Ächtung dieser Waffen stehen könnte. Damit wäre ein
erster wichtiger Schritt getan, um vor allem die Zivilbevölkerung in zukünftigen bewaffneten Konflikten
besser zu schützen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13559, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/11898 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 48 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Harald Ebner,
Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vorsorgeprinzip anwenden - Zulassung des
Pestizidwirkstoffs Glyphosat aussetzen und
Neubewertung vornehmen
- Drucksachen 17/7982, 17/8822 Berichterstattung:Abgeordnete Alois GerigElvira Drobinski-WeißDr. Christel Happach-KasanDr. Kirsten TackmannHarald Ebner
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Gesundheit der Menschen steht für uns als
Unionsfraktion in jeder Hinsicht an oberster Stelle. So
unterstütze ich ausdrücklich die weitere Harmonisierung der Pflanzenschutzmittelzulassung zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus in der Europäischen Union. Eine sachliche Diskussion zu diesem
Thema ist mit Sicherheit gewinnbringender, als
vorschnelle Anträge zur Aussetzung zu stellen. Die
Forderung der Grünen, die Zulassung des Pflanzenschutzwirkstoffs Glyphosat auszusetzen, ist unbegründet. Derzeit liegen keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, die eine Aussetzung der Zulassung
rechtfertigen würden. Bei sachgerechter Anwendung
unter Beachtung der guten landwirtschaftlichen
Praxis leistet Glyphosat einen wichtigen Beitrag zu
den agronomischen und ökonomischen Herausforderung in der modernen Landwirtschaft. Das Bundesinstitut für Risikobewertung macht deutlich, dass
bestimmte Pflanzenschutzmittelwirkstoffe in hohen
zytotoxischen Konzentrationen das Wachstum von
Bakterien hemmen können. Mit den derzeit vorliegenden toxikologischen Daten gibt es jedoch bisher keine
Anzeichen für eine spezifische antibakterielle Wirkung
von Glyphosat.
Glyphosat gehört zu den weltweit toxikologisch am
umfassendsten untersuchten Pflanzenschutzmittelwirkstoffen. In mehreren Hundert toxikologischen
Studien, die die Auswirkungen von Glyphosat auf die
menschliche Gesundheit untersuchten, konnte keine
Beeinträchtigung der Gesundheit von Mensch, Tier
und Umwelt nachgewiesen werden. Das ist ein Beispiel dafür, dass die langjährigen Bemühungen und
gesetzlichen Regelungen wirken. Zulassungsverfahren
müssen in Deutschland und Europa umfassende Prüfungen durchlaufen.
Da Pflanzenschutzmittel keine gewöhnlichen
Gebrauchsgüter sind, muss bei ihrer Zulassung und
Anwendung die größte Sorgfalt sichergestellt werden,
um Menschen, Tier und Umwelt vor Risiken zu schützen. Bevor ein Wirkstoff in der EU überhaupt zugelassen wird, stellt das Unternehmen einen Antrag bei der
zuständigen nationalen Behörde. Der Antrag muss
gesetzesgemäß zahlreiche wissenschaftliche Informationen unter anderem zur Sicherheitsbewertung enthalten, wie zum Beispiel die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wirkstoffes, sein Verbleib und
Abbauverhalten in der Umwelt, mögliche Auswirkungen auf die Umwelt, zum Beispiel Effekte auf Nichtzielorganismen wie zum Beispiel Wildtiere und -pflanzen
sowie Mikroorganismen, Ökotoxikologie, mögliche
Auswirkungen auf Säugetiere, Toxikologie, Rückstände in Kulturpflanzen, in Lebens- und Futtermitteln
sowie Angaben zu geeigneten analytischen Methoden,
um diese Rückstände nachzuweisen.
Die Sicherheitsanforderungen eines solchen Antrages sind enorm hoch und erfüllen die festgelegten
Kriterien. Wir sind in Deutschland durch nationale
Regelungen bereits auf einem hohen - über den EUVorgaben liegenden - Niveau, das der Sicherheit für
den Verbraucher, aber auch der Umwelt und der Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft dient. Seit
der Einführung des Wirkstoffes Glyphosat vor etwa
40 Jahren wird es in Breitbandherbiziden eingesetzt.
Er blockiert die Produktion eines für Pflanzen lebenswichtigem Enzyms, das nur in Pflanzen vorkommt.
Dies begründet seine hohe Wirksamkeit und breite Anwendung in der Landwirtschaft und die vergleichsweise geringen Effekte bei tierischen Organismen oder
dem Menschen. Die Auswirkung des Wirkstoffes
Glyphosat auf Nichtzielorganismen wurde und wird
ausreichend und umfangreich untersucht, unter anderem durch das Bundesinstitut für Risikobewertung die
WHO, die EU sowie viele Ländern, und Wissenschaftler. So ist der derzeitige wissenschaftliche Konsens,
dass Glyphosat bei ordnungsgemäßer Anwendung
keine Gesundheitsrisiken birgt. Eine Gefährdung für
Mensch und Tier wurde bisher nicht beobachtet.
Ich möchte daran erinnern, das Glyphosat einen
sehr wichtigen Pflanzenschutzwirkstoff in der Landwirtschaft darstellt. Unter den zugelassenen Pflanzenschutzmitteln ist derzeit kein günstigerer Wirkstoff
bekannt, der toxikologisch so unbedenklich ist wie
Glyphosat. Ausdrücklich möchte ich betonen, dass zurzeit keine Hinweise vorliegen, dass in Deutschland die
Anwendung glyphosathaltiger Pflanzenschutzmittel in
der Landwirtschaft zu unerwünschten Nebenwirkungen führt. Der Pflanzenschutz ist und bleibt ein wichtiger Bestandteil moderner Produktionstechnik in der
Landwirtschaft und wird in Deutschland schon lange
nicht mehr nach dem Prinzip „Viel hilft viel“ angewandt. Pflanzenschutzmittel werden gezielt zum Schutz
der Pflanzen gegenüber Krankheiten und Schädlingen
eingesetzt. Darüber hinaus dienen sie zur Zurückhaltung oder vorübergehenden Beseitigung von Konkurrenzpflanzen. Letztlich können gesunde Früchte
nur von ausreichend ernährten und gut geschützten,
befallsfreien Pflanzen kommen.
Die Fraktion der CDU/CSU spricht sich klar gegen
den Antrag der Grünen aus. Ich möchte nochmals
betonen, dass derzeit keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die den Wirkstoff Glyphosat an
sich infrage stellen und eine Aussetzung der neuen Zulassung rechtfertigen könnten.
Bei der Zulassung gentechnisch veränderter Organismen sowohl auf EU- als auch auf nationaler Ebene
muss sichergestellt sein, dass kurz- und langfristige
negative Folgen für die Gesundheit von Mensch und
Tier oder die Umwelt durch den Einsatz solcher Wirkstoffe mit Sicherheit ausgeschlossen werden können.
Alle bekannten wissenschaftlichen Untersuchungen
der BfR, der FAO, der EU belegen, dass bei sachgerechter Anwendung von Glyphosat kein Anlass zur
Sorge besteht. Auch sehe ich keinen Grund, gerade
Verbraucher und Landwirte zu verunsichern.
Ihre haltlosen Aussagen zu angeblichen Schäden
und Risiken führen zu Ängsten und Verunsicherungen
in der Bevölkerung. Dies ist lediglich dafür geeignet,
wieder einmal den Pflanzenschutz generell in Misskredit zu bringen. Es wäre stattdessen dringend erforderlich, neben allen Risikodiskussionen auch eine zum
Nutzen des Pflanzenschutzmittels zu führen. So ist es
unsere Aufgabe, die wissenschaftlichen Standards und
Kontrollen auf nationaler und internationaler Ebene
weiter auf hohem Niveau zu halten.
Wir beraten heute einen Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen, der so lange in den parlamentarischen Mühlen zugebracht hat, dass er sich fast schon überholt
hat. 2011 war es tatsächlich noch hochaktuell, über
eine mögliche Aussetzung einer Zulassung POE-Tallowamin-haltiger Glyphosatpräparate nachzudenken,
weil es zur Neubewertung im Jahr 2015 noch weit hin
war. Mit der fortgeschrittenen Zeit ist es im Grunde
obsolet, denn 2015 steht schon vor der Tür und damit
eine Überprüfung auf Basis der Verordnung Nr. 1107/
2009. Damit müssen die Dossiers der Antragsteller
den neuen Genehmigungskriterien insbesondere zu
Anhang II entsprechen.
Warum kam es zu einer solchen Forderung? Glyphosat ist eines der am häufigsten eingesetzten Herbizidwirkstoffe in Deutschland. Lange wurden vor allem
seine Vorteile betont. Seine hohe Wirksamkeit, die geringen Rückstände im Boden, seine schlechte Wasserlöslichkeit und die guten Abbauraten machten glyphosathaltige Mittel schnell zu Absatzrennern nicht nur in
der Landwirtschaft. Heute sind mehr als 10 Prozent aller eingesetzten Pflanzenschutzmittel glyphosathaltig,
2010 waren es 15 000 Tonnen. Neue Anwendungsgebiete wie Ernteverfrühung oder Erntevereinfachung
sind ebenso kritisch zu betrachten wie der breite Einsatz im Haus- und Kleingartenbereich. Denn als Folge
der großen Aufwandmengen in Deutschland, aber
auch weltweit, ändern sich die Exposition des Menschen wie auch die Auswirkungen auf die Umwelt.
Neue Studien deuten auf erschreckende Fakten hin, die
neu bewertet werden müssen.
Die Anwendung kurz vor der Ernte und der massenhafte Einsatz in gentechnisch veränderten Futtermitteln scheinen dazu zu führen, dass der Mensch deutlich
messbare Mengen Glyphosat über die Nahrung aufnimmt. Anders ist nicht zu erklären, dass Rückstände
des Wirkstoffs in Verbrauchern gefunden werden, die
ansonsten keinerlei Verbindung zur Landwirtschaft
haben.
Angesichts der zunehmenden Hinweise auf bisher
kaum benannte Risiken im Bereich der Mutagenität,
Karzinogenität und Reproduktionstoxizität ist es schon
erstaunlich, dass im Jahr 2011 von 5,4 Millionen erfolgten Lebensmitteluntersuchungen gerade einmal
1 112 Proben auf Glyphosat getestet wurden. Das muss
sich ändern. Wir können die Risiken nicht in den Wind
schlagen, sondern müssen genauer hinschauen und
den Hinweisen so lange nachgehen, bis sie zweifelsfrei
entkräftet werden. Gelingt dies nicht, müssen wir im
Sinne des vorsorgenden Verbraucherschutzes aktiv
werden. Dazu gehört auch, POE-Tallowamine einer
Risikobewertung zu unterziehen. Bekannt ist schon
länger, dass diese synergistischen Beistoffe die Toxizität erhöhen, und doch nimmt ihre Anwendung ein nicht
akzeptables, wenn nicht sogar steigendes Ausmaß an.
2010 wurden 1 300 Tonnen in Pflanzenschutzmitteln
eingesetzt. Der Aufruf zum Verzicht geht an den Herstellern offensichtlich ungehört vorbei. Das kann
nicht so bleiben - der Zulassungsgeber muss in der
Lage sein, nachweisbar schädliche Beistoffe zu untersagen. Wir werden im Rahmen der Weiterentwicklung
unseres Zulassungssystems auch über Cut-off-Kriterien für Synergisten und Beistoffe nachdenken müssen. In der nächsten Wahlperiode warten viele Aufgaben auf uns.
Glyphosat ist weltweit das bestuntersuchte Herbizid. 40 Jahre Anwendung in der Landwirtschaft bei uns
Zu Protokoll gegebene Reden
haben keine schwerwiegenden Probleme ergeben. Das
ist eine gute Bilanz. Da stellt sich die Frage nach dem
Motiv für diesen Antrag.
So wie der ZDF-Film kürzlich das Ziel hatte, mit
diffuser Desinformation Angst zu erzeugen, so verfolgt
auch der Antrag der Grünen allein das Ziel, Ängste zu
schüren, wo kein Grund zur Angst besteht, das Ziel, ein
Pflanzenschutzmittel zu problematisieren, das in der
Anwendung vergleichsweise wenige Probleme bereitet. Grüne schüren Vorurteile gegenüber moderner
Landwirtschaft, ohne sich an wissenschaftlichen Fakten zu orientieren.
Der Antrag folgt einem bekannten Strickmuster:
Unter dem Deckmantel des Vorsorgeprinzips werden
die unterschiedlichsten Forderungen nach Verboten
und Abgaben erhoben.
Die FDP weist die Forderung nach einer „Pestizidabgabe“ zur Finanzierung unabhängiger Risikoforschung zurück. Die darin enthaltene pauschale Unterstellung gegenüber den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern von Bundesbehörden, dass diese nicht finanziell unabhängig seien, wird ohne einen einzigen
Beleg erhoben und ist eine Ungeheuerlichkeit. Die dies
unterstellende Ausarbeitung einer privaten Einrichtung - man sollte nicht von einem Institut sprechen hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Meinungsäußerungen von Wissenschaftlern, die grüner
Ideologie widersprechen, werden als Beleg für mangelnde finanzielle Unabhängigkeit gewertet. Damit
respektieren die Grünen noch nicht einmal das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung.
Die akademische und behördliche Sicherheits- und
Risikoforschung in Deutschland ist weltweit Spitze. Angesichts der geringen Qualität der wissenschaftlichen
Arbeiten, mit denen die Forderungen des Antrags
belegt werden sollen, wirkt die Kritik an den Bundesbehörden wie Hohn. So lassen die Tierversuche des
argentinischen Mediziners Professor Dr. Andrés
Carrasco keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Giftigkeit von Glyphosat zu. Keine praktische Anwendung
von Glyphosat verlangt das Spritzen des Wirkstoffs in
Tiere. Es ist nicht mit dem Tierschutzgedanken vereinbar, wenn Tiere für solche Versuche genutzt werden, die
von vornherein als sinnlos zu bewerten sind.
Alle Pflanzenschutzmittel werden vor ihrer Zulassung umfassend geprüft. Die Prüfung berücksichtigt
mögliche Auswirkungen auf die menschliche und tierische Gesundheit wie auch die Natur. Nur Pflanzenschutzmittel, die höchsten Kriterien genügen, werden
in Deutschland und der EU zugelassen. Dabei ist eine
Beteiligung vonseiten des Umwelt- und Naturschutzes
durch das Umweltbundesamt sichergestellt. Alle Zulassungen für Wirkstoffe sind zeitlich befristet und
müssen unter Vorlage der neuesten wissenschaftlichen
Daten erneut bewertet werden. Ebenso sind die Zulassungsbehörden verpflichtet, Meldungen über Schäden
nachzugehen.
Bei sachgerechter Anwendung gilt Glyphosat verglichen mit anderen Herbiziden als wenig umweltbelastend. Zudem ist es biologisch abbaubar. Glyphosat
hemmt bei Pflanzen ein Enzym, das für die Biosynthese
verschiedener Aminosäuren essenziell ist. Bei Tieren
kommt dieses Enzym gar nicht vor. Glyphosat kann
also bei Mensch und Tier nicht in der Weise wirken,
wie dies bei Pflanzen der Fall ist. Glyphosat wird nach
der EU-Gefahrstoffklassifikation nicht als giftig, sondern als reizend und umweltschädlich eingestuft. Ein
Maß für die Gesundheitsschädlichkeit ist der sogenannte LD50-Wert. Dieser beträgt für Glyphosat bei
verschiedenen Tierarten zwischen 1 Gramm und
5 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Er liegt damit in der Größenordnung von Alkohol.
Alle Pflanzenschutzmittel erfordern einen fachgerechten Einsatz. Bei nicht fachgerechter Anwendung
können Probleme entstehen. In Deutschland gibt es
keinen Grund zur Besorgnis, weil unsere Landwirte
sehr gut ausgebildet sind, sich regelmäßig fortbilden
müssen und der Pflanzenschutzdienst den fachgerechten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln kontrolliert. Es
sollte allerdings der Gewässerschutz in Zukunft stärkere Beachtung finden und der Gebrauch durch nicht
ausgebildete Personen eingeschränkt werden. Ob die
gute fachliche Praxis in der Anwendung von Glyphosat in der Landwirtschaft in anderen Ländern auch so
gilt wie bei uns, ist hier nicht Thema. Es ist nicht gerechtfertigt, von Negativbeispielen in anderen Ländern
auf deutsche Verhältnisse zu schließen. Es gibt auch
keinerlei Ansatzpunkte, dass solche Rückschlüsse gerechtfertigt sind.
Das Problem mit den als Benetzungsmittel in bestimmten Formulierungen der Herbizide verwendeten
sogenannten POE-Tallowaminen ist bekannt. Hier
haben Untersuchungen von Behörden und Wissenschaftlern gezeigt, dass eine besondere Schadwirkung
eintreten kann. Das zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, hat
die Hersteller deswegen bereits angewiesen, alternative Formulierungen zu entwickeln. Darüber hinaus
wurden die Gewässerabstände vergrößert, um schädliche Auswirkungen auf die Natur zu minimieren. Das
BVL hat zudem Anfang Dezember einige Mittel verboten, und der ehemalige Patentinhaber Monsanto hat
beim BVL POE-Tallowamin-freie Formulierungen zur
Zulassung eingereicht. Dies zeigt, dass die Pflanzenschutzmittelzulassungspraxis funktioniert und auch
diese Forderung ins Leere läuft.
Die Funde von Glyphosat im Urin sind wenig überraschend. Im Körper unerwünschte Stoffe werden unter anderem über den Urin ausgeschieden. Das gilt
auch für Medikamente und deren Abbauprodukte.
Untersuchungen der Universität Gießen haben gezeigt, dass ein Verbot von Glyphosat einerseits aus
Sicht des Umweltschutzes völlig kontraproduktiv wäre
und andererseits zu Wohlfahrtsverlusten in Milliardenhöhe führen würde. Resistenzen und andere Folgen des
Herbizideinsatzes lassen sich durch gute fachliche
Zu Protokoll gegebene Reden
Praxis, ein modernes Wirkstoffmanagement und weitere Vorsorgemaßnahmen lösen.
Die Diskussion um Glyphosat ist ein Stellvertreterkrieg. Sie hat ihren eigentlichen Hintergrund darin,
dass über 70 Prozent der weltweit angebauten Sojapflanzen gentechnisch verändert sind und eine Toleranz für Glyphosat besitzen. Als ideologische Gegner
dieser Züchtungsmethode haben die Grünen deswegen
einen Zulassungsstopp für Glyphosat gefordert, um
mittelfristig die gentechnisch veränderte Kulturpflanze
mit der größten Verbreitung für den Anbau unattraktiv
zu machen.
Die bei uns geltenden Grenzwerte beruhen auf anerkannten wissenschaftlichen Fakten, sind weit unterhalb jeglicher Gefährdungsschwelle und werden von
der EU-Kommission regelmäßig überprüft. Jetzt sollen
über niedrigere Grenzwerte für Lebens- und Futtermittel die Importe aus Drittstaaten unterbunden und damit der Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen
zum Beispiel in Südamerika ausgebremst werden. Die
Sicherheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher
wird nicht erhöht.
Eine falsche sachliche Analyse einer Situation ist
ungeeignet als Vorbereitung für sinnvolle politische
Schlussfolgerungen. Die durchaus notwendige politische Diskussion, wie wir die Rahmenbedingungen für
eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft in
Deutschland gestalten sollten, wird durch solche Anträge behindert und nicht befördert. Wir lehnen die
Forderungen des Antrages entschieden ab.
Heute Vormittag hat der BUND in Berlin eine Studie vorgestellt. In 18 Ländern Europas wurde der Urin
von Großstadtbewohnerinnen und -bewohnern auf
Glyphosat untersucht. In Deutschland waren 70 Prozent der Proben belastet, der Durchschnitt lag bei
44 Prozent. Es ist die erste Studie, die sich europaweit
mit Glyphosat-Rückständen im menschlichen Urin beschäftigt. Die Stichproben legen nahe, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung Glyphosat-belastet ist. Woher die Rückstände kommen, ist unklar.
Die Untersuchung ist nicht repräsentativ. Es ist
auch unklar, welche Wirkung Glyphosat im Körper
hat. Bisher galt es als relativ umweltfreundlich. Nun
mehren sich die Anzeichen, dass das Mittel und Zusatzstoffe wie POE-Tallowamine doch gefährlicher
sind als angenommen. Der Bundesregierung sind die
dazu nicht einheitlichen Forschungsergebnisse durchaus bekannt. Über zehn Seiten lang ist die Bibliografie, die sie ihrer Antwort auf die entsprechende Kleine
Anfrage der Grünen beifügt. Es ist erwiesen, dass Glyphosat negative Einflüsse etwa auf Froschlaich hat.
Die Bundesregierung weiß auch, dass Glyphosat häufig gerade auf Wegen und in Haus- und Kleingärten
unsachgemäß angewandt wird.
Aussetzung der Zulassung und Neubewertung müssen die Konsequenzen aus den Risiken und Unwägbarkeiten sein. Sowohl die EU als auch jeder Mitgliedstaat muss umgehend ein Monitoring-Programm für
Glyphosat in Lebens- und Futtermitteln auflegen. Für
Glyphosat - und sein Abbauprodukt AMPA - ist umgehend ein Umwelt-Monitoring einzurichten. Beide Monitoring-Programme müssen umfassend sein, und die
Ergebnisse sind der Öffentlichkeit mitzuteilen.
Jedes Mitgliedsland, also auch Deutschland, muss
ein Glyphosat-Reduktionsprogramm einführen. Die
Sikkation ({0}) ist sofort
zu verbieten. Alle anderen Verwendungszwecke von
Glyphosat sind bis 2015 zu evaluieren, ebenso die
zulässigen Rückstandsgehalte für pflanzliche und tierische Lebens- und Futtermittel. Weitere Erhöhungen
von Rückstandshöchstgehalten sind definitiv auszuschließen. Vor allem in Kleingärten ist die Verwendung
derartiger Pflanzenschutzmittel nicht zu rechtfertigen
und ein Verbot unumgänglich.
Derartige Maßnahmen sind für die Landwirtschaft
durchaus schmerzhaft. Denn Glyphosat ist überaus populär. 5 000 Tonnen pro Jahr werden davon in
Deutschland verspritzt. Die Verwendung des Wirkstoffs Glyphosat in Pflanzenschutzmitteln hat sich seit
1993 verfünffacht, und inzwischen ist er weltweit der
meistgenutzte Herbizidwirkstoff. Ein Mittel, das in
Ausnahmefällen durchaus gute und sinnvolle Dienste
erweisen kann, ist zur Regel geworden. Glyphosat ersetzt vielfältige Fruchtfolgen, die Nebenkräuter in dem
Maße gar nicht auftreten lassen würden. Glyphosat
zerstört Biodiversität. Vielfältig sind die Bereiche, auf
welche Glyphosat Einfluss hat, wie zum Beispiel auf
das Trinkwasser, auf die Ernte, auf Nutztiere und somit
letztendlich auch auf Milchprodukte und Fleisch.
Hier geht es um nichts anderes als um die Gesundheit von Menschen und den Schutz der Natur; denn der
Einsatz von Totalherbiziden stellt grundsätzlich eine
Bedrohung für viele Ökosysteme dar. Die einzige Möglichkeit, diese Ziele zu verfolgen, ist eine sofortige
Aussetzung der Zulassung für Glyphosat und dessen
Neubewertung auf dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse.
Ein letzter Gedanke zur diesbezüglichen Forschung
sei mir allerdings gestattet. Wir alle wissen, dass zur
Erforschung der Risiken von Glyphosat eine große Anzahl von Tierversuchen durchgeführt wird. Vielleicht
könnten wir auf derartige Mittel zukünftig auch einfach verzichten. Der Ökolandbau kann dazu einen großen Beitrag leisten. Das wäre nicht nur ein Beitrag
zum Umweltschutz generell, sondern auch ein Beitrag
zum Tierschutz.
Heute hat der BUND besorgniserregende Analyse-
ergebnisse zu Glyphosatrückständen im menschlichen
Urin vorgelegt. Danach ist zumindest davon auszuge-
hen, dass Verbraucherinnen und Verbraucher europa-
weit mit Glyphosat belastet sind, auch die große Mehr-
heit der Bevölkerung in Deutschland. Damit werden
Zu Protokoll gegebene Reden
ähnliche Hinweise aus Forschungen der Universität
Leipzig bestätigt. Glyphosat ist über unsere Nahrungs-
kette zum Alltagsgift auch für Großstadtmenschen ge-
worden, die überhaupt nichts mit Landwirtschaft zu
tun haben.
Auch wenn die Ergebnisse der BUND-Studie nur
auf kleinen Fallzahlen beruhen, ist das ein Alarm-
signal, das ernst genommen werden muss! Es ist be-
schämend für die Bundesregierung, dass ein spenden-
finanzierter Umweltverband so ein Projekt starten
muss, obwohl Ministerin Aigner seit Jahren über alle
notwendigen Informationen und Ressourcen verfügt,
um die Glyphosatbelastung von Mensch und Umwelt
umfassend zu erheben.
Das ZDF-Magazin „Zoom“ berichtete am 8. Mai
2013 eindrücklich über missgebildete und schwer
behinderte Kinder in den Familien der Tabak- und
Sojabauern in Argentinien. Im dringenden Verdacht
stehen Glyphosat und andere Pestizide, die von diesen
Bauern in großen Mengen verwendet werden. Das be-
stätigt frühere Berichte, wonach die Zahl solcher Fälle
in der argentinischen Sojaregion Gran Chaco in nur
zehn Jahren um das Drei- bis Vierfache gestiegen ist.
Es ist aufschlussreich, wie Vertreter von Schwarz-
Gelb mit dem Thema umgehen. FDP-Kollegin
Dr. Happach-Kasan bezeichnet in einem Beitrag auf
abgeordnetenwatch.de vom 7. Juni 2013 das ZDF we-
gen dieses Programmbeitrags als „verleumderisch ar-
beitenden“ Sender und wirft den dort zu Wort kom-
menden Kritikern von Glyphosat vor, aus
Profitinteresse „Ängste und Misstrauen zu schüren“.
Wie die BUND-Ergebnisse zeigen, ist Glyphosat
längst nicht mehr nur ein Problem im fernen Südame-
rika, wo heute 14-mal mehr dieses Pflanzengift einge-
setzt wird als vor der Einführung von gentechnisch
veränderten, herbizidtoleranten Pflanzen. Selbst in
Deutschland haben sich die Einsatzmengen von
Glyphosat auch ohne den Anbau von Gentechpflanzen
seit 1993 verfünffacht! Glyphosat wird immer öfter im
Rahmen der pfluglosen Bodenbearbeitung sowie zur
Sikkation bei Getreide und Hülsenfrüchten eingesetzt.
Letzteres führt zu besonders hohen Rückstanden, weil
in den wenigen Tagen bis zur Ernte kaum Zeit für den
Abbau des Giftes bleibt. So verwundert es nicht, dass
bei einer Untersuchung durch „Öko-Test“ fast drei
Viertel aller Proben von Getreideprodukten positiv ge-
testet wurden; denn selbst beim Backen bleibt Glypho-
sat erhalten.
Glyphosat ist alles andere als harmlos für Mensch,
Tier und Umwelt, wie auch das Gutachten 2012 des
Sachverständigenrates für Umweltfragen deutlich
macht. Und die Liste der wissenschaftlichen Belege
und Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen für
Mensch und Umwelt wird täglich länger: Beispiele
sind die hohe Toxizität für Amphibien, eine Verringe-
rung der Bodenfruchtbarkeit, die Zerstörung des
Gleichgewichts der Darmflora bei Menschen und
Säugetieren, der Rückgang der Artenvielfalt und die
wachsende Belastung von Böden und Gewässern. Wir
haben deshalb erneut eine Kleine Anfrage an die
Bundesregierung zu neuen Erkenntnissen bezüglich
der Risiken von Glyphosat gestellt.
Deutschland ist als Berichterstatter in der EU für
die Risikobewertung von Glyphosat zuständig. Doch
wer von der Bundesregierung deshalb eine besondere
Aufmerksamkeit und Sensibilität für die skizzierten
Probleme und gar konkrete Maßnahmen erwartet,
wird bitter enttäuscht. Nach wie vor leugnet Schwarz-
Gelb die Gefahren, redet sie klein und wartet ab. Wie
schon bei den bienengiftigen Neonicotinoiden verhält
sich die Bundesregierung nach dem Motto, dass nicht
sein kann, was nicht sein darf!
Weder bei Futtermitteln noch bei tierischen Lebens-
mitteln kann die Bundesregierung umfassende Daten
zu Glyphosatrückständen vorweisen. Dennoch sieht
Noch-Verbraucherschutzministerin Aigner offenbar
keinen Anlass, diese Datenlücken zu schließen. Ge-
nauso wenig bemüht sich die Bundesregierung, den
Einsatz des in Baden-Württemberg entwickelten neuen
Multinachweisverfahrens bundesweit zu fördern, mit
dem schneller und günstiger auf Glyphosat getestet
werden könnte.
Es ist ein politisches Armutszeugnis, wenn die Bun-
desregierung auf die 2015 fällige Neubewertung von
Glyphosat verweist; denn Ministerin Aigner ist be-
kannt, dass im ursprünglichen Zulassungsverfahren
von Glyphosat schon damals in den Daten klare
Hinweise auf massive Schäden wie Skelettfehlbildun-
gen enthalten waren, die von den Behörden als „Ent-
wicklungsvariationen“ verharmlost wurden.
Die Regierung Merkel ergreift weder Initiativen für
häufigere Rückstandskontrollen bei Futtermittelimpor-
ten, noch plant sie Maßnahmen gegen die Steigerung
beim Glyphosateinsatz in Deutschland. Im Nationalen
Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflan-
zenschutzmitteln ist die Reduzierung der Anwendungs-
mengen bei Glyphosat kein Thema. Glyphosatanwen-
dungen zur Sikkation bleiben erlaubt, obwohl diese
nichts mit Pflanzenschutz zu tun haben und dadurch
die Wahrscheinlichkeit für hohe Rückstandsbelastun-
gen stark wächst. Und nach wie vor sind Herbizide mit
Glyphosat in Baumärkten für jeden Privatgärtner frei
käuflich, ein Sachkundenachweis wird nicht verlangt.
Erst am Montag hat die Bundesregierung durch ihre
Enthaltung in Brüssel dazu beigetragen, dass der Weg
frei gemacht wird für den Import der Genmaissorte
SmartStax. Dieser Genmais ist nicht nur gegen
Glyphosat, sondern auch gegen das unbestritten em-
bryonenschädigende Glufosinat resistent, dessen Zu-
lassung 2017 in der EU auslaufen wird. Ein Gift mehr
oder weniger im Urin ist Schwarz-Gelb offenbar egal.
Laut Kollegin Dr. Happach-Kasan von der FDP ist das
Auffinden von Glyphosat im Urin ja gar kein Problem;
denn die toxische Gesundheitsschädlichkeit von Gly-
phosat liege „in der Größenordnung von Alkohol“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auch zur drohenden Zulassung der RoundupReady-
Sojabohne von Monsanto für den Anbau in der EU
hört man keinen Widerspruch der Bundesregierung.
Dabei hat eine Studie im Auftrag von Greenpeace be-
reits 2012 ergeben, dass sich mit dem großflächigen
Anbau solcher Gentechpflanzen die ausgebrachte
Herbizidmenge in der EU verdoppeln würde!
Jetzt haben die Koalitionsvertreter, aber auch die
SPD erneut Gelegenheit, unserem Antrag auf Ausset-
zung der Glyphosatzulassung zuzustimmen.
Wir Grüne appellieren an die Koalitionsvertreter:
Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie bei den bie-
nengiftigen Neonicotinoiden, deren Risiken zu lange
verdrängt wurden und für die nun ein zweijähriges
Teilverbot in der EU verhängt wurde. Nehmen Sie end-
lich das Vorsorgeprinzip ernst und fangen Sie an, zum
Schutz von Mensch und Umwelt zu handeln!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/8822, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/7982 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Die drei Oppositions-
fraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 53 a und 53 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
({1}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Studienfinanzierung sozial gerecht gestalten Studiengebühren abschaffen und BAföG
stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Marianne
Schieder ({2}), Swen Schulz
({3}), Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einführung eines generellen SchülerBAföG - Ein Instrument für mehr Chancengleichheit im deutschen Schulsystem
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Studiengebühren jetzt bundesweit abschaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale
Weiterentwicklung nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Studienfinanzierung stärken - Das BAföG
zum Zwei-Säulen-Modell ausbauen
- Drucksachen 17/11823, 17/9576, 17/11824,
17/6372, 17/7026, 17/13866 Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Stefan KaufmannSwen Schulz ({4})-
Patrick Meinhardt-
Nicole Gohlke-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Swen Schulz
({6}), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Hochschulpakt aufstocken - Finanzierung
von wachsenden Studienkapazitäten an den
Hochschulen langfristig sicherstellen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Gohlke, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Hochschulzugang bundesgesetzlich regeln Recht auf freien Zugang zum Master sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Krista Sager, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Hochschulen auf das Studierendenhochplateau vorbereiten - Allen Studienberechtigten die Chance auf einen Studienplatz geben
- Drucksachen 17/12690, 17/10861, 17/9173,
17/13867 Berichterstattung:Abgeordnete Monika GrüttersSwen Schulz ({7})Dr. Martin Neumann ({8})Nicole GohlkeKai Gehring
In der Tagesordnung war ausgewiesen, dass die Reden zu Protokoll genommen werden.
In der heutigen Debatte zum Thema Studienfinanzierung liegen uns insgesamt sieben Anträge der
Opposition vor. Diese Anträge lehnen wir alle aus inhaltlichen Gründen ab. Ich möchte hier nicht im Einzelnen jeden Antrag von vorne bis hinten durchgehen,
sondern die Gründe für unsere Ablehnung anhand der
BAföG-Vorschläge der Opposition sowie deren Aussagen zu Studiengebühren und Stipendien deutlich machen.
Hinsichtlich der Anträge zur Aufstockung des
Hochschulpaktes ist anzumerken, dass diese Anträge
durch die erfolgreiche Einigung am 12. April 2013 bereits überholt sind. Bund und Länder stellen in einer
gemeinsamen Kraftanstrengung bis 2015 zusätzlich
rund 4,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Bis 2018
summieren sich die Gesamtzahlungen für zusätzliche
Studienplätze damit auf fast 20 Milliarden Euro. Jedem Studierwilligen ist somit ein Studienplatz sicher wenn auch nicht ohne jede Zulassungsbeschränkung.
Forderungen der Linkspartei, einen Studienplatz für
jeden Studierenden, für jedes Fach und an jedem
Wohnort zur Verfügung zu stellen, kann man nicht
ernst nehmen. Dies gilt natürlich auch für die Linkspartei-Forderung nach dem Wegfall jeglicher Zulassungsbeschränkung für alle Studiengänge zu jeder
Zeit. Auf die Realisierung dieser Forderungen warten
wir übrigens in den von der Linkspartei regierten Bundesländern bis heute. Nicht einmal Bestrebungen in
diese Richtung sind uns bekannt.
Nun möchte ich aber zu den drei genannten Punkten
BAföG, Studiengebühren und Deutschlandstipendium
kommen.
Erstens: BAföG. Den vorliegenden Antrag der SPD
zum Schüler-BAföG haben wir bereits letztes Jahr ausführlich diskutiert. Lassen Sie mich nur noch einmal
betonen, dass wir die Behauptung in dem SPD-Antrag,
der Anteil von Studierenden aus Arbeiterfamilien und
prekären Familienverhältnissen sei seit der Regierung
von Dr. Helmut Kohl stetig zurückgegangen, zurückweisen. Mittlerweile studiert mehr als die Hälfte eines
Jahrgangs. Diese Zahlen wurden in den 1970er- und
1980er-Jahren lange nicht erreicht!
Zum anderen fordert die SPD die Wiedereinführung
des Schüler-BAföGs jetzt, obwohl sie zwischen 1998
und 2009 diesbezüglich zwölf Jahre tatenlos regiert
hat. Warum haben Sie diese Forderung nicht in Ihrer
Regierungszeit umgesetzt? Außerdem fordert die SPD
das Schüler-BAföG als Vollzuschuss auch für alle Kinder, die noch zuhause wohnen. Dass dies zur sozialen
Gerechtigkeit beiträgt und auch nur in Ansätzen gegenfinanziert ist, bezweifele ich.
Die Linkspartei fordert selbstverständlich Vollzuschüsse für alle. Das erinnert mich sehr an das von
Ihnen geforderte bedingungslose Grundeinkommen.
Mit Seriosität hat das nichts zu tun!
Auch die Grünen-Fraktion fordert beim BAföG Änderungen hin zu einem Vollzuschuss mit einer elternunabhängigen Komponente. Dass auch die Grünen auf
einmal Vollzuschüsse und mehr Geld für alle fordern,
aber nichts dergleichen in ihrer Regierungszeit umgesetzt haben, ist bezeichnend.
Weiterhin fordern sowohl die SPD als auch die Grünen wieder einmal eine erneute Anhebung der Bedarfssätze und der Freibeträge. Die CDU/CSU hat mit
den BAföG-Erhöhungen 2008 und 2010 bereits viel
geleistet. Wir würden aber gerne, genau wie Sie es
fordern, noch mehr tun. Inwieweit aber auch rot-grün
regierte Länder dazu bereit sind, bleibt abzuwarten.
Entsprechend Ihren Forderungen bleiben wir aber
optimistisch.
Insgesamt geht es uns beim BAföG vor allem darum, den Kreis der Berechtigten zu erweitern und das
BAföG anzupassen, beispielsweise durch die Förderung von Teilzeitstudiengängen. Des Weiteren denken
wir an eine bessere Anpassung an die BachelorMaster-Studienstruktur, die Verlängerung der Förderungshöchstdauer um ein sogenanntes Karenzsemester, flächendeckende Online-BAföG-Anträge, die Erhöhung der BAföG-Vorauszahlung, die Anhebung der
Einkommensgrenze für Nebenjobs sowie eine bessere
Ausstattung der BAföG-Ämter durch die verantwortlichen Bundesländer.
Sie sehen, es gibt viele Entwicklungsmöglichkeiten
beim BAföG - auch jenseits einer bloßen Erhöhung
des Fördersatzes. Wir sind jedenfalls beim BAföG zu
allem bereit. Jetzt kommt es auf die rot-grün regierten
Länder an!
Zweitens: Studiengebühren. In ihren Anträgen hat
die Opposition die Abschaffung der Studiengebühren
gefordert. Mittlerweile gibt es in fast keinem Bundesland mehr Studiengebühren. In Bayern und Niedersachsen wurde zuletzt die Abschaffung beschlossen.
Die Debatte über Studiengebühren haben wir oft
genug geführt. Mir ist nach wie vor nicht klar, warum
Kitas Gebühren erheben, aber ein Studium gänzlich
kostenfrei bleiben soll oder warum ein Meisterbrief
teurer als ein Bachelorstudium sein kann. Ich bin
auch, ähnlich wie viele Experten aus dem Bildungsund Wissenschaftsbereich, davon überzeugt, dass die
Debatte über nachgelagerte, einkommensabhängige
und betragsmäßig gedeckelte Studiengebühren - nennen wir sie Akademikerbeiträge - in einigen Jahren
neu geführt werden wird. Denn jährlich 2 Milliarden
Euro zusätzlich durch Akademikerbeiträge hätten
einen maßgeblichen Einfluss auf die Verbesserung der
Lehr- und Studienbedingungen an unseren Hochschulen.
Ihr Konzept hingegen ist, die wegfallenden Studiengebühren aus Steuermitteln zu ersetzen. Leider zeigt
sich in der Realität wieder einmal ein anderes Bild.
Während die CSU in Bayern den Hochschulen das
Geld vollständig und dynamisiert, das heißt angepasst
an steigende Studierendenzahlen, ersetzt, sieht es im
rot-grünen Niedersachsen ganz anders aus. Dort will
die rot-grüne Regierung den Hochschulen die Mittel
für die Studiengebühren zwar ersetzen, den Hochschulen aber gleichzeitig an anderer Stelle 9 Millionen
Euro wegnehmen. Der Großteil der Ausgleichszahlungen wird übrigens durch Kürzungen im Sozialbereich
finanziert. Das ist rot-grüne Realpolitik: Kürzungen im
Hochschul- und im Sozialbereich! Mit Ihren vehemenZu Protokoll gegebene Reden
ten Forderungen in den Anträgen hat Ihre Realpolitik
nichts gemein!
Drittens: Das Deutschlandstipendium. Gebetsmühlenhaft fordern sowohl die SPD als auch die Grünen
die Abschaffung des Deutschlandstipendiums. Inhaltlich stichhaltige Gründe dafür werden in ihren Anträgen jedoch nicht genannt. Die SPD versucht es in
ihrem Antrag mit Falschbehauptungen. Demzufolge
sei die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Regionen
für die Vergabe von Deutschlandstipendien entscheidend. Dies ist falsch. Gerade auch vermeintlich
„strukturschwache“ Regionen, beispielsweise in
Brandenburg, sind sehr erfolgreich bei der Einwerbung von Deutschlandstipendien. Lediglich die Totalverweigerer, wie die Hamburger Hochschulen, haben
keinen Erfolg. Wie denn auch? Sie engagieren sich
nicht und lehnen das Deutschlandstipendium komplett
ab - zulasten der Hamburger Studierenden.
Die neuesten Daten zum Deutschlandstipendium
zeigen dagegen, dass etwa ein Viertel der geförderten
Studierenden BAföG-Empfänger sind und der Frauenanteil bei knapp der Hälfte liegt. Insgesamt konnten im
Jahr 2012 schon fast 14 000 Studierende mit dem
neuen Deutschlandstipendium gefördert werden und
knapp 13 Millionen Euro von privaten Mittelgebern
für die Studierenden gewonnen werden. Das ist ein
großer Erfolg!
Wenn man - wie die SPD - aus rein ideologischen
Gründen die Abschaffung des Deutschlandstipendiums
fordert, würden diese privaten Mittel nicht mehr zur
Verfügung stehen. Dabei brauchen wir doch gerade
auch das Engagement von Privaten, Alumni, Unternehmen und vielen anderen! Warum nur wollen Sie
dies den Studierenden vorenthalten?
Nein, Sie - die SPD wie auch die Grünen - wollen
die Mittel des Deutschlandstipendiums für den Ausbau
des BAföG verwenden. Bei ungefähr 1 Million BAföGEmpfängern würden Sie mit den derzeitigen Aufwendungen des Deutschlandstipendiums eine Erhöhung
von ungefähr einem Euro ({0}) für jeden BAföG-Empfänger erzielen. Ob das als große BAföG-Reform bezeichnet werden kann, darf angezweifelt werden.
Wir von der CDU/CSU können dagegen eine beeindruckende Bilanz unserer Bildungspolitik seit 2005
vorzeigen: Das Budget des Bundesministeriums für
Bildung und Forschung ist seit 2005 um 82 Prozent
gestiegen, der Anteil der Ausgaben für Bildung und
Forschung am BIP auf 9,9 Prozent. Die Zahl der Studienanfänger ist um 38 Prozent auf 493 000 Studienanfänger im Jahr 2012 gestiegen. Insgesamt studieren
derzeit 2,5 Millionen Menschen in Deutschland - eine
Steigerung von 26 Prozent gegenüber 2005. Die Zahl
der BAföG-Empfänger hat unter der CDU um 16 Prozent auf fast 1 Million zugenommen. Der BAföGHöchstsatz ist seit 2005 um 15 Prozent gestiegen. Die
Zahl der Hochschulabsolventen ist von 255 000 auf
404 000 im Jahr 2011 gestiegen. Die staatlichen Bildungsausgaben je Einwohner sind um 17 Prozent gewachsen.
Die Anzahl der Stipendien des Bundes ist sogar um
175 Prozent ({1}) auf 44 000 gestiegen. Genau hier
haben wir international großen Nachholbedarf. Doch
offenbar will die Opposition genau das Gegenteil,
nämlich weniger Stipendien.
All dies sind Zahlen, die belegen, wie erfolgreich
die Unionsbildungspolitik ist. Unter der rot-grünen
Bundesregierung konnten solche Zahlen dagegen nicht
ansatzweise erreicht werden. Im Gegenteil: Das Bildungsbudget wurde sogar dreimal gekürzt.
Wir werden hingegen weiter für Verbesserungen
auch im Bereich der Studienfinanzierung eintreten.
Dazu gehören nach unseren Vorstellungen erstens die
bereits genannten umfangreichen Verbesserungen
beim BAföG mit einer Anhebung vor allem der Freibeträge, zweitens eine Debatte über die Einführung von
intelligenten, nachgelagerten Akademikerbeiträgen.
Das geht aber selbstverständlich nur zusammen mit
dem Aufbau eines umfassenden Stipendiensystems in
Deutschland. Davon würden alle Studierenden in
Deutschland profitieren. Das Deutschlandstipendium
ist dabei nur ein Baustein von vielen. Wir müssen zumindest mittelfristig erreichen, dass wesentlich mehr
Studierende durch Stipendien gefördert werden. Bisher
profitieren in Deutschland nur etwa 3 Prozent der
Studierenden von einem Stipendium. In den USA beispielsweise werden dagegen etwa ein Viertel aller
Studierenden an öffentlichen Hochschulen und an
privaten Hochschulen sogar mehr als die Hälfte der
Studierenden mit einem Stipendium gefördert.
Ich halte es für dringend notwendig, dass wir hierüber auch mit der Opposition einen Konsens finden. Stipendien können nach verschiedenen Kriterien vergeben werden, zum Beispiel nach Leistung, finanzieller
Bedürftigkeit oder sozialem Engagement. Sie haben
aber vor allem den Vorteil, dass sie elternunabhängig
zur Verfügung stehen und einen hohen Leistungsanreiz
bieten.
Insgesamt bin ich der Überzeugung, dass wir die
Studienfinanzierung elternunabhängiger machen müssen und dass wir nur mit einem Dreiklang aus BAföGAusbau, nachgelagerten Akademikerbeiträgen und einem umfassenden Stipendiensystem für alle Studierenden zu einer sozial gerechten Studienfinanzierung
kommen werden. In diesem Sinne wünsche ich mir,
dass wir in der nächsten Legislaturperiode gemeinsam
daran arbeiten, unser System der Studienfinanzierung
weiter zu verbessern.
Bildung ist ein hohes Gut. Sie ist Garant für eine
stabile Demokratie, für das Wohlergehen unseres Landes und Basis für eine gelingende zukünftige Entwicklung. Als Gesetzgeber haben wir dafür zu sorgen, dass
möglichst viele Menschen einen breiten Zugang zur
Bildung bekommen. Wir müssen dafür sorgen, dass
Zu Protokoll gegebene Reden
Marianne Schieder ({0})
alle in unserem Land ihre Potenziale entfalten und entwickeln können.
Leider ist es immer noch so, dass der Zugang zu Bildung hierzulande vom Geldbeutel abhängig ist. Je weiter man in den Süden des Landes geht, desto stärker
wird die Entscheidung für oder gegen den Besuch einer weiterführenden Schule von den finanziellen Möglichkeiten der Eltern und der sogenannten sozialen
Herkunft beeinflusst.
Nach wie vor gelingt es Kindern einkommensschwacher Eltern viel seltener, ein Gymnasium zu besuchen, als dem Nachwuchs von Akademikern, auch
wenn die Kinder gleich intelligent sind. Insbesondere
in Bayern ist der Zusammenhang zwischen sozialer
Herkunft und schulischer Leistung sehr stark ausgeprägt. Bereits vor rund zehn Jahren stellte eine PISAUntersuchung diese Zusammenhänge heraus. Geändert hat sich seitdem nicht viel.
Was nützt es, wenn Bayern bei PISA mit den Leistungen seiner Abiturienten sehr gut abschneidet, aber
nirgends eine so starke Selektion im Vorfeld stattfindet? Noch dazu ist die Differenzierung kaum von den
Leistungen der Kinder als vielmehr von den - unter
anderem finanziellen - Potenzialen der Eltern abhängig. Die CSU verwirkt mit ihrer Schulpolitik das Recht
auf Bildung vieler junger Menschen.
Um diese soziale Schieflage - sie ist nicht nur in
Bayern zu finden, aber anderswo kaum so ausgeprägt
- aufzulösen, fordern wir in unserem Antrag die Ausweitung des BAföG für Schüler und Schülerinnen. Zukünftig sollen alle, die eine weiterführende Schule besuchen, ab Klasse zehn ein Anrecht auf BAföG haben.
Es ist als Sozialleistung bedarfsabhängig zu gewähren.
Das heißt, die Grundlage für die Gewährung bildet die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Eltern. Davon
hängt auch die Höhe der monatlichen Leistung ab.
Gleichzeitig soll die Unterstützung als Vollzuschuss
gewährt werden, um nicht nach der Schulausbildung
der Kinder mit Schulden dazustehen.
Zwar gibt es diese Förderung in ihren Grundzügen
im Rahmen des BAföG bereits. Aber sie kann nur genutzt werden, wenn die Kinder nicht mehr bei den Eltern wohnen und für den Besuch einer weiterführenden
Schule einen eigenen Wohnsitz haben. Dies bringt mit
sich, dass wir die wesentlichen Grundlagen für das
von uns geforderte generelle Schüler-BAföG bereits
haben. Wir brauchen daher „nur“ eine Ausweitung
der bestehenden Regelungen, die dann nicht mehr
einen unterschiedlichen Wohnort von Eltern und Kindern fordert. Wenn Kinder wegen der Schule das
Elternhaus verlassen müssen, so müsste es zukünftig
zusätzlich einen Wohnzuschuss geben.
Von dieser Ausweitung hin zu einem generellen
Schüler-BAföG würden nach aktuellen Schätzungen,
basierend auf den Vorausberechnungen der Kultusministerkonferenz, rund 183 000 Schülerinnen und
Schüler profitieren. Das Geld dafür wäre in jedem Fall
mehr als sinnvoll angelegt, gerade angesichts des sich
anbahnenden Fachkräftemangels. Vor allem könnten
vielen Kindern erheblich bessere Zukunftsperspektiven
eröffnet werden.
Ich möchte an dieser Stelle nur vollständigkeitshalber daran erinnern, dass wir das generelle SchülerBAföG bis 1983 hatten. Leider wurde es von der KohlRegierung - als eine der ersten Taten - abgeschafft.
Seitdem ist die Zahl der Kinder aus klassischen Arbeiterfamilien oder prekären Familienverhältnissen, die
studieren, kontinuierlich zurückgegangen.
Statt diesem Trend entgegenzuwirken, investiert
Schwarz-Gelb lieber in das Betreuungsgeld, das weitere soziale Schieflagen mit sich bringen wird. Ich
kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion: Viele Eltern wären froh, wenn sie der Staat dabei unterstützen
würde, ihren Kindern eine sehr gute Ausbildung bzw.
die Erlangung der Hochschulreife zu ermöglichen.
Diese würde auch bessere Zukunftsperspektiven mit
sich bringen, als denjenigen ein Betreuungsgeld zu bezahlen, die keine staatlich geförderte Einrichtung in
Anspruch nehmen.
Diese Regierung muss endlich aufwachen und darf
nicht nur die vermeintlichen Eliten berücksichtigen,
nur weil man sich davon Wählerstimmen erhofft. Wir
brauchen auch in der Bildungspolitik Instrumente, die
soziale Ungleichheiten beseitigen helfen und breiten
Teilen der Bevölkerung zugutekommen.
Gerade angesichts der turbulenten Zeiten in Europa
sollten wir nicht vergessen, dass Bildung, dass hervorragend ausgebildete Mitbürgerinnen und Mitbürger
das wichtigste Kapital Deutschlands sind. Jeder Cent,
der jetzt in Bildung investiert wird, sichert die Zukunft
unseres Landes und unserer Gesellschaft.
Bildung allen zu ermöglichen - das ist mehr als nur
eine gute Tradition der SPD. Den Menschen den Zugang zu höherer Schul- und zur Hochschulbildung zu
ermöglichen, unabhängig von Herkunft, Familie,
Geldbeutel, ist Kernbestand der sozialdemokratischen
Bildungspolitik. Darum haben wir - unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt - das BAföG
eingeführt.
Vieles hat sich seit den 70ern verändert, doch von
einer Chancengleichheit sind wir immer noch weit entfernt. Wir müssen bestehende Hürden für Bildung abräumen. Nicht alles kann die Politik bewerkstelligen.
Das ist klar. Aber die Politik hat, wie wir alle wissen,
Gestaltungsmöglichkeiten und darf darum nicht tatenlos zuschauen.
Wie in den 70ern ist auch heute das BAföG ein zentrales Thema. Es ist und bleibt für uns das zentrale Instrument der Bildungsfinanzierung. Und zwar, weil es
einen Rechtsanspruch formuliert. So schön Stipendien
sein mögen, sie sind niemals in der Lage die Verlässlichkeit und Breitenwirkung des BAföG zu erlangen.
Und das schwarz-gelbe „Deutschland-Stipendium“
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
löst im Grunde gar kein Problem. Worüber wir glücklicherweise nicht mehr diskutieren müssen ist das
Thema Studiengebühren, das haben wir in Deutschland abgeräumt.
Nur kurz in Stichworten, was wir uns für das BAföG
vorstellen. Wir wollen das Schüler-BAföG ab
Klasse 10 auch für die einführen, die zu Hause leben.
Damit wollen wir den Weg bis zum Abitur unterstützen.
Wir wollen die Bedarfssätze endlich wieder erkennbar
erhöhen, die Freibeträge, die ja definieren, wer überhaupt BAföG erhält, noch deutlicher erhöhen, künftig
einen Automatismus der Erhöhung von Bedarfssätzen
und Freibeträgen verankern, damit dieses ständige
Geschachere und Gefeilsche von Bund und Ländern
zulasten der Leute, die auf BAföG angewiesen sind,
aufhört. Und wir wollen das BAföG an die Lebenswirklichkeit anpassen, indem Pflege, Familie, Krankheit besser berücksichtigt und der Übergang von Bachelor zu Master nahtlos geregelt werden.
Nun ist der BAföG-Bericht der Bundesregierung
bereits eineinhalb Jahre alt. Seither ist die nötige
Anpassung des BAföG nicht vorgenommen worden geschweige denn strukturelle Verbesserungen. Was
macht die Bundesregierung eigentlich? Frau Schavan
hatte auf Zeit gespielt, ihre Nachfolgerin Frau Wanka
hat diese schlechte Übung fortgesetzt und verweist auf
die Bundesländer.
Das BAföG ist nicht das einzige politische Handlungsfeld. Die Leute benötigen zum Studieren nicht nur
eine individuelle Bildungsfinanzierung, sondern auch
eine soziale Infrastruktur. Es braucht Beratung, Kinderbetreuung, gutes und günstiges Essen. Die Studentenwerke leisten hier großartige Arbeit. Aber sie müssen wieder stärker unterstützt werden. Darum haben
wir einen Hochschulsozialpakt entworfen und in den
Bundestag eingebracht.
Vor allem geht es derzeit um das bezahlbare Wohnen! Diese Plauderstündchen von Minister Ramsauer
sind bislang nicht wirklich von durchschlagendem Erfolg gekennzeichnet gewesen. Wir wollen 25 000 neue
Wohnheimplätze mit je 25 000 Euro Bundesmitteln fördern. Ich bringe das auf folgende Formel: Ramsauer
will die Eigenheimzulage, wir wollen bei den Wohnheimen zulegen!
Auch damit ist es noch nicht getan. Damit die Hochschulen offen sind, müssen sie natürlich ausreichend
Studienplätze anbieten. Und diese sollen ja auch hervorragende Lehre garantieren, die die Studierenden
unterstützt und zum Erfolg bringt. Wir haben darum einen „Hochschulpakt plus“ konzipiert. Er geht über
den jüngst aufgestockten Pakt hinaus, indem er erstens
eine schnelle Vereinbarung der dritten Paktphase vorsieht, damit die Hochschulen Planungssicherheit erhalten. Zweitens wollen wir gezielt auch das Angebot
an Master-Studienplätzen fördern - da wird es künftig
immer mehr Probleme geben. Und Drittens wollen wir
mit einem Abschlussbonus nicht nur den Studienbeginn, sondern auch das erfolgreiche Studium, die gute
Lehre unterstützen und Anreize schaffen. Bisher ist es
ja so, dass lediglich Studienanfänger abgerechnet werden - aber was dann mit den Studierenden passiert,
kommt im Pakt gar nicht mehr vor.
Der jetzige Beschluss, den Hochschulpakt aufzustocken, war mehr als überfällig. Seit langem war klar,
dass die finanziellen Mittel nur bis 2014 ausreichen
werden. Lange genug hat der Bund die Länder und die
Hochschulen hingehalten. Zumindest werden nach
dem vorliegenden Ergebnis die Mittel für die Jahre
2011 bis 2015 insgesamt um rund 4,4 Milliarden Euro
erhöht, davon trägt der Bund die Hälfte.
Doch was passiert danach? Wie geht es nun mit dem
Hochschulpakt weiter? Eine langfristig angelegte Vereinbarung lässt weiter auf sich warten: keine Planungssicherheit über 2015 hinaus, keine Strukturverbesserungen.
Was die Länder, die Hochschulen, die Studierenden
brauchen, ist eine Perspektive mit langfristig ausreichenden Mitteln und auch eine strukturelle Weiterentwicklung des Hochschulpaktes.
Leider hat die jetzige Bundesregierung für diese Legislaturperiode beim Hochschulpakt die letzte Chance
vertan - genau wie beim BAföG!
Wie so oft bei bildungspolitischen Anträgen aus den
Reihen der Opposition diskutieren wir auch heute wieder über linke, ideologische Wohlfühlanträge, die die
Realität ausblenden und kein brauchbares Konzept
vorlegen.
Die Bilanz der Koalition aus CDU/CSU und FDP
im Hochschulbereich kann sich sehen lassen. All ihren
Unkenrufen zum Trotz haben wir mit der 23. BAföGNovelle im Oktober 2010 umfassende Modernisierungen in das BAföG-System hineingebracht, die Sie von
der SPD über Jahre in Regierungsverantwortung versäumt haben.
Wir haben unter anderem die Bedarfsätze um zwei
Prozent und die Freibeträge um drei Prozent erhöht,
wir haben die förderrechtliche Altersgrenze für die
Aufnahme eines Masterstudiums auf 35 Jahre angehoben, wir haben die Wohnkosten bei den Bedarfsätzen
voll pauschalisiert, und wir haben eingetragene Lebenspartnerschaften im BAföG förderungsrechtlich
der Ehe durchgängig gleichgestellt.
Das sind nur einige Punkte, die ich hier nenne. Und
die Zahlen geben uns recht. Wir haben im Haushalt für
dieses Jahr 1,505 Milliarden Euro für das BAföG bereitgestellt. 2008 standen wir noch bei 800 Millionen,
wir haben die Zahl nahezu verdoppelt! Gleichzeitig
wächst die Zahl der BAföG-Empfänger kontinuierlich,
wir gehen auf die eine Million Empfänger zu. Und darauf können wir alle gemeinsam stolz sein!
Auch beim Schüler-BAföG brauchen wir uns nicht
zu verstecken. Über 300 000 Schülerinnen und Schüler
Zu Protokoll gegebene Reden
erhalten heute schon ein Schüler-BAföG. Ich wiederhole die Zahl: 300 000!
Diese junge Menschen erhalten eine zusätzliche finanzielle Unterstützung, damit sie entsprechend ihrer
Begabung und nicht nach dem Geldbeutel ihrer Eltern
gefördert werden. Wir wollen mit dem BAföG erreichen, dass Bildungsperspektiven und Bildungsaufstieg
möglich werden, gerade auch über die berufliche Bildung.
Über 70 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind
meist über die Hauptschule oder über die Realschule
in eine berufliche Schule gekommen. Wir setzen mit
dem Schüler-BAföG also exakt dort an, wo Bildungsaufstieg tagtäglich passiert. Das bestehende SchülerBAföG ist somit ein Aufstiegsgarant; diese Regierung
zeigt, wie gelebte Bildungsgerechtigkeit in Deutschland im 21. Jahrhundert aussehen muss!
Ein Blick auf die Realität verdeutlicht dies und zeigt
uns wieder einmal die Doppelmoral der Sozialdemokraten. Nehmen wir als Beispiel das Bundesland
Mecklenburg-Vorpommern: Dort hat sich unter SPDRegierung die Zahl der Schüler-BAföG-Empfänger im
Zeitraum von 2008 auf 2010 um 21,2 Prozent reduziert, gleichzeitig war die Zahl der Schulabbrecher auf
dem Höchststand im Ländervergleich. Das ist ein
Skandal, meine Damen und Herren, und zeigt, dass Sie
sich mit großspurigen Anträgen zurückhalten und erst
einmal Ihre Hausaufgaben in den Ländern erledigen
sollten!
Und wenn wir gerade beim Thema Länder sind: Mit
uns wird es keinen BAföG-Basar mehr geben! Die
Ministerin hat den Ländern ein Angebot gemacht, sich
zusammen mit dem Bund auf eine Erhöhung zu einigen. Dabei geht es um eine sinnvolle Erhöhung der
BAföG-Sätze, die weitere Anerkennung von Teilzeitstudien, die stärkere Flexibilisierung der Altersgrenzen,
die Anhebung der Hinzuverdienstgrenze auf 450 Euro
und die Gleichbehandlung aller Kinder beim Kinderzuschlag. Das ist eine Verhandlungsgrundlage, mit der
wir für die Studierenden in diesem Land konkret etwas
erreichen können. Ich erwarte, dass jetzt konkrete Ergebnisse auf den Tisch gelegt werden!
Und bitte verschonen Sie uns mit dem unwürdigen
Spiel, hier im Deutschen Bundestag Schaufensteranträge zu stellen und gleichzeitig über Ihre Ministerpräsidenten zu blocken, zeitlich immer nur zu schieben
und zu bremsen, wo es nur geht! Ich erwarte von Ihnen
eine klare Aussage, wie sich Ihre Ministerpräsidenten
an den Kosten beteiligen, und will am Ende nicht wieder feststellen müssen, dass diese sich bei der Finanzierung aus der Verantwortung stehlen.
Für alles Mögliche haben Sie in den Ländern Geld,
nur bei der Bildung soll immer wieder der Bund für
ihre unsolide Politik den Geldbeutel öffnen.
Wenn es nach uns von der FDP ginge, könnten wir
das BAföG sogar vollständig reformieren, nämlich
100 Prozent vom Bund finanziert, entbürokratisiert, elternunabhängig und für Studierende mit Beeinträchtigung von der Regelstudienzeit entkoppelt. Das BAföG
ist für uns Liberale der zentrale Anker in der Finanzierung von Studierenden!
Aber nicht nur beim BAföG setzt diese Koalition Akzente. Diese Koalition ändert die Stipendienkultur in
der Bundesrepublik Deutschland Schritt für Schritt.
Mit dem Deutschlandstipendium stieg die Zahl der öffentlich geförderten Stipendien auf weit über 40 000.
Und das Stipendium hat keine Auswirkungen auf die
BAföG-Sätze.
Zudem werden wir das Deutschlandstipendium für
Promovierende öffnen. Knapp 14 000 Studierende haben nach aktuellen Zahlen ein Deutschlandstipendium,
darunter 30 Prozent an Fachhochschulen. Dazu kommt,
dass so auch Studierende, die ihre Hochschulreife über
die beruflichen Gymnasien erreicht haben, in den Genuss eines Stipendiums kommen. Hören Sie also auf,
dies alles kleinzureden, und erkennen Sie diesen Erfolg
bei der Begabungsförderung an.
Und ich sage Ihnen bewusst: Das Land, das seine
Elite nicht fördert, ist nicht zukunftsfähig. Wir brauchen mehr Begabtenförderung, nicht weniger.
Aber das ist auch ein Zeichen dafür, dass Ihnen in
der Bildungspolitik nichts mehr einfällt. Deshalb wärmen Sie auch jetzt wieder das Thema Studiengebühren
auf. Sie rühmen sich mit stolzgeschwellter Brust, dass
keine Hochschule in einem der Länder, in denen Sie
die Verantwortung tragen, auch nur einen Cent Nachteil erleiden würde. Reden Sie doch einmal mit Ihren
Hochschulrektoren, diese werden Ihnen auf Heller und
Pfenning nachweisen, dass diese Aussage falsch ist.
Nicht nur durch die Ermittlung irgendwelcher Durchschnittswerte ist das Aufkommen für die Hochschulen
deutlich niedriger, sondern auch die rasant steigenden
Studierendenzahlen sind in keinster Weise in Ihren Finanzplanungen für den Ausgleich der Studiengebühren
berücksichtigt. Sie enthalten also ihren Hochschulen
das Geld vor, mit dem sie schon für die kommenden
Jahre sicher geplant haben, und tragen deswegen die
Verantwortung für deutlich geringere Zuschüsse.
Darüber hinaus ist es vergeudete Debattenzeit,
schon wieder im Deutschen Bundestag über Dinge zu
diskutieren, die einzig und allein die Länder zu entscheiden haben. Nehmen Sie doch endlich Ihre bildungspolitische Verantwortung wahr und geben Ihren
Hochschulen die Freiheit, die sie brauchen - dazu gehört auch die Freiheit, Studienbeiträge zu erheben
oder nicht zu erheben. Dies sollte nicht der Bundestag
entscheiden, dies sollten nicht die Landtage entscheiden, sondern dies muss künftig einzig und allein in der
Entscheidungskompetenz jeder einzelnen Hochschule
liegen, ob und in welcher Höhe nachgelagerte Studienbeiträge erhoben werden.
Und ein Letztes noch: Was mich hier aber wirklich
ärgert, ist die bildungspolitische Doppelzüngigkeit.
Mit aller Selbstverständlichkeit nehmen Sie hin, dass
jeder Handwerksmeister in der Bundesrepublik DeutschZu Protokoll gegebene Reden
land 6 000 Euro für seinen Meisterbrief aus eigenen
Finanzen auf den Tisch legt, bei Studierenden jedoch
sei dies eine Maßnahme der sozialen Ungerechtigkeit.
Diese Argumentation ist an bildungspolitischer Heuchelei nicht zu überbieten!
Die Bundesrepublik Deutschland braucht nicht weniger Studiengebühren, sondern mehr Hochschulfreiheit. Denn dort, wo Studiengebühren erhoben werden,
verbessert sich die Qualität entscheidend. Die Gelder
kommen den Studenten direkt zugute und machen die
Hochschulen gleichzeitig international wettbewerbsfähiger. Und wenn dann noch Studierende selbst daran
beteiligt sind, was mit ihren Beiträgen passiert, wird
das Ganze auch zu einem Erfolgsmodell, sowohl für
die Studierenden als auch für die Hochschule.
Das Gegenteil bekommen wir ja von Ihnen und Ihren Kultusministern gerade präsentiert: Sie schaffen
Studiengebühren ab, kompensieren gegenüber den
Hochschulen aber die Gelder nicht, legen Ihre Hochschulen zusätzlich an die Kette und lassen so die Universitäten ausbluten. Dass sich so die Situation der
Studierenden nicht verbessert, leuchtet ein. Gleichzeitig bringen Sie die Hochschulrektoren gegen sich auf.
Diese Politik, die Sie da verfolgen, ist wahrlich nicht
nachvollziehbar.
Hören Sie endlich auf mit Ihrem Regulierungswahn,
geben Sie endlich Ihren Hochschulen das benötigte
Geld und fordern es nicht vom Bund und hören Sie vor
allem damit auf, hier immer wieder mit Schaufensteranträgen von Ihren Verfehlungen abzulenken!
Der letzte Bildungsbericht hat erneut gezeigt: Der
Bildungsstatus der Eltern hat nicht nur einen enormen
Einfluss darauf, ob ein Kind ein Gymnasium besuchen
wird. Auch die Chance, überhaupt eine Studienberechtigung zu erwerben und ein Studium zu beginnen,
hängt davon ab. Von 100 Kindern, deren Eltern einen
akademischen Abschluss vorweisen können, nahmen
im Jahr 2009 77 ein Studium auf, während es bei Kindern, deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben,
nur 13 waren. Der Bericht zeigt noch etwas Erschreckendes: Auch wenn Jugendliche eine Studienberechtigung erworben haben, variiert die Wahrscheinlichkeit,
zu studieren, mit dem Bildungsstatus der Eltern - und
das bei gleicher schulischer Leistung. Jetzt werden die
Vertreter von Union und FDP gleich wieder entgegnen: Ja, aber wir haben ein durchlässiges Bildungssystem. Man kann auch über die berufliche Bildung
zur Hochschule kommen. - Aber auch hierzu macht
der Bildungsbericht eine eindeutige Aussage: Die tatsächliche Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschule ist trotz der schon eingeleiteten
Maßnahmen zur Öffnung des Hochschulzugangs noch
sehr begrenzt.
Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, wie es Ihnen angesichts dieser Befunde geht. Mich stimmen sie
traurig und wütend zugleich - traurig, weil vielen jungen Menschen der Weg zur Hochschule verwehrt
bleibt. Bildung ist für die Linke ein Menschenrecht,
und dazu gehört auch der Zugang zu sogenannter höherer Bildung. Wütend stimmen mich diese Ergebnisse
deshalb, weil sie vermeidbar sind. Seit Jahren macht
die Linke bildungs- und hochschulpolitische Vorschläge, um endlich Chancengleichheit herzustellen.
Eine Maßnahme, um junge Menschen aus sogenannten bildungsfernen Familien zu einem Hochschulstudium zu ermutigen, ist eine umfassende Reform des
BAföG. In der Gesetzesbegründung von 1971 wurde
der Anspruch formuliert, durch das BAföG „soziale
Unterschiede … auszugleichen und durch Gewährung
individueller Ausbildungsförderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken“. Auch wenn das BAföG diesem Anspruch nie
ganz gerecht wurde, ist es heute umso notwendiger, zukünftigen Studierenden die Angst davor zu nehmen,
aus finanziellen Gründen nicht studieren zu können.
Die Linke fordert, die BAföG-Sätze umgehend um
mindestens 10 Prozent zu erhöhen. Außerdem - und
das ist insbesondere für Studierende aus Elternhäusern, die über wenig Geld verfügen, wichtig -: Das
BAföG muss wieder als Vollzuschuss gewährt werden.
Nichts hält junge Menschen mehr von der Aufnahme
eines Studiums ab als die Angst vor Verschuldung. Wir
wollen, dass Schülerinnen und Schüler der Oberstufe
endlich wieder BAföG beziehen können; denn die soziale Auslese, die das deutsche Bildungssystem dramatisch durchzieht, beginnt in der Schule, und das muss
endlich durchbrochen werden.
Wir als Linke denken noch weiter: Wenn man
Art. 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, das
Menschenrecht auf Bildung, wirklich ernst nimmt,
dann muss das BAföG dauerhaft elternunabhängig gewährt werden, egal ob die Eltern arm oder reich sind.
Im Übrigen verbieten sich vor diesem Hintergrund
Studiengebühren sämtlicher Art von alleine.
Neben einer umfassenden BAföG-Reform ist die soziale Öffnung der Hochschulen unbedingt notwendig,
wenn wir in Zukunft nicht mehr in den verschiedenen
Bildungsstudien die eingangs zitierten erschütternden
Befunde lesen wollen. Ziel ist, die Durchlässigkeit im
Studium zu erhöhen, anstatt immer neue Hürden einzuziehen. Wenn wir mehr junge Menschen aus Elternhäusern ohne akademischen Hintergrund an die Hochschulen holen wollen, muss es möglich sein, ein
Studium auch ohne allgemeine Hochschulreife oder
Fachhochschulreife aufnehmen zu können. Daher
fordern wir als Linke: Auch mit einer beruflichen Qualifikation soll man studieren können. Zur sozialen Öffnung der Hochschulen gehört auch, allen Bachelorabsolventinnen und -absolventen, die ein Masterstudium
absolvieren möchten, auch die Gelegenheit dazu zu geben. Daher fordert die Linke, das Recht auf ein Masterstudium gesetzlich festzuschreiben.
All diese Forderungen laufen allerdings ins Leere,
wenn nicht ausreichend Studienplätze vorhanden sind.
Trotz der geplanten Aufstockung des Hochschulpakts
Zu Protokoll gegebene Reden
bietet dieser keine nachhaltigen Antworten auf den
Studienplatzmangel und die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen. Die Linke streitet weiterhin für
ein bedarfsgerechtes Angebot an Studienplätzen und
damit auch einer angemessenen Ausstattung der
Grundfinanzierung der Hochschulen.
Dazu muss endlich das mit den Stimmen von Union,
FDP und SPD beschlossene Kooperationsverbot im
Bildungsbereich abgeschafft werden, um so eine
Kofinanzierung durch den Bund zu ermöglichen. Dem
Wettbewerbsföderalismus muss endlich ein Ende gesetzt werden. Wir wollen ihn durch eine Kultur der
Kooperation ablösen, die sich an der Herstellung gleicher Lebensverhältnisse und Bildungschancen in allen
Bundesländern orientiert.
Über 2,5 Millionen Studierende gibt es in Deutsch-
land. Diese Tatsache ist ein Grund zur Freude und
zugleich eine gewaltige Herausforderung. Am Ende
dieser Wahlperiode ist zu konstatieren: Für die amtie-
rende Bundesregierung sind die Herausforderungen zu
groß gewesen. Die Ausgaben für Bildung und For-
schung sind in den letzten Jahren zwar deutlich gestie-
gen, sie entsprechen aber keineswegs dem, was bil-
dungs- und hochschulpolitisch notwendig wäre.
Weiterhin sind die Hochschulen unterfinanziert und
entscheidet soziale Herkunft über Bildungs- und Auf-
stiegschancen. Zudem fehlen an unseren Hochschulen
weiterhin verlässliche Karrierewege für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs und langfristige Beschäfti-
gungsperspektiven auch jenseits der Professur.
Auch hat es die Bundesregierung nicht vermocht, ei-
nen mehrheitsfähigen und lösungsorientierten Vor-
schlag für die Beseitigung des im Grundgesetz veran-
kerten Kooperationsverbotes vorzulegen oder - wie
von uns gefordert - einen Reformkonvent einzuberu-
fen, der gemeinsame konkrete Wege einer besseren
Bund-Länder-Zusammenarbeit in Bildung und Wissen-
schaft erarbeitet. Der Grundgesetzänderungsvorschlag
der Koalition, Kooperation nur für „Vorhaben und
Einrichtungen“ von „überregionaler Bedeutung“ zu
öffnen, würde zu einer Konzentration der Förderung
auf wenige Institute oder Exzellenzuniversitäten mit
internationaler Strahlkraft führen - er ist aber schlicht
ungeeignet, die Grundfinanzierung der Hochschulen
zu verbessern oder für eine dauerhafte verlässliche
und gemeinschaftliche Studienplatzfinanzierung zu
sorgen. Darum muss es aber gehen. Anstatt breite
Bund-Länder-Kooperationen weiterhin per Grundge-
setz zu verbieten, brauchen wir endlich eine Ermög-
lichungsverfassung für bessere Bildung und Wissen-
schaft.
Um auch zukünftig eine moderne Wissensgesell-
schaft und Volkswirtschaft zu bleiben, brauchen wir
mehr Akademikerinnen und Akademiker und eine neue
Bildungsexpansion, in der niemand zurückgelassen
wird. Es wäre zutiefst ungerecht und ökonomisch kurz-
sichtig, junge Talente zu vergeuden und Bildungsauf-
steigern Steine in den Weg zu legen. Auch deswegen ist
das beschlossene Aus von Studiengebühren in allen
Bundesländern ein so wichtiges Signal für die Studien-
berechtigten insbesondere aus Nichtakademikerfami-
lien. Studieren darf nicht an finanziellen Hürden schei-
tern.
Dem Ende der Campus-Maut wollen wir Grüne wei-
tere Schritte für mehr Bildungsaufstieg und Bildungs-
gerechtigkeit folgen lassen. Denn: Aus den vielen jungen
Studienberechtigten müssen Studierende und später
Absolventinnen und Absolventen werden. Dafür brau-
chen wir gut ausgestattete Hochschulen, bessere Stu-
dien- und Lehrbedingungen und eine Erhöhung des
BAföG, damit es zum Leben reicht.
In der Hochschulpolitik war Schwarz-Gelb oftmals
zu zögerlich und zu zaghaft: Schon lange war klar,
dass der Hochschulpakt auf unrealistischen Prognosen
basierte und unterdimensioniert sowie unterfinanziert
war. Der vorhergesagte Studierendenberg hat sich zum
Hochplateau entwickelt. Diese erfreuliche Tatsache ig-
norierte die Bundesregierung beharrlich. Fast zwei
Jahre hat es gedauert, die Verdopplung des Hoch-
schulpaktes 2020 zu verabschieden - und wieder hat
sich die Bundesregierung nur am Nötigsten orientiert.
Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass am Ende
der laufenden Pakt-Phase der Bund erneut eine
„Schippe drauflegen“ muss. So gibt man Hochschulen
und Ländern keine Planungssicherheit und spielt in
mit den Lebenschancen von Studienberechtigten.
Das Mindeste ist, dass Bildungsministerin Wanka
die auf Kante genähte Last-Minute-Einigung in den
letzten schwarz-gelben Haushalt auch zusätzlich ein-
preist: Die Mittel müssen on top in den Bildungsetat
fließen, anstatt den Hochschulpakt über Kürzungen an
anderer Stelle ihres Haushalts zu finanzieren. Es wäre
ein schlechtes Signal, wenn der Studienplatzaufwuchs
etwa zulasten von Auszubildenden oder Forschungs-
förderung realisiert würde.
In der neuen Wahlperiode muss es zudem darum ge-
hen, qualitative Verbesserungen beim Hochschulpakt
umzusetzen. Der Pakt muss endlich zu einem pla-
nungssicheren und wirksamen Instrument werden,
dass genügend Studienplätze im Bachelor- und Mas-
ter-Bereich bereitstellt, die Studienbedingungen flä-
chendeckend verbessert und die Perspektiven des wis-
senschaftlichen Nachwuchses erweitert.
Ein weiteres Beispiel schwarz-gelben Zögerns und
Zauderns ist das BAföG: Anstatt grüne Vorschläge für
ein höheres und besseres BAföG umzusetzen oder auf
die Länder mit einer konkreten eigenen Gesetzesinitia-
tive zuzugehen, hat die Bundesregierung die Hände in
den Schoß gelegt und die Studierenden mit ihren Geld-
sorgen in den letzten Jahren alleine gelassen. Diese
schwarz-gelbe Blockade auf dem Rücken der Studie-
renden würde eine Bundesregierung aus SPD und
Grünen beenden.
Die Studierenden brauchen dringend mehr BAföG,
das zudem einfacher zu beantragen sein muss. Zudem
wollen wir im Laufe der nächsten Wahlperiode in eine
umfassende Reform und Ausweitung der Studienfinan-
Zu Protokoll gegebene Reden
zierung einsteigen: Unser Vorschlag ist das Zwei-Säu-
len-Modell - bestehend aus einer Sockelfinanzierung
„Studierendenzuschuss“ für alle Studierenden und ei-
ner bedarfsabhängigen Säule „Bedarfszuschuss“ für
Studierende aus einkommensarmen Elternhäusern.
Die Kombination beider Säulen führt zu einer besseren
Studienfinanzierung und trägt zur sozialen Öffnung
der Hochschulen bei. Dafür benötigen wir darüber hi-
naus gezielte Investitionen in die soziale Infrastruktur
an den Hochschulen: also den Ausbau von Studien-
und Sozialberatung, von studentischem Wohnen und
der Infrastruktur zum Beispiel für Kinderbetreuung.
Halbherzigkeiten und Zaudern à la Union und FDP
müssen ein Ende haben - sonst droht die große
Chance, die das Studierendenhochplateau bietet, un-
genutzt zu verstreichen. Für uns ist klar: Es muss deut-
lich mehr passieren, um zu mehr gesellschaftlicher
Vielfalt auf dem Campus kommen und um Hochschulen
zu zentralen Lern- und Lebensorten der globalen Wis-
sensgesellschaft zu entwickeln. Eine rot-grüne Bun-
desregierung wird hierfür streiten und anders als
Union und FDP Bildungsgerechtigkeit und Bildungs-
aufstieg oberste Priorität einräumen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13866.
Unter Buchstabe a empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/11823 mit dem Titel „Studienfinanzierung sozial
gerecht gestalten - Studiengebühren abschaffen und
BAföG stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! -
Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grü-
nen und Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.
Wir befinden uns noch bei Tagesordnungspunkt 53 a.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9576 mit dem Titel
„Einführung eines generellen Schüler-BAföG - Ein In-
strument für mehr Chancengleichheit in deutschen
Schulsystemen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten.
Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11824
mit dem Titel „Studiengebühren jetzt bundesweit abschaf-
fen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koali-
tionsfraktionen, Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? -
Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir sind noch im Tagesordnungspunkt 53 a. Weiter-
hin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6372 mit dem
Titel „40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiter-
entwicklung nutzen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Koalitionsfraktionen, Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Linksfrak-
tion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe e seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7026 mit dem Titel „Studienfinanzierung
stärken - Das BAföG zum Zwei-Säulen-Modell aus-
bauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Links-
fraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 53 b und zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung auf Drucksache 17/13867. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12690 mit dem Titel „Hochschulpakt
aufstocken - Finanzierung von wachsenden Studienka-
pazitäten an den Hochschulen langfristig sicherstellen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und
Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir befinden uns noch bei Tagesordnungspunkt 53 b.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/10861 mit dem Titel „Hochschulzugang bun-
desgesetzlich regeln - Recht auf freien Zugang zum
Master sichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Koalitionsfraktionen, Fraktion der Sozialdemo-
kraten und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! -
Linksfraktion. Enthaltungen gibt es infolgedessen keine.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9173 mit dem Titel „Hochschulen auf das Stu-
dierendenhochplateau vorbereiten - Allen Studienbe-
rechtigten die Chance auf einen Studienplatz geben“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koali-
tionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen
und Sozialdemokraten. Enthaltungen? - Die Fraktion
Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 54 a und 54 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Alphabetisierung und Grundbildung in
Deutschland fördern - Für eine nationale
Alphabetisierungsdekade
Vizepräsident Eduard Oswald
- zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Agnes Alpers, Nicole
Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Niemanden abschreiben - Analphabetismus
wirksam entgegentreten, Grundbildung für
alle sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Ekin Deligöz, Krista Sager, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Bildungsarmut durch Alphabetisierung und
Grundbildung entgegenwirken
- Drucksachen 17/9564, 17/8766, 17/8765,
17/13869 Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg ({1})-
Oliver Kaczmarek-
Patrick Meinhardt-
Dr. Rosemarie Hein-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Zugänge schaffen und Teilhabe erleichtern Die Einfache Sprache in Deutschland fördern
- Drucksachen 17/12724, 17/13868 Berichterstattung:Abgeordnete Marcus Weinberg ({3})Oliver KaczmarekPatrick MeinhardtDr. Rosemarie HeinKai Gehring
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir können uns über die besten Bildungsergebnisse
freuen, die es jemals gab. Wir haben in dieser Koalition mehr für Bildung getan als vorherige Regierungen. Allein den Bildungsetat haben wir seit 2005 verdoppelt, und das in Zeiten von Wirtschaftkrise und
Haushaltskonsolidierung. Und die Ergebnisse können
sich sehen lassen: Nie hatten wir mehr Abiturienten,
nie hatten wir mehr Studienanfänger, nie weniger
Schulabbrecher. Bei Vergleichsstudien wie PISA steht
Deutschland deutlich besser da als noch vor acht Jahren. Vor allem im Lese- und Verständnisbereich konnten Deutschlands Schülerinnen und Schüler aufholen.
Doch profitieren leider noch nicht alle Menschen von
diesen Erfolgen. Zu viele Menschen beherrschen nur
unzureichend die deutsche Sprache. 7,5 Millionen sogenannte funktionale Analphabeten gibt es laut der
Hamburger „leo.-Level-One-Studie“ in Deutschland.
Wir sind uns fraktionsübergreifend darin einig, dass
die Anzahl der Analphabeten in Deutschland nicht zufriedenstellend, wenn nicht gar alarmierend ist. Deshalb sind wir uns auch darüber einig, dass dieses
Thema von besonderer Bedeutung ist und oben auf der
bildungspolitischen Agenda stehen muss.
Gut lesen und schreiben zu können, bedeutet, an der
Gesellschaft teilzuhaben und sich ihr nicht verschließen zu müssen. Denn leider führen mangelnde Leseund Schreibfähigkeiten oft zur Isolation, zur Angst vor
dem Entdecktwerden. Die Betroffenen fühlen sich nicht
verstanden; das Selbstbewusstsein leidet.
Die Enttabuisierung aufgrund Stigmatisierung steht
in unserem Fokus. Ziel ist es, so offen und offensiv wie
möglich mit dem Thema Analphabetismus umzugehen,
dies insbesondere, weil für ältere, bereits erwerbstätige Betroffene das Problem des Analphabetismus
auch ein Problem ihrer Außendarstellung ist.
Die Teilhabe an der Gesellschaft steht beim Thema
Alphabetisierung für uns demnach im Vordergrund.
Wichtig ist für uns dabei mehr als nur die Teilhabe am
Arbeitsmarkt oder die Reproduktion von Fachkräften
für den Arbeitsmarkt. Wesentlich ist die Teilhabe am
alltäglichen Leben. Voraussetzung dafür ist unter anderem der barrierefreie Zugang zu Bildung. Wir wollen Bildungsangebote schaffen, die auch von Analphabeten ohne große Hemmnisse wahrgenommen werden
können.
Wenn wir uns für Alphabetisierung einsetzen, haben
wir einen differenzierten Blick auf das Thema. Nur
durch eine stärkere Differenzierung der Ursachen, der
Tiefe sowie der Reichweite können konkrete Maßnahmen entwickelt werden, die dann ergebnisorientiert
und bedarfsdeckend sind. Wir müssen also wissen,
welche Zielgruppen betroffen sind und mit welchen
Programmen ihnen gezielt geholfen werden kann. Bereits bei der Zustandsbeschreibung überlegen wir daher fein- und kleinteilig, welche Programme in welcher Art und Weise greifen und wirken.
In der Alphabetisierungsdekade haben solche Programme ihr Dach gefunden. Das Bundesbildungsministerium stellte in der Alphabetisierungsdekade
50 Millionen Euro zur Verfügung und unterstützt damit
Forschung und Entwicklung der Alphabetisierung. Wir
unterstützen die Unternehmungen der Bundesregierung in Bezug auf eine nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung von Erwachsenen und
konkrete hilfreiche Maßnahmen zur Bekämpfung des
Analphabetismus in einem frühen Stadium der Bildungsbiografie. Wer frühzeitig das Sprechen einer
Sprache erlernt, ist motiviert und mit dem richtigen
Rüstzeug ausgestattet, um später gute Lesefähigkeiten
auszubilden.
Hilfreiche Programme des Bundes sind dabei beispielsweise „Lesestart - Drei Meilensteine für das Le31576
Marcus Weinberg ({0})
sen“ oder die „Offensive Frühe Chancen“. Allein für
diese Offensive investiert der Bund 400 Millionen Euro
bis 2014 in die frühkindliche Sprachförderung in 4000
Schwerpunktkindertagesstätten. Jede dieser Kindertagesstätten kann von diesen Mitteln eine zusätzliche
Halbtagsstelle schaffen, die insbesondere im Bereich
der Förderung der Sprachfähigkeiten eingesetzt wird.
Des Weiteren existieren konkrete Maßnahmen des
Bundes zur Förderung der bereits erwerbstätigen Analphabeten, die arbeitsplatzorientiert ausgelegt sind.
Die Bundesregierung stellt hierfür 20 Millionen Euro
für den Zeitraum 2012 bis 2015 bereit. 5 Millionen
Euro fließen vom Bund in öffentliche Kampagnen und
Integrationskurse für Erwachsene. Für Erwachsene
mit Migrationshintergrund werden 42 Millionen Euro
investiert. Zudem möchte ich nicht unerwähnt lassen,
dass der Bund insgesamt weit mehr als diese erwähnten Mittel ausgibt, um die Belange der Alphabetisierung in Deutschland voranzubringen.
Dort, wo der Bund tätig wird, sind positive Trends
und Entwicklungen zu beobachten. In der letzten Anhörung im Bildungsausschuss des Bundestages bewerteten die Sachverständigen die zahlreichen Maßnahmen des Bundes positiv. Vor allem das Programm
„Lesestart“ wurde als größtes Leseförderprogramm in
der Geschichte der Bundesrepublik gelobt. In der ersten Phase bekamen Eltern mit einjährigen Kindern das
erste Leseset beim Kinderarzt im Rahmen der U6-Vorsorge. Mittlerweile ist die zweite Phase des Programms gestartet. Bis 2015 gibt es nun die Lesesets in
Bibliotheken, wenn die Kinder drei Jahre alt sind. Es
ist geplant, ab 2016 die Schulanfänger zu erreichen.
Der Bund handelt also, wie hier deutlich wird, obwohl die Länder für viele mit der Alphabetisierung im
Zusammenhang stehende Aufgaben zuständig und damit alleinverantwortlich sind. Einige Forderungen des
Antrages der Kollegen der SPD sind daher schon deshalb nicht realisierbar, weil die Bundesregierung keine
verfassungsmäßigen Aufgaben der Länder übernehmen darf.
Im Gegensatz hierzu ist jedoch mit Blick auf die
Länder festzustellen, dass es bei den Ländern in weiten
Teilen noch hakt. Hinsichtlich der Mittelvergabe werden wir jedoch keinesfalls versuchen, hierdurch
gleichsam die „Gesamtkompetenz“ an uns zu ziehen,
sondern es muss gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen eine Lösung entwickelt werden.
Wir stellen auch seitens des Bundes Überlegungen
an, inwiefern wir mit den Ländern noch stärker kooperieren können, um weitere Maßnahmen für die Alphabetisierung fortzuentwickeln. Dabei sind sicherlich
Ansätze wie etwa die Einrichtung einer Clearingstelle
zu diskutieren.
Die in den zu debattierenden Anträgen geforderten
Initiativen bestehen also bereits oder sind in Vorbereitung. Wir begleiten diese Initiativen, bewerten sie, und
falls dies notwendig werden sollte, werden wir mit einem eigenen Antrag gegebenenfalls nachsteuern. Dennoch messen wir die Bedeutung eines Themas nicht an
der Anzahl der Anträge, sondern daran, was dafür getan wird.
Für uns ist entscheidend, passende Bildungsangebote und die entsprechend benötigte Infrastruktur bereitstellen zu können. Entscheidend ist bei allen Maßnahmen, jede Altersgruppe in die Förderung und
Unterstützung einzubeziehen, also von der frühkindlichen Phase bis ins höhere Alter. Ziel unserer Bestrebungen sollte dabei immer sein, dass allen Menschen
die Chance auf Teilhabe an der Gesellschaft möglich
ist und sich niemand mehr aufgrund seiner Lese- oder
Schreibfähigkeiten verstellen muss.
Wir debattieren heute drei Anträge zum Thema Alphabetisierung und Grundbildung - bei allen handelt
es sich um Initiativen der Oppositionsfraktionen. Es
freut uns, dass sich nach unserem Antrag aus dem Jahr
2011 auch die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/
Die Grünen des Themas angenommen haben. Viel zu
lange hat man so getan, als wäre Analphabetismus ein
Problem, das nicht in einer hochindustrialisierten und
hochgebildeten Gesellschaft wie etwa der Bundesrepublik Deutschland auftreten kann. Seit Veröffentlichung
der Level-One-Studie wissen wir jedoch, dass Analphabetismus auch in der Mitte unserer Gesellschaft
auftritt. Über 7,5 Millionen Menschen in Deutschland
sind von funktionalem Analphabetismus betroffen.
Wann werden also die Fraktionen der Regierungskoalition den Kampf gegen funktionalen Analphabetismus
endlich ganz oben auf die bildungspolitische Agenda
setzen?
Die SPD-Bundestagsfraktion bleibt jedenfalls am
Ball: Wir fordern in unserem Antrag eine nationale Alphabetisierungsdekade, mit der die Grundbildungskompetenzen in Deutschland ganz entscheidend verbessert werden sollen. Bund, Länder und Kommunen
sowie die Tarifparteien und die Bundesagentur für Arbeit müssen gemeinsam und entschlossen handeln, um
Menschen mit Lese- und Schreibschwäche zu unterstützen. Der Bund soll hierbei der Motor der Dekade
sein und auch finanziell eine Vorreiterrolle einnehmen.
Denn noch immer schiebt die Bundesregierung die
Verantwortung über wesentliche Maßnahmen auf die
Länder und Kommunen. Der bisherige Beitrag des
Bundes im Bereich Alphabetisierung und Grundbildung muss aber selbst, insbesondere wegen des geringen Mitteleinsatzes, hinterfragt werden.
Besonders problematisch für die Akteure der Alphabetisierungsarbeit ist die fehlende nachhaltige Perspektive ihrer Arbeit. Es ist nicht hinnehmbar, dass Vereine
und Verbände regelmäßig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen oder Räumlichkeiten aufgeben müssen, weil sie nicht wissen, wie es nach einzelnen, zeitlich befristeten Projekten weitergehen soll. Ziel einer
wirkungsvollen Alphabetisierungsarbeit sollte eine sichere und langfristige Finanzierung und der Aufbau
Zu Protokoll gegebene Reden
von projektunabhängigen, bundesweiten und nachhaltigen Strukturen sein.
Wichtige Träger der Alphabetisierungsarbeit wie
der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., die Volkshochschulen oder die Stiftung Lesen müssen gestärkt werden - doch nicht nur das; sie
müssen insbesondere in die Planung von Maßnahmen
mit einbezogen werden. Wir brauchen ein stabiles und
nachhaltiges Netzwerk von Akteuren der Alphabetisierungsarbeit in Bund, Ländern und Gemeinden.
Darüber hinaus ist ein verlässliches und qualitätsgesichertes Angebot an Alphabetisierungskursen dringend nötig. Um den Betroffenen eine realistische
Chance auf gesellschaftliche Teilhabe geben zu können, müssen mindestens 100 000 Kursplätze für Alphabetisierung und Grundbildung bereitgestellt werden.
Durch verbindliche Qualitätsvorgaben der Aus- und
Fortbildung und gute Arbeitsbedingungen für Kursleiter soll eine hohe Qualität und Wirksamkeit der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit gesichert werden. Die angespannte finanzielle Lage vieler Länder
kennen wir - deshalb ist auch der Bund in der Pflicht.
Eine sinnvolle Zusammenarbeit von Bund, Ländern
und Kommunen in der Alphabetisierung und Grundbildung kann nur durch Abschaffung des Kooperationsverbots erreicht werden. Die SPD hat hierzu mehrere
Vorschläge gemacht, die die schwarz-gelbe Koalition
beharrlich blockiert.
Um Menschen mit Lese- und Schreibschwäche zu
erreichen und die Grundbildungskompetenzen zu stärken, muss die Tabuisierung des Themas ein Ende haben. Wir setzen uns deshalb für eine breit angelegte
„Alpha-Offensive“ ein. Nicht nur Betroffene und deren
Umfeld müssen angesprochen werden, auch bei Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Beschäftigten
in öffentlichen Einrichtungen und staatlichen Stellen
soll ein Bewusstsein für funktionalen Analphabetismus
geschaffen werden.
Eine Schlüsselrolle im Bereich Alphabetisierung
kommt dabei auch der Bundesagentur für Arbeit zu.
Sie muss stärker für das Thema sensibilisiert werden,
damit wir eine bessere Unterstützung und eine dauerhafte Integration der Betroffenen in den Arbeitsmarkt
erreichen können.
Wir haben beim Thema Alphabetisierung und
Grundbildung konkrete Vorschläge gemacht. Nun liegt
es an Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Regierungskoalition, den Menschen mit Lese- und
Schreibschwäche in Deutschland gesellschaftliche
Teilhabe zu ermöglichen. Die über 14 Prozent unserer
erwerbsfähigen Bevölkerung sollten es Ihnen wert
sein.
Es ist ja wohl leider so, dass über die verschiedenen
Anträge zur Förderung der Alphabetisierung, aber
auch über den besonderen Antrag der SPD-Fraktion
zur Förderung der Einfachen Sprache in Deutschland
nicht direkt im Parlament gesprochen und gestritten
wird, sondern wir dieses nur über den Ausschuss und
die zu Protokoll gegebenen Reden bei der ersten und
bei der abschließenden Lesung dieser Anträge tun.
Auf die Stellungnahmen der anderen Fraktion hin
möchten wir von der SPD deshalb gegenüber der Partei Die Linke festhalten: Auch wenn Sie uns immer wieder anderes vorhalten: Wir nehmen den besonderen
Aspekt der Einfachen Sprache und deren Förderung
nicht als Allheilmittel für die ganzen komplizierten Bildungsdefizite und Schwierigkeiten in der Bildungsteilhabe, die uns genauso bekannt sind wie Ihnen und die
wir genauso tiefsinnig analysieren und in Konzepte
umsetzen können, wie Sie dies auch versuchen. Es ist
ausdrücklich nicht so, dass für uns Einfache Sprache
ein Allheilmittel ist, und wir finden uns auch nicht damit ab, dass es für einen viel zu großen Teil von Menschen keine ausreichende Grundbildung von Anfang
an gibt, die sich dann im Lebenslauf aufbauen könnte.
Diese Kritik der Linken ist bemerkenswert oberflächlich, und wir wundern uns nur immer wieder, dass Ihnen nichts anderes einfällt, wenn andere Fraktionen
einen sehr ernst gemeinten Aspekt einzeln herausgreifen und versuchen, bei diesem einzelnen Aspekt in eine
tiefere Betrachtung einzutreten, als dann immer das
Große und Ganze einzufordern, statt auch einmal eine
Vertiefung an einem Aspekt zuzulassen. Das ist auch
alles andere als ein Schaufensterantrag, sondern er
verdient ernsthafte Behandlung.
Wir haben uns in diesem Sinne gefreut, dass die
Kollegen von der Partei Bündnis 90/Die Grünen sowohl im Ausschuss als auch in ihren Redebeiträgen
anlässlich der ersten zu Protokoll gegebenen Reden
sehr genau darauf eingegangen sind, was der Bundestag schon tut und der Bundestag noch tun könnte. Wir
sehen uns durch diese Vorschläge auch seitens der
Grünen mit bestätigt, dass auch der Bundestag von der
Zeitschrift „Das Parlament“ bis hin zu eigenständigen
Publikationsangeboten und einer Stärkung des Internets noch mehr und dies ganz praktisch tun kann, um
allen Sprachniveaus Zugang zur Teilhabe zu ermöglichen und hierzu zu ermutigen. Wir finden auch den
Hinweis sehr wichtig, den die Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen gemacht haben, dass
die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung entlassen
werden darf, ihrerseits Menschen anzusprechen und zu
fördern, die mit Einfacher Sprache bisher nur umgehen können und die sich über Einfache Sprache in ihrer sprachlichen Kapazität und Kompetenz weiterentwickeln können müssen.
Es wird dringend Zeit, dass auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft sich endlich am großen Alphabetisierungsbündnis beteiligen, das von der
Bundesregierung vor einiger Zeit zusammen mit den
Ländern ins Leben gerufen worden ist. Wenn wir wissen, dass über die Hälfte der 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten auf den Literacy-Niveaus von 1 bis 3
und sicherlich noch viel mehr auf dem Alpha-LevelNiveau 4 in einem Arbeitsverhältnis stehen, dann muss
Zu Protokoll gegebene Reden
die Förderung der Lese- und Schreibfähigkeit dieser
Menschen auch ein ernsthaftes Anliegen derjenigen
sein, die als Sozialpartner, sei es als Arbeitgeber oder
sei es als Arbeitnehmer, über ihre Spitzenorganisationen die Arbeitswelt mitgestalten. Die Gewerkschaften
sind beim Alphabetisierungsbündnis dabei. Die Arbeitgeberverbände dürfen hier nicht länger warten.
Tatsächlich gibt es an der Basis der Betriebe hier
schon viel mehr Zusammenarbeit und gutes praktisches Wirken, als es die Spitzenorganisationen der
Wirtschaft offensichtlich bisher wahrhaben wollen und
begriffen haben.
Was an den Beiträgen der CDU/CSU und FDP im
Ausschuss Mut gemacht hat, ist deren ausdrückliche
Feststellung, dass in dem SPD-Antrag viele Vorschläge enthalten sind, denen auch FDP und CDU/
CSU zustimmen können und die sie gerne unterstützen
wollen. Wir behaupten ja gar nicht, dass alles vollkommen neu sei, was wir in dem Initiativantrag „Zugänge
schaffen und Teilhabe erleichtern - Die Einfache Sprache in Deutschland fördern“ in Analyse und Forderungen zusammengetragen haben. Wir sind allerdings
sehr davon überzeugt, dass wir uns bisher viel zu wenig um das große Spektrum der Menschen gekümmert
haben, die das Lesen nach Möglichkeit vermeiden und
die über Einfache Sprache in Text und Wort besser
erreicht und auch in ihrer Sprachkompetenz weiter
aufgebaut und gefördert werden können. Wenn der
Kollege Schummer zum Abschluss der Ausschussberatungen gesagt hat, dass CDU/CSU und FDP aus uns
zwar in der Sache unverständlichen, aber nun einmal
hinzunehmenden Gründen dem SPD-Antrag nicht ihre
Unterstützung geben können, dass aber in einer neuen
Legislaturperiode eine fraktionsübergreifende gemeinsame Initiative gestartet werden sollte, Einfache Sprache in Deutschland stärker in den Blickpunkt zu nehmen und hier zu einer Förderstrategie zu kommen,
dann wollen wir dieses gerne als hoffnungsvolles Zeichen dafür aufnehmen, dass diese SPD-Initiative nicht
vergeblich gewesen ist und sich hier etwas bewegt.
Was sich bewegen muss, soll noch einmal in der Zusammenfassung zu unserem fertigen Antrag in drei
Schwerpunkte gekleidet werden:
Erstens. Wir müssen noch mehr Kenntnis und Verständnis entwickeln über die Situation der 13 Millionen Menschen, die nur fehlerhaft Lesen und Schreiben
können. Wir müssen noch besser verstehen, aus welchen Gründen sich diese Hemmnisse und Unzulänglichkeiten aufgebaut haben und welche Strategien besonders erfolgversprechend sind, wenn wir diese
Menschen unterstützen und ihnen helfen wollen.
Zweitens. Wir brauchen mehr Menschen, die als Expertinnen und als Experten darin ausgebildet sind und
kompetent daran arbeiten können, Texte und Dokumente in Einfache Sprache zu übersetzen, und damit
die Voraussetzung für deren Verbreitung zu schaffen.
Wir merken es immer wieder an uns selbst: Es ist nicht
einfach, komplizierte Sachverhalte oder auch nur alltägliche, in einer komplexer angelegten Sprache kommunizierte Sachverhalte in Einfache Sprache umzusetzen. Hier muss gemeinsam mit den Ländern und den
Kommunen und allen gesellschaftlichen Partnern umorganisiert und neu Kompetenz aufgebaut werden.
Drittens. Teilhabe über Einfache Sprache im Kontakt mit staatlichen Stellen ist nicht nur eine Schlüsselerfahrung für betroffene Menschen, sondern sie ist
auch eine Bringschuld der staatlichen und öffentlichen
Stellen, an welchem Punkt und in welcher Form auch
immer. Alle Menschen müssen das Recht haben, sich
über Einfache Sprache orientieren zu können, in öffentlichen Angelegenheiten auch Zugang zu bekommen und hierüber auf sich und ihre Interessen aufmerksam zu machen. Dafür brauchen wir mehr
Verbindlichkeit und mehr Initiative.
So weit die Kernpunkte unseres Antrags, so weit die
Hoffnung darauf, dass sich dieses nach der Bundestagswahl in einer interfraktionellen Initiative aller
Fraktionen des Bundestages wiederfindet, und so weit
die Ankündigung, dass wir als SPD jedenfalls nicht locker lassen werden, hier Schritt für Schritt im Interesse
der vielen betroffenen Menschen voranzukommen.
Die Veröffentlichung der leo. Level-One-Studie im
Jahr 2011 hat verdeutlicht, dass es in Deutschland eine
erschreckend hohe Anzahl von 7,5 Millionen funktionalen Analphabeten in der Altersgruppe der 18- bis
64-Jährigen gibt. Besonders unglaublich dabei ist,
dass 1 Million in dieser Gruppe über das Abitur verfügen!
Weitere 19,3 Prozent oder circa 1,5 Millionen können keinen Schulabschluss vorweisen. Wenn es also
ein Thema gibt, bei dem es um Bildungsgerechtigkeit
geht, dann die Frage, wie Menschen, die nicht richtig
lesen und schreiben können, eine Perspektive in unserer Gesellschaft bekommen.
Funktionaler Analphabetismus ist in Deutschland
also kein Nischen- oder Randproblem, sondern betrifft
die Gesellschaft in ihrer gesamten Breite. Wir bedürfen
einer gewaltigen Kraftanstrengung, um dieses Problem effektiv bekämpfen zu können. Alle gesellschaftlichen Akteure sind gefragt. Nur gemeinsam können
Bund, Länder und Kommunen die notwendigen Maßnahmen zur effektiven Unterstützung der von funktionalem Analphabetismus beeinträchtigten Bürger treffen.
Bereits heute beteiligen sich schon viele Organisationen am Kampf gegen Analphabetismus. Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle die exzellente Arbeit des Bundesverbands für Alphabetisierung und
Grundbildung und der Stiftung Lesen erwähnen. Die
Letztgenannte durfte in dieser Woche ihren 25. Geburtstag feiern. Dazu von dieser Stelle noch einmal
herzlichen Glückwunsch, machen Sie mit Ihrer tollen
Arbeit weiter, wir brauchen Sie!
Maßnahmen müssen bereits präventiv im frühkindlichen Bereich ansetzen, um Analphabetismus erfolgZu Protokoll gegebene Reden
reich verhindern zu können. Vor allem ist es wichtig,
dass Vorlesen wieder eine Selbstverständlichkeit in
Deutschland wird und Kinder wie auch Eltern wieder
für das Vorlesen begeistert werden. Denn nur dort, wo
vorgelesen wird, entwickelt sich auch ein bildungspositives Umfeld. Lesen ist eine Schlüsselqualifikation!
Vorlesen ist Elternpflicht!
Genauso sind aber frühe Elternansprache und Elterneinbindung, Sprachstandsdiagnosen und Sprachförderung ein wichtiger Schlüssel, um schon im
Kindesalter die Anfänge von Analphabetismus zu bekämpfen und gerade auch Kinder mit Migrationshintergrund frühzeitig zu fördern. Hierzu zählt auch, dass
Lehrerinnen und Lehrer und Erzieherinnen und Erzieher entsprechend aus- bzw. weitergebildet werden, um
Anzeichen für Analphabetismus frühzeitig erkennen
und ihnen entgegenwirken zu können.
Die Frage der Alphabetisierung und Grundbildung
ist vor allem aber eine Frage von Bildungschancen,
die im Vordergrund bildungspolitischer Debatten stehen müssen. Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass
Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben können, entsprechend gefördert werden und adäquate Unterstützung erhalten. Hierbei ist besonders entscheidend, dass Maßnahmen aus dem Bereich der
Alphabetisierung mit anderen bildungspolitischen Instrumenten wirkungsvoll verknüpft werden, um die
hohe Zahl der Analphabeten einzudämmen. Deutschland braucht einen „Alphaplan“, einen Masterplan
Alphabetisierung!
Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat bereits
durch einige Maßnahmen gezeigt, dass sie sich der
Problematik des funktionalen Analphabetismus stellen
will:
Erstens. Wir haben 20 Millionen Euro für das Programm „Lesestart“ bereitgestellt, bei dem in den kommenden acht Jahren 4,5 Millionen Lesestart-Sets verteilt werden.
Zweitens. Wir haben die „Offensive Frühe
Chance“, die 4 000 Schwerpunktkindertagesstätten im
Bereich der Sprachkompetenz unterstützt, ins Leben
gerufen.
Drittens. Wir haben ein Programm zur arbeitsplatzorientierten Forschung und Entwicklung für Grundbildung geschaffen, das mit 20 Millionen Euro ausgestattet wurde.
Viertens. Wir haben Mittel für Alphabetisierung und
Grundbildung aus dem Europäischen Sozialfond in
Höhe von 35 Millionen Euro aktiviert.
Fünftens. Wir fördern 24 Verbundvorhaben mit über
100 Einzelmaßnahmen mit einer Gesamtfördersumme
von über 30 Millionen Euro.
Sechstens. Wir haben die Bildungsprämie für Maßnahmen der Alphabetisierung und Grundbildung geöffnet sowie die Prämienhöhe von 150 auf 500 Euro
verdreifacht.
Siebtens. Wir haben die „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ eingerichtet.
Achtens. Wir haben mit den 5 Millionen Euro, die
die FDP in den Haushalt hineinverhandelt hat, die Initiative „Lesen und Schreiben - Mein Schlüssel zur
Welt“ gestartet.
Neuntens. Wir führen die wichtige Initiative
„iChance“ fort.
Mit diesen Maßnahmen sind wir noch lange nicht
am Ziel, haben aber bereits einen guten Weg beschritten, den wir jetzt verstetigen und weiter ausbauen müssen.
Eines der größten Hemmnisse beim Kampf gegen
den Analphabetismus ist die Angst der Betroffenen, mit
ihrem Problem an die Öffentlichkeit zu gehen und Hilfe
in Anspruch zu nehmen. Es ist keine Schande, nicht
richtig lesen und schreiben zu können. Es ist aber eine
Schande, wenn wir als Gesellschaft zulassen, dass
Menschen sich zurückziehen und verbergen, weil sie
meinen, sich für ihre vermeintliche Unzulänglichkeit
schämen zu müssen. Daher muss die Gesellschaft noch
mehr für dieses Thema sensibilisiert werden. Nur wenn
alle hier an einem Strang ziehen, kann diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe bewältigt werden. Dazu wollen
wir Liberale eine Kampagne zur Gewinnung von „Alphapaten“, die sich ehrenamtlich für Alphabetisierung
engagieren. Dies kann und sollte in enger Kooperation
mit den regionalen Wirtschaftsorganisationen stattfinden.
Genauso wichtig ist es aber, die sogenannten Mitwisser aufzuklären und zu sensibilisieren. Wir setzen
uns dafür ein, dass ein gesellschaftspolitisches Klima
geschaffen wird, in dem Analphabetismus enttabuisiert
und alle gesellschaftlichen Institutionen dafür sensibilisiert werden.
Darüber hinaus ist es bildungspolitisch dringend
erforderlich, alle Anstrengungen zu intensivieren, um
die Schulabbrecherquote in Deutschland deutlich zu
reduzieren. Hier sind die Länder in der Pflicht, die sie
bedauerlicherweise äußerst unterschiedlich wahrnehmen. Gerade die rot-grün geführten Länder kommen
hier allzu oft ihrer Pflicht nicht nach, sind aber zugleich diejenigen, die sofort Bundesmittel für Maßnahmen wollen, die sie aus dem Landeshaushalt nicht finanzieren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grünen, rütteln Sie doch ihre Länderkollegen bitte wach
und appellieren Sie an sie, endlich ihrer Verantwortung gerecht zu werden! Es gibt nämlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Schulabbruch und
der verstärkten Gefahr des Analphabetismus. Umso
unverständlicher ist es, dass Länder hier nicht bereit
sind, alle notwendigen Kraftanstrengungen zu unternehmen.
Jetzt wird es wichtig, dass Thema Grundbildung
und Alphabetisierung in alle bildungspolitischen NetzZu Protokoll gegebene Reden
werke in der Bundesrepublik Deutschland einzuspeisen.
Wir Liberale setzen uns dafür ein, dass Alphabetisierung ein stärkeres Gewicht in der Bildungspolitik
bekommt. Wünschenswert wäre hierfür sicherlich eine
zentrale Koordinierungsstelle für Alphabetisierung,
eine Berücksichtigung und Schulung von Lehrerinnen
und Lehrern zur Erkennung von Symptomen für Analphabetismus und die Evaluierung der bestehenden
Maßnahmen durch einen eigenen Schwerpunkt im Nationalen Bildungsbericht.
Zentral wichtig ist für uns jedoch, dass wir im Rahmen einer nationalen Alphabetisierungsdekade eine
„Alphastiftung“ einrichten. Dies soll möglichst so geschehen, dass wir die schon bestehende Stiftung im Bereich Alphabetisierung und Grundbildung zu einer
Bundesstiftung umbauen. Hierfür werden wir im gesamten bildungspolitischen Raum in Deutschland eine
große Überzeugungsarbeit leisten müssen. Mit einer
solchen Stiftung könnten wir pragmatisch und unkompliziert direkt Maßnahmen zur Alphabetisierung finanzieren und das Geld dort ausgeben, wo es den Bedürftigen zugutekommt und nicht in irgendwelchen Kultusbürokratien versickert.
Wir sind beim Thema Alphabetisierung noch lange
nicht am Ziel. Aber wir sind auch dank der Politik dieser Regierung auf einem guten Weg, die hohe Zahl der
funktionalen Analphabeten zu senken. Lassen Sie uns
hier über Parteigrenzen hinweg an einem Strang ziehen und diesen Menschen helfen.
Vor mehr als zehn Jahren wurde die UN-Weltdekade
für Alphabetisierung ausgerufen. Dies und die damit
im Zusammenhang stehenden Anhörungen, Kampagnen und Veranstaltungen haben alle Oppositionsfraktionen dazu bewogen, Anträge zu Alphabetisierung
und Grundbildung zu stellen. Deutschland ist aus gutem Grund Mitunterzeichner der UN-Dekade. Obwohl
es über ein im Vergleich zu anderen Teilnehmerländern
gut ausgebautes Bildungssystem verfügt, können
14,5 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
nicht oder nicht richtig lesen und schreiben. Das sind
7,5 Millionen Menschen - ein Skandal für ein reiches
Land wie die Bundesrepublik Deutschland. Entsprechend groß war zu Recht auch der Aufschrei in der Öffentlichkeit nach der Veröffentlichung der Leo-Studie
im vergangenen Jahr. Eine Kampagne wurde neu aufgelegt, immerhin ziemlich am Ende der Dekade. Die
Bundesregierung hatte mit der von ihr verantworteten
Abschlussveranstaltung zur Dekade am 22. April dieses Jahres eigentlich Erfolge vermelden wollen, aber
dafür war die Teilnahme zu spärlich, die Präsenz der
Bundesregierung unbefriedigend, die Resonanz zu gering.
Nach dem großen medialen Aufschrei ist es offensichtlich ruhiger um diese Tatsache fehlender Grundbildung geworden. Das macht uns und offensichtlich
auch den auf diesem Gebiet tätigen Vereinen und Bildungseinrichtungen besonders große Sorgen. Obwohl
es in allen Ländern Alphabetisierungskampagnen gibt,
bleiben messbare Ergebnisse aus. Darum wurde auf
dieser Konferenz auch ein neuer, nunmehr nationaler
Aktionsplan gefordert. Diese Forderung unterstützen
wir unbedingt. Auch die Forschung muss weitergehen;
denn nach wie vor wissen wir zu wenig über die Ursachen von Analphabetismus, nach wie vor verlassen zu
viele junge Menschen die Schule nicht nur ohne Schulabschluss, sondern auch mit unzureichenden Lese- und
Schreibfähigkeiten. Nach wie vor ahnen wir nur, wann
und warum Menschen im Laufe ihres Berufslebens das
Lesen und Schreiben wieder verlernen. Nach wie vor
kommen zu wenige in die Alphabetisierungskurse. Und
Analphabetismus wird immer noch als Tabu behandelt.
Frau Professor Grotlüschen hat in der Anhörung
zum Problem im Bundestag die Schulfixiertheit der
deutschen Bildungspolitik kritisiert. Da ist wohl etwas
dran. Gerade das Thema „lebensbegleitendes Lernen“
wird zwar als politische Forderung gern im Munde geführt, aber gerade Fragen der Weiterbildung werden
von allen Akteuren außerhalb der Institutionen der
Weiterbildung sehr vernachlässigt. Gilt das schon für
die berufliche Weiterbildung, so gilt das noch mehr für
die allgemeine Weiterbildung. Hier aber wäre der Ort
für eine wirksame Gegenstrategie zur fehlenden oder
verloren gegangenen Grundbildung.
Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in den
kommenden Jahren und Jahrzehnten kann aber auch
nicht erreicht werden, wenn man in der öffentlichen
allgemeinen und beruflichen Schulbildung weitermacht wie bisher. Es muss gelingen, die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen, die ohne Schulabschluss
und ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten
die Schule verlassen, drastisch zu reduzieren.
In Deutschland wurde das Dekadenziel in dieser
Frage nicht erreicht. Die Fraktion Die Linke fordert
darum, sowohl das Augenmerk auf die Verbesserung
der Schulbildung zu legen wie ein neuerliches Programm zur Verbesserung der Grundbildung für Menschen ohne ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse
aufzulegen. Diese Programme müssen finanziell besser ausgestaltet werden. Die Weiterbildnerinnen und
Weiterbildner müssen besser bezahlt werden. Die Unternehmen müssen sensibilisiert werden. Aber betroffene Menschen dürfen nicht aus dem Berufsleben ausgegrenzt werden. Vielmehr brauchen wir eine neue
Offenheit, mit Analphabetismus umzugehen, um ihn zu
überwinden. Dafür müssen diagnostische Fähigkeiten
in der Lehramtsaus- und -weiterbildung verbessert
werden. Dabei bleibt zu bedenken, dass es für Analphabetismus sehr unterschiedliche Ursachen, sehr
unterschiedliche Ausprägungen gibt und dass es notwendigerweise auch unterschiedliche Gegenstrategien
geben muss. Und: Grundbildung umfasst mehr. Es geht
um all das, was Menschen brauchen, um sich in dieser
Gesellschaft Teilhabe zu sichern. Dazu gehören also
nicht nur die einschlägigen Kulturtechniken, sondern
Zu Protokoll gegebene Reden
auch ein Grundverständnis von demokratischen Zusammenhängen und Mitwirkungsmöglichkeiten.
Ideen gibt es ohne Zweifel viele; den verbalen Bekenntnissen müssen aber politische Konsequenzen folgen. Dabei darf der Bund die Zuständigkeit nicht weiter auf die Länder abschieben. Es reicht nicht, nur mit
weiteren Projekten und Programmen wie dem Bildungs- und Teilhabepaket oder den sogenannten Bildungskonten oder einem ganzen Blumenstrauß von
Programmen und Progrämmchen eingreifen zu wollen.
Wir brauchen eine andere, nämlich nachhaltige Finanzierung der Bildungsaufgaben auf allen Ebenen und in
ganz Deutschland. Die Sicherung gleicher Bildungsteilhabemöglichkeiten für alle ist eine Aufgabe öffentlicher Daseinsvorsorge von gesamtgesellschaftlicher
Dimension. Sie muss deshalb in gesamtstaatliche Verantwortung.
Die Anträge von SPD und Grünen gehen in die richtige Richtung. Während wir die Ansätze der SPD zu Alphabetisierung und Grundbildung weitgehend teilen
und dem Antrag deshalb auch zustimmen, bleibt der
Antrag der Grünen halbherzig. Darum enthalten wir
uns. Zum Antrag der SPD über einfache Sprache werden wir uns ebenfalls enthalten, weil wir eine einfache
und verständliche Sprache in allen Lebensbereichen
zwar für sinnvoll halten, die Schaffung einer zusätzlichen Kategorie neben der leichten Sprache skeptisch
sehen. Sie kann auch zur Diskriminierung von Menschen führen und wäre darum kontraproduktiv.
Die Fähigkeiten, zu lesen und zu schreiben, sind
wichtige Voraussetzungen gesellschaftlicher Teilhabe.
Die Ergebnisse der Level-One-Studie zeigen, dass
rund 7,5 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter
hierzulande funktionale Analphabeten sind und somit
den Sinn einfacher Texte nicht verstehen können. Dies
muss uns genauso aufrütteln und zum politischen Handeln bewegen wie der PISA-Schock. Das Thema Analphabetismus muss raus aus der Tabuzone und entschieden angegangen werden. Deswegen ist es gut und
wichtig, dass auch wir uns als Bundestag mit darum
kümmern, an diesem unhaltbaren Zustand grundlegend etwas zu ändern.
Analphabetinnen und Analphabeten sind in ihren
sozialen, beruflichen, ökonomischen und kulturellen
Teilhabemöglichkeiten massiv eingeschränkt. Viele für
uns selbstverständliche Handlungen bedeuten für sie
eine große Anstrengung und Überwindung. So sind das
Lesen und Verstehen von Fahrplänen oder auch der
Beschriftung von Lebensmittelverpackungen für sie oft
kaum zu bewältigende Hürden. Das alltägliche Leben
ist häufig von Scham und Vertuschung geprägt. Erschwerend kommt eine verbreitete Unwissenheit in der
Gesellschaft hinzu. Dringend notwendig ist daher eine
Enttabuisierung des Themas. Besonders Bildungsinstitutionen, Sozialpartner und Medien sind zum Handeln
aufgefordert.
Die frühzeitige Bekämpfung des Analphabetismus
muss auch Teil einer umfassenden Strategie gegen den
Fachkräftemangel sein. Angesichts steigender Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt werden die Chancen
von Menschen mit mangelnder Grundbildung immer
schlechter. Bei deren Integration haben Volkshochschulen, Erwachsenenbildung und die Bundesagentur
für Arbeit wichtige Aufgaben. Auch die Sozialpartner
sind gefordert, diese Menschen gezielt zu unterstützen.
Leider hat es die Bundesregierung bis zum Ende dieser
Legislaturperiode nicht geschafft, die Förderung der
Weiterbildung gerade für Menschen mit niedrigem
Einkommen zu verbessern.
Wir benennen in unserem grünen Antrag konkrete
politische Forderungen und Maßnahmen: Die Alphabetisierungskurse müssen deutlich ausgebaut werden.
Wichtig sind uns dabei die Qualitätssicherung und eine
bessere Zielgruppenorientierung, verbunden mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen. Der schwere Fehler der Bundesregierung, das Bundesprogramm „Soziale Stadt“ zusammenzustreichen, muss korrigiert
werden. Das Programm richtet sich besonders an benachteiligte Stadtteile. Anstatt zu kürzen, müssten
gerade hier vor Ort niedrigschwellige Angebote zur Alphabetisierung und zur Verbesserung der Grundbildung stärker verankert werden.
Der Nationale Pakt für Alphabetisierung und
Grundbildung darf kein Placebo sein, sondern muss
klare Zeit- und Zielpläne erhalten. Wir müssen uns an
erfolgreichen Strategien wie in Großbritannien orientieren, die qualitativ und quantitativ deutlich ambitionierter sind als die Aktivitäten hierzulande. Wichtig
sind konkrete Zielzahlen und verbindliche Handlungszusagen aller Beteiligten, damit wir endlich von der Ankündigungspolitik zum wirksamen politischen Handeln
kommen. Die Nationale Strategie zur Alphabetisierung
Erwachsener sollte zudem auf diejenigen ausgedehnt
werden, die auch im gebräuchlichen Wortschatz sehr
fehlerhaft und langsam schreiben.
Das bestehende Kooperationsverbot im Bildungsbereich behindert auch die Alphabetisierungsanstrengungen. Alle staatlichen Ebenen müssen gemeinsam
ein Schulsystem gewährleisten, in dem keine Schülerin
und kein Schüler die Schule ohne ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen verlässt. Eine frühzeitige
und systematische Sprachbildung, individuelle Förderung von Anfang an sowie die Stärkung der Jugendund Schulsozialarbeit sind daher dringend geboten.
Die Unterfinanzierung unseres Bildungswesens und
strukturelle Selbstblockaden wie das Kooperationsverbot verhindern eine solche nachhaltige Politik und
müssen deshalb beendet werden.
Zur Verbesserung der Lesekompetenz erbringen
auch die vielfältigen Initiativen der Zivilgesellschaft
einen großen Beitrag. Beispielsweise leistet die Stiftung Lesen hier seit 25 Jahren großartige Arbeit.
Damit der Kampf gegen Analphabetismus erfolgreich ist, sind wir alle gefragt. Ein Weg zum Abbau von
Zu Protokoll gegebene Reden
Lesebarrieren ist etwa die Förderung der „einfachen
Sprache“. Diese müssen wir auch als Parlament in unserer Öffentlichkeitsarbeit stärker verwenden. Deshalb
unterstützen wir wie schon bei der ersten Lesung des
vorliegenden SPD-Antrags im April den Vorschlag,
dass auch der Bundestag das Internet stärker in Form
von einfacher und leichter Sprache nutzt und eigenständige Publikationsangebote entwickelt. Fangen wir
also bei uns selbst an, und machen wir der Regierung
gemeinsam Beine, damit die Bekämpfung des Analphabetismus endlich nachhaltig angegangen wird!
Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungspunkt 54 a und zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 17/13869. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/9564 mit dem Titel „Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland fördern - Für
eine nationale Alphabetisierungsdekade“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Linksfraktion.
Enthaltungen? - Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind zwar noch
einige Seiten, aber wir halten gemeinsam durch.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/8766 mit dem Titel „Niemanden abschreiben - Analphabetismus wirksam entgegentreten,
Grundbildung für alle sichern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/8765 mit dem Titel „Bildungsarmut durch Alphabetisierung und Grundbildung entgegenwirken“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die
Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 54 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Zugänge schaffen und Teilhabe erleichtern Die Einfache Sprache in Deutschland fördern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13868, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12724 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? - Linksfraktion. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jens
Petermann, Ralph Lenkert, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Zukunft der Solarindustrie sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef
Fell, Bärbel Höhn, Dr. Tobias Lindner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Energiewende sichern - Solarwirtschaft
stärken
- Drucksachen 17/13242, 17/9742, 17/13794 Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Bareiß
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
22 500 Megawatt Zubau an Solarenergie innerhalb
der letzten drei Jahre ist Rekord, nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit. Und trotzdem nehmen die
Negativschlagzeilen über die deutsche Solarindustrie
kein Ende. Werksschließungen von Solar- und Modulherstellern waren in den vergangenen Monaten und
Jahren an der Tagesordnung. Die Anzahl der Betriebe
ist um ein Drittel drastisch gesunken. Egal ob Q-Cells,
Bosch Solar oder Schott Solar, all diese Unternehmen
mussten Werke in Deutschland schließen mit Konsequenzen für Tausende Arbeitnehmer. Die deutsche
Solarzellen- und Modulfertigung hat kaum noch
6 000 Beschäftigte. Und auch Branchengrößen wie
Solarworld sitzen auf Riesenverlusten, und Hunderte
Mitarbeiter müssen um ihre Existenz bangen.
Dieser Abwärtstrend ist in der Tat sehr besorgniserregend. Grund für diese Krise ist aber nicht mangelnde staatliche Förderung, wie Bündnis 90/Die Grünen und die Linke in ihren Anträgen behaupten. Denn
die Solarenergie ist unter den erneuerbaren Energien
der Subventionsspitzenreiter. Alle bereits eingegangenen Solarförderverpflichtungen summieren sich laut
Experten auf über 100 Milliarden Euro, die der Stromkunde mit seiner Stromrechnung zahlt. Und trotzdem
oder gerade deswegen: Die deutschen Module sind weder wettbewerbsfähig noch technisch überlegen. Die
massive Solarförderung hat den deutschen Modulherstellern mehr geschadet als genutzt. Aber nicht nur die
Überförderung hierzulande, sondern vor allem auch
die chinesische Subventionspolitik sind verantwortlich
für die Schwierigkeiten der Modulhersteller. So wurden
insbesondere in China mit staatlichen Subventionen
massiv Solarproduktionskapazitäten aufgebaut. Das
führte weltweit zu massiven Überkapazitäten. Das Angebot an Modulen ist deutlich schneller gewachsen als
die Nachfrage. So liegt die weltweite Produktionskapazität bei circa 60 000 Megawatt, die Nachfrage hingegen bei circa 30 000 Megawatt.
Preisverfall, ausgelöst durch Überförderung, ist die
Folge dieser Entwicklung. Die deutschen Solarmodule
konnten im Preiswettbewerb mit chinesischen Modulen
nicht mehr mithalten. Deutsche Solarmodule waren
beispielsweise im März 2013 40 Prozent teurer als vergleichbare chinesische Solarmodule. Verkaufs- und
Produktionseinbrüche sind die Folge.
Auch Bosch, das sich zum Ausstieg aus der kristallinen Photovoltaik entschlossen hat, hat als Gründe für
die Entscheidung nicht die Politik der Bundesregierung
genannt, sondern strukturelle Probleme wie weltweite
Überkapazitäten und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.
Preisunterschiede und Produktionsüberkapazitäten
können weder durch noch mehr Förderung noch durch
günstigere Zinsen kompensiert werden. Im Gegenteil:
Eine noch höhere Förderung der Solarenergie hätte
nur zur Folge, dass noch mehr chinesische Solarmodule gekauft werden. Deutsche Arbeitsplätze werden
dadurch nicht gerettet. Es ist falsch, wenn Bündnis 90/
Die Grünen und die Linke in ihren Anträgen schreiben,
dass wir durch die Förderkürzungen der letzten Jahre
mutwillig Arbeitsplätze vernichtet haben. Denn im Gegensatz zu den Chinesen wollen wir mit der Förderung
der erneuerbaren Energien nicht ausschließlich die
heimische Produktion subventionieren, sondern die erneuerbaren Energien in den Markt einführen. Deswegen sind immer neue Anpassungen an die aktuellen
Marktbedingungen bei der Förderung notwendig. Auch
waren die Kürzungen der Solarförderung aufgrund immer neuer Rekorde beim Zubau im Sinne der Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit geboten. So sind in
den vergangenen Jahren nicht nur die Modulpreise
drastisch gesunken, sondern wir haben unsere Ziele
weit überschritten. So wurden 2010 7 400 Megawatt,
2011 7 500 Megawatt und 2012 7 600 Megawatt zugebaut. Dieser Solarrekord kostet den Verbraucher rund
2,2 Cent pro Kilowattstunde. Damit fließen gut 40 Prozent der EEG-Förderung in die Solarenergie, die aber
nur etwa 5 Prozent an der Gesamtstromerzeugung ausmacht. Hätten wir die Förderung für Solarstrom in den
vergangenen vier Jahren nicht deutlich um 70 Prozent
von 43 auf 16 Cent pro Kilowattstunde reduziert, müssten die Verbraucher heute deutlich mehr zahlen. Auch
der Förderdeckel von 52 000 Megawatt installierter
Leistung ist ein wichtiger Beitrag im Sinne der Bezahlbarkeit und Wettbewerbsfähigkeit der Solarenergie.
Die Stärke der ausländischen Solarindustrie geht
auch auf die Schwäche der heimischen Solarindustrie
im Bereich Forschung und Entwicklung zurück. Teile
der deutschen Solarindustrie haben zu spät erkannt,
dass sie nur Zukunft mit mehr Forschung und Innovation haben. Hier wurde zu wenig getan. Die Ausgaben
für Forschung und Entwicklung lagen jahrelang unter
3 Prozent. Das ist deutlich unter dem Niveau anderer
Industriezweige wie zum Beispiel der Elektroindustrie
mit einem Anteil von rund 7 Prozent oder dem verarbeitenden Gewerbe mit 5 Prozent. Hier besteht dringender
Nachholbedarf. Um der notleidenden Solarindustrie zu
mehr Innovation zu verhelfen, hat die Bundesregierung
für die „Innovationsallianz Photovoltaik“ 100 Millionen Euro für anwendungsnahe Solarforschungsprojekte zur Verfügung gestellt. Damit wird durch mehr
Forschung und Entwicklung die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Solarindustrie gefördert. Im Mai 2013
haben wir nochmals eine Förderinitiative in Höhe von
50 Millionen Euro gestartet. Damit sollen innovative
Verbundprojekte in der Photovoltaik unterstützt werden.
Auch der Einstieg in Solarspeichertechnologien
wurde von uns in die Wege geleitet. Mit dem Marktanreizprogramm für Solarspeicher der KfW in Höhe von
25 Millionen Euro sollen kleine bis mittelgroße Photovoltaikanlagen besser in das Stromnetz integriert
werden. Damit wird auch die stark fluktuierende Solarenergie einen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten.
Ende April dieses Jahres waren im gesamten Land
circa 33 500 Megawatt Photovoltaik installiert. Diese
eindrucksvolle Zahl macht deutlich: Die Solarenergie
ist ein wichtiger Bestandteil der Energiewende. Sie ist
für mich aber auch ein deutliches Zeichen dafür, dass
die Solarbranche in Deutschland eine Zukunft hat,
auch wenn der Schwerpunkt nicht in der Solarzellenund Modulfertigung liegen wird. Der deutsche Maschinenbau, Wechselrichterhersteller, Projektierer und Siliziumproduzenten werden auch in Zukunft ihre weltweit
führende Rolle verteidigen und ausbauen. Dazu sollten
wir in Deutschland auch weiter für verlässliche Rahmenbedingungen sorgen, Forschung und Entwicklung
fördern, statt immer neue Subventionen zu fordern.
Ich will mit etwas Generellem beginnen: dem Respekt gegenüber der Demokratie und dem Parlament,
aber auch der Sache, der auch zu Zeiten beginnenden
Wahlkampfes bestehen bleiben muss.
In dieser Sitzungswoche sind mir als CSU-Abgeordnetem allein vier Redezeiten im Plenum zugeteilt worden, unter anderem zu TOP 51. Unter diesen TOP fällt
auch der Antrag 17/9742 der Grünen, datiert auf den
23. Mai 2012. Einer der Forderungspunkte ist, dass
der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auffordern möge - ich zitiere -, „den Widerstand der Bundesländer gegen den Gesetzentwurf zur EEG-Novelle
ernst zu nehmen und die Kürzungen der Solarvergütung im Rahmen der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss so abzumildern, dass die deutsche Solarwirtschaft in Deutschland gestärkt und der Vergütungsanspruch für den gesamten in Deutschland erzeugten Solarstrom zu 100 Prozent erhalten bleibt“.
Der Antragspunkt ist auch bei großzügigster Betrachtung veraltet - im Vermittlungsausschuss erfolgte
hierzu bereits im Juni 2012, ich wiederhole: 2012, eine
Einigung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Da komme ich auf den gebotenen Respekt zurück:
Es wird mitunter Wahlkampfgetöse, gestatten Sie mir
in diesem Zusammenhang diese klare Formulierung,
ins Plenum hineingetragen - da ist der Opposition
selbst eine veraltete Antragsstellung als Mittel recht.
Es wäre seit Juni 2012 ein mäßiger Aufwand gewesen,
den Antrag zu aktualisieren.
Ich sage ganz klar: Die Opposition überschüttet das
Plenum mit veralteten und gedoppelten Anträgen; um
oppositionsintern und unter oberflächlichen Außenwirkungsgesichtspunkten mit einer hohen Antragszahl
zu glänzen. Das ist der Grund, weshalb die reguläre
Plenardebatte am Donnerstag, dem 13. Juni, von morgens um 9.00 Uhr bis nachts bzw. in die Morgenstunden des nächsten Tages angesetzt ist - inklusive einer
namentlichen Abstimmung gegen Mitternacht. Das ist
auch der Grund, weshalb in dieser Woche meine sämtlichen Reden im Plenum zu Protokoll gegeben werden.
Hier geht es offenbar zunehmend weniger darum, dass
man sich im Plenum ins Weiß des Auges schauen darf
und muss - und sich insbesondere Zwischenfragen der
Kollegen aktiv stellen. Man beschäftigt viel lieber die
Regierungsfraktionen damit, ihre Redeanteile schriftlich einzureichen - das scheint zu genügen. Man legt
offensichtlich keinen Wert mehr darauf, sich auf das
Wesentliche oder auch nur Aktuelles zu konzentrieren.
Ich will in dem Zusammenhang, weil wir über Industrie- und Wirtschaftspolitik sprechen, einen großen
Mann der Wirtschaft zitieren: „Suche nicht nach Fehlern, suche nach Lösungen“ - Henry Ford. Und die
Lösungen, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, sollten schon zeitangepasst und nicht
längst überholt sein.
Nichtsdestotrotz gehe ich auf den Antrag der Grünen in der Sache, in den noch relevanten Punkten, ein.
Sie betiteln Ihren Antrag mit der Überschrift „Energiewende sichern - Solarwirtschaft stärken“. Mir fällt
kaum ein anderes Gesetz ein, bei dem inner- und außerhalb des Parlaments mit solcher Härte gekämpft
wird. Das ist signifikant für die Novellen des EEG. Und
signifikant ist zudem, dass das Thema EEG zunehmend
gleichgestellt wird mit dem Gelingen der Energiewende. Sie gehen mit Ihrer Überschrift sogar noch
weiter.
Deshalb ist mir diese Klarstellung wichtig: Das Gelingen der Energiewende hängt nicht alleine am EEG,
auch wenn das EEG seinen Teil zum Gelingen beizutragen hat und, ganz unstreitig, grundlegend reformiert werden muss - hier hat Minister Altmaier ja
echte Überzeugungsarbeit bis in die Reihen der Opposition hinein geleistet.
Das Gelingen der Energiewende hängt vielmehr
von zahlreichen Faktoren ab, angefangen von Themen
wie neuem Marktdesign, Speichern, Netzausbau etc.
Die Gesamtheit dieser Faktoren gekonnt zueinanderzubringen, das wird das Gelingen der Energiewende
ausmachen. Das EGG wäre vor und nach einer grundlegenden Reform völlig überfrachtet, würde man isoliert daran das Gelingen der Energiewende festmachen oder, wie Sie es in Ihrer Überschrift definieren,
die Energiewende sichern. Ich gehe sogar noch weiter:
Der Bestand des EEG wäre insgesamt gefährdet, wenn
wir den Arbeitsmarkt mithilfe und zulasten des EEG
steuern; hierzu komme ich später noch im Detail.
Zunächst mein Ausgangspunkt, das EEG betreffend:
Die Zukunft des EEG hängt angesichts der rasant gestiegenen EEG-Umlage nicht zuletzt an einer realistischen Berechnungsgrundlage: Derzeit steigen die
EEG-Differenzkosten rechnerisch, wenn der Börsenpreis durch die Einspeisung der Erneuerbaren gedrückt wird. Das spiegelt gerade umgekehrte Verhältnisse wider. Innerhalb des EEG ist es unter anderem
wichtig, die einzelnen Energieträger, nach ihren individuellen Maßgaben, weiter zur Marktreife hinzuführen. Das ist die Grundlage dafür, die Akzeptanz für das
EEG nicht zu verlieren.
Die Verbraucher draußen - die privaten und gewerblichen - bezahlen die Umlage für das EEG. An der
Stelle komme ich ferner zu dem Punkt der politischen
Verantwortung, der sich vom blanken Lobbying für
einzelne Branchen und billigem Wahlkampfgetöse
grundlegend unterscheidet: Energiepolitik ist Wirtschaftspolitik. Die deutschen Strompreise spielen dabei eine wichtige Rolle. Das dürfen wir nie aus den Augen verlieren. Im Zuge der Energiewende haben wir
uns stringent im Zieldreieck Versorgungssicherheit,
Wirtschaftlichkeit sowie Umwelt- und Klimaschutzgesichtpunkte zu bewegen.
Die Vergütung für Solaranlagen nach dem EEG
kann nicht mit der Zielrichtung beibehalten werden,
Arbeitsplätze in der Solarindustrie zu erhalten. Zwar
ist Energiepolitik Wirtschaftspolitik. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die Aufgabe des
EEG ist es eben nicht, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
zu betreiben. Ich darf den Zweck des Gesetzes an der
Stelle nochmals für Sie herausarbeiten - ich zitiere § 1
Abs. 1 EEG: „Zweck dieses Gesetzes ist es, insbesondere im Interesse des Klima- und Umweltschutzes eine
nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung zu ermöglichen, die volkswirtschaftlichen Kosten der Energieversorgung auch durch die Einbeziehung langfristiger externer Effekte zu verringern, fossile Energieressourcen zu schonen und die Weiterentwicklung von
Technologien zur Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu fördern.“
In Abs. 2 wird ferner das Gesetzesziel niedergelegt,
den Anteil der Erneuerbaren in Stufen festgelegt bis
zum Jahr 2050 zu erhöhen.
In der Sache spricht ein weiterer Grund gegen eine
Steuerung über das EEG: Der Anlageninvestor erhöht
seine Rendite über billige Module bei jeder Vergütung.
Deshalb: Der internationale Wettbewerb ist für die
deutsche Solarindustrie unstreitig äußerst schwierig.
Die Wettbewerbssituation insbesondere mit dem chinesischen Markt ist ruinös. Das betrifft allerdings nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
alleine deutsche und europäische Hersteller, sondern
sogar chinesische Hersteller selbst.
Ich scheue es nicht, ein Problem offen zu benennen,
denn Augenwischerei bringt an der Stelle nichts: Teile
der Solarbranche haben es auch versäumt, sich in diesem Markt eine Nische zu suchen. Es ist unstreitig,
dass deutsche Hersteller tiefgehende strukturelle Probleme haben. Lange, zu lange wurde in der Branche
auf Massenproduktion und die Fördertatbestände des
EEG gesetzt - das räumen mir selbst Branchenvertreter offen ein. Andere Branchen haben sich im internationalen Wettbewerb etwa eine Nische im Bereich
hochwertiger Hightech und innovativer Konzeptionen
gesichert.
Das EEG jedenfalls würde völlig überfrachtet,
wenn es dieses strukturelle Problem der Branche lösen
müsste, wie es die Grünen in ihrem Antrag fordern.
Selbstverständlich ist es die Aufgabe der Politik, wie es
die Linke in ihrem Antrag niederlegt, insbesondere in
strukturschwachen Regionen Deutschlands die Schaffung von Arbeitsplätzen zu unterstützen. Allerdings:
Sie wissen selbst am allerbesten, wie es mit sozialistischer Industriepolitik ist. Sie hat am Ende keinen Bestand - der Schaden für die Betroffenen ist nach einer
Karenzzeit umso größer.
Noch ein Punkt sei mir an der Stelle gestattet, Arbeitsmarktpolitik und Konjunkturanreize betreffend:
Das Erbe aus der rot-grünen Regierungszeit waren
Anfang 2005 über 5 Millionen Arbeitslose, wir hatten
zu Beginn dieses laufenden Jahres knapp über 3 Millionen Arbeitslose. Das spricht eine klare Sprache,
was die Qualität der schwarz-gelben Regierungsarbeit
in diesem Bereich anbelangt.
Zuletzt will ich auf das Thema Strafzölle und Forschung eingehen: Die Idee von Strafzöllen mag auf den
ersten Blick verlockend klingen. Aber warum sprechen
sich selbst Branchenvertreter für eine diplomatische
Lösung aus und gegen einen Handelskrieg mit China?
Ich kann es Ihnen sagen: Es drohte nicht nur ein Flächenbrand auf weitere Branchen auszubrechen, zulasten des Industrie- und Exportstandorts Deutschland,
nein, Schäden drohten ferner auch für die deutsche Solarbranche selbst - zum Beispiel für Projektentwickler
von Solaranlagen. Diese Lösung ist zu kurz gegriffen:
Unser Ziel muss fairer, freier Wettbewerb sein - das
wird mittel- und langfristig tragen, branchenübergreifend.
Zum Thema Förderung: Das ist kein Thema, das die
Regierungsfraktionen nicht bereits längst aufgegriffen
haben, zu Recht, denn hier liegt der Schlüssel zur Effektivität der Technologie und mithin zum Erfolg.
Gerne verweise ich deshalb exemplarisch auf ein laufendes, gemeinsames Fördermodell: Gleich zwei
Ministerien, nämlich das Bundesumwelt- und das Bundesforschungsministerium, stellen in der Innovationsallianz Photovoltaik Fördermittel von bis zu 100 Millionen Euro über bis zu vier Jahre bereit. Im Rahmen
dieser Innovationsallianz wurden gezielte Vorhaben
zur Verbesserung der Effizienz der Produkte, der Produktion sowie zur Erschließung von Zukunftsfeldern
und -märkten festgelegt. Die Solarindustrie hat im Gegenzug zugesagt, weitere 500 Millionen Euro für Investitionsmaßnahmen und weitere Forschungsleistungen
einzusetzen. Dieser beidseitige Einsatz von Mitteln ist
richtig und wichtig, denn hier geht es um einen sorgsamen Einsatz von Steuermitteln. So halte ich etwa wenig
von Ziffer 5 im Antrag der Linken, wo gefordert wird,
Leasing- und Finanzierungsmodelle zu entwickeln, mit
denen sich - ich zitiere - „bei mobilen Spezialanwendungen Photovoltaikanlagen über ihre Nutzung refinanzieren“. Ein gut angesetztes Forschungs- und Entwicklungsprogramm, wie beschrieben, ist das Rezept
für Innovation, die sich am Markt behaupten kann.
Das ist gut angelegtes Geld.
Seit der Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im Jahr 2000 durch die damalige rot-grüne Bundesregierung haben die erneuerbaren Energien im Allgemeinen und die Solarenergie im Besonderen eine
bisher beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben.
Dies führte dazu, dass wir unsere Ausbauziele für erneuerbare Energien nicht nur weit übertroffen, sondern
mit einem Anteil von über 25 Prozent am Stromverbrauch ein Maß erreicht haben, das damals nicht einmal die größten Optimisten erwartet hätten. Diese Entwicklung ging auch mit dem Aufbau neuer und
innovativer Industriezweige und Hunderttausender Arbeitsplätze einher, besonders in den Bereichen Windund Solarenergie. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung
waren allein in der Solarindustrie rund 130 000 Menschen direkt beschäftigt.
Doch in den letzten Jahren hat sich die Situation in
der deutschen Photovoltaikbranche dramatisch verändert. Leuchttürme dieses Industriezweiges wie
Q-Cells, Solarworld und First Solar - um einige Beispiele zu nennen - sahen sich mit Auftragseinbrüchen
in unerwarteter Höhe konfrontiert. Einige Unternehmen mussten bereits den Weg in die Insolvenz antreten.
Dies führt dazu, dass besonders die Menschen in einigen Regionen Ostdeutschlands, in denen ein Großteil
der Produktionsstätten ihren Sitz haben oder hatten,
seit 1990 wieder einen schmerzhaften Strukturwandel
und den Verlust von Arbeitsplätzen erleben.
Treiber dieser Entwicklung war neben dem Aufbau
der weltweiten Überkapazitäten eine Energiepolitik
der schwarz-gelben Bundesregierung, die aufgrund ihrer konzeptlosen und unvorhersehbaren Flickschusterei die Hersteller von Solarmodulen und die Kunden
stark verunsichert hat. Wer wie Union und FDP jährlich kurzfristig die Rahmenbedingungen im EEG ändert und noch vor Inkrafttreten der getroffenen Neuregelungen diese schon wieder öffentlich infrage stellt,
braucht sich nicht zu wundern, wenn eine junge Branche wie die Solarindustrie in schwieriges Fahrwasser
gerät.
Zu Protokoll gegebene Reden
Viele Beobachter schreiben auch den in letzter Zeit
intensiv diskutierten Entwicklungen in China, wo der
Staat seine heimischen Solarunternehmen mit direkten
Subventionen unterstützt, einen Beitrag zur aktuellen
Situation der deutschen PV-Branche zu. Dennoch sind
Zweifel angebracht, ob die von der Europäischen
Kommission im Rahmen eines Anti-Dumping-Verfahrens verhängten Strafzölle auf chinesische Solarmodule der richtige Weg sind. Für diese Zweifel gibt es
mehrere Gründe: Grundsätzlich ist aus meiner Sicht
nicht endgültig geklärt, ob es sich in diesem Fall tatsächlich um Dumping handelt; denn Dumping liegt
dann vor, wenn ein Unternehmen Produkte auf Exportmärkten billiger anbietet als im Heimatland, um Konkurrenten im Ausland zu verdrängen. Bei Solarmodulen ist es aber so, dass vergleichbare Produkte auf dem
chinesischen Markt gar nicht verkauft werden. Darüber hinaus gibt es neben den staatlichen Subventionen weitere Ursachen für den Preisunterschied bei
europäischen und chinesischen Modulen: Die Solarfirmen in Europa sind erheblich kleiner als die Konkurrenten in Fernost. Die Unternehmen in China haben
deshalb erhebliche Vorteile beim Einkauf der Vorprodukte, der Fertigung und beim Vertrieb. Zudem liegt
das Lohnniveau in China deutlich niedriger als in Europa. Ein weiterer Faktor ist, dass hiesige Solarfirmen
beim wichtigsten Vorprodukt, dem Silizium, langfristige Lieferverträge zu hohen Preisen abgeschlossen
haben. Die Konkurrenten in China kaufen Silizium in
der Regel kurzfristig ein.
Niemand kann vorhersehen, ob die Strafzölle der
deutschen Solarindustrie wieder auf die Beine helfen.
Stattdessen sind aufgrund des zu erwartenden Nachfragerückgangs bei Solarmodulen negative Auswirkungen auf Unternehmen an anderer Stelle der solarwirtschaftlichen Wertschöfpungskette und auf im
Solarbereich tätige deutsche Handwerks- und Installationsbetriebe möglich. Zudem lassen die aktuellen
Überlegungen der chinesischen Regierung bezüglich
des Imports von Wein und Stahlprodukten Nachteile
für die deutsche und europäische Wirtschaft befürchten. Darüber hinaus profitieren deutsche und europäische Unternehmen in der vernetzten Weltwirtschaft
schon heute von der Solarmodulproduktion in China;
50 Prozent der durch die dortige Herstellung von
PV-Anlagen stattfindende Wertschöpfung wird in
Deutschland und Europa generiert.
Aus all den genannten Gründen wäre es besser gewesen, die EU-Kommission und die deutsche Bundesregierung hätten mehr Zeit und Kraft in Verhandlungen investiert, um diesen Konflikt mit China ohne
Sanktionen beizulegen. Selbst bei einem Scheitern bilateraler Gespräche wäre es für beide Seiten vorteilhafter gewesen, die Streitbeilegungsmechanismen und
Institutionen der WTO zu nutzen. Protektionismus mit
Protektionismus zu beantworten, kann keine Lösung
sein.
Statt den von Linken und Grünen geforderten aussichtslosen Versuch zu starten, mithilfe von Steuergeldern die deutsche Solarindustrie über einen globalen
Preiskampf in ihrer bisherigen Form zu erhalten, sollten Politik und Unternehmen sich auf jene Werte besinnen, die jahrzehntelang für das Label „Made in Germany“ standen: Qualität und Innovation. Durch
gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen zur signifikanten Steigerung der Wirkungsgrade der Module und zur Bereitstellung der für ein sicheres Stromnetz notwendigen Systemdienstleistungen
kann sich Deutschland die Technologieführerschaft in
diesem für die Energiewende wichtigen Bereich erobern und seine Exportchancen steigern. Mit Blick auf
dezentrale Stromerzeugung und Stromverbrauch vor
Ort ist auch die Kooperation zwischen Solarindustrie
und den Entwicklern von Stromspeichern ein zentrales
Handlungsfeld. Hier kann und muss die Politik durch
entsprechende Rahmenbedingungen unterstützend tätig sein. Denn es reicht nicht, einfach nur so viele Solaranlagen wie möglich zu installieren; vielmehr ist
die stabile Einbindung der Photovoltaik in ein sich
wandelndes Energiesystem die Voraussetzung für eine
erfolgreiche Umsetzung der Energiewende. Eine derartige Einbindung ermöglichende und auf Hightechprodukten basierende Systemlösung ist den chinesischen Lowtechmodulen weit überlegen und bilden die
Grundlage einer zukunftsfähigen deutschen Solarindustrie.
Die Beschlussempfehlung des Wirtschaftsausschusses zur Ablehnung der beiden Anträge von der Linken
und von den Grünen zur vorübergehenden Rettung der
Solarindustrie in Deutschland ist mangels Perspektive
auf Besserung anzunehmen. Wir können es uns nicht
leisten, einem einzelnen Wirtschaftszweig eine um
jeden Preis gesicherte Existenz zu garantieren, und
das ohne die geringste Sicherheit, dass das Projekt
„Solarmodulproduktion in Deutschland“ in absehbarer Zeit mal selbsttragend werden könnte. So hart
das auch klingen mag: In diesen Unternehmen sind
wertvolle Arbeitskräfte gebunden: Fachkräfte, die Unternehmen aus anderen Branchen derzeit händeringend suchen. Geben Sie diesen Menschen die Chance,
raus aus der Unsicherheit zu kommen und früh in einem neuen Industriezweig Fuß zu fassen. Denn in jungen Jahren sind die Jobwechselmöglichkeiten da, ist
die Flexibilität noch höher.
Die gesicherte Existenz der Solarindustrie in
Deutschland unter einer Käseglocke aus Staatswirtschaft wird bald ein Ende haben. Die Tage des EEG
sind gezählt, egal in welcher Konstellation wir im November hier wieder zusammenkommen.
Mit großer Selbstverständlichkeit retteten Sie mit
Milliarden Steuergeldern die deutsche Autoindustrie,
mit noch mehr Milliarden die Banken, die sich verspekuliert haben; noch viel mehr Milliarden pumpen Sie
in die Euro-Zone. Sie werfen das Geld der Bürgerinnen und Bürger den Zockerbanken hinterher, die mit
Zu Protokoll gegebene Reden
halsbrecherischen Spekulationen das Geld ihrer Kunden leichtfertig aufs Spiel gesetzt haben. Warum sind
Sie nicht willens, ein Rettungsprogramm für die Solarindustrie und die dort Beschäftigten auf den Weg zu
bringen? Die Solarindustrie, die unter subventionierten Billigimporten aus Fernost fast zusammenbricht,
ist Ihnen nicht einmal einen müden Euro für Hilfen
oder Bürgschaften wert. Ich nenne das Politikversagen
und einen Skandal. Vor dem Hintergrund, dass ein Zusammenbruch der Solarindustrie einen Niedergang
ganzer Regionen in Ostdeutschland mit sich bringt, ist
das eine Verantwortungslosigkeit ersten Grades.
Bei Bosch Solar Energy in Arnstadt stehen 1 850
Arbeitsplätze auf dem Spiel und weitere 1 000 bei umliegenden, hoch spezialisierten Zulieferbetrieben. Das
sind Zahlen, bei denen eine Regierung, die ihren Job
ernst nimmt, handeln muss und nicht die Hände in den
Schoß legen darf, so wie Sie es tun. Um solche Probleme zu lösen, sind Sie gewählt, und dafür sitzen Sie
schließlich hier.
Stattdessen sehen Sie unbeeindruckt zu, wie eine
zweite Deindustrialisierung über den Osten Deutschlands hereinbricht. Nehmen Sie das nur billigend in
Kauf, oder haben Sie das im Interesse der Atomindustrie sogar vorsätzlich angeleiert? Ja, das muss man
sich fragen, wenn man sich die planlosen Einschnitte
im Erneuerbare-Energien-Gesetz ansieht, die mitverantwortlich für das Desaster in der Solarbranche sind.
Und wem nützt es? Den Stromgroßkonzernen, denen
Sie sich aus jahrzehntelanger Verbundenheit besonders verpflichtet fühlen. Dafür lassen Sie die Solarindustrie am ausgestreckten Arm verhungern?
Die CDU spricht von einer Subventionslawine und
von Rekordwerten im Zubau von Photovoltaik, wobei
80 Prozent der Module, die in Deutschland verbaut
werden, aus Asien stammen würden. Trotz der erheblichen Subventionen hätten deutsche Modulhersteller
keine Zukunftschance. Deshalb lohne es sich gar nicht
erst, hier Rettungsversuche vorzunehmen. Mit dieser
Wortwahl begründete die CDU im Wirtschaftsausschuss ihre Ablehnung. Haben Sie nun auch den Mut,
das den betroffenen Beschäftigten in Arnstadt und Erfurt ins Gesicht zu sagen. Sagen Sie ihnen, dass die
Marktwirtschaft eben so ist, dass Solarindustrie in
Deutschland nicht gebraucht wird, dass die Beschäftigten in der Solarindustrie nicht mehr gebraucht werden. Ich lade Sie nach Arnstadt ein, damit Sie das den
Beschäftigten in der Solarindustrie so ins Gesicht sagen können.
Die Meinung der FDP ist auch nicht viel besser. Sie
gesteht unserem Antrag wenigstens zu, für eine gesicherte Existenz der Solarbranche sorgen zu können,
sieht aber darin gleichzeitig eine Motivationsbremse
für die Unternehmen, sich auf Forschung und Entwicklung zu konzentrieren. Offensichtlich haben aber die
zuständigen Kollegen der FDP den Antrag nicht zu
Ende gelesen; denn Forschung und Entwicklung gerade von Speicherlösungen, in denen wir Innovationsmöglichkeiten sehen, stehen explizit schwarz auf weiß
in unserem Antrag. Sie nennen es dreist, die Aktionäre
zu beglücken und sich dann Geld vom Staat zu holen.
Meine verehrten Damen und Herren, Sie arbeiten mit
doppelten Standards; bei den Banken ist es doch nicht
anders gelaufen. So viel Schizophrenie war selten. Alles in allem sehen Sie in einer Rettung der Solarindustrie und den dortigen Arbeitsplätzen keinen Sinn, da
Solarzellen keine Hightechprodukte mehr sind, sondern nur noch billige Massenware. Das ist dreist und
noch dazu falsch.
Wir werden uns mit dieser Entscheidung der Regierungskoalition nicht abfinden. Die Linke kämpft um
den Erhalt jedes Arbeitsplatzes, und sie kämpft für eine
Rettung der einheimischen Solarindustrie als Standortfaktor, auch im Industriegebiet Erfurter Kreuz, als
wichtigen, nicht wegzudenkenden Baustein der Energiewende und des Ausstiegs aus der Atomenergie.
Statt Rettungsschirme für Banken und Kredithaie ist
ein Rettungsschirm für eine zukunftsträchtige Industrie, die Tausenden Menschen und ihren Familien eine
Existenzgrundlage bietet, notwendig. Die Linke ging
voran und hat einen Gruppenantrag vorgelegt. Zur
Unterstützung dessen habe ich die Thüringer Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen eingeladen: Mitmachen? Fehlanzeige! Weder ein Mitglied der SPD
noch eines der Grünen und auch nicht die Mitglieder
der CDU/CSU- sowie FDP-Bundestagsfraktion wollten sich beteiligen und sich für eine Unterstützung
durch die Bundesregierung starkmachen. Das ist vor
allem für die Menschen, deren Arbeitsplätze akut gefährdet sind, eine herbe Enttäuschung.
Natürlich geht es darum, die Regionen in Ostdeutschland zu retten, in denen die Ansiedelung der
Produktionsstätten der Photovoltaikbranche den Menschen wieder Hoffnung für die Zukunft gab. Genau
diese Menschen mussten vor 20 Jahren schon einmal
dem vollständigen Zusammenbruch ihrer örtlichen Industrie tatenlos zusehen. Sie haben schmerzlich erfahren, was es heißt, arbeitslos und auf Sozialleistungen
angewiesen zu sein. Sie wissen, was es heißt, keine Zukunftsperspektive zu haben. Zehntausende haben daraufhin diese Regionen verlassen. Die Photovoltaikindustrie stellte dort einen industriepolitischen Neuanfang dar. Ein abermaliger Niedergang eines ganzen
Industriezweiges und eine damit einhergehende zweite
Deindustriealisierungwelle wäre für die Menschen vor
Ort eine Katstrophe und würde nicht nur die Erwerbsgrundlage Tausender Familien, sondern auch das Vertrauen in die Politik nachhaltig zerstören.
Dass Sie sich, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von Union, FDP, Grünen und SPD nicht an einem parteiübergreifenden Gruppenantrag beteiligen wollen,
mögen die erneut vom Schicksal gebeutelten, um ihre
Hoffnungen und Zukunftsaussichten gebrachten Menschen speziell in der Region Arnstadt/Erfurter Kreuz
bewerten.
Wir haben uns von Ihrem Desinteresse nicht entmutigen lassen und debattieren heute erneut diesen AnZu Protokoll gegebene Reden
trag. Wir geben Ihnen hiermit erneut eine Chance zu
zeigen, dass Ihnen das Schicksal der Solarindustrie
und der Menschen, die dort Lohn und Brot finden, etwas bedeutet. Es ist nun an Ihnen zu erklären, warum
Sie jeder Bankenrettung und jeder vermeintlichen
Euro-Rettung zustimmen, sich aber der Rettung der
Erwerbsgrundlage für Tausende Familien, insbesondere im Freistaat Thüringen, verweigern. In meinen
Augen stellen Sie sich damit ein Armutszeugnis aus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU,
der SPD und der FDP, wir haben von Ihnen bis heute
vernommen, dass der Niedergang der Solarindustrie in
Ihren Augen kein Problem sei. Wachen Sie endlich auf!
Es ist noch nicht zu spät, sich für die Rettung der Arbeitsplätze in der Solarindustrie in Ostdeutschland
einzusetzen. Das geht ganz einfach: Springen Sie über
ihren ideologischen Schatten und stimmen Sie unserem
Antrag zu! Die Menschen vor Ort werden Ihre Entscheidung aufmerksam verfolgen.
Bundeskanzlerin Merkel hat heute zusammen mit
den Ministerpräsidenten die Hilfe für die Flutopfer im
Süden und Osten Deutschlands beschlossen. Es ist
wichtig und gut, dass die Betroffenen der Flutwellen
an Donau und Elbe schnelle Hilfe bekommen. Bund
und Länder wollen zusammen 8 Milliarden Euro bereitstellen. Nach Schätzungen der Ratingagentur Fitch
werden für die Versicherer noch einmal Forderungen
in Höhe von 2 bis 3 Milliarden Euro hinzukommen.
Vielleicht fragen Sie sich gerade, was das Hochwasser denn nun mit der niedergehenden Solarindustrie zu
tun hat, über die wir heute reden. Sie hat sehr viel damit zu tun. Sowohl das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung als auch der Deutsche Wetterdienst sehen
einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Hochwasser und dem Klimawandel.
In den letzten zwei Jahren wird nur noch gegen die
angeblich hohen Kosten der Energiewende gehetzt.
Umweltminister Altmaier spricht darüber, dass der Zubau allein im letzten Jahr für Vergütung von 1,8 Milliarden Euro gesorgt hat. Diese Kosten sind aber keine
Kosten, sondern Investitionen gegen den Klimawandel. Wenn wir uns schon direkt nach dem Gipfel von
Rio in 1992 aufgemacht hätten, den Ausbau der erneuerbaren Energien und den Wechsel vom Zeitalter der
fossilen zum Zeitalter der erneuerbaren Energien massiv voranzutreiben, dann wären wir heute schon viel
weiter, und vielleicht wären die Wetterlagen und Schäden heute viel weniger dramatisch.
Die Schäden durch den Klimawandel werden in den
nächsten Jahrzehnten aber noch viel höher ausfallen,
wenn wir nicht jetzt endlich umsteuern. Jetzt wieder zu
behaupten, dass alle Maßnahmen und besonders der
Ausbau der erneuerbaren Energien zu teuer würden,
führt in Zukunft zu noch höheren Folgekosten bei immer schlimmeren Überschwemmungen, Wirbelstürmen
oder Dürren.
Für einen wirksamen Klimaschutz werden wir die
jetzt vorhandenen weltweiten Produktionskapazitäten
der erneuerbaren Technologien brauchen und sogar
erweitern müssen. Im Falle der deutschen Solarwirtschaft bedeutet dies aber auch, die Industrie in ihrer
gesamten Wertschöpfungskette in Deutschland zu halten. Es steht außer Frage, dass die deutsche Solarindustrie auch Fehler gemacht hat; aber das ist noch
lange kein Grund, einen Wirtschaftszweig, der in wenigen Jahren wieder anziehen wird müssen, zugrunde
gehen zu lassen.
Viele übersehen nämlich, dass die Solartechnik
politisch vor allem als wichtiger Beitrag zum Klimaschutz entwickelt und gefördert wurde. Nun hat das auf
allen Weltklimakonferenzen gescholtene China sehr
viel Staatsgeld in die Hand genommen, um die Solartechnik preiswerter zu machen. Ein großer Klimaschutzerfolg, den der Rest der Welt nicht schafft, wie
man an den immer noch nicht bereitgestellten 100 Milliarden Euro Staatssubventionen für den Klimaschutz
sieht, die auf den Klimaschutzkonferenzen bisher erfolglos gefordert werden. Der chinesische Beitrag ist
ein wichtiger Beitrag für den Klimaschutz; denn dieser
setzt sich vor allem dann durch, wenn die Techniken
der erneuerbaren Energien billiger sind als die der klimaschädlichen fossilen Energieerzeugung. Jetzt gilt es
also nicht, diesen wesentlichen Klimaschutzbeitrag
Chinas zu kritisieren, sondern es gilt, in Europa das
hohe Niveau in der Solartechnik zu halten und wieder
auszubauen.
Dazu braucht es Investitionen in Innovationen mit
entsprechender staatlicher Unterstützung. Die Antwort
auf die chinesische Herausforderung kann nur dort liegen, wo Deutschland seine Stärken hat, nämlich in der
Innovationskraft und nicht in der Marktabschottung.
Es ist ja schön, dass auch Bundeswirtschaftsminister Rösler sich nun gegen die Schutzzölle stellt. Dazu
bekannt hat er sich aber erst, als die chinesische Regierung ihrerseits die Untersuchung auf Premiumautos ausgedehnt hat, was die deutsche Wirtschaft betroffen hätte.
Zudem reicht es nicht, einfach nur gegen die Schutzzölle zu sein, wenn die Regierung auf der anderen Seite
nicht auch etwas für den Erhalt der Solarindustrie
macht. Wir fordern die Regierung auf: Entwickeln Sie
endlich eine aktive Industriepolitik für die Solarindustrie! Hören Sie endlich auf, gegen die angeblich hohen
Kosten der Energiewende zu hetzen, und denken Sie
vielmehr daran, welche Schäden Sie durch eine gute
Politik jetzt in 20, 30 oder 40 Jahren verhindern können!
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/13794.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Vizepräsident Eduard Oswald
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/13242. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Gegenprobe! - Linksfraktion. Enthaltungen? - Bündnis 90/Die
Grünen. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9742. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion. Enthaltungen? - Sozialdemokraten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 56 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Dr. Frithjof Schmidt,
Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusammenarbeit mit China intensivieren China-Kompetenzen in Deutschland ausbauen
- Drucksachen 17/11202, 17/13560 Berichterstattung:Abgeordnete Manfred GrundJohannes PflugDr. Rainer StinnerStefan LiebichViola von Cramon-Taubadel
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Deutschland unterhält mit China eine strategische
Partnerschaft in allen wichtigen Politikbereichen, daher lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen ab.
Wir brauchen keinen strategischen Gesamtansatz
gegenüber China. In den letzten Jahren haben wir der
wachsenden Rolle Chinas Rechnung getragen, indem
wir eine strategische Partnerschaft in allen Bereichen
aufgebaut haben. Diese gilt es nun weiter auszubauen.
Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen verdeutlichen.
China ist in den letzten Jahren von einem Entwicklungsland zu einem außen- und wirtschaftspolitischen
Partner, freilich auch Konkurrenten avanciert. Außenpolitisch sitzt China als Vetomacht der Vereinten
Nationen an den Schalthebeln der Weltpolitik. Angesichts dieses rasanten Bedeutungszuwachses Chinas
hat die Bundesregierung 2011 zum ersten Mal Regierungskonsultationen mit China abgehalten. Ferner hat
sie konsequent den Ausbau der Zusammenarbeit vorangetrieben, sodass die bilateralen Beziehungen heute
auf allen politischen Ebenen enger sind denn je. Dies
haben beide Seiten anlässlich des Jubiläums zum
40. Jahrestag der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen letzten Herbst bekräftigt. Hauptanliegen dabei
ist laut Außenminister Westerwelle, China „als verantwortlichen Partner für die Herausforderungen unserer
Zeit zu gewinnen“. Dies gilt vor allen Dingen für den
Klimawandel. Auf staatlicher Ebene stellt die seit 2009
bestehende deutsch-chinesische Klimapartnerschaft
den Rahmen für Kooperationsprojekte im Bereich Klimaschutz dar. Energieeffizienz und Klimaschutz sind
dabei zentrale Kooperationsfelder, die in den letzten
Jahren immer weiter ausgebaut wurden. Allerdings hat
sich China bislang sehr zurückhaltend gezeigt, wenn
es darum ging, internationale Verpflichtungen zum
Klimaschutz einzugehen. Daher arbeitet die Bundesregierung daran, China für die Ratifizierung völkerrechtlich verbindlicher Abkommen für den Klimaschutz zu gewinnen.
Ein weiteres Beispiel sind die deutsch-chinesischen
Wirtschaftsbeziehungen. Bereits 2009 überholte China
Deutschland als Exportweltmeister. Für Deutschland
ist China ein wichtiger Handelspartner; das Handelsvolumen beträgt mehr als 140 Milliarden Euro jährlich. Vor diesem Hintergrund ist es ein Hauptanliegen
der deutschen Politik, die Kontakte mit der chinesischen Wirtschaft und Industrie zu intensivieren.
Dementsprechend hat die Bundeskanzlerin bei ihrem ersten Treffen mit dem chinesischen Premierminister Li Keqiang Ende Mai in Berlin zahlreichen Verträgen für die deutsche Automobil-, Chemie- und
Textilindustrie den Weg geebnet. Außerdem haben
Deutschland und China anlässlich dieses Besuchs als
die vier Zukunftsbereiche, in denen die Zusammenarbeit in den kommenden Jahren vorangetrieben werden
soll, Industrie, Informationstechnologie und Telekommunikation sowie Urbanisierung und Modernisierung
der Landwirtschaft vereinbart.
Selbstverständlich setzen wir uns in dieser Partnerschaft auch für Menschenrechte, Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit ein. Ich nenne hier nur ein aktuelles Beispiel: die Inhaftierung des Trägers des Friedensnobelpreises Liu Xiabo.
Lassen Sie mich abschließend noch kurz auf den
ebenfalls in dem vorliegenden Antrag geforderten
Ausbau der China-Kompetenzen in Deutschland zu
sprechen kommen. Auch hier sind wir auf dem besten
Weg.
Ende Mai eröffneten die Bundeskanzlerin und der
chinesische Premierminister das deutsch-chinesische
Sprachenjahr. Durch gezielte Ausbildung von Sprachlehrern und Kulturveranstaltungen soll dabei sowohl
die deutsche Sprache in China als auch Chinesisch in
Deutschland gefördert werden. Ferner steht China immer mehr im Mittelpunkt von Aktivitäten deutscher
Stiftungen. Während wir hier debattieren, ist gerade
die Körber-Stiftung mit 40 jungen deutschen Außenpolitikern auf ihrer jährlichen Studienreise, diesmal nach
China. Dort haben die jungen Vertreter aus deutschen
Ministerien und Wirtschaft die Möglichkeit, Kontakte
zu knüpfen und den Dialog zu suchen. Ebenfalls zeitgleich baut die Mercator-Stiftung ein Kompetenzzen31590
trum für China auf, in dem mehrere Experten Wissen
über China in Deutschland vermitteln sollen.
Derartige Initiativen brauchen wir, um die strategische Partnerschaft mit China im gesellschaftlichen
Bereich zu untermauern und auszubauen.
Es ist richtig, dass wir uns intensiver mit China beschäftigen müssen. Es ist richtig, dass wir dafür die
Kompetenzen und Kapazitäten in Deutschland ausbauen müssen, an unseren Universitäten, aber auch im
Auswärtigen Amt und in anderen Ministerien. Die wirtschaftlichen, aber auch die politischen Beziehungen
zwischen Deutschland und China haben sich kontinuierlich intensiviert, aber unser Verständnis für China
ist nicht in gleicher Weise gewachsen. Noch immer
wird das Bild Chinas in Deutschland von Stereotypen
beherrscht. Dabei wird die Notwendigkeit, ein besseres
Verständnis Chinas zu erlangen, mit dem weiteren
Wachstum Chinas nur weiter zunehmen. Wir werden
uns intensiver mit China auseinandersetzen müssen,
wenn wir die Chancen, die sich aus der Zusammenarbeit mit China ergeben, nutzen wollen.
Zugleich wird der Aufstieg Chinas neue Herausforderungen mit sich bringen. In China und mit chinesischen Unternehmen erwächst uns neue wirtschaftliche
Konkurrenz. Das Wachstum Chinas sorgt für steigende
Nachfrage und steigende Preise an den Rohstoffmärkten, von denen wir ebenso abhängig sind. Politisch ist
China keine Status-quo-Macht. Damit verbindet sich
die Frage, wie sich ein mächtiger werdendes China in
die künftige Weltordnung einfügt. Doch bietet der Aufstieg Chinas für uns keinen Anlass für vordergründige
Ängste. Um mit den Folgen konstruktiv umgehen zu
können, brauchen wir jedoch ein realistisches Verständnis für die komplexen Strukturen und Interessen
der chinesischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Eine Stärkung unserer China-Kompetenz, ein besseres Verständnis Chinas setzt dabei zuerst einmal den
Willen voraus, China tatsächlich verstehen zu wollen.
Das gilt auch für die unterschiedlichen Formen politischer Dialoge mit China. Mit belehrenden Attitüden
sollen wir dabei zurückhalten. Im Grunde weiß wohl
kaum einer von uns, wie man ein Milliardenvolk in einer Zeit rasanten Wandels und gewaltiger Herausforderungen richtig regiert. Unsere eigenen politischen
Erfahrungen sagen uns darüber wenig.
Es ist längst ein Gemeinplatz, dass China eine Supermacht der Zukunft ist. Ob wir die Folgen voll realisieren, ist noch eine offene Frage. Immerhin ist der
Aufstieg Chinas bei gleichzeitigem Ende europäischwestlicher Vorherrschaft die größte weltpolitische
Umwälzung seit einem halben Jahrtausend. Jahrhundertelang waren es vor allem die Europäer, die in die
übrige Welt drängten, oft mit Gewalt und auf Eroberung aus, um vom Handel zu profitieren, aber auch aus
Neugier. Heute sind es eher die Chinesen, die sich für
uns interessieren, als umgekehrt. China begegnet uns
heute nicht als künftiger Eroberer, aber mit einer Neugier, die viele Europäer vermissen lassen.
Jahrhundertelang zog sich China auf seine Grenzen, hinter seine Mauer zurück. Das China von heute
weitet seinen Horizont. Und wir? Durch unseren Handel sind wir so stark mit der Welt und mit China verflochten wie niemals zuvor. Unsere Unternehmen expandieren auf den Weltmärkten, auch in China. Doch
jenseits der Wirtschaft, in Politik, Gesellschaft, auch
Bildung und Wissenschaft spielt das Interesse für
China keine große Rolle. Während sich der chinesische Gesichtskreis weitet, zieht sich Europa stärker auf
sich selbst zurück.
Viele Kollegen hier werden bestätigen können, dass
chinesische Gesprächspartner oft besser über die Verhältnisse in Deutschland und der EU informiert sind
als ihre europäischen Kollegen über die Verhältnisse
in China. In diesem Befund geht der Antrag nicht fehl.
Unsere Gesellschaft mag dem Ideal der offenen Gesellschaft näher kommen, weltoffener sind wir deshalb
noch nicht.
Es fehlt uns auch an einer kohärenten Strategie in
der EU. Die Komplexität der Entscheidungsprozesse
und die Unterschiedlichkeit der Sichtweisen und Interessenlagen innerhalb Europas haben zur Folge, dass
wir auch in der gemeinsamen Außenpolitik der EU
meist mehr mit uns selbst beschäftigt sind als mit der
Außenwelt. Das bedeutet nicht, dass wir auf der nationalen Ebene bereits alles getan hätten. Natürlich müssen wir die China-Kompetenz in Deutschland deutlich
und kontinuierlich ausbauen, an den Universitäten,
aber auch bereits an unseren Schulen. Besonders gilt
das für Kenntnisse der chinesischen Sprache. Wir werden diese Expertise in unserer Außenpolitik brauchen,
und wir werden diese Expertise dringend für unsere
Wirtschaft brauchen. Diese zentrale Aufgabe stellt sich
allerdings zuerst für die Länder, bei denen die Bildungshoheit liegt.
Bereits heute arbeiten wir in vielen Feldern mit
China zusammen. Die Potenziale für eine gute Zusammenarbeit werden in der Zukunft noch weit größer sein
ebenso wie die Notwendigkeit dieser Zusammenarbeit.
Die Klima- und Energiepolitik ist nur ein Beispiel. Der
Antrag würdigt die Anstrengungen Chinas um den
Ausbau erneuerbarer Energien und eine Reduzierung
von Treibhausgasen. Gegenüber den Auseinandersetzungen um verbindliche Klimaziele sollten diese Anstrengungen nicht übersehen werden. Eine Folge ist
die Konkurrenz, die der europäischen und gerade der
deutschen Solarindustrie aus China erwachsen ist.
Doch auch dabei greifen Maßnahmen wie die AntiDumping-Verfahren der EU zu kurz. Die Subventionierung erneuerbarer Energien ist ja nicht auf China beschränkt. In dieser Hinsicht haben wir selbst genug
Anlass, die Nachhaltigkeit unserer eigenen Energiepolitik zu hinterfragen.
Der vorliegende Antrag beschreibt eine Reihe konkreter Herausforderungen, die sich für unsere künftige
Zu Protokoll gegebene Reden
Zusammenarbeit mit China stellen. Und wie ich schon
in meiner letzten Rede zum Thema gesagt habe, könnte
er damit auch Ansatzpunkte für eine konstruktive Diskussion bieten. Nur bleibe ich auch bei meinem Befund, dass der Antrag das Thema oft nur als Anlass für
eine wenig sachgemäße Kritik an der Bundesregierung
nutzt.
Im letzten Jahr feierten wir 40 Jahre diplomatische
Beziehungen zwischen Deutschland und China.
„China und Deutschland sind ideale Partner“, so bezeichnete Altbundeskanzler Gerhard Schröder bereits
im Jahr 2010 die deutsch-chinesischen Beziehungen.
Dem kann ich nur zustimmen. Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind freundschaftlich,
vertrauensvoll und erstrecken sich auf alle Politikfelder.
Dass das gute Verhältnis auch nach dem Regierungswechsel in China im November letzten Jahres
fortgeführt wird, zeigte sich beim ersten DeutschlandBesuch des chinesischen Regierungschefs Li Keqiang,
der erst drei Wochen zurückliegt. Die Chemie zwischen
ihm und Bundeskanzlerin Merkel stimmte offenbar. Li
Keqiang betonte, dass Deutschland Chinas zentraler
Ansprechpartner in der EU sei, zumal mehr als ein
Drittel des chinesischen Handels mit der Union mit
der Bundesrepublik abgewickelt würde. Die Beziehungen zwischen Deutschland und China sind daher beispielhaft für das chinesisch-europäische Verhältnis.
Auch der Besuch des neuen chinesischen Staatschefs
Xi Jinping in den USA bei Präsident Barack Obama
lief anscheinend sehr erfolgreich. Dies erleichtert
mich sehr, da ein gutes Verhältnis zwischen den beiden
Supermächten wichtig ist, um aktuelle internationale
Konflikte zu lösen. Ich nenne nur die Stichworte
Syrien, Nordkorea und die Gebietsstreitigkeiten im
Südchinesischen Meer.
Auf fast allen politischen Feldern gibt es eine enge
- institutionalisierte - Zusammenarbeit: Seit 1999
existiert der Deutsch-Chinesische Menschenrechtsdialog, und im Deutsch-Chinesischen Rechtsstaatsdialog
tauschen sich die Juristen beider Länder aus. Aber
auch Kunst und Kultur spielt in den deutsch-chinesischen Beziehungen eine wichtige Rolle. So fand letztes
Jahr das Chinesische Kulturjahr in Deutschland anlässlich des 40. Jahrestages der Aufnahme dipomatischer Beziehungen statt. Besonders wichtig erscheint
mir in diesem Zusammenhang das gemeinsame Kommuniqué zur umfassenden Förderung der Strategischen Partnerschaft, das im Jahr 2010 verfasst wurde;
diese Partnerschaft dient vor allem dazu, die Millenniumsziele zu erreichen. All solche Verbindungen helfen, sich gegenseitig kennenzulernen, Vertrauen zu
schaffen und Verständnis füreinander zu entwickeln.
Vor allem erweisen sich die deutsch-chinesischen
Wirtschaftsbeziehungen als eine große Erfolgsgeschichte. Im Jahre 1972 exportierten deutsche Unternehmen Waren für gerade einmal 270 Millionen Dollar
nach China - im Jahr 2011 hatten die deutschen Ausfuhren nach China einen Warenwert von 64,8 Milliarden Euro; die Einfuhren aus China hatten einen Wert
von 79,2 Milliarden Euro. Seit 2002 ist China nach den
USA und noch vor Japan der zweitwichtigste deutsche
Exportmarkt außerhalb Europas. Deutschland ist mit
Abstand Chinas größter Handelspartner in Europa
und steht in der Rangfolge der weltweiten Handelspartner Chinas auf Platz fünf. Eine beachtliche Entwicklung in 40 Jahren! Zudem ist China das größte
Lieferland Deutschlands. Deutschland importiert vor
allem elektrotechnische Erzeugnisse, Spielwaren, Textilien, Bekleidung sowie Maschinen und Anlagen.
Trotz dieser beeindruckenden Zahlen gibt es innerhalb der Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder
auch Probleme und Unstimmigkeiten. Deutsche Unternehmen kämpfen in China mit langwierigen Zertifizierungsverfahren für ihre Zulassung und für ihre
Produkte; immer wieder haben sie es mit Technologienklau von chinesischer Seite zu tun. Auch müssen sich
deutsche Firmen mit Zugangsbeschränkungen für den
chinesischen Markt auseinandersetzen; dies gilt insbesondere bei Ausschreibungen für Aufträge der öffentlichen Hand. Es gilt die Beschränkung bei Kapitalbeteiligungen deutscher Unternehmen von mehr als
50 Prozent.
Jedoch kämpft auch die chinesische Seite mit Misstrauen aus Deutschland; bei deutschen Firmen geht
die Sorge vor chinesischen Kapitalbeteiligungen und
Mehrheitsanteil-Eigentum um. Ein aktuelles Beispiel
in diesem Feld sind die Brüsseler Strafzölle gegen Solarprodukte aus China, wie sie erst kürzlich von der
EU-Kommission verhängt wurden - und dies trotz des
Widerstands aus Deutschland und anderen EU-Staaten. Diese Zölle möchte niemand - außer ein paar angeschlagene kleinen Solarfirmen, die sich von der Initiative „EU ProSun“ medienwirksam vertreten lassen.
Die Retourkutsche der Chinesen kam prompt. Nun
prüft das chinesische Handelsministerium, Strafzölle
auf Weine aus Europa zu erheben und hat ein AntiDumping-Verfahren eingeleitet. Der Disput droht sich
zu einem Handelskonflikt in vielen Bereichen auszuweiten. Dies gilt es jedoch unbedingt zu verhindern.
Ich schlage deshalb vor, gemeinsame Kommissionen mit Mitgliedern aus deutschen und chinesischen
Unternehmen sowie Wirtschaftsfachleuten zu bilden.
Diese sollen eine Art Frühwarnsystem installieren, sodass in Zukunft solche unfruchtbaren Auseinandersetzungen vermieden werden können. Vor allem gilt es, in
diesem Rahmen einen fairen Ausgleich und eine Lösung für den Verbleib der Wertschöpfung zu organisieren.
Bei aller Freude über die deutsch-chinesischen Beziehungen, die auf politischer und wirtschaftlicher
Ebene trotz aller eben geschilderten Schwierigkeiten
ausgezeichnet sind, möchte ich ein weiteres Problem
benennen: Die deutsche - politische - Sonderrolle,
nämlich dass Deutschland von China als der europäische Ansprechpartner angesehen wird, kann als
Zu Protokoll gegebene Reden
schwierig angesehen werden. Dringend notwendig
wäre eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber bzw. mit China. Leider
mangelt es der EU an einer solchen gemeinsamen
Politik.
Auch wären regelmäßige institutionalisierte Gespräche zwischen der NATO und China erforderlich,
um mäßigend auf die sich verschärfenden Konflikte im
Gelben Meer, aber auch auf die zunehmende Konkurrenz und Rivalität zwischen den USA und der Volksrepublik zu wirken. Damit hier kein Missverständnis
aufkommt: Die NATO hat als transatlantisches Verteidigungsbündnis nichts im asiatisch-pazifischen Raum
zu suchen. Jedoch sind die USA führendes NATO-Mitglied, und das Bündnis kann auch der Konfliktprävention dienen.
Bei der Betrachtung der deutsch-chinesischen Beziehungen im Besonderen, aber auch des Landes
China im Allgemeinen muss man erkennen, dass sich
China in einer Phase des Umbruchs befindet, vor allem im innenpolitischen Bereich. Hier hat China mit
großen Schwierigkeiten und Disparitäten zu kämpfen.
Eine aufstrebende Mittelschicht verlangt nach mehr
demokratischen Mitspracherechten; die Unterschiede
zwischen Arm und Reich sowie die Unterschiede in der
Infrastruktur zwischen den Küstenstädten, ländlichen
Regionen und Provinzen werden immer größer. Es bestehen immense Umwelt- und Klimaprobleme, Ressourcenverschwendung und Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Die sozialen Sicherungssysteme
sind kaum entwickelt, und in den meisten Behörden
herrscht Korruption. Deutschland kann hier als Partner und „ehrlicher Makler“ wichtige Hilfestellungen
geben, diese Probleme zu lösen.
Da hierfür eine gute, vertrauensvolle Beziehung das
Fundament bildet, plädiere ich im Sinne des Antrags:
Es ist unerlässlich, die Kontakte zwischen Deutschland und China auf allen Ebenen und in allen Bereichen zu intensivieren und zu verfestigen. Hierzu zählen
Kontakte zwischen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, der Jugendaustausch, Sport-, Kultur- und Wissenschaftsaustausch sowie persönliche Freundschaften,
insbesondere aber auch eine institutionalisierte Kooperation von Institutionen, wie zum Beispiel das
Goethe- oder Konfuzius-Institut, zum gegenseitigen
Sprachenlernen und Stiftungskooperationen.
In diesem Geiste besteht die sehr gute Chance, die
bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und
China in den nächsten 40 Jahren noch weiter zu entwickeln und krisenfest und freundschaftlicher zu machen.
Die Grünen-Fraktion hat hier also ihren ganz großen China-Antrag vorgelegt. Wenn dieser Antrag der
Ausdruck der Chinakompetenz der Grünen-Fraktion
ist, dann zeigt der Antrag in erster Linie Nachholbedarf bei den Grünen - nicht nur in Sachen Chinakompetenz, sondern auch in Sachen „Kenntnis der
deutschen Chinapolitik“. Es ist schon bemerkenswert,
was in diesem Antrag alles ausgeblendet wird. Die
sehr umfangreiche deutsch-chinesische Regierungskooperation, bei der zum Beispiel 13 chinesische
Minister nach Deutschland gekommen sind, wird vollkommen ausgeblendet. China hat mit keinem anderen
Land der Welt eine solch enge und intensive Kooperation über viele Fachfragen. Aber das ist den Grünen
anscheinend unbekannt. Die Bedeutung der engen
wirtschaftlichen Beziehungen für Beschäftigung und
Wohlstand in Deutschland ist den Grünen auch keine
Erwähnung wert. Stattdessen werden diese wirtschaftlichen Beziehungen eher abschätzig als zu dominant
beschrieben. Die Grünen sagen zwar, dass die Menschenrechtslage im Vergleich zur wirtschaftlichen Kooperation stärker betont werden sollte; aber der Menschenrechtsdialog ist ihnen keine Erwähnung wert.
Doch auch wenn der Menschenrechtsdialog manchmal
zäh verläuft, so wird er doch vom Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, mit
großem Engagement vorangetrieben. Die Grünen
erwähnen auch nicht die umfangreichen Bildungskontakte mit circa 30 000 chinesischen Studenten in
Deutschland. Ausgeblendet werden auch die vielfältigen kulturellen Beziehungen, wie zum Beispiel die
spektakuläre Ausstellung über die Aufklärung in
Peking und die eindrucksvolle Ausstellung des chinesischen Künstlers und Dissidenten Ai Weiwei als deutscher Beitrag bei der Biennale in Venedig. Ebenfalls
nicht erwähnt werden in dem Antrag die Anstrengungen, mit China auf dem Gebiet der Außenpolitik
zusammenzuarbeiten. Das betrifft die Kooperation in
der UN, die 3+3-Gespräche zum Iran, die Bemühungen zu Syrien und vieles mehr.
Auch der Forderungsteil des Antrags strotzt nur so
vor Fachkompetenz. Besonders schmunzeln musste ich
bei der Forderung „weitere Maßnahmen zu ergreifen,
um den gesellschaftlichen und kulturellen Austausch
auf allen Ebenen zu intensivieren“. Warum fordern die
Grünen nicht gleich „geeignete Maßnahmen zur Beilegung aller Konflikte“? Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, auch in der Opposition dürfen Sie etwas konkreter werden. Auch bei dem sonstigen Sammelsurium von Forderungen kann ich keinen
strategischen Gesamtansatz erkennen. Es werden weitere neue Stellen gefordert. Es sollen Mittel verstärkt
für asienbezogene Forschung ausgegeben werden,
ohne zu sagen, wo sie denn gestrichen werden sollen:
vielleicht in Afrika oder Lateinamerika? Unter Punkt
10 a wird gefordert, einen Neustart der Entwicklungszusammenarbeit vorzunehmen. Offensichtlich ist den
Verfassern die Projektvielfalt der Arbeit der GIZ nicht
bekannt. Vielleicht interessiert es die Grünen-Fraktion
ja, dass über 200 Mitarbeiter der GIZ heute in China
auf sinnvollen und von China bezahlten Projekten arbeiten. Bundesminister Dirk Niebel hat die längst
überfällige Reorientierung der Entwicklungszusammenarbeit mit China vorgenommen. Dafür hat er Lob
und nicht Tadel verdient. Ich erwarte ja von den GrüZu Protokoll gegebene Reden
nen als einer Oppositionsfraktion, dass sie die Bundesregierung kritisiert. Aber diese Kritik dürfte schon etwas konkreter sein. Was hätten Sie sich denn anstelle
der Reorientierung der Entwicklungszusammenarbeit
mit China gewünscht? Wäre es ihnen lieber gewesen,
die Entwicklungszusammenarbeit so fortzusetzen, wie
sie zu Zeiten der rot-grünen Regierung betrieben
wurde? Glauben Sie wirklich, wenn wir uns die Entwicklungsprobleme global ansehen, dass unsere Ressourcen in China dringender gebraucht werden als
beispielsweise in Afrika?
Auch in einem anderen Punkt möchte ich Sie an die
Zeit erinnern, zu der die Grünen in Regierungsverantwortung waren. Da hat sich Kanzler Schröder für die
Aufhebung des Waffenembargos eingesetzt, und Außenminister Fischer hat sich nicht getraut, ihm Paroli
zu bieten. Und zum Thema Menschenrechte in China
war das Duo Schröder-Fischer wesentlich kleinlauter
als die jetzige Bundesregierung. Wenn den Grünen
also Menschenrechte in China am Herzen liegen, dann
müssten sie die Bundesregierung für diesen Fortschritt
loben und dürften sie nicht tadeln.
Kurzum: Dieser Antrag der Grünen-Fraktion wird
der Bedeutung der deutsch-chinesischen Beziehungen
nicht gerecht. Wir lehnen ihn ab.
Heute wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
im Parlament beerdigt, nicht einmal erster Klasse,
sondern mit Protokollreden und mitten in der Nacht.
Dabei ist das Thema enorm wichtig. Es geht um eine
kohärente Strategie für die Beziehungen zu China.
Wenn wir uns das Agieren der Bundesregierung in den
letzten Jahren anschauen, aber auch die Arbeit der
EU, dann kann man nur sagen: Mit einer gemeinsamen Politik hat das nichts zu tun; hier macht lieber
jeder seins.
Letztes Beispiel ist die Frage der Zölle für Solarpanele. Gemeinsame Positionen der EU: Fehlanzeige!
Wer aber zukunftsfähig mit der VR China zusammenarbeiten möchte, der sollte zunächst wissen, was er
oder sie will, und das dann nachdrücklich und hartnäckig vertreten. China macht uns das vor. Das hat
wiederum damit zu tun, dass in China erkannt wurde:
Beziehungen, Dialog, Austausch verlangen die Kenntnis der Sprache und der Kultur des Partners. In
Europa meint man immer noch: Mit ein wenig
Englisch werden wir im Zweifel schon klarkommen.
Warum sollten wir uns mit chinesischer Geschichte
auseinandersetzen?
Ein zweiter Blick zeigt: Die VR China wird noch immer als Gegenüber verstanden und nicht als ernsthafter Partner. Dazu wird auf die Situation der Menschenrechte hingewiesen. Nur einen Moment später
exportieren wir Waffen in den Nahen Osten an Regime,
deren demokratische Legitimation fragwürdig ist. Ich
halte das für wenig glaubwürdig.
Der wirtschaftliche Aufschwung Chinas ist in der
Tat atemberaubend, und - auch wenn hierüber wenig
gesprochen wird - es gibt bei etlichen in der chinesischen Führung Sorgen über die zunehmende soziale
Spaltung des Landes. Nicht nur das, sie versuchen
auch, gegenzusteuern. Gut so. Das Ziel von Deng
Xiaoping war: Einigen Menschen soll es früher als
anderen möglich sein, reich zu werden. - Die KP
Chinas wird eine Polarisierung der Gesellschaft jedoch nicht zulassen. - Reich geworden sind mittlerweile manche. Nun muss auch der zweite Teil noch
energischer in Angriff genommen werden.
Zugenommen haben aber auch Probleme, die eine
rasante wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringt,
Umweltschäden zum Beispiel. Andererseits ist China
- und der grüne Antrag verweist darauf - ein Land,
das sich damit nicht nur konfrontiert sieht, sondern
auch versucht, gegenzusteuern. Hier, aber auch bei sozialen Standards haben Deutschland und China gemeinsame Interessen. Doch wo ist die entschlossene
Kooperation? Wieder Fehlanzeige!
Chinas Engagement in der Welt nimmt zu, im eigenen Namen, aber auch in der internationalen Gemeinschaft. Und wieder schaut Europa, schaut Deutschland einfach nur zu. Kritik an den USA, die eine
offensivere Strategie gegenüber China verfolgen, zum
Beispiel durch Truppenverlagerungen, hört man nur
sehr leise. Warum eigentlich? Wir erleben im pazifischen Raum ein beispielloses Wettrüsten. China investiert in seine Flotte, auch als Reaktion auf die Verlagerung größerer amerikanischer Flottenverbände in den
Pazifik, und China entwickelt - wen wundert es - nun
auch eigene Drohnen und eigene Transportflugzeuge,
um seine strategischen Fähigkeiten auszubauen. Ist
das in unserem Interesse? Ich meine, nein.
Wir brauchen - da legt der Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen den Finger in die Wunde - eine konsistente Strategie für unsere Beziehungen zu China, nicht
nur als Bundesrepublik Deutschland, sondern auch als
Europäische Union. Wir müssen China nicht nur als
Billigproduzenten und Absatzmarkt begreifen, sondern
in der Tat als ebenbürtigen Partner in einer sich
dramatisch verändernden Welt. Klimawandel und die
Folgen der Globalisierung betreffen uns gleichermaßen und können nur gemeinsam beantwortet werden.
Dazu sind Sensibilität und die Fähigkeit zum Zuhören
von unschätzbarer Bedeutung.
Austausch, Ausbau des Verständnisses und der interkulturellen Kompetenz durch Sprache, Kultur und
Geschichte sind gut und wichtig. Zusammenarbeit der
Menschen in der Zivilgesellschaft ist zu fördern,
Herausforderungen wie gesellschaftlicher Wandel,
Wertewandel und Klimawandel sind zu beantworten.
Da das von der Opposition beantragt wurde, wird es
weggestimmt. Allerdings: Die Fragen und Herausforderungen bleiben. Wenn wir uns ihnen nicht stellen,
wird die Zeit über uns hinweggehen oder, wie es
Michail Gorbatschow formulierte: „Wer zu spät
kommt, den bestraft das Leben“.
Zu Protokoll gegebene Reden
Vor ungefähr zwei Wochen hat Frau Merkel beim
Besuch des neuen chinesischen Premierministers Li
Keqiang das deutsch-chinesische Sprachenjahr 2013
eröffnet. Diese Initiative ist zuallererst zu begrüßen,
da die Förderung des gegenseitigen Austausches auch
unser Anliegen ist. Betrachten wir nun die Arbeit der
Bundesregierung zu China in ihrer Gesamtheit, so
können wir erneut leider nur feststellen, dass auch
dieser Anlass nur ein weiterer Baustein in der
Merkel’schen Symbolpolitik ist und die politische und
strategische Substanz fehlt.
In der letzten Debatte gab es breite Zustimmung zu
unserem Antrag. Selbst Fachpolitiker der Koalition
- eine Ausnahme bildet mal wieder die FDP - stimmen
mit unserem Ansinnen, die China-Kompetenzen zu
stärken, überein.
Auch außerhalb des Parlaments haben wir breite
Zustimmung von allen Seiten für unseren Antrag erhalten. Zustimmung aus Fachkreisen war uns sicher, da
dort seit Jahren die lückenhafte Bearbeitung und die
Probleme durch die fehlende Gesamtstrategie bekannt
sind. Aber ebenso wurde das Thema in seiner ganzen
Breite von den Medien oder Bürgern dankbar aufgegriffen.
Wie sieht die aktuelle Situation aus? Chinesische
Investitionen in Deutschland haben im letzten Jahr
deutlich zugenommen. Laut Deutscher Bundesbank
belaufen sich die chinesischen Direktinvestitionen auf
rund 829 Millionen Euro. Somit ist China schon lange
nicht mehr nur ein weiterer Absatzmarkt, sondern ein
ernstzunehmender wirtschaftlicher Partner.
Unsere wirtschaftlichen Erfolge sind - ob wir es nun
wollen oder nicht - sehr eng mit der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit mit China verknüpft. Die Debatte um
die Strafzölle für Solarmodule ist ein Paradebeispiel
für das mangelnde Engagement der Bundesregierung
für eine gemeinsame europäische Politik gegenüber
der Volksrepublik.
Wir sind klar gegen Strafzölle und andere protektionistische Maßnahmen, da die Solarindustrie bereits
unter einem direkten Wettbewerb hart zu kämpfen hat.
Über 500 europäische Solarunternehmen haben sich
gegen die Strafzölle ausgesprochen, weil sie weitere
massive Einbrüche in der Branche erwarten lassen.
Frau Merkel und Herr Rösler haben verschlafen, sich
frühzeitig für die Solarindustrie einzusetzen. Es wurde
nicht nur eine Chance verpasst ,sondern der bereits
geschwächten europäischen und deutschen Solarbranche einen weiteren Schlag versetzt. Ein klares Nein aus
Deutschland wäre ein wichtiges Signal für die EUKommission gewesen. Der Versuch von Herrn Rösler,
sich mit einem Pressestatement nach Verhängung der
Strafzölle als „Mister Solar“ darzustellen, ist unglaubwürdig.
Folgen dieser politischen Inkompetenz werden nun
nicht nur die Solarbranche, sondern auch die Stahl-,
Wein- und womöglich auch die Automobilindustrie
treffen. Erstaunlich, dass dies einer Koalition passiert,
die doch immer vorgibt, sich die Wirtschaftsinteressen
so sehr zu eigen zu machen. Dies ist inakzeptabel und
nur ein Beispiel für den dringenden Nachholbedarf.
Was macht die Bundesregierung also für mehr
China-Kompetenz? Anstatt die Kompetenzen auszubauen, konzentriert sie ihre Zusammenarbeit auf hochrangige offizielle Besuche oder die Förderung einzelner Leuchtturmprojekte. Dies produziert schöne Fotos,
aber ändert leider wenig am grundsätzlichen Defizit.
Die FDP meinte außerdem, unser Antrag werde der
Bedeutung der Beziehungen nicht gerecht, wir sollten
uns doch lieber auf den bisherigen Erfolgen ausruhen.
Offensichtlich haben es die Liberalen immer noch
nicht verstanden, dass es auch in der internationalen
Politik auf Gestaltungswillen und das Anstreben positiver Veränderungen ankommt. Ein echtes Armutszeugnis für eine Partei, die derzeit den Außenminister
stellt.
Nicht unser Antrag, sondern die aktuelle Politik der
Bundesregierung wird den Beziehungen nicht gerecht.
Dafür, dass die Beziehungen zu China auf der höchsten
Ebene diesen zentralen Stellenwert - da stimmt sogar
die Koalition zu - erhalten sollen, fehlt es an dem entsprechenden Fundament. Wir fordern daher eine deutliche Verbesserung der China-Kompetenzen auf allen
Ebenen, ohne damit unkritisch zu werden oder uns anbiedern zu wollen.
Aus meiner Sicht steht eines fest: Wir werden das
Ungleichgewicht gegenüber China niemals ausgleichen können, aber wir sollten auch aufpassen, dass
der Unterschied zwischen einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht wie China und Deutschland nicht kontinuierlich zunimmt.
Wer häufiger erlebt, wie hervorragend vorbereitet
chinesische Delegationen im Ausland unterwegs sind
und wie unbeholfen mitunter deutsche Delegationen in
China unterwegs sind, der weiß, wie weit die Lücke bereits auseinanderklafft. Deshalb reichen nicht mehr
flickschusterische Maßnahmen, wie die Bundesregierung sie betreibt, sondern es wäre eine echte ChinaKompetenzoffensive notwendig.
Leider verschließt die Bunderegierung wie auch in
diesem Fall vor den offensichtlichen Problemen die
Augen. Andere Regierungen, wie beispielsweise die
von Australien, beschränken sich nicht auf fortgesetzte
Bekenntnisse, sondern haben bereits gehandelt. Australien verfügt über ministeriumsübergreifende Arbeitsgruppen, die sich einmal im Quartal treffen, um
ihre Strategie gegenüber China abzustimmen. Das
wäre ein Punkt, der sich problemlos auch in Deutschland umsetzen ließe. Wir fordern in diesem Sinne seit
längerem einen Koordinator für deutsch-chinesische
Beziehungen im Auswärtigen Amt.
Außerdem drängen wir seit langem darauf, bei den
offiziellen Dialogforen die zivilgesellschaftliche Einbindung durchzusetzen. Es war dem Populismus eines
unerfahrenen Ministers Niebel geschuldet, dass die erZu Protokoll gegebene Reden
folgreichen BMZ-finanzierten Projekte eingestampft
werden. Niebel hat leider die Dimension jener vergleichsweise kleinen Zahlungen nicht erkannt. Diese
Türöffnerprojekte im Bereich der Zentralbankberatung, im Finanzsektor, im internationalen Klima- und
Umweltschutz sowie in der Rechtsstaatberatung reichen weit in die chinesische Gesellschaft hinein und
unterstützen genau solche Gruppen, die wir bei der
Weiterentwicklung der chinesischen Gesellschaft so
dringend benötigen. Aber wem der deutsche Stammtisch wichtiger ist, der übersieht das schon mal und
richtet zwangsläufig mit einer solchen Maßnahme unnötigen Flurschaden an.
Ähnlich sieht es im Bildungs- und Jugendbereich
aus. Es müssen endlich gesteigerte Anstrengungen für
eine bessere fächerübergreifende Bildung in Bezug auf
China unternommen werden. Wichtig wäre es, den
Menschen den Wissenszugang über China zu ermöglichen. Dies gilt nicht nur für die universitäre Bildung
und Forschung, sondern bezieht sich vor allem auch
auf die allgemeine schulische Bildung und Ausbildung.
Nur so können wir gesamtgesellschaftlich die Situation in China besser einschätzen und sind für die zukünftigen Herausforderungen in den Beziehungen entsprechend gerüstet.
Aber noch besteht die Möglichkeit des Umlenkens:
Erkennen Sie die veränderte Situation in der Welt an,
und verschlafen Sie nicht weiter die Zeichen der Zeit!
Wer langfristig auf Menschenrechte in China setzt,
muss sich dort und hier stärker engagieren und
braucht neben personellen Anstrengungen vor allem
erst einmal eine kohärente Strategie.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13560, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11202 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Die drei Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 57 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Graf ({1}),
Wolfgang Gunkel, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Religionsfreiheit im Iran stärken und Menschenrechte der Baha’i wahren
- Drucksachen 17/13474, 17/13849 Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldAngelika Graf ({2})Pascal KoberAnnette GrothTom Koenigs
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute am Vorabend der iranischen
Präsidentschaftswahl abschließend über einen Antrag
der Opposition, der Vorschläge für eine Stärkung der
Religionsfreiheit und die Wahrung der Menschenrechte der Bahai im Iran macht.
Vor diesem aktuellen Hintergrund werde ich für die
Union noch einmal ausführlich erläutern, warum wir
die Zielrichtung des Antrages grundsätzlich teilen, ihn
aber letztlich trotzdem nicht mittragen können.
Amnesty International prangert in einem neuen
Bericht eine Welle der Repression im Vorfeld der Präsidentenwahl an und sieht darin einen Versuch, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Ziel des Regimes sind
laut Amnesty dabei auch Mitglieder von ethnischen
oder religiösen Minderheiten. Vor allem betroffen ist
danach die aserbaidschanische Organisation Yeni
Gamoh, die sich im Iran für mehr politische Rechte
einsetzt. Außerdem nennt der Bericht den Fall des iranisch-amerikanischen christlichen Geistlichen Saeed
Abedini. Der in den USA lebende Pfarrer wurde am
26. September 2012 von Revolutionsgarden verhaftet,
als er Verwandte im Iran besuchte. Am 20. Januar
2013 hat ihn das Revolutionsgericht in Teheran zu acht
Jahren Haft verurteilt, weil er Hauskirchen gegründet
und damit die nationale Sicherheit gefährdet habe. In
einem Brief vom März 2013 berichtet er seiner Familie
davon, dass man ihn gefoltert habe. Danach sei er
nicht medizinisch versorgt worden, da er „unrein“ und
ein „Ungläubiger“ sei.
Weiter berichten Angehörige von Aktivisten von
Folter, die diese erlitten hätten. So sei den Gefangenen
vorgetäuscht worden, sie würden hingerichtet, um
Geständnisse zu erpressen. Außerdem bekräftigte das
oberste Gericht im Januar das Todesurteil gegen fünf
Mitglieder der muslimischen Ahwazi-Minderheit.
Am vergangenen Dienstag hat „Spiegel Online“ gemeldet, dass der als Reformer geltende Mohammed
Resa Aref seine Präsidentschaftskandidatur zurückgezogen habe. Der einstige Vizepräsident war der
letzte verbliebene reformorientierte Politiker im
Kandidatenfeld. Jetzt stehen noch sechs Kandidaten
zur Wahl - alle gelten als Getreue von Ajatollah Ali
Chamenei.
Das zeigt einmal mehr ganz deutlich, dass die Hoffnungen der Staatengemeinschaft auf eine vorsichtige
Öffnung durch einen Wechsel im Präsidentenamt unbegründet sind.
Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, IGFM, geht davon aus, dass sich die desaströse
Situation der Frauen und Minderheiten im Iran mit der
Wahl nicht ändern wird, da die tatsächlichen Machthaber nicht zur Wahl stünden. Der mit Abstand mächtigste Mann im Iran sei nicht der Präsident, sondern
der nicht demokratisch legitimierte „geistliche
Führer“ Ajatollah Ali Chamenei. „Das Gesicht des
Präsidenten mag sich am Freitag ändern - das Gesicht
der Islamischen Republik und die Herrschaft ultrakonservativer islamischer Geistlicher wird weiterbestehen, so lange … Khamenei im Amt ist“, so die IGFM.
In diesem Zusammenhang hat die IGFM noch einmal betont, dass sowohl Frauen als auch die
Mitglieder der religiösen Minderheiten wie Bahai und
Christen in der Islamischen Republik Iran Bürger
zweiter Klasse seien. Die religiös begründete systematische Entrechtung von Frauen, Andersdenkenden und
Minderheiten werde sich nicht allein durch einen
Wechsel im Amt des Präsidenten ändern.
Bei unseren Beratungen des Ausschusses für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe hat die SPDFraktion selbst erklärt, dass die bedrückende Situation
der Bahai im Iran ein Thema ist, mit dem sich der Bundestag bereits seit Jahren befasse. Ich hatte in meiner
Rede am 16. Mai 2013 ebenfalls auf dieses Engagement verwiesen und als Beispiel hierfür den umfassenden Antrag der Koalitionsfraktionen „Religionsfreiheit weltweit schützen“ angesprochen, in dem unter
anderem das Recht auf Religionswechsel und die damit
im Iran verbundenen drastischen Folgen thematisiert
werden. Dort droht in einem solchen Fall demjenigen
die Todesstrafe, der sich einer anderen Religion als
dem Islam zuwendet. Zusätzlich hat der von den Koalitionsfraktionen vor dem Hintergrund der Eindrücke
der Niederschlagung der sogenannten „Grünen Revolution“ initiierte und später interfraktionell geöffnete
Antrag „Menschenrechtslage im Iran verbessern“,
den im Übrigen auch die SPD-Fraktion mitgetragen
hat, bereits im Jahr 2010 die Diskriminierung der religiösen Minderheiten im Iran ausführlich kritisiert.
Insgesamt muss leider festgestellt werden, dass sich
trotz all dieser Initiativen die Situation der religiösen
Minderheiten im Allgemeinen und die Lage der Bahai
im Besonderen nicht verbessert, sondern weiter zugespitzt hat. Darauf haben die Bundesregierung, die
Fraktionen dieses Hauses, das Europäische Parlament
und der Europäische Rat entsprechend reagiert.
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass
sich beispielsweise eine Reihe von Kolleginnen und
Kollegen durch Patenschaften im Rahmen des Programms „Parlamentarier schützen Parlamentarier“
für verfolgte iranische Menschenrechtler engagieren.
Ich selbst habe eine Patenschaft für die inhaftierte
Menschenrechtsanwältin Shiva Nazar Ahari übernommen. Sie ist Mitglied der iranischen Menschenrechtsorganisation Committee of Human Rights Reporters,
CHRR, wurde am 19. September 2010 zu sechs Jahren
Haft und einer Geldstrafe von 400 US-Dollar als Alternative zu 74 Peitschenhieben verurteilt. Im Revisionsverfahren reduzierte das Teheraner Revolutionsgericht die Strafe auf vier Jahre sogenannte Exilhaft. Am
08. September 2012 wurde Ahari im Gerichtssaal verhaftet und sitzt seither im Evin-Gefängnis ein.
Ferner hat sich auch der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe in gemeinsamen Erklärungen hinter verfolgte Gruppen und einzelne Persönlichkeiten gestellt.
Lassen Sie mich also noch einmal wiederholen, dass
bereits auf den unterschiedlichsten politischen Ebenen
intensiv für mehr Religionsfreiheit und eine Verbesserung der äußerst schwierigen Situation der Bahai im
Iran hingewirkt wird und wir diesen Weg auch in Zukunft konsequent weiter beschreiten werden.
Abschließend will ich noch eine weitere Forderung
des Antrages herausgreifen: Die SPD fordert, dass die
Bundesregierung gegenüber der iranischen Regierung
die verfassungsrechtliche Anerkennung der Bahai als
religiöse Minderheit anmahnen sollte.
Wie ich ebenfalls bereits in der ersten Lesung ausgeführt habe, stehen beispielsweise die Christen im
Unterschied zu den Bahai zumindest theoretisch unter
dem Schutz der Verfassung der Islamischen Republik
Iran. Dies schützt sie aber de facto nicht vor staatlichen Repressalien. Auch sie werden unterdrückt: Seit
Juni 2010 wurden über 300 Christen wegen Ausübung
ihrer Religion inhaftiert. Vor allem die Hauskirchen
werden besonders scharf überwacht. Im diesjährigen
Weltverfolgungsindex des christlichen Hilfswerks
Open Doors belegt der Iran den achten Platz von
50 Staaten, in denen christliche Minderheiten weltweit
am stärksten verfolgt werden.
Eine Anerkennung der Bahai hätte folglich allenfalls eine symbolische Bedeutung, da der Schariavorbehalt der Verfassung in der Praxis weiterhin jeder
wirksamen Verbesserung der Situation der religiösen
Minderheiten entgegensteht.
Insgesamt sehen wir daher keine Notwendigkeit für
diesen Antrag, da er nach unserer Auffassung nur
unwesentlich über die Forderungen hinausgeht, die
seitens der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung bereits in der Vergangenheit an den Iran gestellt
wurden und weiterhin mit Nachdruck gestellt werden.
Vor diesem Hintergrund teilen wir zwar die grundsätzliche Zielsetzung des vorliegenden Antrags,
können diesen aber aus den genannten Gründen nicht
mittragen.
Insbesondere, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen, nachdem ich Ihre Reden im Plenum und Ihre Stellungnahmen im Ausschuss zur ersten
Lesung unseres Antrags gelesen und gehört habe, war
ich doch einigermaßen überrascht. Ich zitiere aus dem
Ausschussprotokoll: „Was an Missständen in dem
Antrag aufgezeigt werde, könne alles auch von der
Koalition unterschrieben werden“, so die CDU/CSUFraktion. Trotzdem stimme man nicht zu, obwohl Frau
Granold in ihrem Redebeitrag fast eins zu eins die
Situation der Bahai erörterte, so wie wir sie in unserem Antrag schildern. Mit Ihren Ausführungen über
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
die Defizite der Religionsfreiheit im Iran und zur Lage
der Bahai stimme ich vollkommen überein.
Leider, verehrte Frau Granold, widmen Sie sich
aber in Ihrer Rede am 16. Mai danach fast ausschließlich der Situation der Christen im Iran. Wären wir in
der Schule, würde ich sagen, Sie haben das Thema verfehlt oder es zumindest nicht richtig getroffen. Dabei
stelle ich nicht in Abrede, dass auch Christen im Iran
unter schwierigen Bedingungen ihre Religion leben;
aber mit der Gefährdungslage der Bahai kann man
ihre Situation nur schwer vergleichen. Immerhin gibt
es zum Beispiel christliche Abgeordnete im iranischen
Parlament; davon können Vertreter der Religionsgemeinschaft der Bahai nur träumen. Ihr Hinweis auf einen von Ihnen initiierten Gesprächskreis zum Thema
Religionsfreiheit, in dem es vorwiegend um die Lage
verfolgter Christen geht, hilft den bedrohten Bahai nur
wenig.
Wir, die SPD, haben den Eindruck, die Koalitionsfraktionen verstehen unter der Durchsetzung der Religionsfreiheit ausschließlich die Lage der Christen
weltweit. Genau deshalb ist unser Antrag absolut notwendig. Er behandelt die positive und negative Religionsfreiheit im Iran und geht im Besonderen auf die
dramatische Situation der Bahai-Glaubensgemeinde
ein. Ich würde mir das gleiche Engagement, welches
Sie für christliche Gemeinschaften im Iran und anderswo an den Tag legen, auch für Glaubensgemeinschaften wie die Bahai wünschen. Aus Ihrer Argumentation gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass Sie
keinen Antrag und kein politisches Engagement für
eine andere religiöse Gruppe unterstützen, fördern
oder gar initiieren, wenn nicht auch die Christen im
Vordergrund der Debatte stehen.
Außerdem ist Ihre Argumentation innerhalb der Koalition nicht konsistent. Kollege Kober von der FDPFraktion erkennt zwar ebenfalls die von mir aufgezeigten Missstände, sieht aber - ich zitiere - „die Notwendigkeit für diesen Antrag akut nicht“. Die FDP findet,
dass die Bundesregierung bereits ausreichend viel unternimmt, Herr Kober wurde in seinem Redebeitrag
auch nicht müde, all diese Dinge gewissenhaft chronologisch für uns aufzulisten und ausschweifend darzustellen. „Keine akute Notwendigkeit“, das muss man
wiederholen, um es glauben zu können. Seit fünf Jahren sitzt die Führungsriege der Bahai in einem fürchterlichen Gefängnis, und es ist keine Änderung oder
gar Verbesserung ihrer Lage in Sicht. Aber nein, die
FDP sieht hier keine akute Notwendigkeit, darauf hinzuweisen.
Ob es, auch gegenüber dem Iran und seiner Regierung, hilfreich ist, wenn selbst die Bundesregierung
und die sie tragenden Parteien die Lage der Bahai unterschiedlich einschätzen, sei dahingestellt. Allerdings
frage ich mich, wo die in der Stellungnahme der CDU/
CSU-Fraktion im Ausschuss angeführten Anträge, mit
denen Sie ja angeblich an diesem Thema dran sind, zu
finden sind. Ich weiß von keinem. Sie hätten das heilen
können, indem Sie unserem Antrag zustimmen, der ja
angeblich nichts Falsches enthält. Sie haben sich dem
verweigert und damit die Chance vergeben, ein starkes
Signal in Richtung Teheran zu senden. Aber vielleicht
lag es ja an Ihrem Koalitionspartner, der keine Notwendigkeit sieht, aber anscheinend auch noch nichts
von eigenen Anträgen weiß. Ich denke, Sie sollten sich
über diese unterschiedlichen Argumentationsmuster
noch einmal intern unterhalten. Die Bahai und ihre
prekäre Lage im Iran haben jedenfalls eine solche
Missachtung durch Regierungsparteien in Deutschland nicht verdient.
Ignoranz sehe ich auch beim Verhalten der Fraktion
der Linken. Ich stimme Ihnen, Kollegin Werner, zu,
dass die Geschichte der Bahai seit ihrer Gründung
auch eine Geschichte von Verfolgung und Unterdrückung ist. Sie verweisen darauf, dass die Bahai im Iran
als „politisch unzuverlässige Sekte“ betitelt werden.
Diese Bezeichnung ist mir bisher weder bei meinen
Reisen noch in der Literatur noch in Berichten von
NGOs begegnet. Wo - außer von den Machthabern im
Iran - haben Sie denn das her?
Ihr Hinweis auf ein Gespräch mit dem deutschen
Botschafter, der die Diskriminierung der christlichen
und der jüdischen Minderheit anscheinend nicht bestätigen wollte, verwundert mich ebenso. Erstens gibt es
zur Situation der Bahai zahlreiche Berichte von seriösen, weltweit arbeitenden Menschenrechtsorganisationen; wenn Sie also diesbezüglich Informationsbedarf
haben, sollten Sie diese Quellen befragen. Zweitens
frage ich mich natürlich, warum Sie diese Aussage zur
Situation der Christen als ein Argument gegen einen
Antrag zur Lage der Bahai heranziehen. Diese Logik
erschließt sich mir nicht wirklich.
Abschließend möchte ich noch eine Anregung aus
der CDU/CSU-Fraktion aufgreifen, nämlich auch einen Blick auf die Lage der Bahai in Ägypten zu werfen.
Wenn Sie von den Koalitionsfraktionen sich im Hinblick auf die Akutheit und Notwendigkeit des Schutzes
der Bahai geeinigt haben, können Sie sich unserer Unterstützung eines Antrag zur Lage der Bahai in Ägypten sicher sein. Der Kollege Koenigs von den Grünen,
für dessen Zustimmung ich mich ausdrücklich bedanke, machte im Ausschuss bereits den Vorschlag eines gemeinsamen Folgeantrags, den ich begrüßen
würde.
Am morgigen Freitag, 14. Juni 2013, findet im Iran
die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt.
Nachdem der konservative Philosoph Gholam-Ali
Haddad-Adel und der Reformer Mohammad Reza Aref
ihre Kandidatur zurückgezogen haben und zuvor Dutzende Kandidaten vom Wächterrat nicht zugelassen
worden waren - darunter alle dreißig weiblichen Bewerber -, stehen nun noch sechs Kandidaten zur Wahl:
Mohammad Bagher Ghalibaf, Mohammad Gharazi,
Saeed Jalili, Mohsen Rezaee, Hassan Rouhani und Ali
Akbar Velayati. Erreicht keiner dieser Kandidaten im
ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, wird es in
Zu Protokoll gegebene Reden
einer Woche, voraussichtlich am Freitag, 21. Juni
2013, eine Stichwahl geben. Der derzeitige Präsident
des Iran, der Holocaustleugner Mahmud Ahmadinedschad, darf laut derzeitiger iranischer Verfassung
nach zwei Amtszeiten nicht erneut zur Wahl antreten.
Am Vorabend dieser richtungsweisenden Wahlen
diskutieren wir im Deutschen Bundestag über die Situation der Bahai im Iran, die - auch vor dem Hintergrund der allgemeinen, schwierigen Lage der Menschenrechte und insbesondere der Religionsfreiheit im
Iran - unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf.
So hat es etwa auch heute, am 13. Juni 2013, wieder
zahlreiche Meldungen über vermehrte Phishing- und
Hacker-Angriffe auf iranische Nutzer des E-MailDienstes Googlemail gegeben, die offenbar politisch
motiviert sind und im Zusammenhang mit den Wahlen
am 14. Juni stehen sollen. Die Situation der Bahai im
Iran ist in der Tat alarmierend. Seit Beginn der Islamischen Revolution von 1978/1979 werden die Bahai, die
mit über 300 000 Angehörigen die größte nicht muslimische Minderheit im Iran stellen, systematisch verfolgt. Anders als die vormuslimischen religiösen Minderheiten der Juden, Christen und Zoroastrier, die
gemäß Art. 13 der iranischen Verfassung zumindest als
„schützenswerte religiöse Minderheiten“ gelten, werden die Bahai als „politische Sekte“ und als „Schmutzige“ bezeichnet, diskriminiert und einer politisch und
religiös motivierten Willkürjustiz ausgesetzt. Derzeit
sind über 100 Angehörige der Bahai im Iran inhaftiert.
Besorgniserregend ist dabei die Verurteilung der gesamten Führungsriege der iranischen Bahai zu zwanzig Jahren Haft. Seit nunmehr fünf Jahren sitzen
Fariba Kamalabadi, Jamaloddin Khanjani Afif
Naeimi, Saeid Rezaie, Mahvash Sabet, Behrouz Tavakkoli und Vahid Tizfahm in iranischen Gefängnissen.
Diese Bundesregierung hat sich wiederholt für die
Freilassung der Bahai-Führung starkgemacht, und
zwar nicht erst nach der Verurteilung, sondern bereits
während des Prozesses, wie etwa bei der Einbestellung
des iranischen Botschafters durch den damaligen
Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Wolf-Ruthart
Born, am 15. Juni 2010. Auch das internationale Solidaritätsprojekt „Five years too many“ macht regelmäßig auf das Schicksal der inhaftierten Bahai-Führung
mit Aktionen und Veranstaltungen aufmerksam.
Überdies ist den Bahai regelmäßig der Zugang zu
höheren Bildungseinrichtungen verwehrt. Studienbewerber, die als Religionszugehörigkeit Bahai angeben,
werden ohne Nennung weiterer Gründe von den Hochschulen und Universitäten abgelehnt. In der Folge hat
sich das „Bahai Institute für Higher Education“ entwickelt, das - so nennt es die Journalistin Yalda Zarbakhch in ihrem heutigen Bericht über die Bahai für
die Deutsche Welle - „eine Art heimliche Fernuniversität“ ist und es iranischen Bahai seit ihrer Gründung
im Jahr 1987 ermöglicht, zu studieren und sich fortzubilden.
Ein Vorwand, mit dem der Iran immer wieder die
Unterdrückung der Bahai vermeintlich zu rechtfertigen sucht und der uns in Deutschland besonders aufhorchen lassen muss, ist die Tatsache, dass die Bahai
ihr administratives und weltliches Zentrum in der nordisraelischen Hafenstadt Haifa unterhalten. Gerade
weil Israel einen großen Teil des nördlichen und innenstadtnah gelegenen Abhangs des Karmel-Berges für
den Schrein des Bab und die Hängenden Gärten den
Bahai zur Verfügung stellt, die seit 2008 auch zum
Weltkulturerbe der UNESCO zählen, und den Bahai
zudem uneingeschränkte Religionsfreiheit gewährt,
vermutet der Iran hinter allen Angehörigen der Bahai
israelische Agenten.
Diese schwierige Lage der Bahai im Iran veranlasst
diese christlich-liberale Regierungskoalition dazu, die
iranische Regierung zu ermahnen und zur Einhaltung
der Religionsfreiheit sowie der Rechte der Bahai
aufzufordern. Ich habe bereits in meiner Rede vom
16. Mai 2013 anhand von zahlreichen Beispielen ausführlich dargestellt, dass sich diese Bundesregierung
für die Religionsfreiheit weltweit und die Rechte und
die Religionsfreiheit der Bahai im Iran im Besonderen
kontinuierlich und nachhaltig einsetzt. Daher ist es
glücklicherweise nicht notwendig, dass wir vonseiten
des Bundestages Bundesaußenminister Dr. Guido
Westerwelle und den Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Dirk Niebel
sowie die Bundesregierung als Ganzes dazu auffordern müssen, sich mehr für die Rechte der Bahai einzusetzen. Sie tun bereits ihr Möglichstes.
Der Antrag der SPD „Religionsfreiheit im Iran
stärken und Menschenrechte der Bahai wahren“ ist
grundsätzlich zu begrüßen, weil er eine Debatte
darüber anstößt, dass allen Menschen das Recht zugestanden werden muss, ihre Religion auszuüben, ohne
dafür diskriminiert oder gar verfolgt zu werden. Jeder
hat das Recht, seine Religion frei zu wählen, die
Religion zu wechseln und auch eine neue Religionsgemeinschaft zu begründen. Für die Fraktion Die Linke
ist es selbstverständlich, dass dieses Recht niemandem
verweigert werden darf.
Tatsächlich werden den Bahai im Iran grundlegende Rechte vorenthalten, und es ist richtig, dass
sie seit der Gründung ihrer Religionsgemeinschaft unterdrückt und verfolgt werden - übrigens nicht erst seit
1979 in der Islamischen Republik. Anders als Juden,
Christen und Zoroastrier sind sie weder durch die Verfassung noch im öffentlichen Leben als gleichwertig
anerkannt. Im Iran leben heute etwa 300 000 Bahai,
sie stellen damit die größte nichtmuslimische Minderheit. Dass sich ihr religiöses und administratives
Zentrum in Israel befindet und die Bahai gute Beziehungen mit Israel unterhalten, nehmen die iranischen
Machthaber immer wieder zum Anlass, sie zu diskriminieren, ihnen Rechte vorzuenthalten und sie als politische anstatt als religiöse Gruppe einzuordnen. Auch
Zu Protokoll gegebene Reden
ihre Einstufung als Apostaten, als „vom wahren Glauben Abgefallene“, setzt die Bahai erheblichen Gefahren in der Islamischen Republik Iran aus, deren System
auf dem schiitischen Islam fußt und die den Islam zur
Grundlage jeglichen Handelns erklärt hat.
Es kann auch nicht abgestritten werden, dass die
allgemeine Menschenrechtssituation im Iran einiges
zu wünschen übrig lässt. Sowohl die freie Meinungsäußerung als auch die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sind stark eingeschränkt. Immer wieder
wird von willkürlichen Verhaftungen Oppositioneller
und Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidigern berichtet. Die Todesstrafe wird immer noch exzessiv verhängt und auch vollstreckt.
Selbstverständlich stimmen wir mit der SPD darin
überein, dass der Iran zur Einhaltung der Menschenrechte sowie des Zivil- und Sozialpakts angehalten
werden muss. Das Problematische beim Antrag der
SPD ist allerdings, dass er eine verfassungsrechtliche
Anerkennung der Bahai fordert. Eine solche Forderung stellt aber eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Irans dar. Ich glaube nicht, dass es unsere
Aufgabe sein kann, von außen einem anderen Staat
vorschreiben zu wollen, wie er seine Verfassung zu gestalten und zu ändern hat. Wir wissen doch, dass auch
bei uns immer wieder die Diskussion aufflammt, ob
zum Beispiel dem Islam der Status einer Körperschaft
des öffentlichen Rechts verliehen werden soll. Auch
SPD und Grüne haben dies gefordert, die CDU und die
CSU stellen sich aber vehement gegen eine solche Anerkennung und beharren darauf, dass die deutsche
„Leitkultur“ nicht ausgehebelt werden solle, Deutschland habe nun einmal jüdisch-christliche Wurzeln.
Auch bei uns sind also nicht alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen verfassungsrechtlich anerkannt und genießen damit auch nicht die gleichen
Rechte. Das finde ich auch nicht richtig, aber eine
Veränderung dieses Zustands muss doch aus einer Diskussion in unserer eigenen Gesellschaft resultieren
und nicht von außen vorgegeben werden. Wir müssen
schon überall die gleichen Maßstäbe anwenden und
nicht nur andere kritisieren.
Auch die sehr pauschale Forderung des Antrags,
„alle politischen und aus Gewissensgründen Inhaftierten“ freizulassen, ist so nicht tragbar. Eine solche
Forderung kann doch nur für diejenigen politischen
Häftlinge aufgestellt werden, die ihre Interessen gewaltfrei verfolgt haben. Im Iran haben einige Oppositionsgruppen mit massiver Gewalt für ihre Ziele gekämpft. Viele Menschen sind durch gewaltsame
Aktionen getötet und verletzt worden. Unter diesen
Umständen erscheint mir die Forderung, alle politischen Häftlinge freizulassen, egal ob sie sich der Anwendung von Gewalt schuldig gemacht und damit
schwere Straftaten begangen haben oder nicht, als
über das Ziel hinausgeschossen und wird den Opfern
von Gewalttaten mit Sicherheit nicht gerecht. Und was
vielen Menschen nicht bekannt ist: Auch bei uns in
Deutschland und in den Staaten der Europäischen
Union gibt es politische Häftlinge, die ebenfalls nicht
bedingungslos freigelassen werden. Wir würden uns sicher dagegen verwehren, wenn andere Staaten - wie
zum Beispiel der Iran - uns auffordern würden, sie alle
freizulassen.
Die Menschenrechte sind unteilbar und müssen für
alle Menschen gleichermaßen gelten, darin sind wir
uns einig. In der deutschen Politik gegenüber Iran
- und zwar über Parteigrenzen hinweg - scheint es
aber häufig darum zu gehen, den Iran zu dämonisieren. Hierfür wird immer wieder angeführt, der Iran
verletze die Menschenrechte, das iranische Volk werde
unterdrückt und seiner Rechte beraubt. Zugleich
liefern wir Waffen an despotische Regime im Nahen
Osten, weil wir sie als Bollwerk gegen den schiitischen
Iran stärken wollen. Dass mit diesen Waffen Demonstrantinnen und Demonstranten niedergemetzelt werden, die friedlich ihre legitimen Rechte einfordern,
scheint nebensächlich zu sein.
Wenig thematisiert wird auch, dass die durch den
Westen verhängten Sanktionen dazu führen, dass eine
Vielzahl an elementaren Rechten der iranischen
Bevölkerung nicht mehr zuteilwird. Insbesondere die
ärmeren Teile der Bevölkerung können kaum noch
überleben, die Preise für Lebensmittel sind ins Unermessliche gestiegen, lebensnotwendige Medikamente
sind teilweise nicht erhältlich. Darunter leidet doch
nicht die iranische Regierung, es ist das Volk, das die
schwere Last tragen muss. Und Spezialisten gehen davon aus, dass die iranische Regierung durch die Sanktionen keinesfalls in die Knie gezwungen werden wird weder politisch noch wirtschaftlich. Das Auswärtige
Amt denkt immer noch, es könne sich auf die scheinheilige Behauptung zurückziehen, die Sanktionen richteten sich „nicht gegen die Menschen im Iran, sondern
gegen das iranische Atomprogramm und seine Verantwortlichen“.
Die Missachtung der Rechte der Bahai zu thematisieren und die Einhaltung der Menschenrechte und internationaler Verträge anzumahnen, ist richtig und
wichtig. Die Lage der Menschenrechte im Iran ist prekär und muss in vielerlei Hinsicht kritisiert werden;
das steht außer Frage. Wenn wir aber mit zweierlei
Maß messen und an den Iran Forderungen stellen, die
wir an kaum ein anderes Land auf der Welt stellen
würden und die wir als eine Einmischung in innere
Angelegenheiten betrachten würden, wenn sie an uns
gestellt würden, so machen wir uns und unsere Menschenrechtspolitik unglaubwürdig. Und wir machen
uns auch unglaubwürdig, wenn wir für das durch die
Sanktionspolitik verursachte Leiden vieler Menschen
im Iran mit verantwortlich sind, wenn wir den
Menschen im Iran lebensnotwendige Medikamente
und erschwingliche Nahrungsmittel vorenthalten, aber
an Saudi-Arabien und Bahrain, die bei der Niederschlagung der Proteste in Bahrain die Menschen- und
Bürgerrechte mit Füßen getreten haben, Waffen liefern, ohne mit der Wimper zu zucken. Das sollte - neben der berechtigten Kritik des SPD-Antrags - auch
einmal thematisiert werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir sollten endlich den Dialog mit dem Menschenrechtskomitee des iranischen Parlaments aufnehmen.
Hier wäre der Ort, Menschenrechtsverletzungen mit
dem Ziel zu thematisieren, die iranische Regierung zur
Einhaltung der Menschenrechte zu bewegen.
Der Iran sieht sich gerne als demokratisches Land.
Bereits 1976 hat er den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte ratifiziert. Er bekennt
sich zur darin enthaltenen Religionsfreiheit. Dies gilt
allerdings nicht für alle religiösen Minderheiten im
Iran. Christen, Juden und Zoroastrier sind anerkannt.
Sie dürfen ihren Glauben weitgehend frei ausüben. Andere Gruppierungen bleibt eine solche Anerkennung
versagt. Besonders kritisch ist die Situation der Bahai.
Etwa 300 000 Angehörige dieser pazifistisch orientierten Religion leben im Iran. Sie gelten als vom Islam
Abgefallene und sind damit „Staatsfeinde“.
Diese Zuschreibung hat Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Bahai. Es ist ihnen untersagt, ihren
Glauben auszuüben. Sie werden aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit entlassen, exmatrikuliert und der
Spionage bezichtigt. Einrichtungen der Bahai werden
beschädigt, geschlossen oder zerstört. Sie werden vertrieben, verhaftet, gefoltert und müssen in extremen
Fällen mit Hinrichtungen rechnen. All das geschieht
unter dem Vorwurf der Beleidigung religiöser Gefühle
oder der Propaganda gegen die Islamische Republik.
Der Bericht des UN-Sondergesandten für den Iran,
Dr. Ahmed Shaheed, listet eine Vielzahl solcher Fälle
auf.
Seit 2004 wurden 681 Bahai willkürlich verhaftet.
Sieben religiöse Führer der Bahai sitzen seit 2008 in
Haft. 115 weitere Bahai sitzen immer noch im Gefängnis, unter dem Tatvorwurf der Ausübung ihres Glaubens. Hinter diesen Zahlen stehen Einzelschicksale. Es
geht um Menschen, deren Rechte der Zivilpakt schützen sollte, so zum Beispiel um Taraneh Torabi und
Zohreh Nikayin. Beide wurden im März 2011 festgenommen und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt,
weil sie Religionsunterricht für Kinder der Bahai organisiert hatten. Beide sind junge Mütter, ihre Kinder
sitzen mit ihnen im Gefängnis. Ihren Kindern wurde
zeitweise medizinische Betreuung verwehrt. Eine reine
Ratifizierung der Menschenrechtskonventionen allein
schützt noch keine religiöse Minderheit, am wenigsten
die Bahai.
Die Situation der Bahai ist extrem. Die Repressalien
der iranischen Regierung gegenüber dieser religiösen
Minderheit sind enorm. Gleichzeitig ist der Iran ein
zentraler regionaler Akteur. Die politische Elite im
Iran ist schiitisch geprägt. In den meisten Nachbarstaaten des Iran sind die Schiiten in der Minderheit,
teilweise werden sie dort unterdrückt. Die Frage der
Religionsfreiheit im Iran ist keine rein innenpolitische.
Sie entwickelt sich zunehmend zur Kernfrage regionaler Stabilität.
Religiös motivierte Konflikte gewinnen im Nahen
Osten an Dynamik. Die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten nehmen zu. Sie sorgen für
eine breite Mobilisierung von Anhängern, über Nationalgrenzen hinweg. Die libanesischen Schiiten der
Hisbollah kämpfen an der Seite des Alawiten Assads
gegen die vornehmlich sunnitische Opposition. Der
schiitische Iran unterstützt „seine Brüder“ in diesem
Kampf. Die Christen kämpfen in verschiedenen Allianzen. Die Sunniten, so die Rhetorik, werden vom Westen
fremdfinanziert, sie seien die Lakaien der USA und
Israels. Der Irak zerfällt. In Afghanistan lassen sich
die Gräben noch mühsam überbrücken. Im Namen der
Religion droht etwas, das Sonja Zekri in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 1. Juni dieses Jahres den „nahöstlichen Weltkrieg“ nannte. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit und Toleranz ist für den Frieden in der
Region überlebenswichtig. Das gilt auch für Israel, wo
die Bahai beispielhaft Toleranz und Zuflucht finden.
Es sollte im Interesse aller Akteure sein, diese Eskalationsdynamik zu stoppen. Die Anerkennung und Umsetzung der Religionsfreiheit in den betroffenen Staaten
spielt dabei eine zentrale Rolle. Wo religiöse Gemeinschaften sich unterdrückt und benachteiligt fühlen, lassen sie sich für politische Zwecke mobilisieren. Wo der
politische Weg ausweglos erscheint, sind Menschen bereit, zu Waffen zu greifen. Dabei sind die tatsächlichen
Unterschiede in religiösen Praktiken oder geistigen
Oberhäuptern von außen gesehen eher marginal. Das
hat uns in Europa der Dreißigjährige Krieg gelehrt. Er
hat uns nahezu unsere kulturelle Existenz gekostet. Es
ist zu hoffen, dass dem Nahen Osten eine so schmerzhafte Erfahrung erspart bleibt. Deswegen ist es im Interesse aller Akteure - der Nationalstaaten, der religiösen Gemeinschaften in der Region, der Religionsführer
in Deutschland und aller politischen Kräfte -, dass der
Schutz der Religionsfreiheit weltweit anerkannt und
umgesetzt wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Menschenrechte und Humanitäre Hilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13849, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/13474
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 58 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela
Kolbe ({1}), Ulla Burchardt, Rüdiger Veit,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen verbessern
Vizepräsident Eduard Oswald
- zu dem Antrag der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lehrkräfte von Integrationskursen stärken
und den Kurszugang erweitern
- Drucksachen 17/10647, 17/11577, 17/13566 Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelDaniela Kolbe ({2})Serkan TörenUlla JelpkeMemet Kilic
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die vorliegenden Anträge der Opposition befassen
sich mit der Vergütung der Lehrkräfte von Sprachkursen zur Integrationsförderung sowie mit einer Erweiterung des Kurszugangs. Vorgeschlagen werden Verbesserungen bezüglich der Arbeitssituation der
Lehrkräfte und hinsichtlich der sozialen Absicherung
von Lehrkräften sowie die Erhöhung der Quote von
festangestellten Lehrkräften bei Integrationsträgern.
Die Sprachkurse sind ein äußerst erfolgreiches Instrument zur Förderung von Integration und Teilhabe.
Dies ist mit ein Grund, weshalb der Bund seit 2005
über 1,3 Milliarden Euro für Sprach- und Orientierungskurse ausgegeben hat. Bis Ende 2012 haben
mehr als 800 000 von über 1 Million Teilnahmeberechtigten daran teilgenommen. Mehr als die Hälfte dieser
Teilnehmer absolvierte deren Abschlussprüfungen.
Die Opposition fordert eine deutliche Erhöhung der
Vergütungsgrenze für die Lehrkräfte der Sprachkurse.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lässt
diese Sprachkurse in Zusammenarbeit mit Ausländerbehörden, dem Bundesverwaltungsamt, den Kommunen und den Migrationsdiensten und Trägern nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch von privaten oder
öffentlichen Trägern durchführen. Mit Wirkung zum
1. Januar dieses Jahres wurde der für die Finanzierung der Kurse maßgebliche Kostenerstattungssatz
von 2,54 Euro je Kursteilnehmer und Unterrichtseinheit auf 2,94 Euro erhöht. Die Grundlage für diese
Erhöhung war ein Preisermittlungsverfahren des Statistischen Bundesamts, das Preise von Gruppensprachkursen zum Vergleich heranzog.
Die Honorargrenze wurde bereits mehrmals angehoben. Ende 2011 ist sie von 15 Euro auf 18 Euro erhöht worden, und erst im März dieses Jahres haben wir
nochmals eine Erhöhung von 18 Euro auf 20 Euro vorgenommen. Wir haben somit die Vergütungsgrenze der
Lehrkräfte innerhalb von etwas weniger als zwei
Jahren zusammengenommen um knapp ein Drittel der
ursprünglichen Untergrenze erhöht. Es steht jedoch
unbestreitbar fest, dass eine verbesserte Vergütungssituation auch voraussetzt, dass die Träger Kurse zur
Sprachförderung und Integration mit einer ausreichenden Teilnehmerzahl durchzuführen haben, um
somit eine wirtschaftliche Tragfähigkeit in Verbindung
mit einer angemessenen Vergütung der Lehrkräfte
sicherzustellen. Vergütet ein Träger Honorarkräfte jedoch unterhalb dieser Grenze, hat dies zur Folge, dass
der Kursträger eine Zulassung zur Durchführung von
Integrationskursen von nur einem Jahr erhält statt wie
bisher von bis zu fünf Jahren. Eine automatische
Nichtverlängerung der Zulassung, falls der Träger die
Untergrenze fortwährend unterschreitet, kommt jedoch
nicht in Betracht. Dies würde in unseren Augen die
faktische Einführung eines Mindesthonorars bedeuten.
Es ist sehr wichtig, zum wiederholten Male darauf
hinzuweisen, dass der Kursträger selbst für die Lehrkräftehonorierung verantwortlich ist. Der Bund hat
aufgrund der rechtlichen Bindungen des Kurssystems
kein Recht auf eine unmittelbare Einflussnahme bei
der Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse von
Lehrkräften. Also kann der Bund aus vergaberechtlichen Gründen den Trägern keine pauschalen
Honorarsätze für die Lehrkräfte vorschreiben. Die
Honorarhöhe kann lediglich gesteuert werden, indem
die Zulassung der Träger, die weniger als die Untergrenze zahlen, durch ein qualitatives Steuerungselement so begrenzt wird, wie es momentan praktiziert
wird.
Da sich die Kurse in erster Linie an Ausländer aus
Drittstaaten wenden, haben EU-Bürger keinen bindenden Anspruch auf Teilnahme an den Kursen. Sie sind
damit deutschen Staatsangehörigen rechtlich gleichgestellt und können - wie diese auch - nicht zu einem
Integrationskurs verpflichtet werden. Die Situation ist
in der Praxis jedoch derzeit unproblematisch. Da über
das Zulassungsverfahren der Kursträger ein bundesweites und flächendeckendes Kursangebot zur Förderung von Sprache und Integration offeriert wird,
können derzeit alle EU-Bürger, die an einem solchen
Kurs teilnehmen wollen, ohne längere Wartezeiten zugelassen werden.
Die momentane Gesetzgebung sieht vor, dass das
Kursangebot lediglich für die auf Dauer rechtmäßig
im Bundesgebiet lebenden Ausländer bestimmt ist. Ich
bin jedoch der Meinung, dass eine allgemeine Teilnahmemöglichkeit geprüft werden sollte. Die Mittel und
Plätze in den Kursen wären dafür vorhanden. Eine solche Öffnung, die über die momentanen Bestimmungen
hinausgeht, wäre ein positives Signal für die Einbindung in den Prozess des Asyl- und Integrationsverfahrens und an einer höchstmöglichen gesellschaftlichen
Einbindung.
Die Wahl des Beschäftigungsverhältnisses zwischen
Lehrkraft und Träger spielt aus der Sicht der Koalition
keine Rolle bei der Frage, ob ein Träger die Leistungsfähigkeit zur Durchführung von Kursen zur Förderung
von Sprache und Integration besitzt oder nicht. Die
Berücksichtigung einer etwaigen Quote von festangestellten Lehrkräften im Zulassungsverfahren würde
außerdem die Privatautonomie zwischen Kursträger
und Lehrkraft beeinflussen. Darum lehnen wir es ab,
den Aspekt einer solchen Quote in die Prüfung der
Leistungsfähigkeit zu übernehmen.
Einer der beiden oppositionellen Anträge betrifft
ferner die generell bessere Ausrichtung der sozialen
Sicherungssysteme auf die Bedürfnisse von selbstständigen Lehrkräften. Es ist darauf hinzuweisen, dass die
Frage nach der sozialen Absicherung in unserem Land
knapp 2,6 Millionen Menschen betrifft. Die oppositionelle Forderung in jenem Antrag ist in Anbetracht ihrer Komplexität für die Diskussion der Vergütung und
Absicherung von Lehrkräften weder angebracht noch
zielführend, sondern dient lediglich einer absichtlichen Polarisierung innerhalb der themenbezogenen
Debatte. Aus diesen Gründen sind die beiden Anträge
der Opposition abzulehnen.
Wieder einmal debattieren wir an dieser Stelle die
Situation von Lehrkräften in Integrationskursen. Wieder einmal fordern wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten, die Bedingungen für Lehrkräfte,
Träger und Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer
zu verbessern. Wieder einmal lehnen Sie unsere Forderungen ab. Dabei fällt es selbst Konservativen zunehmend schwer, Argumente zu finden, warum Lehrkräfte
von Integrationskursen nicht besser bezahlt werden
sollen. Schließlich sind sie alle Akademikerinnen und
Akademiker oftmals mit einer Zusatzqualifikation. Sie
leisten einen wichtigen Beitrag bei der so wichtigen
Aufgabe, Einwanderern die deutsche Sprache und Kultur nahezubringen. Ich gehe sogar so weit und sage,
sie sind die erste Visitenkarte Deutschlands. Ihre nicht
immer einfache Arbeit, sehr verehrte schwarz-gelbe
Koalition, sollten wir anerkennen und wertschätzen.
Aus diesem Grund haben wir unseren Antrag „Arbeitsbedingungen von Lehrkräften in Integrationskursen
verbessern“ vor Monaten auf den Weg gebracht.
Heute findet nun die Schlussberatung statt.
Wir als SPD-Bundestagsfraktion wollen an erster
Stelle, dass Lehrkräfte angemessen entlohnt werden,
sodass sie davon auch leben können. Denn das ist bei
einem Großteil von ihnen in der Realität nicht der Fall.
Mich erreichten in den vergangenen Monaten eine
Vielzahl von E-Mails und Briefen, in denen mir betroffene Lehrkräfte schilderten, wie ihre Arbeits- und Lebenswirklichkeit aussieht, welche Ängste sie tagtäglich begleiten, sei es in Zusammenhang mit Fragen der
Krankenversicherung oder in Bezug auf eine möglicherweise drohende Altersarmut, da bei ihnen am
Ende des Monats kein Geld übrig bleibt, um vorzusorgen. Eine Vielzahl von ihnen stockt zudem über das
SGB II auf. In diesen Schreiben machen sie auch sehr
deutlich, welchen Unmut auf die Politik in Berlin sie
empfinden und wie sie ihr Vertrauen in eine gerechte
Politik verlieren. Und seien wir doch mal ehrlich: Seit
Beginn Ihrer schwarz-gelben Regierungszeit hat sich
hier auch nur wenig geändert. Genau darum wollen
wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit
unserem Antrag, dass die Vergütung von Lehrkräften
in Integrationskursen angehoben werden, und zwar
auf ein der Qualifikation entsprechendes Niveau. Unserem sozialdemokratischen Verständnis nach sollten
Lehrkräfte von Integrationskursen nicht auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II angewiesen sein.
Liebe Frau Merkel, da hilft schlussendlich auch
nicht der 46. oder 47. Gipfel zum Thema weiter, die Situation dieser Personengruppe zu verbessern, da hilft
schlicht nur weiter, gesetzliche Regelungen zu verändern und Lehrkräfte besser zu entlohnen und sie nicht
mit Dumpinglöhnen abzuspeisen. Die derzeit bestehende Vergütungsgrenze von 18 Euro muss nach unserer Auffassung deutlich erhöht werden. Wir wollen die
Vergütung in einem ersten wichtigen Schritt auf
26 Euro anheben. Wir wollen aber auch eine bessere
Kontrolle der Einhaltung dieser Vergütungsgrenze.
Ein weiterer Knackpunkt ist die bereits angesprochene Frage der sozialen Absicherung. Viele Lehrkräfte von Integrationskursen zählen momentan zur
Gruppe der Soloselbstständigen. Gerade darum brauchen wir hier Änderungen. Wir müssen für diese
Gruppe zügig einen Vorschlag erarbeiten mit dem Ziel
der gleichen und kontinuierlichen sozialen Absicherung in der gesetzlichen Renten-, Arbeitslosen-, Kranken- und Pflegeversicherung. Leitgedanke muss der
Gleichheitsgrundsatz sein: Soziale Rechte sollen für
alle unabhängig vom Arbeitnehmerstatus gewährt
werden. Das fordert in der Konsequenz, dass die Träger von Integrationskursen nur zugelassen werden,
wenn sie unverzüglich nach Vertragsunterzeichnung
eine Statusklärung bei der Rentenversicherung beantragen. So kann geklärt werden, ob eine selbstständige
oder abhängige Beschäftigung besteht. Das, liebe
schwarz-gelbe Koalition, schützt die Lehrkräfte und
dient deren Rechtssicherheit.
Was auch zu einer deutlichen Verbesserung der Situation von Lehrkräften beiträgt, ist unsere Forderung,
die Quote fest angestellter Lehrkräfte zu erhöhen. Dafür soll die Quote der fest angestellten Lehrkräfte als
Qualitätskriterium in die Integrationskursverordnung
aufgenommen werden. Gleichzeitig fordern wir, dass
ein Konzept entwickelt werden soll, das weitergehende
Schritte zur Erhöhung dieser Quote von Festangestellten aufzeigt. Das soll unter anderem weitere Anreizinstrumente für die Träger umfassen.
Das Thema Einwanderung wird uns in den kommenden Jahren weiter intensiv beschäftigen. Allein der
bestehende und absehbar auch intensiver werdende
Fachkräftemangel in Deutschland und die demografischen Veränderungen werden das zur Konsequenz
haben. Um so wichtiger ist es in unseren Augen, bereits heute die Weichen in die richtige Richtung zu stellen. Die Frage nach qualitativ hochwertigen Integrationskursen wird auch eine Forderung der Wirtschaft
werden. Und die Zahlen belegen es: Wir verzeichnen in
Deutschland einen deutlichen Zuwachs bei den Kursen
und Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern. Und
Zu Protokoll gegebene Reden
Daniela Kolbe ({0})
Sie stimmen mir sicherlich auch zu: Eine gute Sprachausbildung kann nur gewährleistet werden, wenn auch
die Lehrkräfte entsprechend ausgebildet und motiviert
sind, und nicht, wenn sie im Hinterkopf haben, sie
müssen noch zum Amt, um aufstockende Hilfe zu beantragen, weil das, was sie tun, nicht zum Leben reicht.
Dieser Antrag ist sicher nicht der letzte Schritt. Wir
als SPD haben 2005 das Zuwanderungsgesetz auf den
Weg gebracht. Wir als SPD haben uns in der Vergangenheit für eine Verbesserung der Lehrkräfte eingesetzt. Und wir als SPD werden uns weiterhin für eine
Verbesserung einsetzen. Die schwarz-gelbe Bundesregierung redet nur von Integration und veranstaltet
öffentlichkeitswirksame Integrationsgipfel. Doch das
Handeln von Union und FDP sieht bei Licht betrachtet
dann leider anders aus. Absichtserklärungen, liebe Regierungskoalition, reichen nicht. Ich erinnere Sie abschließend gern daran: Noch in der Großen Koalition
haben wir als SPD eine erste Erhöhung der an die Träger überwiesenen Gelder gegen Sie durchgesetzt und
weitere Erhöhungen angemahnt. Seit 2009 dann haben
wir in allen Haushaltsverhandlungen Änderungsanträge zur Erhöhung der Honorare vorgelegt. Sie haben
jeden einzelnen davon abgelehnt. Wir werden unseren
Weg aber weiter gehen, mit Ihnen oder nach der Wahl
am 22. September auch ohne Sie. Denn wer gute und
gesellschaftlich wichtige Arbeit leistet, muss anständige Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen erhalten.
SPD und Grüne sind in der Debatte zu den Integrationskurslehrkräften nicht müde geworden, der Regierung mangelnde Wertschätzung und Doppelzüngigkeit
vorzuwerfen. Ich bitte Sie eindringlich, nicht von sich
auf andere zu schließen!
Frau Kollegin Pothmer, Sie haben am 21. Februar
zu Protokoll gegeben, die Bundesregierung sei beim
Thema Integrationskurse „doppelzüngig“. Doppelzüngig ist aber nicht die Koalition. Doppelzüngig sind
die Fraktionen der SPD und Grünen. In dem Punkt
freue ich mich über die Zustimmung meiner Kollegin
Sevim Dağdelen von der Linksfraktion. Sie sagte in der
betreffenden Debatte wörtlich: „Was Rot-Grün 2005
zu verantworten hatte, war weitaus schlechter!“, und:
„Was Grüne und SPD gerne unerwähnt lassen, ist,
dass die eklatanten Schwächen des Integrationskurssystems von Rot-Grün zu verantworten sind.“
Frau Kollegin Kolbe von der SPD-Fraktion rühmt
sich, dass die Integrationskurse „Herzstück des rotgrünen Zuwanderungsgesetzes“ gewesen seien. Wenn
Sie sich der Anfänge der Integrationskurse rühmen,
dann verschließen Sie nicht die Augen davor, wie Sie
damals die Integrationskurse finanziell ausgestattet
haben! Den Kostenerstattungssatz hat die rot-grüne
Bundesregierung 2005 auf 2 Euro und 5 Cent festgesetzt! Schwarz-Rot hat ihn 2007 auf 2,35 Euro angehoben. Schwarz-Gelb hat dann 2011 auf 2,54 Euro aufgestockt und schließlich dieses Jahr auf 2,94 Euro. Das
ist anderthalbmal so hoch wie unter Rot-Grün. Sie haben die Grundvergütung bestimmt. Wir haben sie deutlich erhöht. Wenn jemand die Integrationskurslehrkräfte ausgebeutet hat, dann waren Sie das. Wenn Sie
sich nun als Vertreter der Integrationslehrkräfte aufspielen, ist das heuchlerisch. Das ist wahrhaftig doppelzüngig!
Im Übrigen stellen wir heute 209 Millionen Euro
pro Jahr für die Integrationskurse zur Verfügung. Sie
haben damals weniger, nämlich 208 Millionen, investiert. Inzwischen haben mehr als 1 Million Menschen
an den Integrationskursen teilgenommen - und dennoch investieren wir noch mehr als Sie damals. Ich
frage mich, wie Sie vor diesem Hintergrund Ihre Forderungen nach immer höheren Geldern für die Integrationskurse ernsthaft rechtfertigen wollen, ohne Ihre
eigene Integrationspolitik der Vergangenheit zu demontieren.
Frau Kollegin Kolbe, Sie werfen der Regierung vor,
sie betreibe lediglich Symbolpolitik in der Integration.
Das Gegenteil ist der Fall. Um die Symbole streiten
Sie. Die Höhe der Mittel für die Integrationskurse ist
für Sie längst ein Symbol geworden. Die von Ihnen geforderte Höhe hat längst nichts mehr mit dem realen
Bedarf zu tun. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass
das Integrationskursbudget im Haushalt als Schieberegler für das Gelingen von Integration in unserer Gesellschaft fungiert. Immer weniger Menschen brauchen die Integrationskurse, weil sie gut integriert sind.
Ihnen missfällt das, weil Sie Migranten gern zu Opfern
erklären, um sie zu entmündigen. Ich erinnere Sie aber
gern daran, was ein Fraktionskollege von Ihnen am
1. März 2002 in diesem Hause gesagt hat: „Es geht
aber bei der Integration nicht nur um Geld. Ein Großteil der Integrationsleistungen wird schon bisher völlig
unabhängig von staatlicher Steuerung und Unterstützung erbracht. Verbände, Initiativen oder auch einzelne engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger leisten hier eine großartige Arbeit, deren Wert nicht hoch
genug eingeschätzt werden kann.“
Recht hatte Ihr Kollege. Wenn wir sehen wollen, wie
gut Integration in Deutschland gelingt, ist die Höhe
des Integrationskursbudgets dafür kein Indikator.
Wenn weniger Menschen einen Integrationskurs brauchen, ist das ein Fortschritt, kein Rückschritt. Dass wir
den Haushaltstitel dennoch höher ansetzen als Ihre damalige Regierung, zeigt nur allzu deutlich, wer Integration in unserem Land tatsächlich fördert. Sie mit
Ihrer Symbolpolitik ganz sicher nicht.
Die Linke kämpft dafür, dass alle Menschen sozial
abgesichert an der Gesellschaft teilhaben können. Der
Linken liegt auch die soziale Absicherung Selbstständiger am Herzen, die im Dienstleistungsbereich, im
Handels- und Gastgewerbe, im Baugewerbe, in der
Land- bzw. Forstwirtschaft etc. arbeiten. Und das liegt
nicht zuletzt daran, dass viele Selbstständige in unsicheren Einkommensverhältnissen in Nähe der ArmutsZu Protokoll gegebene Reden
risikogrenze leben, häufig unter prekären Bedingungen, ohne soziale Absicherung und mit der Perspektive
von Armut im Alter. Handelt es sich um sogenannte
Scheinselbstständige, werden die Betroffenen der
notwendigen Absicherung durch die Sozialversicherungssysteme beraubt. Über 37 Prozent der Soloselbstständigen, also derjenigen Selbstständigen, die
keine Beschäftigten haben, verfügen über ein monatliches Nettoeinkommen von weniger als 1 100 Euro.
Das trifft ebenso für über 12 Prozent der Selbstständigen zu, die auch andere Menschen in ihrer Firma beschäftigen. Besonders betroffen sind Soloselbstständige im Hotel- und Gastgewerbe und Kosmetikerinnen
und Kosmetiker; über 50 Prozent der Vollzeitarbeitenden in diesen Branchen haben ein Nettoeinkommen
unter 1 100 Euro.
Es gibt aber noch eine andere Gruppe, die zu
Hungerlöhnen arbeiten muss: die Lehrkräfte in Integrationskursen. Ihnen verweigert die Bundesregierung
seit Jahren eine angemessene Entlohnung. Auch in Zukunft sollen - wenn es nach der Bundesregierung und
den Regierungsfraktionen geht - die hochqualifizierten Lehrkräfte mit Zusatzausbildung im Integrationskursbereich mit Honoraren auf Hartz-IV-Niveau abgespeist werden. Allgegenwärtig wird derzeit in
Deutschland um Hochqualifizierte geworben, doch im
gesellschaftlich so wichtigen Bereich der Integration
werden Hochqualifizierte geradezu mit Füßen getreten
und vergrault. Die Linke sagt: Das muss ein Ende haben!
Vor diesem Hintergrund ist es schon etwas euphemistisch und den Lehrkräften gegenüber auch zynisch,
wenn meine SPD-Kollegin Daniela Kolbe in der ersten
Lesung der beiden vorliegenden Anträge am 21. Februar 2013 - Plenarprotokoll 17/222, Seite 27717 erklärte: „Die Integrationskurse sind das Herzstück
des rot-grünen Zuwanderungsgesetzes. Sie haben sich
als integrationspolitisches Erfolgsinstrument bewährt.“ Denn das von SPD und Grünen geschaffene
Integrationskurssystem war sowohl in fachlich-pädagogischer Hinsicht - damals gab es zum Beispiel pauschal nur 600 Stunden Sprachunterricht - als auch und
gerade mit Blick auf die miserablen Beschäftigungsbedingungen der Lehrkräfte im Jahr 2005 noch weitaus
schlechter, als es heute ist. Das rot-grüne System hat
2005 zur massiven Absenkung der Honorare der Lehrkräfte geführt. Im neoliberalen Mainstream gefangen,
glaubte Rot-Grün auch bei den Integrationskursen,
der Markt werde es schon richten. Natürlich ist es gut,
dass es Integrationskurse gibt; das fordert die Linke
schon seit langem. Nur kamen die aber um mehrere
Jahrzehnte zu spät. Allerdings kritisiert die Linke seit
Bestehen des Integrationskurssystems, dass die vermeintliche „Erfolgsgeschichte Integrationskurse“ auf
dem Rücken der Lehrkräfte ausgetragen wird. Neben
den Lehrkräften und deren Selbstorganisationen wie
dem DaZ-Netzwerk und der Initiative „Bildung Prekär“ sowie der GEW war es die Linke, die von Anfang
an den andauernden Skandal der höchst prekären Arbeitsbedingungen der Integrationskurslehrerinnen und
-lehrer kritisiert und öffentlich gemacht hat. Es ist gut,
dass SPD und Grüne sich diese kritische Haltung inzwischen zumindest im Grundsatz - wenn auch unzureichend - zu eigen gemacht haben.
Doch während die Problembeschreibung im Antrag
der SPD weitgehend zutreffend ist, sind die aufgezeigten Lösungsansätze unzureichend. Die Forderung
nach regelmäßigen Statusfeststellungsverfahren bei
der Rentenversicherung nach Vertragsabschluss ist
bestenfalls hilflos. Das Problem der Scheinselbstständigkeit wird hierdurch nicht beseitigt; denn Kursträger
und scheinselbstständig Beschäftigte werden im Regelfall ({0}) solche Angaben machen, die zur
Feststellung der „Selbstständigkeit“ führen, um sich
selbst und dem Träger nicht zu schaden ({1}). Die diesbezüglichen Erfahrungen mit der
Rechtsprechung sind auch nicht gerade ermutigend,
wenn nach jahrelangen Prozessen in letzter Instanz
dann doch noch eine Ablehnung erfolgt. Wir sollten
das Problem nicht auf diese Weise individualisieren
und in die Rechtsprechung verschieben. Wir müssen
eine politische und gesetzgeberische Lösung des Problems finden! Selbst bei den Honoraren bleibt die SPD
weit hinter den minimalen Notwendigkeiten zurück.
Honorare in der geforderten Höhe von 26 Euro reichen nicht einmal aus, um eine vergleichbare Bezahlung wie die Einstiegsentlohnung bei Schullehrerinnen
und -lehrern erzielen zu können. Das ist für eine qualifizierte Beschäftigung mit geforderter Zusatzausbildung definitiv zu wenig. Der grundlegende Ansatz darf
nicht sein, die Lehrkräfte auf ein gerade einmal
existenzsicherndes Niveau zu bringen. Nein, den Lehrkräften steht ein Lohn zu, der ihrer unendlich wichtigen Tätigkeit und ihrer guten Qualifikation entspricht.
Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Wertschätzung ihrer Arbeit! So sieht es die Linke.
Die Grünen haben sich in den letzten Jahren in Bezug auf die Beschäftigungssituation der Lehrkräfte in
Integrationskursen langsam einer Position angenähert, wie sie die Linke, Gewerkschaften und Betroffene
seit längerem vertreten. In einem anderen Antrag, der
gerade einmal eineinhalb Jahre alt ist, hielten die
Grünen noch 24 Euro als Honorar für ausreichend Bundestagsdrucksache 17/7639. Und das war nicht
einmal als wirksames Mindesthonorar gefordert, sondern als Grenze, unter der lediglich eine einjährige
Zulassung für Träger erteilt wird. Es sei aus vergaberechtlichen Gründen nicht möglich, hieß es in diesem
Antrag, privaten Kursträgern konkrete Vorgaben zur
Vergütung zu machen. Nun aber fordern auch die Grünen 30 Euro Mindesthonorar. Das ist angesichts der
Vorgeschichte zwar nicht besonders glaubwürdig,
entspricht aber unseren und zum Beispiel den Forderungen der GEW, weshalb wir diesem Antrag auch zustimmen werden.
Allerdings betreiben auch die Grünen in ihrem Antrag, ähnlich wie die SPD, eine von Selbstkritik freie
Zu Protokoll gegebene Reden
Geschichtsklitterung, wenn der Eindruck erweckt
wird, die „schwarz-gelbe Koalition“ verweigere sich
Verbesserungen des von der „damaligen rot-grünen
Koalition“ eingeführten Integrationskurssystems. Wie
gesagt: Was 2005 von Rot-Grün eingeführt wurde, war
weitaus schlechter und wurde erst durch nachfolgende
Regierungen zumindest teilweise verbessert - auch
wenn sich gerade an der Beschäftigungssituation der
Lehrkräfte leider kaum etwas geändert hat.
Beiden Anträgen fehlt auch jede Kritik an dem
Zwangscharakter des hiesigen Integrationskurssystems, in dem mit Verpflichtungen, Zwangsvorführungen, Sanktionen und Strafen gearbeitet wird. Wie
auch? Rot-Grün hat diese Entwicklung mit dem
Zuwanderungsgesetz 2005 eingeleitet, die Nachfolgeregierungen haben diese Zwangselemente „dankend“
aufgenommen und weiter gestärkt. Als einzige Fraktion setzt die Linke konsequent auf Freiwilligkeit des
Spracherwerbs und Förderung der Betroffenen - ohne
Zwangsmittel, Androhungen und Sanktionen. Wir halten nichts davon, Teilnehmerinnen und Teilnehmer der
Integrationskurse unter Druck zu setzen und in der
Öffentlichkeit das völlig der Realität widersprechende,
ausgrenzende Bild einer verbreiteten „Integrationsverweigerung“ zu verbreiten. Die Betroffenen haben
ein großes Eigeninteresse am Spracherwerb und nutzen es umso mehr, wenn gute Unterstützungsangebote
da sind. Wir halten Zwangs- und Sanktionsmaßnahmen bzw. deren Androhung auch im Sinne eines Lernens unter Zwang für didaktisch absolut verfehlt.
Die Linke fordert seit langem eine Anhebung der
Stundenhonorare auf mindestens 30 Euro, aber nur als
sofort umsetzbare Zwischenlösung im bestehenden
System. Diese Anhebung der Honorare reicht bei weitem nicht aus! In der letzten Woche hat meine Fraktion
zu diesem Thema ein Fachgespräch mit Lehrkräften,
Vertreterinnen und Vertretern von Initiativen, Trägern
und der Gewerkschaft veranstaltet. Wir werden hieraus noch Vorschläge entwickeln, wie wir uns ein
grundlegend anders gestaltetes Integrationskurssystem vorstellen, das alle einbezieht und ohne Zwangsmaßnahmen und Drohungen auskommt, mit fairen
Löhnen und Arbeitsbedingungen für die Lehrkräfte,
am besten natürlich auf der Basis sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse.
Die Bundesregierung betont immer wieder, dass
ohne ausreichende Deutschkenntnisse eine Integration
in unsere Gesellschaft kaum möglich sei. Sie lässt
keinen Termin aus, um das Kernstück ihrer Integrationspolitik - das Angebot an Deutschkursen - zu
bewerben. Die geringe Wertschätzung der Integrationskurslehrkräfte und die stiefmütterliche Durchführung der Kurse stehen im drastischen Widerspruch zu
der Bedeutung, die die Bundesregierung in ihren Reden den Integrationskursen beimisst. Reformbedarf
gibt es in drei Bereichen:
Erstens. Die Qualität der Kurse ist verbesserungswürdig. Den Handlungsbedarf haben wir in unserem
von der Koalition abgelehnten Antrag „Qualität der
Integrationskurse verbessern“ ({0}) aufgezeigt.
Zweitens. Die Vergütung der Lehrkräfte muss an
ihre Qualifikation und die gesellschaftliche Bedeutung
ihrer Arbeit angepasst werden.
Drittens. Die Kurse müssen für alle Interessierten
geöffnet werden.
Die Integrationskurse werden den Bedürfnissen der
Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer nicht ge-
recht. So erreicht in den letzten Jahren regelmäßig nur
die Hälfte aller Teilnehmenden das gesetzliche Ziel,
nämlich die für eine Aufenthaltsverfestigung notwen-
digen ausreichenden Sprachkenntnisse auf dem
Niveau B 1. Das ist ein Armutszeugnis für die Integra-
tionspolitik der Bundesregierung. Dies ist aber auch
bedenklich, weil Einwanderinnen und Einwanderer
gerade auf dem Arbeitsmarkt auf gute Deutschkennt-
nisse angewiesen sind. Seit Schwarz-Gelb 2011 das
Aufenthaltsrecht noch verschärft hat, müssen Betrof-
fene außerdem für eine Aufenthaltserlaubnis, die
länger als ein Jahr gültig ist, „ausreichende Sprach-
kenntnisse“ nachweisen. Damit verlangt die Bundes-
regierung von Neueinwanderern das gleiche Sprachni-
veau wie von Einbürgerungskandidaten. Das ist völlig
absurd.
Außerdem ist die miserable Beschäftigungslage der
zu 75 Prozent freiberuflich tätigen Kurslehrkräfte un-
haltbar. Der Durchschnittsstundensatz für Lehrkräfte
in Integrationskursen beläuft sich zurzeit auf 18 Euro.
Damit werden die Integrationskurslehrkräfte im Hin-
blick auf vergleichbare Berufsgruppen nachweislich
am schlechtesten vergütet. Das entspricht etwa einem
Drittel von dem Lohn eines Realschullehrers, obwohl
beide fachlich und pädagogisch vergleichbar kompe-
tent sein müssen. Diese Ungerechtigkeit muss die Bun-
desregierung endlich beenden.
Wir haben in dieser Wahlperiode ausführlich mit
verschiedenen Lehrkräften gesprochen und uns ein gu-
tes Bild von ihrer Situation machen können. Die Lage
ist beschämend: Viele der Integrationskurslehrkräfte
können trotz Vollzeitbeschäftigung von ihrem Lohn
nicht leben und sind gezwungen, ergänzende Sozial-
leistungen zu beantragen. Sie haben weder Sicherheit
über ihre Stundenzahl und somit über ihre Einkom-
menshöhe, noch erhalten sie Lohnfortzahlungen bei
Kursausfall oder im Krankheitsfall. Sie leben im
Ungewissen. Dazu kommt noch, dass freiberufliche
Lehrkräfte aufgrund ihres Selbstständigenstatus für
ihre Sozialversicherungsbeiträge selbst aufkommen
müssen. Jedoch erlaubt es die Höhe der Vergütung
praktisch nicht, diese Kosten zu decken.
Die Bundesregierung muss endlich einen glaubwür-
digen Plan vorlegen, in welcher Weise sie die Arbeits-
bedingungen der freiberuflichen Lehrkräfte verbes-
sern will. Der Bund ist hier in der Verantwortung: Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Integrationskurse sind gesetzlich vorgeschrieben und
werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
bis ins Detail vorgegeben.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregie-
rung auf, erstens eine verpflichtende Mindestvergü-
tung von 30 Euro pro Stunde für freiberufliche Lehr-
kräfte festzulegen. Der Wissenschaftliche Dienst des
Deutschen Bundestages hat bestätigt, dass es für eine
verbindliche Mindestvergütung lediglich einer Ände-
rung der Integrationskursverordnung bedarf. Damit
die Kursträger die erhöhten Honorare auch bezahlen
können, muss die Bundesregierung den Stundensatz
pro Teilnehmer für die Kursträger entsprechend erhö-
hen.
Zweitens: die Erhöhung der Quote fest angestellter
Lehrkräfte. Eine Festanstellung garantiert den
Lehrkräften die notwendige soziale Absicherung sowie
ein sicheres Arbeitsverhältnis. Außerdem bietet eine
vermehrte Festanstellung Schutz vor Scheinselbststän-
digkeit.
Neben der Bezahlung der Lehrkräfte gibt es drin-
genden Handlungsbedarf beim Zugang zu den Integra-
tionskursen. Die Kurse müssen stärker für Personen,
die aus humanitären Gründen nach Deutschland kom-
men, geöffnet werden. Viele von ihnen leben langfristig
in Deutschland. Trotzdem werden ihnen die Integra-
tionsangebote verwehrt: Sie haben entweder gar kei-
nen oder nur einen nachrangigen Zugang zum Integra-
tionskurs. Außerdem müssen Unionsbürger endlich
einen garantierten Kursplatz erhalten. Die Einwande-
rung insbesondere aus den Euro-Krisenstaaten nahm
allein im letzten Jahr um über 40 Prozent zu. Viele der
Unionsbürger sind gut ausgebildete Fachkräfte aus
dem krisengebeutelten Südeuropa. Um hier eine neue
Existenz aufbauen zu können, sollten wir sie beim
Spracherwerb unterstützen.
Zum Schluss komme ich noch zum Antrag der SPD.
Der Antrag der SPD enthält zwar auch gute Vor-
schläge, die wir teilen. Das gilt etwa für die Erhöhung
der Quote fest angestellter Lehrkräfte und die bessere
soziale Absicherung, zum Beispiel durch die Verpflich-
tung der Kursträger, unverzüglich ein Statusfeststel-
lungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung
Bund zu beantragen. Jedoch fordert die SPD für frei-
berufliche Lehrkräfte lediglich eine Mindestvergütung
von 26 Euro pro Stunde und bleibt damit hinter unserer
Forderung zurück. Mit diesem Vorschlag wird den be-
rechtigten Interessen der Lehrkräfte nicht entsprochen.
Beim Antrag der SPD werden wir uns daher enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Innenausschusses auf Drucksache 17/13566.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10647. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! - Die Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? - Bündnis 90/Die Grünen und die Linksfraktion.
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/11577. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! - Bündnis 90/Die Grünen und die Links-
fraktion. Enthaltungen? - Die Sozialdemokraten. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die Tages-
ordnungspunkte 55 a und 55 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rentenversicherung stärken und solidarisch
ausbauen - Solidarische Mindestrente einfüh-
ren
- Drucksachen 17/8481, 17/13320 -
Berichterstattung:-
Abgeordneter Matthias W. Birkwald
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Riester-Förderung in die gesetzliche Rente
überführen
- Drucksachen 17/12436, 17/13317 Berichterstattung:Abgeordneter Peter Weiß ({2})
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Alterssicherung in Deutschland ist durch die
Reformen in den vergangenen 20 Jahren demografieund zukunftsfest aufgestellt, angefangen von der Rentenreform 1992 über die Riester-Reform 2001 bis zur
Einführung der Rente mit 67 im Jahr 2007. Mit der gesetzlichen Rente, der betrieblichen Altersversorgung
und der zusätzlichen privaten Vorsorge ruht das deutsche Alterssicherungssystem auf drei verlässlichen
Säulen. An dieses erfolgreiche Rentensystem legt die
Fraktion Die Linke die Axt an. Die Linken wollen zurück in die rentenpolitische Steinzeit. Ihre nicht finanzierbaren rentenpolitischen Forderungen beweisen,
dass sie keine Regierungsverantwortung in unserem
Land übernehmen dürfen. Ich begrüße ausdrücklich,
dass es im Deutschen Bundestag eine breite Ablehnungsfront gegen die Forderungen der Linken gibt, angefangen bei den Regierungsfraktionen über die SPD
bis zu Bündnis 90/Die Grünen. Das heißt, die Linken
sind im Deutschen Bundestag isoliert. Und das ist gut
so!
Die Forderungen der Linken sind weitgehend auf
Leistungsausweitungen in der gesetzlichen Rentenversicherung gerichtet. Sie ignorieren die Realitäten in
unserem Land. Wir müssen die Alterssicherung auf die
sich wandelnden demografischen, ökonomischen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einstellen.
Daran führt kein Weg vorbei. Und genau das haben
wir in der Vergangenheit erfolgreich getan. Deutschland ist mit der generationengerechten Neuausrichtung der gesetzlichen Rentenversicherung, der
wirksamen Weiterentwicklung der betrieblichen Altersvorsorge und der geförderten privaten Altersvorsorge auch im internationalen Vergleich auf einem guten Weg. Zudem gibt es zur Vermeidung von
Altersarmut die steuerfinanzierte Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung.
Eine zukunftsfeste Altersvorsorge steht auf drei Säulen: Dabei ist und bleibt die umlagenfinanzierte gesetzliche Rente die stärkste Säule der Alterssicherung.
Daneben treten die kapitalgedeckte - betriebliche und/
oder private - zweite und dritte Säule. In allen Säulen
gilt es, auch weiterhin klug und gezielt die richtigen
Weiterentwicklungen auf den Weg zu bringen.
Daneben müssen wir sicherstellen, dass Familienund Erziehungsleistungen als generativer Beitrag für
den Fortbestand des Generationenvertrages in der Alterssicherung ebenso ihren Niederschlag finden wie
Beitragszeiten aus Beschäftigung und selbstständiger
Tätigkeit. Dabei wollen wir vor allem die Schlechterstellung von Müttern beseitigen, deren Kinder vor
1992 geboren sind. Für diese Kinder bekommen Mütter bislang nur ein Kindererziehungsjahr in der Rente,
während für nach 1991 geborene Kinder drei Kindererziehungsjahre gutgeschrieben werden. Diese Gerechtigkeitslücke wollen wir mit der Mütterrente
schließen. Für dieses Anliegen treten die CSU-Landesgruppe und ich persönlich schon seit langer Zeit mit
Nachdruck ein. CDU und CSU haben sich inzwischen
auf die Anhebung um zunächst einen Entgeltpunkt für
sämtliche Betroffenen geeinigt. Die Mütterrente ist ein
Alleinstellungsmerkmal der Union, keine andere Partei setzt sich für die Interessen der betroffenen Mütter
ein. Ich bedaure es ausdrücklich, dass wir dieses wichtige Anliegen nicht mehr in dieser Legislaturperiode
umsetzen können. Nun werden wir in der kommenden
Legislaturperiode einen neuen Vorstoß unternehmen.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Wir haben dafür gesorgt, dass die Alterssicherung in Deutschland zukunftsfest und verlässlich aufgestellt ist. Deutschland
ist ein reiches Land. Den Rentnerinnen und Rentnern
in unserem Land geht es gut. Vor Armut im Alter
schützt die Grundsicherung im Alter: Von den rund
16,8 Millionen Menschen ab Alter 65 sind heute lediglich etwa 436 000 oder knapp 2,6 Prozent auf Leistungen der Grundsicherung im Alter angewiesen. Ob und
wie sich die Bedürftigkeit im Alter künftig entwickeln
wird, lässt sich heute nicht seriös voraussagen. Dies
hängt ganz entscheidend von der langfristigen Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Einkommensentwicklung und vom Erwerbs- und Vorsorgeverhalten der
Menschen ab. Hieran müssen wir weiter arbeiten und
vor allem unsere erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik fortsetzen. Ich halte nichts davon, die Gegenwart und die
Zukunft tiefschwarz zu malen und die Menschen zu
verunsichern. Mit Meldungen, wonach die Altersarmut
flächendeckend steigt, weil jeder Zweite weniger als
700 Euro Rente erhält, wird bewusst ein Zerrbild von
der Wirklichkeit gezeichnet und werden Ängste bei den
Menschen geschürt, nur um das eigene rentenpolitische Süppchen zu kochen. Das halte ich für unverantwortlich. Wir alle wissen: Der Zahlbetrag der gesetzlichen Rente sagt nichts über die Einkommenssituation
im Alter aus. Dazu reicht ein Blick in den Alterssicherungsbericht aus. Deshalb gilt: Mit uns wird es keine
Rücknahme der erfolgreichen Rentenpolitik der vergangenen 20 Jahre geben.
„Derzeit beziehen nur rund zwei Prozent der Altersrentner über 65 Jahren neben ihrer Rente zusätzlich
Grundsicherung im Alter, weil Rente und weitere Einkommen zusammen unter dem Grundsicherungsniveau
liegen.“ Dies hat die Deutsche Rentenversicherung
gerade erst am vergangenen Dienstag mitgeteilt.
Weiter teilt die Rentenversicherung mit: „Ein Gesamtbild der Einkommenslage vermittelt der Alterssicherungsbericht 2012 der Bundesregierung. Daraus
ergibt sich, dass geringe Rentenbeträge in der Regel
durch das Einkommen des Ehepartners oder aus
anderen sozialen Sicherungssystemen ausgeglichen
werden. Nach der Studie liegt das durchschnittliche
Nettoeinkommen eines Ehepaars im Westen bei über
2 500 Euro, im Osten bei rund 2 000 Euro.“
Das Zerrbild, das derzeit wieder in den Medien und
auch in dem hier vorliegenden Antrag der Linken von
verarmten Rentnerinnen und Rentnern gezeichnet
wird, ist schlichtweg falsch. Da werden Fakten und
Statistiken aus dem Zusammenhang gerissen, und auch
vor Lügen, Halbwahrheiten und Unterschlagung von
Tatsachen wird nicht zurückgeschreckt, um den Menschen ein Bild von akuter sozialer Not im Alter zu suggerieren.
Wer so mit der Angst der Menschen vor Altersarmut
spielt und bewusst Panik verbreitet, verhindert eine
gute Rentenpolitik und demontiert das System der gesetzlichen Rentenversicherung.
Die neueste Ausgabe des „Vorsorgeatlas Deutschland“, der von der Universität Freiburg erstellt wurde,
zeigt, dass auch die Generation der 50- bis 65-Jährigen in der Regel im Alter mit einer ausreichenden Altersversorgung rechnen kann.
Nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler können sie im Bundesdurchschnitt mit mehr als 51 Prozent
ihres letzten Bruttoeinkommens aus der Rentenversicherung rechnen, in vielen östlichen Bundesländern
Zu Protokoll gegebene Reden
Peter Weiß ({0})
liegt die Quote aus der gesetzlichen Rente für diese
Generation sogar bei rund 60 Prozent.
Mit Altersarmut und dem Bild von sozialer Not, das
hier heraufbeschworen werden soll, hat das überhaupt
nichts zu tun.
Bei der Einführung der dynamischen Rente ging
man davon aus, dass 60 Prozent des Bruttoeinkommens oder entsprechend rund 70 Prozent der Nettoeinkommen ausreichen, um den gewohnten Lebensstandard im Alter zu sichern.
Wer aber wie die Linken fordert, dass jeder im Alter
allein und auf Dauer aus einer solidarischen Rentenversicherung diese 60 oder 70 Prozent erhalten soll,
diskutiert völlig an der Realität und an dem System unserer gesetzlichen Rente vorbei. Wer einmal den Antrag der Linken von vorne bis hinten liest, dem wird
auffallen, dass an keiner Stelle das Wort „demografischer Wandel“ vorkommt.
Die Entwicklung unserer Bevölkerung scheint die
Linken nicht zu interessieren oder zumindest für die
Rente nicht wichtig zu sein. Dass aber bereits seit Anfang der 70er-Jahre in Deutschland Jahr für Jahr weniger Kinder geboren werden als Menschen sterben,
kann man bei einer ehrlichen und realistischen Rentendebatte nicht einfach unterschlagen.
In unserer umlagefinanzierten gesetzlichen Rente
zahlen die aktiven Arbeitnehmer die Rente ihrer Elterngeneration über ihre Beiträge. Durch den Bundeszuschuss aus Steuermitteln werden die versicherungsfremden Leistungen der Rentenkassen abgedeckt.
Nach den neuesten Angaben des Statistischen Bundesamtes hat Deutschland die älteste Bevölkerung in
Europa - und die zweitälteste der Welt.
Die Deutschen werden immer älter und bekommen
immer weniger Kinder: Im Jahr 2010 war nicht einmal
jeder siebte Deutsche jünger als 15 Jahre und zugleich
jeder Fünfte 65 Jahre und älter. Pro 1 000 Einwohner
werden nur noch acht Kinder geboren. Weltweit hält
Deutschland damit heute einen Negativrekord.
Erfreulicherweise steigt für jeden von uns die
Lebenserwartung kontinuierlich um etwa sechs Wochen pro Jahr. Ein 60-jähriger Mann hat heute im
Schnitt noch etwa 20 Jahre vor sich - das sind fast fünf
Jahre mehr als noch 1960. 60-jährige Frauen können
sogar mit einer Lebenserwartung bis rund 84 Jahre
rechnen - sechs Jahre länger als 1960. Gleichzeitig
sinkt die Zahl der Bevölkerung an sich. Schon im Jahr
2050 werden in Deutschland mehr als 10 Millionen
Menschen weniger leben als heute. Die Zahl der Männer und Frauen im erwerbsfähigen Alter sinkt von
heute 45 Millionen auf 27 Millionen im Jahr 2050.
Auf 100 20- bis 64-Jährige, also Personen im Erwerbsleben, kommen heute 33,8 über 65-Jährige, also
Rentnerinnen und Rentner. Bis zum Jahr 2060 wird sich
das völlig verändern: Dann werden 63,1 über 65-Jährige auf 100 Personen im Erwerbsleben kommen.
Mit den Reformen der Vergangenheit haben wir das
System der Rentenversicherung auf diese Zukunft vorbereitet und sorgen dafür, dass eine langfristige Finanzierung gesichert ist und dass sich die Menschen auch
noch in 20 oder 30 Jahren auf ein gut funktionierendes
Alterssicherungssystem verlassen können.
Mit der schrittweisen Anhebung der Regelaltersgrenze werden die Belastungen des demografischen
Wandels gerecht auf alle Generationen verteilt. Sie
verhindert, dass die heute Jüngeren später, wenn sie
erwerbstätig sind, höhere Rentenbeiträge für die heutigen Arbeitnehmer, die dann Rente beziehen, zahlen
müssen. Mit der staatlichen Förderung von RiesterRente und betrieblicher Altersvorsorge werden Anreize für zusätzliche Vorsorge gegeben.
Dass dies der richtige Weg ist, zeigen auch die
Ergebnisse des Vorsorgeatlas Deutschland. Die knapp
17 Millionen Erwerbstätigen, die neben der Basisversorgung auch eine solche Zusatzversorgung haben, erhalten später laut Studie genau die Mindestquote von
60 Prozent, um den Lebensstandard zu halten. Ihre Altersvorsorge steht somit auf einem soliden Fundament.
Rechnet man zusätzlich noch das Geld- und Immobilienvermögen in die Betrachtung mit ein, erreichen
die 14,2 Millionen Erwerbstätigen mit Ansprüchen aus
gesetzlicher und zusätzlicher Altersvorsorge sogar
eine durchschnittliche Ersatzquote von 77,4 Prozent.
Dies zeigt, dass Menschen mit einer Vermögensbildung über alle drei Säulen zusammen mit weiterer privater Vorsorge ausreichend vorgesorgt haben.
Und deshalb kann es nicht die Lösung sein, mit der
Gießkanne einmal für alle drüberzugehen. Damit werden die persönlichen Leistungen der Menschen ignoriert, und damit wird das, was sich die Menschen fleißig erarbeitet haben, in den Schatten gestellt.
Lebensleistung muss sich aber auch in der Rente widerspiegeln. Derjenige, der sein Leben lang gearbeitet
hat, muss im Alter auch mit niedrigem Einkommen
besser dastehen als derjenige, der wenig oder gar
nicht gearbeitet hat. Und auch das Engagement für Erziehungsleistungen oder Pflege muss berücksichtigt
werden.
Unser Rentensystem wird von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern deshalb akzeptiert, weil die
Rente daran gemessen wird, wie viel man selbst in das
Rentensystem einbezahlt hat.
Wo wir konkrete Lösungen diskutieren und zukunftsfähige Modelle planen, sind die Vorschläge der Linken
Rückschritte und unausgegorene Forderungen. Weder
die individuellen Leistungen werden honoriert noch
gibt es eine ausreichende und hinreichende Finanzierung.
Eine Rente in Höhe von 900 Euro auch an den auszubezahlen, der in das System gar nichts eingezahlt
hat, wie das die Linke fordert, findet keine Unterstützung bei den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern
Zu Protokoll gegebene Reden
Peter Weiß ({1})
und beschädigt die Akzeptanz; es zerstört auch das
System der gesetzlichen Rentenversicherung.
Wir wollen die gesetzliche Rentenversicherung stärken, wir wollen weiterhin eine lohn- und beitragsbezogene Rente, und wir wollen zudem dafür sorgen, dass,
wer ein Leben lang gearbeitet hat, auch in Zukunft
eine Rente erhält, von der er leben kann.
Ohne die Bekämpfung der Erwerbsarmut kann der
Altersarmut nicht wirksam begegnet werden. Eins
steht eindeutig fest: Das Rentensystem kann nicht die
sozialen Ungerechtigkeiten im Arbeitsleben korrigieren. Für die SPD steht eindeutig fest, dass in die Stärkung der Alterssicherung investiert werden muss.
Dazu gehört: Die gesetzliche Rentenversicherung
bleibt die erste und wichtigste Säule der Alterssicherung, und sie bildet die persönliche Leistung der Versicherten in ihrem Arbeitsleben ab.
Richtig ist: Die gesetzliche Rentenversicherung
muss aber den Veränderungen in der Gesellschaft und
der Arbeitswelt Rechnung tragen. Wenn wir die Veränderungen nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dann
handelt Politik nicht redlich ({0}) und treibt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Altersarmut.
Kurz und knapp: Gute Arbeit gleich gute Rente.
Es wird Zeit, den Missbrauch von Leiharbeit, Minijobs und Niedriglohnbeschäftigung zu stoppen und zu
korrigieren. Die Menschen müssen unabhängig von
Transferleistungen werden und Zugang zu guter, sicherer und sozialversicherter Arbeit erhalten. Dies gilt für
Männer und Frauen, und es gilt: Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit. In dieser Frage haben die Koalition
und die schwarz-gelbe Regierung völlig versagt! Die
Bundesregierung hat in den zurückliegenden vier Jahren nur geredet und nicht gehandelt. Die jüngsten Ausführungen der Kanzlerin scheinen wieder in Richtung
Wahlbetrug zu gehen.
Es muss dringend mehr Verteilungsgerechtigkeit bei
Einkommen und Vermögen geben. Dazu gehören
natürlich auch gerechte Löhne und faire Löhne! Eine
gerechte Alterssicherung und eine auskömmliche
Rente setzen eine gute Ausbildung und in der Folge
eine gute Arbeit voraus. Wir müssen stärker in
Bildung, Ausbildung und Qualifizierung investieren.
Um nur eine Fehlentscheidung der schwarz-gelben
Bundesregierung in diesem Zusammenhang anzusprechen, benenne ich das Betreuungsgeld. Wir müssen die
Jüngsten fördern, in Bildung und Ausbildung investieren sowie die Rahmenbedingungen für sichere Arbeitsplätze schaffen. In allen genannten Punkten hat
Schwarz-Gelb versagt!
Wir Sozialdemokraten fordern bessere Übergänge
ins Rentenalter ohne große Einkommensverluste für
Berufsgruppen, die aufgrund von Arbeitsbelastung
und Invalidität nicht bis zum 65. Lebensjahr arbeiten
können. Wir Sozialdemokraten fordern einen abschlagsfreien Zugang zur Rente ab 63 Jahren nach
45 Versicherungsjahren. Eine ganz wichtige Forderung von uns ist der abschlagsfreie Zugang zur
Erwerbsminderungsrente und eine Verlängerung der
Zurechnungszeit.
Zum Schluss wiederhole ich noch einmal unsere
Forderungen zur Stärkung der Alterssicherung: Erstens. Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt die
erste Säule der Alterssicherung; sie bildet die persönliche Leistung der Versicherten in ihrem Arbeitsleben
ab.
Zweitens. Die gesetzliche Rentenversicherung muss
aber den Veränderungen in der Gesellschaft und der
Arbeitswelt Rechnung tragen.
Drittens. Wir brauchen eine realitätsnahe Festlegung für den notwendigen Ausgleich zwischen einem
maximal tolerierbaren Beitragssatz und einem lebensstandardsichernden Rentenniveau.
Viertens. Wir Sozialdemokraten stehen für eine
Stärkung und größere Verbreitung der betrieblichen
Altersvorsorge. Die betriebliche Altersvorsorge verstehen wir als eine Ergänzung zur gesetzlichen Rente.
Auch die Notwendigkeit der privaten Altersvorsorge
muss offen angesprochen werden; denn nur wer in einer weiteren Säule sein Alter absichert, der kann für
eine auskömmliche Alterssicherung sorgen.
Fünftens. Dazu gehört aber auch, dass wir die Verbesserung der Kostentransparenz und Effizienz bei der
Riester-Rente überprüfen und diese auf den richtigen
Weg bringen. Auch hier hat die schwarz-gelbe Bundesregierung in allen Aspekten versagt! Sie hat einseitige
Förderungen im Rahmen der Veränderung des Altersvorsorgesicherungsgesetzes vorgenommen.
Sechstens. Wir Sozialdemokraten stehen für die
Einführung einer Solidarrente.
Unser Ziel zur Stärkung der Erwerbstätigenversicherung setzt mindestens zwei Punkte voraus, und
zwar erstens die Einbeziehung der Selbstständigen
ohne obligatorische Altersversorgung in die gesetzliche Rentenversicherung und zweitens ein einheitliches
Rentensystem für Ost und West, welches stufenweise
bis 2020 eingeführt werden muss. Und auch hier
möchte ich nicht verschweigen, dass die Voraussetzung für die Angleichung der Renten die Lohnangleichung ist.
Wir lehnen den Antrag der Fraktion Die Linke ab,
weil dieser Antrag in einigen Punkten zu kurz greift
und in Teilbereichen die falschen Signale setzt.
Es ist eine Binsenweisheit: Das Rentensystem kann
nicht dauerhaft die während des Arbeitslebens entstandenen sozialen Ungerechtigkeiten am Ende korrigieren. Gute Arbeit, gute Rente - das ist die richtige
Antwort der SPD!
Aus dieser Erkenntnis hat sich in einem intensiven
Diskussionsprozess ein Bündel von Maßnahmen heZu Protokoll gegebene Reden
rausgefiltert, welche die Alterssicherung stärken. Anders als andere schüren wir nicht die Angst vor Armut
im Alter, sondern setzen bei Vermeidung von Erwerbsarmut an. Das ist das richtige Vorzeichen von der
Klammer, in der die Vielzahl von rentenpolitischen
Vorschlägen zusammengefasst wird.
Leider gerät das einigen Fraktionen hier im Bundestag immer wieder aus dem Blick. Schwarz-Gelb hat
die Hinzuverdienstgrenze auf 450 Euro erhöht - ein
rentenpolitischer Tiefschlag! Leider bleibt SchwarzGelb auch in Fragen eines kohärenten Alterssicherungskonzeptes in der Bringschuld. Wie formuliert das
die FDP? Wir liefern? „Nicht!“, heißt die Antwort.
Leider schüttet auch die Linke das Kind mit dem
Bade aus. Die Inhalte des Antrages zur solidarischen
Mindestrente fassen viele ihrer Einzelanträge zusammen.
Zu denen hat sich die SPD sehr differenziert verhalten. Wir haben also nicht pauschal abgelehnt, sondern
genau abgewogen, da es durchaus in Einzelpunkten
Gemeinsamkeiten gibt. Die nun vorgelegte Zusammenschau ist jedoch nicht zustimmungsfähig. Unsere
Hauptkritik:
Kern ihrer Forderungen ist die solidarische Mindestrente, die voraussetzungslos in einer Höhe von
900 Euro gezahlt werden soll, sollte das Einkommen
im Alter darunter liegen. Vermögen von 20 000 Euro
bis insgesamt 48 750 Euro bleiben unberücksichtigt,
ebenso Wohnraum bis 130 Quadratmeter.
Zugleich fordern sie, die Rentenwerte sofort um
mindestens 4 Prozent anzuheben. Auch sollen alle
Dämpfungsfaktoren abgeschafft werden, zukünftig soll
ebenfalls die Beitragsbemessungsgrenze fallen.
In unseren Augen ist das die Totalabkehr von einer
leistungsbezogenen Rente hin zu einer nivellierten
Einheitsrente. Man kann das wollen, aber dann brauchen Sie doch weitere verpflichtende Sicherungssäulen. Sie vermischen das Versicherungsprinzip mit dem
Fürsorgeprinzip. Das ist falsch! Sie verletzen damit
das Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Das ist
das Fundament einer jahrzehntelangen soliden Rentenpolitik. Jeder Versicherte, der nach Jahrzehnten der
Beitragszahlung eine Rente in Höhe von 900 Euro hat,
muss sich verwundert die Augen reiben, wenn Renten
in gleicher Höhe ohne jegliche Beitragsleistung erreicht werden.
Ihr falsches Rentenkonzept legen sie in einer Zeit
vor, in der weder die schwarz-gelbe Regierung den
schlechten Lebensleistungsrentenvorschlag ihrer
Ministerin trägt noch von der Regierung bessere Konzepte auf den Tisch gepackt werden. Traurig, aber
wahr: So werden in konservativ-liberaler und linker
Täterschaft Zweifel an der gesetzlichen Rentenversicherung gesät. Die Untätigkeit der Regierung wird zur
Botschaft, dass es keine befriedigende Lösung der Alterssicherung gibt. Fatal!
Was setzt die SPD konkret dagegen? Ein schlüssiges
Konzept. Unsere Lösungen stehen im Einklang mit den
Prinzipien der gesetzlichen Rentenversicherung und
wahren die Interessen der Versicherten. Genau deshalb fangen wir bei guter Arbeit an! Mindestlohn und
gleicher Lohn für gleiche Arbeit sind zwingende Voraussetzung, aber auch Vereinbarkeit von Familie und
Beruf, eine Reform der Minijobs und weitere Reformen
in der Arbeitsmarktpolitik.
Wir wollen Korrekturen in der GRV bei lückenhaften bzw. vorzeitig beendeten Erwerbsbiografien, eine
Verbesserung der Erwerbsminderungsrente und die
Berücksichtigung von Langzeitarbeitslosigkeit und
Niedriglohn.
Wir treten für eine Solidarrente ein. Aber sie wird
erst gewährt, wenn bestimmte rentenrechtliche Voraussetzungen erfüllt sind. Wir verstehen sie nicht als
Dauerlösung, sondern als erforderliche „Reparatur“
verfehlter Arbeitsmarktpolitik.
Wir wollen die Sicherungsfunktion der gesetzlichen
Rentenversicherung stärken, indem wir das gegenwärtige Rentenniveau beibehalten.
Es gibt einen wunderbaren Film mit dem Titel „Das
Beste kommt zum Schluss“. In der aktuellen rentenpolitischen Debatte ist es genau andersherum. Es geht
zum Schluss um die Mütterrenten.
CDU und CSU haben die älteren Mütter entdeckt als Zielgruppe ihrer nicht vorhandenen Rentenpolitik!
Da hören wir nun sagenhafte Versprechen. Als würde
mit der Anhebung der Kindererziehungszeiten für Geburten vor 1992 ein gesellschaftliches Problem abgeräumt. Welch ein Unsinn!
Wird Armutsvermeidung damit erreicht? Nein. Sowenig es für die einzelne Rentnerin bringt, ist es doch
erheblich für die GRV. Bei einer völligen Gleichbehandlung würden Ausgaben von 13,2 Milliarden Euro
zu tätigen sein. Wohlgemerkt, aus den Beiträgen!
Nein von dieser Regierung kam auch in der Rentenpolitik nichts Gutes, weder am Anfang noch am Ende.
Es ist Zeit, dass sie abgelöst wird. Am 22. September
wird es so weit sein. Dann kommt am Ende des Wahltages das Beste: Der Regierungswechsel!
Der Überbietungswettbewerb mit angeblichen Lösungen zur Behebung von Altersarmut ist in keiner
Weise sachdienlich. Nicht nachsorgende Kompensation löst dieses künftig stärker drohende Problem, sondern Prävention. Wir brauchen Arbeitsplätze. Wir
brauchen die kluge Ausgestaltung und staatliche Förderung der privaten und betrieblichen Vorsorge, und
wir müssen die gesetzliche Rentenversicherung hegen
und pflegen, dürfen sie nicht als Füllhorn sozialpolitischer Wohltaten missbrauchen.
Genau das tut aber die SPD, wenn sie ihre „Solidarrente“ von 850 Euro sowie die Beibehaltung des
jetzigen Rentenniveaus trotz Rücknahme des späteren
Zu Protokoll gegebene Reden
Renteneintritts verspricht. Genau das tun die Grünen,
wenn sie eine „Garantierente“ von 850 Euro versprechen und dabei Kinderbetreuung und Zeiten der Arbeitslosigkeit mehr als bisher rentensteigernd anrechnen wollen. Genau das tun diejenigen, die ankündigen,
eine Lebensleistung über die Rentenversicherung würdigen zu wollen, unabhängig von eingezahlten Beiträgen oder angerechneten Beitragszeiten. Und das tun
die Linken, die 900 Euro Rente für jeden, ein Mindestnettorentenniveau von 53 Prozent vor Steuern und den
Renteneintritt mit 60 ohne Abschläge versprechen.
900 Euro sind mehr als die durchschnittlich ausgezahlte Rente in den alten Bundesländern. Im Parteitagsbeschluss der Linken stehen sogar 1 050 Euro; das
übersteigt dann sogar die derzeitige Durchschnittsrente in den neuen Bundesländern. Gibt es da einen
Konflikt zwischen Partei und Fraktion? Mit einer Sozialversicherung hat es so oder so nichts zu tun. Das
ist sozialträumerisches Schlaraffenland, über dessen
Finanzierung die Antragsteller keinerlei Rechenschaft
ablegen.
Und es ist ungerecht. Alle Mindestrenten, egal wie
sie heißen, verstoßen gegen das Äquivalenzprinzip und
führen dazu, dass Menschen, die weniger Beiträge gezahlt haben, die gleiche Rente bekommen wie andere,
die mehr gearbeitet und Beiträge eingezahlt haben.
Mir ist unverständlich, wie man das als „gerecht“
oder „solidarisch“ interpretieren kann.
Zur ehrlichen Einschätzung der Situation ist übrigens der Blick auf die Gruppe älterer Menschen, die
auf Grundsicherung im Alter angewiesen ist, hilfreich.
Glücklicherweise sind das nur 2,6 Prozent aller über
65-Jährigen. 46 Prozent dieser Grundsicherungsempfänger haben keinerlei abgeschlossene Ausbildung.
30 Prozent der Betroffenen waren kein einziges Jahr
erwerbstätig. Das ist nachlesbar im Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung. Hier wird
deutlich, wo präventiv anzusetzen ist. Nachträgliche
Korrekturen zulasten aller Beitragszahler sind die
schlechteste Lösung.
Eine gesetzliche Mindestrente ist außerdem überhaupt nicht zielgenau. Der Alterssicherungsbericht
2012 belegt, dass mehr als 70 Prozent aller Arbeitnehmer einen zusätzlichen Anspruch aus einer betrieblichen oder einer Riester-Rente besitzen. Auch und gerade bei geringen gesetzlichen Renten kommen in
vielen Fällen andere Einkommen hinzu. Ehepaare und
alleinstehende Männer mit gesetzlichen Renten unter
250 Euro haben sogar sehr oft ein überdurchschnittliches Haushaltsbruttoeinkommen. Das ist durchaus logisch, wenn man in der Lage ist, den Blick ein wenig
über den Tellerrand zu heben. Es gibt nicht nur die
eine, es gibt drei Säulen der Altersvorsorge. Die Linken hätten es gern anders; aber deshalb dürfen sie es
nicht ignorieren. Hier werden Tatsachen verschwiegen, um weiter das Bild von einem verarmenden Land
malen zu können.
Der Antrag der Linken auf Drucksache 17/8481 enthält zu allem Überfluss in seinem Forderungsteil zum
wiederholten Mal die komplette Aufzählung all ihrer
unhaltbaren Versprechungen zur Arbeits-, Sozial- und
Rentenpolitik. Ich frage mich ernsthaft, ob es wirklich
hilfreich ist, wenn wir fast wöchentlich die gleichen
Wunschlisten unter anderen Überschriften und Drucksachennummern - mehr oder weniger geschickt verpackt - wieder und wieder diskutieren müssen.
Im zweiten vorliegenden Antrag wird die Abkehr
von der Riester-Förderung verlangt. Das hielten wir
für einen dramatischen Fehler. Weltweit ist erkannt
worden, dass eine sichere Altersversorgung auf mehreren Säulen aufbauen muss. Die Förderung privater
Vorsorge ist sinnvoll und schafft mehr Raum für die individuelle Ausgestaltung als die alleinige Ausrichtung
auf ein gesetzliches System.
Mit dem Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz ermöglichen wir ab dem 1. Juli eine Reihe von Verbesserungen. Ich bin froh, dass der Bundesrat inzwischen
seinen Fuß von der Bremse genommen und die nicht
sachgerechte Blockade beendet hat. Nun werden die
Transparenz und Vergleichbarkeit von geförderten Altersvorsorgeprodukten verbessert. Das verpflichtende
Produktinformationsblatt stärkt die Informationspflichten über die Leistungen, Garantien, Kosten- und
Renditekennziffern und den prognostizierten Vertragsverlauf für alle Produktgruppen zertifizierter Altersvorsorgeverträge. Besonders begrüße ich, dass nunmehr auch Aufwendungen zur Absicherung der
Berufsunfähigkeit und der verminderten Erwerbsfähigkeit besser steuerlich geltend gemacht werden können und überhaupt die Möglichkeit zur gleichzeitigen
Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos im Rahmen von Altersvorsorgeverträgen erweitert wird. Die
Abschaffung der Riester-Förderung lehnen wir selbstverständlich ab.
Noch eine weitere Bemerkung zu der kreativen Interpretation von Fakten: Die einführenden Feststellungen der Fraktion Die Linke gehen an den Tatsachen
vorbei. Die rentenpolitischen Weichenstellungen der
letzten Jahre sind kein „verantwortungsloser Paradigmenwechsel“, sondern notwendig zur Sicherung des
Systems. Das sage ich als Vertreter einer Fraktion, die
mit dem flexiblen Übergang vom Erwerbsleben in die
Rente ein anderes Konzept verfolgt als alle anderen
Fraktionen, die bisher am starren Renteneintrittsalter
festhalten. Verantwortungslos ist die Annahme, alle im
Antrag aufgelisteten Wünsche gleichzeitig realisieren
und finanzieren zu können.
Im Übrigen möchte ich nicht unkommentiert lassen,
dass auch in diesem Antrag wieder die Unwahrheit einer angeblich verbreiteten Armut in den Raum gestellt
wird. Es ist einfach nicht wahr, dass 14 Prozent der
über 65-Jährigen arm sind. Die Unterschreitung der
Armutsrisikoschwelle von 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens - genau: 60 Prozent des
Medians des Äquivalenzeinkommens - ist noch kein
Beleg für tatsächliche Armut. Dieser relative Wert ist
wenig aussagefähig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Abschließend möchte ich auch hier noch einmal
mein Bedauern zum Ausdruck bringen, dass wir nicht
wenigstens das weitgehend konsentierte Rentenpaket
in das Bundesgesetzblatt bringen konnten. Wir werden
das unmittelbar nach Beginn der neuen Wahlperiode
wieder aufgreifen.
Die Daten der Rentenversicherung und die Entwicklung bei der Grundsicherung sind aufgrund der
hervorragenden Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt sehr gut. Das Rentenniveau ist dank kluger Politik wesentlich höher, als vor Jahren prognostiziert. Darüber freuen wir uns. Und als Liberale werden wir
weiter dafür werben, den Übergang vom Erwerbsleben
in die Rente im Interesse der freien und individuellen
Entscheidung jedes Menschen zu flexibilisieren.
Ein sicheres Zeichen für die nahende Rentenkatastrophe ist ihre permanente Thematisierung in der medialen Öffentlichkeit. Die Einschätzungen der vermeintlichen Expertinnen und Experten schwanken
zwischen Übersteigerung und Banalisierung. Unverkennbar ist jedoch die Tatsache, dass sich alle Fraktionen seit geraumer Zeit mit dem Thema Rente befassen
und eigene korrigierende Vorschläge ausarbeiten.
Wir wissen, dass die Zahl der über 65-Jährigen, die
Grundsicherung im Alter beziehen, seit 2003 bereits
um 69 Prozent gestiegen ist. Auch die Armutsrisikoquote der über 65-Jährigen wurde im Vierten Armutsund Reichtumsbericht auf 14 Prozent beziffert. Hinzu
kommt, dass viele, die einen Anspruch auf die Grundsicherung im Alter hätten, diese nicht beantragen. Die
Armutsforscherin Irene Becker weist in ihrer Studie
nach, dass die Dunkelziffer zwischen 60 und 68 Prozent liegen dürfte und somit zwischen 1,1 und 1,4 Millionen alte Menschen arm sind.
Stolz, Scham oder Unwissenheit sind Gründe für die
Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung. Niemand sieht ein, nach einem arbeitsreichen Leben von
Almosen abhängig zu sein. Niemand möchte Schmarotzertum vorgeworfen bekommen. Die Rentenzahlbeträge sinken dennoch stetig. Neurentnerinnen und
Neurentner erhalten im Schnitt weniger Rente als der
Jahrgang zuvor. Wer 2012 in Altersrente ging, erhielt
im Durchschnitt noch 716 Euro Rente. Auch die Zahl
der ausschließlich geringfügig Beschäftigten im Rentenalter ist seit dem Jahr 2000 um knapp 60 Prozent
gestiegen.
Hinzu kommt der SPD-Grünen-Agendawahnsinn.
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes bedeutete: Explosion des Niedriglohnsektors, Lohndumping,
schlecht bezahlte Leiharbeit und immer mehr Minijobs. Inzwischen wird fast ein Viertel aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor ausgebeutet. Niedrige Löhne
führen zu niedrigen Renten. Fast allen Parteien ist die
Brisanz der Lage bewusst, weshalb sie auch fast alle
mit mehr oder weniger beherzten Verbesserungsvorschlägen aufwarten. Konzepte allerdings, die nicht
vorsehen, Reichtum zu begrenzen, um Armut zu bekämpfen, führen in eine falsche Richtung.
Das Rentenniveau darf nicht weiter sinken, sondern
muss wieder angehoben werden. Die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder den Lebensstandard sichern. Menschen, die weniger gut bezahlte Arbeit erledigen, müssen vor Altersarmut geschützt werden. Dazu
ist eine grundlegende Reform notwendig, eine Reform
ohne unüberwindbare Hürden, eine Reform, die von
echter Solidarität geprägt ist.
Die Linke fordert, dass niemand im Alter von weniger als zunächst 900 und später dann 1 050 Euro leben
muss. Eine lohnbezogene Rente kann nur dann gerecht
sein, wenn auch die Löhne gerecht sind. Ein gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro brutto pro Stunde ist
hierfür das absolute Minimum. Alleinerziehende, die
wegen fehlender Kinderbetreuungsplätze Probleme
auf dem Arbeitsmarkt haben, dürfen nicht bestraft
werden. Im Gegenteil: Wir brauchen Ganztagsplätze
in Kitas und Schulen!
Wer eine gute Rente will, braucht gute Arbeit mit
guten Löhnen. Darum gehören Lohndumping, Niedriglöhne und Leiharbeit abgeschafft. Sozialer Schutz
muss auch für Minijobs gelten. Erwerbsarbeit sollte
grundsätzlich und ab der ersten Stunde sozialversicherungspflichtig sein und für die Rente zählen. Auch
davon hätten besonders Frauen etwas. Wir brauchen
genauso Geschlechtergleichberechtigung in der Arbeitswelt. Das heißt, dass die Löhne und Gehälter von
Frauen jenen von Männern angeglichen werden müssen. Dass das nicht konsequent durchgesetzt wird, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit - darum geht es!
Durch die Einführung von Kürzungsfaktoren in die
Rentenanpassungsformel wird das Sicherungsniveau
der gesetzlichen Rente vor Steuern von knapp 53 Prozent im Jahr 2000 auf bis zu 43 Prozent im Jahr 2030
sinken. Diese Kürzungsfaktoren aus der Rentenformel
müssen zurückgenommen werden.
Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdiener sollten
auch Spitzenbeitragszahlerinnen und Spitzenbeitragszahler sein, indem die Beitragsbemessungsobergrenze
abgeschafft wird. Nehmen Sie die Rente erst ab 67 zurück; denn immer mehr Abschläge werden zu immer
mehr Menschen führen, die im Alter arm sein werden.
Vollbeschäftigung der 60- bis 67-Jährigen ist eine Illusion.
Gezeigt hat sich auch, dass keineswegs alle potenziellen Riester-Versicherten tatsächlich 4 Prozent ihres
Bruttoeinkommens in eine Riester-Rente einzahlen. Ihr
Einkommen ist schlicht zu niedrig. Von Überkompensation des Rentenniveaus durch Riestern, wie es einst
versprochen wurde, sind wir weit entfernt. Es existieren derzeit 15,6 Millionen Riester-Verträge. Das sind
nur zwischen 37 und 41 Prozent der potenziellen Sparerinnen und Sparer, ganz zu schweigen von den
20 Prozent der Riester-Verträge, die derzeit ruhen.
Hohe Verwaltungskosten, überhöhte LanglebigkeitsZu Protokoll gegebene Reden
annahmen, miese Renditen und die mangelnde Dynamisierung der Leistungen - all das sind gewichtige
Gründe dafür, die Riester-Reform zügig zu stornieren.
Die Linke lehnt die anhaltende Verriesterung von
Versicherten ab. Wir fordern die für den Versicherten
verlustärmste Variante einer freiwilligen Überführung
der Riester-Förderung in die gesetzliche Rente. Wir
fordern vielmehr eine solidarische Mindestrente. Der
Kreis der Versicherten muss ausgedehnt werden auf
Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete, Freischaffende
und Selbstständige. Solidarisch heißt eben auch: Wir
alle sitzen im selben Boot. Die Beitragsbemessungsgrenze muss abgeschafft werden, damit Spitzenverdienende auch Spitzenbeitragszahlende werden.
Was manche gerne Mütterrenten nennen wollen,
hieß bei uns Linken schon vor Jahren: die Anrechnung
von Kindererziehungszeiten auch für Kinder, die vor
1992 geboren wurden, verbessern. Das heißt, dass
Mütter oder Väter für alle ihre Kinder je gut 84 Euro
auf dem Rentenkonto gutgeschrieben bekommen sollen.
Generell müssen sich Pflege- und Betreuungszeiten
gerecht in der Rente niederschlagen und sie erhöhen.
Wir dürfen nicht länger diejenigen benachteiligen, die
sich um andere Menschen kümmern oder ungewollt in
die Arbeitslosigkeit rutschen, wenn zum Beispiel
Werke und Fabriken geschlossen werden. Die solidarische Mindestrente soll keineswegs eine Einheitsrente
sein. Nach wie vor werden höhere Löhne auch zu höheren Renten führen. Im Stich gelassen wird aber niemand mehr. Zunächst 900 Euro und später 1 050 Euro
stellen eine Untergrenze dar und schützen vor Armut.
Die solidarische Mindestrente der Linken wird einkommens- und vermögensgeprüft ausgezahlt und
durch Steuerabgaben finanziert. So sieht echte Solidarität aus und dafür steht die Linke.
Diese Bundesregierung hat sich bei der Rente vier
Jahre im Nichtstun geübt. Wir blicken zurück auf vier
rentenpolitisch verlorene Jahre. Die Bundesministerin
von der Leyen ist immer wieder durch die Talkshows
gezogen und hat mit betroffener Miene davon berichtet, wie wichtig Maßnahmen bei der Rente und bei der
Bekämpfung der Altersarmut sind. Nur passiert ist
nichts. Zuschussrente, Lebensleistungsrente, Anpassung der Erwerbsminderungsrenten, Gettorenten, Rehadeckel, Erziehungsrenten, Rentenangleichung von
Ost und West, Altersvorsorge der bisher nicht pflichtversicherten Selbstständigen, Kombirente, Vereinfachung der Rentenbesteuerung und von Wohn-Riester.
Die Liste der von dieser Bundesregierung in Aussicht
gestellten, den Wählerinnen und Wählern zugesagten
und sogar im Koalitionsvertrag zugesicherten Versprechungen ist lang.Was davon hat diese Bundesregierung umgesetzt? Nichts.
Das Handeln dieser Bundesregierung steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den Herausforderungen in der Rente. Eine Welle der Altersarmut rollt
auf uns zu. Viele Menschen haben Sicherungslücken
und drohen deswegen in Altersarmut zu fallen, insbesondere Frauen, Arbeitslose und Selbstständige. Für
ausreichende Rehamaßnahmen fehlen die Mittel. Die
Erwerbsminderungsrente sinkt immer weiter. Es fehlen
fließende Übergänge von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand. Und Riester müsste dringend reformiert werden. Aber was hat diese Bundesregierung, was haben
Ursula von der Leyen und Angela Merkel gemacht?
Nichts.
Und jetzt, im Wahlkampf, entdeckt die Bundeskanzlerin aus taktischen Gründen ihr soziales Herz und
verspricht die gleichen Verbesserungen, die schon im
letzten Wahlprogramm und auch im Koalitionsvertrag
dieser Bundesregierung standen. Hier sollen die Wählerinnen und Wähler getäuscht werden!
Diese Bundeskanzlerin unterscheidet sich nicht
mehr von der Linkspartei. Auch die Linkspartei verspricht in den vorliegenden Anträgen mal wieder das
Blaue vom Himmel. Weder die Linkspartei mit ihren
grenzenlosen Forderungen noch die Bundeskanzlerin
mit ihrer Wählertäuschung im Wahljahr geben Antworten auf die Frage, wie die Versprechen umsetzbar
sind und wer diese Pläne bezahlen soll. Und dabei gehört es essenziell zur Ehrlichkeit und zu seriöser Politik dazu, diese Fragen zu beantworten. Die Wahrheit
ist: Sowohl die Pläne der Bundesregierung zur teilweisen Erhöhung bestimmter Erziehungsrenten als auch
die Forderung der Linkspartei nach einem viel höheren Rentenniveau sollen die Beitragszahlerinnen und
Beitragszahler bezahlen. Das ist schlichtweg unsozial,
weil es die Mittelschicht und noch stärker diejenigen
mit geringen Einkommen übermäßig belastet.
Die Linkspartei fordert in ihrem Antrag auch die
Erwerbstätigenversicherung. Das ist ein richtiger
Schritt. Wir gehen mit unserer Forderung nach einer
schrittweisen Realisierung der Bürgerversicherung
noch weiter. Aber selbst bei ihrer Forderung nach einer Erwerbstätigenversicherung hat die Linkspartei
ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Was soll denn mit
den Berufsversorgungswerken passieren? Wie können
die Beamten rechtskonform in die Rentenversicherung
einbezogen werden? Mit welchen Beitragssätzen und
mit welchen daraus resultierenden Rentenansprüchen
sollen die bisher nicht pflichtversicherten Selbstständigen in die Rentenversicherung einbezogen werden?
Das sind Fragen, die man beantworten muss, wenn
man ernsthaft diese Forderungen aufstellt.
Auch der Vorschlag der Linkspartei zur Überführung von Riester-Verträgen in die Rentenversicherung
ist unausgegoren und verkorkst. Riester-Renten in Ansprüche der gesetzlichen Rentenversicherung umwandeln zu können, klingt gut. Wie das aber genau gehen
soll, sagen sie nicht. Und wie die daraus entstehenden
Ansprüche finanziert werden sollen, auch nicht. Der
Vorschlag im Antrag: Streichung der Riester-Förderung. Im Klartext heißt das: Die Linke will den circa
15 Millionen Menschen, die Rister-Verträge abgeZu Protokoll gegebene Reden
schlossen haben, die Unterstützung entziehen! Das ist
Betrug an den Menschen!
Unausgegoren sind auch die Lebensleistungsrente
der CDU und die solidarische Mindestrente der Linken. Das „Konzept“ der Bundesministerin von der
Leyen für eine sogenannte Lebensleistungsrente - als
ob die, die weniger als 40 Beitragsjahre haben, in ihrem Leben nichts geleistet hätten - war so verkorkst,
dass sie damit nicht mal ihre eigene Fraktion überzeugen konnte. Trotzdem wird sie von der Union im Wahlkampf erneut gefordert.
Und die Linke? Fordert eine vollständig einkommens- und vermögensgeprüfte „Mindestrente“. Bei genauem Hinsehen ist das aber nichts anderes als eine
zweite Grundsicherung. Nur dass die Bedürftigkeitsprüfung von der Rentenversicherung durchgeführt
werden soll. Bei selbst genutztem Wohnraum soll die
Rentenversicherung sogar die Wohnungsgröße überprüfen! Und bei der Lebensleistungsrente soll die Rentenversicherung prüfen, ob es eine eheähnliche Gemeinschaft gibt. Die Rentenversicherung ist eine
Sozialversicherung und kein Sozialamt! Wir brauchen
eine Garantierente und keine zweite Grundsicherung!
Die Versprechen von Schwarz-Gelb und der Linkspartei sind gleichermaßen ungerecht, unhaltbar und
auch nicht umzusetzen. Jegliche Seriosität, jegliche
Verbindlichkeit und jegliche Ehrlichkeit wurden abgestreift.
Es ist höchste Zeit, dass dieses Land wieder von
Menschen regiert wird, die ihr Handwerk verstehen,
die umsetzbare Konzepte vorweisen können und die im
Sinne der Menschen auch wirklich etwas bewegen
wollen.
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 55 a. Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13320, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/8481 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 55 b. Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13317, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/12436 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! - Die Linksfraktion. Enthaltungen? - Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 59 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Brandner, Dr. h.c. Gernot Erler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutsches Engagement beim Einsatz von Polizistinnen und Polizisten in internationalen
Friedensmissionen stärken und ausbauen
- Drucksachen 17/8603, 17/13940 Berichterstattung:Abgeordneter Armin Schuster ({1})Wolfgang GunkelGisela PiltzUlla JelpkeWolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Zukünftig wird sich - und ich denke, da sind wir uns
alle einig - die Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin an einer Vielzahl unterschiedlicher Friedensmissionen beteiligen, um so der Verantwortung gegenüber unseren Partnerländern nachzukommen und
Krisenländern die nötige Unterstützung zu bieten. Wir
können alle davon ausgehen, dass sich die deutsche
Beteiligung an solchen Missionen sogar verstärken
wird.
Vor allem bei Einsätzen der Vereinten Nationen, der
Europäischen Union, der NATO sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa,
OSZE, sind unsere Sicherheitskräfte gefordert.
Deutschland sichert seinen Partnern sowohl auf internationaler als auch auf europäischer Ebene jedwede
Unterstützung im Falle auftretender Krisensituationen
zu.
Unterstützung muss dabei eben nicht ausschließlich
in militärischer Hinsicht geleistet werden. Vielmehr
muss in allen Fällen, in denen Länder von Krieg und
Zerstörung betroffen sind, Aufbauarbeit geleistet werden, so dass jene Länder demokratische Strukturen
aufbauen und wieder Teil der Weltgemeinschaft werden können.
Internationale Friedensmissionen verfolgen genau
diese Ziele, und in der internationalen Zusammen- und
Aufbauarbeit genießt Deutschland ein hohes Ansehen.
Nicht zuletzt haben wir diesen guten Ruf unseren Polizeibeamten zu verdanken, welche sich - entgegen ihres
originären Auftrages des Schutzes der inneren Sicherheit - für internationale, mitunter auch nicht immer
ungefährliche, Einsätze entscheiden und vor Ort wertvolle Arbeit leisten. Diese Beamten riskieren ihr
Leben, um in Krisenländern schwache Sicherheitsstrukturen zu verbessern. In erster Linie übernehmen
die Beamten die Schulung und Ausbildung lokaler
Polizeikräfte. Zudem überwachen sie zusätzlich den
Aufbau einer lokalen Polizeiorganisation.
Im Nachgang eines Konfliktes und für Stabilität des
betroffenen Landes ist eine funktionierende, nach
demokratischen Grundsätzen operierende, verlässliGünter Baumann
che und vertrauenswürdige Polizeiorganisation von
absoluter Priorität. Stabile, nach demokratischen
Grundsätzen geführte Länder stellen außerdem keine
Gefahr für die internationale Staatengemeinschaft dar.
Die Arbeit deutscher Polizeibeamten bei solchen Einsätzen ist somit von höchster Bedeutung, und ihnen gebührt größte Wertschätzung.
Mit diesem Antrag verfolgt die SPD-Fraktion nun
die Forderung, dieses Engagement zu stärken und auszubauen. Im Grunde unterstütze ich dieses Anliegen
voll und ganz, muss jedoch darauf hinweisen, dass dieser Antrag keine konkreten Lösungsansätze bietet, wie
dieses Verlangen umgesetzt werden soll. So werden
zwar viele Forderungen in Bereichen gestellt, welche
bei einem Einsatz von Polizisten im Ausland berührt
werden, jedoch fehlt es eindeutig an umsetzbaren
Vorschlägen.
Bund und Länder arbeiten bereits intensiv zusammen. So werden für Friedensmissionen qualifizierte
Beamte angeworben, vorbereitet und in Krisengebiete
entsendet. Ohne eine gute Zusammenarbeit zwischen
dem Bund und den Ländern wären solche komplexen,
in der Vorbereitung sehr umfangreichen Missionen
überhaupt nicht durchführbar.
Wie die Auslandseinsätze der Bundespolizei organisatorisch und konzeptionell optimiert werden können,
geeignete Beamte motiviert und entsprechend zielgerichtete Maßnahmen getroffen werden können, wird
immer wieder diskutiert. Wir müssen einen Schritt
weiter gehen. Allein die Forderung nach Vorschlägen
zur Verbesserung genügt nicht. Vielmehr müssen konkrete Entscheidungen - im Hinblick auf die Ausgestaltung der Einsätze der Polizisten im Ausland - getroffen
werden, welche - aus meiner Sicht - nur mit einem
fraktionsübergreifenden Konzept nachdrücklich gefordert werden können. Ein Alleingang der Kolleginnen
und Kollegen einer Fraktion - zumal mit einem so
unausgereiften Forderungskatalog - ist dafür nicht
ausreichend. Mit all ihren Forderungen bleiben sie lediglich an der Oberfläche, ohne sich dem Anliegen
wirklich zu nähern.
Der Antrag weist zwar in die richtige Richtung,
muss aber umfassender gestaltet werden. So besteht
aus meiner Sicht ein vorrangiger Regelungsbedarf bei
der Festlegung der Länder, in denen Polizisten eingesetzt werden. Hier könnte ich mir wie bereits erwähnt
durchaus vorstellen, dass wir in der nächsten Legislaturperiode einen gemeinsamen, fraktionsübergreifenden Antrag erarbeiten
Der vorliegende Antrag ist jedoch abzulehnen.
Ich freue mich, dass wir kurz vor dem Ende der
Wahlperiode noch diesen wichtigen Antrag meiner
Fraktion diskutieren. Leider ist es trotz zunächst anderer Ansätze nicht gelungen, hier fraktionsübergreifend
tätig zu werden. Das ist umso bedauerlicher, als die
dargestellten Probleme durchaus dringend sind. Die
Arbeit der Bundeswehr in Krisengebieten ist wichtiger
Bestandteil unserer parlamentarischen Auseinandersetzung. Umso bedauerlicher ist, dass die ebenso
wichtige Arbeit der vielen Polizistinnen und Polizisten
viel zu oft viel zu kurz kommt. Derzeit sind über
300 deutsche Polizeibeamtinnen und -beamte in internationalen Friedenseinsätzen oder bilateralen Projekten eingesetzt; davon fast die Hälfte im bilateralen
Deutschen Polizei Projekt Team in Afghanistan. Seit
Beginn der Beteiligung an Friedensprojekten 1989 hat
Deutschland zwar über 5 000 Beamtinnen und Beamte
in Einsätze entsandt, aber die Zahl der eingesetzten
Polizistinnen und Polizisten hat stetig abgenommen.
Lassen Sie mich kurz die aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion wichtigsten Gründe für diesen Rückgang
darlegen. Es gibt zwar eine ausreichende Zahl an Freiwilligen, die an internationalen Polizeieinsätzen teilnehmen wollen, dennoch müssen die Anreizstrukturen
verbessert werden. Dabei geht es nicht unbedingt um
monetäre Aspekte. Es ist zwar auch zu überprüfen, ob
Auslandsdienstzeiten im Beamtenversorgungsrecht
ausreichend berücksichtigt werden, aber die Rahmenbedingungen für so eine berufliche Ausnahmesituation
müssen ebenso stimmen.
Weitere wichtige Punkte daneben sind: eine bessere
Vereinbarkeit von Familie und Beruf - schließlich nehmen die Beamtinnen und Beamten für eine längere Zeit
nicht unmittelbar am Familienleben teil -, verlässliche
Karriereperspektiven nach der Rückkehr und vor allem die fachliche und öffentliche Anerkennung der im
Ausland geleisteten Arbeit.
An dieser Stelle sei ein zweiter selbstkritischer Blick
auf den Deutschen Bundestag erlaubt, denn die parlamentarische Aufmerksamkeit und Verantwortung für
deutsche Polizeikräfte in internationalen Friedensmissionen wird noch nicht in der Art und Weise wahrgenommen, wie es der wichtigen Aufgabe entspricht. Das
muss besser werden. Deshalb fordert die SPD-Bundestagsfraktion, dass die Bundesregierung in Abstimmung
mit dem Deutschen Bundestag eine umfassende Grundlage zur besseren Einbindung des Parlaments bei der
Entsendung von deutschen Polizistinnen und Polizisten
in internationale Friedensmissionen erarbeitet, die vor
allem eine zeitnahe und umfassende Unterrichtung gewährleistet. Daneben sollen von der Bundesregierung
geeignete Konzepte entwickelt werden, um das deutsche Engagement in internationalen Polizeimissionen
in der Öffentlichkeit wahrnehmbarer zu machen und
die gesellschaftliche Anerkennung zu stärken.
Des Weiteren müssen wirkungsvolle Hilfe- und Unterstützungsinstrumente bei auslandsbedingten Dienstunfällen und langwierigen physischen und psychischen Gesundheitsbelastungen etabliert werden. Auch
hier sei der Vergleich mit der Bundeswehr erlaubt: Die
psychische Belastung eines Auslandseinsatzes und damit verbundenen Ausnahmesituationen sind nicht zu
unterschätzen und müssen entsprechend vor- und
nachbereitet werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit Deutschland den internationalen Verpflichtungen zur Entsendung von Polizeikräften gerecht
werden kann, gilt es vor allem die strukturellen Hürden
zu beseitigen. Angesichts zurückgehender Personalzahlen bei der Landes- wie auch der Bundespolizei ist
eine breite Unterstützung für die Beteiligung deutscher
Polizistinnen und Polizisten an internationalen Friedensmissionen nicht mehr selbstverständlich. Dies ist
insbesondere auch deshalb der Fall, weil im Bund wie
in den Ländern keine konkreten Dienstposten für Auslandseinsätze in substanziellem Umfang vorgesehen
sind. Einzige Ausnahme wäre hier nur die im Rahmen
der Reform der Bundespolizei vorgesehene Schaffung
zweier Internationaler Einsatzeinheiten, IEE, gewesen, bei deren Einrichtung die Bundesregierung jedoch vollständig versagt hat. So sollte laut Bundesregierung mindestens eine dieser beiden Einheiten bis
Ende 2010 aufgestellt werden. Bis Ende Januar 2011
konnten jedoch lediglich 58 der vorgesehenen 119 Stellen besetzt werden. Ein qualitatives Einsatzkonzept
liegt nicht vor. Nicht zum ersten Mal wird an dieser
Stelle mehr als deutlich, welches Desinteresse die Bundesregierung, namentlich der Bundesinnenminister, an
der Bundespolizei hat. Der Teilbereich der internationalen Polizeimissionen ist symptomatisch für den
Umgang der Bundesregierung mit ihrer wichtigen Sicherheitsbehörde. Es gibt keinen Fahrplan, wo der
Bundesinnenminister mit der Bundespolizei hinmöchte. Ein Evaluationsbericht zur Bundespolizeireform wurde im Innenausschuss des Deutschen Bundestages vorgestellt, sachlich gerechtfertigte Kritik an
der Umsetzung der Reform jedoch in keiner Weise aufgegriffen. Das jedoch nur am Rande.
Es ist unumgänglich, dass hier Bund und Länder
gemeinsam eine konkrete Aufgabenverteilung und eine
damit einhergehende Personalentwicklungsplanung
voranbringen. Die Polizistinnen und Polizisten müssen
optimal auf den Einsatz in internationalen Friedensmissionen vorbereitet werden. Deshalb wird die Bundesregierung aufgefordert, Ausbildungsformate und -inhalte
zu entwickeln, um Aspekte der Auslandsverwendung bereits von Beginn an in die Ausbildung von Polizistinnen
und Polizisten auf allen Ebenen zu integrieren.
Es bleibt festzuhalten, dass die Zeit drängt, die beschriebenen Probleme sind unmittelbar anzupacken.
Deshalb bitten wir um Zustimmung zu unserem Antrag.
Zum zweiten Mal am heutigen Tage geht es in diesem Hohen Haus um Polizeieinsätze im Ausland, diesmal jedoch - und allein schon dafür bin ich der SPD
dankbar - zu einer Vorlage, die man ernst nehmen
kann und die sich sachlich und in vielen Punkten auch
mit guten Vorschlägen mit der Materie befasst. Zu dem
anderen Tagesordnungspunkt zu diesem Thema heute
konnte man all das nicht sagen.
Polizeieinsätze im Ausland sind ein wichtiger Bestandteil des Rechtsstaatsaufbaus und damit aus dem
Repertoire internationaler Friedenseinsätze heute
nicht mehr wegzudenken. Dass deutsche Polizistinnen
und Polizisten dabei einen guten Ruf genießen, kommt
nicht von ungefähr. Denjenigen aus den Polizeien von
Bund und Ländern, die sich dieser schwierigen Aufgabe stellen und gestellt haben, möchte ich an dieser
Stelle Respekt und Anerkennung zollen.
Gerade weil unsere Außenpolitik auf eine stabile
Weltordnung gerichtet und zugleich Rechtsstaat und
Menschenrechten verpflichtet ist, sind Polizeimissionen ein wichtiger Baustein. Unsere internationalen
Verpflichtungen in diesem Bereich zu erfüllen und vor
allem die Sicherheit der entsandten Polizeibeamten zu
gewährleisten, muss dabei unser besonderes Ziel sein.
Viele Punkte, die die Sozialdemokraten aufzeigen,
sind richtig und können auch von den Liberalen unterstützt werden. Die Freiwilligkeit der Auslandsverwendung etwa wollen wir beibehalten, weil dies die Gewähr dafür bietet, dass sich keine „Polizei in der
Polizei“ bildet, die das, was unsere rechtsstaatlich
ausgerichtete Polizei ausmacht, gerade nicht mehr abbildet. Es ist gerade wichtig, dass die entsandten Polizistinnen und Polizisten aus dem „normalen“ Dienst
stammen und ihre Erfahrungen vermitteln können.
Hingegen sehen es die Liberalen gerade nicht als
kritikwürdig an, dass es in Deutschland keine „standing force“ für Auslandseinsätze gibt. Gerade das eben
beschriebene Prinzip, dass nicht eine hierfür speziell
abgestellte und auch speziell ausgebildete Einheit, sondern Polizistinnen und Polizisten aus dem polizeilichen
Alltag die Missionen im Ausland wahrnehmen, macht
den Erfolg aus. Eine Abkopplung in Form einer Extraeinheit kommt für die FDP-Fraktion nicht infrage.
Damit es aber auch Anreize gibt, sich hier zu engagieren, ist die Anerkennung in der Laufbahn von Bedeutung. Die Ausführungen, die der Kollege Wieland
hier in der ersten Lesung gemacht hat, dass doch zugleich bedacht werden müsse, welche Zusatzbelastungen die „daheim gebliebenen“ Polizistinnen und Polizisten deshalb schultern müssten, sind zwar
nachvollziehbar, aber können kein Grund sein, für eine
besondere Leistung und ein besonderes Engagement
keine Incentives - wie man so schön neudeutsch sagt zu setzen. Dass damit weder das generelle Problem des
Beförderungsstaus bei der Polizei gelöst werden kann
noch andere Leistungen geschmälert werden sollen, ist
dabei auch klar. Das sollte uns aber nicht hindern, hier
das Richtige anzuregen.
Die Koordinierung der Auslandseinsätze bedarf
nicht der erneuten Erfindung des Rades. Wir haben mit
Herrn Wehe in Nordrhein-Westfalen einen Bund-Länder-Koordinator für die Auslandseinsätze. Richtig ist
aber, dass man - gerade vor dem Hintergrund der teils
ja sehr schwierigen Personalauswahlverfahren bei
EU-Missionen - hier noch über Verbesserungen nachdenken kann. Bei dem Prinzip der im föderalen Staat
sinnvollen Bund-Länder-Koordination muss es dabei
bleiben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die im Antrag angesprochene Vorhabenplanung,
die ausreichend Vorlauf benötigt ebenso wie die an
konkreten Kriterien orientierte Zielsetzung und Zielprüfung bei jedem Auslandseinsatz sollte ohnehin
selbstverständlich sein. Gerade die Zielprüfung ist im
Übrigen auch Garant dafür, dass Fehlentwicklungen
wie solche, die wir leider in der Vergangenheit erleben
mussten, nicht wieder vorkommen. Hierzu gehört dann
nämlich gerade auch ein Frühwarnsystem, wenn sich
in den betreffenden Ländern die Lage so verändert,
dass der Sinn und Zweck der Mission, Fähigkeiten und
Erkenntnisse weiterzugeben, um diese in rechtsstaatlichem Sinne einzusetzen, nicht mehr erreicht werden
können.
Unabdingbar mit diesem Punkt verknüpft ist auch
die Forderung nach einer umfassenden Unterrichtung
des Parlaments. Durch die demokratische Kontrolle
des Regierungshandelns kann und muss bei Fehlentwicklungen gegengesteuert werden. Damit komme ich
dann aber zu einem Punkt in diesem Antrag, bei dem
ich Skepsis zum Ausdruck bringen möchte: In Ihrem
Antrag wird nicht ganz klar, ob oder ob Sie sich nun
nicht für einen Parlamentsvorbehalt aussprechen. In
diesem Zusammenhang gebe ich zweierlei zu bedenken. Wir reden hier nicht über Militäreinsätze, wo wir
ein ganzes Kontingent deutscher Soldaten mit einem
militärischen Mandat ausstatten, sondern wir reden
hier zum Beispiel über fünf Polizisten in Liberia oder
einen einzelnen im Kosovo. Das ist nicht vergleichbar.
Es ist auch nicht erforderlich, weder rechtlich noch im
Sinne der Anerkennung und Wertschätzung, die wir
den Polizisten entgegenbringen. Und zweitens ist es
zwar selbstverständlich Aufgabe des Parlaments, die
Regierung zu kontrollieren, aber nicht, die Aufgabe
der Regierung zu erledigen und etwa dann jede einzelne exekutive Entscheidung etwa über den Einsatz
eines bestimmten Beamten zu treffen. Das widerspräche auch dem Bild des Parlaments in unserer grundgesetzlich vorgegebenen Ordnung, da dieses damit zur
Quasi-Exekutive würde. Daher bin ich, was den Parlamentsvorbehalt anbelangt, nicht sicher, ob damit in
der Tat das Ziel - das wir teilen, nämlich ausreichend
Kontrolle und Transparenz - erreicht werden könnte.
Allerdings ist es immer sinnvoll, sich als Parlament
mit diesem Thema zu beschäftigen. Der passende Ort
ist da der Innenausschuss.
Unklar bleibt in dem Antrag auch, was genau mit
der Anpassung rechtlicher Rahmenbedingungen für
Auslandseinsätze gemeint ist. Richtig ist, dass etwa bestehende Unklarheiten beim Versicherungsschutz von
im Ausland eingesetzten Polizistinnen und Polizisten
oder auch bei der Besoldung ausgeräumt werden müssen. Probleme, die hier auftreten oder in der Vergangenheit aufgetreten sind, bedürfen zügiger Klärung
und einer nachvollziehbaren Rechtsgrundlage und
Verwaltungspraxis. Hier ist aber die schwarz-gelbe
Bundesregierung in den letzten Jahren nicht untätig
geblieben. Die Verbesserungen beim Versicherungsschutz der im Ausland eingesetzten Polizistinnen und
Polizisten und mehr Transparenz bei den Auslandszuschlägen sind hier zu nennen, ebenso wie die massive
Verbesserung der Absicherung unserer Polizistinnen
und Polizisten durch das Einsatzversorgungsverbesserungsgesetz. Rechtliche Änderungen aber, die etwa im
Polizeirecht angesiedelt wären, sind aus Sicht der
FDP-Fraktion nicht erforderlich.
Die Bundesrepublik hat sich in den vergangenen
Jahren international mit den Partnern in der EU und
UN auch mit Polizeimissionen erfolgreich und verlässlich eingebracht. Dieses Engagement fortzuführen, darin sind sich hier wohl - fast - alle einig. Im Detail liegen wir jedoch nicht überall auf derselben Linie. Ihren
Antrag kann die FDP-Fraktion daher nicht in allen
Punkten unterstützen.
Kern des Antrages, den die SPD hier vorlegt, ist die
Forderung nach noch mehr und noch größeren Auslandseinsätzen der Polizei. Damit folgt die SPD einem
Weg, der während ihrer Regierungszeit mit den Grünen eingeschlagen worden ist. Sie geht aber an den
wirklichen politischen Problemen vollkommen vorbei,
die da lauten: parlamentarische Kontrolle und Einhaltung von Menschenrechtsstandards. Der Antrag ist ein
Sammelsurium von technischen, formalen und organisatorischen Erwägungen und Beschreibungen. Die
Feststellung, dass internationale Polizeimissionen im
Ausland ein zentraler Bestandteil der Außenpolitik
sind, ist so richtig wie banal.
Der SPD-Antrag bemängelt, dass Ressourcen für
längerfristige Missionen nicht bereitgestellt würden,
dass die Konzeptionierung spezieller Auslandseinheiten gescheitert sei, dass die Förderung der Motivation
für Polizistinnen und Polizisten, in den Auslandseinsatz zu gehen, ungenügend sei. Die SPD fordert ein
Bündel von Maßnahmen, die diese Hindernisse und
Probleme beseitigen sollen, angefangen von den rechtlichen Rahmenbedingungen bis zur verbesserten
Neuauflage der Einsatzeinheiten und weiteren Personalentwicklungsplanungen. Was die SPD allerdings
versäumt, ist, nach den politischen Hintergründen und
dem Sinn dieser Auslandseinsätze zu fragen. Sie verwendet pauschal den Begriff der Friedensmissionen,
was nichts weiter ist als die übliche Schönfärberei, die
man von Regierungsparteien und solchen in spe kennt.
Im Antrag steht kein Wort darüber, dass deutsche
Polizisten in Afghanistan am Krieg beteiligt sind, weil
sie eine der Kriegsparteien ausbilden. Denn der Aufbau der afghanischen Polizei dient der Herrschaftssicherung des Karzai-Regimes; da wird dann auch
großzügig über dessen Menschenrechtsverletzungen
hinweggesehen.
Im Antrag steht kein Wort darüber, dass deutsche
Polizisten in Saudi-Arabien tätig sind, um dem feudalen Regime bei der Aufrüstung seines Sicherheitsapparates zu helfen. Der saudische Grenzschutz wird sogar
bei der „sicheren Führung“, so heißt das dann, des
Sturmgewehrs G 3 ausgebildet. Auf wen dann damit
Zu Protokoll gegebene Reden
geschossen wird, das interessiert die Bundesregierung
aber genauso wenig wie offenbar die SPD-Fraktion.
Im vorigen Jahr haben die Kollegen der SPD lauthals protestiert, als herauskam, dass deutsche Polizisten über Jahre hinweg Ausbildungsunterstützung für
die belarussische Miliz geleistet haben. Eine solche
Hilfe für eine Diktatur sei unvertretbar, hieß es, und
wieso der Bundestag niemals unterrichtet worden sei.
Damit hat die SPD rein rhetorisch des Pudels Kern genannt: Es darf nicht sein, dass mithilfe der deutschen
Polizei menschenrechtsfeindliche Regime gestützt
werden. Es darf auch nicht sein, dass mit ihnen Kriege
geführt oder geplant werden. Bei Auslandseinsätzen ist
strikt darauf zu achten, dass Menschenrechte und demokratische Standards beachtet und nicht, wie wir aus
dem Einsatz in Saudi-Arabien wissen, aus falscher
Rücksichtnahme auf die jeweilige Herrschaftsclique
kurzerhand aus dem Ausbildungsprogramm gestrichen
werden.
Die Position der Linken ist in dieser Hinsicht eindeutig: Wir wollen nicht noch mehr Auslandseinsätze
der Polizei. Wir halten den Einsatz der Polizei als Mittel der Außenpolitik ohnehin für verfassungsmäßig
höchst problematisch, vor allem dann, wenn ein solcher Einsatz in Zusammenhang mit kriegerischen
Maßnahmen stattfindet. Vor allem aber wollen wir,
dass Polizeieinsätze in Übereinstimmung mit den Menschenrechten erfolgen und nicht der Stützung autoritärer Regime dienen. Um das sicherzustellen, wollen wir
eine verbesserte parlamentarische Kontrolle. Wir wollen, dass die Bundesregierung immer schon im Vorfeld
solche Einsätze mitteilen muss, um den Missbrauch
deutscher Polizisten für menschenrechtsfeindliche
Zwecke und kriegerische Unternehmungen zu verhindern oder zumindest zu erschweren.
Die Linke befindet sich damit jedenfalls der Form
nach in Übereinstimmung mit der Gewerkschaft der
Polizei. Die fordert in einem Positionspapier von November 2011, „eine stärkere parlamentarische Kontrolle der Einsätze der Polizei im Ausland. Für alle Polizeimissionen und -einsätze, seien sie bilateral oder
international, muss der Deutsche Bundestag ein Rückholrecht durch entsprechenden Beschluss und damit
jederzeit das Recht zur Beendigung eines Einsatzes
bzw. einer Mission haben.“ Die GdP stehe „der derzeitigen Praxis der nur bruchstückhaften Antwort auf
parlamentarische Anfragen skeptisch gegenüber“. Zu
ergänzen ist, dass solche Anfragen fast ausschließlich
von der Fraktion Die Linke kommen; die anderen
Fraktionen haben offenbar kein großes Interesse an
dieser Thematik. Die GdP will außerdem sichergestellt
wissen, dass mit den Kenntnissen, die deutsche Polizisten vermitteln, nicht am Ende die Zivilbevölkerung des
betreffenden Landes oder auch verbündete Streitkräfte
drangsaliert werden.
Diesen Forderungen der GdP entspricht weitgehend ein Antrag, den die Fraktion Die Linke heute
ebenfalls hier im Plenum zur Abstimmung bringt. Es
ist höchst interessant, dass die SPD weit hinter die
Position der GdP zurückfällt. In ihrem Antrag ist in
schonungsloser Flachheit und Unverbindlichkeit davon die Rede, eine „umfassende Grundlage zur besseren Einbindung des Parlaments“ erarbeiten zu wollen.
Eine solche Gummiformulierung braucht kein Mensch,
das ist einfach nur peinlich, zumal es eine solche umfassende Grundlage ja bereits gibt, in Form des schon
erwähnten Antrags der Linken. Wenn die SPD dem
nicht zustimmt, wovon leider auszugehen ist, entlarvt
sie selbst ihr empörtes Getue über den Belarus-Einsatz
der Polizei vom vorigen Jahr als reines Theater in der
Sommerpause. Dann bleibt es dabei, dass die Linke die
einzige Fraktion dieses Hauses ist, die wirklich ein,
wenn auch sehr kritisches, Interesse an Polizeieinsätzen
im Ausland hat und die Rechte des Parlamentes stärken will.
Der Unterausschuss Zivile Krisenprävention hat
Anfang dieser Woche seinen Abschlussbericht beraten.
Die gute Nachricht ist, dass sich alle Fraktionen - mit
der vorhersehbaren Ausnahme Linksfraktion - einig
waren, dass der Polizei bei internationalen Friedensmissionen eine besondere Bedeutung zukommt und
dass mehr getan werden muss, um die organisatorischen, strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen für internationale Polizeieinsätze zu schaffen.
Im vorliegenden Antrag macht die SPD zu Recht
darauf aufmerksam, dass die deutsche Bilanz in Sachen Beteiligung an internationalen Polizeimissionen
schlicht zu wenig ist. Das liegt nicht an den Polizistinnen und Polizisten, die freiwillig und engagiert in Auslandseinsätze gehen und dafür noch immer riskieren,
nach ihrer Rückkehr einen Karriereeinschnitt erleben
zu müssen. Für ihren wichtigen Einsatz sind wir den
Polizistinnen und Polizisten sehr dankbar.
Es wurde in den zurückliegenden Jahren zu wenig
unternommen, um die Rahmenbedingungen zu verbessern und die Attraktivität des Auslandseinsatzes für
Polizistinnen und Polizisten zu steigern. Die Verantwortung dafür liegt bei der Politik, hier vor allem bei
der Bundesregierung. Das Versagen beim Aufbau der
Internationalen Einsatzeinheiten, IEE, bei der Bundespolizei macht dies sehr deutlich. Nur die Hälfte der
Stellen in der ersten Einsatzeinheit konnten bis Anfang
2011 besetzt werden; die Einrichtung einer zweiten
Einheit wurde auf Eis gelegt.
Ohne einen Personalpool schnell einsetzbarer
Fachkräfte für Auslandseinsätze, wie es die IEE hätten
sein können, wird es nicht gelingen, den deutschen
Beitrag beim internationalen Krisenmanagement zu
stärken. Darauf weist die SPD in ihrem Antrag zu
Recht hin. Und wir müssen auch dafür sorgen, dass es
für im Auslandseinsatz befindliche Polizistinnen und
Polizisten an ihren heimischen Dienststellen Vertretungen gibt. Es kann nicht sein, dass die Mehrarbeit
einfach den verbietenden Kolleginnen und Kollegen
zugeschoben wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir brauchen ein Maßnahmenpaket zur Attraktivitätssteigerung, zur verbesserten Qualifizierung, Betreuung und Begleitung der Polizeikräfte im Auslandseinsatz. Das ist ein Schlüssel dafür, dass Deutschland
seiner internationalen Verantwortung besser als bisher gerecht wird und damit einen wichtigen Beitrag
zur zivilen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung
leistet. Selbstverständlich müssen auch die Länder
hierfür ihren Beitrag leisten.
Auf einen Aspekt, der uns Grünen gerade auch angesichts der aktuellen Debatte um Rüstungsexporte
und Ausbildungshilfe für autoritäre Staaten wichtig ist,
geht die SPD in ihrem Antrag leider zu wenig ein. Es
muss sichergestellt werden, dass deutsche Polizistinnen und Polizisten bei Ausbildungsmissionen im
Ausland nicht nur fachliche Kenntnisse vermitteln,
sondern einen besonderen Schwerpunkt auf demokratische, rechtsstaatliche und menschenrechtliche Standards legen. Die deutsche Polizei hat international
schon heute einen guten Ruf; hieran gilt es anzuknüpfen.
Schließlich fehlt es weiterhin an klaren Regeln für
polizeiliche Auslandseinsätze, beispielsweise im Bundespolizeigesetz. Auch die parlamentarische Information und Kontrolle laufender Auslandseinsätze der
Polizei muss ausgebaut und umfassend gewährleistet
werden. Hierfür hat meine Fraktion bereits konkrete
Vorschläge gemacht.
Unabhängig davon stimmt meine Fraktion dem von
der SPD vorgelegten Antrag zu. Mit der Umsetzung
der darin enthaltenen Forderungen wäre ein Anfang
gemacht, um auf diesem wichtigen Gebiet ein gutes
Stück weiterzukommen. Sollte es in dieser Wahlperiode
nicht gelingen, worauf die Voten von Union, FDP und
Linksfraktion hindeuten, dann werden wir das Thema
nach der Bundestagswahl mit neuen Mehrheiten erneut anpacken und umso engagierter vorantreiben.
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13940, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8603 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Koalitionsfraktionen und die Linke. Gegenprobe! - Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? Niemand. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 60 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Christine Lambrecht, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Videoübertragung von Gerichtsverhandlungen ermöglichen
- Drucksache 17/13891 Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
In der Tagesordnung ist ausgewiesen, dass die Reden
zu Protokoll genommen werden.
Heute debattieren wir den Antrag der Fraktion der
SPD mit dem Titel „Videoübertragung von Gerichtsverhandlungen ermöglichen“. Im Zuge der digitalen
Veränderungen im öffentlichen Leben haben sich auch
die deutschen Gerichte die digitale und mediale Vernetzung immer mehr zunutze gemacht. So werden Beweisstücke nicht selten auf Monitoren präsentiert, und
auch die Einspielung einer Videosequenz im Gerichtssaal selbst ist keine Seltenheit mehr.
Allerdings gilt es hier, zwischen zwei verschiedenen
Arten der Anwendung der Videokonferenztechnik zu
unterscheiden, nämlich zwischen der Übertragung von
Zeugenaussagen unter anderem zur Verfahrensbeschleunigung auf der einen Seite und einer Zuschaltung von Zeugen gemäß § 247 a StPO aus Gründen des
Opferschutzes auf der anderen Seite. Insofern verweise
ich auf meine Rede im Plenum des Deutschen Bundestages vom 21. Februar 2013 zum Thema „Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik“.
Bei solchen Übertragungen gilt es immer, darauf
zu achten, dass der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach
§ 250 ff. StPO gewahrt wird. Eine Zuschaltung mittels
Videokonferenztechnik stellt immer eine Durchbrechung
dieses Grundsatzes dar. In besonderen Fällen ist dies
aber erforderlich und damit zulässig. Die Abwägung,
ob der Einsatz der Videokonferenztechnik erlaubt ist,
erfolgt immer unter dem Prüfungsmaßstab der Verfahrensbeschleunigung oder des Zeugenschutzes.
Zu diesen beiden Abwägungskriterien ist das Folgende festzuhalten:
Unter den Gesichtspunkt der Verfahrensbeschleunigung wird die zweckmäßige Videoübertragung gefasst.
Hier kann eine Vernehmung mittels Videokonferenz
sinnvoll sein, weil sich zum Beispiel ein Zeuge, der
nicht von zentraler Bedeutung für das Verfahren ist, im
Ausland befindet und dann in den Gerichtssaal zugeschaltet werden kann.
Diese Liveübertragung beschleunigt den Prozess in
solchen Fällen erheblich und kann positiv zu einem
Gelingen des jeweiligen Verfahrens beitragen. Ermöglicht wurde diese vermehrte Nutzung der Videokonferenztechnik durch den am 21. Februar 2013 durch die
Union verabschiedeten Gesetzentwurf zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren.
Das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von
Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren schafft die Möglichkeit, die
moderne Technik der Videokonferenz in Gerichtsverfahren und bei staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen
anzuwenden. Mit den neuen Regelungen kann insbesondere Anwälten, Sachverständigen und Zeugen, die
ihren Wohnsitz außerhalb des betreffenden Gerichtsortes haben, die Anreise sowie Zeit und Geld erspart
werden. An die Stelle der persönlichen Anwesenheit
tritt nun die Vernehmung oder Befragung „an einem
geeigneten Ort“. Die persönliche Anwesenheit wird
durch die Zuschaltung mittels Videokonferenztechnik
ersetzt. Die Zuschaltung erfolgt in der Weise, dass der
Verfahrensbeteiligte an einem anderen Ort ist, aber
per Bild- und Tonübertragung im Gerichtssaal simultan zu hören und zu sehen ist.
Unter dem Gesichtspunkt des Zeugenschutzes kann
die Übertragung dann erfolgen, wenn dies aus Gründen des Zeugenschutzes erforderlich ist. Die entsprechende Regelung findet sich in § 247 a StPO. Danach
kann das Gericht anordnen, dass sich der Zeuge während der Vernehmung an einem anderen Ort aufhält,
wenn sonst die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für das Wohl des Zeugen besteht. Die
Aussage wird dann zeitgleich in Bild und Ton in das
Sitzungszimmer übertragen. Letztlich ist in diesen Fällen unter der Voraussetzung, dass zu besorgen ist, dass
der Zeuge in einer weiteren Hauptverhandlung nicht
vernommen werden kann, eine Aufzeichnung möglich.
Der Antrag der SPD will nun aber eine Videoübertragung nur deshalb und grundsätzlich ermöglichen,
um Privatpersonen und Medien an allen Gerichtsprozessen in beliebiger Anzahl teilnehmen lassen zu können. Anlass zu diesem Antrag bildet der aktuelle NSUProzess. Im Zuge dieses Prozesses ist bereits mehrfach
und von verschiedenster Seite der Wunsch geäußert
worden, den Prozess in einen Zusatzraum zu übertragen. So solle den Medienvertretern, die sich nicht für
einen Sitzplatz akkreditieren konnten, ebenfalls die Berichterstattung ermöglicht werden. Der Antrag der
SPD-Fraktion will eine Übertragung der Gerichtsverhandlung nun aber auch für Bürgerinnen und Bürger
ermöglichen.
Wie in dem Antrag zutreffend ausgeführt wird, gilt
bei Gerichtsverhandlungen grundsätzlich das Windhundprinzip. Das bedeutet, das Zutritt in der Reihenfolge des Erscheinens bzw. der Anmeldung gewährt
wird. Dieses hat sich über Jahrzehnte bewährt und
noch nie nachweislich zu einem Informationsdefizit der
Gesellschaft geführt. Allerdings besteht bei einer Übertragung die Gefahr, dass ein Prozess zum Medienereignis aufgebauscht wird. Dies bedeutet aber unter Umständen, dass das Verhalten der Prozessbeteiligten
beeinflusst wird. Hier ist somit eine umfangreiche Abwägung vorzunehmen. Insbesondere sollte eine Videoübertragung wohl nur für ausgewählte Medienvertreter und nicht für eine Vielzahl von Privatpersonen
ermöglicht werden.
Der Antrag der SPD-Fraktion ist heute zwingend
abzulehnen. Es handelt sich hierbei um einen populistischen Schnellschuss, der nicht zu Ende gedacht
wurde und zudem fachliche Schwächen aufweist. Die
Union ist bereits dabei und wird sich auch in Zukunft
der Problemstellung annehmen und dann einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorstellen, der alle widerstreitenden Interessen ausgleichend gegeneinander
abwägt.
Es hat in den vergangenen Jahren wiederholt Verfahren gegeben, die erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit erregt und ein großes Medien- und Publikumsinteresse hervorgerufen haben. Der Prozess um die
vermutliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe zeigt uns
exemplarisch, dass es notwendig ist, eine ausreichende
Teilnahme der Öffentlichkeit an solch einem Verfahren
zu ermöglichen.
Unser Grundrecht gesteht jedem Bürger zu, an einem Prozess teilzunehmen. Das dient der öffentlichen
Kontrolle und der Transparenz. Unsere Gerichtssäle
bieten jedoch nicht immer die räumlichen Kapazitäten,
um dem öffentlichen Interesse gerecht zu werden. Und
genau dort finden sich auch die Grenzen des Öffentlichkeitsprinzips. Wenn die räumlichen Kapazitäten
unserer Gerichtsräume erreicht sind, entsteht die unbefriedigende Situation für viele Mitbürgerinnen und
Mitbürger und auch für viele Journalistinnen und
Journalisten, an diesen Prozessen nicht mehr teilnehmen zu können.
Das wollen wir für die Zukunft ändern. Es muss
gewährleistet sein, dass bei Bedarf, das heißt bei Verfahren von hohem öffentlichen Interesse, ein breites
Publikum die Möglichkeit erhält, an diesen Prozessen
teilzunehmen. Daher wollen wir die Videoübertragung
von Prozessen in weitere Räumlichkeiten ermöglichen.
Bislang ist es umstritten, ob § 169 GVG dies bereits
jetzt zulässt. Deswegen bedarf es einer Klarstellung im
Gesetz. Damit verhelfen wir dem Prozessgrundsatz der
Öffentlichkeit zu bestmöglicher Geltung. Es wäre
unverantwortlich, die ohne großen Aufwand effektivstmögliche Grundrechtsgewährleistung nicht zu realisieren.
Die Videoübertragung bedeutet nichts anderes, als
die Türen und Fenster für die Zuschauer vor dem Saal
zu öffnen. Daher fordern wir die Bundesregierung mit
unserem Antrag auf, dieses elementare Grundrecht auf
Prozessöffentlichkeit durch eine klare gesetzliche
Regelung sicherzustellen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den Antrag der
SPD-Fraktion, Videoübertragung von Gerichtsverhandlungen per Antrag zu ermöglichen, ab. Die Vorgänge rund um den NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München haben deutlich gemacht, dass die
Frage, wie und in welcher Form die Öffentlichkeit und
die Medien an einer Hauptverhandlung in einer Strafsache beteiligt werden müssen oder können, erneut
diskutiert werden muss. Natürlich kann man argumentieren, dass das gestiegene öffentliche Interesse an bestimmten Strafprozessen dazu führen kann, dass die
Regeln geändert werden.
Erfolgreiche Gerichtsshows im Fernsehen haben
den Wunsch geweckt, auch Strafverfahren in ähnlicher
Form übertragen zu bekommen. Im Ausland geschieht
dies ja bereits in einigen Ländern. Ich bin dabei sehr
Zu Protokoll gegebene Reden
zurückhaltend. Eine Hauptverhandlung in einer Strafsache ist eben kein Schauprozess und darf es auch nie
werden. Es wird über die mögliche Schuld eines Angeklagten entschieden, und dabei sind Rechte aller Verfahrensbeteiligten zu beachten. Es gibt beispielsweise
keinen Anspruch der Öffentlichkeit, etwa durch Nahaufnahmen, die das Fernsehen ermöglicht, das Gesicht
des Angeklagten oder von Zeugen und jede der Regungen zu sehen. Auch der NSU-Prozess und die Art, wie
sich die Angeklagten präsentiert haben, weil sie bewusst die Aufnahmetätigkeit der Medien in ihrem
Sinne genutzt haben, muss nachdenklich machen, ob
eine Videoübertragung in einen anderen Gerichtssaal,
der sehr schnell auch die Forderung einer allgemeinen
Übertragung im Fernsehen folgen wird, die richtige
Entscheidung ist.
All dies zeigt, dass viele Punkte miteinander abzuwägen sind. Wir halten deshalb nichts davon, in einem
Antrag die Bundesregierung aufzufordern, entsprechend dem Wunsch der SPD tätig zu werden. Dennoch
sollte nach meiner Auffassung der Rechtsausschuss in
der neuen Legislaturperiode sich der Frage der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen intensiv annehmen und erneut die verschiedenen Argumente gegeneinander abwägen. Man ist aber nie gut beraten,
für ein bestimmtes Verfahren irgendetwas speziell zu
regeln. Der Strafprozess lebt davon, dass man allgemeingültige Regeln hat.
Mit dem vorliegenden Antrag fordert die SPD ein
Gesetz, das in allen Gerichtsbarkeiten Videoübertragungen von öffentlichen Gerichtverhandlungen in einen weiteren Raum ermöglicht. Auslöser für diese Forderung ist der Streit um die Akkreditierung von
Journalisten im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München. Aufgrund der räumlichen Begrenztheit des Sitzungssaales konnte nicht allen interessierten Medienvertretern sowie Bürgerinnen und Bürgern
die Möglichkeit zur Teilnahme an der Verhandlung
eingeräumt werden. In einem der bedeutendsten Strafverfahren seit Herstellung der deutschen Einheit hat
ein Streit um diese Frage, der letztlich nach Anrufung
des Bundesverfassungsgerichtes zugunsten der Öffentlichkeit entschieden wurde, zu einem inakzeptablen
prozessualen Fehlstart geführt, der nun den Gesetzgeber herausfordert.
Bei Großverfahren oder Verfahren von besonderem
öffentlichen Interesse kommt es regelmäßig vor, dass
die vorhandenen Räumlichkeiten in den Gerichtsgebäuden zu klein für die interessierte Öffentlichkeit
sind. Diese Erfahrung mussten auch immer wieder Interessierte an Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht machen. Es ist darum verständlich, dass die
Öffentlichkeit vermehrt über eine Lösung diskutiert.
Auch im NSU-Verfahren hätte man für die am Verfahrensverlauf interessierte Öffentlichkeit eine Antwort
finden müssen.
Wie die Verfasser des nun vorliegenden Antrages
zutreffend feststellen, ist die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung sicherzustellen. Das Gerichtsverfassungsgesetz setzt dieser Öffentlichkeit indes Grenzen, da Ton- und Fernsehaufnahmen sowie Ton- und
Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung des Inhaltes unzulässig
sind. Fraglich ist allerdings, ob die im Antrag vorgeschlagene Lösung der Videoübertragung von Gerichtsverhandlungen in einen weiteren Gerichtssaal unter
das Verbot im Gerichtsverfassungsgesetz fällt.
Sinn und Zweck der Öffentlichkeit der Verhandlung
ist nicht, deren Inhalt jedem Bundesbürger zugänglich
zu machen und die Verfahrensbeteiligten zur Schau zu
stellen, sondern eine wirksame Kontrolle der staatlichen
Machtausübung zu gewährleisten. Für diese Kontrollfunktion braucht man nicht 80 Millionen Bundesbürger, dazu reicht in der Regel eine Anzahl, die den üblichen Plätzen in einem Gerichtssaal entspricht, aus.
Natürlich sind der Strafprozess gegen die Täter der
NSU-Morde oder die Verhandlungen zur Euro-Rettung
vor dem Bundesverfassungsgericht sind Verfahren, die
einen besonderen Stellenwert genießen und verständlicherweise eine breitere Öffentlichkeit interessieren
als beispielsweise ein Verfahren wegen Sachbeschädigung vor einem Thüringer Amtsgericht. Gerade und
ausschließlich für Verfahren mit bundesweiter Bedeutung sollte darum über eine restriktiv auszulegende
Ausnahmeregelung im Gerichtsverfassungsgesetz nachgedacht werden.
Die im Antrag vorgeschlagene Videoübertragung in
einen angrenzenden Gerichtssaal wäre ein gangbarer
Weg, aber auch nur, wenn sichergestellt ist, dass ausschließlich eine Übertragung und keine Aufzeichnung
stattfindet sowie die Übertragung ausschließlich in einen benachbarten Gerichtssaal erfolgt, um auf diese
Weise den Verhandlungssaal sinnbildlich zu vergrößern. Die Verhandlung muss zwingend in ein und demselben Gerichtsgebäude verbleiben und darf nicht
etwa auf Großbildleinwänden vor dem Gerichtgebäude oder in Stadien übertragen werden. Eine Art
Public Viewing muss ausgeschlossen sein. Daneben
muss bei einer Videoübertragung in einen Nebenraum
zwingend eine Einflussmöglichkeit des Richters auf die
Öffentlichkeit im zweiten Raum sichergestellt sein.
Denkbar wäre eine Tonrückübertragung vom Nebensaal in den Verhandlungssaal, was das Verfahren aber
durch die Geräusche aus dem Nebensaal behindern,
stören und verkomplizieren würde. Alternativ könnte
man Justizbedienstete mit der Beaufsichtigung der
zweiten Öffentlichkeit betrauen. Da fehlt es dann wieder an der Möglichkeit der Einflussnahme durch den
Richter. Das ist ein wirkliches praktisches Problem
dieses Vorschlages. Ob eine Videoübertragung der
Stein der Weisen für die Lösung eines vermehrten öffentlichen Interesses an einem Gerichtsverfahren ist,
mag dahingestellt bleiben. Wichtig ist, dass sich der
Deutsche Bundestag mit diesem Problem befasst und
nach gründlicher Beratung einen verfassungskonformen Vorschlag, der vor allem auch die Rechte der OpZu Protokoll gegebene Reden
fer solcher Taten hinreichend berücksichtigt, unterbreitet. Dabei muss in erster Linie der Schutz des
Persönlichkeitsrechts der Zeugen, der Opfer, der Angehörigen aber auch der Beschuldigten beachtet werden.
Zweifelsfrei besteht bei Großverfahren oder Verfahren mit besonderem öffentlichen Interesse Handlungsbedarf bezüglich der Raumfrage in den Gerichten.
Meiner Ansicht nach sind die Erfahrungen aus dem
NSU-Prozess am Oberlandesgericht München beispielgebend. Vor allem aber sollten diese Erfahrungen
erst einmal in Ruhe von den Fachleuten im Rechtsausschuss beraten werden. Die Frage, wie mit den Ergebnissen umgegangen wird, muss mit großer Sorgfalt beantwortet werden. Auch wenn ich die Zielrichtung des
Antrages der SPD-Fraktion teile, bekommt man dieses
gewichtige Problem nicht mit einem Ein-Seiten-Antrag
in der vorletzten Sitzungswoche der Legislatur gelöst.
Das wird den Grundsätzen des Gerichtsverfassungsgesetzes und den Rechten der Verfahrensbeteiligten nicht
gerecht. Gründlichkeit muss auch hier vor Schnelligkeit gehen.
Die zuständigen Berichterstatter der Fraktionen
sollten sich gleich zu Beginn der 18. Legislaturperiode
zusammensetzen und ein gemeinsames Papier auf den
Tisch des Hauses legen. Meine Fraktion wird sich dem
nicht verschließen.
Die Diskussion über die Herstellung einer ausreichenden Öffentlichkeit im zurzeit laufenden Strafverfahren gegen den NSU vor dem Oberlandesgericht
München war kein Ruhmesblatt für die bayerische Justiz und das CSU-geführte Justizministerium. Die Justizministerin Merk hat keinerlei Gespür dafür gezeigt,
dass es eine sensible politische Frage ist, nicht nur den
Opfern und ihren Rechtsanwälten, die als Nebenkläger
zugelassen sind, sondern auch allen anderen Opfern
und ihren Familien eine reale Möglichkeit anzubieten,
das Strafverfahren zu beobachten und sich selbst ein
Bild davon zu machen, ob der deutschen Justiz eine
umfassende Aufklärung der Morde an ihren Angehörigen gelingt und die Angeklagten - im Falle einer Verurteilung - eine gerechte Strafe erhalten. Auch das
berechtigte Interesse der inländischen und ausländischen Medien sowie der Prozessbeobachter wurde von
der Politik in München missachtet.
Dem Gericht blieb so, von der Politik alleingelassen, nur die Möglichkeit, die Öffentlichkeit im größten
in München vorhandenen Justizsaal herzustellen. Dieser ist jedoch - da kann man Stühle hin- und herrücken
so viel man will - viel zu klein. Dass das Gericht darüber hinaus bei der Auswahl der Pressevertreter unnötige Fehler machte und zuließ, dass erst das Bundesverfassungsgericht eingreifen musste, verschlimmerte
die Lage noch mehr.
Jetzt, da der Prozess gegen den NSU voranschreitet
und sich die Frage nach genügend Plätzen für Medienvertreter entspannt hat, stellt sich die Frage, ob die
Regeln des Gerichtsverfassungsgesetzes reformiert
werden sollten. Durch strukturelle Änderungen der
Prozessordnungen und eine erweiterte Partizipation
von Betroffenen auch an gerichtlichen Auseinandersetzungen wird es in Zukunft sicher vermehrt zu Situationen kommen, bei denen die herkömmlichen
Gerichtssäle für den Ansturm einer interessierten Öffentlichkeit nicht ausreichen. Will man jedoch zu gesetzlichen Änderungen der Regeln über die Öffentlichkeit von gerichtlichen Verhandlungen greifen, sollte
man sich zuerst grundsätzlich über den Wert und die
Bedeutung der Öffentlichkeit vor Gericht Gedanken
machen.
Die Justiz übt durch ihre Rechtsprechung die Staatsgewalt des Volkes aus. So postuliert es Art. 20 Abs. 2
unseres Grundgesetzes. Es ist ein historisch erkämpftes Recht des Volkes, die Justiz bei ihrer Arbeit
beobachten und auch bewerten zu können. Nur die
Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlungen und Entscheidungsverkündungen der Justiz ermöglicht es den
Wählerinnen und Wählern, mit ihrer Stimme bei der
Wahl der gesetzgebenden Körperschaften auch Einfluss auf zukünftige Gesetze und damit auch Einfluss
auf die zukünftige Rechtsprechung zu nehmen. Die Öffentlichkeit ist somit ein Grundpfeiler der Rückbindung der Rechtsprechung an den Volkswillen.
Eine Geheimjustiz darf es nicht geben, die Regelung
von § 169 Satz 1 GVG hat in ihrem Kern ihre Grundlage im Verfassungsrecht. Schutzwürdige Interessen
der Beteiligten an nichtöffentlichen Verhandlungen
der Justiz können nur ausnahmsweise oder nur vorübergehend zu einem Ausschluss der Öffentlichkeit
führen.
Die Gefahr der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen liegt im Missbrauch zum Schauprozess. Besonders in Diktaturen wurden und werden Gerichtsverhandlungen gerne als Schaubühne zur Erniedrigung
von Angeklagten oder zur Darstellung von Macht und
Durchsetzung von Ideologien missbraucht. Davor
müssen Gerichte geschützt werden. Gerichtsverhandlungen sind formalisierte Verfahren der Wahrheitsfindung und der Findung gerechter Entscheidungen.
Diese sensiblen Prozesse sollen von Beeinflussungen
frei gehalten werden, die im Falle der Ton- und Bildvorführung oder Veröffentlichung nicht auszuschließen sind. Deshalb verbietet § 169 Satz 2 GVG im
Grundsatz zu Recht solche Aufnahmen des Geschehens
in Gerichtsverhandlungen für öffentliche Vorführungen oder Veröffentlichungen. Eine Ausnahme findet
sich nur für Verhandlungen des Bundesverfassungsgerichts.
Damit reduziert sich die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen auf die physische Anwesenheit in
den Verhandlungen und auf das Recht - und auch die
Pflicht - der Presse, über Gerichtsverhandlungen
wahrheitsgemäß, sachlich und die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten wahrend schriftlich zu berichten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ob diese Regelungen den Möglichkeiten und Erfordernissen einer modernen Gesellschaft genügen, darüber wird seit Jahren heftig und sehr kontrovers
diskutiert. Viel spricht dafür, zumindest für die Gerichtsverhandlungen der obersten Gerichte des Bundes - und vielleicht auch der Länder - das strikte Vorführungs- und Veröffentlichungsverbot zu lockern. Was
für das Bundesverfassungsgericht gilt, kann und sollte
vielleicht auch für diese obersten Gerichte gelten. Das
Aufspüren von Rechtsfehlern und die Fortbildung des
Rechts sind Angelegenheiten, an denen die Bürgerinnen und Bürger und die interessierte Öffentlichkeit
auch über moderne Kommunikationsmittel wie Fernsehen und Internet teilnehmen können sollten, ohne
dazu nach Leipzig oder Kassel, nach München oder
Karlsruhe fahren zu müssen. Bei den die Öffentlichkeit
besonders interessierenden strafrechtlichen Gerichtsverhandlungen sprechen hingegen gute Gründe des
Persönlichkeitsschutzes für die Beibehaltung der strikten Öffentlichkeitsbeschränkung auf die Anwesenheit
im Gerichtssaal.
Womit wir bei dem heute zu diskutierenden Antrag
der SPD und den Folgerungen aus den Streitigkeiten
im Vorfeld des Münchner NSU-Verfahrens wären. Die
SPD schlägt vor, „Videoübertragungen von öffentlichen Gerichtsverhandlungen in einen weiteren Raum“
zu ermöglichen.
Ich verstehe den Vorschlag so, dass das Verbot öffentlicher Vorführung oder der Veröffentlichung des
Inhalts von Ton-, Fernseh-, Rundfunk- oder Filmaufnahmen von Gerichtsverhandlungen nicht angetastet
werden soll. Dem stimmen wir zu, wobei ich nochmals
darauf hinweisen möchte, dass dies eine zukünftige
Debatte über eine vorsichtige Öffnung zumindest bei
obersten Bundes- und Landesgerichten nicht abschneiden soll.
Klärungsbedürftig bleibt beim Vorschlag der SPD,
ob die Videoübertragung in einen weiteren Raum zur
Folge hätte, dass die öffentliche Hauptverhandlung in
Strafsachen oder andere mündliche Verhandlungen
von erkennenden Gerichten damit gleichzeitig und parallel in zwei verschiedenen Räumen des Gerichts
stattfinden sollen. Dies ergibt sich meiner Meinung
nach mitnichten aus der Formulierung der Ermöglichung von „Videoübertragungen von öffentlichen Gerichtsverhandlungen in einen weiteren Raum“, klingt
jedoch in der Begründung an. Ein solches Verständnis
der Videoübertragung ist aber strikt abzulehnen, weil
dies unabsehbare Folgen für die gesamte Hauptverhandlung und für die Überzeugungsbildung des Gerichts hätte. Im Rahmen einer zukünftigen gesetzlichen
Regelung muss dies ausgeschlossen werden. Die Videoübertragung ist weder eine Erweiterung der Verhandlung auf zwei Räume noch eine öffentliche Vorführung ihres Inhalts.
Die Videoübertragung in einen weiteren Raum ist
eine mit modernen technischen Mitteln leicht herzustellende und voll dem Hausrecht und der Sitzungsgewalt unterstehende Beteiligung der Öffentlichkeit an
der Verhandlung, die einerseits eben keine öffentliche
Vorführung oder Veröffentlichung des Inhalts der Verhandlung ist, andererseits aber auch nicht eine räumliche Verdoppelung der Verhandlung.
Wie im Raum der eigentlichen Verhandlung auch
muss das Gericht durch prozessleitende Verfügungen
die Sicherheit und Ordnung auch in dem Raum sicherstellen, in den hinein die Videoübertragung stattfindet.
Dies bezieht sich auch auf die Sicherung des Verbots
der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung
des Inhalts der Verhandlung aus dem sogenannten
Videoraum heraus.
Es spricht auch nichts dagegen, eine solche Videoübertragung auf Vertreter der Medien zu beschränken jedenfalls so lange, wie die Öffentlichkeit für Bürgerinnen und Bürger in einem angemessenen Maße im
eigentlichen Verhandlungsraum gesichert ist.
Schließlich sollte klar sein, dass die Entscheidung
über eine Videoübertragung im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts verbleibt. Dieses ist in seiner Entscheidung an den unabweisbaren und verfassungsrechtlich gesicherten Anspruch auf Öffentlichkeit der
Verhandlung gebunden, der sowohl den Bürgerinnen
und Bürgern wie auch den Medienvertretern garantiert, im Rahmen der baulichen Vorgaben die Verhandlungen der Justiz beobachten und damit auch bewerten
zu können.
In dieser Legislaturperiode wird es zu keiner gesetzlichen Regelung mehr kommen. Der Antrag der SPD
und unsere grundsätzliche Zustimmung sind Teil des
rechtspolitischen Programms für die nächste und neue
Mehrheit in diesem Hause nach den Bundestagswahlen im September.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13891 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann haben wir es gemeinsam auch so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 61 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Dörmann, Lars Klingbeil, Wolfgang Tiefensee,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Netzneutralität und Diskriminierungsfreiheit
gesetzlich regeln, Mindestqualitäten bei Breitbandverträgen sichern und schnelles Internet
für alle verwirklichen
- Drucksache 17/13892 Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})InnenausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
VerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung und
TechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medien
Vizepräsident Eduard Oswald
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Fraktion der SPD hat ganz fleißig alte Passagen aus diversen Anträgen zum Thema Internet oder
Telekommunikationsregulierung der bald abgeschlossenen Legislaturperiode zusammengesucht und in einen neuen Antrag gepackt. Dieses Sammelsurium an
Themen bietet mir die Möglichkeit, die Erfolge der
letzten vier Jahre nochmals deutlich zu machen. Eine
große Rolle im Antragstext spielt das Thema Netzneutralität. Auf über zwei Seiten versuchen Sie, den Begriff zu definieren. Diese Definition konnte auch die
Enquete-Kommission „Internet und Digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestags in mehrjähriger
und intensiver Diskussion nicht abschließend fassen.
Es bleibt also die Frage: Was ist eigentlich Netzneutralität? Wie kann dieser Begriff juristisch sauber definiert werden? Es gibt viele Annäherungen an diesen
Begriff, aber keine abschließende Definition.
Konsens herrscht dabei wohl in der Gewährleistung
der Diskriminierungsfreiheit bei Inhalten, Anbietern
und Empfängern. Und genau deshalb gibt es den
§ 41 a TKG zur Netzneutralität. Dieser ermächtigt in
Satz 1 die Bundesregierung, in einer Rechtsverordnung nach Zustimmung des Bundestages und des
Bundesrates grundsätzliche Anforderungen an eine
diskriminierungsfreie Datenübermittlung und den diskriminierungsfreien Zugang zu Inhalten und Anwendungen festzulegen, um eine willkürliche Verschlechterung von Diensten und eine ungerechtfertigte Behinderung oder Verlangsamung des Datenverkehrs in den
Netzen zu verhindern.
Weiterhin lautet Satz 2 des Paragrafen, dass die
Bundesnetzagentur in einer technischen Richtlinie
Einzelheiten über die Mindestanforderungen an die
Dienstqualität durch Verfügung festlegen kann. Nun
liegt eine Untersuchung der Bundesnetzagentur über
die Dienstqualität breitbandiger Internetanschlüsse
vor. Und auf Basis dieser Untersuchung werden wir im
Beirat der Bundesnetzagentur und auch hier im Parlament diese Mindestanforderungen weiter diskutieren.
Eins ist aber in diesem Zusammenhang wichtig festzustellen: Es besteht kein akuter Handlungsbedarf des
Gesetzgebers. Denn die gesetzlichen Grundlagen sind
im TKG bereits gelegt. Auch ist es schwierig, angesichts der technischen Dynamik des Internets eine angemessene Lösung für alle Details des Netzes zu finden.
Der vorliegende Antrag spricht ebenfalls das
Thema des Breitbandausbaus an, allerdings gibt es da
aus der SPD-Bundestagsfraktion nichts Neues. Ich bin
sehr überrascht darüber, dass es der SPD gelingt, alle
Fortschritte, die wir in dieser Legislaturperiode erzielt
haben, zu ignorieren. Es überrascht mich gerade deshalb, weil einige Maßnahmen doch von uns gemeinsam in der Großen Koalition auf den Weg gebracht
wurden. Erstaunlicherweise kommt diese Passage des
Antrages auch ohne Zahlen aus. Aber diese will ich
Ihnen gern nochmals vortragen.
Was haben wir in dieser Legislaturperiode erreicht? Wir haben Teile des Frequenzspektrums für
breitbandige, mobile Internetnutzung zur Verfügung
gestellt, und zwar mit der Auflage für die Mobilfunkunternehmen, bisher nicht mit schnellen Internetanschlüssen versorgte Regionen prioritär zu erschließen. Unter dem Stichwort LTE war Deutschland das
erste Land in Europa, das diesen neuen Mobilfunkstandard eingeführt hat. Wir haben das TKG novelliert
und neben vielen Verbesserungen für den Verbraucher
insbesondere Anreize für Investitionen gesetzt. Nennen
will ich nur die umfangreichen Möglichkeiten zur Mitnutzung bestehender Infrastrukturen für den Breitbandausbau. Das senkt die Ausbaukosten. Es gelten
nun längere Fristen für die Regulierungsperioden der
Bundesnetzagentur, das schafft Investitions- und Planungssicherheit für die Branche. Kooperations- und
Risikoteilungsmodelle ermöglichen ebenfalls Synergieeffekte. Seit Inkrafttreten des TKG arbeiten Unternehmen, Kommunen und die Bundesnetzagentur an
Schritten zur Umsetzung des Gesetzes, um dessen wirtschaftliche Potenziale auszuschöpfen. Hätte der rotgrün dominierte Bundesrat die Verabschiedung des
Gesetzes nicht über ein halbes Jahr lang blockiert,
könnten wir schon viel weiter sein.
Ein paar Zahlen möchte ich noch nennen, denn wir
haben beim Breitbandausbau Dynamik im Land. Dies
sollten wir nicht schlechtreden. Seit 2010 wurden
560 000 Haushalte zusätzlich mit der Grundversorgung von 1 Megabit pro Sekunde erreicht, nun sind
99,7 Prozent der Haushalte versorgt. 54,8 Prozent,
also mehr als die Hälfte der deutschen Haushalte, haben Zugriff auf einen Hochgeschwindigkeitsanschluss,
der mindestens 50 Megabit pro Sekunde bietet. Das
sind sechs Millionen Haushalte zusätzlich in nur zwei
Jahren. Der baldige Einsatz der Vectoring-Technologie, welche die Leistungsfähigkeit des bestehenden
Kupfernetzes erhöht, wird die Dynamik noch erhöhen.
Mit der Einführung eines Universaldienstes wäre diese
positive Entwicklung auf den Kopf gestellt und der
Breitbandausbau völlig entschleunigt worden.
Ich sehe daher keine Notwendigkeit für eine Überarbeitung des TKG, zumal sich auch der Rechtsrahmen
auf europäischer Ebene bisher nicht verändert hat.
Die zuständige Kommissarin Neelie Kroes ist in den
letzten Wochen mit zahlreichen pointierten Bemerkungen in die Öffentlichkeit gegangen. Wir sind also gespannt darauf, was aus Brüssel zu erwarten ist. Ich
freue mich bereits auf die Diskussionen mit Ihnen in
der nächsten Legislaturperiode. Bis dahin empfehle
ich die Lektüre des dritten Monitoringberichts zur
Breitbandstrategie der Bundesregierung vom April
dieses Jahres.
Ein politischer Sachverhalt ändert sich auch nicht
dadurch, dass man als Oppositionsfraktion jede SitDr. Georg Nüßlein
zungswoche einen anderen Antrag zum selben Thema
einreicht. Zuletzt die Linken, jetzt die SPD: Die Genossen reichen sich beim Thema Netzneutralität den Staffelstab gegenseitig weiter. Damit erreichen Sie zwar,
dass kurz vor Ende der Legislaturperiode Ihr Antrag
noch als Punkt 57 um 4.50 Uhr morgens aufgerufen
wird, aber mehr auch nicht; aber nicht einmal das,
weil er zu Protokoll geht.
Ich bleibe bei dem, was ich auch schon in meiner
Rede vom 16. Mai 2013 gesagt habe: Eine konkrete gesetzliche Regelung zur Verankerung der Netzneutralität im TKG ist verfrüht und in der Sache auch nicht
notwendig. Natürlich wollen auch wir, dass „der Charakter des Internets als freies und offenes Medium …
bewahrt und gestärkt werden“ muss, und zwar „ohne
Zensur der Inhalte“. Aber darum geht es im Zusammenhang mit der aktuellen Marktentwicklung - sprich:
der Entscheidung der Deutschen Telekom, ab 2016
monatliche Datenobergrenzen für die Internetnutzung
festzulegen - doch gar nicht. Das wäre ja so, als würde
die Deutsche Post AG nun grundsätzlich alle Briefe
öffnen und nur die versenden, deren Briefinhalte dem
Unternehmen genehm sind. Absurd! Die Post kann
aber als Teilnehmer an einem weitgehend liberalisierten Markt bestimmen, dass sie für den Transport eines
Pakets mehr Geld verlangt als für einen Brief oder
eine Postkarte. Das ist eine freie Entscheidung des
Unternehmens Deutsche Post AG. Und genauso ist es
bei der Deutschen Telekom AG. Ob das für den Breitbandausbau förderlich ist, steht auf einem anderen
Blatt.
Für bedenklich halte ich aus ordnungspolitischen
Gründen in diesem Zusammenhang Ihre Aussage:
„Die Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen an der Informationsgesellschaft setzt die Möglichkeit voraus,
gleichberechtigt im Internet aktiv zu werden und Zugang zu allen Inhalten zu haben.“ Das ist Netzsozialismus pur! Wenn ein Internetnutzer regelmäßig große
Datenpakete durch das Netz jagt und so dazu beiträgt,
dass das Netz stark belastet ist, so kann man von diesem Vielnutzer erwarten, dass er dafür auch angemessen zahlt. Der Zugang zum Internet als Grundversorgung ist sicherlich eine andere Debatte.
Eine durchaus zu klärende Frage in der aktuellen
Debatte ist der Plan der Telekom, den eigenen Dienst
„Entertainment“ und das Portal „Videoload“ für die
eigenen Kunden aus der Berechnungsgrundlage für
das maximal zur Verfügung stehende Datenvolumen
herauszurechnen. Hier würde auf den ersten Blick tatsächlich ein bestimmter Diensteanbieter bevorzugt,
nämlich der eigene. Ich bin gespannt, wie die Rechtsabteilung der Bundesnetzagentur dieses Vorhaben bewertet und ob hier ein Verstoß gegen das Gebot der
Netzneutralität festgestellt werden wird. Ich halte
diese Debatte aber noch nicht für einen hinreichenden
Grund, die von uns in der TKG-Novelle 2012 in § 41 a
fixierte Ermächtigung für die Bundesregierung zum
Erlass einer Rechtsverordnung jetzt Knall auf Fall
rechtswirksam werden zu lassen. Sollten gewisse
Geschäftspraktiken - und damit meine ich jetzt nicht
die Telekom im Konkreten, sondern alle infrage kommenden Anbieter - das Prinzip des diskriminierungsfreien Netzes wiederholt gefährden, dann behalten wir
uns vor, Ernst zu machen mit der Rechtsverordnung.
Das Instrument der Rechtsverordnung nach § 41 a
TKG ist übrigens gegenüber einem Parlamentsgesetz
das flexiblere Instrument, wenn es denn so weit kommen sollte.
Im Übrigen verweisen auch Sie, werte SPD-Kollegen, in Ihrem Antrag darauf, dass „eine enge Zusammenarbeit und Verständigung auf europäischer Ebene
… unerlässlich“ sind, „um einheitliche, für alle Beteiligten verbindliche Standards hinsichtlich der Sicherung der Netzneutralität und der Behandlung von
Datenpaketen zu entwickeln.“ Es gibt aber noch keine
„einheitliche Sicherung der Netzneutralität“ und auch
noch keine EU-weiten oder internationalen „verbindlichen Standards“. Die Debatte ist weder auf EUEbene noch auf nationaler Ebene abgeschlossen,
weswegen Schnellschüsse infolge der Telekom-Ankündigung jetzt falsch sind.
Wir müssen bei der Debatte aber den Konnex sehen
zwischen der - gewünschten - Aufrechterhaltung der
Netzneutralität und dem weiteren Ausbau der Netze,
die die immer größer werdenden Datenpakete durchleiten müssen. Der Breitbandausbau muss sich parallel zur Nachfrage nach IP-basierten Anwendungen wie
IP-TV, Videokonferenzen, Onlinespiele oder auch
Telemedizinanwendungen entwickeln.
Ich für meinen Teil befürchte nun, dass so viele
„Normal User“ abgeschreckt werden, auch einmal
große Datenpakete down- oder upzuloaden, weil sie
befürchten, dass ihr monatliches Datenvolumen
schnell verbraucht ist, sie dann entweder mehr bezahlen müssen oder dass ihre Geschwindigkeit dann bis
zum Monatsende deutlich gedrosselt wird. Auch wenn
die Telekom gestern, am 12. Juni, angekündigt hat,
dass Verbrauchern, die ihr monatliches Volumen aufgebraucht haben und die kein zusätzliches Datenpaket
gebucht haben und keine „echte“ Flatrate haben, mit
dann noch 2 Megabit pro Sekunde statt wie bisher geplant mit 384 Kilobit pro Sekunde bis zum Monatsende
surfen können, ist damit die Brisanz des Vorhabens
nicht genommen. Bei einer Drosselung sinkt die Nachfrage nach Anwendungen mit hohen Datenvolumina,
was die Entwicklung neuer IP-Anwendungen nicht gerade fördert.
Wenn wir schon vom Breitbandausbau sprechen,
gehe ich gerne noch auf Ihren dritten Punkt ein:
„Schnelles Internet für alle flächendeckend verwirklichen“. Ich gebe Ihnen absolut recht, dass es in
Deutschland beim Stand des Breitbandausbaus noch
immer eine digitale Stadt-Land-Kluft gibt, die wir
schnellstens beseitigen müssen. Es darf nicht sein,
dass hochleistungsfähige Datenautobahnen nur in den
Städten und Ballungszentren ausgerollt werden, kleine
Gemeinden, Dörfer und abgelegene Ortsteile aber mit
1 bis 2 Megabit pro Sekunde für die nächsten 20 Jahre
Zu Protokoll gegebene Reden
zufrieden sein sollen. Da ist LTE, auch das kommende
LTE Advanced, nur eine Zwischenlösung. Langfristig
muss es Ziel sein, leitungsgebundene Netze - sprich:
Glasfaser und Kabelnetze - bis in die Häuser und Gebäude, FTTB/FTTH, auch in den ländlich geprägten
Regionen zu verlegen. Da haben wir noch einiges vor
uns. Aber deswegen von einer „Passivität der Bundesregierung beim Breitbandausbau“ zu sprechen, ist nun
wirklich frech! Ebenso falsch ist die Behauptung, dass
„sämtliche von der Bundesregierung in ihrer Breitbandstrategie angepeilten Ziele … ohne zusätzliche
Maßnahmen verfehlt“ würden.
Wirksame Maßnahmen haben wir vor allem mit der
jüngsten Novelle des TKG im vergangenen Jahr in großer Zahl vorgenommen, um den Netzausbau mittels einer investitionsfreundlichen Regulierung billiger und
schneller zu machen. Sie sagen: „Synergieeffekte müssen konsequent genutzt und Rechts- und Planungssicherheit durch eine innovations- und investitionsfreundliche Regulierung geschaffen werden“. Nichts
anderes haben wir mit der TKG-Novelle getan: Zu
unseren Maßnahmen gehört unter anderem die Zulassung des sogenannten Microtrenching, einer Verlegetechnik, bei der die Breitbandkabel in den Asphalt bzw.
in den Erdboden eingefräst werden. Das spart hohe
Grabungskosten. Weiter haben wir im TKG die Mitnutzung von vorhandener Infrastruktur geregelt. Wenn ein
TK-Unternehmen Infrastruktur der öffentlichen Hand
mitnutzen will, besteht sogar ein Anspruchsrecht, bei
der Infrastruktur privater Infrastrukturinhaber zumindest ein Antragsrecht. Dass die SPD am liebsten auch
private Unternehmen und Einrichtungen von Staats
wegen zur Mitnutzung verpflichten würde, ist klar.
Wohin Planwirtschaft am Ende führt, hat uns die
Geschichte aber deutlich gelehrt. So schaffen wir
Synergien, vermeiden Doppelkosten, neue Grabungsarbeiten usw. Mit dem sogenannten Hausstich haben
Telekommunikationsunternehmen nun das Recht, ihre
Breitbandkabel im Rahmen einer einzigen Baumaßnahme nicht nur entlang der Straße zu verlegen,
sondern gleich in die sich entlang der Straßen befindlichen Häuser, auch wenn der Haus- bzw. Grundstückseigentümer das vielleicht nicht will. Das spart
enorme Kosten, weil die Straße nicht für jedes anschlusswillige Haus erneut aufgerissen werden muss.
Darüber hinaus erlauben wir eine stärker regionalisiert betrachtete Regulierung. Das fördert den Wettbewerb dort, wo regionale Monopole drohen. Schließlich
haben wir ein Antragsrecht für Telekommunikationsunternehmen ins TKG hineingeschrieben, womit die
Netzbetreiber jetzt verbindliche Auskunftsrechte haben, welche Regulierungsmaßnahmen bei Investitionen in der Stadt bzw. Region X auf sie zukommen. Das
schafft Planungssicherheit und macht Mut zu Investitionen. Das soll die SPD erst einmal nachmachen.
Was die Förderkulisse für den Breitbandausbau angeht, haben wir schon heute nicht wenige Anlaufstellen: Ich erwähne hier vor allem auf EU-Ebene den
„Europäischen Fonds für regionale Entwicklung“,
EFRE, den „Europäischen Landwirtschaftsfonds für
die Entwicklung des ländlichen Raumes“ und auf Bundesebene die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“, GAK, und
die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Die Bundesregierung
hatte im Rahmen der Verhandlungen des Vermittlungsausschusses zur TKG-Novelle 2012 zugesichert, mit
den Ländern und mit der KfW-Bankengruppe die
bestehenden KfW-Programme gezielt auf eine Breitbandförderung hin zu evaluieren und für diesen Zweck
transparenter zu machen. Daraufhin hat eine Expertenarbeitsgruppe aus Vertretern des BMWi, der Länder, der KfW, der Landesförderbanken, aus Unternehmen, Telekommunikationsverbänden und aus
kommunalen Spitzenverbänden fünf KfW-Programme
identifiziert, die von Kommunen, kommunalen Unternehmen oder kleinen und mittleren Unternehmen für
Infrastrukturinvestitionen in Breitband- oder Beratungs- und Planungsleistungen genutzt werden
können. Die KfW wurde von diesem Expertengremium
beauftragt, zu prüfen, inwieweit hier einige Konditionen zu verändern wären. Verführerisch ist es natürlich
schon, nach einem neuen, gesonderten KfW-Programm für den Breitbandausbau zu rufen, wie es die
SPD übrigens immer gerne tut, um sich über neue
Schulden und damit zulasten der künftigen Generationen zu profilieren. Aber bei der Frage hat der Bundesfinanzminister klar ein Wörtchen mitzureden.
Wie es geht, hat Bayern jüngst wieder vorgemacht,
und zwar mit dem neu aufgelegten bayerischen Breitband-Förderprogramm, wodurch der Freistaat bis
2014 Übertragungsgeschwindigkeiten von mindestens
50 Megabit pro Sekunde im Download und mindestens
2 Megabit pro Sekunde im Upload „in von Gemeinden
definierten Gewerbe- und Kumulationsgebieten“, wie
es in den Förderkriterien heißt, schaffen will. Allein
dafür stellt Bayern bis 2014 500 Millionen Euro zur
Verfügung; insgesamt beträgt die Fördersumme der
Bayerischen Staatsregierung 2 Milliarden Euro zur
Förderung von Breitbandnetzen der nächsten Generation in unterversorgten Gebieten Bayerns. Ich möchte
das SPD-regierte Bundesland sehen, das das hinbekommt - und zwar ohne neue Schulden!
Berechtigterweise macht sich die SPD - und ich
weiß, dass hier vor allem der verehrte Kollege
Dörmann der Vordenker bei Ihnen ist - Gedanken, wie
eine auch nach allen Maßnahmen fortbestehende
Stadt-Land-Kluft zu schließen ist, wenn der Wettbewerb versagt. Das kann und wird in weit entlegenen
Regionen der Fall sein, wo sich der Ausbau, ganz zu
schweigen vom Glasfaserausbau bis in die Häuser,
mittel- bis langfristig nicht rentiert für die Unternehmen, die dafür mehrstellige Investitionskosten in die
Hand nehmen müssen. Im Gegensatz zu so manchen
Kollegen der FDP, aber auch der CDU, mache auch
ich mir jetzt schon Gedanken, wie wir damit umgehen
müssen und welche gesetzgeberischen Maßnahmen
wir eventuell noch ins Spiel bringen müssen. Ich lade
den Kollegen Dörmann gerne ein, dass wir uns damit
noch einmal vertieft beschäftigen, wenn es denn so
Zu Protokoll gegebene Reden
weit ist. Aber jetzt müssen wir erst einmal abwarten
und beobachten, wie sich die Maßnahmen aus der
TKG-Novelle in der Praxis auswirken.
Für die SPD-Bundestagsfraktion ist es ein zentrales
wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Anliegen, die
enormen Chancen des Internets für alle zu sichern. Wir
wollen gewährleisten, dass alle Menschen, Unternehmen und Regionen Zugang zu einer leistungsfähigen
Breitbandinfrastruktur und zu allen Inhalten haben.
Einzelne Anbieter dürfen nicht diskriminiert werden
und müssen gleichberechtigte Möglichkeiten haben,
ihre Dienste und Anwendungen zu verbreiten. Es geht
uns dabei um Teilhabe, die Sicherung von Meinungsvielfalt, fairen Wettbewerb und die Wahrnehmung wirtschaftlicher Chancen.
Mit dem von uns vorgelegten und heute diskutierten
Antrag verfolgen wir im wesentlichen drei Ziele: Erstens wollen wir die Prinzipien von Netzneutralität und
Diskriminierungsfreiheit gesetzlich festschreiben.
Zweitens wollen wir Mindestqualitäten bei Breitbandverträgen sichern, auf die sich die Verbraucherinnen
und Verbraucher berufen können. Und drittens wollen
wir, dass schnelles Internet für alle endlich verwirklicht und der Breitbandausbau entschieden vorangetrieben wird.
Entsprechende Vorschläge haben wir bereits im Zusammenhang mit der Diskussion um eine Novellierung
des Telekommunikationsgesetzes im Jahr 2011 in den
Bundestag eingebracht. Leider hat sich die schwarzgelbe Regierungskoalition hartnäckig geweigert, unsere Vorschläge in das TKG mit aufzunehmen. Stattdessen hat man sich weitgehend darauf beschränkt,
europäische Vorgaben in nationales Recht umzusetzen.
Dies zeigt sich in besonderer Weise beim Thema
Netzneutralität. Statt Netzneutralität gesetzlich zu definieren und wirksam abzusichern, hat sich die Koalition
nur darauf verständigen können, die abstrakte Möglichkeit einer Rechtsverordnung durch das Bundeswirtschaftsministerium zu schaffen. Umgesetzt wurde eine
solche aber gerade nicht. Insbesondere die aktuelle
Debatte um ein neues Tarifmodell bei der Deutschen
Telekom AG zeigt, wie falsch es war, auf eine gesetzliche Festschreibung der Netzneutralität und konkretere
Befugnisse für die Bundesnetzagentur zu verzichten.
Die SPD-Bundestagsfraktion will die Gewährleistung von Netzneutralität als eines der Regulierungsziele im Telekommunikationsgesetz verbindlich regeln.
Der Begriff soll im Sinne einer grundsätzlichen
Gleichbehandlung und Diskriminierungsfreiheit bei
der Durchleitung von Datenpaketen unabhängig von
Inhalt, Dienst, Anwendung, Herkunft oder Ziel definiert werden. In der Sache geht es darum, das Verlangsamen, Benachteiligen oder Blockieren von Inhalten,
Diensten oder Anbietern ohne hinreichenden sachlichen Grund zu verhindern. Mobilfunk und Festnetz
sind dabei in der Frage der Netzneutralität gleich zu
behandeln, sofern nicht zwingende technische Gründe
ein unterschiedliches Netzwerkmanagement rechtfertigen.
Ein intelligentes Netzwerkmanagement kann auch
im Festnetzbereich im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher sein und stellt nicht zwangsläufig einen materiellen Verstoß gegen Netzneutralität dar.
Dies gilt allerdings nur, soweit es um das Ziel geht, die
Funktionsfähigkeit der Netze zu sichern, oder dafür zu
sorgen, dass zeit- und qualitätskritische Dienste auch
in Überlastungssituationen in der erforderlichen Qualität bei den Endkunden ankommen. Beispielsweise
wird heute bereits die IP-basierte Sprachtelefonie priorisiert, damit man ohne Störungen Telefonate über das
Netz führen kann. Entscheidend ist jedoch, dass das
sogenannte Best-Effort-Internet nicht zurückgedrängt
werden darf. Dessen Kapazität muss auch in Zukunft
wachsen und soll nicht von solchen Diensten ersetzt
werden, die vom jeweiligen Infrastrukturanbieter präferiert werden. Verhindert werden muss auch, dass
marktbeherrschende Unternehmen einzelne Anwendungen im Internet aus strategischen Gründen blockieren oder verzögern. Im Prinzip muss auch weiterhin jeder Inhalt frei im Netz verbreitet und abgerufen
werden können.
Diese aus unserem Antrag zitierten Grundsätze sind
für uns auch Leitlinien bei der Beurteilung des neuen
Tarifmodells der Deutschen Telekom AG im Festnetzbereich, das gerade aktuell sehr kontrovers diskutiert
wird. Vermutlich hätte die Telekom die Vorschläge in
dieser Form gar nicht vorgelegt, wenn es hierzu bereits eine klarere gesetzliche Regelung geben würde.
Obwohl sich formal fast jeder auf das Prinzip der
Netzneutralität beruft, besteht nämlich große Verunsicherung darüber, was darunter exakt zu verstehen ist,
etwa im Hinblick auf die Frage, wo genau die Grenzen
zwischen zulässigem Netzwerkmanagement und Tarifgestaltungsmöglichkeiten der Unternehmen einerseits
und deren Begrenzung durch die Gebote der Netzneutralität und Diskriminierungsfreiheit andererseits verlaufen. Hier würde eine gesetzliche Rahmensetzung
sowohl für Verbraucherinnen und Verbraucher als
auch Unternehmen mehr Rechtssicherheit schaffen.
Klar ist, dass letztlich die Bundesnetzagentur als
Regulierungsbehörde darüber wachen muss, ob die
gesetzlichen Regelungen im Einzelfall eingehalten
werden. Sie muss aber klare Kriterien vorgeben und
auch die Möglichkeit haben, wirksam gegen Verstöße
vorzugehen. Insoweit besteht eine Regelungslücke im
Gesetz und in der Praxis, die es zu schließen gilt. Neben verbesserten Befugnissen, konkret einzuschreiten,
wollen wir, dass die Bundesnetzagentur einen jährlichen Bericht an den Deutschen Bundestag zum Stand
der Netzneutralität in Deutschland erstellt. Nach unseren Vorstellungen sollen darin nicht nur festgestellte
Verstöße gegen Netzneutralität aufgenommen werden,
sondern auch Aussagen über die Qualität des Netzes
und die Sicherung von Best Effort und Mindestqualitäten. Dies würde die Unternehmen unter Zugzwang setzen, dafür zu sorgen, dass das Best-Effort-Internet erZu Protokoll gegebene Reden
halten und ausgebaut und nicht durch eine Vielzahl
von Managed Services ausgehöhlt wird.
Lassen Sie mich zur aktuellen Telekom-Debatte
noch Folgendes anmerken: Ich halte es unter Verbraucherschutzaspekten bereits für bedenklich, in welcher
Form dieser neue Tarif nun eingeführt wird. Wer heute
einen entsprechenden Vertrag abschließt, weiß noch
gar nicht genau, wie die Konditionen dann im Jahr
2016 oder 2017 aussehen werden, wenn diese Regelungen faktisch greifen, weil die technischen Voraussetzungen bis dahin erfüllt sein werden. Erst gestern
hat die Telekom die Bandbreite, auf die ab 2016 bei
Überschreitung eines gebuchten Volumens „gedrosselt“ werden kann, von lahmen 384 Kilobit auf 2 Megabit pro Sekunde angehoben. Es ist also aufgrund der
Verbraucherproteste einiges im Fluss.
Auch ist eine Vielzahl von Fragen offen, die für die
Beurteilung relevant sind, ob und inwieweit durch das
neue Modell der Managed Services Verletzungen der
Netzneutralität oder Beeinträchtigungen des Wettbewerbs vorliegen. Hier ist die Telekom aufgefordert,
möglichst schnell für weitere Transparenz und Klärung der Ausgestaltung zu sorgen. Und die Bundesnetzagentur muss endlich von ihren Befugnissen Gebrauch machen, durch eine Technische Richtlinie
Mindestqualitäten zu sichern.
Auch insoweit könnte die von uns vorgeschlagene
gesetzliche Regelung zu einer schnelleren Präzisierung und zum zusätzlichen Schutz von Verbraucherinnen und Verbrauchern beitragen. Besonders erwähnen
möchte ich in diesem Zusammenhang unseren Vorschlag, dass Unternehmen verpflichtet werden sollen,
ihren Kunden eine bestimmte Mindestbandbreite zuzusichern. Sollte diese nicht erreicht werden, wollen wir
den Kunden ein Sonderkündigungsrecht einräumen.
Dieser Punkt geht den leider verbreiteten Missstand
an, dass heute oftmals im Markt hohe Bandbreiten,
beispielsweise mit der Anpreisung „bis zu 16 Megabit
pro Sekunde“, beworben werden, die dann vielfach in
Wirklichkeit nicht erreicht werden.
Diese Problematik wurde durch eine kürzlich von
der Bundesnetzagentur vorgelegte Studie zur „Dienstequalität von Breitbandzugängen“ dokumentiert, die erhebliche Diskrepanzen zwischen vermarkteter und tatsächlich erreichter Bandbreite belegt hat. Auch diesen
Vorschlag hatten wir bereits bei der Novellierung des
TKG eingebracht, ohne dass er von der schwarz-gelben Mehrheit aufgegriffen wurde.
Wenn wir die Teilhabe von allen am Internet und
dessen Potenzialen sichern wollen, dann geht es nicht
nur um Netzneutralität und ein diskriminierungsfreies
Netz. Die Menschen müssen erst einmal den Zugang zu
schnellem Internet haben, um die dort verbreiteten
Dienste und Informationen überhaupt abrufen zu können. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb
seit langem dafür ein, schnelles Internet für alle endlich zu verwirklichen und den Breitbandausbau in
Deutschland deutlich zu forcieren.
Auch bei der Breitbandversorgung bleibt die Bundesregierung weit hinter ihren eigenen Ankündigungen
zurück. Alle in der Breitbandstrategie der Bundesregierung angelegten Ziele drohen zu scheitern. Gerissen wurde bereits das Ziel, bis Ende 2010 eine Versorgung mit 1 Megabit pro Sekunde flächendeckend
umzusetzen. Zwar wurden durch den LTE-Ausbau erhebliche Fortschritte gemacht. Das ist allerdings nicht
dieser Bundesregierung zuzuschreiben, sondern den
entsprechenden Frequenzbeschlüssen, die noch in der
Großen Koalition auf den Weg gebracht wurden. Zudem muss man heute im Hinblick auf die weitere technische Entwicklung konstatieren, dass eine Bandbreite
von 1 Megabit pro Sekunde zu kurz gegriffen ist. Allgemein anerkannt ist nach heutigem Stand der Technik,
dass eine flächendeckende Grundversorgung von mindestens 2 Megabit pro Sekunde sinnvoll ist, um die
heute mehrheitlich genutzten Dienste in angemessener
Qualität empfangen zu können. Insoweit bestehen
heute noch „weiße Flecken“, die nun schnell verbindlich geschlossen werden müssen.
Die Lücke ist übrigens größer, als es die Zahlen des
sehr ungenauen Breitbandatlasses ausweisen, der auf
freiwilligen, nicht überprüften Angaben der Unternehmen beruht.
Zur Absicherung einer flächendeckenden Grundversorgung fordert die SPD bereits seit längerem, eine
europarechtskonforme Universaldienstverpflichtung
mit einer bestimmten Bandbreite in das Telekommunikationsgesetz aufzunehmen. Für uns stellt heute der
Zugang zum schnellen Internet einen Teil der Daseinsvorsorge in der Informationsgesellschaft dar, auf den
die Menschen einen Anspruch haben. Mit der von uns
vorgeschlagenen Regelung sind zudem Wettbewerbsverzerrungen oder unverhältnismäßige Bürokratie
nicht zu befürchten. Es ist jetzt höchste Zeit, dass die
Menschen in allen Regionen schnelles Internet nutzen
können.
Von der Grundversorgung und einer entsprechenden Universaldienstverpflichtung zu unterscheiden
sind die weitergehenden Ziele der Bundesregierung im
Hinblick auf höhere Bandbreiten von mindestens
50 Megabit pro Sekunde, die mit anderen Mitteln umgesetzt werden müssen. Eine solche Bandbreite ermöglicht es, dass mehrere Teilnehmer in einem Haus
anspruchsvollere Anwendungen wie insbesondere
HD-TV und Video-Downloads nutzen können. Es ist
davon auszugehen, dass der Bandbreitenbedarf pro
Haushalt gerade durch verstärkte Nutzung solcher audiovisueller Dienste weiter deutlich steigen wird.
Deshalb brauchen wir eine dynamische Entwicklung beim Breitbandausbau und zusätzliche Investitionen in Hochleistungsnetze, insbesondere in den Ausbau
der Glasfasernetze. Auch bezüglich dieser Zielsetzung
droht die Bundesregierung bei ihren Vorgaben zu
scheitern. Der von der Bundesregierung selbst in Auftrag gegebene Zweite Monitoringbericht zur Breitbandstrategie hat ausdrücklich festgehalten, dass das
Ziel, bis Ende 2014 zumindest 75 Prozent der HausZu Protokoll gegebene Reden
halte mit einer entsprechenden Bandbreite zu versorgen, ohne zusätzliche Maßnahmen kaum zu schaffen
sein wird. Dies gilt erst recht für das weitergehende
flächendeckende Ausbauziel bis Ende 2018, wie auch
der soeben vorgelegte Dritte Monitoringbericht belegt.
Gerade diese zusätzlichen Maßnahmen bleibt die Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern schuldig.
Was Hochleistungsnetze angeht, ist die Situation in
Deutschland gespalten. In größeren Städten haben wir
einen funktionierenden Infrastrukturwettbewerb von
Kabelunternehmen und Festnetzbetreibern wie der
Deutschen Telekom. Aufgrund dieser Situation werden
die Telekom und andere Unternehmen demnächst
V-DSL mit der neuen Vectoring-Technik aufrüsten, sodass dort entsprechende Bandbreiten verwirklicht werden können. Es ist damit zu rechnen, dass dann etwa
zwei Drittel der Haushalte eine gute Versorgung mit
hohen Bandbreiten haben werden. Ein Viertel bis ein
Drittel der Haushalte werden jedoch von dieser Entwicklung abgehängt.
Deshalb müssen wir die politischen Rahmenbedingungen so setzen, dass bestehende Wirtschaftlichkeitslücken in der Fläche schrittweise geschlossen und zusätzliche Investitionsanreize gesetzt werden. Wir
schlagen hierfür in unserem Antrag einen Maßnahmenmix vor. Synergieeffekte müssen noch konsequenter genutzt und Rechts- und Planungssicherheit durch
eine innovations- und investitionsfreundliche Regulierung geschaffen werden. Auch eine effiziente Frequenznutzung und zusätzliche Möglichkeiten für mobiles Breitband können einen Beitrag leisten, wobei
Mobilfunk eine wichtige Ergänzung des Angebots darstellt, den weiteren Festnetzausbau aber keineswegs
ersetzt.
Notwendige zusätzliche private Investitionen könnten durch eine intelligente Förderpolitik stimuliert
werden, die Mitnahmeeffekte vermeidet und den optimalen Hebeleffekt für Unternehmensinvestitionen
setzt. Bestandteil eines solchen Gesamtkonzeptes sollten aus unserer Sicht beispielsweise ein KfW-Sonderprogramm sowie „Breitbandfonds“ sein, in die sowohl
institutionelle Anleger als auch Bürgerinnen und Bürger investieren können, um zusätzliche Gelder für den
teuren Ausbau von Hochleistungsnetzen zu mobilisieren. Denkbar wäre beispielsweise ein Modell, das Einzahlungen mit einem Aufschlag über den derzeitigen
Sparzinsen verzinst. Ich freue mich, dass Mitgliedsunternehmen des Branchenverbandes BREKO einen Investitionsfonds planen, der ebenfalls zusätzliches Kapital generieren soll. Nur mit solchen Initiativen und
dem von uns vorgeschlagenen Maßnahmenmix werden
wir eine dauerhafte regionale Spaltung verhindern nicht jedoch durch die weitgehende Beobachterrolle
der Bundesregierung.
Will man zum Abschluss dieser Legislaturperiode
der Bundesregierung ein Zeugnis in Sachen Netzpolitik
ausstellen, so kann man leider Folgendes konstatieren:
Beim Urheberrecht, dem Datenschutz und bei der Netzneutralität hat sie das Thema weitgehend verfehlt, die
Ergebnisse beim Verbraucherschutz und beim Breitbandausbau sind mangelhaft. Trotz dieser schlechten
Bilanz plädiere ich jedoch für die Versetzung des für
Telekommunikation zuständigen Ministers Rösler - allerdings in den Ruhestand. Ein Nachsitzen in der
nächsten Wahlperiode in derselben Position würde uns
netzpolitisch nur noch weiter zurückwerfen. Denn: Es
geht nicht um schöne Ankündigungen, es geht um Taten.
Die SPD will vor der Wahl noch einmal öffentlichkeitswirksam etwas für die Netzneutralität und die
Qualität von Breitbandverträgen tun. Ihr fällt aber
nichts Substanzhaltiges mehr ein - dieser Eindruck
entsteht beim Lesen Ihres Antrags. Sie schlagen in Ihrem Antrag einen bunten Blumenstrauß an Forderungen und Maßnahmen vor, die Ihrer Meinung nach das
Potenzial des Internets für die gesellschaftliche und
wirtschaftliche Entwicklung sichern und nutzen. In einigen Zielen sind wir uns teilweise ja sogar einig. Nur
was den Weg dorthin betrifft, unterscheiden wir uns
grundsätzlich. Wir alle wissen, dass der Erfolg des
Internets auf dem Grundsatz der Netzneutralität beruht. Die inhaltsblinde Gleichbehandlung aller Datenströme sichert Chancengleichheit und ist die Voraussetzung für die stetige Weiterentwicklung und Innovation
des Internets. Davon profitieren sowohl Gesellschaft
als auch Wirtschaft. Daher können und wollen auch
wir Liberalen, genau wie Sie, Verstöße gegen die Netzneutralität nicht dulden.
Leider ist nicht alles so einfach wie Sie sich das vorstellen - so nach dem Motto: Dann ändern wir das
Telekommunikationsgesetz halt wieder und alles ist
gut. Nein, wir müssen das Ganze ein wenig differenzierter betrachten. Dann fällt nämlich auf, dass es
schon viel früher Verletzungen der Netzneutralität im
Internet gab - Stichwort „Netzwerkmanagement“, beispielsweise im Rahmen der Internettelefonie. Dort ist
die prioritäre Behandlung von Datenpaketen durchaus
sinnvoll; ohne diese bevorzugte Behandlung würde
das Telefonieren über das Internet oftmals gar nicht
funktionieren. Bis dato wurde diese Praxis aber gar
nicht kritisiert; es schien, als würde sie sogar akzeptiert. Sie heißen diese ja auch gut. Offenbar gibt es in
Ihrer Welt also gute und schlechte Verstöße gegen die
Netzneutralität. Einer gesetzlichen Festschreibung der
Netzneutralität müsste aber eine allgemeingültige Definition des Prinzips zugrunde liegen. Diese existiert
augenscheinlich aber gar nicht. Ihr Vorschlag scheint
mir an dieser Stelle daher noch ein wenig unausgereift.
Mir stellt sich darüber hinaus die grundsätzliche
Frage, ob wir überhaupt weitere gesetzliche Regelungen zur Sicherung der Netzneutralität brauchen. Ich
bin davon überzeugt: Nein, die brauchen wir nicht.
Wir haben im gerade erst novellierten Telekommunikationsgesetz bereits entsprechende praktikable Maßnahmen festgelegt. Um die Innovationsfähigkeit des
Internets und die Ansprüche seiner Nutzer auch zuZu Protokoll gegebene Reden
künftig sichern zu können, vertrauen wir zunächst einmal auf die Kraft des freien Marktes. Dieser hat die
meisten Probleme bisher sehr gut von allein geregelt.
Dass der Markt die Sache selbst regeln kann, wurde
gestern wieder einmal bewiesen: Die Deutsche Telekom hat angekündigt, auf die „Sorgen der Kunden“ reagieren zu wollen und die für 2016 geplante Drosselung der Surfgeschwindigkeit zu entschärfen. Zukünftig soll die Geschwindigkeit bei Überschreiten des
festgelegten Datenvolumens statt auf 384 Kilobit pro
Sekunde nur noch auf 2 Megabit pro Sekunde gedrosselt werden und somit eine reduzierte Surfgeschwindigkeit bereitstellen, die über der in der Breitbandstrategie als Mindestrichtwert festlegten 1-Megabit-proSekunde-Grenze liegt. Sie sehen, es geht doch. Das ist
ein erster Schritt in die richtige Richtung. Und wir sind
zuversichtlich, dass das so weitergehen wird. Sollte die
Selbstregulierung des Marktes einmal nicht funktionieren, kann die Bundesnetzagentur immer noch regulierend eingreifen; dazu ermächtigt sie ja §41a Abs. 2 des
TKG.
Bevor irgendwelche Schnellschüsse - wie mal
wieder von der SPD - abgefeuert werden, prüft die
Bundesnetzagentur vernünftigerweise momentan erst
einmal, ob derzeit überhaupt Verletzungen der Netzneutralität in Deutschland vorliegen. Mittels einer
bundesweiten Messkampagne werden wir dann in
Kürze erfahren, ob und, wenn ja, welche Provider die
Netzneutralität einschränken. Das bietet uns die Möglichkeit, die Debatte zu versachlichen, zu schauen, mit
welchen Voraussetzungen wir es zu tun haben, und
dann entsprechend zu reagieren. Mit „entsprechend
reagieren“ meine ich, dass ich mich nicht grundsätzlich gegen eine spezifischere gesetzliche Regelung
sträube. Ich bin vielmehr der Meinung, dass wir wirklich gute und zielführende Instrumente im neuen Telekommunikationsgesetz verankert haben. Eine weitergehende Regulierung durch legislative Mittel sollte
also lediglich Ultima Ratio sein.
Stichwort „Transparenz“. Auch wir Liberalen halten die Transparenz zwischen Anbietern und Nutzern
für eine unbedingte Voraussetzung für das Funktionieren der Selbstregulierung des Marktes. Es darf im
Sinne der Interessenswahrung der Verbraucherinnen
und Verbraucher nicht sein, dass die von den Telekommunikationsanbietern mit „Bis zu“-Angaben beworbenen möglichen Übertragungsgeschwindigkeiten oftmals deutlich unterschritten werden. Leider passiert
dies viel zu oft. Dabei hat der Kunde einen legitimen
Anspruch darauf, am Ende auch das zu bekommen,
was er gekauft hat. Die Bundesregierung hat zu Beginn
dieses Jahres die Befugnis, Vorgaben für Transparenz
und Mindeststandards an Dienstequalität als Rechtsverordnung zu erlassen, auf die Bundesnetzagentur delegiert. Diese hat dann im Mai 2013 Eckpunkte zur
Förderung der Transparenz im Endkundenmarkt vorgelegt. Auf dieser Basis muss nun ein konstruktiver
Dialog mit den Anbietern, Fachverbänden und Interessenvertretungen der Verbraucher geführt werden. Im
Rahmen dessen sollen vor allem möglichst bald sachgerechte Lösungen bzw. ein einheitliches Konzept zur
Umsetzung der vorgeschlagenen Transparenzmaßnahmen erarbeitet werden. Das Ziel des Dialogs, nämlich
einen rechtlich verlässlichen Rahmen für die Endkunden zu gewährleisten, unterstützen wir ausdrücklich.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass
wir uns gegenüber gesetzlichen Regulierungsmaßnahmen nicht grundsätzlich sperren. Die FDP-Bundestagsfraktion ist jedoch davon überzeugt, dass es derzeit ausreichende Maßnahmen gibt, um flexibel auf
etwaige Verstöße gegen die Netzneutralität reagieren
und Qualität sowie Transparenz im Breitbandmarkt im
Sinne der Verbraucher sichern zu können. Im Hauruckverfahren jetzt eine Rechtsverordnung zu fordern,
ohne versucht zu haben, eine marktinterne Regelung
zu finden, entspricht nicht unserer liberalen Überzeugung. Das ist blanker Aktionismus. Wir Liberalen sind
zuversichtlich, dass im Dialog möglicherweise sogar
eine solche Lösung gefunden werden kann, ohne dass
die Politik regulierend eingreift.
Ein Sonderkündigungsrecht einzuführen, gehört
für uns ebenfalls in die Kategorie überaktionistisch
und regulatorisch überflüssig, zumal nach derzeitiger
Rechtslage - § 626 BGB - eine fristlose Sonderkündigung bei unzumutbaren Zuständen bereits möglich ist.
Unter anderem das Amtsgericht Fürth hat dies in einem Urteil aus dem Jahr 2009 bestätigt: Eine bereitgestellte, von der vertraglich vereinbarten massiv abweichende geringere Bandbreite stelle eine so erhebliche
Pflichtverletzung dar, dass der Kläger an seinem Vertrag nicht länger festhalten müsse. Das Sonderkündigungsrecht klingt für den Verbraucher zwar gut. Aber
sollte es nicht unser Ziel sein, die Dienstequalität von
Breitbandzugängen von vornherein sicherzustellen?
Wir vertrauen in diesem Sinne der Kompetenz der
Bundesnetzagentur und hoffen auf einen konstruktiven
Dialog.
Schließlich kommen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, mir wieder mit dem Universaldienst quasi als ‚Schmankerl‘ zum Schluss. Ich hatte gedacht
- oder vielmehr gehofft -, dass Ihnen die Entwicklungen seit der Novellierung des Telekommunikationsgesetzes gezeigt haben, dass unser Weg über den Wettbewerb der richtige war und ist, um schnelles Internet
flächendeckend für alle zu verwirklichen. Sie haben in
Ihrem Antrag doch selbst erwähnt, dass beim kostenintensiven Ausbau der Breitbandnetze grundsätzlich
auf wettbewerbliche Lösungen zu setzen ist. Die dazu
notwendigen regulatorischen Rahmenbedingungen hält
das novellierte Telekommunikationsgesetz bereit. Insbesondere der Technologiemix aus leitungsgebundenen und Mobilfunktechnologien ist hervorragend
geeignet, um eine flächendeckende Internetgrundversorgung sicherzustellen. Auch das investitionsfreundliche Klima, das wir schaffen konnten, wird den Breitbandausbau in unserem Land zukünftig entscheidend
voranbringen. Ich möchte Sie an dieser Stelle übrigens
darauf hinweisen, dass die Breitbandgrundversorgung
schon seit letztem Jahr Realität ist. Ein Universaldienst ist daher völlig überflüssig.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dass solche sozialistischen Zwangsverordnungen
nicht funktionieren, hat die Geschichte gezeigt. Haben
Sie den Bürgerinnen und Bürgern eigentlich gesagt,
welche negativen Folgen ein Universaldienst für sie
hätte? Bestimmt nicht. Dann will ich das gerne erneut
tun: Der Universaldienst würde den Steuerzahler rund
90 Milliarden Euro kosten und circa 10 000 Arbeitsplätze in der stark mittelständisch geprägten Telekommunikationsbranche bedrohen. Das konnten und wollten wir nicht riskieren, zumal wir wissen, wie es besser
geht. Und genau das ist der Grund, warum wir unsere
wettbewerbsorientierte, technologieoffene Telekommunikationspolitik auch in der kommenden Legislaturperiode fortsetzen werden.
Die Entscheidungen und Maßnahmen der FDPBundestagsfraktion waren - vor allem mit Blick auf die
Novelle des Telekommunikationsgesetzes - richtungsund zukunftsweisend. Und damit das so bleibt, werden
wir auch in der nächsten Legislaturperiode dafür sorgen, dass Freiheit und Wettbewerb im Markt erhalten
bleiben, für mehr Wachstum und Wohlstand in unserem
Land.
Netzneutralität ist derzeit ein heiß diskutiertes
Thema. Nachdem die Linke vor ein paar Wochen nicht
zum ersten Mal einen Antrag einbrachte, der konkrete
Maßnahmen für die gesetzliche Festschreibung der
Netzneutralität vorschlug, bringt die SPD nun einen
eigenen Antrag ein, der wortreich Ähnliches fordert.
Auslöser dieser Debatte war die Ankündigung der
Telekom, künftig nur noch Tarife mit einem Inklusivdatenvolumen anzubieten. Wenn eine bestimmte Datenmenge verbraucht ist, wird der Breitbandanschluss
deutlich gedrosselt. Die Empörung war zu Recht sehr
groß. Kritisiert wurde vor allem, dass die Telekom
manche Dienste von dieser Drosselung ausnehmen
will. Dazu gehören die telekomeigenen Dienste und
Dienste, die dafür zahlen, nicht auf das Datenvolumen
angerechnet zu werden und von der Drosselung ausgeschlossen zu bleiben. Das ist ein eklatanter Verstoß
gegen die Netzneutralität mit Folgen für das freie und
offene Internet, wie wir es kennen. Wenn andere Internetanbieter nachziehen, dann wäre dies der Beginn
eines Zweiklasseninternets. Die einen bekommen die
Basisfunktionen, die anderen, die es sich leisten können, den vollen Umfang des Internets. Die Leidtragenden? Das werden Menschen mit geringem Einkommen,
Familien und kleine Anbieter sein, die es sich nicht
leisten können, sich bei der Telekom eine Vorzugsbehandlung zu kaufen.
Nun konnten wir gestern von der Telekom vernehmen, dass sie die Kritik erhört habe und nun nicht
mehr ganz so stark drosseln wolle, wie bisher geplant.
Ich höre schon die Marktgläubigen jubeln, das mit den
Marktkräften scheine ja doch irgendwie zu funktionieren und die Telekom beuge sich nun dem Druck des
Wettbewerbs. Ich aber bin sicher: Die Telekom möchte
den Druck von der Politik nehmen, in der Hoffnung,
dass bloß niemand auf die Idee kommt, Netzneutralität
gesetzlich festzuschreiben. Denn diese verletzt die
Telekom immer noch, auch wenn sie weniger drosselt
als vorher angekündigt. Wir bleiben daher erst recht
bei unserer Forderung, dass Netzneutralität gesetzlich
festgeschrieben werden muss. Auch wir halten das
Telekommunikationsgesetz für den geeigneten Ort für
diese Festschreibung und eine Verordnung für absolut
unzureichend.
Neben der Netzneutralität thematisiert die SPD den
Breitbandausbau. Wir stimmen darin überein, dass
eine Teilhabe aller Menschen am Internet nur dann gewährleistet werden kann, wenn auch alle die Möglichkeit haben, Breitbandinternet zu nutzen. Wir meinen:
Jeder Haushalt muss ein Anrecht auf einen bezahlbaren, schnellen Breitbandinternetanschluss haben. Wir
fordern daher eine Universaldienstverpflichtung für
Breitbandinternetanschlüsse, die regelmäßig den aktuellen Entwicklungen angepasst wird und sich nach
den von der Mehrheit genutzten Merkmalen richtet.
Der Breitbandausbau in Deutschland ist allerdings
ein Armutszeugnis und zeugt von einer großen digitalen Spaltung zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Während die Breitbandversorgung in größeren
Städten kein Problem darstellt, gibt es auf dem Land
Gebiete, die noch immer komplett vom Breitbandinternet abgeschnitten sind. Ich brauche Ihnen kaum zu
sagen, was das für die betroffenen Menschen in der
heutigen Zeit bedeutet. Funktechnologien wie LTE
sind für uns keine Lösung dieses Problems. Die Tarife
sind viel zu teuer, und die Technologie ist viel zu störanfällig. Hinzu kommt, dass die Gefahr sehr groß ist,
dass aus dieser Zwischenlösung eine Dauerlösung
wird und der dringend notwendige Breitbandausbau in
ländlichen Regionen auf die lange Bank geschoben
wird.
Ähnlich skeptisch machen uns die Pläne von Telekom und Vodafone mithilfe von Vectoring die
Geschwindigkeit der veralteten Kupferleitungen zu erhöhen. Damit löst man die Probleme allerhöchstens
für kurze Zeit. Nur Glasfasertechnik bringt auch in
Zukunft die nötigen Geschwindigkeiten. Deshalb fordert die Linke klare Weichenstellungen für den Glasfaserausbau. Dabei muss die Überführung der Netze
in öffentliches Eigentum, das diskriminierungsfrei vermietet wird, erwogen werden.
Das freie und offene Internet kann nur erhalten bleiben, wenn Netzneutralität gesichert ist und wenn alle
Menschen die Möglichkeit bekommen, das Internet zu
nutzen. Liefern wir die Einhaltung der Netzneutralität
und den Breitbandausbau dem Gutdünken des Marktes
aus, wird das über kurz oder lang das Ende des freien
und offenen Internets bedeuten. Es ist daher an der
Zeit, endlich zu handeln!
Zu Protokoll gegebene Reden
Erst am 16. Mai 2013 haben wir das letzte Mal in
diesem Hohen Haus über die Notwendigkeit der gesetzlichen Wahrung der Netzneutralität diskutiert, damals auf Initiative der Fraktion Die Linke, heute auf
die der SPD, die zudem auch noch auf eine aktuelle
Studie der Bundesnetzagentur verweist und „zugesicherte Mindestqualitäten bei Breitbandverträgen
sichern“ sowie „schnelles Internet für alle flächendeckend verwirklichen“ will. Auch wenn die Vorschläge
teilweise nicht neu sind, so sind sie größtenteils, zum
Beispiel was die Etablierung einer leistungsfähigen
Breitbandinfrastruktur über eine Universaldienstverpflichtung angeht, durchaus zu begrüßen. Doch zurück
zur Netzneutralität.
An den Plänen der Deutschen Telekom, das Internet
ab einem bestimmten Datenvolumen zu drosseln und
gleichzeitig eigene Dienste zu priorisieren, hat sich
insgesamt kaum was verändert. Zwar hat die Deutsche
Telekom mittlerweile, nach einem wochenlangen
Druck einer engagierten Zivilgesellschaft, gewisse
Zugeständnisse gemacht; an der grundsätzlichen
Intention, zu schauen, wie weit man in Sachen Aushebelung eines der grundlegenden Prinzipien der digitalen Gesellschaft gehen kann, hat sich jedoch
- leider - nichts verändert. Den einzig konsequenten
Schritt, von diesen Plänen endlich Abstand zu nehmen,
hat die Deutsche Telekom bedauernswerterweise nicht
vollzogen. Sie wirft Nebelkerzen. Dass das Bundeswirtschaftsministerium darauf hereinfällt, vielleicht
auch darauf hereinfallen will, wundert mich ehrlich
gesagt nicht.
Die Pläne des Unternehmens, dessen Hauptanteilseigner noch immer der Bund ist, haben zu einer seit
nunmehr mehreren Wochen anhaltenden öffentlichen
Diskussion über eines der zentralen netz- aber auch
demokratietheoretischen Themen, die Netzneutralität,
gesorgt. Beinahe, aber eben nur beinahe, könnte man
der Telekom dankbar dafür sein, den öffentlichen
Fokus auf das Thema gelenkt zu haben, da heute auch
der Letzte weiß, dass eine Priorisierung der Daten
desjenigen, der mehr zahlen kann, problematisch ist.
Die Telekom hingegen hat in den letzten Wochen einen
massiven Imageschaden erlitten.
Derzeit liegen mehrere Petitionen gegen die Pläne
der Telekom und für die gesetzliche Wahrung der
Netzneutralität vor. Eine davon ist Gegenstand einer
öffentlichen Anhörung des Petitionsausschusses in der
nächsten Sitzungswoche. Als Grüne begrüßen wir sowohl die öffentliche Diskussion über eine der Schlüsselfragen unserer digitalen Demokratie als auch das
Engagement derjenigen, die die Petitionen gestellt
haben. Neben den knapp 80 000 Unterzeichnerinnen
und Unterzeichnern einer von Johannes Scheller an
das Hohe Haus gerichteten Petition haben sich noch
einmal knapp 200 000 Menschen an einer Petition von
Malte Götz bei Change.org beteiligt. Als grüne
Bundestagsfraktion möchten wir uns herzlich auch bei
denjenigen bedanken, die sie on- und offline unterstützen oder auf andere, sehr kreative Weise, ihren Missmut angesichts der Telekom-Pläne, aber auch eines
seit Jahren andauernden schwarz-gelben Nichthandelns zum Ausdruck gebracht haben.
Die von allen Oppositionsfraktionen seit langem erhobene Forderung, die Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben, um so ein Zweiklasseninternet, in dem die
Daten desjenigen bevorzugt werden, der mehr zahlen
kann, zu verhindern, muss - das haben die Pläne der
Telekom, sogenannte Managed Services, was immer
das genau sein soll, einführen zu wollen, deutlich gezeigt - endlich umgesetzt werden. Gleichzeitig haben
die letzten Wochen noch einmal verdeutlicht, dass die
von der schwarz-gelben Koalition vorgelegte Lösung
eben nur eine halbgare ist und Sie, meine Damen und
Herren, es nun Verbraucherzentralen, Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt überlassen, die Hausaufgaben zu machen, die zu erledigen eigentlich Ihre
ureigene Aufgabe gewesen wäre.
Dass selbst Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und FDP, sich nicht ganz sicher sind, was
Sie da eigentlich im Zuge der TKG-Novelle vorgelegt
haben, zeigt die Debatte vom 16. Mai 2013 ja eindrücklich: Während die einen Kolleginnen und
Kollegen der Koalitionsfraktionen, wie der geschätzte
Kollege Tauber, davon sprechen, dass „die christlichliberale Koalition“ das Prinzip der Netzneutralität
„längst gesetzlich verankert” habe, sprechen andere
Vertreter der Koalition, in diesem Fall der Kollege
Schulz, davon, dass man keine „Vorratsgesetzgebung“
brauche.
Sowieso wirkt so mancher Debattenbeitrag, meine
Damen und Herren der Koalition, so, als sei nicht ansatzweise erkannt worden, worum es bei der gesetzlichen Sicherung der Netzneutralität überhaupt geht.
Da charakterisiert der Kollege Nüßlein das Ansinnen
der Linksfraktion - gemeint ist eigentlich die gesamte
Opposition, die ja bereits vor Jahren entsprechende
Initiativen vorgelegt hat -, die Netzneutralität gesetzlich festzuschreiben, als „höchstwahrscheinlich aus
alten SED-Zeiten genetisch vererbt“. Da ist man geradezu dankbar, dass Kollege Nüßlein wenigstens erkennt, dass die Pläne der Telekom dazu führen könnten, den weiteren Ausbau zu bremsen. Auch gefreut
haben wir uns darüber, dass man sich, anders als noch
in der Enquete-Kommission, nun auch als Union dafür
einsetzen will, dass „Datenpakete im Internet gleichberechtigt und diskriminierungsfrei behandelt werden“. Weiter erkennt der Kollege, dass man, will man
die Netzneutralität wahren, die Netze weiter ausbauen
muss, damit die Anbieter nicht ständig mit Verweis auf
mangelnde Kapazitäten mit der Absicht um die Ecke
kommen, unterschiedliche Preisklassen einzuführen.
Recht haben Sie, Herr Kollege. Ich frage mich nur,
warum Sie dann den Netzausbau seit Jahren verschleppen und den Leuten immer noch Sand in die Augen streuen, wenn Sie sagen, dass es eigentlich gar
keine „weiße Flecken“ mehr gebe.
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiter wird vonseiten der Abgeordneten der Koalition darauf verwiesen, dass man in § 41 a TKG eine
„Rahmenregelung“, also offenbar doch kein Gesetz,
zur Netzneutralität geschaffen habe, nach der die
Bundesregierung ermächtigt sei, in einer Rechtsverordnung „gegenüber Unternehmen, die Telekommunikationsnetze betreiben, die grundsätzlichen Anforderungen an eine diskriminierungsfreie Datenübermittlung und den diskriminierungsfreien Zugang zu Inhalten und Anwendungen festzulegen, um eine willkürliche
Verschlechterung von Diensten und eine ungerechtfertigte Behinderung oder Verlangsamung des Datenverkehrs in den Netzen zu verhindern“. Hier stellt sich die
Frage, warum denn die Bundesregierung diese Karte,
wenn sie doch angeblich im Stande ist, auf die derzeitige Problemlage adäquat zu antworten, noch nicht gezogen hat, sondern stattdessen weiterhin zusieht, wie
die nächsten Anbieter sich auf den Weg machen, dem
Vorbild der Telekom zu folgen. Meine Damen und Herren der Koalition, ich hoffe, Sie merken wenigstens
selbst, dass Sie sich hier in Widersprüche ohne Ende
verstrickt haben.
Es ist doch so: Nicht erst nach der intensiven
Beschäftigung der Enquete-Kommission mit dieser
Thematik wissen wir, dass Verstöße gegen das Prinzip
der Netzneutralität - bislang vor allem im Bereich des
Mobilfunks - weit verbreitet sind und, um entsprechende Sperrungen vorzunehmen, heute auch auf
Techniken wie die „Deep Packet Inspection“ zurückgegriffen wird und der Druck der Provider, die Netzneutralität auch außerhalb des Mobilbereichs endgültig abzuschaffen, seit Jahren zunimmt. Die jetzige
Entwicklung - darauf machen wir Sie doch seit langem
aufmerksam - hatte sich über Jahre abgezeichnet. Obwohl wir Sie mit mehreren Initiativen, sowohl in Form
von Anträgen als auch Gesetzentwürfen, schon vor geraumer Zeit aufgefordert haben, sich - auch auf EUEbene - für eine gesetzliche Regelung einzusetzen und
nicht allein auf die Kräfte des freien Marktes zu vertrauen, haben Sie unsere Warnungen stets ignoriert.
Das rächt sich nun. Anlässlich der Diskussion über die
Pläne der Telekom und einen damit einhergehenden
Verstoß gegen das Prinzip der Netzneutralität wurde
auch dem Letzten bildhaft vor Augen geführt, dass Sie,
meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, in
diesem netzpolitisch, aber auch gesellschaftspolitisch
hochrelevanten Bereich mit ihrem Laissez-faire-Ansatz
krachend gescheitert sind. Fakt ist: Auch in diesem Bereich haben Sie eine gesetzliche Klarstellung gescheut
wie der Teufel das Weihwasser. Heute stehen Sie vor
einem Scherbenhaufen.
Während die Europäische Kommission, die sich
auch viel zu lange geweigert hat, sich dieses drängenden Problems endlich anzunehmen, in den letzten
Wochen wenigstens angekündigt hat, eine gesetzliche
Regelung, auf die wir nun alle mit Spannung warten,
vorlegen zu wollen, verharren Sie weiter unbeirrt auf
Ihrem Standpunkt. Dabei schreiben Sie in Ihrem eigenen schwarz-gelben Koalitionsvertrag, dass Sie „die
Entwicklung … sorgfältig beobachten und nötigenfalls
mit dem Ziel der Wahrung der Netzneutralität gegensteuern“ werden. „Spiegel Online“ kommentierte das
damals wohlwollend mit den Worten: „Für die Freunde
eines freien, innovationsfördernden Internets sind das
beruhigende Worte.“ Eine der letzten Überschriften
bei „Spiegel Online“ zu diesem Thema lautete: „Wie
die Telekom das Zwei-Klassen-Netz durchsetzt“. Die
Zeit, zu handeln, ist mehr als reif.
Wir fordern Sie, meine Damen und Herren der
Koalition, gemeinsam mit mehreren Hunderttausend
Menschen noch einmal dazu auf, endlich eine tatsächliche gesetzliche Regelung zur Sicherung der Netzneutralität vorzulegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13892 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind alle damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es nicht
glauben; aber es ist so: Wir sind damit um 0.48 Uhr am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
({0})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 14. Juni 2013, ein. Das ist
heute; aber wir müssen es trotzdem festhalten. Um 9 Uhr
findet die Sonderveranstaltung „Nationaler Gedenktag
17. Juni 1953“ statt. Aus diesem Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 10 Uhr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist geschlossen.