Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Vorweg will ich daran erinnern, dass 1988 durch einen Beschluss des Ältestenrates die Kinderkommission
des Deutschen Bundestages ins Leben gerufen worden
ist, sie also heute ihr 25. Jubiläum feiert. Diese Kinderkommission ist das weltweit erste parlamentarische Gremium, das sich speziell für die Interessen der Kinder und
Jugendlichen einsetzt. Durch ihre auf Einstimmigkeit
beruhende Arbeitsweise und den turnusmäßigen Wechsel im Vorsitz wird deutlich, dass sich die Fraktionen
über parteipolitische Grenzen hinweg für die Umsetzung
der kinderpolitischen Belange starkmachen. Der Bundestagspräsident wird dies bei der Festveranstaltung
heute Mittag deutlich machen. Dies vorweg.
Eine weitere Vorbemerkung: Nachdem gestern einige
Tagesordnungspunkte nicht verhandelt werden konnten,
wird heute nach der Geschäftsordnungsdebatte mitgeteilt, auf welche Weise heute die Tagesordnung verändert wird und welche Punkte heute debattiert bzw. abgestimmt werden.
Bevor wir in die eigentliche Tagesordnung eintreten,
müssen wir einen Geschäftsordnungsantrag behandeln. Die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die erste Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Gesetzentwurfs zur Gleichstellung der
Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Einkommensteuerrecht, Drucksache 17/12858, zu erweitern und heute als
letzten Tagesordnungspunkt mit einer Debattenzeit von
30 Minuten aufzurufen. Das Wort hat - wer von Ihnen
wird beginnen? - Kollege Oppermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern
hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Lebenspartnerschaften steuerlich nicht länger diskriminiert
werden dürfen. Sexuelle Orientierung darf kein Anknüpfungspunkt für Diskriminierung mehr sein.
({0})
Das ist ein großer Fortschritt. Viele Menschen in diesem Land freuen sich über diese Entscheidung; denn in
der Tat: Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund,
dass Lebenspartnerschaften, in denen Menschen füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen, steuerlich diskriminiert werden, nur weil sie das gleiche Geschlecht haben.
({1})
Wir wollen diese Entscheidung jetzt ganz schnell und
ohne weitere Verzögerungen umsetzen. Deshalb rufen
wir den im Bundesrat schon beschlossenen Gesetzentwurf auf. Wenn wir ihn heute auf die Tagesordnung setzen, dann können wir ihn heute in erster Lesung an die
Ausschüsse überweisen und diesen verfassungswidrigen
Zustand schon am nächsten Freitag endgültig beseitigen.
Deshalb bitten wir Sie um Zustimmung zu unserem Geschäftsordnungsantrag.
An die Adresse der Union möchte ich noch sagen:
Natürlich kann man sich politisch auch einmal irren;
aber Sie irren ja nicht, Sie haben sich jahrelang taub und
stumm gestellt, und jetzt sind Sie auch noch stur.
({2})
Sie sind in dieser Frage so oft mit dem Kopf gegen die
Wand gelaufen, dass es einem schon beim Zusehen wehgetan hat.
({3})
Sie haben den Anschluss an die Gesellschaft von heute
verloren. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sich diese
Gesellschaft weiterentwickelt hat.
({4})
75 Prozent der Deutschen sind für die Gleichstellung
von Ehe und Lebenspartnerschaft.
({5})
Ihre Verweigerungshaltung ist Ausdruck eines vormodernen Gesellschaftsverständnisses.
({6})
Aber es ist für einige von Ihnen auch eine Chance.
Denn wenn Sie unserem Antrag heute zustimmen,
({7})
dann wäre das der erste Schritt heraus aus der homophoben Parallelgesellschaft, in der einige von Ihnen jahrelang gelebt haben.
({8})
Sie haben auch den Anschluss an die Rechtsprechung
verloren. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sich das
Recht in Deutschland weiterentwickelt hat: vom rot-grünen Lebenspartnerschaftsgesetz bis zu den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes.
({9})
Es gab Urteile zur Gleichstellung bei der Altersversorgung.
Herr Kollege, Sie müssen etwas spezieller zur Geschäftsordnung sprechen und zur Begründung des Antrags, warum heute darüber debattiert werden soll.
({0})
Das mache ich. - Ich will noch ein zentrales Argument nennen, Herr Präsident, warum das Thema heute
auf die Tagesordnung gehört. Wir haben vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes: zur Gleichstellung bei der Altersversorgung, bei der Erbschaft- und
Schenkungsteuer, beim Familienzuschlag und bei der
Sukzessivadoption. Jetzt gibt es auch noch das Urteil
zum Ehegattensplitting. Stellen Sie sich nicht länger
quer. Das wäre eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichtes.
({0})
Stimmen Sie unserem Antrag zu. Dann können wir den
verfassungswidrigen Zustand schnellstmöglich beenden.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Michael Grosse-Brömer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn die Union eines nicht braucht, dann sind das
Belehrungen, welche gesellschaftspolitischen Auffassungen und Ansichten wir künftig vertreten.
({0})
Das werden die Bürgerinnen und Bürger spätestens im
September entscheiden.
({1})
Ich will Ihnen eines sagen. Mich erstaunt Ihr Jubel
über dieses Urteil. Dass Sie es dem Grunde nach begrüßen, kann ich gut verstehen, aber Sie müssen auch sehen,
dass dieses Urteil den Leuten aufgrund Ihrer politischen,
auch wahlprogrammatischen Überzeugung gar nichts
nutzt. Denn Sie wollen all das abschaffen, was den Leuten gerade zugesprochen wurde, nämlich das Ehegattensplitting.
({2})
Infolgedessen wäre ich da an Ihrer Stelle ganz zurückhaltend. Erklären Sie den Leuten einmal, dass ihnen dieses Urteil kein Stück nutzen wird, falls Ihr Wahlprogramm umgesetzt wird.
({3})
Ich will Ihnen noch eines sagen. Ehe und Familie
bleiben das Fundament dieser Gesellschaft. Das bleibt
die Grundüberzeugung der Union.
({4})
Daran wird das Urteil nichts ändern. Aber eines wird das
Urteil ändern.
Wir werden uns natürlich daran halten.
({5})
Die CDU und die CSU sind rechtsstaatlich orientierte
Parteien. Deshalb werden wir Urteile selbstverständlich
umsetzen.
({6})
Ich will Ihnen noch eines dazu sagen. Ja, wir hatten
dazu unterschiedliche Auffassungen. Ja, wir hatten dazu
exzellente Diskussionen. Ja, sie waren inhaltlich deutlich
kontrovers, aber immer stilvoll. Das kann man von Ihrer
Debattenkultur, als wir hier diskutiert haben, weiß Gott
nicht sagen.
({7})
Diese Ignoranz, die Sie hier den Kolleginnen und Kollegen entgegengebracht haben, die bei diesem Thema eine
andere Auffassung hatten als die Grünen, sucht ihresgleichen. Kommen Sie runter von Ihrem moralischen
Hochsitz!
({8})
Dieses Urteil hat die Debatte verändert.
({9})
- Ich bin immer noch nicht so laut wie der Kollege
Trittin gestern. - Durch dieses Urteil ist die Debatte bei
uns beendet. Es ist ganz klar: Wir machen jetzt das, was
wir von Anfang an gesagt haben,
({10})
nämlich dass wir das Urteil abwarten und dann umsetzen.
Jetzt kommt noch ein Punkt, in dem wir deutlich besser sind als Sie. Bei Ihnen geht es so: Sie meinen, wieder
einmal schnell Schaufensterpolitik machen zu müssen,
und fragen, welcher Antrag denn gerade in der Schublade liegt. - Da haben Sie nicht lange gesucht und einen
Gesetzentwurf vom Bundesrat gefunden. Sie haben diesen aber nicht durchgelesen.
({11})
Denn dann hätten Sie festgestellt, dass er diesem Urteil
gar nicht gerecht wird. Dadurch kann das Urteil gar nicht
eins zu eins umgesetzt werden, weil eine Rückwirkung
darin nicht vorgesehen ist.
({12})
Insofern ist Ihr Antrag nicht nur als Schaufensterantrag
zu deklarieren, sondern er ist auch in der Sache ungeeignet.
({13})
Sie können uns nicht übel nehmen, dass wir weder Ihrer unverantwortlichen populistischen Vorgehensweise
noch Ihrem Arbeitsstil - im Gegensatz zu uns arbeiten
Sie oberflächlich und wenig sorgfältig - folgen. Da machen wir nicht mit. Wir lehnen Ihren Antrag aus mehreren guten Gründen ab.
({14})
Das Wort hat nun Barbara Höll.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Ungleichbehandlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Ehe ist verfassungswidrig; das ist der
Stand. Sie selbst haben in Ihrem Koalitionsvertrag eine
Vereinbarung getroffen und gesagt, dass Sie eine einkommensteuerrechtliche Gleichstellung wollen. Nichts
haben Sie getan, nichts. Sie haben vor kurzem noch nicht
einmal dem Vermittlungsergebnis zugestimmt, als wir
Ihnen noch einmal den roten Teppich ausgerollt haben,
damit Sie sagen können: Ja, wir tun jetzt etwas. - Nein,
Sie haben sich bewusst entschieden, auf das Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zu warten.
({0})
Ich sage Ihnen: Sie haben damit mehrfachen Schaden
verursacht. Sie haben den Betroffenen gegenüber gesagt:
Es mag sein, wie es ist; das ist uns egal. Wir warten jetzt
erst einmal ab. Ihr bekommt nichts.
({1})
Sie haben damit aber auch uns und der Demokratie insgesamt geschadet.
({2})
Es kann doch nicht angehen, dass Sie Politik machen, indem Sie einerseits den Ultrakonservativen sagen:
„Macht nur, wir beschließen auf einem Parteitag, dass
das alles nicht geht; die eingetragene Lebenspartnerschaft ist nicht gut“, und andererseits sagen: „Wir warten
auf das Urteil. Wir wissen ja alle, wie es ausfallen wird.
Dann können wir den Ultrakonservativen sagen, dass
wir nicht anders konnten, und dann können wir den anderen sagen, dass das Thema jetzt durch ist.“ - Das ist
billige Taktiererei. Das hat doch nichts mit Politik zu
tun!
({3})
Sie haben damit zudem die Homophobie in der Gesellschaft befördert,
({4})
weil Sie immer wieder transportiert haben, dass „diese
Leute“ jetzt einen Antrag stellen sollen und dass sie es
nicht ganz so gut können. Seien Sie sich darüber im Klaren: Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Deshalb unterstützen wir natürlich den Antrag, heute, hier und jetzt,
die Tagesordnung zu ändern. Rückwirkung muss natürlich sein, und diese können wir hier im Parlament nach
den Ausschussberatungen beschließen. Das werden wir
auch tun.
Ich sage Ihnen: Sie tragen einen ideologischen Kampf
aus.
({5})
- Ja, ich sage Ihnen das. Es ist ein ideologischer Kampf,
den Sie hier vom Zaun brechen.
({6})
Wer sich die letzten Debatten zu diesem Thema angesehen oder die Redebeiträge nachgelesen hat, der hat
sehr wohl registriert, dass sich die CDU/CSU-Fraktion
entschieden hat, diejenigen Fraktionsmitglieder, die moderner denken, nicht zu Wort kommen zu lassen und
stattdessen Herrn Geis und andere, auch Frauen, reden
zu lassen, die hier Thesen von vorgestern vertreten haben. Das ist die Realität.
({7})
Ich sage Ihnen: Das Lebenspartnerschaftsgesetz war
sicher von Beginn an etwas schwierig konstruiert. Vereinbart waren zwar gleiche Pflichten, aber nicht gleiche
Rechte. Wir müssen dem Bundesverfassungsgericht
dankbar sein, dass es hier auch in der ständigen Rechtsprechung der letzten Jahre für Klarheit gesorgt hat.
Ich möchte ausdrücklich ein Dankeschön an die Beschwerdeführer und die beiden Rechtsanwälte aussprechen, an Herrn Rechtsanwalt Dirk Siegfried und die
Rechtsanwältin Maria Sabine Augstein. Letztendlich ist
es auch ihrer Beharrlichkeit, ihrer Klugheit zu verdanken, dass wir ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
bekommen haben. Ich finde, dafür haben sie einen Applaus verdient.
({8})
Wir werden natürlich dafür stimmen, dass die Ungleichbehandlung zwischen der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der Ehe beendet wird. Ich sage
aber gleichzeitig - das ist auch im Urteil nachzulesen,
das die historische Entwicklung hin zum Ehegattensplitting sehr detailliert aufführt -: Das Ehegattensplitting
steht natürlich zur Disposition. Wir müssen überlegen,
ob es noch zeitgemäß ist. Es wurde damals eingeführt,
um die Frau als Mutter und Hausfrau an das Haus und
den Herd zu binden. Das ist überholt. Wir brauchen eine
moderne Familienförderung und deshalb die Beseitigung
der Ungleichheit, jetzt und sofort, noch vor der Sommerpause. Lassen Sie uns dann in Ruhe überlegen, wie wir
unser Steuerrecht moderner und gerechter gestalten können.
Danke.
({9})
Das Wort hat nun Jörg van Essen für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
sollte hier eigentlich eine Geschäftsordnungsdebatte
sein.
({0})
Wir merken, dass sie missbraucht wird, indem daraus
eine allgemeinpolitische Debatte gemacht wird. Ich bedaure das sehr,
({1})
weil sich unsere Fraktion über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts natürlich in besonderer Weise freut.
({2})
Wir sind immer der Auffassung gewesen: Wer gleiche
Pflichten übernimmt, der soll selbstverständlich auch die
gleichen Rechte haben.
({3})
Es geht heute darum, wie wir mit diesem Urteil umgehen.
({4})
Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir das, was uns
das Urteil vorgibt, eins zu eins umsetzen - einschließlich
der Rückwirkung. Der Gesetzentwurf des Bundesrates,
der von der Opposition hier schnell hervorgeholt worden
ist, taugt dafür aber nicht.
({5})
Ich lege für meine Fraktion großen Wert darauf, dass
wir uns da nicht Nachhilfe vom Bundesrat geben lassen.
({6})
Wir müssen als Bundestag selbst klar Position beziehen,
was wir wollen.
({7})
Deshalb werden wir, wird die Koalition sehr schnell einen eigenen Gesetzentwurf mit unseren Vorstellungen in
den Bundestag einbringen.
({8})
Wir wollen, dass die erste Lesung bereits in der nächsten
Woche stattfindet.
({9})
In der darauffolgenden Sitzungswoche sollen die zweite
und die dritte Lesung stattfinden, damit ab diesem Zeitpunkt klar ist: Wer die gleichen Pflichten hat, hat in diesem Land selbstverständlich auch die gleichen Rechte.
({10})
Es verschlägt übrigens nichts, wenn der Gesetzentwurf eine Woche später verabschiedet wird. Steuern
werden nicht nach Tagen berechnet; maßgeblich ist das
Steuerjahr.
({11})
Es wird also niemand einen Nachteil davon haben, dass
wir ein sorgfältiges, vernünftiges parlamentarisches Verfahren durchführen. Wir als FDP sind dafür und werden
deshalb auch entsprechend abstimmen.
Vielen Dank.
({12})
Letzter Redner in der Geschäftsordnungsdebatte ist
Volker Beck.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern
war ein großer Tag für die Schwulen und Lesben in diesem Land, es war ein großer Tag für die Gleichberechtigung, es war ein großer Tag für unsere Verfassung.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Gleiche
Pflichten - gleiche Rechte; nur das ist fair, nur das ist
verfassungskonform. Das gilt für das Steuerrecht, und
das gilt für das Adoptionsrecht.
({1})
Seit zwölf Jahren blockiert die Unionsfraktion jeden
Schritt hin zur Gleichberechtigung der Lebenspartnerschaft,
({2})
angefangen beim Lebenspartnerschaftsgesetzergänzungsgesetz, in dem damals eine entsprechende steuerrechtliche Regelung enthalten war. Da ist Ihre Fraktion noch
nicht einmal zu den Sitzungen der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses gekommen. Herr van Essen kann
das bezeugen; er war nämlich zufällig ab und an da.
({3})
Beim Jahressteuergesetz haben Sie ein ganzes Gesetz in
die Luft gesprengt,
({4})
bloß damit Schwule und Lesben bei der Einkommensteuer weiter diskriminiert werden dürfen.
({5})
Seit Wochen blockieren Sie im Rechtsausschuss unsere
Gesetzentwürfe zur steuerrechtlichen Gleichstellung, zur
Gleichstellung beim Adoptionsrecht
({6})
und zu allen anderen Punkten, die die Justizministerin
heute zu Recht in der Passauer Neuen Presse angesprochen hat.
({7})
Unsere Gesetzentwürfe liegen seit Monaten, zum Teil
- beim Adoptionsrecht - seit Jahren im Rechtsausschuss. Sie blockieren die Debatte über diese Gesetzentwürfe.
Wenn man sich die Lebenspartnerschaftspolitik der
Unionsfraktion anschaut, muss man feststellen: Sie sind
notorische Verfassungsbrecher.
({8})
Sechs Mal hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht das
bescheinigt - von „rechtsstaatlich orientiert“, Herr
Grosse-Brömer, kann an diesem Punkt im Hinblick auf
Ihre Fraktion wirklich nicht die Rede sein -:
({9})
2009 bei der Hinterbliebenenversorgung, 2010 bei der
Erbschaft- und Schenkungsteuer,
({10})
2012 beim Familienzuschlag, dann erneut bei der
Grunderwerbsteuer - hier musste Ihnen das Bundesver30836
Volker Beck ({11})
fassungsgericht in diesem Jahr erneut einen Brief schreiben, dass Sie die Rückwirkung übersehen hätten;
({12})
das haben wir gestern in einem zweiten Schritt geheilt,
weil Sie ansonsten aus Karlsruhe erneut ermahnt worden
wären - und im Februar das Adoptionsrecht.
({13})
Meine Damen und Herren, Sie wollen es bei diesem
Thema weiter so treiben, wie Sie es immer getrieben haben. Sie müssen jedoch die Gleichstellung beim Adoptionsrecht genauso umsetzen wie die Gleichstellung
beim Einkommensteuerrecht.
({14})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zur Geschäftsordnung.
({0})
Ja. Das hätten Sie den anderen Kollegen auch sagen
können.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere -: „Unterschiede zwischen
Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft, welche die
ungleiche Ausgestaltung der Adoptionsmöglichkeiten
rechtfertigen könnten, bestehen nicht.“ Deshalb muss der
Bundestag in dieser Wahlperiode die vollständige Gleichstellung durchsetzen. Unsere Gesetzentwürfe dafür, die
Gesetzentwürfe von Rot und Grün, liegen dem Deutschen
Bundestag vor.
({1})
Blockieren Sie nicht mehr länger. Übrigens können Sie
auf Seite 8 des Bundesratsentwurfs auch die Rückwirkungsregelung finden. Wenn Sie den Entwurf gelesen
hätten, wüssten Sie das und würden hier nicht die Unwahrheit behaupten.
({2})
Lassen Sie uns jetzt mit den Beratungen beginnen, damit wir das Gesetzgebungsverfahren sorgfältig durchführen können. Gesetzentwürfe zu diesem Thema aus
dem Bundestag, Herr von Essen, gibt es im Rechtsausschuss wirklich genügend. Wir können auch einen Gesetzentwurf unserer Fraktion nehmen, um hier die vollständige Gleichstellung zu beschließen.
({3})
- Der Gesetzentwurf liegt im Rechtsausschuss. Sie setzen ihn seit Wochen jeden Mittwoch ab, statt dem Parlament die Möglichkeit zu geben, darüber endlich zu beschließen.
({4})
Beenden Sie die verfassungswidrige Diskriminierung
von Lesben und Schwulen, und pfeifen Sie vor allem
diejenigen in der Unionsfraktion zurück,
({5})
die das Nein zur Gleichstellung mit einer Diffamierung
der Lesben und Schwulen als Bürger zweiter Klasse, als
nicht zukunftsorientiert für diese Gesellschaft verbinden,
wie Katharina Reiche, Erika Steinbach oder Herr
Dobrindt. Von Ihnen, Herr Kauder, gab es auch ähnliche
Äußerungen. Lassen Sie das; damit schaden Sie dem gesellschaftlichen Zusammenhalt.
({6})
Bei der Gleichstellung geht es um mehr als um Steuern und Rechte. Es geht darum, dass Lesben und
Schwule nach jahrhundertelanger Verfolgung in diesem
Land endlich gleichberechtigt in der Mitte unserer Gesellschaft leben können und sich weder die Zoten von
Herrn Kauder anhören
({7})
noch die Benachteiligung durch den Gesetzgeber ertragen müssen.
Vielen Dank.
({8})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Aufsetzungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Aufsetzungsantrag ist damit mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der drei Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Wir kommen nun zur heutigen Tagesordnung. Inter-
fraktionell ist neu vereinbart worden, die heutige Tages-
ordnung nach dem Tagesordnungspunkt 49 - 16. Bericht
der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik 2011/2012 - um die Tagesordnungspunkte
zu erweitern, die gestern nach Aufhebung der Sitzung
nicht mehr behandelt werden konnten. Ausgenommen
sind davon die Tagesordnungspunkte 10 und 11, die vo-
raussichtlich am Mittwoch der nächsten Sitzungswoche
behandelt werden.
Die Redezeit für die ersten beiden Tagesordnungs-
punkte, also 47 und 48, soll auf jeweils etwa eine Stunde
verkürzt werden.
Nach Tagesordnungspunkt 49 rufen wir zuerst den
Tagesordnungspunkt 8 auf, bei dem wir gestern die Ab-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
stimmung noch nicht haben beenden können. Danach
folgen die Tagesordnungspunkte 13 bis Zusatzpunkt 17
in der Reihenfolge der gestrigen Tagesordnung. Es han-
delt sich dabei sämtlich um Tagesordnungspunkte, bei
denen die Reden zu Protokoll gegeben werden. - So weit
zur Änderung der heutigen Tagesordnung.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 47 a und 47 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Lage
der Freien Berufe
- Drucksache 17/13074 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Joachim Pfeiffer, Kai Wegner, Lena
Strothmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Martin Lindner
({1}), Claudia Bögel, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Freie Berufe - Wachstumstreiber in der Sozialen Marktwirtschaft
- Drucksache 17/13714 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind, wie
gerade besprochen, für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Hans-Joachim Otto für die Bundesregierung das Wort.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Geschichte der Freien Berufe in Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Das zeigt auch der von
der Bundesregierung vorgelegte Bericht über die Entwicklung der Freien Berufe in den vergangenen zehn
Jahren.
Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme können sich
wahrlich sehen lassen. Die Zahl der Selbstständigen in
den Freien Berufen wächst kontinuierlich und lag Anfang 2012 bei einem Rekordstand von knapp 1,2 Millionen.
Das Gründungsgeschehen wird zunehmend von den
Freien Berufen geprägt. Rund 21 Prozent aller Gründungen in Deutschland erfolgen durch die Angehörigen der
Freien Berufe. Dabei war selbst in den Krisenjahren,
also 2008 und 2009, kein Einbruch zu verzeichnen.
Auch als Arbeitgeber spielen die Freien Berufe eine
sehr wichtige Rolle. Hier sind knapp 3 Millionen Mitarbeiter sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind
rund 10 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland.
Zudem werden in diesem Bereich rund 125 000 Personen ausgebildet. Damit leisten die Freien Berufe einen
unverzichtbaren Beitrag zur Ausbildung von Fachkräften, aber auch zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit.
Die Angehörigen der Freien Berufe sind aber auch
über diese Erfolgszahlen hinaus von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Sie sind, wie der Name schon sagt,
frei und stehen für Selbstständigkeit, für Eigenverantwortung und für Kreativität - alles Werte, die in unserer
Gesellschaft in besonderer Weise gefragt, aber leider
nicht allzu weit verbreitet sind.
({0})
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Zu den
Freien Berufen zählen mitnichten nur die Rechtsanwälte,
Notare, Steuerberater und Ärzte. Die freien Kulturberufe
bilden mit 291 000 Angehörigen die größte Gruppe unter den selbstständigen Freiberuflern. Zu den Freien Berufen gehören aber zum Beispiel auch die Journalisten,
die Bildberichterstatter, die Dolmetscher, die Übersetzer
und sogar die Lotsen.
Wir sollten also fraktionsübergreifend ein Interesse
daran haben, diesen Berufsgruppen den Rahmen für ein
weiterhin erfolgreiches Wirken zu erhalten. Wir wollen,
dass die Freien Berufe ihre Erfolgsgeschichte auch in die
Zukunft fortschreiben können und weiterhin eine Schlüsselrolle in der modernen Dienstleistungsgesellschaft
spielen.
({1})
Die Bundesregierung schafft und sichert daher wachstumsfördernde Rahmenbedingungen für die Freien Berufe und den Mittelstand insgesamt. Dazu gehört die Sicherung des Fachkräftebedarfs; denn ohne qualifizierte
Mitarbeiter können sich freiberuflich tätige Unternehmen nicht weiterentwickeln. Das gilt besonders für das
Gesundheitswesen, das auf qualifizierte Ärzte und nichtärztliche Fachkräfte angewiesen ist, ebenso aber auch
für den Bereich der Ingenieure.
Die Bundesregierung hat hier mit dem Fachkräftekonzept und der vor einem Jahr gestarteten Fachkräfteoffensive eine Vielzahl von Maßnahmen angestoßen. Ich will
hier beispielsweise nur das Willkommensportal www.
make-it-in-germany.com für internationale Fachkräfte
und das Inlandsportal www.fachkraefte-offensive.de erwähnen.
Auch das Thema Bürokratieabbau ist für die Freien
Berufe wie für den Mittelstand insgesamt von großer Bedeutung.
({2})
Ich will hier nur zwei konkrete Beispiele nennen: Mit
der Abschaffung der Praxisgebühr zum 1. Januar 2013
wurden Ärzte und Zahnärzte erheblich von Bürokratie
befreit. Auch die Erleichterungen bei der elektronischen
Rechnung kommen den Freien Berufen zugute. Seit
2011 ist die elektronische Rechnung der Papierrechnung
gleichgestellt und eine qualifizierte elektronische Signatur nicht mehr zwingend erforderlich.
Zur Unterstützung von Gründungen im Bereich der
Freien Berufe bietet die Bundesregierung eine ganze
Reihe von Instrumenten an. Mit der Initiative „Gründerland Deutschland“ und der Gründerwoche stärken wir
die Gründungskultur und zeigen Chancen und Perspektiven für die unternehmerische Selbstständigkeit auf. Die
Beratungsförderung des BAFA erreicht auch die Freien
Berufe. Rund 23 Prozent aller Zuschüsse für Beratungen
zur Verbesserung des unternehmerischen Know-hows
gingen 2011 an Freiberufler. Damit flankieren wir Dynamik, Kreativität und Leistungsbereitschaft der Freien
Berufe und stabilisieren die erfreulich hohe Zahl von
freiberuflichen Existenzgründungen.
Die Freien Berufe sind mit ihrer Leistungsbereitschaft
und ihrem Verantwortungsbewusstsein eine entscheidende Säule unserer Marktwirtschaft.
({3})
Ihre Bedeutung wird künftig noch zunehmen; denn die
Nachfrage nach Vertrauensdienstleistungen von hoher
Qualität ist ungebrochen. Die Bundesregierung wird sich
daher auch weiterhin konsequent für wachstumsstärkende Rahmenbedingungen für die Freien Berufe einsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies war nach
19 Jahren Bundestagszugehörigkeit vermutlich meine
letzte Rede vor diesem Hohen Haus.
({4})
Ich bedanke mich für das konstruktive Miteinander in
diesen vielen Jahren. Ich wünsche dem Bundestag und
Ihnen allen persönlich eine erfolgreiche und gute Zukunft.
Herzlichen Dank.
({5})
Herzlichen Dank, Kollege Otto. - Nun hat das Wort
Andrea Wicklein für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist lange überfällig, dass wir uns hier im
Deutschen Bundestag mit der Lage der Freien Berufe befassen. Elf Jahre sind seit dem letzten Bericht vergangen.
Diese lange Zeitspanne wird weder der gesellschaftlichen noch der wirtschaftlichen Bedeutung der Freien
Berufe gerecht.
Warum sage ich das? Über 1 Million Freiberufler in
Deutschland erzielen gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen Jahresumsatz von sage
und schreibe 370 Milliarden Euro. Sie steuern 10 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Unter den rund
3 Millionen Beschäftigten befinden sich 125 000 Auszubildende. Jede fünfte Gründung in Deutschland erfolgt
im Bereich der Freien Berufe.
Diese Zahlen sind beeindruckend, aber dennoch können wir uns nicht zurücklehnen; denn die Freien Berufe
sind keine homogene Gruppe. Sie unterscheiden sich in
ihrer Zusammensetzung und unterscheiden sich dementsprechend auch in ihrer wirtschaftlichen Lage. Die durchschnittlichen Einkommen liegen laut Statistik zwischen
190 000 Euro für Notare und 15 000 Euro für freiberufliche Lehrer und Architekten. An diesen Zahlen sehen wir,
dass wir die Freien Berufe mit sehr unterschiedlichen Herangehensweisen unterstützen müssen.
Erstes Stichwort: Fachkräfte. Herr Otto, Sie haben einiges dazu gesagt. Fachkräfte sind ein wichtiges Thema,
auch für die Freien Berufe. Viele Berufsgruppen haben
schon heute mit dem Mangel an Fachkräften zu kämpfen. Auch hier macht sich der demografische Wandel
bemerkbar. Wir sehen in Ihrem Bericht, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Auszubildenden
rückläufig ist. Besonders bei den Hausärzten und im
Pflegebereich wird bereits jetzt ein großer Bedarf an
Nachwuchskräften festgestellt.
Auch bei den sogenannten MINT-Fächern gibt es eine
hohe Nachfrage, weil viele Ingenieure, Naturwissenschaftler und Mathematiker altersbedingt aus dem Berufsleben ausscheiden. Umso wichtiger ist es auch für
die Freien Berufe, die Fachkräftebasis zu verbreitern.
Die Potenziale sind da. Neben den Jugendlichen sind das
vor allem die Frauen, Migranten und Älteren. Da liegen
die Chancen. Da müssen wir ansetzen.
Beispiel Frauen. Der Anteil der weiblichen Auszubildenden liegt in den meisten freiberuflichen Ausbildungsberufen bei 95 Prozent. Insgesamt ist in fast allen Freien
Berufen eine Zunahme des Frauenanteils bei Selbstständigen zu verzeichnen. Wir brauchen also dringend, gerade auch für diesen Bereich, eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf und familienfreundliche Arbeitsbedingungen.
({0})
Auch hier geht das von Ihnen beschlossene Betreuungsgeld, meine Damen und Herren von der Koalition, in die
absolut falsche Richtung. Mit diesem Geld könnte man
wirklich Sinnvolleres machen. Statt Geld dafür auszugeben, dass Frauen zu Hause bleiben, sollten Sie es lieber
in die Tagesbetreuung investieren, damit Frauen eine
Chance haben, sich freiberuflich zu entfalten.
({1})
Unter dem Punkt „Bildungschancen für alle von Anfang an“ steht im Bericht der Bundesregierung:
Bund und Länder streben das Ziel der Halbierung
der Quote der Schulabgänger ohne Abschluss bis
zum Jahr 2015 an.
Aber wie? Das steht da nicht, übrigens auch nicht in dem
Antrag der Koalitionsfraktionen. Unterstützen Sie uns
dabei, das unsägliche Kooperationsverbot abzuschaffen.
Wir wollen, dass der Bund mehr in Bildung investieren
kann. Stimmen Sie der notwendigen Grundgesetzänderung zu, damit der Bund bei der Bildung endlich mehr
helfen kann. Wir haben bereits Anfang 2012 einen entsprechenden Antrag eingebracht. Aber diesen lehnen Sie
bis heute ab.
Beispiel Migranten. Laut einer Studie der OECD liegt
die Zuwanderung von Fachkräften in Deutschland deutlich unter dem Niveau vergleichbarer europäischer
Nachbarstaaten. Mit der verbesserten Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen ist ein erster wichtiger
Schritt getan. Aber das reicht noch nicht aus. In meinen
Gesprächen mit selbstständigen Unternehmerinnen und
Unternehmern wird eines immer deutlicher: Deutschland
braucht eine bessere Willkommenskultur. Damit meine
ich nicht nur die gesellschaftliche Akzeptanz ausländischer Fachkräfte. Wir haben die Situation, dass viele
Verwaltungen in weiten Teilen auf Migranten nicht vorbereitet sind. Die wichtigsten Formulare stehen nicht in
Englisch zur Verfügung. Zum Beispiel könnte die Einrichtung eines Lotsendienstes für die Migranten sehr
hilfreich sein. In der alltäglichen Erfahrung der Migranten gibt es jedenfalls noch viele Hürden, die nur mit den
Ländern und Kommunen in einer gemeinsamen Initiative abgebaut werden können. Auch in diesem Punkt
wünsche ich mir ein entschlosseneres Handeln der Bundesregierung.
({2})
Beispiel Ältere. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer haben die Potenziale älterer Beschäftigter längst
erkannt und eigene Initiativen gestartet. Weiterbildung
und Qualifizierung bleiben Voraussetzung für die Beschäftigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Auch deshalb werden wir von der SPD die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung
weiterentwickeln. Mit ihr wird berufsbegleitende Beratung und Qualifizierung - auch von Beschäftigten - ermöglicht.
All diese Maßnahmen würden auch der Fachkräftesicherung der Freien Berufe zugutekommen.
Ein weiteres Thema ist die soziale Lage von Freiberuflern. Dazu gibt der Bericht herzlich wenig her. Die
Freiheit, die sich in dem Begriff „Freie Berufe“ wiederfindet, bietet auf der einen Seite große Möglichkeiten,
Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung und der unternehmerischen Freiheit. Auf der anderen Seite bringt
diese Freiheit Risiken mit sich, vor allem wenn es um
die soziale Absicherung geht. Nicht alle Freiberufler haben sich aus freien Stücken für ihren Status entschieden.
Viele wurden in die Freiberuflichkeit gedrängt. „Trotz
Traumjob an der Armutsgrenze“, so titelte vor einiger
Zeit der Berliner Tagesspiegel und beschrieb exemplarisch die Situation eines freiberuflichen Journalisten, der
monatlich circa 1 000 Euro verdiente, und zwar brutto;
das ist kein Einzelfall. Rücklagen für das Alter sind da
einfach nicht drin.
Die Studie des Instituts für Freie Berufe in Nürnberg
weist darauf hin, dass es eine „nicht zu vernachlässigende Menge an Selbstständigen in Freien Berufen gibt,
die bei der Altersvorsorge Defizite aufweisen“. Auch im
Bericht der Bundesregierung wird zu Recht darauf hingewiesen, dass es eine der zentralen Herausforderungen
der nächsten Jahre sein wird, Konzepte zur Alterssicherung für Selbstständige zu entwickeln. Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Aber wo sind solche Konzepte?
Sie hatten vier Jahre Zeit, einen Vorschlag vorzulegen.
Unser Vorschlag dazu ist, Selbstständige ohne eine obligatorische Altersvorsorge in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Das würde das Armutsrisiko
im Alter effektiv reduzieren. Die gesetzliche Rentenversicherung würde darüber hinaus den Wechsel zwischen
Selbstständigkeit und Angestelltenverhältnis abdecken.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung zu
Recht dazu auf, die längst überfällige Leistungsreform
der Unfallversicherung in Angriff zu nehmen. Aber auch
zu diesem wichtigen Punkt fehlt nach wie vor ein konkreter Vorschlag.
Meine Damen und Herren, es gibt viel zu tun. Sie hatten vier Jahre Zeit, der von Ihnen zu Recht festgestellten
„Bedeutung der Freien Berufe in der modernen Dienstleistungsgesellschaft“ Rechnung zu tragen. Der von Ihnen vorgelegte Antrag wird dieser Bedeutung beim besten Willen nicht gerecht. Er bleibt vage. Er bleibt in
seinem Forderungsteil unambitioniert.
Wir hatten Sie in unserer Großen Anfrage zum Mittelstand gefragt:
Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um Freiberuflichkeit als Form der Arbeits- und Lebenszeitgestaltung in Deutschland zu
fördern und Freiberufler zu unterstützen? Welche
Ergebnisse wurden bisher erzielt …?
Ihre Antwort lautete: „Spezielle Programme zur Förderung freiberuflicher Tätigkeiten bestehen nicht.“ Damit ist alles gesagt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich wünsche Ihnen, Herr Staatssekretär Otto, eine
gute Zeit nach Ihrem parlamentarischen Leben. Alles
Gute!
({4})
Das Wort hat nun Kai Wegner für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die deutsche
Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren dynamisch gewachsen. Wertschöpfung und Erwerbstätigkeit lagen in
der deutschen Geschichte noch nie so hoch wie heute.
An dieser positiven Entwicklung haben die Freien Be30840
rufe einen ganz maßgeblichen Anteil. Egal ob als Arzt
oder Ingenieur, als Architektin oder Schauspieler, als Tagesmutter oder Rechtsanwältin - die Freien Berufe stellen eine wichtige und in ihrer Bedeutung weiter wachsende Säule unserer sozialen Marktwirtschaft dar.
Herr Staatssekretär Otto und auch Frau Wicklein haben die beeindruckenden Zahlen genannt, deswegen will
ich sie nicht wiederholen. Diese Zahlen zeigen eindeutig: Ohne die Freien Berufe wäre unser Land ärmer.
({0})
Wenn es die Freien Berufe nicht schon gäbe, dann
müsste man sie erfinden.
({1})
Lassen Sie mich an dieser Stelle - gerade aufgrund
der beeindruckenden Beschäftigungszahlen, gerade aufgrund der beeindruckenden Zahlen der Ausbildungsplätze, die die Freien Berufe zur Verfügung stellen und
damit vor allem jungen Menschen eine Zukunftschance
geben - ein ganz herzliches Dankeschön an die Freiberufler richten, die das ermöglichen. Herzlichen Dank!
({2})
Die Freien Berufe stehen für Eigeninitiativen, stehen
für Leistungsbereitschaft und für gesellschaftliche Verantwortung. Sie stehen für die Kultur des Unternehmertums. Die Freien Berufe verkörpern in besonderer Weise
die Ideale des selbstständigen Mittelstandes.
Liebe Frau Wicklein, Sie haben gesagt, es gebe viel
zu tun. In der Tat, es gibt immer viel zu tun, aber ich rufe
Ihnen zu: Wir haben die letzten vier Jahre in dieser
christlich-liberalen Koalition auch genutzt, um die Rahmenbedingungen für die Freien Berufe zu verbessern.
({3})
Lassen Sie mich einige Punkte nennen, zum Beispiel
den besseren Zugang zu Finanzierungsmöglichkeiten außerhalb der Bankenfinanzierung über die Mittelstandsförderung der KfW. Ich nenne Ihnen Steuerentlastung
und Steuervereinfachung, die wir für die Freien Berufe
umgesetzt haben. Ich nenne Ihnen ganz konkret Fördermaßnahmen, ich nenne die Modernisierung des rechtlichen Rahmens für Freie Berufe.
Frau Wicklein, ein wichtiger Punkt, den wir auch gern
beraten, ist der Bürokratieabbau. Er ist für die Freien Berufe wichtig. Wir hätten gestern gern über das Thema
Bürokratieabbau beraten. Im Antrag der SPD stand: Die
Bundesregierung wird beauftragt, das 25-Prozent-Nettoziel zu erreichen. Ich hätte es gestern gern schon gesagt:
Wenn Sie sich den aktuellen Bericht der Bundesregierung anschauen, werden Sie sehen, dass wir das erreicht
haben.
({4})
Mission erfüllt! Das 25-Prozent-Ziel beim Bürokratieabbau ist erreicht.
({5})
Davon profitieren auch der Mittelstand und die Freien
Berufe.
({6})
Wir haben viele Vereinfachungen umgesetzt: bei der
Finanz- und Lohnbuchhaltung, Fortschritte beim
E-Government, die Einführung der E-Bilanz, die elektronische Rechnung. Dies sind nur einige Beispiele, die
ich erwähnen will, durch die die Freien Berufe, aber
auch der Mittelstand erheblich profitieren. Nun können
die Freiberufler, statt über komplizierte und zeitaufwendige Verfahren zu brüten, endlich wieder ihrer Kernaufgabe nachkommen, nämlich Vertrauensdienstleistungen
für die Menschen in unserem Land auf vielfältigste
Weise zu erbringen. Das ist sehr viel wichtiger, als über
Bürokratie zu brüten.
Einen Punkt will ich in diesem Zusammenhang auch
nennen, da wir gestern darüber nicht mehr gesprochen
haben. Auch beim Bürokratieabbau warten noch viele
Aufgaben auf uns. Ich will hier nicht lange auf den Erfüllungsaufwand eingehen, aber lassen Sie mich Folgendes ansprechen: Ich wünsche mir, dass es alle mit der
Reduzierung der Aufbewahrungsfristen ernst meinen.
Mittlerweile diskutieren wir seit vielen Jahren in diesem
Haus über diesen Punkt. Sie, die SPD, haben die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen im Bundestag und Bundesrat abgelehnt. Ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück
hat noch im März erklärt, er sei für die Verkürzung der
Aufbewahrungsfristen. Selbst nachdem Herr Steinbrück
dies im März gesagt hat, haben Sie dies sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat abgelehnt. Sagen Sie den
Menschen, was Sie wollen. Unterstützen Sie Peer
Steinbrück bezüglich der Verkürzung der Aufbewahrungsfristen, oder blockieren Sie in diesem Bereich weiter? Setzen Sie durch, dass die Unternehmen mit
2,5 Milliarden Euro entlastet werden. Führen Sie Ihren
Kanzlerkandidaten nicht am Nasenring durch die politische Arena. Setzen Sie mit uns die Verkürzung der Aufbewahrungsfristen endlich um: für die Freien Berufe, für
den Mittelstand und für die Menschen in unserem Land.
({7})
Herr Steinbrück wollte Beinfreiheit, und nun ist er gefesselt im links-grünen Steuererhöhungskorsett.
({8})
- Ja, Herr Heil. - Wenn ich mir Ihre Steuererhöhungspläne anschaue, wird mir angst und bange. Sie haben
Maß und Mitte verloren. Sie sind weit nach links gerückt. Ihre Pläne gefährden Arbeitsplätze in Deutschland, gefährden die positive Entwicklung der Freien Berufe, gefährden das Erfolgsmodell der Freien Berufe.
Deshalb dürfen Sie nach dem 22. September nicht in die
Verantwortung.
({9})
Ja, nicht selten stehen Sie auch in großer Eintracht mit
den Linken. SPD, Grüne und Linkspartei wollen gerade
im Bereich der Freien Berufe bei der Gewerbesteuer
Hand anlegen.
({10})
Diese Koalition weiß, dass die Freiberufler unerlässliche
Leistungen der Daseinsvorsorge erbringen. Als Vertrauensberufe übernehmen sie besondere Gemeinwohlaufgaben. Sie stehen beispielhaft für wohnortnahe Versorgung, leisten Not- und Nachtdienste. Wir werden als
christlich-liberale Koalition nicht zulassen, dass sich die
Freien Berufe zukünftig nach Plänen von Rot-Grün und
Rot der Gewerbesteuer unterwerfen müssen.
({11})
Wir stehen an der Seite der Freien Berufe.
({12})
Deshalb können sich die Freiberufler auf diese Koalition verlassen. Wir stehen zu den Strukturen der Selbstverwaltung und den qualitätssicheren Berufsrechten;
denn das System mit seinem Miteinander von Berufskammern und Berufsverbänden hat sich bewährt. Die
Aufgabe der beruflichen Selbstverwaltung wird durch
die betroffenen Berufe sach- und praxisnah wahrgenommen. Das ist schlank. Das ist effizient. Das ist die beste
Lösung für Qualitätssicherung, für Verbraucherschutz
und für die berufliche Ausbildung.
Seitens der europäischen Institutionen wird das System der Selbstverwaltung regelmäßig hinterfragt. Lassen
Sie mich deshalb auch hier ganz klar sagen: Wir werden
nicht zulassen, dass das Erfolgsmodell der Selbstverwaltung durch eine bürokratische Behördenlösung gefährdet
wird. Wir treten dafür ein, den freiberuflichen Rechtsrahmen in Deutschland und in Europa zu sichern. Die
Freien Berufe sind das Scharnier zwischen Bürger und
Staat und eine der tragenden Säulen - der Staatssekretär
hat es gesagt - unserer sozialen Marktwirtschaft.
Die Koalition bekennt sich uneingeschränkt zu den
Freien Berufen. Wir haben die Rahmenbedingungen für
freiberuflich Tätige in den letzten Jahren konsequent verbessert. Wir werden das auch in Zukunft tun. Die Freiberufler können sich darauf verlassen, dass die christlich-liberale Koalition auch nach dem 22. September 2013 die
Erfolgsgeschichte der Freien Berufe in unserem Land
fortschreiben wird.
({13})
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir über Freiberufler sprechen, dann
sprechen wir über einen ganzen Katalog von Berufen,
die wenig gemeinsam haben, außer dass sie nicht der
Gewerbeordnung unterliegen. Das sind zum Beispiel
Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, hauptberufliche Sachverständige und Berater, Anwälte, Notare, Ingenieure,
Architekten, Ärzte, Heilpraktiker, Krankengymnasten,
Hebammen, Wissenschaftler, Journalisten, Übersetzer,
Künstler, Lehrer und Erzieher.
({0})
So verschieden sie sind, so verschieden ist auch ihre soziale Lage, und so verschieden sind die politische Bedeutung und der Gestaltungsbedarf.
Der Anlass für diese Debatte ist der Bericht der Bundesregierung zur Lage der Freien Berufe. Über die sozialen Unterschiede ist dort wenig zu lesen. Wir wissen allerdings, dass die Zahl der Selbstständigen unter den
Freiberuflern seit dem Jahr 2000 von 700 000 auf fast
1,2 Millionen angewachsen ist. Wir wissen auch, dass
die größte Gruppe davon - dazu gehören fast 300 000
Menschen - in freien Kulturberufen arbeitet. Das ist einerseits sehr schön, weil es viel Selbstverwirklichung ermöglicht und unsere Gesellschaft klüger, reicher und lebenswerter macht.
Leider finden sich gerade die freien Kulturberufe am
unteren Ende der Einkünfteskala. Freie Journalisten und
Pressefotografen zum Beispiel kommen im Schnitt auf
ein jährliches Einkommen in Höhe von 19 000 Euro.
Das sind gerade einmal 1 580 Euro im Monat. Übersetzer und Dolmetscher kommen auf 18 000 Euro im Jahr.
Menschen in künstlerischen Berufen kommen auf
16 000 Euro im Jahr; das gilt übrigens auch für die Heilpraktiker. Freiberufliche Lehrer kommen im Schnitt auf
gar nur magere 15 000 Euro. Das sind rund 1 250 Euro
im Monat für einen Beruf, der für die Entwicklung von
Kindern und Jugendlichen so bedeutsam ist.
Wie soll bei solchen Einkünften für das Alter oder für
den Krankheitsfall vorgesorgt werden? Wie soll zum
Beispiel für Weiterbildung gespart werden? Wer kann so
ganz ohne Polster eine Familie gründen und eine gute
Lebensperspektive entwickeln? Solche prekären Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse sind nicht
akzeptabel, weder für die vielen abhängig Beschäftigten
mit Niedriglöhnen und befristeten Jobs noch für die freiberuflich Selbstständigen.
({1})
Es ist nicht so, dass alle freiwillig und leichten Herzens in die Selbstständigkeit gegangen sind. Bei der außerschulischen Bildung zum Beispiel sind unheimlich
viele Stellen abgebaut und durch freie Mitarbeiter ersetzt
worden. Bei Zeitungen, Rundfunk oder Privatsendern
sind viele Stellen outgesourct worden, die früher feste
Beschäftigungsverhältnisse waren. Jetzt werden Freiberufler kostensparend für einzelne Aufträge eingekauft.
Es gibt in diesem Bereich aber noch nicht einmal feste
Honorarsätze.
Die Bundesregierung spricht in ihrem Bericht davon,
dass die Freien Berufe Wachstumsmotor der sozialen
Marktwirtschaft seien. Was ist denn daran sozial? Der
Unterbietungswettbewerb ist vorprogrammiert, weil die
Unternehmen vor allem gegenüber den freien Kreativen,
deren Existenz nicht gesichert ist, allemal am längeren
Hebel sitzen. Sie lassen diese Leute hängen. Dabei machen die großen Unternehmen in der IT- und Werbeindustrie sehr viel Gewinn, und zwar auf dem Boden, der
mit den Ideen und den Experimenten der freien Kreativen bereitet wurde. Sorgen Sie dafür, dass diese Konzerne sich nicht mehr ihrer Steuerpflicht entziehen können! Dann wäre schon sehr viel für mehr Gerechtigkeit
gewonnen.
({2})
Sorgen Sie für ein Urheberrecht, das die Kreativen,
die Schöpferischen, gegen die Enteignung durch die Internetkonzerne schützt und nicht die Internetnutzer gängelt.
Wenn Sie mit den Selbstständigen, die nicht gut verdienen, reden, dann stellen Sie fest: Ihre größte Sorge ist,
dass sie keine soziale Absicherung im Alter oder für den
Fall, dass sie irgendwann nicht mehr fit sind, haben. Das
muss sich ändern. Ihnen ist dieses Thema gerade mal
eine halbe Seite wert.
Dann schreiben Sie auch noch, dass viele Freiberufler
auf eine Alterssicherung verzichten, und werfen ihnen
vor, dass sie nachher der Gemeinschaft sozusagen zur
Last fallen. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Diese
Menschen verzichten nicht auf eine Alterssicherung; sie
können sie sich schlicht nicht leisten. Die Linke hat deshalb die solidarische Bürgerversicherung auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist sehr gut, dass dieses Konzept inzwischen von vielen Akteuren in verschiedener Weise
aufgegriffen wird. Es wäre wirklich eine vernünftige Alternative.
({3})
Alle Erwerbstätigen, ob selbstständig oder fest angestellt, würden einkommensabhängig Beiträge einzahlen.
Für diejenigen, die das Mindesteinkommen nicht erreichen, muss steuerfinanzierte Sicherheit hergestellt
werden. Durch eine solche Einbeziehung würden die
Selbstständigen Zugang zum kompletten Leistungspaket
der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung erhalten.
Wir wollen außerdem eine armutsfeste und sanktionsfreie Mindestsicherung, ein Grundeinkommen, das das
unwürdige Verarmungsprogramm ersetzt, das heute mit
Hartz IV verbunden ist und auch die Selbstständigen
trifft.
Einstweilen muss allerdings die Künstlersozialkasse
stabilisiert werden, die derzeit für viele die einzig finanzierbare Versicherung darstellt. Der Bundeszuschuss
müsste zumindest von 20 auf 25 Prozent erhöht werden,
damit das System nicht kollabiert.
Ein weiterer Problemfall müsste sofort gelöst werden:
Die sogenannten Selbstständigen müssen Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung erhalten, und zwar unter allen Umständen, weil viele schlicht von den Bedingungen der privaten Krankenversicherungen überfordert
sind.
({4})
Zu diesen Problembereichen ist in Ihrem Bericht
nichts zu lesen. Stattdessen lassen Sie sich lang und breit
über die Verbesserungen für Anwälte, Steuerberater oder
Wirtschaftsprüfer aus. Genau diese Gruppen sitzen aber
ohnehin am reich gedeckten Tisch, manchmal sogar am
Kabinettstisch. Ich erinnere an das wirklich lesenswerte
Buch Die Berater von Werner Rügemer, das inzwischen
vergriffen ist. Darin stellt er dar, wie ein Netzwerk hochdotierter Berater auf sämtlichen Ebenen der öffentlichen
Hand agiert und Privatisierungskonzepte verbrät.
({5})
Das könnten wir uns sparen.
Stattdessen könnten wir diejenigen unterstützen, die
zum guten Leben der ganzen Gesellschaft beitragen,
({6})
zum Beispiel die Hebammen. Ich erinnere daran, dass
2011 ein großer Aufschrei durch die Presse ging, als die
Hebammen mit tollen Aktionen auf ihre wirklich prekäre
Situation aufmerksam gemacht haben. Diejenigen, die
45 Stunden in der Woche arbeiten, bekommen 33 000 Euro
im Jahr, und sie müssen in ihrem Beruf sehr hohe Haftpflichtversicherungsbeiträge zahlen. Da fehlen nach wie
vor die Lösungen. Sorgen Sie dafür, dass Honorare und
Gehälter in dem Bereich auf einem Niveau sind, das der
hohen Verantwortung entspricht; das ist unser Vorschlag.
Ansonsten verlangen wir, dass soziale Sicherheit und
gerechte Einkommen für alle garantiert werden, so wie
es das Sozialstaatsgebot in unserem Grundgesetz vorsieht.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kerstin Andreae für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, uns allen ist bewusst, was wir an den Freien Berufen haben und welche Aufgaben und Potenziale hier
liegen. Deswegen wäre es interessant gewesen, zu lesen,
wie die Situation dieses Mal im Bericht analysiert wird
und welche Perspektiven der Antrag der Koalition benennt. Aber da wird wirklich mit Allgemeinplätzen gearKerstin Andreae
beitet und ein wolkenweiches Bild gezeichnet. Wir hätten von diesem Bericht mehr erwartet, im Übrigen auch
vom Antrag der Koalition. Sie schreiben im Antrag unter
dem ersten Spiegelstrich:
Der Deutsche Bundestag begrüßt:
- die Unterstützung durch die Bundesregierung für
freiberufliche Tätigkeiten in ihrer gesamten Bandbreite durch das Setzen effektiver Rahmenbedingungen.
Herr Wegner, Sie haben schon versucht, das eine oder
andere darzustellen; aber gehen wir doch einmal ins
Konkrete: Was haben Sie gemacht? Sie haben den Gründungszuschuss abgeschafft. Der Gründungszuschuss bot
ganz vielen, vor allem jungen Leuten, eine Riesenchance. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr
2000, als viele Unternehmen in die Insolvenz gehen
mussten, haben sich die jungen Leute, die Programmierer, ein Herz gefasst und sind in die Selbstständigkeit gegangen, als Webdesigner, als Konzepter, als Programmierer. Geholfen hat ihnen der Gründungszuschuss, weil
sie so sechs Monate lang den Rücken frei hatten, weil sie
nicht mit Aushilfsjobs versuchen mussten, irgendwie
über die Runden zu kommen. Der Gründungszuschuss
war eines der erfolgreichsten Projekte, die wir je hatten,
aber Sie haben ihn abgeschafft.
({0})
Was ist das Ergebnis? Im Jahr 2012 - zugegebenermaßen in einer wirtschaftlich schwierigeren Phase, die
aber lange nicht so schwierig wie 2009, 2010 oder 2011
war - haben deutlich weniger Menschen eine Firma gegründet. Die OECD bescheinigt uns: Deutschland fällt
bei der Gründungsdynamik zurück. Wir werden deshalb
den Gründungszuschuss wieder aufstocken und den Bereich Gründungsförderung ausbauen, weil dies für die
jungen Menschen in unserem Land dringend notwendig
ist.
({1})
Programmierer, aber auch Steuerberater und Architekten brauchen den Breitbandausbau. Er ist notwendig;
denn wie wollen Sie als Architekt, als Programmierer
vor Ort große Datenmengen transportieren, wenn Sie
keinen vernünftigen Breitbandanschluss haben? Wie
wollen Sie sich denn unter solchen Umständen ansiedeln? Das funktioniert nicht.
Der Wirtschaftsminister hat sich nicht um den Ausbau
der digitalen Infrastruktur in unserem Land gekümmert.
({2})
Er hat immer gesagt: Der Markt regelt schon den schnellen Internetzugang für alle. - Aber diese Situation ist
nicht eingetreten. Wir sagen: Jeder Haushalt braucht eine
gesetzlich garantierte Basisversorgung mit einem Breitbandinternetanschluss.
({3})
Es geht doch nicht, dass man von Buxtehude bis ins Alpenvorland teilweise noch im Modemzeitalter lebt. So
funktioniert das nicht mit Ansiedelung und Gründung.
({4})
Wir wissen: Die Freien Berufe sind nicht einfach nur
ein Wirtschaftszweig, sondern es sind Berufe, die eine
besondere gesellschaftliche Aufgabe haben. Genau dies
hätte die Bundesregierung in ihrem Bericht analysieren
müssen. Der Bericht ist eine Lobhudelei auf das Wirtschaftsministerium. Er ist das Papier nicht wert. Sie
müssen die Situation ein bisschen genauer betrachten.
Nehmen wir die Energiewende. Sie wird vor Ort entschieden. Es ist wichtig, dass wir Experten haben, die den
gesamten Lebenszyklus eines Projektes überwachen und
berechnen. Herr Wegner, Sie haben von Vertrauensdienstleistungen gesprochen. Genau darum geht es: Diese
Personen müssen unabhängig sein, man muss sich auf sie
verlassen können, sie müssen Fachkenntnis haben.
Es ist schon verwunderlich, dass ausgerechnet die
Teile der HOAI für Architekten und Ingenieure, über die
gerade diskutiert und im Bundesrat abgestimmt wird und
die von besonderer Umweltrelevanz sind, unverbindlich
bleiben: Bodenerkundung, Bodensanierung, Gebäudetechnik und alles, was mit Energieeinsparung zu tun hat.
Gerade in diesem Bereich, der so viel Zukunft hat, wäre
es doch sinnvoll gewesen, für die jungen Ingenieure Planungssicherheit und für die Verbraucher Kostensicherheit zu bieten, sodass jeder weiß, woran er ist. Nein, an
dieser Stelle haben Sie nichts gemacht. Sie sind unverbindlich geblieben, und das war ein ganz großer Fehler.
({5})
- Nein.
Jetzt kommen wir noch zu den Hebammen. Frau
Leidig, ich bin froh, dass Sie das Thema angesprochen
haben. Wir erinnern uns vielleicht - oder vielleicht auch
nicht -: Jeder von uns hat einmal mindestens eine gebraucht. Wir haben den Gesundheitsminister zum Jagen
tragen müssen, damit es überhaupt einen Bericht über
die Einkommenssituation und das Tätigkeitsfeld der
Hebammen gibt. Schon diesen Bericht wollte er nicht in
Auftrag geben.
Die Hebammen haben enorme Probleme mit den hohen Prämien für die Berufshaftpflichtversicherung.
({6})
Sie haben die Einkommenszahlen genannt. Die Hebammen sagen: Wir können unserem Job gar nicht mehr
nachgehen. - Was sagt die Bundesregierung? Sie sagt:
Bei der Berufshaftpflicht für Hebammen ist alles in Ordnung, es besteht kein Regelungsbedarf.
({7})
Ich sage Ihnen: Wenn Männer diese Jobs machen würden, dann hätten Sie schneller gehandelt, als Sie es jetzt
getan haben. Hier müssen wir etwas verändern.
({8})
- Ja, darauf muss man erst einmal kommen. Darauf muss
man auch eine Antwort haben.
Herr Otto, Sie haben die Kulturpolitik angesprochen.
Große, etablierte Institutionen wurden mit horrenden
Summen bedient. Repräsentative Häuser - Bayreuth,
Staatsoper Berlin, Humboldt-Forum, Elbphilharmonie verschlingen Millionen, aber Freiberufler - Sie haben darauf hingewiesen, wie viele im kulturellen Sektor tätig
sind - müssen sich durch Stapel von Anträgen durcharbeiten und jeden Bleistiftkauf begründen.
Diejenigen von uns, die in Kommunalparlamenten tätig waren, wissen, dass viele kleine Kulturschaffende um
jeden Euro Zuschuss kämpfen, damit sie ihr wichtiges
Kulturangebot auf die Beine stellen können.
({9})
Die große Mehrheit der Kulturschaffenden sind die Verlierer Ihrer Repräsentationspolitik.
({10})
Wenn Sie Freie Berufe einmal umfassend betrachten
würden statt nur die klassischen Ingenieurberufe, dann
wäre es aber auch notwendig, sich stärker auf die Situation dieser Berufe einzulassen und auch einmal darüber
nachzudenken, ob man nicht auch jungen Leuten Perspektiven bieten kann.
Herr Wegener, Sie haben die kommunale Wirtschaftssteuer angesprochen und gesagt, SPD, Grüne und Linke
wollten die Freiberufler in die Gewerbesteuer einbeziehen. Das ist richtig. Das ist ein Konzept, das im Übrigen
nicht nur wir haben, sondern das auch der Deutsche
Städtetag hat und das auch Ihre Oberbürgermeister haben, Stadt für Stadt, Gemeinde für Gemeinde. Das ist ein
Konzept, das Ihre Gemeinderäte vor Ort haben.
({11})
Sie sind doch total alleine in der Position, dass die
Freiberufler von der Gewerbesteuer ausgenommen werden müssen. Ich bin völlig einverstanden damit, dass wir
über Anrechnungen sprechen und überlegen, wie man
Gewerbesteuer und Einkommensteuer miteinander verrechnen kann.
({12})
Das ist im Übrigen etwas, das Rot-Grün gemacht hat.
Aber hören Sie auf, hier diesen Kampf gegen Windmühlen bzw. den Kampf gegen die Kommunen zu führen, und legen Sie ein Konzept vor, das Ihre Leute vor
Ort wollen. Dies wäre eben eine kommunale Wirtschaftssteuer.
({13})
Sie müssen zum Schluss kommen, bitte.
Ich komme zum Schluss. - Es ist ziemlich klar, was
diese Koalition in vier Jahren gegen die Freien Berufe
gemacht hat. Mir ist immer noch ein bisschen unklar,
was sie für die Freien Berufe gemacht hat.
({0})
Die Lektüre des Berichts hilft dabei im Übrigen nicht
weiter.
Ich möchte meine Rede aber auch damit beenden,
mich bei Herrn Otto zu bedanken. Wir hatten konstruktive Auseinandersetzungen, hart in der Sache, aber immer
sehr freundlich. Ich danke Ihnen für unsere Zusammenarbeit. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Martin Lindner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Ich
glaube, Herr Staatssekretär Otto hat sehr eindrücklich
dargestellt, was diese Koalition und die Bundesregierung in den letzten vier Jahren für die Freiberufler gemacht haben,
({0})
von verschiedenen Existenzgründermaßnahmen bis zum
Bürokratieabbau und dem Versuch, in der einen oder anderen Frage zu einer vernünftigen Anpassung der Gebühren zu kommen.
Aber ich glaube, an dieser Stelle ist es an der Zeit, zu
fragen, was die Freien Berufe von der Opposition zu erwarten hatten und haben. Sie blockieren im Bundesrat
unsere Initiative, die Aufbewahrungsfristen deutlich abzusenken.
({1})
Dr. Martin Lindner ({2})
Gerade das wäre für viele Freiberufler eine wirklich
wichtige Maßnahme zum Bürokratieabbau, um ihren Lageraufwand zu reduzieren.
({3})
Sie blockieren gerade im Bundesrat die Gebührenerhöhung für die Rechtsanwälte, die längst überfällig ist.
({4})
Sie haben uns vorhin vorgehalten, dass wir das Kooperationsverbot nicht lockern. Sie blockieren es doch
gerade im Bundesrat da, wo wir es abschaffen wollen,
nämlich im Bereich der Forschung.
({5})
Sie möchten für die Freien Berufe die Gewerbesteuer
einführen.
({6})
Die SPD hat das in dieser Legislaturperiode in ihrem
Antrag auf Drucksache 17/3996 gefordert, und auch der
Spitzenkandidat der SPD bei der Landtagswahl in Bayern, Ude, hat das in der Welt deutlich gemacht.
Sie von der SPD haben, als ich noch im Abgeordnetenhaus war, das Versorgungswerk für Psychotherapeuten
blockiert. Und Sie möchten mit einer Vermögensteuer
denjenigen, den Freiberuflern und Gewerbetreibenden,
die selbst für ihre Existenz vorsorgen müssen,
({7})
jede Maßnahme für eine vernünftige Altersvorsorge
wegnehmen.
({8})
Ich rechne Ihnen das einmal vor, weil das sonst immer wolkig bleibt: Ein Richter am Oberlandesgericht,
verheiratet, zwei Kinder, der in Pension geht, erhält zurzeit eine Pension in Höhe von 4 991 Euro, also rund
5 000 Euro - die gönne ich ihm von Herzen -, und zwar
aus der Besoldungsstufe R 2. Das heißt, er ist einmal befördert worden; er liegt nicht im Spitzenbereich.
Das sind 60 000 Euro im Jahr an Pension. Um als
Freiberufler, beispielsweise als Rechtsanwalt, auf vergleichbare Weise leben zu können, braucht man bei einer
Verzinsung von derzeit, vorsichtig geschätzt, 2,5 Prozent
einen Vermögensstamm von 2,5 Millionen Euro. Ist Ihnen das - bei Ihren Vermögensteuer- und Vermögensabgabeplänen - eigentlich bewusst? Jetzt sagen die Grünen, es gebe einen Freibetrag von 1 Million Euro. Dieser
Freibetrag aber wird um jeden Euro verringert, der diese
1 Million Euro übersteigt.
({9})
Das heißt, bei einem Vermögensstamm von 2,5 Millionen Euro haben die Freiberufler bei Ihnen null Freibetrag. Bei einer Vermögensabgabe von 0,5 Prozent nehmen Sie ihnen also jedes Jahr 12 500 Euro von den
60 000 Euro weg - diese Summe erhält, wie gesagt, ein
Richter am Oberlandesgericht bzw. Kammergericht, der
in Pension geht -, die sie haben müssten, um mit den genannten Richtern gleichgestellt zu sein. Das sind über
20 Prozent dessen, was sie aus dem Vermögensstamm
erwirtschaftet haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Haßelmann?
Selbstverständlich, gerne.
Herr Lindner, ich möchte Ihnen durch meine Zwischenfrage die Möglichkeit geben, wieder auf das
Thema zurückzukommen, nämlich die Lage der Freien
Berufe. Mich würde interessieren, was sowohl das Wirtschafts- als auch das Gesundheitsministerium, die beide
- noch! - in der Verantwortung der FDP liegen,
({0})
für die Verbesserung der Lebenssituation und der beruflichen Situation - vor allem geht es dabei um die Problematik der Versicherungssituation - der Hebammen getan
haben. Wir im Bundestag haben eine Petition dazu bekommen. Viele der Abgeordneten haben sich damit beschäftigt. Sie haben in Ihrer Regierungszeit nichts getan,
um die Situation der Hebammen zu verbessern. Das
heißt, überall müssen niedergelassene, selbstständig tätige Hebammen ihre Tätigkeit aufgeben und in Kliniken
arbeiten. Das kann nicht in unser aller Interesse sein.
Dazu habe ich, weil wir über Freie Berufe reden, konkrete Fragen: Was haben Sie denn konkret getan? Oder
warum haben Sie nichts getan? Das würde mich interessieren - und sicher viele Bürgerinnen und Bürger auch.
({1})
- Das ist mir völlig klar. Mir ist auch der Hintergrund
der Frage klar. - Es ist Ihnen von der Opposition einfach
unangenehm, wenn man Ihnen hier einmal Ihre eigenen
Parteitagsbeschlüsse und Wahlprogramme vorhält.
({0})
Deshalb wollen Sie über Hebammen reden. Wir können
gerne auch über die Hebammen reden.
Der Staatssekretär hat Ihnen sehr eindringlich vorgetragen, was wir tun.
({1})
Dr. Martin Lindner ({2})
Ich will das aber gerne fortsetzen; die Gelegenheit haben
Sie mir ja gegeben. Wir haben beispielsweise mit dem
Programm „Gründercoaching Deutschland“ eine finanzielle Förderung für externe Beratungsleistungen und
Coachingmaßnahmen zur Verfügung gestellt.
({3})
Mit der Initiative „Gründerland Deutschland“ stärkt die
Bundesregierung die Gründungskultur und gibt zusätzliche Impulse, um eine höhere Gründungsdynamik zu erreichen.
({4})
Das ist ein Teil einer etwa zehnseitigen Ausarbeitung,
von der ein Stück bezüglich dessen vorgetragen wurde,
was wir getan haben. Ich bin in meiner Rede jetzt bei
dem, was die Freiberufler von Ihnen zu erwarten haben.
Außer Restriktionen und Steuern hat man nämlich von
Ihnen gar nichts zu erwarten; und das ist Ihnen unangenehm.
({5})
Sie tun immer so - genau deswegen habe ich Ihnen
das vorgerechnet -, als würde das, was Sie da beschlossen haben, nur irgendwelche Multimillionäre angehen.
Tatsächlich geht es aber die Leute an, die selbstständig
gearbeitet, ihr Leben lang gebuckelt haben und nachts
nicht schlafen konnten, weil sie sich über ihre Kredite
Sorgen machen mussten. Die wollen Sie - was den Vermögensstand angeht, den sie nach mehrfacher Versteuerung erwirtschaftet haben - schleichend enteignen. Das
ist doch der entscheidende Punkt vor der Bundestagswahl.
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das führt mich zu dem Schluss, den Sie, Kollegin
Andreae, hier gezogen haben: Wir wissen alle, was wir
an den Freien Berufen haben. - Ja, und spätestens nach
Ihren Wahlparteitagen wissen die auch, was sie an Ihnen
haben und was sie an uns haben. Nur Masochisten unter
den Freiberuflern werden - das kann ich Ihnen sagen Rot-Rot oder -Grün wählen.
({0})
Das Wort hat nun Ingo Egloff für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich hatte gehofft, dass wir hier eine sachliche
Debatte über dieses Thema führen können. Diese Hoffnung hatte ich insbesondere nach den Ausführungen von
Herrn Staatssekretär Otto, dem ich auch für die Zukunft
von hier aus noch einmal alles Gute wünschen und bei
dem ich mich für die Zusammenarbeit bedanken möchte.
Die Rede von Herrn Lindner zeigt, dass hier einfach
Wahlkampf pur betrieben wird.
({0})
Ich will Ihnen, Herr Dr. Lindner, nur zwei Punkte sagen:
Erstens: Thema Gewerbesteuer. Es ist doch nicht einzusehen, warum ein Zahntechniker Gewerbesteuer zahlen muss und ein Zahnarzt nicht. Das müssen Sie
schlicht und ergreifend einmal erklären. Die Kollegin
Andreae hat recht: Die Finanzlage der Kommunen hat
auch etwas mit dem Gewerbesteueraufkommen zu tun.
Im Übrigen gibt es im Bereich der Gewerbesteuer und
der Einkommensteuer Verrechnungsmöglichkeiten - das
wissen Sie genauso gut wie ich -, die gerade den Freiberuflern zugutekommen würden.
({1})
Zweitens. Sie haben sich hier zur Altersversorgung
im Zusammenhang mit der Vermögensteuer geäußert.
Dazu sage ich Ihnen aus eigener Anschauung: Ich habe
18 Jahre lang in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt. Dafür werde ich im Alter ungefähr 800 Euro
bekommen. Ich werde genauso lange in das Anwaltsversorgungswerk einzahlen. Dafür werde ich 1 600 Euro
bekommen. Man kann sich natürlich den Kopf darüber
zerbrechen, warum die einen in dieser Art und Weise privilegiert sind und die anderen nicht. Ich glaube nicht,
dass der Anwalt an dieser Stelle das Problem ist.
({2})
Das Problem ist vielmehr - Kollegen haben es hier gesagt -: Andere Freie Berufe im Bereich des Journalismus, der Kulturindustrie etc. veranlassen uns dazu, uns
sehr viele Gedanken über das Thema Altersversorgung
zu machen.
({3})
Da werden wir in der Zukunft noch eine Menge zu tun
haben.
Lassen Sie mich zu zwei weiteren Punkten kommen.
Der eine ist die Frage der Rahmensetzung durch den
Staat, der zweite ist die Frage Europa.
Rahmensetzung durch den Staat, Stichwort „Gebührenordnung“ - es ist hier ebenfalls angesprochen worden -:
Natürlich ist die Vergütung für den Anwalt, den
Architekten, den Steuerberater von entscheidender Bedeutung, einmal für die Berufsgruppe selber, damit sie
ihr Einkommen sichern kann, aber auch für den Verbraucher, der Sicherheit verlangt, damit er weiß, was er bezahlen muss. Es gibt ein angemessenes Spannungsverhältnis zwischen dem, was der Staat festlegt, und der
sozialen Aufgabe, die erfüllt werden muss.
Das Problem ist nur, dass die Europäische Kommission genau an dieser Stelle ansetzt und die Gebührenordnung infrage stellt. Dazu sage ich sehr deutlich: Wir sind
aus Verbraucherschutzgesichtspunkten, aus Gründen der
Existenzsicherung der Freien Berufe, Anhänger dieser
Gebührenordnung. Wir sollten gemeinsam dafür sorgen,
dass die Angriffe der Europäischen Kommission auf die
Honorarordnungen zurückgewiesen werden.
({4})
Das Thema Hebammen ist hier schon mehrfach angesprochen worden. Freiberufliche Hebammen verdienen
durchschnittlich 20 000 Euro und müssen Haftpflichtversicherungsprämien von 4 500 Euro bezahlen. Diese
Zahlen zeigen schon, dass es hier ein Missverhältnis
gibt, das dazu führt, dass dieser Beruf freiberuflich nicht
mehr ausgeübt werden kann. Es ist unsere Verpflichtung,
hier tätig zu werden, und zwar aus unterschiedlichen
Gründen: Es geht nicht nur darum, diesen Beruf zu ermöglichen, sondern auch um die Versorgungssicherheit,
insbesondere in den ländlichen Bereichen. Es kann nicht
sein, dass Frauen in ländlichen Bereichen 150 Kilometer
fahren müssen, um ihr Kind zur Welt zu bringen, zumal
auch die Belegärzte von der gleichen Problematik betroffen sind.
Vonseiten der Regierung ist erst einmal eine Lösung
gefunden worden. Aber ich glaube nicht, dass wir am
Ende der Fahnenstange angekommen sind. Wir werden
über eine längerfristige Lösung reden müssen. Ich denke
dabei etwa an einen Ausgleich der Haftpflichtversicherung innerhalb der medizinischen Berufe, indem wir
privatwirtschaftliche Lösungen finden, die genau das gewährleisten: dass einerseits ein Freier Beruf weiter ausgeübt werden kann und dass andererseits angemessene
Versicherungsprämien gezahlt werden.
({5})
Thema Dienstleistungsfreiheit: Dienstleistungsfreiheit kann eine große Chance innerhalb der EU sein. Ich
denke, wir müssen aufpassen, dass diejenigen Dinge, die
sich bei uns bewährt haben, nicht kaputt gemacht werden. Dazu gehört das Selbstverwaltungssystem. Dazu
gehört das Thema Honorarordnung. Als Norddeutscher
weise ich auf Folgendes hin: Die Europäische Kommission versucht beispielsweise, bei einem jahrhundertealten Gewerbe wie dem Seelotsenwesen eine Liberalisierung zustande zu bringen, was am Ende nur dazu führt,
dass die Sicherheitsaspekte bei der Revierfahrt auf der
Elbe oder der Weser ausgeblendet werden. Das ist ein
Ansatz von Liberalisierung in einem Freien Beruf, der
völlig falsch ist und den wir deswegen ablehnen. Insofern sollten wir gemeinsam dafür sorgen, da, wo es nötig
und möglich ist, zu liberalisieren, aber da, wo wir bewährte Strukturen haben, diese zu erhalten. Wir sollten
gemeinsam dafür kämpfen, dass in bestimmten Bereichen der deutsche Sonderweg innerhalb der Europäischen Union anerkannt wird.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Stephan Mayer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Ich danke der Bundesregierung
ganz herzlich für die Vorlage dieses Berichts zur Lage
der Freien Berufe und möchte mich ganz persönlich bei
Ihnen, Herr Staatssekretär Otto, für die sehr vertrauensvolle und auch sehr konstruktive Zusammenarbeit in den
vergangenen vier Jahren bedanken. Sie haben sich wirklich in besonderer Weise für die Freien Berufe in
Deutschland eingesetzt und um sie verdient gemacht.
({0})
Ich möchte aber auch nicht unerwähnt lassen, dass
wir in unseren Reihen einen Kollegen haben, den Kollegen Rolf Koschorrek, der sich ehrenamtlich, als Präsident des Bundesverbandes der Freien Berufe, in besonderer Weise und sehr nachdrücklich für die Freien
Berufe einsetzt. Auch dies verdient meines Erachtens
Anerkennung und Respekt.
({1})
Ich möchte weiter dem Institut für Freie Berufe in
Nürnberg ganz herzlich danken. Es ist gut, dass es dieses
Institut, das einzige in Deutschland, das speziell die
Freien Berufe beleuchtet, nach wie vor gibt. Es hat mit
seinen Zahlen die wissenschaftliche Grundlage für den
Bericht geliefert, den wir heute debattieren. Die Zahlen
sind wirklich eindrucksvoll, und sie belegen, dass der
Stellenwert der freiberuflich Tätigen in unserer Gesellschaft außerordentlich groß ist.
Wir haben zum heutigen Tag so viele Freiberufler in
Deutschland wie noch nie zuvor, knapp 1,2 Millionen.
Diese beschäftigen über 3,1 Millionen Personen. Die
meisten davon, nämlich knapp 3 Millionen, sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Auch das, glaube ich,
sollte erwähnt werden. Es gab im Jahr 1991 - das nur
einmal als Vergleich - lediglich 1 Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Freiberufler sind also
Arbeitgeber, und zwar Arbeitgeber, die in den letzten
Jahren einen deutlichen Aufschwung erlebt haben und
dadurch auch mehr Mitarbeiter beschäftigen konnten.
Das ist gut für Deutschland; das ist gut für uns alle.
Die Freien Berufe leisten auch einen erheblichen Beitrag zu unserem Volkseinkommen. Jeder zehnte Euro,
der in Deutschland erwirtschaftet wird, wird von den
Freien Berufen erwirtschaftet. Auch dies verdient aus
Stephan Mayer ({2})
meiner Sicht große Anerkennung und den entsprechenden Respekt.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich, dass sich die
Freien Berufe in besonderer Weise um den Bereich der
Ausbildung verdient machen. Momentan gibt es 125 000
Auszubildende in Deutschland, die bei Freiberuflern angestellt sind. Jedes Jahr beschäftigen die Freiberufler
neu 43 000 Auszubildende. Das ist gut so.
({3})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, aus
meiner Sicht ist sehr wichtig, dass die Freien Berufe die
Garanten unserer sozialen Marktwirtschaft sind. Es gibt
vielleicht keine andere Berufsgruppe, die so sehr für das
Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft steht wie die
Freien Berufe. Die soziale Marktwirtschaft wurde nach
dem Zweiten Weltkrieg bei der Gründung der Bundesrepublik durch die Gründungsväter unseres Landes und
insbesondere durch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard
neu geschaffen, nicht einem planwirtschaftlichen kommunistischen Wirtschaftsmodell folgend, aber auch nicht
einem kapitalistischen Wirtschaftsmodell à la Manchester-Liberalismus folgend, sondern die beiden Modelle
vereinend. Ich glaube, die soziale Marktwirtschaft ist
etwas ganz Besonderes. Aus meiner Sicht steht keine andere Berufsgruppe so sehr für die soziale Marktwirtschaft wie die Freien Berufe.
Die Freien Berufe zeigen hohe gesellschaftspolitische
Verantwortung und übernehmen in vielfältiger Hinsicht
öffentliche Aufgaben. Es ist nicht so, dass jedes Mandat
eines Rechtsanwalts, das er über die Prozesskostenhilfe
abrechnen muss, kostendeckend ist. Nicht in jeder
Nachtschicht oder Wochenendschicht eines Apothekers
werden so hohe Umsätze generiert, dass der Apotheker
frohlockt. Auch Ärzte sind oftmals gefordert, Menschen
zu helfen, ohne dass sie dafür ein Honorar bekommen
können. Ich möchte weiter die Ingenieure und die Architekten erwähnen, die in herausragender Weise insbesondere auch im öffentlichen Bereich tätig sind, und da ist
die Vergütung oftmals nicht so wie in der Privatwirtschaft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Freien
Berufe sind ein beredtes Beispiel für unsere Kultur von
Unternehmertum und Leistungsbereitschaft. Die Leistungen in allen Freien Berufen, so heterogen und so vielfältig sie auch sein mögen, werden eigenverantwortlich
und höchstpersönlich erbracht. Der Bericht zur Lage der
Freien Berufe beweist sehr eindrucksvoll, dass die
Struktur, auch was das Einkommen und die Umsätze anbelangt, sehr heterogen ist. Es ist nicht so, dass man,
wenn man Freiberufler wird, automatisch zum Reichtum
verdammt ist. Ganz im Gegenteil: Es gibt große Unterschiede; das ist schon erwähnt worden. Und auch dies
gilt es, glaube ich, an dieser Stelle hervorzuheben: Viele
Freiberufler wählen ihren Beruf ganz bewusst nicht, um
Gewinnmaximierung zu betreiben, sondern um, vielleicht nicht zuletzt aus einem besonderen Altruismus heraus, der Gesellschaft, der Gemeinschaft zu dienen. Das,
glaube ich, verdient auch den Respekt unseres Hauses.
Ich glaube, dass die Freien Berufe in besonderer
Weise geeignet sind, ein positives und damit auch realistisches Bild vom Unternehmertum und vom Selbstständigen in unserer Gesellschaft zu zeichnen. Ich bedauere
es sehr, dass in manchen Teilen unserer Gesellschaft die
Unternehmer immer mehr als Ausbeuter und als Sozialschmarotzer betrachtet werden. Ich glaube, dass Freiberufler in besonderer Weise dazu beitragen können, in unserer Gesellschaft - das beginnt mit der Bildung in der
Schule - ein positiveres Bild vom Unternehmer und vom
Selbstständigen zu schaffen.
({4})
Ich kann Ihnen zusagen, dass wir als christlich-liberale
Koalition die Bundesregierung dabei unterstützen, dieses positivere Bild zu zeichnen.
Ich möchte auch erwähnen, dass wir die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen zur Novellierung der EUBerufsanerkennungsrichtlinie nachdrücklich unterstützen. Ich glaube, dass eine Novellierung, eine Neujustierung der Berufsanerkennungsrichtlinie zu einer Steigerung der Mobilität im Binnenmarkt beitragen kann. Die
vorgesehene Einführung von Berufsausweisen kann, so
glaube ich, einen wesentlichen Beitrag zur Entbürokratisierung und zur Verwaltungsvereinfachung leisten. In
diesem Zusammenhang ist aus meiner Sicht zu erwähnen, dass dies nicht zulasten der hohen Qualität der
Freien Berufe insbesondere in Deutschland gehen darf.
Das Thema Mindestpreisbindung und Honorarordnung ist schon erwähnt worden. Ich möchte nachdrücklich betonen, dass die Mindestpreisbindungen und die
Honorarordnungen bei den Freien Berufen, bei denen es
sie gibt - Rechtsanwälte, Steuerberater, Architekten, Ingenieure und Ärzte -, richtig sind. Sie dienen aus meiner
Sicht beiden Seiten, sowohl den Berufsträgern, den Freiberuflern, als auch den Kunden, den Verbrauchern.
Im Interesse der Freiberufler dienen sie aus meiner
Sicht dazu, dass ein ruinöser Wettbewerb verhindert
wird. Es ist nämlich nicht so, dass der junge Rechtsanwalt oder der junge Steuerberater, der gerade von der
Uni kommt und seine Arbeit aufnimmt, große Ansprüche gegenüber seinen Mandanten stellen kann. Wenn er
sich an einer Honorarordnung orientieren kann, die
zeigt, was seine intellektuelle Leistung wert ist, und er
seinem Mandanten diese Honorarordnung vorlegen
kann, dann verhindert dies aus meiner Sicht einen ruinösen Wettbewerb. Das steigert auch die Qualität der Leistung der Freien Berufe.
Auf der anderen Seite tragen Honorarordnungen und
Mindestpreisbindungen natürlich auch dazu bei, gegenüber dem Verbraucher für Transparenz zu sorgen. Die
meisten Bürgerinnen und Bürger bauen einmal in ihrem
Leben, wenn überhaupt, ein Einfamilien- oder ein Zweifamilienhaus. Sie sind nicht geübt im Umgang mit Architekten und Ingenieuren. Wenn es eine Honorarordnung gibt, die klar ausweist, wie viel die Leistung des
Architekten oder des Ingenieurs wert ist, dann bedeutet
dies Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Transparenz
für den Verbraucher. Deswegen kann ich die Bundesregierung nur ermuntern, bei den Verhandlungen über
Stephan Mayer ({5})
die Honorarordnungen auf europäischer Ebene nicht
nachzulassen.
Sehr wichtig ist auch, dass die freiberufliche Selbstverwaltung weiterhin aufrechterhalten wird. Die Freiberufler wollen nicht am Gängelband des Staates hängen.
Sie wollen unabhängig sein. Sie wollen selbst über ihre
Berufsausübungsregelungen entscheiden. Dies gilt es
weiterhin aufrechtzuerhalten. Ich darf die Bundesregierung nachdrücklich bitten, weiterhin stabile Rahmenbedingungen für die Altersversorgungssysteme der Freien
Berufe zu gewährleisten.
Es ist gut, dass es die Freien Berufe in Deutschland
gibt. Der Bericht zeigt eindrucksvoll, dass sich die Situation der Freien Berufe in Deutschland in den letzten zehn
Jahren insgesamt deutlich verbessert hat. Das liegt aus
meiner Sicht insbesondere an der sehr wohltuenden und
prosperierenden begleitenden Arbeit der christlich-liberalen Koalition, was die Rahmenbedingungen anbelangt.
Die Freiberufler in Deutschland können sich auf die
CDU/CSU und die FDP verlassen. Das Schlimmste, was
ihnen passieren könnte, wäre ein Regierungswechsel in
Berlin.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun Lars Klingbeil für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich darüber, dass wir heute in der Kernzeit über
die Situation der Freien Berufe diskutieren. Wir sehen,
dass die Bedeutung von Selbstständigen und Freien Berufen wächst. Das macht dieser Bericht sehr deutlich. Ich
will den Fokus auf den Bereich der Kreativwirtschaft legen.
Herr Staatssekretär Otto, ich will es gleich zu Beginn
sagen: Ich werde gleich das eine oder andere von dem,
was Schwarz-Gelb gemacht hat, negativ kommentieren.
Ich will Sie aber ausdrücklich erwähnen und Ihnen für
die Arbeit, die Sie geleistet haben, danken.
({0})
Wir wissen, dass Sie die Entwicklung der Kreativwirtschaft mit Leidenschaft vorangetrieben haben und immer ein wichtiger Ansprechpartner in der Bundesregierung waren. Herzlichen Dank für Ihr Engagement! Ich
wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute, auch im Namen der SPD-Fraktion.
({1})
Wir sehen, dass die Kreativbranche eine Zukunftsbranche ist. Wir sehen, dass es die Branche ist, die den
digitalen Wandel an vielen Stellen schon erlebt und gestaltet. Dort entsteht eine Avantgarde. Die Kreativwirtschaftsbranche ist auch eine Art Zukunftslabor für die
großen Trends, die unserer Gesellschaft noch bevorstehen.
Die Wachstumszahlen sind beeindruckend. Im Jahr
2011 gab es in diesem Bereich 244 000 Unternehmen
mit einem Umsatzvolumen von 143 Milliarden Euro und
mit 1 Million Erwerbstätigen. Das ist eine beeindruckende Bestandsaufnahme, die Sie in diesem Bericht
bringen, aber ich sage Ihnen auch, was fehlt: die Frage,
was eigentlich aus dieser Bestandsaufnahme folgt. Was
sind die politischen Folgen? Was hat Schwarz-Gelb in
vier Jahren für die Kreativwirtschaftsbranche geleistet?
Wenn wir uns das anschauen, sehen wir: Es ist nicht
viel passiert. Ich will Ihnen das an einigen Beispielen
deutlich machen. Wir sehen zum Beispiel, dass im Bereich der Kreativwirtschaftsbranche gerade das klassische Normalarbeitsverhältnis nicht häufig existiert. Wir
sehen hybride Erwerbstätigkeiten, einen ständigen Wechsel von selbstständiger zu abhängiger Beschäftigung. Wir
sehen einen wachsenden Anteil an Soloselbstständigen
und dass zum Beispiel auch im Bereich der Altersabsicherung große Probleme bestehen.
Schwarz-Gelb hat in vier Jahren auf die großen Herausforderungen, die im Bereich der Beschäftigung in
der Kreativwirtschaftsbranche bestehen, keine Antworten gegeben. Die Einkommen von Soloselbstständigen
sind häufig eher nicht existenzsichernd. Es gab keinerlei
Vorstöße für Mindesthonorare, für Mindestvergütung.
Herr Lindner, Sie haben sich hierhingestellt und so getan,
als ob alles besser geworden wäre, aber ich will daran erinnern: Ihre Koalition war es, die den Gründerzuschuss
abgeschafft hat. Das war ein wichtiges Instrument gerade
für den Bereich der Kreativwirtschaft. Hier haben Sie
viel Vertrauen kaputt gemacht.
({2})
Wir sehen, dass ein dynamischer Arbeitsmarkt des
21. Jahrhunderts nach wie vor auf einen Sozialstaat des
19. Jahrhunderts trifft und wir nicht ausreichend Antworten haben. Helmut Schmidt hat als Bundeskanzler
damals die Künstlersozialkasse eingeführt, um den Herausforderungen auch gerade des Kunstbereichs gerecht
zu werden. Gerhard Schröder hat als Bundeskanzler den
Bereich der Kultur- und Kreativwirtschaft zentral im
Bundeskanzleramt angesiedelt. Unter Angela Merkel ist
bisher nichts passiert. Das ist bedauerlich, weil dieser
Bereich ganz wichtig ist und gefördert werden müsste.
Ich nenne das Thema Urheberrecht. Darauf gehen Sie
von der Koalition auch in Ihrem Antrag ein. Dort heißt
es: Wir müssen jetzt beim Urheberrecht dringend etwas
machen. - Die Kanzlerin hat dies neulich bei der CDU
MediaNight auch festgestellt. Ich frage Sie: Was haben
Sie in vier Jahren beim Urheberrecht eigentlich gemacht? Nichts. Das ist die Bilanz. Wir haben nicht erlebt, dass der dritte Korb gekommen ist, der im Koalitionsvertrag angekündigt war. Wir haben nicht erlebt,
dass im Urhebervertragsrecht etwas getan wurde, um die
Kreativen zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie eine
bessere Entlohnung bekommen. Wir wissen doch, dass
Künstlerinnen und Künstler heute sagen, sie können
nicht mehr von dem leben, was sie schaffen. Sie wurden
von dieser schwarz-gelben Regierung im Stich gelassen.
Das ist die schwarz-gelbe Bilanz nach vier Jahren.
Die SPD-Fraktion hat gearbeitet. Wir haben mit den
Kreativen zusammen am Kreativpakt gearbeitet. Wir haben über zweieinhalb Jahre diskutiert. Wir haben unsere
Vorschläge zur Stärkung der Kreativbranche, zur Stärkung des Urheberrechtes hier im Parlament eingebracht.
Ich bin optimistisch, dass wir das Ganze ab September
mit den Grünen umsetzen können. Ich sage Ihnen: Dann
wird es der Kreativwirtschaft in Deutschland besser gehen, weil sie dann einen verlässlichen politischen Partner an ihrer Seite hat.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({3})
Das Wort hat nun Rita Pawelski für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Der irische Schriftsteller
George Bernhard Shaw hat einmal festgestellt: Freiheit
heißt Verantwortung. Deshalb wird sie von den meisten
Menschen gefürchtet. - Dieser Satz mag für viele stimmen, aber nicht für Selbstständige, nicht für Freiberufler.
Sie nutzen die Freiheit, übernehmen Verantwortung.
Dazu zählen Ärzte und Rechtsanwälte, Steuerberater und
Wirtschaftsprüfer, Architekten und Ingenieure, Künstler
und Kreative. Sie tragen Verantwortung für sich und unsere Gesellschaft. Ärzte stellen die gesundheitliche Versorgung sicher. Ingenieure sind die geistigen Eltern unserer Technik und unserer Autos. Wirtschaftsprüfer
sorgen für Transparenz und damit für das Funktionieren
der Gesamtwirtschaft. Architekten gestalten unsere
Städte und Gemeinden, unsere Infrastruktur und unsere
Landschaften. Anwälte sichern den Rechtsfrieden. Kulturschaffende und Kreative sorgen für ein buntes und
vielfältiges gesellschaftliches Leben.
Das zeigt: Die Freien Berufe lassen unser Gemeinwesen funktionieren. Ihre hochwertigen Leistungen sind
immens wichtig. Nicht zuletzt deshalb ist auch ihr Ansehen in der Bevölkerung hoch; die Allensbacher Berufsprestige-Skala bestätigt das jedes Mal aufs Neue. Seit
ihrem ersten Erscheinen 1966 ist der Arztberuf unangefochten Spitzenreiter der am meisten geachteten Berufe;
bei der letzten Umfrage 2011 sahen das 82 Prozent der
Deutschen so. - Übrigens: Jede dritte Arztpraxis ist mittlerweile in der Hand einer Frau, und es werden immer
mehr. - Der Ingenieur folgte mit 33 Prozent an der fünften, der Rechtsanwalt mit 29 Prozent an der siebten
Stelle. Was uns, meine Damen und Herren, zu denken
geben sollte: Auf dem drittletzten Platz der Liste finden
wir uns als Politiker wieder, geachtet von nur 6 Prozent
der Bevölkerung. Weniger Achtung erhalten lediglich
Banker und Fernsehmoderatoren, was jedoch von Letzteren in den Talkrunden weniger erkannt wird.
Die Freien Berufe sind nicht nur eine tragende Säule
unserer Gesellschaft, sondern auch Wirtschafts- und
Wachstumsmotor. Die Zahlen wurden hier schon sehr
häufig genannt; ich brauche sie nicht zu wiederholen.
Aber wie andere Bereiche auch wird die Zukunft der
Freien Berufe vom demografischen Wandel und von seinen Auswirkungen geprägt. Einerseits eröffnen sich
Chancen, neue Angebote für eine alternde und schrumpfende Gesellschaft zu entwickeln und anzubieten. Andererseits aber droht den Freien Berufen, gerade bei den
Ärzten und Ingenieuren, ein Fachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt hat errechnet, dass das gesamte Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis 2030 - das ist in
17 Jahren; es kommt aber schneller, als man manchmal
denkt - um bis zu 7,6 Millionen Menschen abnehmen
wird. Die Bundesregierung steuert dieser Entwicklung
entgegen und hat kluge Weichenstellungen vorgenommen. Das werden wir unter Bundeskanzlerin Angela
Merkel auch nach der Wahl weiter fortsetzen.
({0})
Wir brauchen eine Mobilisierung der Fachkräfte. Dazu
zählt ohne Frage auch, dass wir mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt, mehr Frauen in den Unternehmen, mehr
Frauen als Freiberufler brauchen. Gut ist, dass der Anteil
der Frauen unter den Selbstständigen in den Freien Berufen in den letzten 25 Jahren, also ab 1988, zugenommen
hat: bei den Tierärzten um mehr als 25 Prozentpunkte, bei
den Rechtsanwälten um 21 Prozentpunkte, bei den Zahnärzten und Ärzten um rund 16 Prozentpunkte, bei den
Apothekern um mehr als 10 Prozentpunkte. Aber, meine
Damen und Herren, wenn man sich alle Gruppen ansieht,
stellt man fest, dass auch hier leider der Grundsatz gilt:
mehr Geld - mehr Männer; weniger Verdienstmöglichkeiten - mehr Frauen.
Die Situation der Hebammen wurde eben angesprochen. Die Bundesregierung hat hier etwas getan. Es werden 30 Millionen Euro jährlich zur Verfügung gestellt,
um die Hebammen zu stärken. Aber ich sage ganz ehrlich: Das ist nicht genug.
({1})
Es kann nicht sein, dass eine Frau, die einen so unglaublich wichtigen Beruf für die Frau, für das neugeborene
Kind ausübt, im Schnitt einen Stundenlohn von 7,50 Euro
bekommt. Wir sollten uns alle ein bisschen schämen, dass
wir das so lange zugelassen haben.
({2})
Ich muss deutlich sagen: Das muss sich in der nächsten
Legislaturperiode ändern.
Also, liebe Frauen, es gibt noch Luft nach oben, auch
beim Verdienst. Wir müssen Frauen stärker ermutigen,
den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Darum,
liebe junge Frauen, die ihr Betriebswirtschaft, Jura, Sozialwissenschaften oder Medizin studiert und Superergebnisse erzielt: Habt keine Angst vor der Selbstständigkeit!
Ja, es stimmt: Der persönliche Einsatz ist hoch, der
Arbeitsaufwand enorm, und die soziale Absicherung
- Krankenkasse, Alterssicherung - muss selbst in Angriff
genommen werden. Das schreckt viele auf den ersten
Blick ab. Doch schaut genauer hin! Die freiberufliche Tätigkeit bietet unglaublich viele Chancen: fachliche Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, gesellschaftliches Ansehen, hohe Flexibilität, freie Wahl der Arbeitszeiten und
des Arbeitsortes. Zeigt Mut! Wagt den Schritt in die
Selbstständigkeit! Denn diese Freiheit, die Freiheit, die
eigene Chefin zu sein, sich die Arbeit frei einteilen zu
können, hat einen bedeutenden Vorteil: Sie schafft Freiräume, auch wenn es um die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf geht.
Übrigens: Beim Weg in die Selbstständigkeit erhalten
Frauen, wenn sie es möchten - - Eine Zwischenfrage,
Herr Präsident.
({3})
Bitte schön, Frau Fischbach. Wenn Ihnen schon das
Wort erteilt ist, will ich das nicht behindern.
Danke, Herr Präsident; ich vertrete Sie gerne.
Ich danke Ihnen sehr. - Frau Kollegin, ich habe eine
Frage. Sie haben gerade die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf angesprochen. Welche Ansatzpunkte und Hilfeleistungen hat die Bundesregierung geschaffen, damit
Frauen, die sich selbstständig machen wollen, Familie
und Beruf auch wirklich miteinander vereinbaren können?
({0})
Verehrte Kollegen, dass Frau Fischbach eine Frage
stellt, war nicht abgestimmt; aber ich beantworte die
Frage gerne.
({0})
Die Bundesregierung unter Angela Merkel hat wie
keine andere Bundesregierung vor ihr die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert.
({1})
Wir haben die Betreuung der unter Dreijährigen ausgebaut. Ab August gibt es einen Rechtsanspruch auf einen
Kitaplatz. Dieser Rechtsanspruch, der eigentlich von den
Kommunen und den Ländern erfüllt werden müsste,
wird vom Bund mit über 4,7 Milliarden Euro befördert.
Wir zahlen das Elterngeld, um den Einstieg in die Elternzeit finanziell abzufedern. Wir fördern die Teilzeitarbeit.
Teilzeitarbeit darf aber nicht zu einer Sackgasse, zu einem Karrierehemmer werden. Daher werden wir uns in
der nächsten Regierung dafür einsetzen, dass Mütter und
Väter - die ja auch zunehmend Teilzeit in Anspruch nehmen - einen Rechtsanspruch darauf bekommen, in die
Vollzeitbeschäftigung zurückzukehren, damit sie ihre
Karriere fortsetzen können. Angela Merkel ist die richtige Bundeskanzlerin für unser Land, und sie wird es ab
September für mindestens vier weitere Jahre bleiben.
({2})
Ich war gerade dabei, deutlich zu machen, dass die
Bundesregierung Frauen, die in die Selbstständigkeit
gehen wollen, unterstützt. Es gibt die „bundesweite
gründerinnenagentur“ mit einem entsprechenden Internetauftritt; sie hilft den Frauen auf dem Weg in die
Selbstständigkeit.
Meine Damen und Herren, wir müssen diese Chancen, diese Vorteile und diese Möglichkeiten der Unterstützung noch populärer machen, noch stärker transportieren. Nur so werden wir erreichen, dass mehr junge
Menschen - und gerade junge Frauen - den Schritt in die
Selbstständigkeit wagen.
Herr Präsident, ich bitte um eine halbe Minute Redezeit; denn das ist möglicherweise die letzte Rede, die ich
vor diesem Bundestag halte. Meine Damen und Herren,
ich war sehr, sehr gerne Mitglied dieses Bundestages.
Ich gehe freiwillig; ich gehe aber trotzdem schweren
Herzens. Ich bitte alle um Entschuldigung, denen ich irgendwann zu nahe getreten bin, und danke allen, die mir
geholfen haben.
({3})
Herzlichen Dank, liebe Kollegin Pawelski.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13074 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache
17/13714 mit dem Titel „Freie Berufe - Wachstumstreiber in der Sozialen Marktwirtschaft“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Jetzt teile ich mit, dass um circa 13 Uhr eine namentliche Abstimmung zu dem gestern verschobenen Tagesordnungspunkt 8 b - Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften - stattfindet.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 48 sowie Zusatzpunkte 18 und 19 auf:
48 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Globale Steuergestaltung verhindern - Regulierungsschlupflöcher stopfen
- Drucksache 17/13716 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 18 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Mai 2013
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und den Vereinigten Staaten von Amerika zur
Förderung der Steuerehrlichkeit bei internationalen Sachverhalten und hinsichtlich der
als Gesetz über die Steuerehrlichkeit bezüglich
Auslandskonten bekannten US-amerikanischen
Informations- und Meldebestimmungen
- Drucksache 17/13704 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 19 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Steuerzahlungen multinationaler Unternehmen transparent machen - Country-by-Country-Reporting in Deutschland einführen und
in Europa vorantreiben
- Drucksache 17/13717 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Peer
Steinbrück für die SPD-Fraktion das Wort.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 1 000 Milliarden Euro, so groß ist der Schaden, der jedes Jahr in der gesamten Europäischen Union
durch Steuerbetrug und durch sogenannte innovative
Steuervermeidung entsteht. 1 000 Milliarden Euro, das
ist eine Eins mit zwölf Nullen. Das sind 20 Prozent der
gesamten Steuereinnahmen und Sozialversicherungseinnahmen in den Ländern der Europäischen Union. Darüber reden wir heute. Das ist kein Randphänomen, das
ist keine Bagatelle, das ist schon gar keine lässliche
Sünde, und es ist auch kein Kavaliersdelikt, im Gegenteil: Das ist ein hochgiftiges Lösungsmittel, das den Zusammenhalt unserer Gesellschaft aufzulösen droht.
({0})
Es ist die Pflicht dieser amtierenden Regierung, den
systematischen Steuerbetrug und die legale Steuervermeidung, insbesondere von Großkonzernen, mit aller
Härte zu bekämpfen.
({1})
Denn das Geld fehlt für Kindertagesstätten, das Geld
fehlt für Verkehrsinfrastruktur, das Geld fehlt für eine
umfassende Pflegereform, das Geld fehlt, um Existenzgründung oder Existenzgründer zu fördern, das Geld
fehlt, um das Programm „Soziale Stadt“ wieder auszufinanzieren, um soziale Brennpunkte in Deutschland zu
vermeiden.
({2})
Ohne Steuerbetrug und ohne dieses Ausmaß auch an
legaler Steuervermeidung durch Großkonzerne, die das
Steuergefälle innerhalb der Europäischen Union ausnutzen, könnten die Steuern in der Tat niedriger sein, und
man könnte trotzdem mehr investieren in die wichtigsten
Zukunftsbereiche unseres Landes: Das ist Bildung, die
in Deutschland deutlich unterfinanziert ist; das ist eine
wirtschaftsnahe Infrastruktur, insbesondere auch mit
Blick auf die Breitbandverkabelung im ländlichen
Raum, vor allem für mittelständische Unternehmen; das
ist insbesondere eine Verbesserung der Finanzlage der
Kommunen. Man könnte vielleicht sogar nicht nur die
Neuverschuldung auf null bringen, sondern man könnte
einsteigen in eine Schuldentilgung. All dies wäre möglich, wenn wir sehr viel ehrgeiziger, sehr viel härter gegen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung vorgehen
würden.
({3})
Es ist die unabweisbare Pflicht des Staates, die Steuergesetze so durchzusetzen, dass alle Bürger, nicht nur
die Normalverdiener, die abhängig Beschäftigten - die
auf ihrem Gehaltskonto übrigens nur ihr Nettoeinkommen sehen, nachdem ihnen der Fiskus die entsprechenden Steuern schon mit dem Staubsauger weggenommen
hat -, die Steuern bezahlen müssen, die im Gesetzblatt
stehen.
Ihre Regierung, Frau Merkel, hat diese Pflicht verletzt. Über vier Jahre lang hat Ihre Regierung fein unterschieden zwischen den Millionen von Bürgerinnen und
Bürgern, die - wie gesagt - erst nach Zugriff des Finanzamts den Nettolohn auf ihrem Gehaltsstreifen sehen,
also den vielen, die ihre Steuern ehrlicherweise abgeführt haben, und offenbar denjenigen, die den Eindruck
haben, sie würden irgendwie über den Gesetzen dieses
Landes stehen und es sei quasi ein Kavaliersdelikt, wenn
nicht sogar eine Notwehrmaßnahme, am Fiskus vorbei
Geld ins Ausland zu schaffen.
({4})
Ihr eklatantestes Versagen - da spreche ich Sie persönlich an, Herr Schäuble - ist der Entwurf eines Steuerabkommens mit der Schweiz, das nur wegen der rot-grünen Mehrheit im Bundesrat gestoppt worden ist.
({5})
Statt auf den automatischen Informationsaustausch zu
drängen - übrigens mit einem gleichgelagerten Nachdruck, wie die USA es gemacht haben -,
({6})
sollte eine Steueramnestie verbunden werden mit einer
pauschalen Besteuerung.
({7})
Das heißt, es bestand sogar die Möglichkeit, über eine
pauschale Nachversteuerung sich günstiger zu stellen als
zum Zeitpunkt der Steuerpflicht in Deutschland. Das
wäre das Ergebnis Ihres Abkommens mit der Schweiz
gewesen.
({8})
- Dass Sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben,
dass Sie jetzt nach dem Fall Hoeneß und nach den jüngsten Recherchen über Steueroasen wissen, dass Sie insoweit ein Vakuum hinterlassen - mehr als das: dass Sie
dort versagt haben -, das kann ich sehr gut verstehen.
Gleichzeitig sollte nicht nur die Zahl der Fälle, die pro
Jahr in der Schweiz nachgeprüft werden dürfen, begrenzt werden, nein, viel mehr als das: Es sollte sogar
ein Verbot geben; die deutschen Behörden und insbesondere die Staatsanwaltschaften und die Steuerfahndung
sollten daran gehindert werden, Steuer-CDs aufzukaufen. So schamlos sollte in Deutschland noch nie Steuerbetrügern geholfen werden.
({9})
Sie waren es mit diesem Abkommen, die deutsche Behörden daran hindern wollten, über den Aufkauf von
Steuer-CDs das größte Druckmittel auszuüben, ein
Druckmittel, das eine größere Steuertransparenz und
Steuerehrlichkeit in Deutschland hergestellt hätte. Anschließend kommen Sie unter dem Druck der öffentlichen
Debatte auf die Idee: Wir wollen jetzt ein Steuer-FBI begründen. - Warum haben Sie denn nicht vorher gegenüber der Schweiz durchgesetzt, dass deutsche Staatsanwaltschaften und Steuerfahndungen in der Lage sind,
diesen Druck weiter auszuüben?
({10})
Wie war das denn eigentlich im letzten Jahr vor dem
Fall Hoeneß? Noch im August des letzten Jahres mussten wir uns doch von Herrn Schäuble anhören, es gibt
kein ernst zu nehmendes Argument gegen das Abkommen. Im Bundestag haben Sie unsere Ablehnung dieses
Steuerabkommens mit dem Ausdruck des Abscheus und
der Empörung als billige Polemik bezeichnet. Würden
Sie das heute noch einmal wiederholen, bitte?
({11})
- Dann sind Sie ja noch im selben Striemel drin wie damals.
({12})
Frau Merkel hat das Steuerabkommen noch kurz vor
Weihnachten als ein - ich zitiere - „richtiges und gutes
Steuerabkommen“ gelobt. Das Gegenteil ist richtig. Mit
dem deutsch-schweizerischen Steuerabkommen von
Frau Merkel und Herrn Schäuble wären Steuerbetrüger
im großen Stil davongekommen. Hätten Sie doch nur ansatzweise einmal den Druck ausgeübt, den amerikanische Regierungen und amerikanische Behörden auf die
Schweiz ausgeübt haben. Das wäre etwas gewesen, was
ich heute sogar gelobt hätte.
({13})
Herr Hoeneß hat im Frühjahr an den Focus geschrieben - nachvollziehbar und nachlesbar -, er habe die
„Angelegenheit“, womit er einen Steuerbetrug von mehreren Millionen bezeichnete, ursprünglich über das
deutsch-schweizerische Steuerabkommen regeln wollen,
das dann - Zitat von ihm - „bekanntlich Mitte Dezember
nicht zu Stande gekommen“ ist.
Was soll man dazu sagen? Das spricht doch für sich.
Herr Hoeneß hat auf Ihre Regierung, Frau Merkel und
Herr Schäuble, und auf Ihr Zitat, das sei schon ein richtiges und gutes Steuerabkommen, vertraut.
({14})
Er hat darauf vertraut, dass sein Steuerbetrug niemals
herauskommt. Das haben viele andere Tausend Steuerbetrüger übrigens auch.
({15})
Nach den Handelsblatt-Angaben geht es alleine im Fall
von Herrn Hoeneß um ungefähr 3 Millionen Euro. Einige schätzen sogar, dass es mehr als 3 Millionen Euro
sind.
Insgesamt belaufen sich die Steuerausfälle in
Deutschland allein aus Steuerbetrug auf jährlich circa
30 Milliarden Euro. Wenn ich die legale Steuervermeidung, der immer noch kein Riegel vorgeschoben worden
ist, hinzufüge, dann sind es insgesamt 180 Milliarden
Euro, die dem Fiskus und damit für die Finanzierung öffentlicher Aufgaben verloren gehen.
({16})
Nun ist die Frage: Was macht die Regierung von Frau
Merkel? Sie versucht, die Leute laufen zu lassen, und
wirft mir vor - namentlich auch Sie immer, Herr
Schäuble -, ich hätte mich mit dem Begriff „Kavallerie“
nicht sehr diplomatisch verhalten.
({17})
Hätten Sie doch bitte nur einmal eine ähnlich klare Sprache gefunden, eine Sprache, die bei der Bekämpfung von
Steuerhinterziehung nicht folgenlos bleibt.
({18})
Sie wollten elegant verhandeln und sich von demjenigen ein bisschen absetzen, der vorher eine klare Sprache
gefunden hat. Ich sage Ihnen: Diplomatie bei Steuerbetrug heißt, dass Sie immer noch davon ausgehen, das sei
ein Kavalierdelikt und deshalb müsste man sich diplomatisch verhalten. Das ist aber nicht der Fall.
({19})
Außer der Bundesregierung gibt es noch zwei weitere
Regierungen in Deutschland, die, wie Sie, Steuerbetrug
offenbar als Kavaliersdelikt ansehen, nämlich die
schwarz-gelben Regierungen in Hessen und in Bayern.
Nicht die SPD, sondern der Bayerische Oberste Rechnungshof hat festgestellt, dass es in Bayern - ich zitiere
wörtlich - zu „massiven Steuerausfällen“ kommt, weil
ein - ich zitiere wieder - „erheblicher Personalmangel“
besteht.
Bayern ist bei der Personalausstattung im Ländervergleich absolutes Schlusslicht. Laut Bayerischem Obersten Rechnungshof und nicht irgendwelcher ausgedachter
Zahlen meiner Partei fehlen in Bayern etwa 700 Stellen
bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Darüber
hinaus gibt es weitere 1 000 unbesetzte Stellen in anderen Bereichen der Steuerverwaltung in Bayern. Das hat
doch System! Das fällt jedenfalls auf.
({20})
Einerseits will Ihr Finanzminister, dass der Ankauf von
Steuer-CDs unterbunden wird, und andererseits betreibt
die CSU in Bayern eine systematische Personalunterbesetzungspolitik. Wer da nicht aufmerkt, der muss ziemlich eingeschlafen sein.
({21})
Aber auch das ist noch nicht genug; denn Sie drücken
nicht nur bei dem Steuerbetrug beide Augen zu, sondern
Sie haben für international aufgestellte Konzerne mit
dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz
auch noch die Steuervermeidung erleichtert.
({22})
- Ja. - Sie haben nämlich zum einen die Zinsschranke
aufgehoben.
({23})
Die Unternehmen können jetzt Zinsausgaben aus dem
Ausland wieder als volle Ausgaben geltend machen. Damit haben Sie ein riesiges Scheunentor geöffnet, um legale Steuervermeidung zu betreiben. Zum anderen haben
Sie die Regeln der Hinzurechnungsbesteuerung gelockert, was bei der Gewinnverlagerung zwischen ausländischen Töchtern und inländischen Zentralen viele optimierte Verrechnungsmöglichkeiten erlaubt. Das haben
Sie zu verantworten.
({24})
Statt die Rahmenbedingungen für grenzüberschreitende Steuerbetrüger und vor allen Dingen auch die
Möglichkeiten der legalen Steuervermeidung zu verbessern, hätte Ihre Regierung längst auf einen automatischen Informationsaustausch in ganz Europa massiv hinwirken müssen. Sie hätten längst die Umsetzung einer
neuen EU-Zinsrichtlinie vorantreiben müssen. Sie hätten
längst sich auf internationaler Ebene für neue schwarze
Listen einsetzen müssen, so wie uns das gemeinsam
2009 in der Großen Koalition gelungen ist. Sie hätten
längst die Doppelbesteuerungsabkommen mit Steueroasen neu verhandeln müssen. Sie hätten längst die
Straffreiheit bei Selbstanzeigen nach einer Übergangsfrist auf Bagatellfälle begrenzen müssen. Sie hätten
längst die Verjährungsfristen bei Steuerbetrug auf einheitlich zehn Jahre verlängern müssen. Sie hätten längst
die Beihilfe von Finanzinstituten zum Steuerbetrug über
ein Unternehmensstrafrecht bestrafen müssen. Sie hätten
längst die Bundesländer auffordern müssen, eine bundesweite Steuerfahndung aufzubauen.
({25})
- Ich merke, da sind Sie empfindlich. Da merkt man,
dass Sie nicht sehr glaubwürdig sind. Da merkt man,
dass Sie drei Jahre lang nichts gemacht haben.
({26})
Sie hätten längst für eine stärkere Harmonisierung in
Europa bei der Steuerbemessungsgrundlage eintreten
können.
({27})
- Der Lärm von Ihnen soll darüber hinwegtäuschen.
Treffer, gesunken! Wir haben Sie bei diesem Thema
schon am Wickel.
({28})
Sie hätten längst die Hinzurechnungsbesteuerung verschärfen müssen, um Gewinne ausländischer Töchter
von deutschen Unternehmen als inländische Gewinne
besteuern zu können.
({29})
Von all dem ist nichts geschehen.
({30})
- Wir vergleichen gerne Ihre und meine rhetorischen
Möglichkeiten. Das können wir machen.
({31})
- Komisch, da sind Sie schon wieder nervös. - Das, was
Sie im Bereich der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerbetrug betrieben haben, ist in den letzten
drei Jahren so schwach gewesen, dass Sie jetzt, wenige
Monate vor der Bundestagswahl, merken: Da ist ein
ziemlich großes Lindenblatt auf unserem Rücken. - Das
merkt man auch an Ihrer Reaktion.
Sie sind die Parteien, die die geringste Glaubwürdigkeit bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
Steuerbetrug in Deutschland haben.
({32})
Das wird eine Regierung unter meiner Führung ab September dieses Jahres ändern. Bleiben Sie nervös! Das
freut mich sehr.
({33})
Das Wort hat nun Bundesminister Wolfgang
Schäuble.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Steinbrück, Ihre rhetorischen Fähigkeiten sind unbestritten.
({0})
Das Problem ist nur: Sie waren vier Jahre Finanzminister.
({1})
- Sie haben ja nach jedem Zuruf gleich gesagt, wie sehr
Sie die anderen getroffen hätten. Also, ich habe noch gar
nichts gesagt, aber Sie haben offensichtlich schon Angst
davor, getroffen zu werden. Bleiben Sie ein bisschen
ernsthaft.
Die Sozialdemokraten haben den Finanzminister in
Deutschland seit 1998 gestellt.
({2})
Bis 2009 ist nichts geschehen. Sie haben ein paar Wochen vor der Bundestagswahl Ihre schwarze Liste überhaupt erst in Kraft gesetzt. Niemand stand zu Ihrer Regierungszeit je auf dieser schwarzen Liste. Also, reden
Sie doch keinen solchen Unsinn daher. Ihre Taten waren
das genaue Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben.
({3})
Ihre Rhetorik ist unbestritten. Amüsant, Ihnen zuzuhören.
({4})
Das Vergnügen hört aber dann auf, wenn es in der Debatte um ein ernsthaftes Thema geht. Ich weiß nicht, wie
Sie auf die Zahl von 1 000 Milliarden Euro entgangener
Einnahmen kommen. Diese Berechnungen zielen auf
das Verständnis der Menschen ab.
({5})
Lassen Sie das doch. Vielleicht sind Sie in der Lage
- Sie wollen ja Regierungschef werden -, irgendwann
mal ernsthaft über ein Thema zu reden und nicht nur mit
billiger Polemik. Das ist ja zum Davonlaufen.
({6})
Wenn Sie einmal darüber nachgedacht hätten, was Sie
Anfang des vergangenen Jahrzehnts im Rahmen Ihrer
Unternehmensteuerreform, die weit über das eigentliche
Ziel hinausgegangen ist, gemacht haben und dass wir
das zu Zeiten der Großen Koalition und in den letzten
Jahren mühsam korrigieren mussten, dann würden Sie
hier nicht solche Reden halten. Wir sollten über das
Thema ernsthaft reden.
({7})
Sie haben beim Informationsaustausch nichts erreicht.
Wir haben ein Abkommen mit der Schweiz ausgehandelt. In den letzten Debatten haben Sie sich immer
wieder auf den Vorsitzenden der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herrn Eigenthaler, bezogen. Nun hat Herr
Eigenthaler eine Amnestie im Zusammenhang mit der
Schweiz gefordert, obwohl er sie zuvor noch kritisiert
hatte. Ich sage Ihnen: Was wir ausgehandelt haben, war
das, was im Hinblick auf die Vergangenheit erreichbar
war. Wenn wir in Zukunft einen automatischen Informationsaustausch zustande bringen, ist das gut. Aber dass
sich Luxemburg und Österreich überhaupt darauf einlassen, ihr Opt-out von der Zinsbesteuerungsrichtlinie, das
während Ihrer Regierungszeit so ausgehandelt wurde,
aufzugeben, ist ein Erfolg unserer beharrlichen diplomatischen Bemühungen in Europa. Mit großspurigen Reden über die Kavallerie, die nur für die deutsche Öffentlichkeit gedacht sind, erreicht man so etwas nicht.
({8})
Wenn wir ernsthaft diskutieren, müssen wir zwei
Sachverhalte unterscheiden. Der Kampf gegen die Steuerhinterziehung ist in einer international verflochtenen
Welt und angesichts der Mobilität der Finanzmärkte, die
völlig anders ist als früher, nur noch mit den Mitteln des
Informationsaustauschs zu führen. Der Weg des Informationsaustauschs ist der richtige Weg. Deswegen kann
das Bankgeheimnis in Zukunft keinen Bestand haben.
Das ist unbestritten.
({9})
Richtig ist aber auch, dass Rechtsstaaten - das sind hoffentlich alle Länder, um die es hier geht - rechtliche Regelungen nicht rückwirkend abschaffen können. Das
können wir - Gott sei Dank - auch in Deutschland nicht,
genauso wenig wie die Schweiz. Das würde sie auch
nicht wollen. Für die Zukunft haben wir den Informationsaustausch, und für die Vergangenheit brauchen wir
eine pauschalierende Regelung. Das hat inzwischen sogar der Vorsitzende der Deutschen Steuer-Gewerkschaft
eingesehen. Sie waren zu Zeiten von Herrn Eichel schon
viel weiter und haben eine Amnestiegesetzgebung auf
den Weg gebracht, die viel niedrigere Sätze vorsah.
({10})
Ich wette, dass wir in den kommenden Jahren auf EUEbene eine pauschalierende Regelung auch mit der
Schweiz vereinbaren werden; denn wir müssen die Altfälle irgendwie regeln. Aber dann werden wir Ihnen vorrechnen, wie viele Milliarden an Steuereinnahmen durch
inzwischen eingetretene Verjährung, die Sie durch den
parteipolitischen Missbrauch Ihrer Bundesratsmehrheit
ermöglicht haben, für Bund, Länder und Kommunen unwiderruflich verloren gegangen sind.
({11})
Neben Regelungen gegen Steuerhinterziehung, die
wir durch Informationsaustausch und Veränderungen in
unseren Rechtssystemen - diese können wir angesichts
der Globalisierung der Märkte so nicht mehr aufrechterhalten; das hat inzwischen auch die Schweiz akzeptiert bekämpfen müssen, müssen wir etwas viel Komplizierteres hinbekommen. Wir müssen die Steuersysteme so
abstimmen - und zwar möglichst global, auf OECDEbene -, dass die Möglichkeiten der legalen Steuervermeidung oder der Steuergestaltung - der Übergang ist
hier fließend - begrenzt werden. Da eine solche Abstimmung in absehbarer Zeit nicht möglich sein wird, sollten
Sie keine unrealistischen Versprechungen von Steuermehreinnahmen in Höhe von 1 000 Milliarden Euro machen. Sie können solche Reden halten, weil Sie sicher
sein können, niemals Kanzler zu werden. Deswegen
werden Sie nie an Ihren Reden gemessen werden, die Sie
hier halten.
({12})
Wir tragen aber Verantwortung für unser Land. Wir wollen an dem gemessen werden, was wir versprechen. Deswegen wollen wir nicht mehr versprechen, als wir halten
können.
({13})
Ich bin es doch gewesen, der die BEPS-Initiative, die
in der OECD ziemlich dahingestromert ist - Sie haben
doch gar nicht gewusst, dass sich in den Arbeitsgruppen
seit Jahren nichts bewegt hat -, auf die Ebene der G 20
gehoben hat. Inzwischen hat die Sache sehr viel Bewegung bekommen.
({14})
- Das ist leider nirgendwo bemerkt worden, insbesondere nicht bei den G 20. Herr Steinbrück, wahrscheinlich
war es eine der Sitzungen, bei denen Sie gefehlt haben.
Das soll ja zu Ihrer Regierungszeit häufiger vorgekommen sein.
({15})
Solange Sie von Ihrer Rhetorik so begeistert sind,
dass Sie dafür extra Applaus einwerben, ist die Gefahr
groß, dass Sie sich nicht ernsthaft um die Sache kümmern.
({16})
- Mit Ihnen kann man nicht sprechen. Wenn man einen
Satz sagt, rufen Sie sofort dazwischen. Deswegen strafe
ich Sie eher mit geringerer Beachtung; anderes hat keinen Sinn. Sie führen keine Debatte, sondern versuchen
nur, mich am Reden zu hindern.
({17})
Sie wollen keine sachliche Erörterung der Themen
zulassen.
({18})
Mit dieser klassenkämpferischen Polemik, die Sie
hier betreiben, wollen Sie verhindern, dass ich noch etwas zur Sache sage.
Auf diesem Niveau kann ich Ihnen sagen: Sie lösen
das Problem ganz einfach. Bei Ihren Steuererhöhungsorgien - man hat das Gefühl, Sie wollen alle Steuern erhöhen, vielleicht bis auf die Sektsteuer, dafür werden Sie
Gründe haben ({19})
erreichen Sie, dass am Schluss alle Unternehmen aus
Deutschland vertrieben werden. Dann haben Sie auch
keine Möglichkeit der Steuergestaltung mehr. - Stimmt,
das ist polemisch; aber es ist natürlich auch nicht sehr
sinnvoll.
({20})
Jetzt ernsthaft: Wir wissen, dass wir auf absehbare
Zeit kein harmonisiertes Steuersystem weltweit bekommen werden.
({21})
Wir werden nicht einmal in Europa einheitliche Steuersätze bekommen; ich habe mit meinem holländischen
Kollegen über die Besteuerung von Lizenzeinnahmen
gesprochen. Deswegen müssen wir uns auf bestimmte
realisierbare Schwerpunkte bei der Beschränkung des
Spielraums für legale Steuergestaltung konzentrieren.
({22})
Wir müssen einerseits das Verbot der doppelten
Nichtbesteuerung durchsetzen. Es ist ein realisierbares
Ziel, dass es auf internationaler Ebene und in Europa
keine Weißen Einkünfte gibt.
({23})
- Ach Quatsch, überhaupt nicht!
({24})
- Du lieber Gott, es ist jetzt 11.06 Uhr. Ich weiß nicht,
welche Vorstellung Sie von Abend haben. Vielleicht sind
Sie ein bisschen spät ins Bett gegangen.
({25})
Das ist ein Ziel, das wir erreichen können.
Das Zweite, was wir darüber hinaus erreichen müssen, betrifft ein in Europa höchst schwieriges Thema. Sie
wissen doch genau, dass jedes Mandat in Europa zur Bekämpfung schädlicher Besteuerungspraxen - harmful
tax practices - im Grunde dadurch begrenzt ist, dass gesagt wird: Die Steuersätze sind keine Frage des Wettbewerbs; sie unterliegen der nationalen Steuergestaltung. Deswegen müssen wir erreichen, dass wir in Europa
Mindeststeuersätze für Lizenzeinkünfte vereinbaren. Bei
Zypern haben wir zum ersten Mal erreicht, dass das
Niveau der Unternehmensbesteuerung im ZypernProgramm wenigstens auf 12,5 Prozent, also das irische
Niveau, angehoben wurde. Das muss mindestens das
Niveau für die Besteuerung von Lizenzeinnahmen sein;
das sehen wir als realistischen Schritt an.
Andernfalls werden wir den Weg gehen müssen - darüber haben wir mit den Finanzministern der Länder in
der vergangenen Woche gesprochen; Sie sollten das
übrigens auch einmal tun, wenn Sie ernsthaft über die
Bekämpfung von Steuerhinterziehung reden wollen -,
({26})
der europarechtlich auch höchst kompliziert ist, Lizenzzahlungen an Unternehmen in Ländern, in denen diese
Lizenzeinkünfte nicht angemessen besteuert werden,
beim Betriebsausgabenabzug nicht mehr voll anzuerkennen. Dass wir damit europarechtlich jede Menge
Schwierigkeiten haben, müssten Sie eigentlich aus Ihrer
Amtszeit wissen. Wir müssen aber versuchen, zwischen
diesen beiden Verhandlungspolen zu einer einvernehmlichen Lösung in Europa zu kommen, weil wir ohne eine
einvernehmliche Lösung in Europa zwar rhetorisch immer noch eindrucksvoll sind, wenn wir weiterhin die Kavallerie ankündigen, aber in der Sache nichts bewegen.
({27})
Ich nenne einen dritten Punkt, um Sie daran zu erinnern, womit Sie sich früher, als Sie noch Verantwortung
trugen, beschäftigen mussten. Wir müssen im Rahmen
der europäischen Rechtsetzung bei den Briefkastenfirmen ansetzen und dafür sorgen, dass alle Gesellschaften
bzw. rechtlichen Konstruktionen - Sie kennen vielleicht
das Cadbury-Schweppes-Urteil des Europäischen Gerichtshofs -, jede „legal entity“, jede gesetzliche Einheit,
steuerlich anerkannt wird. Wir müssen eine Klausel gegen den Missbrauch finden, damit in Europa verbindlich
wird, dass Briefkastenfirmen nicht mehr als Instrument
der Steuergestaltung und der Steuervermeidung in
Europa anerkannt werden. Aber auch das können wir in
Europa nur einvernehmlich regeln; denn solche Regelungen erfordern nach dem Prinzip der europäischen
Verträge 27 Jastimmen. Das ist ein mühsamer Weg. Mit
Ihrer Art von Rhetorik aber erreichen Sie gar nichts.
({28})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns deshalb in
einer globalisierten Wirtschaft unser Steuerrecht auf der
einen Seite darauf ausrichten, wettbewerbsfähig zu sein,
damit wir im Kampf gegen Arbeitslosigkeit weiter erfolgreich sind und nachhaltiges Wachstum haben, und
lassen Sie uns auf der anderen Seite darauf achten, dass
die Möglichkeiten globaler Finanzmärkte nicht dazu
führen, dass global tätige Unternehmen sehr viel weniger Steuerbelastung haben, weil sie die Gestaltungsmöglichkeiten verschiedener steuerlicher Jurisdiktionen stärker nutzen können als ein kleines mittelständisches
Unternehmen. Daran müssen wir arbeiten, beharrlich,
geduldig und entschlossen.
Allein mit Rhetorik, Herr Steinbrück, werden Sie gar
nichts erreichen. Deswegen sage ich noch einmal: Hören
Sie damit auf! Wenn Sie ein paar Linke in der SPD
mobilisieren wollen, dann ist es vielleicht die richtige
Rhetorik. Wenn Sie unser Land in Europa und in einer
eng verflochtenen Welt weiter verantwortlich voranbringen wollen, dann ist der beharrliche und stetige Weg der
Bundesregierung der einzig erfolgreiche. Gemessen an
dem Nichtstun sozialdemokratischer Finanzminister in
elf Jahren haben wir in diesen vier Jahren unglaublich
viel vorangebracht. Wir sind entschlossen, dies fortzusetzen.
({29})
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Frau Dr. Sahra
Wagenknecht. Bitte schön, Frau Dr. Sahra Wagenknecht.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, es gibt kaum ein Thema, bei dem die Feigheit
der herrschenden Politik, sich mit den oberen Zehntausend anzulegen, so deutlich wird wie beim Thema Steuerflucht.
({0})
Es gibt kaum ein Thema, das so erkennbar zeigt, dass in
diesem Lande zweierlei Recht existiert: ein Recht für die
große Mehrheit der Bevölkerung und ein ganz anderes
Recht für die Superreichen.
Ein Schwarzfahrer kann im Knast landen, wenn er
fünfmal unbezahlt S-Bahn gefahren ist. Kleinen und
mittleren Unternehmen werden regelmäßig die Betriebsprüfer ins Haus geschickt, und wehe, wenn sich herausstellt, dass einer 2 000 Euro Mehrwertsteuer nicht ordentlich deklariert hat. Aber ganz anders sieht die Welt
der Konzerne und Superreichen aus. Das ist eine Welt, in
der man sich ungestraft um einen erheblichen Teil seiner
Steuerzahlungen drücken kann. Teils ermöglichen die
von Ihnen gemachten Gesetze dies ganz legal - Herr
Steinbrück, Sie waren doch vier Jahre Finanzminister;
Sie haben an diesen Gesetzen so gut wie nichts geändert;
alles ist in dieser Zeit weitergelaufen -,
({1})
teils findet diese Steuerflucht aber auch mit einem beeindruckenden Ausmaß an krimineller Energie statt, die
deutlich macht, dass die Betroffenen davon überzeugt
sind, dass ihre Helfershelfer auf der Regierungsbank sitzen. Wir reden hier nicht über Leute, die vielleicht aus
nackter Existenzangst bei der Steuererklärung schummeln, weil sie mit ihrem Monatseinkommen nicht klarkommen würden, sondern wir sprechen von Multimillionären und Milliardären, die sich einen regelrechten Sport
daraus gemacht haben, die Allgemeinheit und den Staat
zu betrügen. Wir sprechen auch von einem Staat, der
sich von diesen ganz gerne betrügen lässt. Sie haben es
doch alle seit vielen Jahren gewusst, und Sie haben es
alle laufen lassen: SPD und Grüne in ihrer Regierungszeit genauso wie die Große Koalition und jetzt SchwarzGelb. Schlimmer noch: Sie haben es gedeckt. Sie haben
viel dafür getan, dass dieser Großbetrug weitergehen
konnte.
Diese Bundesregierung hat mit der Schweiz ein Steuerabkommen ausgehandelt, das Millionenbetrüger straffrei stellen sollte. Wahrscheinlich hatte Uli Hoeneß
schon den Champagner kalt gestellt. Übrigens: Ohne die
Stimmen der Linken wäre es nicht verhindert worden.
Das zu der Frage, was Rot-Grün geschafft hat!
({2})
Es ist schon gesagt worden, dass es in der EU bis zu
1 500 Milliarden Euro Steuerausfälle gibt. Wenn man
das auf zehn Jahre hochrechnet, dann entspricht dieser
Betrag der gesamten europäischen Staatsverschuldung.
Das bringt das zynische Gerede, man könne nicht dauerhaft über seine Verhältnisse leben, auf seinen rationalen
Kern. Wer lebt denn in Europa über seine Verhältnisse?
Nicht griechische Rentner und irische Lehrinnen und
Lehrer, denen diese Bundesregierung noch das letzte
Hemd auszieht, sondern diese kriminelle Vereinigung
von Steuerhinterziehungsmillionären und -milliardären,
die Sie gewähren lassen.
({3})
Es ist meines Erachtens eine schäbige Heuchelei, sich
als eiserne Sparkanzlerin Europas zu inszenieren und gegen diesen Raubzug der High Society gegenüber den öffentlichen Finanzen in Europa nichts, aber auch gar
nichts Ernsthaftes zu unternehmen. Da liegt das Geld,
das Sie zur Sanierung der öffentlichen Finanzen in Europa brauchen.
({4})
Die Schätzungen der jährlichen Steuerausfälle in
Deutschland belaufen sich auf 100 bis 160 Milliarden
Euro. Das ist fast die Hälfte des gesamten Bundesetats.
Trotz dieser Verhältnisse haben Sie die Stirn, uns in diesem Hohen Hause immer wieder zu erzählen, was alles
nicht finanzierbar ist. Ein Kitaplatz für jedes Kind - unfinanzierbar. Mehr Lehrerstellen und bessere Gehälter
für Krankenschwestern und Pflegekräfte - unfinanzierbar. Eine ordentliche Rente, die den Seniorinnen und Senioren in diesem reichen Land Deutschland ermöglichen
würde, ihren Lebensabend ohne soziale Not zu genießen - unfinanzierbar.
({5})
Ich sage Ihnen: Wenn etwas unfinanzierbar ist, dann
ist es die von Ihnen geduldete Steuerflucht der Reichen.
Für viele Konzerne gelten Steuerquoten von 5 bzw.
10 Prozent; davon kann jeder Facharbeiter und jeder
Mittelständler nur träumen.
({6})
Auf der Website „Panama Corporate Database“ kann jeder interessierte Bürger recherchieren, welche Familien
und Unternehmerclans Briefkastenfirmen in der Steueroase Panama registriert haben. Die Liste liest sich wie
das „Who is who“ des deutschen Wirtschaftsadels: die
Porsches, die Piëchs, die Quandts und die Eigner der
Kaffeedynastie Jacobs. Die Reaktion der Politik: keine.
Zur Steuermafia gehört natürlich auch die helfende
Hand der Banken; auch das ist keine neue Erkenntnis.
2009 hatte die deutsche Finanzaufsicht die deutschen
Banken nach Aktivitäten in Steueroasen gefragt. Heraus
kam, dass hiesige Institute mehr als 1 600 Stiftungen und
Trusts in allen bekannten Steuerparadiesen dieser Welt
unterhalten. Die Reaktion der Politik: keine. Die Commerzbank, die es ohne Rettung durch den Steuerzahler
überhaupt nicht mehr gäbe, wirbt völlig unbeeindruckt
in ihren Prospekten für Geschäfte in Steueroasen. Das
heißt: Hier betrügt sich der Staat als Anteilseigner quasi
selbst. Die Grundlage für diese unseligen Zustände sind
in einer Zeit gelegt worden, als Sie, Herr Steinbrück, Finanzminister waren.
({7})
Es waren auch Sie, Herr Steinbrück, der die Abgeltungsteuer eingeführt hat. Die Abgeltungsteuer bedeutet
nicht nur, leistungslose Vermögenseinkommen gegenüber Arbeitseinkommen zu privilegieren - das ist ja ein
sehr „sozialdemokratisches“ Anliegen -, sondern auch,
dass ausländische Behörden viel schlechtere Auskunftsmöglichkeiten in Deutschland haben. Auch hierdurch
wird die Steuerflucht begünstigt.
Auch von Rot-Grün wurde die Steuermafia immer mit
Samthandschuhen angefasst. Es war der SPD-Finanzminister Hans Eichel - das hat Herr Schäuble zu Recht
angeführt -, der den kriminellen Machenschaften 2003
mit seiner Steueramnestie politischen Flankenschutz gegeben hat. Aus der Amnestie wurde bei der SPD offenbar die Amnesie; denn einer Ihrer Wahlkampfschlager
ist jetzt: Steueramnestie abschaffen. Das ist ja richtig;
aber Sie sind doch überhaupt nicht glaubwürdig in dieser
Frage.
({8})
Dass Deutschland heute weltweit zu den Top Ten der
Steuer- und Geldwäscheparadiese gehört, hat Ihre Allparteienkoalition durchaus gemeinsam zu verantworten.
Dabei haben die USA mit dem FATCA gezeigt, wie es
geht. Finanzinstituten, die nicht kooperieren, wird mit
drastischen Quellensteuern oder mit dem Entzug der Lizenz gedroht - und plötzlich geht es. Plötzlich verhandeln alle mit den US-Behörden. Plötzlich gibt es selbst
mit den renitentesten Steueroasen Abkommen. Was die
USA können, soll Deutschland nicht können?
Ich glaube, statt scheinheilige Maulheldendebatten zu
führen,
({9})
wie Sie es hier heute wieder tun, wäre es an der Zeit, der
Steuermafia endlich das Handwerk zu legen.
({10})
Ich kann Ihnen versprechen: Die Linke wird bei diesem
Thema keine Ruhe geben, auch wenn die Wahl vorbei
ist.
Ich danke Ihnen.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Redner aufrufe, bitte ich um Ihre Aufmerksamkeit. Auf der Ehrentribüne hat der Präsident des Sabor,
des Parlaments der Republik Kroatien, Herr Josip
Leko, mit seiner Delegation Platz genommen.
({0})
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des deutschen Parlamentes begrüße ich Sie sehr herzlich. Mit
dem bevorstehenden EU-Beitritt Ihres Landes verbinden
sich Chancen und Herausforderungen. Mögen Sie diesen
erfolgreich begegnen! Für Ihr parlamentarisches Wirken
wünschen wir Ihnen alles Gute. Einen schönen Aufenthalt hier in unserem Parlament!
({1})
Nächster Redner für die Fraktion der FDP ist unser
Kollege Dr. Volker Wissing. Bitte schön, Kollege
Dr. Volker Wissing.
({2})
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Steinbrück, Sie beschreiben mit einer Leidenschaft Probleme, die Sie 2009
als Bundesfinanzminister der Bundesrepublik Deutschland hinterlassen haben.
({0})
Woher Sie die Selbstzufriedenheit nehmen, mit der Sie
hier am Mikrofon gesprochen haben, bleibt Ihr Geheimnis. Sie täuschen aber - und das tun Sie bewusst - die
Öffentlichkeit, indem Sie immer wieder verschweigen,
dass genau die Probleme, die Sie hinterlassen haben, seit
2009 Schritt für Schritt von der christlich-liberalen Koalition gelöst werden.
({1})
- Wo denn? Nehmen wir die Verschärfung bei der strafbefreienden Selbstanzeige. Unter Peer Steinbrück: Fehlanzeige. Wir haben 2009 Regierungsverantwortung übernommen. Eines der ersten Projekte, das wir in Angriff
genommen haben, war die massive Verschärfung bei der
strafbefreienden Selbstanzeige: Erhöhung des Entdeckungsrisikos, Einschränkung auf das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß.
({2})
Nehmen Sie den automatischen Informationsaustausch in Europa. Unter Peer Steinbrück: Fehlanzeige.
Seit Schwarz-Gelb regiert, kommt Bewegung in die Sache. Sie haben in diesem Punkt nichts geliefert, und das
verschweigen Sie der Öffentlichkeit. Das meine ich,
wenn ich sage: Sie verschweigen, dass wir die Probleme
lösen, die Sie hinterlassen haben.
({3})
Der automatische Informationsaustausch mit den
USA: Fehlanzeige bei Peer Steinbrück. Heute: Lösung
unter Schwarz-Gelb. Das FATCA-Abkommen wird umgesetzt;
({4})
es gibt einen automatischen Austausch. Das ist Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Das, was Sie abliefern, ist
nur billige Polemik und billige Rhetorik.
({5})
Sie sind doch der letzte Sozialdemokrat, dem man abnimmt, was Sie heute Morgen an diesem Mikrofon gesagt haben.
({6})
Wir hatten eine Expertenanhörung im Finanzausschuss, bei der wir uns mit der Frage beschäftigt haben:
Wie kann man eigentlich international gegen Steueroasen vorgehen? Die Experten haben übereinstimmend
gesagt: Das Problem Steueroasen kann man nicht durch
nationale Gesetzgebung lösen. Wenn andere Staaten
Standortpolitik betreiben, indem sie Steuerschlupflöcher
schaffen, muss man das auf diplomatischem Wege über
Doppelbesteuerungsabkommen und über gezielte, geschickte Verhandlungen lösen; alles andere führt nur zu
einer Verschlechterung des deutschen Standortes, zu einer Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen für
deutsche Unternehmen. Herr Steinbrück, Sie haben zu
diesem Schritt nichts beigetragen, außer von Kavallerie
zu schwadronieren. Sie haben der Öffentlichkeit gezeigt,
dass Sie nichts als ein außenpolitisches Sicherheitsrisiko
sind. Deswegen glaubt niemand in Deutschland, dass Sie
diese Abkommen besser verhandeln können als eine außerordentlich erfolgreiche christlich-liberale Bundesregierung.
({7})
Ihre Lösung, Ihre Logik ist eine ganz andere. Sie sagen: Wenn die Steuern im Ausland zu niedrig sind, dann
muss man sie eben in Deutschland erhöhen. Das ist die
Logik von Peer Steinbrück, und Sie haben sie heute wieder vorgetragen. Sie haben hier deutlich gesagt: Mit Peer
Steinbrück gibt es in Deutschland höhere Ertragsteuern,
höhere Erbschaftsteuern, eine Vermögensteuer und höhere Einkommensteuern. Aber das reicht noch nicht. Sie
haben heute gesagt, dass Sie zusätzlich die Substanzbesteuerung der Unternehmen durch Änderungen bei der
Hinzurechnung und der Zinsschranke erhöhen wollen.
({8})
Jetzt fragt man sich: Wie kann ein Mensch, der als
Minister Finanzpolitik betrieben hat, ernsthaft glauben,
dass man damit das Problem der Niedrigbesteuerung im
Ausland löst? Das ist doch absurd. Ihre Rede hatte nicht
den Ansatz von Logik. Was Sie als Bundesfinanzminister abgeliefert haben, ist das Gegenteil von dem, was Sie
an diesem Mikrofon sagen. - Wir haben die Lösung der
Probleme in Angriff genommen, die Peer Steinbrück
diesem Land hinterlassen hat.
({9})
Sie haben nicht einen intelligenten Satz über das Abkommen mit der Schweiz gesagt.
({10})
Mit Ihren Äußerungen über dieses Abkommen täuschen
Sie die Öffentlichkeit ganz bewusst. Sie sitzen hier und
lachen sich über Ihre eigene Rede kaputt, weil Sie genau
wissen, dass die rückwirkende Aufhebung der Anonymität in der Schweiz an der Verfassung scheitert.
({11})
Herr Steinbrück, Sie sind viel zu intelligent, um das
nicht zu wissen.
({12})
- Ja, das will ich Ihnen gar nicht absprechen.
({13})
Ich finde es nur schade, dass Sie die Öffentlichkeit täuschen,
({14})
anstatt ihr die Wahrheit zu sagen.
Sie wissen genau, dass die rückwirkende Aufhebung
der Anonymität in der Schweiz unmöglich ist und dass
man deswegen die Altfälle mit Ihrem Lösungsvorschlag
niemals wird aufarbeiten können.
({15})
Trotzdem tun Sie so, als wäre das Steuerabkommen deshalb lückenhaft. Sie wollen nur im Wahlkampf punkten;
aber die Wahrheit sagen Sie nicht.
({16})
Man kann aber jemandem, der Bundeskanzler werden
will, nicht das Vertrauen schenken, wenn er nicht den
Mut hat, der Öffentlichkeit von diesem Mikrofon aus die
Wahrheit zu sagen. Deswegen werden Sie das Vertrauen
der Wähler auch nicht bekommen, Herr Steinbrück.
({17})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Gerhard Schick. Bitte schön, Kollege Dr. Gerhard
Schick.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was Kollege Wissing hier abgeliefert hat, war wieder
einmal weit von den Fakten entfernt.
({0})
Ich habe nicht die Zeit, alle falschen Behauptungen zu
widerlegen; ich möchte nur auf zwei, drei Punkte Bezug
nehmen.
Zur strafbefreienden Selbstanzeige. Sie haben lediglich das umgesetzt, was das Gericht Ihnen vorgegeben
hat, und das waren Petitessen. Es ist noch immer so, dass
jemand, der Berater beauftragt und mit viel Mühe über
Steueroasen Millionen hinterzieht, nachher sagen kann:
„War nicht so gemeint“, und straffrei bleibt. Hier braucht
es eine echte Verschärfung der Gesetze. Das haben Sie
nicht geliefert.
Zum Abkommen mit der Schweiz. Fragen Sie doch
unsere französischen Freunde, fragen Sie die Kolleginnen und Kollegen im Ausland! Sie können Ihnen bestätigen, was die Opposition hier sagt: Dieses Abkommen
hat Fortschritte beim automatischen Informationsaustausch in Europa über Jahre verzögert. Gut, dass wir es
gestoppt haben.
({1})
Dann gab es Offshore-Leaks und es machte sich Nervosität breit, und plötzlich fängt man an, zu arbeiten.
Aber ich will gar nicht in die Vergangenheit zurückblicken. Wir, SPD und Grüne, legen Ihnen heute einen
konkreten Vorschlag vor zu der Frage, was wir gegen die
Steuervermeidung von großen Konzernen tun können.
Es ist erschreckend, was durch Recherchen ans Tageslicht kommt. Ich nenne als Beispiel Belgien. Deutsche
Unternehmen schaffen es über ihre Tochtergesellschaften, die Gewinne so zu verschieben, dass sie Millionen
quasi steuerfrei vereinnahmen können: Volkswagen zahlt
null Prozent für seine belgischen Aktivitäten, BASF
2,6 Prozent, Bayer in den Niederlanden 4,3 Prozent. Von
solchen Steuersätzen können kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland nur träumen. Wir müssen endlich für einen fairen Ausgleich bei der Steuerlast sorgen.
({2})
Unser Vorschlag ist: Machen wir endlich das Licht an,
bringen wir Transparenz in die Strukturen! Country-byCountry-Reporting, das klingt zunächst technisch. Worum geht es? Es geht darum, dass die Unternehmen gezwungen werden, offenzulegen - die Zahlen haben sie
ohnehin in ihren Büchern -, in welchem Land wie viel
Gewinn gemacht wird und wie viel Steuer dafür gezahlt
wird. So werden die Steuertricks großer Unternehmen
endlich sichtbar. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als einen Atlas der Steuertricks großer Unternehmen,
um dieses Phänomen endlich bekämpfen zu können und
für eine faire Belastung von großen und kleinen Unternehmen zu sorgen.
({3})
Die Bundesregierung will dies nicht. Wir legen Ihnen
heute einen entsprechenden Antrag vor. Man wird sehen,
ob die Koalition wirklich bereit ist, etwas zu tun, oder ob
es bei der großen Rhetorik des Finanzministers und ein
paar leeren Wahlkampfsprüchen bleibt. Ich befürchte
Letzteres.
({4})
Lassen Sie mich noch an einem Vergleich zeigen, was
Sie tun könnten, wenn Sie nur wollten. In Großbritannien hat ein konservativer Finanzminister ({5})
- Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen; dann
habe ich noch ein bisschen mehr Zeit; aber Sie haben
jetzt wohl eher ein bisschen Angst vor der Zwischenfrage und vor allem vor meiner Antwort ({6})
mit der Parlamentsmehrheit von Starbucks gefordert,
endlich anständig Steuern zu zahlen. Durch politischen
Druck auf ein Großunternehmen, das sich der Steuerzahlung entzieht, und ohne eine einzige Änderung im Gesetz haben sie es geschafft, 11 Millionen Euro zusätzlich
an Steuereinnahmen zu erzielen. Warum macht eigentlich diese Regierung nicht in ähnlicher Weise Druck auf
Unternehmen in Deutschland, um dafür zu sorgen, dass
große Unternehmen ihrer Steuerzahlung nachkommen?
({7})
Allein im Fall Starbucks wären das auch fast 3 Millionen
Euro.
Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns im Finanzausschuss und mit Unterstützung der Bundesregierung endlich organisieren, dass Druck aufgebaut wird und dass
große Unternehmen wie kleine Unternehmen in Deutschland Steuern zahlen! Damit können Sie zeigen, ob Ihnen
das Thema ernst ist oder ob das hier nur leere Rhetorik
war.
Danke schön.
({8})
Nächster Redner für die Fraktion von CDU/CSU unser Kollege Manfred Kolbe. Bitte schön, Kollege
Manfred Kolbe.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie,
Herr Steinbrück, haben davon gesprochen, dass es die
Pflicht jeder Bundesregierung ist, Steuerhinterziehung
zu bekämpfen. Das ist richtig. Aber dann frage ich mich:
Was haben denn die vorangegangenen Bundesregierungen getan?
({0})
Wir haben zwischen 1998 und 2005 eine rot-grüne
Bundesregierung gehabt. Herr Schick und Herr Gambke,
Ihre Fraktion war auch daran beteiligt. Was ist in diesen
sieben Jahren im Kampf gegen Steuerhinterziehung passiert? Nichts. Steuerhinterziehung gab es auch damals
schon.
({1})
Das Einzige, was in Erinnerung geblieben ist, ist
Eichels Steueramnestie. Die Bemessungsgrundlage bei
der Einkommensteuer wurde auf 60 Prozent abgesenkt,
bei der Erbschaftsteuer teilweise auf 20 Prozent. Eichels
Steueramnestie: Das war das Wesentliche in sieben Jahren Rot-Grün.
Dann kam die Große Koalition, und der Kampf gegen
die Steuerhinterziehung begann, in der Tat, Herr
Steinbrück, auch mit Ihnen. Wir haben den Tatbestand der
bandenmäßigen Umsatzsteuerhinterziehung eingeführt.
Wir haben die Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung auch bei schwerer Steuerhinterziehung eingeführt. Wir haben die Verlängerung der Verjährungsfrist
für schwere Steuerhinterziehung verabschiedet. Alles Taten in der Großen Koalition. Daran haben beide große
Fraktionen mitgewirkt.
Nur Sie, Herr Steinbrück, waren eher für die Abteilung Klamauk zuständig: Kavallerie, dann die armen Indianer - ich weiß nicht, was sie mit Steuerhinterziehung
zu tun hatten - und Ouagadougou. Ich weiß nicht, was
die Republik Burkina Faso mit Steuerhinterziehung zu
tun hat. Das war eher die Abteilung Klamauk, während
die Sacharbeit von anderen geleistet wurde.
({2})
Und das, was ich jetzt sage, hätte ich nicht gesagt,
wenn Sie nicht so eine selbstgerechte und überhebliche
Rede gehalten hätten. Wer sich von der finanziell notleidenden Stadt Bochum 25 000 Euro Honorar für einen
Vortrag zahlen lässt, der hat das Recht verwirkt, hier als
Moralapostel aufzutreten.
({3})
Dann kam die christlich-liberale Koalition 2009. Ich
kann an das anknüpfen, was der Kollege Wissing gesagt
hat: Wir haben ohne irgendwelchen Druck von außen
den Tatbestand der strafbefreienden Selbstanzeige verschärft. Wir haben das aus eigener Initiative gemacht.
({4})
Wir haben die Teilselbstanzeige abgeschafft. Wir haben
den Zeitpunkt der Entdeckung vorverlegt. Wir haben einen Zuschlag auf Hinterziehungszinsen eingeführt, übrigens auch unter Beifall der damaligen sozialdemokratischen Finanzminister. Ich zitiere nur den Kollegen Kühl:
„Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbefreiung durch Selbstanzeige beibehalten.“ Das war eine vernünftige Position Ihres Kollegen.
Was sagt Herr Steinbrück heute dazu? Am 23. April
hat er um 7.05 Uhr - es war offenbar noch ein bisschen
früh am Morgen - im RBB-Inforadio Brandenburg gesagt: Die SPD will das Recht auf Selbstanzeige bei Steuerstrafverfahren nicht abschaffen. - Er sagte weiter, sie
dürfe jedoch nach wie vor nur dann greifen, wenn die
Steuerfahndung demjenigen noch nicht auf der Spur sei.
Das ist eine tolle Erkenntnis. Das ist Gesetzeslage,
Herr Bundesfinanzminister a. D.
({5})
Ich komme zur internationalen Steuerhinterziehung.
Diese ist in der Tat ein Problem. Diese Bundesregierung
hat das erkannt. Keine Bundesregierung vor dieser hat so
viel zur Bekämpfung der internationalen Steuerhinterziehung unternommen. Wir haben die BEPS-Projekte
mit Frankreich und Großbritannien durchgeführt und
den Aktionsplan der EU-Kommission unterstützt. Weiter
streben wir die Revision der EU-Zinsrichtlinie an. Ich
erwähne in diesem Zusammenhang auch die EU-Amtshilferichtlinie. Wir unterstützen - durch das heute in erster Lesung einzubringende Abkommen mit den Vereinigten Staaten von Amerika - FATCA. Das ist ein großer
Schritt auf diesem Wege. Auch die G-5-Initiative unterstützen wir. Keine Bundesregierung hat auf diesem Gebiet bisher so viel geleistet; es ist nur ein schwieriges
Geschäft.
Auch wir in Kerneuropa sind gefordert. Nicht nur irgendwelche fernen Inseln sind Steueroasen. Es gibt
Steueroasen in Luxemburg mit einer Lizenzbox, und es
gibt sie in den Niederlanden mit einer Lizenzbox.
Steueroasen gibt es aber auch in Irland. Trotz des Rettungsprogramms bleibt es dort bei einem Steuersatz von
12,5 Prozent. Ferner gibt es Steueroasen in Großbritannien und den zu Großbritannien gehörenden Inseln. Es
ist ein schwieriges Geschäft, dies Problem zu lösen. Das
muss mit Diplomatie, aber auch mit Härte geschehen.
Fortiter in re, suaviter in modo - hart in der Sache, aber
moderat im Ton -, das ist das Prinzip der Bundesregierung. Wir sind da auf gutem Wege, die internationale
Steuerhinterziehung einzugrenzen.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss mit einem Zitat des
deutschen Nationalökonomen Hans Karl Schneider
schließen:
Wer mehr als die Hälfte seines Einkommens an das
Finanzamt abführen muss, ist mehr darauf bedacht,
Steuern zu sparen, als darauf, Geld zu verdienen.
Das ist die andere Seite der Medaille. - Wir bekämpfen
die Steuerhinterziehung auch dadurch, dass wir ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen einführen. Das ist das Ziel dieser Koalition. Einkommensteuersätze bis zu 75 Prozent, wie das Ihre
französischen Genossen praktizieren, sind der falsche
Weg. Damit wird die Steuerhinterziehung eher befördert.
Wir gehen deshalb unseren Mittelweg weiter. Das bedeutet eine energische Bekämpfung der SteuerhinterzieManfred Kolbe
hung sowie ein einfaches und gerechtes Steuersystem
mit niedrigen Steuersätzen.
Danke schön.
({7})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Dr. Thomas Gambke. Bitte schön, Kollege Dr. Gambke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte ganz
in Ruhe zwei Versuchen der Geschichtsklitterung widersprechen. Herr Schäuble, bei allem Respekt: Sie sagen,
dass Österreich und Luxemburg, was die erweiterte
EU-Zinsrichtlinie angeht, jetzt in den Diskussionen und
Gesprächen zustimmend agieren. Dazu kann ich nur
feststellen, dass diese Länder das nur deshalb machen,
weil durch die Verhinderung des Schweizer Steuerabkommens Druck ausgeübt wurde. Vorher haben sie nämlich erklärt, dass sie es nicht machen werden.
({0})
- Das sagen Sie immer wieder, Herr Flosbach. Es ist
falsch.
Ich komme zur zweiten Geschichtsklitterung. Herr
Wissing, wenn Sie hier sagen, das FATCA-Abkommen
sei eine Initiative des Deutschen Bundestages oder der
Deutschen, dann ist das schlicht falsch. Das ist eine Initiative der Amerikaner, die sich seit zehn Jahren bemühen, genau das zu tun, was wir heute machen, nämlich
einen offenen Informationsaustausch anzustreben. Sie
haben gesagt, die Deutschen würden das tun. Leider
hoppeln wir, vor allen Dingen Ihre Fraktion, da hinterher
und gehen nicht voran, was wir tun müssten.
({1})
Eine zweite Bemerkung in der kurzen Redezeit, die
ich habe. Bei dem gesamten Problem der aggressiven
Steuerplanung macht es keinen Sinn, im Trüben herumzustochern. Mir werden da zu viele Namen und Einzelfälle genannt. Das sind Einzelfälle, die das Problem eher
verdecken als aufdecken. Ein Unternehmens-Bashing,
wie es von linker Seite aus geschieht, ist da ganz verkehrt. Wenn man unterwegs ist, trifft man Mittelständler,
die sagen: Wir sind dafür, dass da Transparenz hineinkommt. Es gibt diejenigen, die hier ihre Steuern zahlen
und ganz bewusst sagen: Wir wollen Gewerbesteuer
zahlen, um unsere Kommunen zu unterstützen. Sie sehen
aber natürlich, wenn sich der Konkurrent nebenan mit
Lizenzzahlungen vor Steuerzahlungen drückt. Dazu sagen sie: Das ist eine Wettbewerbsfrage, wir wollen Wettbewerb herstellen. - Das ist der zentrale Punkt. Wir wollen den gleichen Wettbewerb für alle Unternehmen
haben. Der Amerikaner sagt dazu „equal level playing
field“.
({2})
Die dritte Bemerkung, Herr Wissing, kann ich Ihnen
nicht ersparen. Sie reden hier über Steueroasen. Vor kurzer Zeit gab es in Belgien die glorreiche Idee, kalkulatorische Zinsen auf Eigenkapital einzuführen. Auch bei
uns wurde das von den Familienunternehmern vorgeschlagen. Ich glaube, wir beide waren selber dabei. Das
hat dazu geführt, dass die DAX-Konzerne Eigenkapital
nach Belgien verschoben haben und damit ihren Gewinn
praktisch auf null minimiert haben. Dort ist eine tolle
neue Steueroase entstanden.
Lesen Sie einmal im Parteiprogramm der FDP: Genau
das schlägt die FDP vor. Wenn die FDP sich durchsetzen
würde, würde auch Deutschland zur Steueroase. Das
müssen wir verhindern.
({3})
Wir müssen sogar noch mehr verhindern. Die Familienunternehmer waren nämlich so ehrlich, zu sagen:
„Das kostet 9 Milliarden Euro“, und haben angeboten,
den Verlust möglicherweise durch eine Erhöhung des
Körperschaftsteuersatzes auszugleichen. Das finden Sie
nicht im FDP-Programm.
Was würde das Ganze bedeuten? Dass die Unternehmen, die expandieren wollen, die mehr Fremdkapital haben wollen, noch extra bestraft würden. Das ist Steuerpolitik nach Ihrem Motto. Ich bin froh darüber, dass am
22. September darüber abgestimmt wird und Sie keine
Stimme dafür bekommen werden.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner in unserer Aussprache für die Fraktion der FDP unser Kollege Dr. Daniel Volk. Bitte schön,
Kollege Dr. Volk.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gambke, das, was
Sie gerade dargestellt haben, dass Unternehmen ihr Eigenkapital aus Deutschland ins Ausland bringen, werden
Sie herbeiführen, wenn Sie Ihre Pläne zur Wiedereinführung der Vermögensteuer mit einer massiven Inanspruchnahme der Betriebsvermögen der hier in Deutschland ansässigen Betriebe einführen werden. Das ist sozusagen
die Aufforderung zur Steuerflucht, wenn Ihre Steuerpläne
hier in Deutschland Wirklichkeit werden. Darüber sollten
Sie vielleicht erst einmal nachdenken, bevor Sie hier eine
solche Behauptung aufstellen, wie Sie es gerade getan haben.
({0})
Was mir auch ein bisschen aufstößt, ist Ihre Herangehensweise, Herr Kollege Schick. Sie haben zunächst
einmal behauptet, sämtliche Konzerne zahlten in
Deutschland keine Steuern, weil sie sämtliche Gestaltungsspielräume nutzten, um null Prozent Steuern zahlen
zu müssen.
({1})
Ich finde eine solche Art und Weise des Anprangerns,
und zwar mit wissentlich falschen Behauptungen, nicht
richtig.
({2})
Schauen Sie doch einmal nach, wie die Kommunen von
den dort ansässigen Unternehmen, insbesondere von den
großen Konzernen, profitieren.
({3})
Angesichts dessen können Sie sich doch nicht im Deutschen Bundestag hinstellen und behaupten, die Konzerne würden eine deutlich geringere Steuerzahlung vornehmen als andere Unternehmen. Das ist eben einfach
nicht zutreffend.
Diese Herangehensweise schlägt sich in Ihrem Vorschlag über das sogenannte Country-by-Country-Reporting ebenfalls nieder. Was Sie dort vorschlagen, ist,
dass Unternehmen, die grenzüberschreitend tätig sind
- das sind übrigens in Deutschland nicht nur Konzerne,
auch Mittelständler sind grenzüberschreitend tätig; das
sollten Sie nicht vergessen -, offenlegen, wo welche Finanzströme sind. Was Sie natürlich verschweigen, ist,
dass diese Unternehmen gegenüber den Finanzämtern,
also bei der Steuerveranlagung, das natürlich schon offenlegen müssen; das ist ja selbstverständlich.
Was Sie wollen, ist, dass Offenlegung heißt: Es soll
für die gesamte Bevölkerung erkennbar sein, wie das
Geschäftsgebaren eines Unternehmens, eines Konzerns
ist. Sie wollen damit sozusagen einen öffentlichen Pranger errichten.
({4})
Sie schreiben selber in Ihrem Antrag, dass die Gesellschaft Druck auf diese Unternehmen ausüben soll, ihr Geschäftsmodell einzuschränken. Da muss ich ganz ehrlich
sagen: Wie weit her ist es eigentlich mit der angeblichen
Bürgerrechtspartei Die Grünen, die offenbar sämtliche
Themen wie Datenschutz und Ähnliches mittlerweile
völlig über den Haufen geworfen hat und eher Instrumente wie einen öffentlichen Pranger, der in Deutschland
eigentlich vor 500 Jahren abgeschafft wurde, wieder einführen will?
Da sieht man ganz einfach: In diesem schwierigen
Bereich machen auch Sie eine rein symbolische Steuerpolitik. Sie sind damit in einem Boot mit dem von Ihnen
anvisierten Koalitionspartner - das wird nicht funktionieren, aber Sie wollen es ja unbedingt -, aber im Ergebnis werden Sie inhaltlich nichts erreichen können, was in
die Richtung geht, dass jeder Staat tatsächlich die Steuereinnahmen erhält, die ein Staat erhalten muss, wenn
wir eine internationale Zusammenarbeit anstreben.
Das machen wir heute mit der Vorlage des Gesetzes
zur Inkraftsetzung von FATCA, Foreign Account Tax
Compliance Act. Herr Kollege Gambke hat gesagt: Zehn
Jahre haben die Amerikaner sich darum bemüht. - In
sechs Jahren davon gab es einen SPD-Bundesfinanzminister, der das abgewehrt hat. Insofern: Das wurde
von dieser christlich-liberalen Koalition, von Bundesfinanzminister Schäuble, geschafft,
({5})
und das ist der einzige Weg, um erfolgreich eine verantwortungsvolle Steuerpolitik zu betreiben, die man ja allgemein völlig zu Recht als Ziel erkannt hat.
({6})
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Lothar
Binding. Bitte schön, Kollege Lothar Binding.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Hätte Finanzminister
Schäuble in seiner Zeit so viel erreicht wie Peer
Steinbrück in seiner Zeit als Finanzminister,
({0})
wären wir einen großen Schritt weiter.
({1})
Wir hätten eine weiterentwickelte Zinsschranke. Wir
hätten uns die exorbitante Zeitverschwendung durch das
miserable Steuerabkommen mit der Schweiz erspart.
Wir wären längst bei FATCA. Die Zinsrichtlinie wäre
weiterentwickelt worden. Wir hätten schon das Countryby-Country-Reporting. Wir hätten vielleicht sogar eine
Veränderung der beschränkten Steuerpflicht im Außensteuerrecht. Sie wissen ja: Dieses Recht funktioniert in
Europa nicht mehr so, wie wir das wollen. Das hätte man
vielleicht sogar hin zu einer Quellensteuer entwickeln
können. Das wäre eine echte Weiterentwicklung gewesen. Sie aber schauen immer zurück und rechtfertigen
Ihre eigene Untätigkeit damit, dass vor zehn Jahren etwas nicht passiert ist.
({2})
Es geht hier um Weiterentwicklung, immer in der Zeit
der eigenen Amtsführung.
Lothar Binding ({3})
Das Interessante ist: Der Minister fordert jetzt, am
Ende seiner Amtszeit, in gewisser Weise von sich selbst
eine Missbrauchsklausel. Darüber hätte er schon früher
nachdenken können. Er formuliert - das, finde ich, widerspricht sich - eine pauschalierende Regelung für,
auch wenn er das nicht gesagt hat, Betrüger, nämlich für
die, die in der Vergangenheit betrogen haben. Das wollen wir nicht mitmachen.
({4})
Das muss nämlich jedem, der dem automatischen Lohnsteuerabzug unterliegt, den Ärger in die Augen treiben,
und das kann ich sehr gut verstehen.
Sie schlagen sich in gewisser Weise schon wieder auf
die Seite der feinen Elite, die unter dem Deckmantel der
Elite machen kann, was sie will. Um von diesem Verfahren abzulenken, fällt in dieser Debatte, die etwas ganz
anderes zum Inhalt hat, das Wort „Steuererhöhungsorgie“. Ich will mit Blick auch auf die Zuschauerränge einmal sagen, worum es dabei geht. Denjenigen, der hier
65 000 Euro im Jahr verdient - die meisten von Ihnen
auf den Rängen verdienen das nicht; denn das Durchschnittseinkommen beträgt 30 000 Euro; mithin verdienen sehr viele sehr viel weniger -, wollen wir tatsächlich
mit 3 Euro im Monat belasten. Ich kann mir einfach
nicht vorstellen, dass das auszuhalten ist!
({5})
Falls Sie aber 100 000 Euro im Jahr verdienen, was auch
nicht so richtig wenig ist, wollen wir noch mehr von Ihnen, nämlich 110 Euro im Monat. Wenn Sie sich überlegen, was Ihnen dann bleibt, wenn Sie diese 100 000 Euro
im Jahr verdienen, erkennen Sie: Das ist mehr als das,
was die meisten heute haben.
({6})
- Und das wird hier als „Orgie“ bezeichnet!
Auch im Zusammenhang mit der Vermögensteuer
wurde eben von einer massiven Belastung gesprochen.
Ich will jetzt einmal sagen, wie hoch diese massive Belastung ist. Wir haben 10 000 Milliarden Euro unverschuldetes Privatvermögen - das Wenigste davon gehört
Ihnen, meine Damen und Herren auf den Rängen -, und
die SPD-Länder haben sich überlegt, weil sie die Schuldenbremse einhalten müssen, dass es ihnen sehr helfen
würde, wenn sie davon 10 oder 11 Milliarden Euro bekämen. Das wäre ein Steuersatz von 0,1 Prozent, übrigens
nur auf das private Vermögen; um Unternehmen geht es
hier gar nicht. Und das nennt man „massive Steuerbelastung“! Ich glaube, da sind die Begriffe durcheinandergeraten. Ich würde Ihnen eine höhere rhetorische Fähigkeit
wünschen.
Der Herr Wissing hat eigentlich etwas ganz Richtiges
gesagt, nämlich: Was wir in der Vergangenheit gemacht
haben, also in den letzten drei bis vier Jahren, ist die Lösung der Probleme. - Wenn er das so sieht, dann denke
ich: Es ist alles erledigt, und die Regierung kann gehen.
({7})
Letzte Rednerin in dieser Aussprache ist für die Fraktion von CDU und CSU unsere Kollegin Frau Antje
Tillmann. Bitte schön, Frau Kollegin Antje Tillmann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unserem Steuersystem liegt der Gedanke der Leistungsfähigkeit zugrunde. Starke Schultern sollen mehr schultern
als schwache. Diejenigen, die viel verdienen, sollen stärker an den Kosten des Staates beteiligt werden. Das
klappt in vielen Bereichen gut. So zahlen 25 Prozent aller Steuerpflichtigen 80 Prozent der Einkommensteuer.
In den Städten tragen die ertragreichsten 10 Prozent der
Unternehmen über die Gewerbesteuer den Haushalt der
Kommunen zu 20 Prozent. Wer ein zu versteuerndes
Einkommen von 52 881 Euro hat, führt fast die Hälfte
seines Einkommens an den Staat ab.
Dieses Prinzip der Leistungsfähigkeit ist gut, richtig
und gerecht. In anderen Bereichen klappt das aber nicht
so gut. Ein Grund dafür sind die Steuerschlupflöcher.
Diese Steuerschlupflöcher hat es übrigens vor vier Jahren alle auch schon gegeben. Schon vor vier Jahren unter
dem damaligen Finanzminister gab es die Möglichkeit,
dagegen vorzugehen. Ich will die Steuerschlupflöcher
einzeln aufzählen; denn es ist bedauerlich, dass Sie trotz
der Reden, die Sie heute hier so tapfer gehalten haben,
bei fast allen Gesetzentwürfen, mit denen die Steuerschlupflöcher geschlossen werden sollten, dagegen gestimmt haben.
({0})
Ich fange an mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz. Mit dem Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetz haben wir drei Steuerschlupflöcher stopfen wollen. Ich nenne nur die Stichwörter Cash-GmbH, RETTBlocker, Goldfinger-Modelle.
({1})
Das sind Steuerschlupflöcher, durch die Millionen von
Steuergeldern am Fiskus vorbeigehen. Diesen Gesetzentwurf haben Sie abgelehnt.
({2})
Gott sei Dank wurde im Vermittlungsausschuss am Mittwoch eine Regelung dazu gefunden. Wir hätten diese
Regelung ein halbes Jahr früher haben können. Wir hätten in unserem Staatshaushalt zig Millionen zusätzliche
Steuereinnahmen, wenn Sie dieses Gesetz nicht blockiert
hätten.
({3})
Ich mache weiter mit dem AIFM-Steueranpassungsgesetz. Auch hier gibt es vier verschiedene Möglichkeiten, Steuern nicht zu zahlen. Das halten wir für nicht
sachgerecht. Sie haben die Möglichkeit, Ihren Reden Taten folgen zu lassen, indem Sie den Bundesrat davon
überzeugen, in etwa einer Stunde diesem Gesetzentwurf
zuzustimmen. Sonst herrscht auch hier über Monate hinweg Unsicherheit. Dann werden Steuern nicht gezahlt,
die wir im Haushalt gut gebrauchen könnten. Auch diesem Gesetzentwurf haben Sie nicht zugestimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir
haben heute über FATCA gesprochen. Sie haben im Zusammenhang mit dem Steueranpassungsgesetz dem
FATCA-Abkommen nicht zugestimmt. Sie haben abgelehnt. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen.
({4})
- Sie haben den Gesetzentwurf abgelehnt, Herr Binding.
Das werden Sie doch wohl nicht bestreiten.
Auch bei vielen anderen Maßnahmen - OECD-Maßnahmen, Doppelbesteuerungsabkommen - haben Sie
sich entweder enthalten, oder Sie haben sie abgelehnt.
Das heißt, Ihre Rede geht heute völlig ins Leere; denn
Sie hätten die Chance gehabt, für die Bürgerinnen und
Bürger Steuermehreinnahmen zu erzielen.
Neben der Steuergestaltung ist auch die Steuerhinterziehung problematisch. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass Steuerhinterziehung am ärgerlichsten ist. Dass
Bürgerinnen und Bürger auf Kosten der Allgemeinheit
versuchen, sich nicht zu beteiligen, ist ärgerlich, aber
auch strafrechtlich relevant. Wir gehen dagegen vor;
aber immer dann, wenn es akut wird, kneifen Sie.
({5})
Das Steuerabkommen mit der Schweiz ist mehrfach angesprochen worden. Sie erzählen den Bürgerinnen und
Bürgern, dass Ihre Variante zu mehr Steuerehrlichkeit
führen würde. Tatsächlich ist es aber so, dass wir heute
fast 10 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr haben
könnten. Dieses Geld hätten wir zum Beispiel für Hochwasser-/Flutopfer gut gebrauchen können. Wir haben
dieses Geld nicht, weil Sie das Abkommen abgelehnt haben.
({6})
Sie erzählen, Steuerehrlichkeit wäre eingezogen. Tatsächlich aber knallen die Sektkorken bei den Steuerhinterziehern, weil sie jetzt gar nichts zahlen müssen. Jedes
Jahr verjähren die in einem Jahr hinterzogenen Beträge
in der Schweiz. Dieses Geld hätten wir haben können,
wenn Sie mitgemacht hätten.
({7})
Das gilt auch für die Steuerabkommen. In vier Jahren
haben wir 36 Doppelbesteuerungs- und Informationsaustauschabkommen geschlossen, die dazu beitragen, Steuerehrlichkeit herbeizuführen. Die letzten haben wir vor
14 Tagen mit Grenada und den Cookinseln geschlossen.
Sie haben in vier Jahren 6 Abkommen geschlossen. Wir
sind auf dem richtigen Weg.
Ich kann Sie nur auffordern - das müsste das gemeinsame Ziel aller Abgeordneten in diesem Haus sein -, mit
uns gemeinsam dafür zu sorgen, dass den Bürgerinnen
und Bürgern nur so viel Steuern abgenommen werden,
wie sie bezahlen müssen. Wir müssen aber dafür sorgen,
dass ihnen diese Summe garantiert abgenommen wird.
Ich kann Sie nur auffordern, dieses Ziel gemeinsam mit
uns zu verfolgen. Sie können das noch tun. Der Bundesrat kann dem Anpassungsgesetz zustimmen. Ich freue
mich, wenn Sie dabei sind.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort zu einer
Kurzintervention hat unser Kollege Lothar Binding.
Bitte schön, Kollege Lothar Binding.
Ich möchte mit Blick auf den eben formulierten Redebeitrag noch einmal daran erinnern, dass es den Entwurf
eines Jahressteuergesetzes gab, in dem es auch um Cash
GmbHs und RETT-Blocker ging. Für die, die das nicht
wissen, sage ich: RETT steht für Real Estate Transfer
Tax.
({0})
Der Entwurf enthielt etwa 50 oder sogar 100 Regelungen, denen wir zugestimmt haben. Wer hat diesem Gesetzentwurf nicht zugestimmt? Das waren CDU/CSU
und FDP. Dann wurden Teile dieses Gesetzentwurfs in
einen anderen überführt, nämlich das Amtshilferichtlinien-Sowieso-Gesetz. Warum musste dieser neue Name
her? Weil Sie verhindern wollten, das zu beschließen,
was Ihnen in dieser Woche das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat, nämlich korrekt mit homosexuellen Frauen und Männern umzugehen.
({1})
Das ist genau der Punkt. Weil Sie auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil gewartet haben, haben Sie die Regelungen zu RETT-Blockern und Cash GmbHs abgelehnt. Jetzt werfen Sie uns vor, dass wir ein unfertiges
Gesetz - das Jahressteuergesetz hätten Sie mit Blick auf
die Verfassungsgerichtsbarkeit längst beschließen können - abgelehnt haben. Das ist eine große Unehrlichkeit.
Ich will noch einmal sagen: Wir wollten die Erbschaftsteuerregelungen durch die Cash GmbHs bekämpfen. Wir waren dafür, die RETT-Blocker einzuführen.
Denn wenn sich hier jemand um die Bekämpfung von
Steuerhinterziehung, Steuerbetrug und Steuergestaltung
kümmert, dann wir. Jedenfalls ist es nicht Schwarz-Gelb.
Das haben Sie sogar bewiesen. Sie haben ja die Dinge,
die die Große Koalition gemacht hat, zurückgedreht. Das
Lothar Binding ({2})
ist der schlagende Beweis dafür, in welche Richtung Sie
denken und in welche Richtung wir arbeiten.
({3})
Ich gebe nun das Wort unserer Kollegin Frau Antje
Tillmann.
Herr Kollege Binding, das Einzige, was ich behauptet
habe, war, dass Sie dem Gesetzentwurf, in dem diese
Verhinderungsmaßnahmen enthalten waren, nicht zugestimmt haben,
({0})
weil die Zustimmung zum Jahressteuergesetz mit einem
hier im Deutschen Bundestag gar nicht beantragten Vorgang, nämlich Regelungen zur gleichgeschlechtlichen
Lebensgemeinschaft, verbunden wurde. FATCA war im
AIFM-Steuer-Anpassungsgesetz enthalten. Dem haben
Sie nicht zugestimmt.
({1})
- Aber es war ein Gesetz, dem Sie nicht zugestimmt haben. Mehr habe ich nicht behauptet.
Hinsichtlich der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften wussten Sie von Anfang an, dass wir dem
zum damaligen Zeitpunkt nicht zustimmen konnten. Sie
hätten den Steuerhinterziehungsmaßnahmen gut ein halbes Jahr eher zustimmen können, wenn Sie es gewollt
hätten.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/13716, 17/13704 und 17/13717
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann haben wir gemeinsam die
Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Nächstes kommt
der Tagesordnungspunkt 49, den ich jetzt aufrufe:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
16. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik 2011/2012
- Drucksache 17/12052 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Alle sind damit einverstanden? - Dann haben wir dies so beschlossen.
Nun kommen wir zur Aussprache. Als Erstes darf
ich für die Bundesregierung Frau Staatsministerin
Dr. Cornelia Pieper das Wort geben. Bitte schön, Frau
Kollegin Dr. Pieper.
({1})
Danke. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute diesen Bericht zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik noch
zu einer guten Tageszeit unter der Mitberatung der Öffentlichkeit hier vorstellen können. Ich möchte Ihnen zunächst die Frage stellen: Kann ein Land, das Bratwürste
und Gartenzwerge liebt, das beliebteste Land der Welt
sein? So fragten jüngst die Medien. Beantwortet wurde
die Frage vor rund einem Monat durch die jährliche Umfrage des Rundfunksenders BBC World Service. 59 Prozent der mehr als 26 000 Befragten in 25 Ländern sehen
den Einfluss Deutschlands in der Welt als vor allem
positiv. Mit Platz eins liegt Deutschland noch weit vor
Kanada und Großbritannien.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein vertrauenswürdiger und verlässlicher Partner. Diese Wahrnehmung hat sich seit Jahren in anderen Ländern immer
mehr verfestigt. In Zeiten der Finanzkrise in Europa, in
der auch manch kritische Töne zu vernehmen sind, ist
das keine Selbstverständlichkeit. Viel haben dazu aus
meiner Sicht die Programme der Auswärtigen Kulturpolitik beigetragen. So fördern wir den Aufbau und die
Pflege nachhaltiger Netzwerke, langfristige Bildungspartnerschaften sowie den interkulturellen Dialog.
Ein jüngstes Beispiel - viele Kolleginnen und Kollegen waren dabei -: die Kunstbiennale in Venedig vor
zwei Jahren. 2011 hat der deutsche Pavillon mit der
Kuratorin Frau Dr. Gaensheimer und dem Künstler
Christoph Schlingensief sogar den Goldenen Löwen gewonnen. Die Kunstbiennale in Venedig zeigt: Berlin
gehört zu den attraktivsten und beliebtesten Arbeitsstandorten für Künstler aus der ganzen Welt. 26 von
60 Künstlern, welche den internationalen Pavillon gestaltet haben, arbeiten hier in Berlin. Die Präsentation
des deutschen Pavillons im französischen Pavillon in
diesem Jahr war auch deshalb so erfolgreich, weil wir,
meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bewusst für die
Freiheit der Kunst geworben haben und Künstlern, die
nicht frei in ihrem Land arbeiten und leben können,
Raum für ihre Ausstellungen gegeben haben, in diesem
Jahr in Venedig zum Beispiel Ai Weiwei.
({0})
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik wirbt weltweit für Vertrauen, aber auch für unsere Werte, die geprägt sind von Demokratie, Menschenrechten und Toleranz.
({1})
In Istanbul wurde gemeinsam mit den Fraktionen des
Deutschen Bundestages die Kulturakademie Tarabya auf
den Weg gebracht - für den deutsch-türkischen Dialog
der Zivilgesellschaften ein unverzichtbares Projekt, gerade jetzt, um die freiheitlichen Kräfte des Landes zu unterstützen.
Auch die „Kunst der Aufklärung“ in Peking, die
größte Ausstellung, die wir aus dem Haushalt der AKBP
je finanziert haben, war ein prägendes Beispiel. Mehr als
600 000 Chinesen, darunter viele Schulklassen, haben
sich mit europäischer Kunst und den europäischen Werten der Aufklärung unter Betreuung durch junge
Museumspädagogen auseinandergesetzt.
In Budapest läuft aktuell eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin zum Leben von jüdischen Russen
in Deutschland, die in Kooperation der beiden Außenministerien auch während des Jüdischen Weltkongresses
gezeigt wurde. Im Lichthof des Auswärtigen Amtes werben wir für ein Welterbeprojekt in Armenien, welches
mit deutscher Technologie Fotografien von 3 000 Jahre
alten Felsbildern ermöglicht.
Ebenso bereiten wir, auch auf Antrag aller Fraktionen
des Deutschen Bundestages, für die Lutherdekade eine
internationale Ausstellung 2016 in den USA und Südkorea über die Reformation, dieses geistes- und weltgeschichtliche Ereignis mit großer Wirkung, vor. Diese
Beispiele stehen für eine werteorientierte Außenpolitik,
für werteorientierte Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, und das
ist gut so.
({2})
Ich möchte an dieser Stelle aus der Präambel der
UNESCO-Verfassung zitieren:
Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss
auch der Frieden im Geist der Menschen verankert
werden.
Ich glaube, es ist der größte Beitrag der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik, dass wir insbesondere
junge Menschen erreichen, ihren Geist erreichen und natürlich auch für unsere Werte werben.
Meine Damen und Herren, Tatsache ist: Keine Regierung zuvor hat so viel in Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik investiert wie diese, und keine Regierung
zuvor hat so viel in die Köpfe junger Menschen im Ausland investiert. Der Haushalt 2013 umfasst 787 Millionen Euro. Er ist damit der größte Haushalt der Auswärtigen Kulturpolitik in der Geschichte des Auswärtigen
Amtes. Verglichen mit dem letzten und höchsten Haushalt der vorherigen Koalition von 2009 steht diese Zahl
für einen Zuwachs um 61 Millionen Euro.
({3})
Mit anderen Worten: Trotz der von der Bundesregierung
prioritär verfolgten Haushaltskonsolidierung konnten die
Aufwendungen für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auf ein noch nie zuvor erreichtes Niveau
gesteigert werden.
Im Gegensatz zu öffentlichen Behauptungen, es würden Goethe-Institute geschlossen, haben wir neue eröffnet, so 2011 in Nikosia. Dort können junge Menschen
aus dem griechischen und aus dem türkischen Teil Zyperns den friedlichen Dialog führen. Wir geben ihnen
damit eine Plattform für Zusammenkünfte und Diskussionen. Weitere Eröffnungen wie in Riad, in Tripolis
- sobald es die Sicherheitslage erlaubt - stehen an. Im
kommenden Monat werde ich in Myanmar mit dem Präsidenten des Goethe-Instituts ein Kulturabkommen unterzeichnen, durch das nicht nur das Goethe-Institut,
sondern auch andere Institutionen - wie der Deutsche
Akademische Austauschdienst - eine rechtliche Plattform für den Aufbau von Strukturen bekommen.
({4})
Das ist nicht nur ein großartiges außenpolitisches und
kulturpolitisches Signal, es hilft auch, den Umbruch in
diesem Land zu verstärken bzw. diesem Land beim Aufbau von friedlichen und demokratischen Strukturen zu
helfen.
Auch dank der Initiative des Bundestages - das will
ich hier ausdrücklich erwähnen - für ein zusätzliches
Programm der deutschen Sprache konnten weltweit
59 neue Sprachlernzentren eröffnet werden. Der Zulauf
zu Deutschkursen ist, wie wir wissen, enorm gewachsen,
insbesondere in Südeuropa: In Griechenland ist er um
20 Prozent gewachsen, in Spanien sogar noch mehr.
Sehr erfreuliche Zahlen gibt es auch im Bereich der
Förderung der deutschen Sprache: 14 Millionen Menschen außerhalb des deutschen Sprachraums lernen
Deutsch, über 230 000 Teilnehmer im Jahr besuchen
Kurse des Goethe-Instituts. Nicht zu vergessen, die
Deutschlandjahre. Wir haben gerade erfolgreich ein
Deutschlandjahr in Russland durchgeführt und beginnen
nun, in Brasilien für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland zu werben.
Wir haben auch Aktivitäten zur dualen Berufsausbildung wieder in das Programm der Auswärtigen Bildungspolitik aufgenommen. Das war lange Jahre nicht
der Fall. Gerade an den Transformationsprozessen in den
arabischen Ländern wurde aber erkennbar, wie wichtig
auch die Zusammenarbeit in diesem Bereich ist. Daher
haben wir hier neue Aktivitäten ins Leben gerufen. Ich
will nur ein Beispiel nennen: die Neugründung einer Berufsfachschule für Berufsausbildung im Bereich der erneuerbaren Energien in Tunis in Tunesien.
Gestern, liebe Kolleginnen und Kollegen, fand in
Berlin das Internationale Bildungsfest statt, welches von
mir vor drei Jahren ins Leben gerufen wurde, weil ich
der Auffassung bin, dass sich die Arbeit der Lehrerinnen
und Lehrer und der Schulleiter der deutschen Auslandsschulen sehen lassen kann.
({5})
Ich finde, sie verdienen unsere Anerkennung dafür, dass
sie innovative Lernmethoden einführen.
Vor drei Jahren haben wir die Exzellenz-Initiative
„Innovatives Lernen“ gestartet. Als Pilotprojekt zwischen einer Schule in Thailand und einer Schule in Singapur wurde eine globale Schule auf den Weg gebracht.
Wir haben vereinbart, dass wir den Funken überspringen
lassen wollen von diesen deutschen Auslandsschulen auf
unsere Schulen in Deutschland. Wir wollen dieses digitale Lernen auch mit deutschen Schulen vernetzen. Warum soll eine Schule in Berlin künftig nicht auch mit einer Schule in Singapur oder in Barcelona gemeinsam
Unterricht machen? Dank der neuen Möglichkeiten des
digitalen Lernens lassen sich die Voraussetzungen dafür
schaffen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich will ausdrücklich noch
einmal für das Auslandsschulgesetz werben und bedanke
mich bei allen Fraktionen für die Unterstützung. Die
Teilnehmer des Internationalen Bildungsfestes haben
gestern noch einmal an uns appelliert, das Auslandsschulgesetz noch in dieser Legislaturperiode zu verabschieden. Dieses Gesetz bedeutet für die deutschen Auslandsschulen Planungssicherheit; das ist ihnen sehr
wichtig. Es geht dabei nicht um mehr Geld, Frau Abgeordnete Ulla Schmidt. Wir wollen auf der Basis des hohen Budgets, das wir eingestellt haben, dafür sorgen,
dass die deutschen Auslandsschulen einen Rechtsanspruch auf Finanzierung für immerhin drei Jahre bekommen. Ich glaube, das ist eine hohe Anerkennung der
Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer an diesen Schulen,
die ja auch nach Deutschland zurückkehren und ihre Erfahrung an deutschen Schulen einbringen.
({7})
Meine Damen und Herren, last, but not least: Die
Bilanz nach vier Jahren - der Bericht zur Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik liegt Ihnen vor - zeigt: Investitionen in die Auswärtige Kultur-, Bildungs- und
Wissenschaftspolitik sind nicht nur gute Investitionen in
die Zukunft unseres Landes, sondern auch in eine nachhaltige Friedenspolitik.
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen,
allen Partnern zu danken, insbesondere natürlich den
Kulturmittlern - dem Goethe-Institut, der Alexandervon-Humboldt-Stiftung, dem DAAD, dem ifa, der Deutschen Welle -, aber auch meinen Kolleginnen und Kollegen im Auswärtigen Ausschuss und vor allen Dingen im
Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und seinem Vorsitzenden, Peter Gauweiler. Herzlichen Dank für die faire Partnerschaft und für die erfolgreiche Zusammenarbeit, die heute erkennbar wird!
Vielen Dank.
({8})
Als Nächste spricht unsere Kollegin Ulla Schmidt für
die Sozialdemokraten. Bitte schön, Frau Kollegin Ulla
Schmidt.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Vielen Dank, Frau Staatsministerin für
den Bericht. Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, dass
der Bericht genauso bunt ist wie die mir vorliegende
Broschüre. Aber bunt zu sein allein, bedeutet noch nicht,
dass alles so, wie es ist, auch okay ist.
Zunächst möchte ich sagen, dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für uns immer eine sehr bedeutende Rolle als dritte Säule der Außenpolitik gespielt
hat; denn über die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist es uns möglich, einen Prozess des offenen Austausches auf den Weg zu bringen, um die Menschen, die
überall in der Welt für Freiheit und für Emanzipation
kämpfen, zu unterstützen. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist auch ein unverzichtbares Element, wenn
es darum geht, für bessere Lebensbedingungen der Menschen in ärmeren Ländern zu streiten. Sie dient auch der
Krisenprävention und der Krisenbewältigung.
Viele der Aktivitäten der jetzigen Bundesregierung
stehen in der Kontinuität vieler Initiativen, die schon
vorher auf den Weg gebracht worden sind. Ich denke nur
an die Wissenschaftsinitiative oder an den Aufbau von
Partnerschulen, den PASCH-Schulen, durch den vorherigen Außenminister Steinmeier.
Wer Ihren Bericht liest, wird auch viele positive Maßnahmen darin finden. Wir begrüßen die Aktivitäten zum
Jubiläum des Élysée-Vertrages, wir begrüßen Städtepartnerschaften. Wir stehen gerade in einer Diskussion über
die Frage, wie wir denn mithilfe der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in den Ländern tätig werden
können, die, wie zum Beispiel Griechenland, von der europäischen Krise besonders betroffen sind. Wir diskutieren in diesem Zusammenhang darüber, wie durch die
Unterstützung der Kultur und durch die Begegnungen im
Rahmen von Städtepartnerschaften ein gegenseitiges
Verständnis gefördert werden kann. Wir begrüßen auch
all die Aktivitäten, über die wir in dieser Woche im Kulturausschuss diskutiert haben: zum Beispiel Unterstützung der Deutschen Welle und Hilfe bei der Ausbildung
von Journalistinnen und Journalisten in den Transformationsländern.
Gerade durch die anhaltende Finanzkrise - auch Sie
haben sie kurz angesprochen - ist deutlich geworden,
wie wichtig Deutschlands Rolle nicht nur in Europa,
sondern auch global ist. Zur Stärke gehört auch, Verant30870
Ulla Schmidt ({0})
wortung übernehmen zu wollen. Aber wenn man außenpolitische Verantwortung übernehmen will - und hier
setzt die Kritik an -, dann ist es äußerst fahrlässig, wenn
diese Verantwortung zunehmend auf Cultural Diplomacy reduziert wird; denn das greift einfach zu kurz. Die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik alleine daran
auszurichten, was Deutschland direkt nutzt, markiert einen Paradigmenwechsel in der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik.
({1})
Ich habe in Ihrem Bericht gelesen, es sei kein Paradigmenwechsel auf den Weg gebracht worden. Anscheinend haben die Diskussionen darüber etwas genutzt.
Diese Bemerkung im Bericht zeigt, dass man diesen Einwand zumindest zur Kenntnis genommen hat.
Wer nachschaut, welches die Schwerpunkte der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind, der erkennt:
Die Schwerpunkte werden festgemacht an Themen wie
Vermittlung der deutschen Sprache, Wissenschaftsstandort Deutschland, Kunst und Kultur aus Deutschland ins
Ausland und Sympathiewerbung für Deutschland. Zu
kurz kommen die Fragen, die für den Austausch der Kulturen entscheidend sind. Es geht uns nicht nur darum,
Kultur und Kunst aus Deutschland ins Ausland zu bringen, sondern für uns bedeutet Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik insbesondere, dass wir auch Empfänger
von Kultur sind. Wir wollen den Austausch der Kulturen, damit sich Völker und Menschen dieser Welt auf
Augenhöhe begegnen können. Nur so können wir verstehen, wie unsere Partner und Partnerinnen denken und
welches ihre Anliegen sind.
({2})
So verstehen wir die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Im Unterausschuss können wir Gott sei Dank
fraktionsübergreifend immer über die Schwerpunkte diskutieren.
Der Paradigmenwechsel, der stattgefunden hat, lässt
sich so beschreiben: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik unter Außenminister Westerwelle dient nur noch
dem Ziel, Deutschland direkt zu nutzen, und nicht dem
Ziel, Freunde in der Welt zu finden.
({3})
Ich will dazu nur auf einige Punkte eingehen, weil
man nicht alles erwähnen kann:
Erster Punkt. In den allgemeinen Ausführungen sagen
Sie zwar - Sie haben das eben auch angesprochen, Frau
Staatsministerin -, dass der Dialogansatz eine wichtige
Strategie ist und auch zur zivilen Krisenprävention beiträgt. Aber die zivile Krisenprävention, die immer auch
Bestandteil der wichtigsten Ziele der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik war, wird unter den Hauptzielen
gar nicht mehr erwähnt.
Zweiter Punkt. Die Programme des Goethe-Instituts,
zum Beispiel „Kultur und Entwicklung“, die wir alle unterstützen - auch im Unterausschuss - und die sich genau um diese Bereiche kümmern, finden überhaupt
keine Erwähnung mehr.
({4})
Dritter Punkt. Man muss sich wundern, dass die Mittel für die zivile Krisenprävention auch im Jahre 2013
wieder um mehr als 20 Prozent gekürzt wurden, obwohl
man sagt, dieses Ziel sei wichtig. Ich glaube, wer sich
die Welt anschaut und sieht, dass die Krisenpotenziale
zunehmen, der weiß: Nicht weniger, sondern mehr Krisenprävention wäre angebracht, um militärische Interventionen zu vermeiden.
({5})
Nächster Punkt. Sie haben das Goethe-Institut gelobt.
Wir schätzen und unterstützen die gesamte Arbeit der
Kulturmittler und unserer Mittlerorganisationen, weil
das das Pfund Deutschlands in der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik ist. Sie reden von einem Rekordhaushalt in diesem Jahr.
({6})
Ich muss sagen: Es gibt kein einziges Jahr in dieser Legislaturperiode, in dem wir im Unterausschuss keine
heftigen Debatten hatten, weil die Mittel für das GoetheInstitut entgegen den erwähnten tollen Versprechen, die
gemacht wurden, gekürzt wurden und weil immer mehr
versucht wurde, Einfluss darauf zu nehmen, was das
Goethe-Institut macht. Man hat dem Goethe-Institut auf
der einen Seite eine Budgetierung zugesagt, in dessen
Rahmen es selbstständig entscheiden können soll, wie es
seine Aufgaben wahrnimmt. Auf der anderen Seite wird
der Haushalt ständig gekürzt, und die Mittel, die das
Goethe-Institut zur Verfügung hat, werden in Programme umgelenkt, die auch dem Außenminister zupasskommen.
Frau Staatsministerin, Sie können jetzt sagen: Das hat
der Haushaltsausschuss - genauer müsste man sagen: die
Vertreter der Koalition im Haushaltsausschuss -,
({7})
zu verantworten, dass die Mittel für das Goethe-Institut
um 8 Millionen Euro gekürzt wurden. - Das ist genau
der Betrag, den Sie hier eben lobend erwähnt haben, als
Sie davon sprachen, dass mehr Geld für die Förderung
der deutschen Sprache bereitgestellt wird.
Ihre Leute im Haushaltsausschuss haben die Mittel im
Laufe der Jahre ständig gekürzt. Es ist nicht fair, auf der
einen Seite das Goethe-Institut für seine Arbeit zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland zu loben und
auf der anderen Seite zuzulassen, dass die Mittel immer
mehr gekürzt werden. Das wird der Arbeit des GoetheInstituts nicht gerecht.
Ulla Schmidt ({8})
({9})
Sie, Frau Staatsministerin, sagen: Das war der Haushaltsausschuss. Dann gibt es aber zwei mögliche Erklärungen: Entweder man hat mit dem Koalitionspartner
gemeinsame Sache gemacht
({10})
nach dem Motto „Wenn ihr das macht, dann brauchen
wir das nicht zu tun“, oder aber - und das wäre genauso
bedauerlich - Ihre Fraktion lässt Sie, die Sie zweifelsohne großes Engagement für die Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik zeigen, einfach im Regen stehen. Unabhängig davon, welche Erklärung zutrifft: Die Auswirkung auf die Arbeit des Goethe-Instituts ist negativ.
Sie haben davon gesprochen, mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Ich erwähne hier noch einmal: 90 Millionen Euro mehr für die Finanzierung von Bildung und
Wissenschaft sind zwar in Ihrem Haushalt angekommen,
aber Sie haben dieses Geld dafür genutzt, Löcher zu
stopfen, und nicht dafür, die Aufgaben wie beispielsweise Aufgaben im Bereich der Auslandsschulen in ausreichendem Maße zu finanzieren. Das ist der Fakt, um
den es hier geht.
({11})
Ein weiterer Punkt ist das Deutschlandjahr. Diesem
gemeinsamen Konzept lag die Idee zugrunde, dass viele
Bereiche wie Bildung, Kultur, Sport, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten
sollen, damit es gelingt, im Rahmen eines sehr ergebnisoffenen kulturellen Austausches ein positives Deutschlandbild nach außen zu vermitteln. Diesen Austausch
brauchen wir zwar auch innerhalb Europas, aber vor allen Dingen außerhalb Europas müssen wir diesen Austausch fördern.
Umso mehr - das sage ich hier ganz klar - bedauert
meine Fraktion, dass die Projektleitung des Deutschlandjahres in Brasilien an den Bundesverband der Deutschen Industrie vergeben wurde. Wenn man einen
offenen kulturellen Austausch will, wozu das Deutschlandjahr beitragen soll, dann muss das Primat der Kulturpolitik, das in diesem Bereich immer gegolten hat,
weiterhin gelten, sonst müssen Sie sich den Vorwurf gefallen lassen, dass auch die Deutschlandjahre zu nichts
anderem da sind, als die Interessen der deutschen Industrie zu bedienen. Das entspricht nicht dem ursprünglichen Konzept und auch nicht dem, was unter FrankWalter Steinmeier auf den Weg gebracht wurde.
({12})
Sie haben vorhin das Auslandsschulgesetz angesprochen.
({13})
Ich glaube, allen Abgeordneten im Unterausschuss ist
die Wichtigkeit der deutschen Auslandsschulen klar,
ebenso wie die Aufgaben, die wir dort wahrnehmen wollen. Wir haben im Unterausschuss einstimmig gesagt: Ja,
wir wollen ein Auslandsschulgesetz, mit dem die Finanzierung auf eine verlässliche Basis gestellt wird. Wir
wollen damit Planungssicherheit für die Auslandsschulen erreichen; denn sie ist eine Voraussetzung dafür, dass
die Schulen die Qualität erbringen können, die wir uns
alle wünschen.
Frau Staatsministerin, Ihr Engagement in allen Ehren:
Wir hätten Ihnen ein bisschen mehr Unterstützung seitens des Außenministers gewünscht und auch, dass er
Sie nicht im Regen stehen lässt.
({14})
Das, was im Zusammenhang mit dem gesetzlichen Anspruch einiger Schulen und mit der Beilegung des Streites um den Versorgungsausgleich geregelt wurde, ist
noch kein Gesetz.
Sie haben eben gesagt, dass die Mittel für den Schulfonds nicht aufgestockt werden müssen. Darüber muss
man reden. Man muss auch darüber reden, wie groß dann
das Stück vom Kuchen ist, das jede einzelne Schule bekommt, zumal Sie, Frau Staatsministerin, gesagt haben,
dass die Zahl der PASCH-Schulen auf 2 000 aufgestockt
werden soll. Wenn dann kein Cent zusätzlich vorhanden
ist und keine entsprechende Haushaltsposition dahintersteht, dann bekommt jede einzelne Schule weniger. Darüber muss man offen reden und das auch zur Abstimmung stellen.
Wir wollen ein Auslandsschulgesetz. Ich sage aber
auch deutlich: Wo „Auslandsschulgesetz“ draufsteht,
muss auch „Auslandsschulgesetz“ drin sein.
({15})
Wir fordern eine gute Qualität. Die entsprechende Verwaltungsvereinbarung und die Verwaltungsverordnung
dazu wollen wir vorher sehen; denn darin wird festgelegt, wie die Förderung der einzelnen Schulen ausgestaltet wird.
Ich habe noch im Ohr, was der Vertreter des Bundesrechnungshofes bei der externen Anhörung diese Woche
im Haushaltsausschuss gesagt hat: Die finanziellen
Schwierigkeiten, die 2010 und 2011 bei den Auslandsschulen aufgetreten sind, lagen nicht im Zuwendungsrecht begründet, sondern waren darauf zurückzuführen,
dass es eine mangelnde Ausgestaltung des Haushalts
aufgrund des ständigen Aufwuchses bei den PASCHSchulen gab. - Darüber wollen wir reden. Dazu werden
wir nächste Woche noch Gelegenheit haben.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir schätzen
und erkennen Ihr Engagement an.
({16})
Ulla Schmidt ({17})
Wir sehen aber auch, dass sich Außenminister
Westerwelle nicht einen Deut für diesen Bereich der auswärtigen Politik interessiert. Was könnte das Desinteresse des Außenministers besser zeigen als die Tatsache,
dass er es in der nun zu Ende gehenden Legislaturperiode nicht ein einziges Mal für nötig befunden hat,
den zuständigen Ausschuss zu besuchen und dort für
eine Diskussion zur Verfügung zu stehen? Ich glaube,
mehr brauche ich nicht zu sagen. Er hat kein Interesse
und wird auch kein Interesse zeigen. Das einzige Interesse, das er hat, ist, dafür zu sorgen, dass die Erfüllung
der deutschen Wirtschaftsinteressen im Ausland gewährleistet ist.
({18})
Vielen Dank, Frau Kollegin Ulla Schmidt. - Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU ist unser
Kollege Dr. Peter Gauweiler. Bitte schön, Kollege Peter
Gauweiler.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich finde es sehr nett, dass die Kollegin Schmidt
als Sprecherin der Opposition trotz der Fälle, in denen
sie den Finger in die Wunde gelegt hat, nicht vergessen
hat, die Arbeit unserer Kollegin Pieper zu würdigen. Ich
möchte mich dem im Namen der Koalition und des ganzen Unterausschusses sehr herzlich anschließen.
({0})
Der Hauptdank gebührt den Trägern der Auswärtigen
Kulturpolitik, vom Goethe-Institut - ich schließe mich
an dieser Stelle Ihrer Kritik an der Haushaltspolitik an,
Frau Schmidt - über den Deutschen Akademischen Austauschdienst und die Humboldtianer bis hin zu den Stiftungen, insbesondere den politischen. Diese Debatte darf
nicht ohne den Hinweis zu Ende gehen, dass wir uns
alle, also inklusive der Linken, hinter die KonradAdenauer-Stiftung stellen
({1})
und gegen das unverschämte Urteil protestieren, das ein
ägyptisches Gericht gegen den Leiter der KonradAdenauer-Stiftung in Kairo verhängt hat. Wir erwarten
von der Bundesregierung, dass dies Konsequenzen nach
sich zieht, und wir erwarten von den ägyptischen Instanzen, dass diese unerhörte Entscheidung aufgehoben
wird.
Wir debattieren heute nicht über Einzelpunkte, sondern über den Grundsatzbericht zur Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik. Außenpolitik wird verstanden als
ein Interaktionsprozess, in dem ein Staat grundlegende
Ziele und Werte in Konkurrenz zu anderen Staaten zu realisieren versucht. Auf Deutsch: Der Staat will gut dastehen. Frau Schmidt, hier unterscheiden wir uns in einer
Nuance. Sie sagen, die Tatsache, dass Minister
Westerwelle alles tut, was Deutschland nutzt, stehe im
Widerspruch zu dem Ziel, Freunde in aller Welt zu gewinnen. Ich sehe darin keinen Gegensatz. Freunde in aller Welt zu haben, ist von großem Nutzen.
({2})
Ein Minister ist nun einmal dafür da, seinem eigenen
Land nutzbringend zu dienen. Wem denn sonst?
({3})
- Ja, beides. Das stimmt. Das ist wie rechte Hand und
linke Hand.
Wenn das Ziel der deutschen Außenpolitik ist,
Freunde zu gewinnen und die Interessen des eigenen
Landes nutzbringend zu verfolgen, dann muss sie alles
tun, damit Deutschland in der Welt - darin sind wir uns
sicherlich einig - gut dasteht. Wann steht unser Land am
besten da, egal ob ein rot-grünes oder schwarz-gelbes
Grußwort gehalten wird? Wenn es sich als Volk der
Dichter und Denker präsentiert. Insofern ist die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht nur die dritte
Säule der Außenpolitik, sondern auch eine Art politischer Violinschlüssel, dessen sich das Außenpolitische
- wenn es denn in seiner organisierten Form überhaupt
Sinn hat - in einer globalen Welt bedienen sollte.
Es geht um die Vermittlung eines positiven Deutschlandbildes, um die Begegnung mit der Kultur und
Gesellschaft des Gastlandes - natürlich gibt es eine
Brückenfunktion -, und es geht auch um Konfliktprävention; deswegen reden wir ja von der Bibliothek in
Nordkorea genauso wie von der Öffnung des GoetheInstitutes in Teheran. Wir reden darüber, dass im Oktober dieses Jahres auf Kuba, in Havanna, Richard Wagner
zum ersten Mal seit 40 Jahren wieder in deutscher Sprache aufgeführt werden wird.
Wir reden gleichzeitig von der Wertevermittlung:
Freiheit, Demokratie, Menschenrechte. Wir reden auch
davon, dass wir mit den Deutschen im Ausland insbesondere auch auf kultureller Basis Verbindung halten
und dass wir uns ihnen kulturell verpflichtet fühlen. Wir
erleben doch, wenn wir mit ihnen sprechen, was es im
Einzelnen für großartige Menschen sind, die oft nach
besseren kulturellen Initiativen hungern und dürsten und
die sich übrigens auch auf noch bessere Beiträge in der
Deutschen Welle freuen. Ich will nicht deren Verdienste
kleinreden. Aber nichts ist so gut, dass es nicht noch besser werden könnte, habe ich gerade wieder in Griechenland gedacht, als ich dort eine Sendung gesehen habe.
Ich möchte aus aktuellem Anlass eine Bemerkung zu
den Auslandsschulen und zu der Debatte um das
Auslandsschulgesetz machen. Diese sind - mit 141 deutDr. Peter Gauweiler
schen Auslandsschulen in 72 Ländern - einer der zentralen, der wesentlichen Punkte unserer Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Aktuell gibt es mehr als
390 000 Schüler, stellen Sie sich das bitte einmal vor.
Dies ist der Anker für die Identität der Auslandsdeutschen, und es ist eine neue Verbindungslinie für die
ausländischen Schüler, die dadurch mit der deutschen
Sprache und mit der deutschen Kultur in Berührung
kommen.
Wir haben im Bundestag im Jahre 2008 einstimmig
eine Resolution über die Weiterentwicklung des deutschen Auslandsschulwesens verabschiedet. Jeder hier
hat zugestimmt, und zwar nicht nur ein paar gefühlsstarke Naive aus dem Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik,
({4})
sondern auch die großmächtigen Haushaltspolitiker und
-politikerinnen dieses, unseres Hauses. Einstimmig! In
dieser Resolution heißt es:
Wenngleich die Schulen von privaten Trägervereinen eigenverantwortlich und zu einem erheblichen
Umfang durch Eigenleistungen geführt werden,
müssen die Möglichkeiten Öffentlich-Privater
Partnerschaft stärker als bisher genutzt werden. Innovative Ansätze müssen gefunden werden, um die
gebotene Erweiterung des Auslandsschulnetzes
finanziell … zu realisieren.
„Stärker“ ist in der deutschen Sprache und Grammatik ein Komparativ. „Stärker“ heißt mehr und nicht weniger. Wenn ich jetzt höre, dass der Bundesrechnungshof
in einer verdienstvollen Anhörung zum neuen Entwurf
des Auslandsschulgesetzes erklärt hat, das könne zu einer stärkeren finanziellen Belastung führen, dann sage
ich: Bingo, liebe Freunde! Wir wollen und müssen in
diesem Bereich mehr ausgeben. Das ist eine politische
Richtungsbestimmung nicht nur einer Fraktion, sondern
des gesamten deutschen Parlaments.
({5})
Wenn jemand das nicht will, muss er hier einen Antrag stellen, dass das rückgängig gemacht wird. Anders
geht es überhaupt nicht.
Wir haben diese vier Jahre intensiv - in Anhörungen,
durch Einladungen, Gespräche, Besuche, Kongresse; das
war alles sehr interessant, sonst hätte ich gesagt, dass es
mir zum Halse heraushängt - dazu genutzt, die Dinge im
Einzelnen nach vorne zu bringen und zu behandeln.
Daraus wurde dann nach langen, qualvollen Reden ein
Entwurf für ein Gesetz.
({6})
Wir haben uns dann verständigt, um diesen Gesetzentwurf überhaupt auf den Weg zu bringen. Frau Pieper,
Sie wissen um die Schwierigkeiten, die Sie selbst in dem
gesamten Verwaltungsbiotop hatten,
({7})
um das überhaupt durchzubringen. Wir haben gesagt:
Wir nehmen diesen Gesetzentwurf und werden die
Punkte, die sich aufgrund der Resolution des Deutschen
Bundestages zwingend ergeben haben, in einzelne Vorschläge umsetzen. Ich danke hier insbesondere meinem
Stellvertreter, Herrn Leibrecht.
({8})
- Ja, da könnt ihr schon einmal klatschen.
Es geht im Wesentlichen darum, wie viele Abschlüsse
notwendig sind, um eine Auslandsschule im Sinne des
Gesetzes anzuerkennen. Die Anerkennungsvoraussetzungen können Sie nicht mit der Lage in einer deutschen
Großstadt vergleichen. Im Ausland sind die Zahlen logischerweise kleiner. Das hat damit zu tun, dass Auslandsschulprojekte nicht nur dem allgemeinen Schulverkehr
dienen, sondern dass sie - wunderbarer Ausdruck - für
sich genommen Leuchtturmprojekte sind. Man muss sie
von weitem sehen können. Dies setzt aber auch voraus,
dass man eine kleinere Schule dadurch fördert, dass
nicht 20 Abschlüsse gefordert werden, sondern 5, wie
wir vorgeschlagen haben.
Ich verbitte mir in aller Form, mir von Leuten, die
überhaupt kein Problem damit haben, innerhalb von
30 Minuten Bürgschaften in Höhe von 190 Milliarden
Euro zu beschließen, sagen zu lassen, dass wir den Bundeshaushalt mit den dafür notwendigen paar Millionen
maßlos belasten würden. Hier verwechselt man die Relationen.
({9})
- Ihr seid meine Freunde.
Das, Herr Leibrecht, war unsere Initiative. Ich freue
mich, dass es jetzt einen Kompromissvorschlag gibt,
über den man sich einigen kann. Ich bitte in diesem Fall
auch die Opposition, die in diesem Fall nicht Opposition,
sondern Trägerin der Mehrheit im Bundesrat ist, ihrem
Herzen einen Stoß zu geben: 20 Abschlüsse fordern die
einen, 5 die anderen. Jetzt gibt es einen Vorschlag bezüglich 12. Ich danke dem Kollegen Mißfelder, dass er sich
hier so massiv dafür eingesetzt hat, dass wir die Kuh
vom Eis bringen und dieses Gesetz in Gottes Namen
noch durchsetzen können.
({10})
Ein Letztes. Auf Seite 16 des Berichts, um den es
heute geht, wird das Thema berufliche Bildung angesprochen. Inspiriert von Debatten auf allen Seiten des
Hauses haben wir das Thema berufliche Bildung auch zu
einem Thema der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gemacht. Ich habe mir erlaubt, den Vorschlag zu
machen, dass es nicht nur um einzelne Fördertöpfe geht.
Die Fachleute aus allen Richtungen sagen: Wir müssen
im Ausland, insbesondere in der EU, dort, wo es dramatisch ausschaut - ich nenne die Jugendarbeitslosigkeit in
Höhe von 50 Prozent -, die Arbeitsmärkte wieder zum
Atmen bringen.
Wir haben den Vorschlag unterbreitet - da gibt es bereits Versuche -, Berufsschulzweige an die deutschen
Schulen im Ausland anzugliedern. Das sollten wir
gemeinsam mit der Wirtschaft tun; sie brauchen wir
dringend dazu. Wenn Sie an der deutschen Schule in
Thessaloniki 50 oder 100 Schülern ein Stipendium geben würden - ähnlich wie die Humboldt-Stiftung Akademikern -, dann wäre das billiger als der Kongress von
Herrn Berggruen in Paris.
({11})
Das würde Schwung bringen; das würde die Dinge in
Bewegung bringen.
Noch in dieser Legislaturperiode soll dazu eine Anhörung stattfinden. Ich lade Sie herzlich dazu ein. Bei uns
darf man im Gegensatz zum Haushaltsausschuss an den
Anhörungen teilnehmen und auch mitreden. Ich lade Sie
herzlich dazu ein und auch dazu, uns übergreifend bei
dieser Initiative zu unterstützen.
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Kollege Dr. Peter Gauweiler. - Nächste
Rednerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin
Frau Dr. Lukrezia Jochimsen. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Jochimsen.
({0})
Herr Präsident! Frau Staatsministerin! Liebe Kollegen
und Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuschauer! Es gibt
diesen vielversprechenden Begriff für die Auswärtige
Kulturpolitik: Sie sei die „dritte Säule“ unserer Außenpolitik. Diese Säule haben wir Parlamentarier schon in
schwierigem Zustand erlebt: fast baufällig geworden um
2005, aber dann langsam wieder aufgerichtet und stabilisiert. Bis dann mit der Konzeption „Auswärtige Kulturund Bildungspolitik in Zeiten der Globalisierung“ 2011
deutlich wurde, dass unsere bewährte Säule neue
Elemente tragen soll: zum Beispiel „ein positives und
wirklichkeitsgetreues Deutschlandbild im Ausland zu
vermitteln“ und so für Deutschland als Bildungs- und
Wissenschaftsstandort sowie als attraktiven Standort der
Wirtschaft - in Klammern: kreativ - zu werben.
({0})
Da steckt der Teufel im Detail. Letzteres darf nämlich
aus meiner Überzeugung nicht das Übergewicht bekommen. Es muss vielmehr weiterhin ein Gleichgewicht
zwischen den kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Aufgaben geben. Das ist aber eben nicht der
Fall, wie ich Ihnen gleich an einem Beispiel ganz konkret darstellen werde.
({1})
Es war und bleibt ein Paradigmenwechsel, auch wenn
das in Ihrem Bericht verneint wird, Frau Staatsministerin.
Als erstes Beispiel will ich Ihnen von der Geschichte
des sogenannten German American Forums in New
York berichten. 1960 bekam die Bundesregierung von
privater Seite ein 1907 errichtetes sechsstöckiges Haus
im Zentrum der Fifth Avenue mit der Vorgabe, hier einen
Ort der Förderung transatlantischer Beziehungen zu
schaffen. Jahrzehntelang hatte hier das Goethe-Institut
seinen Sitz: das Goethe House. Es repräsentierte in New
York auf gute alte Weise die dritte Säule deutscher Auslandspolitik, bis es vor zwei Jahren in größere Räumlichkeiten in SoHo umzog.
Wie soll nun mit diesem deutsch-amerikanischen
Kulturerbe 2012/2013 umgegangen werden? Zunächst
hieß es: verkaufen. Solch ein Juwel an der Fifth Avenue
bringt Millionen. Als dieser Barbarenplan Anfang 2012
fallen gelassen wurde, erarbeiteten Goethe-Institut und
Auswärtiges Amt ein neues Konzept. Das GoetheInstitut wollte eine Nutzung im alten Sinn: Lesungen,
Seminare, Kulturveranstaltungen, Ausstellungen, Artists in Residence.
Das Auswärtige Amt wollte etwas ganz anderes. Ich
zitiere aus dem Konzept:
Das Haus in der Fifth Avenue soll ein Ort des transatlantischen Dialogs zwischen herausragenden
Köpfen aus Politik, Wirtschaft, Finanzen und Kultur und Medien zu relevanten Gegenwarts- und
Zukunftsthemen werden ({2})
Große Förderer des transatlantischen Verhältnisses
sollen … die Möglichkeit erhalten, zukunftsweisende Ideen für den transatlantischen Dialog zu entwickeln und zu diskutieren. Sie sind auch eingeladen, an der konkreten Ausgestaltung des Konzepts
mitzuwirken, um ihre Vorstellungen und Wünsche
angemessen berücksichtigt zu sehen.
Für den Betrieb des Forums sollen Mittel von privater
und unternehmerischer Seite in Deutschland und in den
USA eingeworben werden mit - man höre und staune doppelter Spendenabzugsfähigkeit, attraktiven Mitwirkungsmöglichkeiten der Sponsoren usw., usw.
({3})
Das Auswärtige Amt setzte durch, dass das GoetheInstitut sein Konzept zurückzog. Paradigmenwechsel?
Klar, Paradigmenwechsel! Statt Kulturdialog, statt Kulturaustausch: deutsche Wirtschaftsinteressen an einem
attraktiven Ort, der vom deutschen Steuerzahler finanziert wird. Der Unterausschuss Auswärtige Kultur- und
Bildungspolitik hat dieses Konzept einstimmig abgelehnt. Jetzt ruht das Projekt.
({4})
In der nächsten Legislaturperiode wird sich entscheiden,
was aus dem Goethe House in New York wird.
Das zweite Beispiel für einen Paradigmenwechsel:
das geplante Auslandsschulgesetz. Ja, jahrelang wurde
darum gerungen, den deutschen Schulen im Ausland
Rechts- und Planungssicherung einzuräumen. Nun ist
das Gesetz da. Aber wem nutzt es? Die Rechts- und Planungssicherheit gilt eben nur für einen Teil der Schulen,
für die großen, die wirtschaftlich starken. Nur 45 von
141 sollen in den Genuss des Gesetzes kommen, vielleicht auch ein paar mehr, wenn es zu einem Kompromiss kommt.
Eklatant aber bleibt: Es wird privilegierte und benachteiligte Schulen geben, eine erste und zweite Kategorie. Das ist neu. Das verabschiedet sich von den bisherigen Förderkriterien, die für alle Schulen gleichermaßen
galten. Wir werden das auf keinen Fall mitmachen. Für
uns kommt da kein Kompromiss infrage.
({5})
Paradigmenwechsel eben auch hier. So sollte es in
Zukunft auf keinen Fall weitergehen.
({6})
Da dies wahrscheinlich meine letzte Rede zur Auswärtigen Kulturpolitik in diesem Hohen Haus sein wird,
({7})
erlaube ich mir zum Schluss, eine Idee für die Zukunft
vorzutragen: Machen Sie nicht so weiter wie bisher.
Machen Sie etwas Neues. Schaffen Sie für die Zukunft
ein veritables Kulturministerium mit nationalen wie internationalen Aufgaben.
Wie sehr diese Aufgaben schon jetzt ineinander übergehen und kaum mehr zu trennen sind, erleben wir in der
augenblicklichen Auseinandersetzung um das Freihandelsabkommen zwischen USA und EU. Also: Bundespolitische Kulturpolitik wie Auswärtige Kulturpolitik
unter einem Dach!
Schon 2005 haben wir in einem Sondervotum im
Rahmen der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ festgehalten:
Die Fraktion DIE LINKE. spricht sich für eine weitere Stärkung der Bundeskulturpolitik durch die
Einführung des Amtes eines Bundeskulturministers
mit Kabinettsrang aus. Wir plädieren für eine Bündelung der verschiedenen Aufgabenfelder in einem
Kulturministerium, um die Belange der Kultur gegenüber anderen Ressorts sowie auf europäischer
Ebene wirksamer vertreten zu können.
Diese Position vertreten wir bis heute. Das wäre ein Paradigmenwechsel, wie wir ihn befürworten.
Also: Stärken Sie die auswärtige wie die nationale
Kulturpolitik durch eine Ministerin oder einen Minister,
gleichberechtigt am Kabinettstisch und in der ersten
Reihe der Minister in Brüssel, mit weltweiten Möglichkeiten der friedlichen Kulturförderung.
Danke.
({8})
Vielen Dank, Frau Kollegin. - Nächste Rednerin in
unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen unsere Kollegin Frau Claudia Roth. Bitte schön,
Frau Kollegin Claudia Roth.
Lieber Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen!
Zum Ende dieser Legislatur ist es an der Zeit, Bilanz zu
ziehen, nicht nur über die im vorliegenden Bericht behandelten Jahre 2011 und 2012, sondern über vier Jahre
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Da ist viel
Licht mit engagierter parlamentarischer Arbeit,
({0})
da ist aber auch heftiger Schatten mit absolut überflüssigen Konflikten, die den Politikbereich behindert haben.
({1})
Ein sehr wichtiges Leitmotiv der Arbeit im Unterausschuss ist, dass Auswärtige Kulturpolitik dorthin geht,
wo sonst nichts mehr möglich ist, dass sie Türen öffnet,
wenn politische Diplomatie am Ende ist. Genau in diesem Sinn haben wir in einem sehr engagierten und kollegialen Unterausschuss gearbeitet,
({2})
der nicht zuletzt wegen seines Vorsitzenden parteilich,
aber nicht parteipolitisch die Anliegen der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik vertreten hat,
({3})
zum Beispiel auf Reisen, jüngst in den Libanon, nach
Beirut, mitten ins Krisengebiet, vor kurzem nach Kairo,
wo wir uns mit Vertreterinnen und Vertretern der
Konrad-Adenauer-Stiftung getroffen haben sowie den
Umgang mit der Stiftung im Gespräch mit der politischen Führung angesprochen und kritisiert haben, in den
Iran, nach Teheran und Ghom, wo wir versucht haben,
die klitzekleinen Fenster des Dialogs zu öffnen, nach
Nordkorea, zusammen mit dem DFB, oder nach Griechenland, wo ein expliziter Euro-Kritiker, Dr. Gauweiler,
öffentlich mit der expliziten Befürworterin Roth diskutiert und bei allen inhaltlichen Unterschieden gemeinsam
gegen populistische, antigriechische Hetze gekämpft hat.
({4})
Claudia Roth ({5})
Ich glaube, das offenbart die Kultur im Unterausschuss
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik.
Eigentlich müsste jedes Ministerium der Welt über so
engagierte Abgeordnete, über eine solche parlamentarische Unterstützung froh sein. Aber wir haben in den
letzten vier Jahren - das nimmt nichts von der Würdigung Ihres Engagements, Frau Pieper, weg - leider sehr
oft eine Außenamtsführung erlebt, die nichts mit den
Bällen anfangen konnte, die ihr aus dem Parlament zugespielt wurden, einen Außenminister,
({6})
der in der Tat von Außenkulturpolitik als der dritten
Säule der Außenpolitik redet. Jetzt zeige ich Ihnen etwas
von meiner Bildung: Er ist ein bisschen wie ein Säulenheiliger, der sich dem Prinzip „Stabilitas loci“,
({7})
das heißt „Verweilen am Ort“, verpflichtet hat, also keinen Schritt vorankommt, viel redet, aber nichts sagt.
({8})
- Da guckt ihr! So gebildet sind wir nämlich.
({9})
Der Außenminister hat es in den letzten vier Jahren
nicht geschafft - da hat Ulla Schmidt recht; das hilft ihm
gar nicht - oder es nicht für nötig befunden, ein einziges
Mal in den Ausschuss zu kommen, wo er Unterstützung
bekommen hätte, wenn er eine richtige Politik hätte machen wollen. Er will sich zwar mit Kultur schmücken,
versteht darunter aber die Umfunktionierung des
Goethe-Instituts in der Fifth Avenue in New York in eine
Businesslounge. So haben wir diesen historischen Ort
mitten in New York definitiv nie verstanden. Das ist zum
Glück mithilfe des Auswärtigen Ausschusses verhindert
worden. Vielen Dank an Philipp Mißfelder und andere
Kollegen, die diesen Schmarrn verhindert haben.
({10})
Statt die Chancen und Herausforderungen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zu nutzen, geht
diese Regierung einen anderen Weg. Ich gebe Ihnen
nicht recht, Frau Pieper, wenn Sie sich auf die menschenrechtsbasierte Außenpolitik beziehen. Was hat es
denn, bitte schön, mit Menschenrechten zu tun, wenn
aus Außenpolitik immer mehr Industriepolitik im Interesse der Waffenindustrie wird?
({11})
Sonst könnte man nicht Panzer nach Saudi-Arabien liefern.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Stinner?
Ja, gerne, Herr Stinner.
Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie zeichnen hier ein verzerrtes Bild
der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik.
Das können wir so nicht stehen lassen.
Ist das die Frage?
Denn es besteht die große Gefahr, dass die vielen Zuschauer hier und die Tausende Zuhörer zu Hause glauben, was Sie erzählen. Das Gegenteil, von dem, was Sie
erzählen, ist richtig.
Ich bitte Sie, hier im Deutschen Bundestag der deutschen Öffentlichkeit zu erklären, dass Sie anerkennen,
dass der Etat der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik noch nie so hoch war wie heute. Ich bitte Sie, zur
Kenntnis zu nehmen, dass unter der Ägide des Außenministers Fischer von den Grünen - das war vor langer
Zeit - der Stellenwert der Auswärtigen Kulturpolitik, inklusive des Schutzes des Goethe-Instituts, im Keller war.
({0})
Erst unter dieser Bundesregierung kam es wieder zu einem Aufschwung.
({1})
Ich finde es sehr interessant, dass Sie es wie die Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, die bisher
gesprochen haben, denunzieren, dass deutsche Politik
durchaus auch deutsche Interessen zu berücksichtigen
hat. Ich bitte alle, die jetzt zuhören, sich zu vergegenwärtigen, dass die Opposition etwas dagegen hat, dass
deutsche Politik auch deutsche Interessen verfolgt.
Das ist doch keine Frage, mit Verlaub.
Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, wie lange Sie
dem Deutschen Bundestag angehören. Es ist nicht so,
dass ich eine Frage stellen muss. Ich werde aber zum
Schluss eine Frage stellen, nämlich ob Sie Ihre Position
korrigieren wollen.
Letzter Punkt. Ich finde es außerordentlich eigenartig,
dass die Kolleginnen von der Opposition in den Raum
stellen, dass die Förderung der deutschen Sprache, die
derzeit sehr stark in den Vordergrund gestellt wird, zu
kritisieren ist. Ich sage Ihnen, dass das nicht richtig ist.
Fragen Sie die Zuschauerinnen und Zuschauer auf den
Tribünen, ob es derzeit nicht sinnvoll ist, die deutsche
Sprache, zum Beispiel im Interesse der jungen Spanierinnen und Spanier, im Ausland zu fördern. Wir fördern
so unsere Interessen, gleichzeitig fördern wir aber auch
die Lebenschancen vieler junger Menschen im Ausland.
({0})
Angesichts dieser Tatsachen frage ich Sie, Frau Kollegin: Sind Sie bereit, Ihre negative Beurteilung zu überdenken und in ein Lob für diese Bundesregierung angesichts ihrer erfolgreichen Politik einzustimmen?
({1})
Herr Stinner, wenn es etwas zu loben geben würde,
würde ich es tun.
Wir reden über eine menschenrechtsbasierte Außenpolitik; darauf hat sich Frau Pieper bezogen. Jetzt erklären Sie mir doch bitte schön: Was hat es mit menschenrechtsbasierter Außenpolitik zu tun, wenn man an ein
Land wie Saudi-Arabien Panzer, Haubitzen und Handwaffen liefert, obwohl man weiß, dass dort Menschenrechte, zum Beispiel Frauenrechte, mit Füßen getreten
werden?
({0})
Was hat es mit einer menschenrechtsbasierten Außenpolitik zu tun, dass exzessive Rüstungslieferungen an
Katar vonstattengehen sollen?
({1})
Katar ist Hauptfinanzier der Salafisten, derjenigen, die in
Mali ihr Unwesen treiben und Terror verbreiten, Hauptfinanzier jener Kräfte, die in Syrien die Al-Nusra-Front
bilden und Jagd auf die Christen machen. Das hat mit
menschenrechtsbasierter Außenpolitik nichts zu tun.
({2})
Aus den genannten Gründen singe ich nicht das Hohelied dieser Bundesregierung. Die neue außenpolitische
Doktrin ist nämlich: Außenpolitik wird zu Industriepolitik, Entwicklungspolitik wird zur Außenwirtschaftspolitik,
(Beifall des Abg. Omid Nouripour ({3})
statt globale Verantwortung und Armutsbekämpfung in
den Vordergrund zu stellen. - Vielen Dank für Ihre reizende Frage.
({4})
In ihrem Bericht stellt die Bundesregierung die neue
Konzeption der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik heraus. Da setzt auch Kritik an. Denn die dort vertretenen Ideen einer weiteren Privatisierung und einer
Ausrichtung auf die Bedürfnisse der Wirtschaft - das
zieht sich da durch wie ein vor allem gelber Faden - eignen sich nicht als wirkliche Leitlinie.
Herr Dr. Gauweiler, die Interessen der deutschen
Wirtschaft sind nicht automatisch die Interessen
Deutschlands.
({5})
Natürlich muss eine solche Politik auch im Interesse
Deutschlands sein. Auswärtige Kulturpolitik kann doch
nicht zu einer Art Werbeagentur für die Interessen der
deutschen Wirtschaft verkommen.
Jetzt wird der Haushalt gefeiert. Herr Stinner, wir haben es natürlich sehr bedauert und auch kritisiert, dass
zum Beispiel in rot-grünen Zeiten ein wichtiges GoetheInstitut fast verschwunden wäre, das jetzt wieder eröffnet werden konnte, und zwar in Zypern, direkt an der
letzten Mauer in Europa. So stark und selbstbewusst sind
wir schon, Fehler auch einzugestehen.
Aber jetzt reden wir einmal über die Wahrheit dieses
Haushalts. Die Koalition hat - immerhin, das stimmt zu Beginn ein 12-Milliarden-Euro-Bildungsprogramm
groß beworben; das war gut. Erwähnt wurde aber nicht
das Löcherstopfen, für das die Sondermittel aus dem Bildungsetat zweckentfremdet wurden. Wie viel von diesen
Geldern aus dem 12-Milliarden-Euro-Topf ist eigentlich
in den vergangenen Jahren versickert? Was ist das überhaupt für ein Potemkin-Programm? Und was von diesen
Geldern ist, bitte schön, tatsächlich bei der Auswärtigen
Bildungspolitik angekommen?
Ich hätte mir gewünscht - mein besonderer Freund
Koppelin ist gerade nicht anwesend -, dass sich die
Koalitionshaushälter einmal um die Aufklärung dieser
Sache bemühen, statt ihren Ehrgeiz nun in die Verhinderung des Auslandsschulgesetzes zu legen. Das hätte
deutlich mehr gebracht.
({6})
Eines verstehe ich wirklich nicht, Frau Pieper. Sie haben alle Kolleginnen und Kollegen vom Unterausschuss
in dieser Frage hinter sich gehabt. Warum fallen Sie dem
Claudia Roth ({7})
Unterausschuss in den Rücken, indem Sie den gemeinsamen Änderungsantrag ablehnen, der den viel zu eng gestrickten Entwurf des Auslandsschulgesetzes korrigiert?
Wir müssen doch auch den kleineren Schulen eine
Chance geben, die viel weniger als die geforderten
20 Abschlüsse im Jahr anbieten. Der Ausschuss hat es
doch in Teheran erlebt. Ich möchte, dass auch die Schule
in Teheran diese Möglichkeit bekommt. Denn das verstehen wir unter Demokratie und menschenrechtsbasierter Auslandsschulpolitik.
({8})
Ich glaube, es war wichtig, dass im Haushaltsausschuss von unserem Kollegen Sven-Christian Kindler
auf Art. 7 des Grundgesetzes verwiesen worden ist. Darin steht nämlich, dass Schulen keine soziale Sonderung
nach Besitzverhältnissen haben sollen. Das sollte dann
aber auch für die deutschen Auslandsschulen gelten.
Wir wollen nicht, dass Schulen nur noch Schulen
sind, in die die Geldeliten dieser Welt ihre Kinder schicken können. Das heißt, wir müssen an der sozialen Öffnung der deutschen Auslandsschulen festhalten und sogar mehr dafür tun. Das wäre Werbung für deutsche
Demokratie und Menschenrechtspolitik.
({9})
Frau Kollegin, Sie kennen das rote Licht. Es blinkt
und blinkt.
Ich kenne es, aber ich bin ja bei den Grünen. Darf ich
noch ein Lob anbringen?
Also gut, ein Lob, wenn dann alle klatschen. - Bitte
schön.
Was wirklich gut ist - ich würde alle Kritiker bitten,
vielleicht einmal hinzufahren -, ist, dass Tarabya endlich
eröffnet werden konnte und die ersten Stipendiaten in
Tarabya ihre kulturelle Arbeit beginnen konnten. Leider
ist auch das nicht wegen, sondern trotz der Kritik und
den Blockaden des Auswärtigen Amtes passiert.
Sie haben gerade etwas versprochen, Frau Kollegin.
Vielen herzlichen Dank für Ihre Arbeit. Wir werden
alles dafür tun, dass sich die Situation in der nächsten
Legislatur deutlich verbessert.
({0})
Vielen Dank, Frau Kollegin Claudia Roth. - Nächster
Redner in unserer Aussprache für die Fraktion von CDU
und CSU: unser Kollege Philipp Mißfelder. Bitte schön,
Kollege Philipp Mißfelder.
({0})
Herr Präsident! Frau Kollegin Roth, zunächst einmal
herzlichen Dank für die versöhnlichen Worte am Ende. In dieser Debatte geht es auch um die Bilanzierung von
vier Jahren erfolgreicher Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie einen Erfolg hier angesprochen haben, nämlich Tarabya und die
dortigen Stipendiaten. Das ist etwas, worauf wir zu
Recht stolz sein können. Wenn man auf die jetzige Situation der Türkei schaut, erkennt man, dass es wichtig war,
diesen Schritt zu gehen.
Es ist richtig, dass sich der Unterausschuss „Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ unter der Führung der
Kollegen Gauweiler und Leibrecht, vor allem aber auch
durch die Berichterstatter der einzelnen Fraktionen - ich
nenne hier Frau Jochimsen, Frau Schmidt -, sehr engagiert. Es gibt aber noch viele andere, die sich da engagieren, wie zum Beispiel Claudia Roth. Auch aus unseren
Reihen gibt es sehr viele, die in diesem Unterausschuss
mit sehr viel Zeitaufwand und Herzblut arbeiten. Es ist
einer der aktivsten Unterausschüsse.
Ich sage in Richtung Auswärtiges Amt - dort haben
wir mit Frau Staatsministerin Pieper jedoch eher eine
Verbündete als jemanden, der bremst -, dass wir manche
Dinge - dieser Hinweis muss erlaubt sein; Fifth Avenue
in New York ist schon angesprochen worden - verhindert haben, die uns als Parlamentarier - und zwar über
alle Parteigrenzen und Fraktionsgrenzen hinweg - nicht
gefallen haben.
({0})
Ich glaube, wenn wir hier bilanzieren, können wir sagen: Tarabya und die Stärkung der Bedeutung der deutschen Sprache im Ausland insbesondere in Form der
Stärkung der Goethe-Institute - letztendlich ging es dabei auch um das Goethe-Institut in Amerika - waren ein
Riesenerfolg.
Ich möchte auf die grundsätzliche Ausrichtung der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik zurückkommen.
Natürlich gibt es - Frau Roth hat es angesprochen - in der
Außenpolitik nie nur Schwarz und Weiß. Auch unter
Rot-Grün bzw. dem grünen Außenminister Joschka
Fischer sind schwierige und schwerwiegende Entscheidungen zu Rüstungsexporten gefällt worden. Es gibt
eben sehr viele Grauflächen, wenn man sich die Partnerschaften zu manchen Ländern - sei es Saudi-Arabien
oder sei es Russland - anschaut. Da gibt es viele BereiPhilipp Mißfelder
che, wo man an die Grenzen einer wertegebundenen Außenpolitik stößt.
Ich finde aber, dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik insgesamt ein leuchtendes Beispiel dafür
ist, wie wichtig es auch für eine exportorientierte Nation
bzw. Industrienation ist, Geldmittel nicht nur im Hinblick auf einen direkten Nutzen zu bewerten. Vielmehr
haben wir es geschafft, zu sagen: Das ist uns der Ausbau
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik wert.
Rainer Stinner hat es angesprochen: Das gehört zur Erfolgsbilanz dieser Regierung. Wir messen den Erfolg
nicht daran, wie hoch der Return on Investment in Euro
und Cent ausgedrückt ist. Wir wollen vielmehr unsere
menschenrechtsbasierte Außenpolitik auch dadurch stärken, dass die Kulturnation Deutschland eine angemessene Repräsentanz im Ausland hat. - Das zeigt Wirkung.
Dass die Auswärtige Kulturpolitik in den letzten Jahrzehnten von Erfolg gekrönt war, sehen Sie auch daran,
dass die BBC - sie steht nun wirklich nicht im Verdacht,
besonders deutschlandfreundlich zu berichten - gemäß
ihrer Umfrage sagt, dass das Deutschlandbild in den
letzten Jahrzehnten positiver geworden ist.
Im Zuge der Finanz- und der Euro-Krise erleben wir
viele Demonstrationen, auf denen gegen die Bundesregierung bzw. die Bundesrepublik demonstriert wird. Dagegen spiegeln die statistischen Erhebungen, die es dazu
gibt, wider, dass das Ansehen Deutschlands im Vergleich
zu den letzten Jahrzehnten gewachsen ist.
({1})
Ich glaube, dass das nicht nur an Deutschlands wirtschaftlicher Stärke liegt, sondern auch daran, dass wir im
Ausland - durch unsere Diplomatinnen und Diplomaten
sowie durch unsere Entwicklungshelfer, vor allem aber
auch dadurch, dass wir eine sehr konsequente Strategie
haben, was die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
angeht - eine hervorragende Repräsentanz haben.
Ich finde, es war bei der Debatte gerade ein wenig
schade, dass es zu einem Schlagabtausch meines geschätzten Kollegen Stinner mit der Kollegin Roth kam.
({2})
Der Kollege Stinner hat nur daran erinnert, dass man die
Regierung ruhig loben kann. Das folgte dann auch
prompt am Schluss der Ausführungen von Frau Roth. In
der Tat sollten wir - wir stellen hier ja die Lobby der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik im Deutschen
Bundestag dar - in den eigenen Fraktionen mehr für unseren Bereich werben. Wir sollten versuchen, dort mehr
Gehör zu finden als zu versuchen, den Kulturpolitiker
der Gegenseite zu überzeugen.
({3})
Der Frontverlauf ist hier - das muss man an der Stelle
einfach so sagen - etwas komplizierter als bei anderen
Themen.
Insofern möchte ich mich bei Frau Pieper, nachdem
sie im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des
Auslandsschulgesetzes eine sehr schwierige Zeit hatte,
dafür bedanken, dass sie sich so beharrlich - Herr
Dr. Gauweiler hat es gesagt - gegen das Biotop der Bürokratie und der Administration durchgesetzt hat. Jetzt
kommt das Auslandsschulgesetz. Es kommt nicht so,
wie wir es ursprünglich gerne gehabt hätten; aber es
wurde weitaus mehr erreicht, als manch einer angesichts
der Ausgangssituation gedacht hat. Deshalb, Frau
Pieper, ein großes Kompliment für Ihre Beharrlichkeit
und ganz herzlichen Dank für Ihren großartigen Einsatz,
den Sie an den Tag gelegt haben.
({4})
Jetzt liegt es natürlich an uns, das Ganze mit mehr
finanziellen Mitteln auszustatten. Ich bin an einer Stelle
anderer Meinung als Claudia Roth: Ich bin schon der
Meinung, dass wir eine Kooperation mit der Industrie
und mit der deutschen Wirtschaft brauchen. Allerdings
sollte diese Kooperation anders als von Frau Roth vorgesehen sein: Es kann nicht sein, dass die Räumlichkeiten
für Auslandsschulen genutzt werden, um Mitarbeiter anzuwerben.
Ich verweise nur auf das wirklich bestürzende Beispiel der deutschen Schule in Singapur. Deutsche, die
dort leben und deren Kinder diese Schule besuchen sollen, fragen den Personalvorstand des Konzerns, für den
sie arbeiten: Was geschieht eigentlich im Versetzungsfall
mit meinen Kindern? Wird es in Singapur weiterhin eine
deutsche Schule geben? Darauf antwortet der Personalvorstand jedes großen DAX-Unternehmens: Na klar;
Singapur hat eine hervorragende deutsche Schule. Wenn es allerdings nachher darum geht, diese Liegenschaft zu bezahlen, dann kommt der Ruf aus der deutschen Wirtschaft: Das soll gefälligst die Politik machen.
Ich verweise darauf, dass die Preise in Singapur - das ist
ein Sonderfall - einfach utopisch sind. Damit wäre der
Staat bis zu einem gewissen Maße überfordert. Deshalb
rufe ich der deutschen Wirtschaft zu: Wenn Sie mit der
deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
schon hausieren gehen, dann beteiligen Sie sich auch in
einem höheren Maße an der Finanzierung von solchen
Maßnahmen.
({5})
Wir müssen mehr Geld aus der Wirtschaft für das
deutsche Auslandsschulwesen mobilisieren. Der Staat
soll sich da nicht zurückziehen. Ich bin für mehr Ausgaben des Staates in diesem Punkt. Ich stimme Herrn
Dr. Gauweiler zu, wenn er sagt, dass wir für manch anderes schon leichtfertiger Geld ausgegeben haben, als
wir es in diesem Fall getan hätten, wenn wir es nicht wegen der großen Bedenken verhindert hätten. Aber ganz
aus der Verantwortung dürfen wir die Wirtschaft an dieser Stelle nicht lassen, weil sie ein vitales Interesse daran
hat, dass Deutsche im Ausland, aber auch andere unabhängig von ihrer Einkommensstruktur ihre Kinder auf
eine deutsche Schule schicken können. Es darf nicht
sein, dass deutsche Auslandsschulen Finanzeliteschulen
werden;
({6})
vielmehr müssen es sich auch Facharbeiter, die sich im
Ausland befinden, und andere leisten können, ihre Kinder dorthin zu schicken.
({7})
Das ist ein klares Bekenntnis.
Dem gerecht zu werden, daran arbeiten wir mit der
Novellierung des Auslandsschulgesetzes. Wir müssen in
der nächsten Legislaturperiode etwas für eine bessere
finanzielle Ausstattung tun. Das Engagement, gegenüber
den Haushaltspolitikern um mehr Verständnis zu werben, muss fortgesetzt werden.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort jetzt die Kollegin Frau Professor Monika
Grütters für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Schmidt, Ihre Behauptung, es habe in der
Auswärtigen Kulturpolitik einen Paradigmenwechsel gegeben, wird nicht deshalb wahrer, weil Sie ihn hier immer wieder lautstark beschwören. Schauen Sie doch besser einmal genau hin! Frau Pieper hat es erwähnt: Wir
haben in der vergangenen Woche auf der Biennale in Venedig - sie ist immer noch ein Parcours der Nationen eine weltweit beachtete Premiere gefeiert, als ausgerechnet wir, die Deutschen, es waren, die ihren angestammten Platz nicht nur in Venedig, sondern sinnbildlich auch
in der Kunstwelt insgesamt zur Verfügung gestellt haben, unsere eindeutige Verortung tatsächlich infrage gestellt haben, uns freigemacht haben, uns der Welt geöffnet haben und den Tausch des Pavillons mit den
französischen Freunden und Nachbarn möglich gemacht
haben.
({0})
- Nein, das ist kein schlechtes Beispiel, sondern eine
schöne Symbolik, und das nicht nur für Venedig und
auch nicht nur im 50. Jahr nach Abschluss des ÉlyséeVertrages; das ist vielmehr ein eindeutiges Statement der
Kulturpolitik einer Kulturnation wie Deutschland.
Ich denke, dass wir mit diesem ganz besonderen Auftritt in Venedig auch gezeigt haben, was unser Selbstverständnis als Kulturnation am Beginn des 21. Jahrhunderts ist, wofür im Übrigen auch ein Projekt wie das
Humboldt-Forum steht, dessen Grundstein wir in der
kommenden Woche legen wollen. Da möchten wir auf
dem zentralen Platz der Republik im stadträumlichen
Bezug zu unserer eigenen Kulturgeschichte den außereuropäischen Kulturen die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Präsentation ihrer Tradition in Deutschland geben. Ich glaube nicht, dass eine andere Nation der Welt
zu solch einer Geste und zu solch einem starken Statement in der Lage wäre.
({1})
Jeder von uns - das gilt auch für jemanden wie
Claudia Roth oder Frau Schmidt oder Frau Jochimsen hat einmal Fremdheits-, Minderheits- oder Diasporaerfahrungen gemacht. Ich glaube, die werden nirgendwo
so sehr aufgehoben wie in der Kultur. Gerade Museen
sind Orte, die jedem offenstehen. Genau das beziehen
wir im Ausland und auch hier zu Hause ganz systematisch in unsere Arbeit mit ein.
Frau Jochimsen, das Beispiel „American German
Forum“ in New York hat gezeigt, dass auch wir der Meinung sind, dass Kultur nicht nur ein Standort- oder Wirtschaftsfaktor ist, sondern Auskunft über unsere Wertegrundlagen geben soll und Ausdruck von Humanität ist.
Deshalb haben wir maßgeblich dafür gesorgt, dass neu
darüber nachgedacht wird.
Dass der Etatansatz der höchste ist, den es jemals gegeben hat - mit 1,4 Milliarden Euro liegt er sogar über
dem, was der Bund zu Hause ausgibt, nämlich 1,3 Milliarden Euro -, ist ein deutliches Signal.
Frau Roth, ich wende mich noch einmal an Sie. RotGrün hat in vier Jahren elf Goethe-Institute geschlossen.
Wir haben die Standorte Zypern, Myanmar, Afrika und
China gestärkt. Wir haben uns Tarabya ausgedacht. Wir
haben das zäh auch gegen eine schwierige Administration durchgesetzt.
({2})
- Wir haben das gemeinsam gemacht, aber die Initiative
kam aus der Großen Koalition. Es wurde in der laufenden Legislaturperiode von dieser bürgerlichen Koalition
mühsam genug durchgekämpft, die deutsch-türkischen
Beziehungen zu stärken, weil wir wissen, was wir da
versäumt hatten.
({3})
Sie wissen, dass wir mit der großen Aufklärungsausstellung in China eine halbe Million Menschen erreicht
haben. Dadurch haben wir gezeigt, dass wir Museumspolitik nicht statt, sondern im Dienste der Menschenrechte machen.
({4})
Gerade in schwierigen, hermetischen Gesellschaften
- liebe Claudia Roth, das wissen Sie genauso gut wie
wir - erreichen wir die Zivilgesellschaft viel besser über
die Kultur als mit politischen Maßnahmen. Wir haben einen Lesesaal in Nordkorea eingerichtet, in Afghanistan
die Mädchenschulen. In Teheran haben wir die Verträge
mit DAAD und DAI wieder unterschrieben. In Vietnam
haben wir den Parzifal mit Schauspielern von dort aufgeführt. Das wäre vor kurzem noch nicht einmal denkbar
gewesen.
({5})
Wir alle sind nicht so naiv, zu glauben, dass wir damit
auch nur einem einzigen Funktionär den Kopf verdrehen
könnten. Aber für die Menschen, die unter den Restriktionen leiden, sind derartige Angebote Deutschlands im
Ausland der einzige Hoffnungsschimmer.
Deutschland hat in den vergangenen Jahrhunderten
selbst durch Zuwanderung und Integration seine Prägung als europäische Kulturnation erfahren. Integration,
auch hier zu Hause - das sage ich, weil einer der Vorredner erwähnt hat, dass wir auch etwas empfangen möchten -, wäre ohne Kultur nicht möglich. Unsere hiesige
Kultur ist in ihrer stilistischen Vielfalt und der Fülle ihrer
Ausdrucksformen auch das Resultat der zahlreichen Einflüsse anderer Kulturen und wäre anders nicht denkbar.
Politik, Wirtschaft, Diplomatie, sie alle sind wichtig.
Aber was wären sie ohne die Kultur? Kultur ist der Modus unseres Zusammenlebens. Sie können wir genauso
wenig bestimmen, auch nicht durch Politik, weder hierzulande noch draußen, wie unsere Sprache. Sie war immer schon da. Deshalb kann man Kunst und Kultur auch
nicht instrumentalisieren. Sie ist mehr als alles andere
ein Wert an sich. Sie ist das Wie einer Gesellschaft, einer
Gemeinschaft, nicht das Was.
Genau diesem Bewusstsein folgt auch unsere Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Wir alle, auch Sie
von der Opposition, sind gut beraten, dieses Prinzip niemals aus den Augen zu verlieren.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12052 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten, die
gestern aufgrund der Aufhebung der Sitzung nicht mehr
behandelt wurden.
Ich rufe zunächst noch einmal die Tagesordnungs-
punkte 8 a bis 8 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Förderung der Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken ({0})
- Drucksache 17/13403 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({1})
- Drucksache 17/13769 Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13771 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Ewald Schurer
Otto Fricke
Roland Claus
b) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung
arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 17/13083 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten
Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
- Drucksache 17/13404 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 17/13770 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Versorgung mit Arzneimitteln sicherstellen
- Drucksachen 17/12847, 17/13770 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Michael Hennrich
Tagesordnungspunkt 8 a. Den Gesetzentwurf der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP zur Sicherstellung des
Notdienstes von Apotheken auf Drucksache 17/13081 ha-
ben wir gestern angenommen. Ich komme deshalb jetzt
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Gesundheit zu dem von der Bundesre-
gierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der
Sicherstellung des Notdienstes von Apotheken. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13769, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/13403 für erledigt
zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 b. Abstimmung über den von
den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Änderung arzneimittelrechtlicher
und anderer Vorschriften. Der Ausschuss für Gesundheit
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/13770, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksa-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
che 17/13083 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen.
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD
und der Linken bei Enthaltung der Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den Ge-
setzentwurf namentlich ab. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu-
nehmen. - Sind alle Schriftführer an den Plätzen? Ich
bitte um Bestätigung. - Ich eröffne die Abstimmung und
bitte, die Stimmkarten einzuwerfen.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht eingeworfen hat? - Letzter Auf-
ruf! - Dann schließe ich den Wahlgang und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-
lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird
Ihnen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Ich bitte, Platz zu
nehmen, damit ich hier den Überblick behalten kann.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13770, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/
13404 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenom-
men.
Tagesordnungspunkt 8 c. Der Ausschuss für Gesund-
heit empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/13770 die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12847
mit dem Titel „Versorgung mit Arzneimitteln sicherstel-
len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen SPD und Linke bei Enthal-
tung der Grünen.
Jetzt werde ich eine große Zahl von Tagesordnungs-
punkten aufrufen, die wir alle abarbeiten müssen, zu de-
nen aber keine Aussprache vorgesehen ist. Die Reden
werden zu Protokoll genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Mast, Anette Kramme, Gabriele Lösekrug-
Möller, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
1) Ergebnis Seite 31029 D
Sofortprogramm „2. Chance auf Berufsausbildung“ für junge Erwachsene ohne Berufsabschluss - Fachkräfte von morgen ausbilden
- Drucksache 17/13252 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Die Reden werden zu Protokoll genommen.2) - Da-
mit sind Sie sichtlich einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13252 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Albert Rupprecht ({6}), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Martin Neumann ({7}), Dr. Peter
Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Chancengleichheit in Wissenschaft und For-
schung durch kontinuierliche Impulse des
Bundes konsequent weiter vorantreiben
- Drucksache 17/12845 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({8})
zu dem Antrag der Abgeordneten Marianne
Schieder ({9}), Ulla Burchardt, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sowie der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Frauen in Wissenschaft und Forschung Mehr Verbindlichkeit für Geschlechtergerechtigkeit
- Drucksachen 17/9978, 17/12365 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Marianne Schieder ({10})
Dr. Martin Neumann ({11})
Krista Sager
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.3)
2) Anlage 7
3) Anlage 6
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/
12845. Wer stimmt für diesen Antrag? - Die Antragstel-
ler. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD und der Grünen bei Enthal-
tung der Linken.
Tagesordnungspunkt 12 b. Der Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12365,
den Antrag der Fraktionen der SPD, Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9978 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 d sowie
Zusatzpunkt 9 auf:
15 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({12}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke,
Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Keine Rüstungsexporte als Instrument der
Außenpolitik - Exportverbot jetzt durchsetzen
- Drucksachen 17/10842, 17/12654 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Barthel
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({13}) zu dem Antrag der Abge-
ordneten Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Alle Waffenexporte des Oberndorfer Klein-
waffenherstellers verbieten
- Drucksachen 17/4677, 17/4900 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Lieferung von U-Booten an Israel stoppen
- Drucksachen 17/9738, 17/10150 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingo Gädechens
Rainer Arnold
Christoph Schnurr
Omid Nouripour
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz
Rudolf Körper, Klaus Barthel, Rainer Arnold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Markierung deutscher Klein- und Leichtwaffen
- Drucksache 17/11875 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Keul,
Volker Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Export von Überwachungs- und Zensurtech-
nologie an autoritäre Staaten verhindern - De-
mokratische Proteste unterstützen
- Drucksachen 17/13489, 17/13763 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Ti-
tel „Keine Rüstungsexporte als Instrument der
Außenpolitik - Exportverbot jetzt durchsetzen“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12654, den Antrag der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/10842 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke angenommen mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Tagesordnungspunkt 15 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Alle Waf-
fenexporte des Oberndorfer Kleinwaffenherstellers ver-
bieten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4900, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4677 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
stimmen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegen-
stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 15 c. Beschlussempfehlung des
Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Die Linke mit dem Titel „Lieferung von U-Booten an Is-
rael stoppen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/10150, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9738
1) Anlage 9
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Be-
schlussempfehlung haben die Koalitionsfraktionen und
die SPD zugestimmt, die Linken haben widersprochen,
und die Grünen haben sich enthalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11875 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 9. Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Export von Überwachungs- und Zensurtech-
nologie an autoritäre Staaten verhindern - Demokrati-
sche Proteste unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13763,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/13489 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen angenommen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zum Ausbau der
Hilfen für Schwangere und zur Regelung
der vertraulichen Geburt
- Drucksache 17/12814 - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für
Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt
- Drucksachen 17/13062, 17/13391 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({18})
- Drucksache 17/13774 Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Miriam Gruß
Yvonne Ploetz
- Bericht des Haushaltsausschusses ({19}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13775 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Rolf Schwanitz
Dr. Florian Toncar
Roland Claus
Sven-Christian Kindler
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({20}) zu der Unter-
richtung durch den Deutschen Ethikrat
Stellungnahme des Deutschen Ethikrates -
Das Problem der anonymen Kindesabgabe
- Drucksachen 17/190, 17/13774 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Fischbach
Miriam Gruß
Yvonne Ploetz
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden.1)
Es gibt allerdings einige persönliche Erklärungen zur
Abstimmung nach § 31 unserer Geschäftsordnung.
Diese werden zu Protokoll genommen.2)
Tagesordnungspunkt 14 a. Wir kommen zur Abstim-
mung über die von den Fraktionen der CDU/CSU und
FDP sowie von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
würfe eines Gesetzes zum Ausbau der Hilfen für
Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/13774, den Gesetzentwurf der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/12814 sowie den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 17/13062 und 17/13391 zusam-
menzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-
chen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Oppositions-
fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zu der Unterrichtung durch den Deutschen Ethikrat mit
dem Titel „Stellungnahme des Deutschen Ethikrates -
Das Problem der anonymen Kindesabgabe“. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/13774, die Stellung-
nahme des Deutschen Ethikrates auf Drucksache 17/190
zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
1) Anlage 8
2) Anlagen 2 bis 4 sowie Anlage 2 ({21})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({22}), Tom Koenigs, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aufnahme afghanischer Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Bundeswehr in Deutschland
- Drucksache 17/13729 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({23})
Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genom-
men.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13729 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetzes
- Drucksache 17/12957 Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses ({24})
- Drucksache 17/13558 Berichterstattung:
Abgeordnete Anita Schäfer ({25})
Karin Evers-Meyer
Burkhardt Müller-Sönksen
Katja Keul
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Die Reden werden zu Protokoll genommen.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Verteidigungs-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13558, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/12957 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen angenommen.
1) Anlage 11
2) Anlage 10
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die, die zustimmen wollen,
mögen sich bitte erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/13772. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Zustimmung
von SPD und Grünen und Enthaltung der Linken.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/13773. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit gleichem
Stimmenverhältnis abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({26})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Riegert, Eberhard Gienger, Stephan Mayer
({27}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten
Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine
Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten
Joachim Günther ({28}), Dr. Lutz Knopek,
Hans-Werner Ehrenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Viola von Cramon-Taubadel, Daniela
Wagner, Claudia Roth ({29}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Ringen vor dem Ausschluss aus dem olympischen Programm bewahren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ringen vor dem Ausschluss aus dem olympischen Programm bewahren
- Drucksachen 17/13091, 17/13092, 17/13372 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Lutz Knopek
Viola von Cramon-Taubadel
Die Reden gehen zu Protokoll.
Am 12. Februar hat die IOC-Exekutive den Traditionssport Ringen vorerst aus dem Programm für die
Olympischen Spiele ab dem Jahr 2020 genommen.
Seitdem hat dieser Schritt nicht nur in Deutschland für
viel Bewegung innerhalb des Sports, der Gesellschaft
und auch der Politik geführt. Nach Initiative meines
Kollegen Karl A. Lamers befassen wir uns heute im
Deutschen Bundestag mit dieser Entscheidung des
IOC.
Die Entscheidung, das Ringen vorerst aus dem Programm zu nehmen, hat das IOC nicht aus heiterem
Himmel getroffen. Offensichtlich hatte der Ringerweltverband FILA den Anforderungskatalog des IOC für
eine olympische Disziplin nur ungenügend erfüllen
können oder wollen. Obwohl der Beschluss für die vielen Sportler bitter ist und er in seiner Konsequenz viele
- mich eingeschlossen - doch überrascht hat, so müssen wir bei der Bewertung dieser Entscheidung festhalten, dass es auch Fehler aufseiten des Ringerweltverbandes gab. Die betroffenen Sportler weltweit und
auch den Deutschen Ringer-Bund möchte ich von dieser Kritik ausdrücklich ausnehmen. In der Konsequenz
müssten sie jetzt aber für Versäumnisse ihres Weltverbandes büßen, wenn der Status als olympische Disziplin endgültig verloren ginge.
Neben den Defiziten auf der Ebene des Weltverbandes spielte meiner Ansicht nach bei der Entscheidung
des IOC gegen das Ringen aber noch etwas anderes
eine große Rolle, was sich am besten mit dem Wort
„Zeitgeist“ beschreiben lässt. Gerade durch seine Tradition und sein Alter könnte das Ringen gefährdet sein.
Heutige Sportgroßveranstaltungen werden immer
mehr nach den Bedingungen „höher, schneller, weiter“ ausgelegt. Manchem erscheint der pure Zweikampf beim Ringen ohne trendiges Sportgerät nicht
mehr dem Zeitgeist zu entsprechen. Im Ergebnis besteht dann die Gefahr, dass am Ende die Inszenierung
und die Show im Vordergrund stehen und nicht mehr
der sportliche Wettkampf. Die Frage - aufgrund derer
wir auch heute hier zusammengekommen sind - ist, ob
wir das wirklich wollen. Meine Antwort ist auf jeden
Fall ein klares Nein. Schon in der Antike war das Ringen eine Kerndisziplin, und es gehört heute zum kulturellen Erbe der Olympischen Spiele.
Bedauerlich finde ich, dass man dem IOC nach der
momentanen Herausnahme des Ringens aus dem
olympischen Programm nun zumindest vorwerfen
kann, es würde diesem modernen Zeitgeist hinterherlaufen und deshalb lieber Sportarten ins Programm
aufnehmen, die sich scheinbar besser vermarkten lassen und somit moderner erscheinen. Dass diese Entscheidung zulasten einer der ältesten Sportarten der
olympischen Bewegung gehen könnte, ist aus meiner
Sicht nicht nachvollziehbar und falsch.
Mit dem Ende des Ringens bei den Spielen würde
- meiner Meinung nach - ein Stück der olympischen
Idee verloren gehen. Der vermeitliche Zeitgeist darf
sich bei Olympischen Spielen nicht nur m Preis der
Vermarktungsrechte einer Sportart messen lassen. So
perfekt durchorganisiert die Spiele heutzutage auch
sein mögen, so gehören doch auch die Traditionen der
antiken Olympischen Spiele dazu, und das Ringen verdeutlicht diese Idee seit mehr als 2 000 Jahren. Natürlich sind die Begriffe „olympische Idee“ und „Bewegung“ sehr verklärt. In der Realität, und das wissen
wir alle, sind Olympische Spiele eines der am besten
durchorganisierten und vermarkteten Ereignisse weltweit mit Milliardenumsätzen.
Aber gerade diese etwas verklärte Vorstellung eines
Ausfechtens von Wettkämpfen nach klaren Regeln in
den unterschiedlichsten Disziplinen ist es doch, die die
Menschen an Olympischen Spielen so begeistert.
Einen sehr großen Beitrag zu dieser Faszination
Olympia leisten die antiken Sportarten mit ihrer Tradition und Geschichte. Sie sind ein Grund dafür, dass wir
die Spiele nicht nur als monumentale Vermarktungsmaschine von Sponsoren wahrnehmen, sondern als
Wettkampf der Nationen. Ein Ausschluss des Ringens als eine dieser ursprünglichen Sportarten - würde dem
Bild, welches Olympische Spiele in der Öffentlichkeit
noch immer vermitteln, Schaden zufügen. Ich glaube,
dass es genau dieser Punkt ist, der zu dem seltenen Ereignis geführt hat, dass sich alle Fraktionen der im
Bundestag vertretenen Parteien hier im Ziel einig sind.
Dieses Ziel ist der klare Wunsch, Ringen weiterhin bei
Olympischen Spielen im Programm zu sehen. Dem
IOC muss bewusst sein, dass in 180 Ländern gerungen
wird, dass bei den Spielen 2012 in London Athletinnen
und Athleten aus 71 Ländern diesem Sport nachgingen. Ringen gehört ganz selbstverständlich zum Programm bei den Commonwealth-Spielen, bei den Asienspielen, der Maccabiade und den All Africa Games.
Die Ringer sind seit der Entscheidung des IOC im
Februar alles andere als untätig gewesen. In den letzten Monaten haben sie viele der an sie gerichteten
Forderungen erfüllt und sich neben einer neuen Verbandsstruktur auch vielen Kritikpunkten an ihrem
Sport gewidmet. Sie haben die für die Zuschauer
schwer verständlichen Regeln reformiert, eine Athletenkommission in Entscheidungen des Weltverbandes
eingebunden und setzen verstärkt auf Frauen in ihrem
Sport.
Ringen vertritt in vorbildlicher Weise die Grundprinzipien des Sports. Es verbindet, überbrückt Gräben, bringt Menschen zusammen. Ringer vertreten die
im Sport so wichtigen Werte wie Fairplay, Toleranz,
Verantwortung und Respekt. Davon konnte man sich
Anfang Mai in New York überzeugen. Denn es sind
derzeit wohl nur sehr wenige in der Lage, eine Zusammenarbeit zwischen den USA, dem Iran und Russland
auf die Beine zu stellen. Dem Sport ist es - in Form eines gemeinsamen Turniers ihrer besten Ringer - innerhalb kürzester Zeit gelungen. Auch in Deutschland hat
der Deutsche Ringer-Bund nach der Entscheidung des
IOC eine ungeahnte Welle der Unterstützung erfahren
und diese zum Beispiel für einen bundesweiten
Aktionstag auch genutzt. Über 100 000 Unterschriften
sind zusammengekommen, um ein Zeichen gegen das
drohende Ende des Ringens bei Olympischen Spielen
zu setzen.
Diese internationalen und nationalen Bemühungen
haben erste Erfolge gezeigt, denn bei einem Treffen
Zu Protokoll gegebene Reden
der IOC-Exekutive am 29. Mai wurde Ringen - neben
Squash und Baseball - in den engeren Kreis der Sportarten aufgenommen, die 2020 bei den Olympischen
Spielen dabei sein können. Die endgültige Entscheidung trifft die IOC-Vollversammlung am 10. September. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion appelliert an
dieses Gremium, Ringen wieder ins Programm aufzunehmen. Die letzten Wochen und Monate haben
gezeigt, dass Ringen sehr wohl zum Zeitgeist der Gesellschaft gehört und weiterhin einen wichtigen Bestandteil der olympischen Idee darstellt.
Das olympische Ringen schien nach der Entscheidung der IOC-Exekutive im Februar dem Untergang
geweiht. Ab 2020 sollte es nicht mehr Teil der olympischen Familie sein. Das wäre für diese Sportart einem
Todesurteil nahegekommen.
Aber: „Die Ringenden sind die Lebendigen.“ Das
wusste schon Gerhart Hauptmann. Hauptmann hat das
wahrscheinlich nicht auf das olympische Ringen bezogen, aber er lag gar nicht mal weit daneben.
Die Ringerverbände haben reagiert und Leben gezeigt. Nachdem die IOC-Exekutive dem Sport mangelnde Attraktivität vorgeworfen hat und den Verbleib
des Ringens im olympischen Programm zur Disposition stellte, hat der Ringerweltverband FILA einen bisher nicht gekannten Reformeifer gezeigt. Es wurden
Strukturen und Regeln geändert, transparenter gestaltet und die Zugangsschwelle für Laien gesenkt. Damit
ist deutlich geworden, dass die Ringer die Entscheidung der IOC-Exekutive als Warnschuss aufgefasst
und entsprechend reagiert haben.
Dieses Engagement wurde vergangene Woche belohnt: Am 29. Mai hat die IOC-Exekutive das Ringen
gemeinsam mit Baseball/Softball und Squash auf die
Shortlist für die Vergabe des derzeit freien Programmplatzes für die Spiele 2020 genommen. Die Reformen
der FILA haben Wirkung gezeigt: Das olympische Ringen ist durchaus zukunftsfähig.
So weit, so gut, könnte man jetzt meinen. Da hat sich
der Sport doch selbst geholfen. Und manche fragen
sich nun, warum sich die Politik jetzt dort noch einmischt und sich der Deutsche Bundestag überhaupt um
die Zukunft einer einzelnen Sportart sorgen sollte.
Auf diese berechtigte Frage muss man antworten,
dass es hierbei um mehr als nur um eine Sportart geht.
Ringen ist olympischer Ursport. Seit den ersten Spielen der Antike ist es fester Teil des Programms gewesen. Damit bildet Ringen einen Teil des Kerns des
olympischen Wettbewerbs.
So sehr ist das Ringen mit der Idee von Olympia
verknüpft, dass es sogar in die olympische Hymne Einzug fand, ja gerade sogar explizit als Beispiel einer
„edlen Kraft, die den edlen Spielen innewohnt“ bezeichnet wird. Diese Tradition sollte erhalten bleiben.
Außerdem ist Ringen eine Urform des sportlichen
Messens. Prinzipiell kann jeder ringen. Für diesen
Sport braucht man - theoretisch - keine besondere
Ausrüstung, kein zusätzliches Sportgerät. Es ist die
klassische Sportart, die Körper gegen Körper einsetzt.
Damit ist Ringen auch ein Sport, der kaum finanzielle
Hürden aufbaut, sondern unabhängig von Herkunft
und Hintergrund jedem offensteht.
Und: Ringen gibt es auf jedem Kontinent und in fast
jeder Kultur in irgendeiner Form. Unter den ältesten
Darstellungen von sportlichen Wettkämpfen sind Abbildungen von Ringern.
Die kulturelle Bedeutung des Ringens lässt sich daran erkennen, dass es in unserer Sprache Synonym für
den Einsatz für etwas, das jemandem wichtig ist, geworden ist. Sie lässt sich auch daran erkennen, dass
bei den Spielen von London Athleten aus 29 Nationen
Medaillen im Ringen gewannen. Das sind mehr Nationen, als in den meisten Sportarten überhaupt antreten.
Durch Sport wird häufig etwas geschafft, das sonst
kaum möglich scheint: eine Verbindung über Grenzen
und Weltanschauungen hinweg zu schaffen. Die weite,
interkulturelle Verbreitung und die niedrige materielle
Schwelle des Ringens führen dazu, dass dies zu unerwarteten Partnerschaften führen kann. So hätte sich
wohl kaum jemand träumen lassen, dass der Iran und
die USA ein gemeinsames Ziel verfolgen und dazu
friedlich kooperieren könnten. Aber vor einigen Wochen konnte man genau dies beobachten, als sich Ringer aus beiden Nationen in New York gegenüberstanden, um ihren Sport zu promoten.
Umso unverständlicher muten die Gründe an, die
das leitende Gremium des IOC anfangs für den möglichen Ausschluss genannt hat. Unter den entscheidenden Kriterien waren TV-Quoten, Zuschauerzahlen,
Ticketverkäufe, Verbreitung, Mitgliederzahlen und Attraktivität bei Jugendlichen. Dabei sind die olympischen Spiele doch gerade ein Forum für diejenigen
Sportarten, die meistens abseits des Mainstreams existieren: für Sportarten, die nicht jedes Wochenende im
Fernsehen zu sehen sind und deren Athletinnen und
Athleten keine Millionengagen verdienen, für Sportarten, deren Strukturen auf das Engste mit den olympischen verknüpft sind, für Sportarten, in denen der
Amateurcharakter des Olympioniken widergespiegelt
wird.
Es gilt, solche Sportarten davor zu bewahren, gänzlich in der Versenkung zu verschwinden und komplett
aus der Öffentlichkeit verbannt zu werden. Wenn wir
uns als Gesellschaft nicht für die klassischen olympischen Sportarten einsetzen, wenn wir zulassen, dass
Strukturen zusammenbrechen, wird zwangsläufig eine
Vielfalt verloren gehen, um die es schade wäre.
Eventuell denken manche unter Ihnen - und sicher
auch unter den Bürgerinnen und Bürgern, die wir hier
repräsentieren -, dass man doch dem freien Markt seinen Lauf lassen soll. Wenn sich die Zuschauerinnen
Zu Protokoll gegebene Reden
und Zuschauer mehr für andere Sportarten interessieren, hat das Ringen eben Pech.
Ich warne aber davor, dieser Argumentation zu folgen. Denn nach ihrer Logik wäre beispielsweise auch
der Einsatz für den Erhalt von Theatern infrage zu
stellen, da mehr Leute ins Kino gehen. Trotzdem setzen
wir uns für deren Erhalt ein, damit künftige Generationen die Möglichkeit haben, eine möglichst große Vielfalt kulturellen Lebens kennenzulernen.
Ebenso sollte es im Sport sein: Es gibt Sportarten,
die populärer sind, als es das Ringen ist. Das steht außer Frage. Aber diese Sportarten haben viel mehr
Möglichkeiten, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren
und für sich zu werben.
Als Mitglied des Programmausschusses eines öffentlich-rechtlichen Senders kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versichern, dass dem so ist. Ich bitte
trotzdem auch darum, diesen Antrag nicht als Votum
gegen andere Sportarten zu betrachten.
Die beiden verbliebenen Wettbewerber des Ringens,
Baseball/Softball und Squash, sind großartige Sportarten, die jede das olympische Programm, sollte die
IOC-Hauptversammlung im September sich entsprechend entscheiden, enorm bereichern werden. Deswegen haben wir die Forderungen dieses Antrags ganz
bewusst so formuliert, wie sie Ihnen jetzt vorliegen:
nicht als Wertung einzelner Sportarten, sondern als
unseren Beitrag zur Befähigung der Ringerverbände
auf allen Ebenen, die notwendigen Reformen anzugehen und sich ihre Zukunft zu erkämpfen.
Eines muss ich aber an dem vorliegenden Antrag
kritisieren, und zwar, dass eine Fraktion von ihm ausgeschlossen wurde. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, Sie haben aus diesem Grund einen
wortgleichen Antrag eingebracht. Damit haben Sie
versucht, die Intention des Antrags zu unterstützen,
wofür Ihnen Anerkennung auszusprechen ist. Ich hätte
es sehr begrüßt, wenn es uns gelungen wäre, über
Fraktionsgrenzen hinweg zusammenzuarbeiten. Aber
dies zeigt, wie hartnäckig sich manche Traditionen
halten.
Hoffen wir, dass sich die Tradition des olympischen
Ringens ebenso hartnäckig hält.
Wir alle haben die Empfehlung der Exekutive des
Internationalen Olympischen Komitees zur Kenntnis
genommen, die traditionelle Sportart Ringen aus dem
olympischen Programm ab 2020 auszuschließen, und
wir alle haben uns für einen überfraktionellen Antrag
entschieden, der das Ringen vor diesem Schicksal bewahren soll.
Die Gründe der IOC-Exekutive für diese Entscheidung sind im Einzelnen nicht bekannt, und auch im
Sportausschuss des Deutschen Bundestages gab es leider keine Stellungnahme der deutschen Vertreter aus
dem Exekutivkomitee. Im September 2013 wird das
IOC abschließend über den Verbleib oder den Ausschluss der Traditionssportart Ringen entscheiden.
Unter der Beachtung der Autonomie des Sports bleibt
uns Sportpolitikern nur, die Bundesregierung aufzufordern, sich für die Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten einzusetzen, weiter zwischen den zuständigen Stellen zu vermitteln sowie den internationalen
Reformprozess im Ringen beratend zu begleiten. Wir
hoffen sehr, dass wir heute, neben anderen Staaten wie
den USA oder Russland, bei den Entscheidern des IOC
Gehör finden, unsere Argumente überzeugen und der
drohende Ausschluss noch abgewendet werden kann.
Neben der Tatsache, dass Ringen zum kulturellen
Erbe der Olympischen Spiele der Antike gehört, welches es grundsätzlich zu schützen gilt, erfährt Ringen
noch heute in vielen anderen Ländern große Aufmerksamkeit, sei es im Spitzen- oder Breitensport. In den
asiatischen und osteuropäischen Ländern ist es sogar
ein Volkssport. In Deutschland hat das Ringen seit vielen Jahren eine abnehmende Bedeutung, trägt aber
aufgrund der hohen Anziehungskraft bei verschiedenen Zuwanderungsgruppen zur gesellschaftlichen Integration bei.
Selbstverständlich hatte das IOC Gründe, es zu dieser Androhung eines Ausschlusses kommen zu lassen.
Unter anderem wurden Fehler und eine nachlässige
Kooperation des Internationalen Ringer-Bundes,
FILA, als Gründe genannt. Mit den angekündigten Reformbestrebungen und den ersten eingeleiteten Veränderungen des Ringerbundes auf Internationaler Ebene
zeigt dieser deutlich, dass er seine Fehler erkannt hat
und die Warnung des IOC ernst nimmt. Wir hoffen
sehr, dass es ihm gelingt, seine eigene Position sachlich zu stärken und sich zeitgemäß weiterzuentwickeln,
um sich jetzt, aber auch in Zukunft an den aktuellen
Standards der Sportentwicklung messen zu lassen.
Ich hoffe sehr, dass das Ringen durch unseren interfraktionellen Antrag die nötigen Reformen umsetzen
kann und ein Ausschluss aus dem olympischen Programm ab 2020 doch noch abgewandt werden kann.
Die modernen Olympischen Spiele haben bewusst an
die Tradition der Antike angeknüpft. Wir müssen also
aufpassen, dass die Olympischen Spiele der Zukunft
nicht zu einem Ort ständig wechselnder, beliebiger
Trend- und Funsportarten werden.
Der Kampf für den Verbleib des Ringens im olympischen Programm geht in die letzte Runde. Im September wird in Buenos Aires entschieden, welche der
Sportarten, die das „Finale der letzten drei“ erreicht
haben, auch nach 2016 olympisch bleibt - ein Hoffnungsschimmer für die Tradition und gegen den trendigen Markt.
Dass es zu diesem Zittern kommen musste, bleibt allerdings nach wie vor unverständlich. Welche bösen
Geister haben die Exekutive des Internationalen Olympischen Komitees, IOC, geritten, als sie im Frühjahr
eine Sportart aus dem Programm kegeln wollten, die
schon in der olympischen Hymne besungen wird?
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Erwarteten die Funktionäre von modernen Trendsportarten,
die sich insbesondere in Asien großer Beliebtheit erZu Protokoll gegebene Reden
freuen, Gewinne am ständig wachsenden Markt in
Fernost?
Die Intransparenz, die über den meisten Entscheidungen des großen internationalen Sports schwebt, ist
auch diesmal nur schwer zu erhellen. Das IOC weigert
sich nach wie vor, den Kriterienkatalog öffentlich zu
machen, der anfangs noch das Aus für das Ringen festschreiben sollte. Geheimbünden ähnlich treffen IOC,
aber auch die FIFA Entscheidungen hinter verschlossenen Türen, die eigentlich von großem öffentlichen
Interesse sind. Das schadet dem Ansehen des Sports.
Die Chancen der Ringer, im olympischen Programm zu verbleiben, sind gestiegen, seit sich eine ungewöhnliche Allianz zwischen Staaten gebildet hat, die
ansonsten eher im diplomatischen Clinch liegen: USA,
Russland und Iran kämpfen gemeinsam für ein Ziel.
Ob aber dieser Kampf mit lauteren Mitteln geführt
wird, bleibt erneut im Dunkeln. Der Einfluss des russischen Präsidenten auf den internationalen Sport
scheint nach Medienberichten ein Ausmaß angenommen zu haben, das den Anforderungen an ein demokratisches Miteinander mitnichten gerecht wird. Aber dies
passt zu den verkrusteten Strukturen der oligarchischen Systeme von IOC und FIFA. Neben kommerziellen Interessen geht es um Machtbedürfnisse, um
Posten und anscheinend auch oft um persönliche Bereicherung. Der Korruptionssumpf, den der amtierende Präsident des IOC trockenlegen wollte, ist immer noch tief.
Es muss aber ein dringendes Bestreben auch des
deutschen Sports sein, endlich mehr Transparenz in
die Entscheidungen zu bringen. Das gilt nicht nur für
die Vergabe von Sportgroßveranstaltungen; das gilt
auch für Strukturentscheidungen und Personalfragen.
Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu wissen, wie
Gelder fließen, welche Kriterien die Zukunft der Sportwelt bestimmen. Denn ohne Publikum ist der Sport als
Ganzes tot.
Der Überlebenskampf der Ringer macht jetzt offensichtlich, dass der Sport an etwas krankt. Nur eine
grundlegende Kur, die mit tief verwurzelten Ursachen
gründlich aufräumt, kann helfen. Ein bloßes Herumdoktern an den Symptomen greift zu kurz. Aber der
Sport will autonom sein und muss sich also selber helfen. Der Politik sind eigentlich die Hände gebunden.
Deshalb ist der Antrag aller Fraktionen zum Verbleib des Ringens im olympischen Programm auch
nicht mehr als ein wohlgemeinter Appell. Der Sport als
Beitrag zur Völkerverständigung liegt auch im politischen Interesse.
Deshalb möchte ich abschließend noch einmal
meine Verwunderung darüber kundtun, dass sich die
Union bei einem unstrittig gemeinsamen Anliegen erneut geweigert hat, einen wirklich fraktionsübergreifenden Antrag zu verabschieden. Die Ausgrenzung der
Linksfraktion an dieser Stelle ist - offen gesagt - ziemlich lächerlich.
Nach dem ersten Schock des überraschenden Ausschlusses für die Zeit nach Olympia 2016 ist nun wieder etwas Ruhe eingekehrt bei den Ringerverbänden.
Denn Ringen hat eine realistische Chance, sich neben
den Sportarten Squash und Baseball/Softball wieder
für eine Olympiaaufnahme zu empfehlen.
Auch in meiner Fraktion wurde diskutiert, warum
sich der Deutsche Bundestag in die Frage des Verbleibs und der Aufnahme von Sportarten ins Olympische Programm einmischen sollte. Denn es liegt ja
ganz zweifellos ein Eingriff in die Autonomie des
Sports vor, wenn ein fraktionsübergreifender Antrag
mit dem Titel „Ringen vor dem Ausschluss aus dem
olympischen Programm bewahren“ vom Deutschen
Bundestag verabschiedet wird. In der Diskussion ist
aber letztlich zum Tragen gekommen, dass die Frage
auch eine große sportpolitische Bedeutung hat.
Denn für den Ringersport in Deutschland ist es existenziell, ob man olympiazugehörig ist oder nicht. Die
Zuwendungen des Bundes bemessen sich in erster Linie daran, ob man zu den olympischen Sportarten gehört. Die bisherige jährliche Förderung würde sich
nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro 2016
mehr oder weniger ohne Übergangszeit von bisher
circa 1 Million Euro auf einen Bruchteil reduzieren.
Unabhängig von der Förderfrage würde ohne Olympiabezug eine entscheidende Motivation für den Nachwuchs im Leistungssport fehlen. Letztlich würden auch
weniger Menschen im Breitensport ihren Platz auf der
Ringermatte suchen.
Ich erinnere auch an die internationale Dimension.
Es gibt eine Sportallianz der Staaten Iran, Russland
und USA, die in gemeinsamen bilderträchtigen Aktionen für einen Verbleib des Ringens bei Olympia geworben hat. In diesem Zusammenhang halte ich es für
erwähnenswert, dass sich der iranische Präsident
Mahmud Ahmadinedschad beim Ringer-Weltcup in Teheran zusammen mit dem US-Team vor der amerikanischen Fahne gezeigt hat. Bedeutsamer als mancher
Politikerbrief an das IOC ist es meiner Ansicht nach
auch, dass im Mai in der New Yorker Grand Central
Station bei einem Schaukampf der Ringer der USA und
des Irans die iranische Nationalhymne gespielt wurde.
Wir haben uns sehr bemüht, die deutschen IOC-Exekutivmitglieder Dr. Thomas Bach und Claudia Bokel zu
einer Sitzung des Sportausschusses einzuladen, um dort
aus erster Hand über die Gründe der Ausschlussentscheidung der IOC-Exekutive zu erfahren. Wir haben es
sehr bedauert, dass es trotz mehrerer Terminvorschläge keine Zusage gab. Eine Rückkoppelung in den
Deutschen Bundestag wäre sicher ein notwendiges
Zeichen gewesen.
Ich möchte einige Anmerkungen zur Situation des
Internationalen Olympischen Komitees, IOC, machen.
Als Veranstalter der Olympischen Spiele genießt das
IOC in der Schweiz den Vereinsstatus und wird von ReZu Protokoll gegebene Reden
gierungen aller Staaten hofiert. Der Begriff „Olympia“ genießt in Deutschland einen gesetzlichen Markenschutz. Das IOC ist aus grüner Sicht längst ein
Konzern des Sports und diktiert den Staaten eine Steuerbefreiung für sich selbst. Pierre de Coubertins im
Jahre 1925 gestellte Frage nach der Zukunft von
Olympia: „Markt oder Tempel? Sportsleute wählet!“
ist längst zugunsten des kommerziellen Marktes beantwortet.
Eine entscheidende sportpolitische Frage der Zukunft ist daher für die grüne Bundestagsfraktion, ob
die Politik ständig einem intransparenten Sportkonzern wie dem IOC mitsamt der internationalen Sportfachverbände hinterherläuft oder ob die demokratisch
legitimierten Parlamente und Regierungen klare Regeln aufstellen. Denn der Weltsport hat längst kommerzielle Ausmaße angenommen, und der Anteil der
durch Korruption, Doping und Wettmanipulation erreichten Marktanteile ist viel größer, als bisher bekannt ist. Wir Grünen haben beispielsweise mit einem
Antrag zum Verhältnis von Sportgroßveranstaltungen
und Menschenrechten einen zukunftsfähigen Vorschlag
gemacht, und wir werden auch weiter kritisch nachhaken, wenn Regierungsvertreter und andere Politiker
den Platz auf der Ehrentribüne einem kritischen Dialog mit Sportverbänden vorziehen.
Ringen war bereits bei den Olympischen Spielen der
Antike eine der angesehensten Sportarten und steht
seit Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit 1896
im olympischen Sportwettkampfkalender. Es ist daher
nicht nachvollziehbar, Ringen aus dem Programm der
Olympischen Spiele zu streichen. Ringen gehört zum
Kernbestand der olympischen Disziplinen. Diese Ansicht hat Herr Minister Dr. Friedrich bereits im Februar dieses Jahres öffentlich vertreten, und er hat
sich für einen Verbleib dieser olympischen Sportart
eindringlich ausgesprochen. Die große Geschichte des
olympischen Gedankens im traditionellen Wettbewerb
weiterleben zu lassen, gerade das macht den Reiz der
Olympischen Spiele aus.
Die überraschende Entscheidung der Exekutive des
Internationalen Olympischen Komitees, IOC, am
12. Februar 2013, die klassische olympische Sportart
Ringen aus dem Programm für die Olympischen Sommerspiele 2020 zu streichen, stößt daher weltweit auf
Unverständnis. Dabei kennt der Einsatz für die Sportart Ringen keine Grenzen: Selbst Staaten wie die USA,
die Russische Föderation und der Iran setzen sich gemeinsam für den Erhalt des Ringens als olympische
Sportart ein. So kämpften Ringer aus den USA, Iran
und Russland in diesem Mai bei Schaukämpfen im alten New Yorker Bahnhof Grand Central miteinander
und gemeinsam für die olympische Zukunft ihrer
Sportart.
Das IOC hatte unter anderem kritisiert, dass die
Sportart Ringen zu unattraktiv sei, und Reformen gefordert. Der Internationale Ringer-Bund, FILA, hat inzwischen selbst Reformbedarf eingeräumt und erste
Reformen auf einem Sonderkongress des Weltverbandes FILA am 18. Mai 2013 in Moskau verabschiedet.
Ich hoffe sehr, dass der Internationale Ringer-Bund
mit diesen Reformen überzeugen kann und dass eine
Lösung gefunden wird, die der Bedeutung des olympischen Traditionssports Ringen gerecht wird. Ich gehe
davon aus, dass sich hierfür alle nationalen wie internationalen Institutionen der Sportart Ringen einsetzen
werden, um eine positive Entscheidung über den Verbleib der Traditionssportart Ringen im September
2013 auf der IOC-Vollversammlung in Buenos Aires zu
erreichen.
Das Bundesministerium des Innern, BMI, hat sich
mit dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, in
Verbindung gesetzt, um zu klären, ob und gegebenenfalls welche weitere Unterstützung seitens des BMI erfolgen kann, um den Verbleib des Ringens im olympischen Programm zu sichern. Auch am Rande der
5. UNESCO-Weltkonferenz der Sportminister vom
28. bis 30. Mai 2013 hat Herr Minister Dr. Friedrich
persönlich in bilateralen Gesprächen für den Verbleib
der Sportart Ringen im olympischen Wettkampfkalender geworben.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache
17/13372. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/13091. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/13092 für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea
Wicklein, Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Bürokratieabbau optimieren - Mittelstandsorientierung stärken
- Drucksache 17/13548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Die Reden gehen zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13548 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b:
a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie
2011/95/EU
- Drucksachen 17/13063, 17/13392 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 17/13556 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({3})
Josef Philip Winkler
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 17/13557 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Stefanie Vogelsang
Dr. Peter Danckert
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Roland Claus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
60 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - Handlungsbedarf auf nationaler und internationaler Ebene
- Drucksachen 17/6095, 17/13564 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe ({6})
Hartfrid Wolff ({7})
Josef Philip Winkler
Die Reden gehen zu Protokoll.
Auf europäischer Ebene ist zurzeit eine ganze Reihe
von Richtlinien zum Gemeinsamen Europäischen Asyl-
system in der Neufassung begriffen. Die von uns heute
zu beschließende nationale Umsetzung der Neufas-
sung der sogenannten Qualifikationsrichtlinie ist da-
1) Anlage 12
bei bis zum 21. Dezember dieses Jahres vorzunehmen
und somit noch vor der Bundestagswahl zu beschließen. Ich freue mich, dass trotz des nahenden Wahltermins die große Mehrheit der Fraktionen des Hauses
diese Umsetzung mitträgt, die eine Reihe praktischer
und häufig erbetener Verbesserungen im Bereich der
Anerkennung von Drittstaatsangehörigen bringt. Es
bleibt abzuwarten, ob dem nächsten Bundestag zum
Beispiel bei der Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie ein ähnlich einhelliges Votum gelingt, wie es heute
zu erwarten ist.
Die breite Mehrheit für den Gesetzentwurf zeigt
deutlich, dass die Koalitionsfraktionen sachgerechten
Verbesserungen der Rechte von Flüchtlingen gegenüber aufgeschlossen sind und dies nicht ein Exklusivrecht der Opposition ist - anders, als von einigen
gerne immer mal wieder behauptet wird. Der ebenfalls zu behandelnde Antrag der Linksfraktion zeigt
dagegen im deutlichen Kontrast, wie man mit übertriebenen Maximalforderungen zwar Spezialinteressen bedienen kann, aber zur praktischen Gesetzgebungsarbeit in unserem Land wenig beiträgt. Dazu
passt dann auch, dass die Linke sich als einzige Fraktion nicht dazu entschließen konnte, der Umsetzung
der Qualifikationsrichtlinie zuzustimmen. Für die
Union gilt: Sinnvolle Regelungen mit Augenmaß sind
mit uns immer zu machen - marktschreierische Forderungskataloge überlassen wir gerne anderen.
Insgesamt ist der Umsetzungsbedarf aus der Neufassung der Qualifikationsrichtlinie allerdings eher
gering, da unsere nationale Rechtslage weitestgehend
bereits den Anforderungen der überarbeiteten Richtlinie entspricht. Im Kern haben wir insbesondere einige
Verbesserungen im Bereich des Flüchtlingsschutzes
und des subsidiären Schutzes vorgesehen sowie die
Rechte von subsidiär Geschützten stärker an die
Rechte von Flüchtlingen angeglichen und die Rechte
von Familienangehörigen von international Geschützten erweitert.
Bei den Verfolgungsgründen haben wir klargestellt,
dass auch eine Verfolgung aus Gründen der „geschlechtlichen Identität“ zur Flüchtlingsanerkennung
führen kann. Eine inländische Fluchtalternative, die
Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz ausschließen könnte, haben wir auf solche Fälle beschränkt, in denen der sichere Landesteil gefahrlos
erreicht werden kann und eine Existenzgrundlage vorhanden ist oder aufgebaut werden kann. Das alles entspricht aber schon jetzt der Rechtsprechung in unserem Land.
Die Angleichung der Rechte von subsidiär Geschützten und Flüchtlingen ermöglichen wir in Zukunft
durch einen eigenständigen subsidiären Schutzstatus,
der sich an Asylberechtigung und Flüchtlingseigenschaft orientiert, wie es auch das Bundesverwaltungsgericht gefordert hat. Dabei haben wir auch dafür
gesorgt, dass beide Gruppen zukünftig eine Aufenthaltserlaubnis nach derselben Vorschrift erhalten, um
eine Angleichung bei den Folgerechten zu erreichen
und damit auch bei den Leistungsgesetzen, wie zum
Beispiel dem BAföG. Flüchtlinge bleiben weiterhin privilegiert bei der Dauer der Aufenthaltserlaubnis, der
Aufenthaltsverfestigung und beim Familiennachzug.
Die Verbesserung der Situation von Angehörigen
von Flüchtlingen und subsidiär Geschützten erreichen
wir durch eine Erweiterung des Familienschutzes, gemäß dem Modell des Familienasyls bzw. des Familienflüchtlingsschutzes, auf den subsidiären Schutz, und
wir dehnen den Familienschutz auf Eltern von minderjährigen Kindern aus, was bisher nur in umgekehrter
Richtung möglich war. Außerdem erweitern wir den
Familienschutz noch auf minderjährige ledige Geschwister, auch wenn dies in der Praxis nur eine relativ
kleine Zahl von bisher nicht erfassten Fällen betreffen
dürfte, in denen kein eigener Schutzanspruch besteht.
Wir weisen dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge im Dublin-Verfahren die Aufgabe der Erfassung bei den sogenannten Aufgriffsfällen zu, in denen Ausländer im Inland angetroffen werden, die in einem anderen Dublin-Staat einen Asylantrag gestellt
haben, aber eben nicht in Deutschland. Künftig kann
das Bundesamt dadurch nach § 27 a und § 34 a Asylverfahrensgesetz Entscheidungen treffen, was bisher
ohne Asylantrag in Deutschland nicht möglich war.
Weiterhin schaffen wir mit dem Gesetzentwurf die
Möglichkeit, gegen Überstellungen im Dublin-Verfahren innerhalb von einer Woche nach Bekanntgabe der
Abschiebungsandrohung einstweiligen Rechtsschutz
zu beantragen. Diese kurze Frist ist sachgerecht, weil
sie dem Geist der Grundgesetzänderung von 1993 entspricht, mit der wir - abgesichert in unserer Verfassung - erreichen wollten, dass Flüchtlinge, die bereits
in einem Drittstaat vor Verfolgung sicher waren, dorthin auch sofort zurückkehren müssen.
Schließlich verkürzen wir die Sperrfrist für Asylbewerber vor der Ausübung einer Beschäftigung im Bundesgebiet von bisher zwölf auf nun neun Monate und
verringern dadurch die Abhängigkeit der Asylbewerber von öffentlichen Sozialleistungen, was zur Akzeptanz des Aufenthalts von Asylbewerbern in der Bevölkerung beitragen kann.
Dieser Punkt wird in den Debatten zum Ausländerrecht immer wieder gerne vergessen: Wir müssen nicht
nur dafür sorgen, dass die Rechte und Pflichten von zu
uns kommenden Asylbewerbern und Flüchtlingen in
einem ausgewogenen Verhältnis sind, sondern wir
müssen auch für Akzeptanz in der Bevölkerung dafür
sorgen, dass Deutschland als reiches Land eine international deutlich überdurchschnittliche Zahl von hilfsbedürftigen Asylbewerbern und Flüchtlingen in unserem Land aufnimmt. Dafür braucht es Information und
Aufklärung, aber dafür bedarf es eben auch einer Gesetzgebung mit Maß und Mitte, in der nicht alles Vorstellbare und Wünschenswerte Gesetz werden kann,
aber bei der jeder in Deutschland darauf setzen kann,
dass wir einen gangbaren Kompromiss finden, wie das
einer parlamentarischen Demokratie würdig ist.
Schon der geringe Anpassungsbedarf, der sich im
deutschen Recht aus der Neufassung von EU-Richtlinien ergibt, zeigt ganz deutlich, dass Deutschland keinen großen Nachholbedarf im Vergleich zu seinen
europäischen Nachbarn hat. Daraus möchte der eine
oder andere vielleicht den Schluss ziehen, dass Europa
insgesamt bei der Flüchtlingspolitik nicht gut genug
aufgestellt ist. Diese Zweifler möchte ich dann aber
bitten, einmal darzulegen, wo sonst auf der Welt über
Jahrzehnte hinweg mehr Flüchtlinge aufgenommen
worden sind und die Fürsorge für Flüchtlinge größer
ist als in Europa. Einmal ganz davon abgesehen, was
Europa außerhalb unseres Kontinents zusätzlich an
dauerhafter und situationsbezogener Flüchtlingshilfe
leistet.
Die Union wird auch in der nächsten Legislaturperiode für eine verantwortungsvolle und angemessene
Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa eintreten. Die weiteren dann anstehenden Umsetzungen neu
efasster EU-Richtlinien in diesem Bereich habe ich bereits erwähnt; aber gerade auch in der Flüchtlingspolitik gibt es immer wieder neue, auch nationale, Herausforderungen, denen wir uns in der Zukunft stellen
müssen. Die Union ist dazu jederzeit bereit, genauso
wie wir heute gerne bereit sind, dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie zuzustimmen.
Anfang Januar 2012 trat die Neufassung der Qualifikationsrichtlinie in Kraft. Ab diesem Datum haben
die EU-Mitgliedstaaten zwei Jahre Zeit, um die Neuerungen dieser Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Der heute zu beratende Gesetzentwurf der Bundesregierung nimmt dies jetzt in Angriff.
Die sogenannte Qualifikationsrichtlinie brachte aus
unserer Sicht ein paar Verbesserungen für Flüchtlinge
und ihre Familienangehörigen. So dehnt sie den Begriff des Familienangehörigen auf nicht verheiratete
Partner aus. Schutzfähige Akteure sind jetzt nicht mehr
per se der Staat, Parteien oder Organisationen, die
große Teile des Staatsgebiets beherrschen, sondern es
muss hinzukommen, dass sie „willens und in der Lage
sind, Schutz zu bieten“. Die Kriterien für interne
Fluchtalternativen wurden weiter ausdifferenziert und
klarer gefasst, insbesondere ist unter Berücksichtigung
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte auch das Kriterium der Zumutbarkeit zu berücksichtigen. Bei den Verfolgungsgründen im Falle einer bestimmten sozialen Gruppe wird
auch an die geschlechtliche Identität angeknüpft.
Kernstück der Richtlinie ist die Angleichung des
Umfangs des internationalen Schutzes von Flüchtlingen und subsidiär Geschützten. Die Mitgliedstaaten
haben dafür zu sorgen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann; Familienangehörige von
Flüchtlingen oder subsidiär Geschützten haben Anspruch auf bestimmte Leistungen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese positiven Vorgaben werden mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung umgesetzt. Der Anwendungsbereich des Asylverfahrensgesetzes wird jetzt auf
subsidiär Geschützte ausgedehnt. Bei der Bestimmung, was Verfolgungsgründe seien können, wird festgelegt, dass eine bestimmte verfolgte soziale Gruppe
auch eine solche sein kann, „die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet“.
Akteure, die Schutz bieten können, müssen dazu auch
„willens und in der Lage“ sein. Eine interne Schutzalternative besteht nun nur noch dann, wenn von dem
Ausländer, der einen Flüchtlingsstatus beantragt,
„vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich
dort niederlässt“.
Wie von der Qualifikationsrichtlinie vorgeschrieben, wird der Kreis der „Familienangehörigen“
erweitert und auf nicht verheiratete Lebenspartner
ausgedehnt. Der Familienschutz wird auf die Eltern
minderjähriger lediger Asylberechtigter oder andere
sorgeberechtigte Erwachsene ausgedehnt. Schließlich
setzt der Gesetzentwurf der Bundesregierung auch
Art. 33 der Richtlinie um, demzufolge die Mitgliedstaaten einem Flüchtling, dem internationaler Schutz
zuerkannt worden ist, Bewegungsfreiheit in ihrem Hoheitsgebiet gestatten.
Im Gesetzgebungsverfahren hatte der Bundesrat gefordert, dass auch in Rücküberstellungsfällen gemäß
der Dublin-II-Verordnung einstweiliger Rechtsschutz
gewährt wird, so wie es deutsche Gerichte in verfassungskonformer Auslegung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz nach Prüfung des Einzelfalls wiederholt
gemacht haben und wie es auch vom Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte gefordert wird. Danach dürfen Mitgliedstaaten einen Flüchtling nicht in
einen EU-Mitgliedstaat zurückschieben, wenn sie
Kenntnis darüber haben oder hätten haben müssen,
dass in diesem Staat keine konventionskonforme
Durchführung des Asylverfahrens gewährleistet ist.
Die Gewährung von einstweiligem Rechtsschutz in
Dublin-II-Überstellungsfällen haben wir seit langem
gefordert, nicht zuletzt deswegen, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, und der
Europäische Gerichtshof, EuGH, die beiden für die
Mitgliedstaaten maßgebende Obergerichte, so entschieden haben, aber auch, weil es unsere Überzeugung ist. Daher haben wir am 18. Oktober 2012 dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Für
wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren: Konsequenzen aus der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte ziehen“, Drucksachen 17/8460 und
17/9008, zugestimmt und in der Beschlussempfehlung
des Innenausschusses zu dem vorliegenden Gesetz der
Bundesregierung eine dementsprechende Ergänzung
bzw. Änderung des § 34 a Asylverfahrensgesetz gefordert. Dem sind die Regierungskoalitionen nachgekommen. Somit können wir dem Gesetz heute zustimmen.
Durch den Gesetzentwurf zur Umsetzung der überarbeiteten Fassung der sogenannten Qualifikationsrichtlinie haben wir einen weiteren wichtigen Baustein
im Ausländerrecht gesetzt.
Ich möchte klar sagen: Ich habe mich sehr gefreut,
dass es im Innenausschuss keine Gegenstimmen gegeben hat, weder zu unserem Änderungsantrag, auf den
ich gleich zu sprechen kommen werde, noch zum Gesetzentwurf als Ganzes. Das zeigt mir, dass auch Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Rot-Grün,
vielleicht zum Ende der Wahlperiode doch erkennen,
dass nicht polemische Behauptungen und Forderungen im Ausländerrecht entscheidend sind, sondern
das, was man erreicht und umsetzt. Und auch draußen
wird das verstanden.
Dieses Gesetz ist, wie die vielen anderen Vorhaben,
die wir in dieser Wahlperiode im Ausländerrecht vorangebracht haben, ein Beispiel für die gute Regierungs- und Parlamentsarbeit der schwarz-gelben Koalition. Es waren vier gute Jahre auch in diesem
Bereich für Deutschland. Und, angesichts der oft haarsträubenden Debatten, die wir wegen verpasster Fristen zur Umsetzung von Richtlinien aus Europa führen:
Hier haben wir weit vor Auslaufen der Frist umgesetzt.
Und wir haben nicht nur eins zu eins umgesetzt, sondern wir haben den Gesetzentwurf noch angereichert.
Durch den Gesetzentwurf werden zunächst die
Rechte von subsidiär Schutzberechtigten gestärkt. Die
Anträge sind nach der neuen Systematik Asylanträge.
Wozu führt das? Dass endlich für alle Anträge das
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig
ist! Und das ist richtig so. Es war den Betroffenen der
unterschiedlichen möglichen Aufenthaltstitel ohnehin
nicht vermittelbar, dass es zwei unterschiedliche Behörden sind, die darüber befinden. Wem sind schon die
komplizierten Feinheiten des deutschen Ausländerrechts gut zu vermitteln? Diese strukturelle Änderung
ist daher absolut begrüßenswert.
Wir haben den Gesetzentwurf noch weiter verbessert: Wir sorgen dafür, dass Asylbewerber bereits nach
neun Monaten auf dem deutschen Arbeitsmarkt zugelassen werden. Ich mache aus meinem Herzen keine
Mördergrube: Natürlich hätten wir uns vorstellen können, ganz auf eine Frist zu verzichten. Das ist eine
langjährige liberale Forderung. Für uns ist es selbstverständlich, dass niemand zum Bezug staatlicher
Leistungen gezwungen werden darf; jeder muss wenigstens die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Aber die Absenkung auf neun
Monate ist ein ganz wichtiger Schritt.
In der Tat geht die Einigung auf europäischer Ebene
auch in diese Richtung. Aber da werden Richtlinien besprochen. Die müssen erst beschlossen werden, dann
beginnt die Umsetzungsfrist von zwei Jahren. Wir sind
also mit gutem Beispiel vorangegangen. Darüber freue
ich mich sehr.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Der zweite Punkt ist der einstweilige Rechtsschutz
im Dublin-II-Verfahren. Deutschland ist das einzige
Land, das - bisher - den einstweiligen Rechtsschutz an
dieser Stelle ausschließt. Für einen vorbildlichen
Rechtsstaat, wie Deutschland einer ist, war das ein Armutszeugnis. Daher haben wir endlich § 34 a Abs. 2
Asylverfahrensgesetz modifiziert: Anträge nach § 80
Abs. 5 der VwGO gegen die Abschiebeanordnung sind
nun innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist vor der gerichtlichen Entscheidung unzulässig. Auch hier ist nun ein Paradigmenwechsel erfolgt.
Alles in allem kann ich auch anhand dieses Gesetzentwurfes feststellen: Die Koalition aus CDU, CSU
und FDP war und ist gut und erfolgreich. Die vergangenen vier Jahre waren gute Jahre für Deutschland!
Es ist deshalb auch gut für Deutschland, wenn diese
Koalition fortgesetzt wird.
Uns liegt heute ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Umsetzung der EU-Qualifikationsrichtlinie
vor, die regelt, unter welchen Umständen Schutzsuchende als Flüchtlinge anerkannt werden und Schutz
erhalten sollen. Diese Richtlinie wird weitgehend korrekt umgesetzt, nicht weniger, aber leider auch nicht
mehr. Die Koalition hat im Innenausschuss noch Änderungen beim einstweiligen Rechtsschutz im DublinÜberstellungsverfahren beschlossen, allerdings nur in
einer Schmalspurvariante. Asylsuchende, die zuvor
über einen anderen EU-Staat eingereist sind, müssen
nach der Dublin-Verordnung dort ihr Asylverfahren
betreiben. Dafür werden sie dorthin überstellt, also innerhalb der EU abgeschoben. Bislang ist es nach dem
Gesetz ausgeschlossen, gegen eine solche Überstellung einstweiligen Rechtsschutz zu erlangen. Künftig
soll im Dublin-Verfahren nach der vorgeschlagenen
Regelung innerhalb einer Woche ein Antrag auf einstweilige Aussetzung der Überstellung eingelegt werden
können. Eine Klage an sich hat aber keine aufschiebende Wirkung. Auch fehlt eine Klarstellung, dass in
der einwöchigen Frist eine Überstellung nicht vollzogen werden darf. Das ist ein Rechtsschutz zweiter
Klasse und wird von uns deshalb als unzureichend abgelehnt.
Meine Fraktion fordert in ihrem Antrag, der heute
ebenfalls zur Abstimmung vorliegt, darüber hinaus,
die Verfahrensrechte der Betroffenen im Asylverfahren
insgesamt wieder den üblichen Standards und Vorgaben im Verwaltungsverfahrensrecht anzugleichen und
das Sonderprozessrecht im Asylbereich endgültig aufzugeben.
Die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Dublin-Überstellungsverfahren ist zwingend! Aufgrund
der teils verheerenden Zustände in den Asylsystemen
anderer EU-Staaten - namentlich Griechenland, Italien, Zypern und Ungarn - haben zahlreiche Verwaltungsgerichte in den vergangenen Jahren sogar entgegen der Gesetzeslage einstweiligen Rechtsschutz
angeordnet. Allein Abschiebungen nach Italien waren
davon 200-mal betroffen. Das Problem ist, dass die
Betroffenen nach jetziger Rechtslage bis zu einer Entscheidung des Gerichts „Freiwild“ der Exekutive sind.
In der Praxis wurde sogar alles getan, um Asylsuchende davon abzuhalten, Rechtsmittel einlegen zu
können, indem ihnen und ihren Rechtsanwälten die bevorstehende Überstellung nicht oder erst auf dem Weg
zum Flugzeug mitgeteilt wurde. Ich kann nur hoffen,
dass diese rechtbrechende Praxis in Zukunft unterbleibt, denn leider fehlt eine klare Bestimmung hierzu
im Änderungsantrag der Koalition.
Der Regierung bleibt gar nichts anderes übrig, als
zumindest einen Minimalrechtsschutz zu gewährleisten. Denn auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der Europäische Gerichtshof und das
Bundesverfassungsgericht haben im Sinne des Rechtsschutzes geurteilt. Die Dublin-Verordnung wird unter
anderem deshalb in diesem Punkt derzeit überarbeitet
und eine Neufassung voraussichtlich Ende des Jahres
in Kraft treten. Leider werden Sonderregelungen im
deutschen Asylrecht ansonsten EU-rechtlich weiter legitimiert. Das gilt etwa für Asylschnellverfahren am
Flughafen. Dieses rechtsstaatswidrige Schnellverfahren wollen wir mit unserem Antrag abschaffen. Auch
die Widerrufsverfahren, die noch Jahre nach der
Asylanerkennung zur Rücknahme des Flüchtlingsschutzes führen können, wollen wir beenden. Sie sorgen für große Verunsicherung bei den Betroffenen, die
zum Teil seit vielen Jahren in Deutschland leben. Die
deutsche Regelung, in allen Fällen und ohne konkreten
Anlass nach drei Jahren automatisch eine Widerrufsprüfung vorzunehmen, ist in der EU einmalig und gehört abgeschafft!
Schließlich fordern wir in unserem Antrag, dass die
Bundesrepublik endlich eine gesetzliche Grundlage für
eine dauerhafte Beteiligung an den Resettlement-Programmen des UN-Flüchtlingshilfswerks schafft. Für
die Jahre 2012 bis 2014 hat die Konferenz der Innenminister und -senatoren, IMK, die Aufnahme von jährlich 300 Menschen beschlossen, die in anderen Staaten
in Flüchtlingslagern leben und für die der UNHCR um
Aufnahme bittet, weil in diesen Lagern keine angemessene Betreuung gegeben ist. Das betrifft beispielsweise
schwer traumatisierte Flüchtlinge oder unbegleitete
Kinder. Die Beteiligung an diesen Resettlement-Programmen darf in Zukunft nicht mehr von der politischen Tageslaune der Bundesländer abhängig gemacht werden, die sich auf der IMK einvernehmlich
einigen müssen. Deshalb wollen wir eine eigene gesetzliche Grundlage und feste jährliche Quoten, die
selbstverständlich deutlich über den genannten
300 Personen liegen müssen. Die Beteiligung an Resettlement-Programmen ist auch ein Zeichen der internationalen Solidarität an jene Staaten, die in der
Nachbarschaft von Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten
die Hauptlast der Flüchtlingsaufnahme tragen müssen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Linke fordert darüber hinaus einen weiteren
Ausbau des Flüchtlingsschutzes. Bürgerkriegs-,
Kriegs-, Umwelt- und Armutsflüchtlinge sind bislang
von der Genfer Flüchtlingskonvention und den einschlägigen EU-Richtlinien gar nicht oder nur ungenügend erfasst. Den Schutz dieser Menschen kann die
Bundesrepublik nicht im Alleingang regeln. Wir fordern daher, dass die Bundesregierung auf europäischer und internationaler Ebene aktiv wird, um auch
für diese Menschen einen wirksamen Schutzstatus zu
erreichen.
Es ist es ein großer Fortschritt, dass mit der sogenannten Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie subsidiär
geschützte Personen - also Flüchtlinge, denen menschenrechtliche Abschiebungshindernisse zuerkannt
wurden, wie etwa drohende Steinigung, Körperstrafen
etc. - weitgehend anerkannten Flüchtlingen gleichgestellt werden.
In dem vorgelegten Gesetzentwurf wird der Wille
des Gesetzgebers deutlich, die Lebensbedingungen
von subsidiär Geschützten in Deutschland zu verbessern und anzugleichen. Das Erfordernis der Angleichung des europarechtlichen subsidiären Schutzes erfolgt auch vor dem Hintergrund der Erfahrung, dass
der subsidiäre Schutz oft ebenso wenig nur vorübergehender Natur ist wie der Flüchtlingsschutz. Es ist gut,
dass der subsidiäre Schutzstatus nun auch in das Asylverfahrensgesetz aufgenommen wurde.
Zu begrüßen ist außerdem, dass nicht mehr nur der
Verweis in § 60 Abs. 1 AufenthG zu finden ist, wonach
die Richtlinie ergänzend anzuwenden sei, sondern der
Gesetzentwurf die Übernahme von Bestimmungen der
Richtlinie in das Asylverfahrensgesetz vorsieht. So ist
erstmals die Definition des Flüchtlings entsprechend
der Genfer Flüchtlingskonvention im deutschen Recht
zu finden.
Etliche Anregungen der Flüchtlingsverbände und
der Oppositionsfraktionen im Kontext der Umsetzung
der Vorgängerrichtlinie ({0}) im Jahr 2007
finden sich nun im Gesetzentwurf - teilweise auch
durch die wörtliche Übernahme der Richtlinienbestim-
mungen in den Gesetzestext - wieder. Dies ist sehr zu
begrüßen.
Besonders erfreulich ist es, dass die von den Koali-
tionsfraktionen vorgelegten Änderungsanträge endlich
auch die Wiederherstellung des einstweiligen Rechts-
schutzes gegen Rücküberstellungen in Dublin-Asylver-
fahren beinhalten. Bundesregierung und Koalitions-
fraktionen hatten sich trotz der eindeutigen
Entscheidungen des EuGH und des EGMR im Dezem-
ber 2011 bislang beharrlich geweigert, diese rechts-
staatliche Lücke, die seit 2007 im deutschen Recht
klafft, wieder zu schließen.
Auch der Bundesrat hatte, auf Initiative des Landes
Rheinland-Pfalz hin, sich in seinem Beschluss für eine
Wiederaufnahme des einstweiligen Rechtsschutzes in
Dublin-Asylverfahren im Rahmen der Umsetzung der
Flüchtlingsanerkennungsrichtlinie in nationales Recht
ausgesprochen. Allerdings muss dann bei der Ausle-
gung des § 34 a Abs. 2 Asylverfahrensgesetz in der
neuen Fassung Folgendes Berücksichtigung finden:
Die Praxis der Zustellung der Abschiebungsanord-
nung wird durch § 34 a Abs. 2 in der neuen Fassung
nicht geändert. Deshalb muss klargestellt werden, dass
dem Ausländer Gelegenheit zu geben ist, den Antrag
nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung zu
stellen.
Nach der derzeit geltenden deutschen Gesetzeslage
dürfen die Verwaltungsgerichte Abschiebungen in den
für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen
sicheren Drittstaat nicht nach § 80 oder § 123 VwGO
aussetzen. Diese Vorschrift haben Verwaltungsge-
richte zunehmend gerade in Überstellungsfällen nach
der Dublin-II-Verordnung umschifft, indem sie aus-
führten, die Vorschrift sei dahin gehend auszulegen,
dass sie entgegen ihrem Wortlaut die Gewährung
einstweiligen Rechtsschutzes nicht generell verbiete,
sondern derartiger Rechtsschutz in Ausnahmefällen
möglich bleibe; einstweiliger Rechtsschutz sei in Aus-
nahmefällen nämlich dann zulässig, wenn sich auf-
grund bestimmter Tatsachen aufdränge, dass der
Schutzsuchende von einem der im Konzept der norma-
tiven Vergewisserung des Bundesverfassungsgerichts
nicht aufgefangenen Sonderfälle betroffen sei.
Diese Einschränkungen und besonders hohen An-
forderungen fallen mit der Aufnahme des einstweiligen
Rechtsschutzes weg. Damit gilt wieder der „normale“
Prüfungsmaßstab. Ob also in einem Aufnahmestaat
der Dublin-II-Verordnung systemische Mängel im
Asylverfahren und in den Aufnahmebedingungen vor-
liegen, kann im Verfahren des einstweiligen Rechts-
schutzes künftig zunächst offen bleiben. Entscheidend
ist nur noch - wie in jedem anderen vergleichbaren
Verfahren -, ob dem Aussetzungsinteresse des Schutz-
suchenden Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Be-
hörde einzuräumen ist.
Wir kommen zur Abstimmung.
Tagesordnungspunkt 21 a. Der Innenausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/13556, den Gesetzentwurf der Bundesregierung,
Drucksachen 17/13063 und 17/13392, in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um ihr Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei
Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen al-
ler übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die, die zustimmen wollen,
mögen sich erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
gen? - Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenver-
hältnis angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 b. Der Innenausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/13564, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/6095 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Linken und der Grünen und Enthaltung der
SPD.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Caren
Marks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Alleinerziehende besser unterstützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Alleinerziehung von Kindern würdigen Alleinerziehende gebührend unterstützen
- Drucksachen 17/11032, 17/8793, 17/13178 Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön ({1})
Christel Humme
Miriam Gruß
Katja Dörner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Anette Kramme, Anton
Schaaf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Neue Strategien für eine bessere Förderung
von Alleinerziehenden in der Grundsicherung
- Drucksachen 17/11038, 17/12905 Berichterstattung:
Abgeordneter Matthias W. Birkwald
Die Reden gehen zu Protokoll.
Alleinerziehende sind in unserer Gesellschaft schon
lange keine Randgruppe mehr. Fast jede fünfte Familie
in Deutschland ist alleinerziehend; über zwei Millionen minderjährige Kinder leben bei ihren alleinerziehenden Müttern oder Vätern.
Der Wunsch alleinerziehender Eltern nach wirtschaftlicher Selbstständigkeit ist groß. 66 Prozent von
ihnen sind aktiv erwerbstätig, und viele von denjenigen, die nicht erwerbstätig sind, würden gerne arbeiten. Doch oft reichen die vorhandenen Rahmenbedingungen nicht aus, um Familie und Beruf miteinander
vereinbaren zu können.
Obwohl Alleinerziehende den Alltag mit ihren Kindern alleine meistern müssen und sie bei Haushaltsführung, Kindererziehung und Sicherung des finanziellen Einkommens viel stärker gefordert sind als
Elternpaare, sehen viele von ihnen ihre Lebenssituation positiv. Sie wollen kein Mitleid, sondern benötigen
einfach nur zusätzliche Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags.
Die christlich-liberale Koalition setzt sich dafür mit
vielfältigen Maßnahmen ein: Alleinerziehende dürfen
auf unsere finanzielle Unterstützung zur Sicherung des
Lebensunterhalts vertrauen. Mit der Einführung des
Elterngeldes, der Weiterentwicklung des Kinderzuschlags, der Anhebung und stärkeren Staffelung des
Kindergeldes und der Einführung des Bildungs- und
Teilhabepakets wurde Erhebliches zur Armutsvermeidung von Alleinerziehenden geleistet.
Auch im BAföG ist die starre Altersgrenze für Auszubildende mit Kindern bereits deutlich flexibilisiert
worden und kommt dabei insbesondere auch Alleinerziehenden zugute, deren Bildungsbiografie vielfach
nicht so geradlinig verlaufen kann wie bei anderen
Auszubildenden. Bund und Länder sind über eine Öffnung des BAföG für Teilzeitausbildungen im Gespräch. Ziel ist hierbei die noch bessere Vereinbarkeit
von Ausbildung und Familie mit kleinen Kindern.
Alleinerziehende benötigen darüber hinaus Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsleben. Um sie in die Lage zu versetzen, selbst für
ihren Unterhalt zu sorgen, hat das Bundesfamilienministerium das Modellprojekt „Vereinbarkeit für Alleinerziehende“ aufgelegt. Bis März 2010 sind an zwölf
Pilotstandorten die Angebote der Arbeitsagenturen
und Grundsicherungsstellen mit der bestehenden Infrastruktur vor Ort verzahnt worden. Es entstanden
wirksame Netzwerke aus Beratung und praktischer
Hilfe vor Ort - von einem abgestimmten Angebot an
Kinderbetreuung bis zur zielgenauen Qualifizierung
und Beschäftigung, die Alleinerziehende in die Lage
versetzen, sich aus der Abhängigkeit von Transferleistungen zu befreien. Die Pilotprojekte wurden unterstützt von den Lokalen Bündnissen für Familie und
wurden in die Breite getragen.
Darüber hinaus hat das Bundesarbeitsministerium
dafür Sorge getragen, dass in den Jobcentern der
Blickwinkel auf Alleinerziehende verändert wurde.
Jobcenter sollen Alleinerziehende nicht länger als
schwer vermittelbar ansehen, sondern aktiv mithelfen,
ihnen konsequent alle Hürden aus dem Weg zu räumen,
die einer Erwerbstätigkeit im Wege stehen: Eine gute
Kinderbetreuung zu organisieren und mit den Arbeitgebern flexible und damit familiengerechte Arbeitsbedingungen auszuhandeln, ist keine familienpolitische
Schwärmerei, sondern handfeste zukunftsweisende Arbeitsmarktpolitik.
Für die bessere Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit brauchen vor allem Alleinerziehende ausreichende und qualitativ hochwertige Angebote der
Kinderbetreuung. Wir müssen dazu keinen neuen Krippengipfel abhalten - der Bund hat längst gehandelt.
Von dem mit finanzieller Unterstützung der CDU/
CSU-geführten Bundesregierung ermöglichten massiven Ausbau der Betreuungsplätze profitieren vor allem
auch Alleinerziehende. Dabei beschränkt sich der
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz für unter
Dreijährige ab dem 1. April 2013 nicht auf halbtägige
Betreuung. Der Umfang der täglichen Unterstützung
richtet sich vielmehr alleine nach dem tatsächlichen
individuellen Bedarf.
Der Bund beteiligt sich nicht nur an den Ausbaukosten für die Betreuungsplätze, sondern auch an den Betriebskosten. Hierzu zählen auch Kosten für zusätzlich
erforderlich werdendes Personal. Bund und Länder
haben bereits 2008 einen Qualifizierungspakt für
Fachkräfte in der Betreuung von Kindern unter drei
Jahren beschlossen. Seither wurde einiges erreicht:
Seit 2009 ist die Aufstiegsfortbildung zur Erzieherin
oder zum Erzieher bundesweit staatlich förderfähig.
Für pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen wurden Programme für die Fort- und Weiterbildung entwickelt. Über das Bundesbildungsministerium
wird die Medienqualifizierung der Erzieher gefördert;
das BMFSFJ hat ein Programm zur Erhöhung der Anzahl männlicher Fachkräfte in Kitas aufgelegt. Es gibt
das Aktionsprogramm Kindertagespflege, mit dem Tagespflegepersonen gewonnen werden sollen.
Den Forderungen nach ausreichenden Betreuungsplätzen können wir also nicht nur zustimmen, sondern
wir setzen sie bereits mit unseren eigenen familienpolitischen Konzepten um. Viele andere Forderungen, die
sich in beiden Anträgen finden, wie zum Beispiel die
Flexibilisierung der Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtungen und die Schaffung von Ganztagsbetreuungsangeboten, fallen in die Zuständigkeit der
Länder.
Ablehnen werden wir die Forderung, auf die bereits
aus gutem Grund beschlossene Einführung des Betreuungsgeldes zu verzichten, die auch den Alleinerziehenden Wahlfreiheit hinsichtlich der Art der Betreuung eröffnet.
Eine Kindergrundsicherung lehnen wir ebenso ab
wie die Rücknahme der Anrechnung des Elterngeldes
auf SGB-II-Leistungen. Die Kindergrundsicherung
verringert die Erwerbsanreize für Eltern und ist daher
nach unserer festen Überzeugung gerade nicht förderlich für eine gute Entwicklung der Kinder.
CDU/CSU und FDP unterstützen Alleinerziehende
mit einem umfangreichen Mix aus finanzieller Förderung und der Bereitstellung von Infrastruktur. Dieser
Mix macht Familienpolitik erst erfolgreich. Und daher
werden wir diesen Weg weitergehen.
Wir widmen unsere heutige Plenardebatte erneut
der Gruppe der Alleinerziehenden. Zur Verdeutlichung
der Situation möchte ich uns noch einmal ein paar Daten ins Gedächtnis rufen: 19 Prozent aller Familien in
Deutschland sind Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil. Wenn wir uns die Gesamtzahl der Kinder in alleinerziehenden Familien anschauen, dann
gelangen wir bei einem Alter unter 19 Jahren auf die
Zahl von 2 Millionen. Die Erwerbstätigkeitsquote bei
den überwiegend weiblichen Alleinerziehenden ist mit
66 Prozent sehr hoch.
Daraus ergibt sich, dass Alleinerziehende eine besondere Betrachtung und entsprechende politische
Weichenstellungen benötigen.
Unsere Leistungen für Alleinerziehende sind eingebettet in den Rahmen einer nachhaltigen und bedarfsorientierten Familienpolitik. In diesem Sinne wurden
bereits wichtige Schritte auf den Weg gebracht. Ich erinnere hier zunächst an die Erhöhung und die frühere
Staffelung des Kindergeldes sowie das Elterngeld, das
sich nach jüngsten Umfragen auch bei Vätern einer
steigenden Beliebtheit erfreut. Alleinerziehenden wesentlich zugute kommen die Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung, die
eben auch von Kinderzuschlag- und Wohngeldbeziehern in Anspruch genommen werden können.
Darüber hinaus arbeiten wir kontinuierlich an weiteren Verbesserungen: So ist das BAföG bereits deutlich flexibilisiert worden - im Sinne der Alleinerziehenden. Auch stehen Bund und Länder über eine
Öffnung des BAföG für Teilzeitausbildungen im Gespräch mit dem Ziel, die Vereinbarkeit von Ausbildung
und Familie mit kleinen Kindern zu verbessern. Ebenfalls in der Diskussion befinden sich Vorschläge zur
weiteren Verbesserung arbeitszeitpolitischer Regelungen. Bundesfamilienministerin Kristina Schröder hat
sich ja hier schon entsprechend bezüglich des Rückkehrrechts auf einen Vollzeitarbeitsplatz geäußert.
Die größte Herausforderung für Alleinerziehende
ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eigenen
Angaben zufolge wünscht sich nämlich ein großer Teil
der nicht in Arbeit stehenden Alleinerziehenden die
Rückkehr in den Job, sieht sich aber gleichzeitig mit
einer Reihe von alltäglichen Herausforderungen konfrontiert, die sie alleine nicht oder nur schwerlich
meistern können.
Deshalb ist die erste wichtige Unterstützungsmaßnahme für Alleinerziehende, die Betreuungsinfrastruktur zu verbessern und einen Rechtsanspruch einzurichten. Denn darin sind wir uns völlig einig: Ein
verbessertes Betreuungsangebot hilft den Alleinerziehenden ganz besonders, um möglichst bald wieder in
einen Job einzusteigen. Wir haben daher den Anspruch
auf einen Betreuungsplatz ab dem 1. August gesetzlich
verbrieft. Und: Keine Bundesregierung zuvor hat mehr
Geld in die Hand genommen, um den qualitativen wie
auch quantitativen Ausbau der Kitas erheblich zu verZu Protokoll gegebene Reden
Nadine Schön ({0})
bessern. Ich erinnere hier an die 5,4 Milliarden Euro,
die wir für diese originär den Ländern und Kommunen
zufallende Aufgabe zugeschossen haben. Die Mittel
abrufen und für genau den bestimmten Zweck des Kitaausbaus einsetzen, das müssen die verantwortlichen
Verwaltungen und Politiker vor Ort tun.
Daneben gibt es die Initiativen des Familienministeriums, im Einklang mit anderen Ministerien das
Thema der Flexibilisierung von Arbeitszeiten in der
alltäglichen Praxis zu verankern. Das geht natürlich
nicht von jetzt auf gleich. Gerade die KMU stehen hier
vor besonderen Herausforderungen. Wichtig ist jede
Initiative, die dazu führt, dass die Personalverantwortlichen in den Unternehmen den Mehrwert von Flexibilität erkennen - für das Unternehmen wie auch für
seine Mitarbeiter. Die Initiativen der Bundesregierung
wie „Familienbewusste Arbeitszeiten“ oder das Audit
Familie und Beruf sind dabei wichtige Meilensteine.
Flexibilität erhalten Alleinerziehende nicht zuletzt
durch funktionierende Netzwerke. Da geht es oftmals
um nur ein paar Stunden in der Woche, wenn sich jemand um das Kind kümmern kann, oder um Gelegenheiten, gemeinsam einen Einkauf zu erledigen, Gänge
zum Amt, die verschiedensten Dinge. Klassischerweise
hat da die Familie eine große Rolle, doch man kann es
sich eben nicht immer aussuchen, wo man arbeitet.
Das Familienministerium hat den Wert intakter Netzwerke für Alleinerziehende erkannt und die Ergebnisse
von Projekten im Onlinehandbuch „Unterstützungsnetzwerke für Alleinerziehende“ veröffentlicht. Hier
kann sich jeder informieren und unter Anleitung seine
Netzwerke schmieden. In meinem Wahlkreis gibt es
dazu ein Modellprojekt des BMAS. Hier werden diese
Netzwerke geknüpft und helfen ganz konkret den Alleinerziehenden, Familie und Beruf zu managen.
Und damit bin ich an einem wichtigen Punkt, den
ich schon im Ausschuss erwähnt habe: Ja, es stimmt,
Alleinerziehende haben es oftmals schwerer als Mütter
und Väter, die in einer Partnerschaft leben. Dennoch
sehen sich die allermeisten Alleinerziehenden nicht in
einer Opferrolle. Alleinerziehende Mütter sehen ihre
Lebenssituation überwiegend positiv, fordern aber
ganz konkrete und praktische Hilfe dort, wo sie es
schwerer haben als diejenigen, die in einer Partnerschaft erziehen. Genau diese Hilfe wollen wir ihnen
bieten.
Auf diese lebensnahe Logik lassen sich leider die
beiden vorliegenden Anträge der Oppositionsparteien
gar nicht erst ein. Die Linkspartei scheint wie in vielen
Fällen nur eine Größe zu kennen: mehr Geld. Ihre
Forderungen sind sehr umfangreich und gehen weit
über das hinaus, was realpolitisch machbar ist. Hat
sich eigentlich innerhalb Ihrer Fraktion mal jemand
ernsthaft die Mühe gemacht, durchzurechnen, in welchen Höhen sich Ihre Forderungen bewegen und wie
das gegenfinanziert werden soll? Davon steht in Ihrem
Antrag nichts drin. Jeder von uns wünscht sich mehr
Geld für Familien und besonders für Alleinerziehende.
Doch wir sollten ehrlich und realistisch bleiben. Sie
aber bauen Luftschlösser und machen den Betroffenen
was vor. Das ist keine redliche Politik, und deshalb
müssen wir Ihre Anträge ablehnen.
Keine andere Familienform hat in Deutschland in
den letzten Jahren so an Bedeutung gewonnen wie die
Ein-Eltern-Familie. Und keine andere Familienform
wird von der schwarz-gelben Bundesregierung so
sträflich vernachlässigt.
Die Bundesregierung hat sich über Jahre nicht darum gekümmert, den Kitaausbau sicherzustellen.
Schon seit längerem wissen wir, dass es in einigen Regionen trotz des Rechtsanspruchs der Eltern nicht genügend Plätze geben wird. Eine gute Betreuung in Kita
oder Krippe ist jedoch eine wichtige Grundlage gerade für Mütter und Väter, die ihre Kinder allein großziehen.
Wichtig ist für viele dieser Eltern auch, dass sie für
ihre Kinder eine Ganztagsbetreuung haben. Bislang
besteht jedoch nur Anspruch auf einen Halbtagsplatz.
Das reicht für viele berufstätige alleinerziehende Eltern nicht aus, denn sie sind in der Regel Alleinverdiener. Was nützt einer Verkäuferin oder einem Krankenpfleger im Schichtdienst ein Kindergartenplatz von
maximal 8 bis 13 Uhr?
Stattdessen kommt jetzt das 2 Milliarden Euro teure
Betreuungsgeld, das einer eigenständigen Existenzsicherung Alleinerziehender entgegensteht und mit ihrer
Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat.
Alleinerziehende, liebe Kolleginnen und Kollegen
von CDU/CSU, profitieren außerdem mit keinem Cent
von den von Ihnen so gepriesenen familienbezogenen
Leistungen wie dem Ehegattensplitting oder der kostenlosen Krankenmitversicherung.
Für Alleinerziehende bedeutet die Regierung
Merkel verlorene Zeit. Das ist fatal: Noch immer leben
40 Prozent aller Alleinerziehenden in Deutschland von
Hartz IV. Das sind fünfmal so viele wie Mütter mit
Partner. Viele von ihnen arbeiten, aber müssen aufstocken. Sie sind arm, weil sie die Verantwortung für ihre
Kinder alleine tragen.
Gepaart mit einer anderen skandalösen Zahl, nämlich der, dass die Chance, aus Hartz IV heraus innerhalb der nächsten anderthalb Jahre eine bedarfsdeckende sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu
finden, bei Müttern aktuell unter 8 Prozent liegt, kann
das für uns nur heißen: Wir müssen dringend etwas
tun!
Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sparen im Ernst an der Arbeitsvermittlung? Weiten die Minijobs noch weiter aus? Führen ein Betreuungsgeld ein? Und lassen Frau Ministerin von der
Leyen damit hausieren gehen, dass der Anteil der Alleinerziehenden in Maßnahmen der Jobcenter ein bisschen gestiegen ist? Sie zementieren die Situation der
Alleinerziehenden!
Zu Protokoll gegebene Reden
Alleinerziehende müssen nicht nur in den Jobcentern mehr gefördert und besser betreut werden - die
gesamte Arbeitsmarktpolitik muss ihrer Lebenswirklichkeit Rechnung tragen. Das haben wir in unserem
zweiten arbeitsmarktpolitischen Antrag ausgeführt:
Geforderte Arbeits- und Wegzeiten müssen sich an der
Lebenswirklichkeit Alleinerziehender orientieren. Alleinerziehende brauchen ihre privaten sozialen Unterstützungsnetzwerke dringend. Deswegen darf man sie
nicht dazu zwingen, in eine andere Wohnung oder in
eine andere Stadt umzuziehen. Alleinerziehende müssen genauso ein Jahr Zeit haben, sich mit einem neuen
Partner zu beschnuppern, wie Kinderlose. Erst dann
darf der neue Partner finanziell für die neue Familie
herangezogen werden.
Lässt sich eine junge Mutter oder ein junger Vater
im SGB-II-Bezug freistellen, nimmt also Elternzeit,
müssen sie trotzdem einen Anspruch auf Qualifizierung und Weiterbildung haben. So können sie diese
Zeit nutzen, um sich gezielt auf den Wiedereinstieg
vorzubereiten. Ich habe in diesem Jahr mit einer Frau
gesprochen, der nicht einmal ein Tagesmutterkurs bewilligt wurde. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich,
wie die verfehlte Politik von Schwarz-Gelb sich bei jedem Einzelnen auswirken kann. Solche strukturellen
Barrieren werden wir abräumen!
Weil vor allem Frauen betroffen sind, muss Gleichstellungspolitik im SGB II endlich gesetzlich festgeschrieben werden.
Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen müssen bei Bedarf in Teilzeit angeboten werden; dazu gehört auch
das Nachholen von Schulabschlüssen.
Die Grundsicherungsstellen müssen ihren Auftrag
wahrnehmen, Kinderbetreuung sicherzustellen. Wir
können es nicht oft genug wiederholen: Machen Sie
endlich ernst mit dem Kitaausbau! Es müssen überall
ausreichend bedarfsgerechte und hochwertige Betreuungsangebote zur Verfügung stehen. Auch für Mütter,
die zum Beispiel in Schicht arbeiten und heute besonders von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind.
Vor allem brauchen wir eine familienfreundliche
Arbeitswelt. Nicht nur alleinerziehende, beinahe alle
Mütter kranken in ihrer beruflichen Entwicklung an
der Orientierung am überkommenen männlichen Alleinverdienermodell. Mehr als die Hälfte der Mütter
- 54 Prozent, Statistisches Bundesamt 2010 - arbeiten
prekär: Sie sind befristet, geringfügig, in kleiner Teilzeit oder als Leiharbeiterinnen beschäftigt. Ein weiteres Drittel ist gar nicht erwerbstätig.
Deshalb brauchen wir einen zügigen Ausbau von
guten Betreuungseinrichtungen für die Kinder. Ganz
wichtig ist darüber hinaus die Neuausrichtung des Arbeitsmarktes hin zu guter Arbeit auch für alleinerziehende Eltern. Ein gesetzlicher Mindestlohn von mindestens 8,50 Euro pro Stunde und gleiche, gerechte
Bezahlung beider Geschlechter würde uns ein großes
Stück nach vorne bringen, die hohe Quote der Alleinerziehenden als Aufstockerinnen im SGB-II-Bezug
deutlich verringern und ihre Chancen auf existenzsichernde Beschäftigung verbessern. Darum geht es
uns.
Wer Arbeit sucht, muss gleiche Chancen haben, in
Arbeit vermittelt zu werden - ungeachtet der familiären Lebensverhältnisse.
Dafür stehen wir mit unseren Anträgen. Bitte stimmen Sie zu!
Die EU-Kommission hat die Bundesregierung gerade letzte Woche eindringlich aufgefordert, ihre
Hausaufgaben zu machen. So bemängelt Brüssel die
rückständige Familien- und Frauenpolitik und fordert
unter anderem bessere Arbeitsmarktchancen für
Frauen und die Beendigung des Ehegattensplittings.
Schon im Vorjahr hatte die Kommission auf eine Reform gepocht, war jedoch in Berlin bei der Kanzlerin
und ihrer schwarz-gelben Koalition auf taube Ohren
gestoßen. Peinlich für Deutschland, dass EU-Kommissionschef Barroso nun erneut an die Bundeskanzlerin
appellieren muss, mehr für die Familien und insbesondere die Frauen in unserem Land zu tun.
Warum ich dies anspreche? Frauen stellen den
überwiegenden Teil an Alleinerziehenden, und Alleinerziehende bilden eine feste Größe unter den Familien.
Die Anzahl der Einelternfamilien hat sich in den letzten 30 Jahren verdoppelt. Das Ehegattensplitting entspricht insgesamt nicht mehr der Lebenswirklichkeit
der Menschen. Denn Alleinerziehende haben nichts
vom Ehegattensplitting. Aber auch für verheiratete
Frauen führt das Ehegattensplitting häufig in eine berufliche Sackgasse. Klar ist also: Es nutzt den Frauen
nichts. Das Problem: Dies wissen eigentlich alle. Nur
die Kanzlerin und ihre Regierung zeichnen sich durch
Ignoranz und Untätigkeit aus.
Doch am Abend werden die Faulen fleißig. Um von
der eigenen Untätigkeit abzulenken, werden im Vorfeld
der Bundestagswahl jetzt noch schnell uneinlösbare
Wahlversprechen abgegeben. So konnten wir ja der
Presse entnehmen, was für Familien geplant ist: eine
deutliche Erhöhung des Kindergeldes und der Freibeträge. Na, dann dürfen wir einmal gespannt sein auf
die Vorlage zum Haushalt und die entsprechende
Finanzierung.
Die SPD-Bundestagsfraktion will die Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt beenden und
die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf
verbessern. Die jetzige Situation wirkt sich insbesondere bei Alleinerziehenden negativ aus. So ist der Ausbau der frühkindlichen Bildung und Betreuung die
wichtigste Voraussetzung für Alleinerziehende, überhaupt erwerbstätig sein zu können. Erwerbstätigkeit
ist der Schlüssel für ein eigenständiges und sozial abgesichertes Leben. Dafür brauchen gerade Alleinerziehende gute und verlässliche Betreuungsangebote
für ihre Kinder, insbesondere als Ganztagsangebote.
Zu Protokoll gegebene Reden
Damit verbessern wir auch die Startchancen aller
Kinder und sorgen durch die frühe Förderung für mehr
Chancengerechtigkeit. Weil es an Angeboten der frühkindlichen Bildung und Betreuung mangelt, können
viele Alleinerziehende nur wenige Wochenstunden
oder gar nicht arbeiten, obwohl sie es sich anders
wünschten. Obwohl Alleinerziehende aller Altersgruppen oft gut ausgebildet und motiviert sind, haben sie es
auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor besonders schwer.
Das liegt daran, dass sie zeitlich eingeschränkter sind,
weil sie für ihre Kinder allein die Verantwortung tragen. Alleinerziehende brauchen nicht nur Kinderbetreuung; sie sind zudem, mehr noch als andere, auf flexible Betreuungsstrukturen angewiesen, damit auch
Randzeiten abgedeckt sind.
Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat sich jedoch
in den letzten Jahren nicht darum gekümmert, den Kitaausbau entsprechend voranzubringen. Der Rechtsanspruch auf einen Kinderbetreuungsplatz ab dem
ersten Geburtstag in einer Krippe oder in Kindertagespflege tritt am 1. August 2013 in Kraft. Diese große
Herausforderung gilt es zu meistern. Nach wie vor gibt
es in einigen Regionen noch zu wenig Krippen- und
Tagespflegeplätze.
Fatal ist, dass viel Geld für das unsinnige Betreuungsgeld verschleudert wird, das wir dringend für den
Kitaausbau brauchen. Das Betreuungsgeld steht einer
eigenständigen Existenzsicherung Alleinerziehender
entgegen. Es ist bildungs-, gleichstellungs- und integrationspolitisch falsch. Denn es hält die Kinder von
einer frühen Förderung und die Frauen vom Arbeitsmarkt fern.
Ein wichtiges Thema für Alleinerziehende ist auch
der Unterhaltsvorschuss. Auch hier hat die Bundesregierung nichts bewegt. Mit ihrem Unterhaltsvorschussentbürokratisierungsgesetz hat sie den Unterhaltsvorschuss in keiner Weise weiterentwickelt bzw.
ausgebaut. Für die Kinder von Alleinerziehenden hat
sich hier nichts verbessert. Nicht einmal die Ungleichbehandlung durch den vollständigen Abzug des Kindergelds beim Unterhaltsvorschuss hat sie beseitigt.
Auch für die Alleinerziehenden bedeutet die Regierung
Merkel einfach nur verlorene Zeit.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen:
Alleinerziehende leisten viel in unserer Gesellschaft.
Mit Kindererziehung, Erwerbs- und Hausarbeit
gelingt ihnen ein gewaltiger Balanceakt. Für ihre besonderen Bedürfnisse haben wir in der SPD-Bundestagsfraktion ein Konzept entwickelt. Ziel ist, dass Alleinerziehende ihr Leben so weit wie möglich nach
eigenen Wünschen gestalten und selbst für ihre Existenzsicherung sorgen können. Mit passenden und aufeinander abgestimmten Bausteinen wollen wir Alleinerziehenden helfen.
Wir wollen gemeinsam mit Kommunen und Ländern
alles dafür tun, dass der Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung und Förderung für unter Dreijährige ab
August 2013 von den Eltern eingelöst werden kann.
Mittelfristig streben wir einen Rechtsanspruch auf
Ganztagsbetreuung an. Den Kitaausbau will die SPDBundestagsfraktion durch den konsequenten und flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen flankieren.
Junge Alleinerziehende ohne abgeschlossene Berufsausbildung brauchen besondere Unterstützung.
Wir wollen deshalb einen Rechtsanspruch auf das
Nachholen eines Schulabschlusses und auf Teilzeitausbildung für junge Eltern einführen.
Alleinerziehende brauchen gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne. Und eine geschlechtergerechte
Arbeitsmarktpolitik kommt ihnen besonders zugute.
Das gilt für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und die Durchsetzung des gleichen Lohns für
gleiche und gleichwertige Arbeit für Frauen und Männer. Dazu hat die SPD-Bundestagsfraktion bereits entsprechende Gesetzentwürfe in den Bundestag eingebracht.
Wir wollen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihren Teilzeitanspruch befristet geltend machen können und ein Rückkehrrecht auf einen Vollzeitarbeitsplatz bekommen.
Was wir also brauchen, ist eine familiengerechtere
Arbeitswelt. Dazu gehören entsprechende Arbeitszeitmodelle wie die „Große Teilzeit“ für Eltern - 30 Stunden pro Woche -, damit Existenzsicherung und genügend Zeit für die Kinder unter einen Hut passen.
Schließlich will die SPD-Bundestagsfraktion mit
dem von ihr entwickelten neuen Kindergeld die Familienförderung vom Kopf auf die Füße stellen: Wir räumen mit der absurden Ungerechtigkeit auf, nach der
die Wohlhabenden mehr Geld für ihre Kinder bekommen als Eltern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. Dazu werden wir ein nach dem Einkommen
gestaffeltes Kindergeld einführen, in das der Kinderzuschlag integriert wird. Damit werden wir der Besserstellung von Familien mit hohem Einkommen über die
Freibeträge ein Ende setzen. Von einer solchen Kindergeldreform profitieren besonders Alleinerziehende,
die häufig sehr niedrige Einkommen haben.
Kanzlerin Merkel, Bundesministerin Schröder und
die schwarz-gelbe Koalition haben keinerlei Gestaltungswillen erkennen lassen, um die Situation von Alleinerziehenden zu verbessern. Klar ist deshalb: Es
muss einen Richtungswechsel in der Familien- und
Gleichstellungspolitik geben, und den gibt es nur mit
einem Regierungswechsel.
Laut Mikrozensus 2009 war mit 19 Prozent Anteil
- 1,6 Millionen Personen - an allen Familienformen
fast jede vierte Familie eine Alleinerziehendenfamilie.
Unter den Alleinerziehenden stellen die Mütter mit
87 Prozent die übergroße Mehrheit.
Unter alleinerziehenden Frauen haben viele unregelmäßige Arbeitszeiten oder kommen erst spät nach
Hause, um ihre Kinder aus der Kita abzuholen. Flexibilität der Betreuungsangebote ist allerdings oft nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
gegeben. Unternehmen verlangen zeitliche und räumliche Mobilität. Ohne flexible Kinderbetreuungsangebote haben es Alleinerziehende besonders schwer, auf
dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Der Schlüssel gegen
Kinderarmut ist deshalb der flächen- und bedarfsdeckende Ausbau der Kinderbetreuung. Die Öffnungszeiten von Kitas und Horten korrespondieren nicht mit
den Arbeitszeiten von Alleinerziehenden und verhindern somit oftmals die Aufnahme einer Vollzeiterwerbstätigkeit, was sich wiederum im Lebensverlauf
nachteilig auf die Rentenanwartschaften der Alleinerziehenden auswirkt.
Die Organisation von Arbeit und Karriere geht in
vielen Branchen von einer „Anwesenheitskultur“ aus,
in der Teilzeitmodelle und Arbeit von zu Hause aus
karrierebehindernd wirken. Teilzeitarbeitsplätze sind
oft schlechter bezahlt und bieten kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Dabei wollen Alleinerziehende überwiegend Vollzeit arbeiten und ebenso Karriere machen
wie Eltern in Paarfamilien. Die Doppelbelastung
durch Arbeit und Alleinerziehung erfordert ein ausgeprägtes Zeitmanagement, höhere Flexibilität und Belastbarkeit von Alleinerziehenden.
Traditionelle Rollenmuster und Berufsselbstverständnisse erschweren Alleinerziehenden auch den
Wiedereinstieg ins Erwerbsleben. Junge Alleinerziehende wählen oft auch deshalb einen „frauentypischen“ Beruf, weil sie annehmen, dass sich Arbeit und
Familie in der Ausbildung selbst und auch im späteren
Arbeitsleben besser vereinbaren lassen. Dies hat langfristig negative Folgen für ihre materielle Alterssicherung. Eine an der traditionellen Ehepartnerfamilie
ausgerichtete Familienpolitik berücksichtigt die Lebenswirklichkeit der Ein-Eltern-Familien nur unzureichend. Ihre Lebensform kommt beispielsweise in den
Steuergesetzen gar nicht vor. Sie werden besteuert wie
Singles: in Steuerklasse I, die die höchste Einkommensteuer ausweist, vergleichbar gleichgeschlechtlichen
Paaren. Solche Fehlanreize für Alleinerziehende sollten zukünftig vermieden werden.
Außerdem bin ich für die Abschaffung der Lohnsteuerklasse V, da diese dazu führt, dass der Wiedereinstieg
in die Erwerbstätigkeit nach einer Familienphase als
unattraktiv empfunden wird. Das heutige Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes zur steuerlichen Gleichstellung für alle eingetragenen Lebenspartnerschaften
ist ein richtiger Schritt, an dem sich auch eine steuerliche Entlastung für Alleinerziehende orientieren
sollte.
Dazu kommt, dass ein nicht geringer Anteil Alleinerziehender dadurch belastet wird, dass unterhaltsverpflichtete Elternteile den Kindesunterhalt nicht zahlen.
Die Unterhaltsschuldner sind ganz überwiegend Väter,
sodass alleinerziehende Mütter neben der Belastung
durch Arbeit und Erziehung auch bürokratischen Aufwand durch Beantragung von Unterhaltsvorschuss
und psychisch belastende Situationen im Unterhaltsstreit mit dem Kindsvater zu bewältigen haben. Ich
wiederhole das gern: Das Nichtzahlen des Kindesunterhalts ist kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat.
Der Arbeitsmarkt braucht die Qualifikation von Alleinerziehenden. Flexible Arbeitszeitmodelle wie Telearbeit, Teilzeitmodelle, Arbeitszeitkonten etc. müssen
besser gefördert werden.
Der FDP ist es ein wichtiges Anliegen, Alleinerziehende beim Einstieg und Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen und zu fördern. Darum
plädieren wir auch für eine familienfreundliche Arbeitswelt und familienfreundliche Arbeitszeiten. Zum
Beispiel prüfen wir gerade eine spezielle Regelung für
Alleinerziehende, wenn es um ein Recht zur Rückkehr
in Vollzeitarbeit oder von Teilzeit- in Vollzeitarbeit
geht.
In Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen ist
darauf hinzuwirken, dass Öffnungszeiten von Kindertagesstätten und Horten sowie die Ganztagsbetreuung
in Schulen auf die Bedürfnisse einer flexiblen Arbeitswelt ausgerichtet werden und insbesondere Alleinerziehenden die Sicherheit gegeben wird, dass ihre
Kinder verlässlich betreut werden. Ich vertrete die
Auffassung, dass eine gut ausgebaute, bedarfsgerechte
und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung mit dem
entsprechenden Rechtsanspruch ab August 2013 Alleinerziehende und ihre Kinder besonders unterstützt.
Es bleibt nach wie vor festzustellen, dass die frühere
Ankündigung der letzten Bundesregierung aus CDU/
CSU und SPD, ein breites und niedrigschwelliges Angebot zur Unterstützung Alleinerziehender zu entwickeln, zu keinen konkreten Ergebnissen geführt hat,
weder während der Zeit der Großen Koalition noch in
der aktuellen Legislaturperiode. Deshalb listet der Antrag meiner Fraktion Die Linke die Aspekte auf, die
man zur Unterstützung Alleinerziehender für notwendig hält und die erforderlich sind. Hier sind beispielsweise eine Flexibilisierung der Arbeitszeit mit einem
individuellen Recht auf Teilzeit sowie ein Recht auf
Rückkehr in die Vollzeit, ein Kündigungsschutz für Alleinerziehende bis zur Vollendung des siebten Lebensjahres des Kindes, ein Rechtsanspruch auf Teilzeitausbildung und die Unterstützung der Alleinerziehenden
bei der Rückkehr in das Berufsleben nach einer familienbedingten Auszeit zu nennen. Von diesen Forderungen, deren Umsetzung den Alleinerziehenden eine
echte Hilfestellung bieten würde, ist bisher nichts auf
den Weg gebracht worden.
Des Weiteren ist eine bessere finanzielle Ausstattung von Ländern und Kommunen notwendig, unter
anderem auch für den Ausbau der gebührenfreien bedarfs- und altersgerechten Kinderganztagsbetreuung
sowie für ein flächen- und bedarfsgerechtes ganztägiges Schulangebot inklusive Ferienbetreuung. Es reicht
nicht aus, einfach noch Geld draufzupacken und zu sagen: Jetzt macht mal schneller! Dass die Zeit nicht
reicht und das Angebot nicht langt, war schon Frau
von der Leyen bewusst. Mit der notwendigen AnpasZu Protokoll gegebene Reden
sung der Ausbildung und Qualifikation von Erzieherinnen und Erziehern sowie Sozialpädagoginnen und -pädagogen ist ebenfalls noch nicht begonnen worden.
Bei den Mutter-/Vater-Kind-Kuren ist seit der Zeit der
Großen Koalition keine Verbesserung erzielt worden.
Auch hat es keine Überlegungen gegeben, wie im
Bereich des Unterhaltsvorschusses die Rückholquote
erhöht werden könne; die schon lange Zeit im Raum
stehende Forderung nach einem Ausbau des Unterhaltsvorschusses ist nicht erfüllt worden, obwohl im
Koalitionsvertrag eine Verlängerung bis zum 14. Lebensjahr vereinbart worden ist. Eine Verlängerung bis
zur Vollendung des 18. Lebensjahres wäre die richtige
Lösung gewesen. Die hätte allerdings auch umgesetzt
werden müssen.
Hinsichtlich der Aufhebung der einschränkenden
Bedingungen für den Entlastungsbeitrag bei Alleinerziehenden im Steuerrecht und der Rücknahme der
Kürzung des Elterngeldes ist ebenfalls nichts passiert.
Mit der Forderung nach einem individuellen Anspruch
auf je zwölf Monate Elterngeld für beide Elternteile
haben wir eine flexible Ausgestaltung im Blick. Niemand soll gezwungen werden, die Elternzeit am Stück
zu nehmen, sondern sie soll dann genommen werden
können, wenn die Eltern oder die Alleinerziehenden es
für richtig hielten.
Meiner Meinung nach muss die Elternzeit nicht direkt im Anschluss an die Geburt genommen werden,
sondern kann blockweise zum Beispiel auch zur Zeit
der Einschulung genommen werden.
Entgegen den Ausführungen der SPD-Fraktion wird
damit niemand vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Erforderlich sind weiterhin die Weiterentwicklung des
Kindergelds und des Kinderzuschlags zu einer Kindergrundsicherung sowie die verfassungskonforme Berechnung der Hartz-IV-Sätze.
Mit Ausnahme des bescheidenen, weil lediglich
finanziellen Engagements beim Ausbau der Kindertagesbetreuung hat die Bundesregierung zu den genannten Aspekten keinerlei Maßnahmen ergriffen.
Und auf eines sei hingewiesen: Der Antrag der
Fraktion Die Linke soll nicht dahin gehend missverstanden werden, dass man eine sofortige Umsetzung
aller genannten Aspekte erwarte, sondern es handelt
sich um Zielbestimmungen, bei denen wir die Bundesregierung zur Einleitung gesetzgeberischer Initiativen
auffordern. Aber anscheinend soll nach dem Willen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion die
Bundesregierung ja nicht einmal zu Initiativen aufgefordert werden. Oder liegt es vielleicht daran, dass die
anderen Fraktionen unsere Anträge nicht lesen, sondern ausschließlich aus dem Grunde ablehnen, weil
„Linke“ darüber steht? Anders kann ich es mir nicht
erklären.
Wir hingegen machen inhaltliche Politik und begrüßen den Antrag der SPD-Fraktion. Ein Manko ist und
bleibt allerdings, dass nicht darauf eingegangen wird,
dass das Elterngeld auf Transferleistungen angerechnet wird. Die alleinerziehenden Mütter und Väter müssen entsprechend abgesichert werden. Soweit die SPDFraktion verlangt, die Forderungen auf Bundestagsdrucksache 17/11038 - „Neue Strategien für eine bessere Förderung von Alleinerziehenden in der Grundsicherung“ - umzusetzen, stimmt die Linke dem voll
zu.
Dagegen lehnt meine Fraktion die Forderungen im
Antrag „Chancen eröffnen und Fachkräfte sichern“,
Bundestagsdrucksache 17/9725, ab. Da wir aber insgesamt das Anliegen der besseren Unterstützung der
alleinerziehenden Mütter und Väter für richtig halten
und Sachpolitik machen, werden wir dem Antrag der
SPD-Fraktion im Ergebnis unserer Überlegungen zustimmen.
Viel Luft, nichts dahinter: So lässt sich die Politik
der Bundesregierung mit Blick auf Alleinerziehende
charakterisieren. Sie lässt die Alleinerziehenden weiterhin im Regen stehen.
Vier Jahre hatte die Koalition Zeit, und passiert ist
nichts mit Blick auf spürbare Verbesserungen für diese
Familienform. Nicht einmal die richtigen Ankündigungen aus dem eigenen Koalitionsvertrag wurden von
der Bundesregierung umgesetzt - mit Hinweis auf die
leeren Kassen! Für das Betreuungsgeld sind Milliarden da, für Maßnahmen, die Alleinerziehenden zugutekommen, bleiben bestenfalls warme Worte.
Beispiel Unterhaltsvorschuss: Angekündigt wurde,
den Unterhaltsvorschuss auszuweiten und bis zum
14. Lebensjahr eines Kindes zu gewähren - eine wichtige und sinnvolle Maßnahme. Es gab sogar schon einen Gesetzentwurf. Die Umsetzung hat dann aber
nicht stattgefunden - Finanzierungsvorbehalt.
Beispiel Abzug von der Steuerschuld: Selbstverständlich wäre es im Interesse der Alleinerziehenden,
den bisherigen steuerlichen Entlastungsbetrag in einen Abzug von der Steuerschuld umzugestalten. Passiert ist auch hier nichts.
Dafür hat die Regierung an Stellen gespart, die Alleinerziehende ganz besonders treffen, beispielsweise
durch die Anrechnung des Sockelbetrags beim Elterngeld auf die Leistungen nach dem SGB II.
Vier Jahre gab es kein Geld, und plötzlich will
Kanzlerin Merkel 29 Milliarden Euro für bezahlbares
Wohnen, Unterstützung für Familien und die Erhöhung des Kindergeldes ausgeben - selbstverständlich
erst nach der Bundestagswahl im September. Das ist
kein Wahlversprechen, das ist angekündigter Wahlbetrug! Denn eine Gegenfinanzierung für die 29 Milliarden Euro Kosten gibt es nicht.
Dabei wäre mit einer Umsteuerung bei den Familienleistungen und beim Ehegattensplitting viel zu erreichen - für alle Familien, insbesondere aber auch für
Alleinerziehende. Denn es sind die Alleinerziehenden,
die - das liegt in der Natur der Sache - nicht vom Ehegattensplitting profitieren. Es muss uns darum gehen,
Zu Protokoll gegebene Reden
Kinder zu fördern, nicht den Trauschein. Die familienbezogenen Leistungen müssen so verändert werden,
dass alle Familien tatsächlich profitieren und Menschen jeden Geschlechts frei wählen können, in welchen Konstellationen sie leben wollen.
Deshalb ist es folgerichtig und notwendig, das Ehegattensplitting schrittweise abzubauen und die Mehreinnahmen in den Ausbau der Kindertagesbetreuung
und den Aufbau einer Kindergrundsicherung zu investieren. Die Kindergrundsicherung wird aus dem
Familienleistungsausgleich finanziert; sie ist keine zusätzliche Transferleistung. Ziel ist eine Kindergrundsicherung, die der Höhe nach so bemessen ist, dass die
Kinderfreibeträge verfassungskonform abgeschafft
werden können. Sie wäre insbesondere die richtige
Antwort mit Blick auf eine Verbesserung der materiellen Situation von Alleinerziehenden und ihren
Kindern. Hierauf hat die Vorsitzende des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter in der Anhörung zur
Weiterentwicklung des Unterhaltsvorschusses ausdrücklich hingewiesen. Es wird Zeit, dass wir diese
dringliche Aufgabe endlich in Angriff nehmen.
Zunächst Tagesordnungspunkt 22 a. Wir kommen zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 17/13178. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/11032 mit dem Titel „Alleinerziehende besser unterstützen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Linken
sowie bei Enthaltung der Grünen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8793 mit dem Titel „Alleinerziehung von Kindern
würdigen - Alleinerziehende gebührend unterstützen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Tagesordnungspunkt 22 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Neue Strategien für
eine bessere Förderung von Alleinerziehenden in der
Grundsicherung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12905, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11038 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von SPD und Linken
und Enthaltung der Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wettbewerb und Innovationsdynamik im Soft-
warebereich sichern - Patentierung von Com-
puterprogrammen effektiv begrenzen
- Drucksachen 17/13086, 17/13764 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Ingo Egloff
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Die Reden gehen zu Protokoll. Auch hierzu liegen
einige Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung
vor. Diese nehmen wir zu Protokoll.1)
Es geht in dem Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP
und Bündnis 90/Die Grünen darum, den Wettbewerb
und die Innovationsdynamik im Softwarebereich zu si-
chern. Es geht um leistungsfähige und sichere Infor-
mationssysteme. Diese sind längst zur Grundlage der
Entwicklung unserer Gesellschaft in eine Wissens- und
Informationsgesellschaft geworden.
„Das wird nichts“, meinte der große Computerpio-
nier Bill Gates noch 1995. Inzwischen aber ist eine
wahre digitale Revolution über die Welt gekommen.
Die UN zählen rund 2,5 Milliarden Menschen, die im
Netz unterwegs sind. Mehr als jeder dritte Weltbürger.
Diese digitale Revolution geht über staatliche Grenzen
hinweg. Eine ungeheure Informationsflut kommt täg-
lich auf uns zu. Hauptursächlich für diese Entwicklung
ist nicht nur der PC, der in fast jedem Haushalt steht,
sondern vor allem die Software, mit der die Computer
in Funktion gesetzt werden.
Die jeweilige Software wird durch die Nutzer und
vor allem auch durch die kleinen und mittleren Unter-
nehmen ständig weiterentwickelt. Die Patentierung
von Software verhindert aufgrund ihres Monopolcha-
rakters diese Innovationsdynamik, weil sie den Wettbe-
werb ausschaltet. Die Patentierung trifft insbesondere
die kleinen und mittleren Betriebe, die bereits vorhan-
dene Computerprogramme verbessern, auf besondere
Zwecke ausrichten und weiterentwickeln.
Dadurch, dass durch die Patentierung und damit
Monopolisierung der Wettbewerb ausgeschaltet würde,
würde die Entwicklung von leistungsfähigen und si-
cheren Informationssystemen im Internet behindert
werden. Der jetzt schon deutlich sichtbare Erfolg des
Internets ist gerade auf die ständig verbesserte Soft-
ware zurückzuführen. So entstanden innerhalb von we-
nigen Jahren neue Anwendungsgebiete, von denen wir
zuvor nur haben träumen können.
1) Anlage 5
Diese Entwicklung wird gekappt, wenn durch die
Patentierung der Software ein Monopolrecht entsteht.
Ohne Monopolrechte aber können alle ihre Verbesserungsvorschläge und ihre Ideen einbringen, und alle
können davon profitieren. Insgesamt wird durch die
ständig neue vielfache Verbesserung der einzelnen
Programme vor allem durch die Nutzer selbst eine ungeheure Innovationskraft entfacht, die gerade in einem
rohstoffarmen Land wie dem unseren, das nichts anderes einsetzen kann als sein Können, von allergrößter
Bedeutung ist.
Bislang werden Computerprogramme bei uns in
Deutschland und in Europa grundsätzlich nicht patentiert. Ein Computerprogramm besteht aus einer Folge
von Algorithmen. Algorithmen gehören der Mathematik an. Mathematische Lehren aber sind zu keiner Zeit
patentierfähig gewesen. Allerdings können sie urheberrechtlich geschützt werden. Das Urheberrecht gewährt im Gegensatz zum Patentrecht dem Urheber
kein einen Dritten ausschließendes Recht. Es gibt natürlich schon heute die Patentierung der Software.
Dies ist jedoch nur möglich, wenn sie in ein technisches oder durch die Natur vorgegebenes Phänomen
konkret eingebunden ist. So hat es der BGH in verschiedenen Urteilen dargelegt. In den USA hat sich jedoch eine andere Rechtsprechung entwickelt. Dort besteht die Tendenz, die Grenzen der technischen
Einbindung sehr weit zu fassen. Es ist nicht sicher, ob
der BGH nicht eines Tages dieser Tendenz folgen wird.
„Es bleiben allerdings Zweifel an der Kontinuität der
Rechtsprechung des BGH“, so Professor Ensthaler in
der öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses vom
13. Mai 2013.
Jedenfalls hat der BGH zwar nicht entschieden,
aber angedeutet, dass auch nichttechnische Programme dem Patentrecht unterfallen könnten. Darunter könnte, wie in der Anhörung ausgeführt wurde, ein
von der Software her technisch gut aufgebautes Buchhaltungsprogramm fallen. Im Grundsatz aber hat der
BGH bei seinen bisherigen Entscheidungen daran festgehalten, dass ein patentrechtlicher Schutz nur für die
Lösung eines technischen Problems möglich ist. Für
außerhalb der Technik liegende Lösungen gibt es bis
jetzt kein Monopolrecht.
Die Beschwerdekammern des europäischen Patentamtes unterscheiden sich in ihrer Spruchpraxis bisher
nicht von der Rechtsprechung des BGH. Allerdings
stellen die Beschwerdekammern in den Vordergrund,
dass jedes Computerprogramm einen technischen Bezug hat. Dies deutet auf „eine Ausweitung des Begriffs
Technik“ und insoweit auf eine Ausweitung der Patentierbarkeit von Software hin.
Einer solchen Entwicklung der Rechtsprechung will
der vorliegende Antrag der vier Fraktionen vorbeugen. Deshalb wird richtigerweise gefordert, dass die
wirtschaftliche Nutzung von Software zwar urheberrechtlich geschützt bleibt, das Recht auf Patentierung
aber ausgeschlossen ist.
Der Antrag wehrt sich eindeutig gegen die Ausweitung des patentrechtlichen Schutzes der Software, fordert aber zugleich die Durchsetzung des urheberrechtlichen Schutzes. Allerdings wurde in der Anhörung
auch deutlich, dass auch beim Urheberrecht Schwierigkeiten auftreten können. Der urheberrechtliche
Schutz ist zuallererst ein Schutz für Kunstwerke. Der
Schutz gilt deshalb auch noch 70 Jahre nach dem Tod
des Schöpfers. Eine solch lange Dauer des Schutzes ist
für die Erstellung einer Software nicht angebracht. Zu
begrüßen ist, dass sich in der Rechtsprechung herausgebildet hat, dass das Urheberrecht nicht den Inhalt
einer wissenschaftlichen Leistung schützt. Das Urheberrecht schützt also nicht die in einem Lehrbuch vorgestellte wissenschaftliche Lehre, sondern das Urheberrecht schützt bei Computerprogrammen „die
eigentümliche, die originelle Verwendung der in dem
Programm enthaltenen Algorithmen“ ({0}).
Mit dieser Einschränkung wird der Nutzer in seiner
freien Nutzung der Software durch das Urheberrecht
nicht behindert, die Wettbewerbsfähigkeit wird nicht
eingeschränkt. Durch die Patentierung hingegen würden Monopole entstehen, die in unserer freien marktwirtschaftlichen Ordnung nichts zu suchen haben.
Deshalb gilt der Auftrag an die Bundesregierung,
eine Gesetzgebung zu entwickeln, die das Urheberrecht an Software sichert, aber gleichzeitig die Patentierbarkeit von Software so einschränkt, dass die Wettbewerbsfähigkeit und damit Innovationsdynamik nicht
behindert wird.
Wir werden heute den gemeinsamen interfraktionellen Antrag der beiden Koalitionsfraktionen und der
SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen zur Sicherung
von Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich verabschieden.
Nicht zuletzt die Sachverständigenanhörung hat gezeigt, dass unsere gemeinsame Initiative, die Patentierung von Computerprogrammen zu begrenzen - und
das betone ich: Es geht darum, Patentierungen zu
begrenzen, und nicht darum, sie generell auszuschließen -, ein gutes Signal insbesondere für die mittelständische IT-Wirtschaft darstellt. Denn es sind vor allem
Unternehmen aus dem Mittelstand, die maßgeblich an
der Erstellung und Fortentwicklung von Informationssystemen beteiligt sind.
Leistungsfähige und innovative Informationssysteme sichern einen funktionierenden Zugang zu sowie
Austausch von Wissen und Information.
Erstes Ziel: Rechtssicherheit schaffen. In diesem
Bereich besteht heute eine Vielzahl softwarebezogener
Patente, wodurch Softwareentwickler oftmals ihre urheberrechtlichen Verwertungsrechte faktisch zu verlieren drohen. Sie sehen sich darüber hinaus unkalkulierbaren Kosten- und Haftungsrisiken ausgesetzt.
Es hat sich durch die Konfliktsituation zwischen patent- und urheberrechtlichen Ansprüchen - nicht erst
Zu Protokoll gegebene Reden
seit kurzem - eine erhebliche Rechtsunsicherheit entwickelt. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen im Softwarebereich sind durch das hohe
Kostenrisiko bei Patentstreitigkeiten von dieser derzeit
bestehenden Rechtsunsicherheit betroffen. Sie steht einer rechtssicheren Verwertung von Computerprogrammen durch ihre eigenen Entwickler auf der Grundlage
des geltenden Urheberrechts entgegen.
Damit sei ein weiteres Ziel des vorliegenden Antrages genannt: Wir wollen der bestehenden Rechtsunsicherheit entgegenwirken und mit unserem fraktionsübergreifenden Antrag rechtssichere Bedingungen für
die IT-Wirtschaft schaffen. Das stärkt vor allem kleine
und mittelständische Softwareunternehmen. Aber auch
größere IT-Unternehmen haben keine Einschränkung
des bestehenden Patentschutzes zu befürchten. Es wird
nach geltendem Recht auch weiterhin möglich sein,
Erfindungen im Softwarebereich zu patentieren.
Zweites Ziel: Urheberrecht stärken. Ein weiteres
wichtiges Ziel des Antrages ist es, das Urheberrecht im
Softwarebereich gegenüber dem Patentrecht zu stärken. Grundsätzlich ist das Urheberrecht für die Rechte
an geistigen Werken, wie etwa einem Computerprogramm, zuständig, das Patentrecht wiederum für die
Rechte an konkreten technischen Erfindungen. Damit
stellt das Urheberrecht die unbestreitbare Grundlage
für Kreativität und Schaffenskraft auch in der Softwarebranche dar. Zugleich gibt es eine klare Struktur
und Kontur für die wirtschaftlichen Bedingungen vor,
unter denen Softwareentwickler in unserem Land tätig
sind.
Das Urheberrecht ist leistungsgerecht und gilt automatisch mit der Entstehung eines Werkes. Es sichert
den Softwareentwicklern den wirtschaftlichen Nutzen
an ihren erbrachten Leistungen. Zudem verbietet es
per se das Kopieren und die Verwendung eines lauffähigen Computerprogrammes.
Dadurch dass Urheberrechte auch an unterschiedlichen Implementierungen des gleichen Lösungsansatzes problemlos nebeneinander bestehen können, sorgt
das Urheberrecht hier allein für zwei zentrale Bedingungen: Es schafft einen gleichberechtigten Marktzugang und einen regen Wettbewerb auf dem IT-Markt.
Durch das Urheberrecht sind Softwareprogramme
also grundsätzlich wirksam und effizient geschützt.
Drittes Ziel: europäischen Ansatz umsetzen. Ein zusätzlicher Schutz durch Patentierungen ist somit meistenfalls eigentlich nicht notwendig. Dies entspricht
auch dem europäischen Ansatz, der bereits in der Softwarerichtlinie 1991 mit dem „copyright approach“
festgeschrieben wurde. Auch das TRIPS-Abkommen
sieht in Art. 10 den Schutz von Computerprogrammen
durch das Urheberrecht vor. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir also nicht zuletzt eine Umsetzung des
seit nunmehr über 20 Jahren verfolgten klaren urheberrechtlichen Ansatzes seitens der europäischen
Ebene erreichen. Der derzeit bestehenden Rechtsunsicherheit setzen wir mit diesem interfraktionellen Antrag eine deutliche Position zugunsten des Urheberrechts entgegen.
Mit dem vorliegenden Antrag erreichen wir neben
den drei genannten Zielen - Schaffung von Rechtssicherheit, Stärkung des Urheberrechts sowie Umsetzung des europäischen Ansatzes - klare Bedingungen
für alle Softwareentwickler, die in unserem Land innovative Informationssysteme und Computerprogramme
schaffen. Es ist deshalb ein gutes Signal, das wir den
Entwicklern von Software und Informationssystemen
heute mit diesem fraktionsübergreifenden Antrag geben. Wir geben ihnen Rechtssicherheit und Klarheit,
damit ihre Leistungen auch in Zukunft geschützt sind.
Wir freuen uns sehr, dass es gelungen ist, diese interfraktionelle Initiative noch vor dem Ende der Legislaturperiode zu einem gemeinsamen Abschluss zu
bringen, mit dem wir als Deutscher Bundestag ein Zeichen auch für die künftige Debatte in Europa setzen.
Vor dem Hintergrund der öffentlichen Anhörung im
Rechtsausschuss am 13. Mai dieses Jahres, bei der
zehn von elf Sachverständigen deutliche Worte des Lobes für unsere Initiative gefunden haben, kann man
sagen, dass wir mit der Begrenzung von Softwarepatenten auf dem richtigen Weg sind und dabei von Wissenschaftlern, Juristen und Praktikern gleichermaßen
Ermunterung zu unserem weiteren Vorgehen mitnehmen können.
Unser Bekenntnis zu einer effektiven Begrenzung
der Patentierung von Software verpflichtet die Bundesregierung, auf europäischer Ebene mit Nachdruck
für den von uns geforderten Vorrang des Urheberrechts vor anderen Schutzrechten einzutreten. Das
schließt den Auftrag ein, sich für eine Evaluierung der
Patenterteilungspraxis der letzten Jahre stark zu machen, sei es beim Europäischen Patentamt oder in anderen nationalen Patentämtern. Patente, die dort auf
einer falschen Grundlage erteilt wurden - in großer
Zahl, wie wir alle wissen - dürfen in Europa nicht
mehr den urheberrechtlichen Schutz torpedieren, der
Softwareentwicklern die wirtschaftliche Nutzung ihrer
Werke ermöglicht. Wenn dazu gesetzgeberische Präzisierungen auch innerhalb des deutschen Urheber- und
Patentrechts nötig sind, um Missbrauch zu verhindern,
müssen wir sie schnellstmöglich angehen. Auch in der
Expertenanhörung ist uns noch einmal nahegelegt
worden, eine Schutzklausel für die uneingeschränkte
Verwertung von Computerprogrammen durch ihre Autoren vorzusehen, die von bereits erteilten softwarebezogenen Patenten bedroht sind. Die Erteilung solcher
Patente, wie sie zu Zehntausenden erfolgt ist, war der
eigentliche Rechtsverstoß, nicht die vorgebliche Verletzung durch die Wahrnehmung des - urheberrechtlich abgesicherten - wirtschaftlichen Nutzens aus dem
konkreten Werk durch dessen Entwickler. Solche Trivialpatente und ähnlich ärgerliche Hemmnisse für
Innovation in der Softwareentwicklung dürfen keinen
Vertrauensschutz genießen. Im Gegenteil: Bei bereits
Zu Protokoll gegebene Reden
erteilten Patenten, die nach der von uns vorgelegten
Technikdefinition als nicht patentfähig gelten, muss jederzeit damit gerechnet werden, dass sie in einem
Nichtigkeitsverfahren aus dem Verkehr gezogen werden, damit sie keinen wirtschaftlichen Schaden anrichten können.
Es freut mich außerordentlich, dass wir heute im
Plenum den von mir und Günter Krings erarbeiteten
Antrag verabschieden, und vor allem, dass der Antrag
quer durch das ganze politische Spektrum unterstützt
wird. Das ist ein sehr wichtiges Zeichen.
Ich setze mich schon seit über zehn Jahren für
dieses Thema ein, und deswegen war es auch mein
persönliches Anliegen als Abgeordneter, das Thema
voranzubringen. Mit diesem Antrag gehen wir für die
mittelständische Wirtschaft endlich einen wichtigen
Schritt nach vorn.
Und das mit starkem Rückenwind. Am 13. Mai 2013
fand eine Anhörung im Rechtsausschuss statt. Eine
große Bandbreite an Rechtsanwälten, Informatikern,
Professoren und Unternehmern war eingeladen, sich
ausführlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Die
Anhörung hat vor allem deutlich gemacht, dass wir für
unseren Antrag enorme Unterstützung aus Wissenschaft und Wirtschaft haben. Eine überwältigende
Mehrheit der Experten hat sich für den Antrag - den
Schutz des Urheberrechts bei softwarebasierten
Lösungen - und gegen die Patentierung von Softwarelösungen ausgesprochen.
In der Anhörung wurde die mittelständische ITWirtschaft durch Sachverständige vom Bundesverband
IT-Mittelstand e. V., der über 800 mittelständische ITUnternehmen vertritt, und vom Bundesverband Informations- und Kommunikationstechnologie sowie
durch einen Rechtsanwalt, der mittelständische Softwareunternehmer berät, vertreten. Sie alle haben unsere Bedenken gegenüber der Patentierung von softwarebasierten Lösungen geteilt. Zum Beispiel sagte
der Präsident des Bundesverbandes IT-Mittelstand, Dr.
Oliver Grün: „Die Patenterteilung für Softwareprogramme ist unnötig, kostenintensiv, innovationshemmend und schadet der mittelständischen IT-Wirtschaft.
Wir fordern daher die Unterbindung der Erteilung softwarebezogener Patente in Deutschland und Europa.“
Die immer großzügigere Erteilungspraxis des Europäischen Patentamtes stelle ein großes Problem für
Softwareentwickler dar. Vor allem ist wichtig zu wissen, dass 65 Prozent der Arbeitsplätze in der IT-Branche in kleinen und mittleren Unternehmen mit bis zu
250 Mitarbeitern existieren.
Auch unsere Sorgen, die wir in Bezug auf die Patentierung von softwarebasierten Lösungen haben, wurden
von den anderen Experten bestätigt. Stefan Richter, Informatiker und Ingenieur mit langjähriger Erfahrung
in der wissenschaftlichen- und kommerziellen Softwareentwicklung, konnte die Problematik der Trivialpatente und der daraus folgenden langen und mit hohen Kosten verbundenen Gerichtsverfahren mit
praktischen Beispielen bestätigen. Das patentierbare
Konzept, die Idee, sei einfach zu erstellen, im Gegensatz zum Erstellen des Quellcodes aus dem Konzept,
das dem Schutz des Urheberrechts unterliegt.
Der Bundesverband für Informations- und Kommunikationstechnologie bestätigte, dass Softwarepatente
vor allem großen, ausländischen Unternehmen gehören. Zwei Drittel der Softwarepatente sind nicht europäisch.
Die beiden Rechtsanwälte Till Kreutzer und Till
Jäger bestätigten, dass in der schnellen Softwarebranche Patente innovationshemmend wirken. Till Jäger
vom Institut für Rechtsfragen der Freien und Open
Source Software bezeichnete die Softwarepatente als
„Zerstörungselement“ und betonte, dass die Idee, mit
Patenten Innovation zu fördern, im Softwarebereich
nicht funktioniere, sondern genau den gegenteiligen
Effekt habe.
Rechtsanwalt Rasmus Keller unterstützte die Forderung im Antrag, dass Lösungen, die von einer mechanischen oder elektromechanischen Komponente und
nicht nur von einem Computer ausgeführt werden können, patentierbar sein sollen.
Ich möchte hier nicht auf weitere Details eingehen,
da ich viele Einzelheiten bereits in meiner letzten Rede
erwähnt habe. Zusammenfassend: Im Bereich der Softwareentwicklung hat sich in den letzten Jahrzenten in
Deutschland ein reichhaltiger und gut funktionierender Markt kleiner, mittelständischer und großer Unternehmen herausgebildet. Diese sichern ihre Rechte an
den entwickelten Programmen über das vorhandene
Urheberrecht. Eine zusätzliche marktverzerrende und
innovationshemmende Regelung für Softwarepatente
sehe ich sehr kritisch. Es ist jetzt Aufgabe der Bundesregierung, die Lage zu analysieren und abzuschätzen,
inwiefern und welche Maßnahmen notwendig sind.
Im vorliegenden Antrag ist die grundlegende Problematik von Softwarepatenten treffend beschrieben.
Nehmen wir nur folgenden Ausschnitt: „Die Abstraktheit der Patentansprüche hat zur Folge, dass ein softwarebezogenes Patent alle individuellen Ausführungen der geschützten Problemlösung in konkreten
Computerprogrammen erfasst.“
Das bedeutet in einfachen Worten: Selbst wenn eine
Programmiererin für ein ähnlich gelagertes Problem
eine ähnliche Softwarelösung findet, kann ihr die Verwendung dieser Lösung im eigenen Programm einfach
untersagt werden. Genau dies führt zu den absurden
Patentstreitigkeiten, wie wir sie zuletzt rund um Smartphones erleben durften. Dies birgt massive Rechtsunsicherheiten, die ein Unternehmensrisiko darstellen, auf
die ohne gut aufgestellte juristische Abteilungen eines
großen Konzerns kaum eingegangen werden kann.
Somit sind insbesondere kleinere Softwarefirmen und
Zu Protokoll gegebene Reden
einzelne Entwicklerinnen und Entwickler massiv benachteiligt. Matthias Kirschner von der Free Software
Foundation Europe hat darauf in seiner Stellungnahme für die Anhörung zum vorliegenden Antrag hingewiesen. Er schreibt: „Dadurch, dass ein Produkt
meist Hunderte von Programmen enthält, ist es auch
nach Verbesserung der Suche nach Patenten unmöglich, sicherzustellen, dass keine Patente verletzt werden.“
Weiter ist ein solch umfassender Schutz schlicht
lebensfremd. Software wird ja oft inkrementell weiterentwickelt. Das heißt, bestehende Lösungen werden in
neuen Code eingebunden. Programmiererinnen und
Programmierer befruchten sich so in ihrer Arbeit gegenseitig. Patente auf Software behindern dieses Zusammenspiel von bestehendem und neuem Code insbesondere in der Entwicklung freier Software, aber auch
Innovationen bei proprietären Systemen.
Auf der anderen Seite sind komplexe Softwareprogramme derart aufwendig zu programmieren, dass
heute schon viele Firmen gern auf freie Software zurückgreifen, weil ein Nachbau des Codes viel zu aufwendig wäre. Die spezifische Anpassung der Software
an das eigene Produkt ist dabei oft Arbeit und Alleinstellungsmerkmal genug, um sich vor billigen Copycats zu schützen. Insofern ist auch in abschließender
Lesung noch einmal zu fragen, warum der Antrag nur
eine enge Beschränkung von Softwarepatenten fordert
und nicht ein weitergehendes Verbot formuliert.
Dennoch, die Beschränkung der Patentierungsmöglichkeiten geht in die richtige Richtung. Auch die Betonung des Urheberrechts als Schutzrahmen für die Programmierleistung ist an sich zunächst systematisch
folgerichtig, stellt dieses doch auch den Rahmen für
die Lizenzmodelle dar, die die Verwendung freier Software regeln. Das Urheberrecht bietet ja bereits einen
einheitlichen Rechtsrahmen für freie und proprietäre
Software.
Gleichwohl hätte es dem Antrag gut getan, nicht nur
darauf hinzuweisen, dass Softwareentwicklerinnen
und -entwickler durch die aktuelle Patentierungspraxis „faktisch die urheberrechtlich vorgesehenen
Verwertungsrechte an ihren selbst geschaffenen
Computerprogrammen“ verlieren. Hier müssten sinnvollerweise Vorschläge hinzukommen, wie auch im
Softwarebereich angemessene Vergütungen sowie das
Recht der Urheberinnen und Urheber, selbst über die
weitere Nutzung ihrer Arbeitsergebnisse zu entscheiden, flächendeckend durchgesetzt werden können.
Stichwort: Buy-out.
Nicht zuletzt bleibt ein großes Problem des Urheberrechts hier gänzlich unberührt: Während ein
Patentschutz maximal 20 Jahre nach Erteilung des
Patents erlischt, bleibt der urheberrechtliche Schutz
bekanntermaßen bis 70 Jahre nach dem Tod der Softwareentwicklerinnen und -entwickler bestehen. Natürlich gilt das für Computerprogramme längst und würde
nicht erst durch die Umsetzung des vorliegenden Antrags neu eingeführt. Ob aber eine solche Schutzdauer
dauerhaft kompatibel mit den Innovationsgeschwindigkeiten der digitalen Welt ist, sei dahingestellt.
Erst vor wenigen Wochen diskutierten wir an dieser
Stelle über unsere interfraktionell vorgelegte Initiative
„Wettbewerb und Innovationsdynamik im Softwarebereich sichern - Patentierung von Computerprogrammen effektiv begrenzen“.
Als Grüne haben wir uns, auch und gerade vor dem
Hintergrund so manch anderer Debatte, die wir hier in
diesem Bereich in dieser Legislatur geführt haben,
sehr über die interfraktionelle Initiative und die Erneuerung der gemeinsamen Absichtsbekundung, der
weiter ausufernden Patentierung im Softwarebereich
einen Riegel vorzuschieben, gefreut.
Ich spreche sehr bewusst von „Erneuerung“ der gemeinsamen Absichtserklärung, da, wie wir ja alle wissen, eine entsprechende - ebenso interfraktionelle Aufforderung, sich dieses drängenden Problems anzunehmen, seit etlichen Jahren vorlag, ohne dass es zu
notwenigen Nachjustierungen gekommen ist.
Auch an so mancher, in der nun vorgelegten Initiative zu findenden, Formulierung ist daher abzulesen,
dass die Geduld der Fraktionen, dem munteren Treiben findiger Patenttrolle weiter zuzusehen, zusehends
schwindet und der einhellige Wille besteht, weiter zunehmende Marktzugangsbarrieren vor allem für kleine
und mittlere Unternehmen effektiv einzuschränken.
Die Geduld aller Beteiligten schwindet auch vor
dem Hintergrund, dass es schlicht nicht hinnehmbar
ist, dass Einzelentwickler und vor allem kleine und
mittlere Unternehmen bei der Entwicklung neuer Software durch eine heute in Teilen unklare Rechts- und
eine häufig unüberschaubare Patentlage unbeabsichtigt riskieren, die Patente Dritter zu verletzen. Hierdurch wird Innovationskraft in einem auf Innovationen
angewiesenen Bereich unnötig ausgebremst.
Aufgrund immer schneller werdender Innovationszyklen und einer ganz erheblichen Anzahl gewährter
Softwarepatente sowie einer - teilweise sicherlich
auch bewusst - unklaren Formulierung vieler Patentansprüche ist es vor allem kleinen und mittleren, aber
zunehmend auch großen Unternehmen heute praktisch
unmöglich, die Patentlage zu überblicken.
Die direkte Folge dieser heute vielfach unklaren
Rechts- und unüberschaubaren Patentlage sind die
Verfahren, die zahlreiche Unternehmen derzeit gegeneinander führen und von denen wir beinahe täglich in
den Zeitungen lesen können.
Zugleich sind sie nur die Spitze des Eisbergs. Für
mich und meine Fraktion ist es nicht hinnehmbar, weiter zu beobachten, dass es sich zwar wenige große
Unternehmen leisten können, angesichts der Unwägbarkeit eines langwierigen Rechtsstreits PatentlizenzZu Protokoll gegebene Reden
gebühren oftmals auch dann zu zahlen, wenn ein entsprechender Anspruch durchaus zweifelhaft ist,
während kleine und mittelständische Unternehmen sowie einzelne Entwickler dies nicht können.
Ich hoffe, uns allen - und das sage ich auch in Richtung Regierungsbank - ist mittlerweile bewusst, dass
es hier einen tatsächlichen Handlungsbedarf gibt. Ziel
notwendiger Reformen muss sein, der ursprünglichen
Intention des Gesetzgebers wieder Geltung zu verschaffen und der ausufernden Patentierung im Softwarebereich wieder deutliche Grenzen aufzuzeigen.
Dazu, wie dies umgesetzt werden könnte, machen wir
konkrete Vorschläge in unserem Antrag, auf die ich ja
bereits ausführlich in der ersten Lesung eingegangen
bin, sodass ich es uns allen an dieser Stelle erspare,
noch einmal detailliert darauf zu verweisen.
Das Ziel, der eigentlichen Intention des Gesetzgebers wieder Geltung zu verschaffen, sollten wir - und
das sage ich noch einmal direkt in Richtung Regierungsbank - keinesfalls aus den Augen verlieren. Geschieht dies, werden wir - da bin ich mir sicher - hier
in der nächsten Legislatur erneut stehen und eine ganz
ähnliche Debatte führen.
Als Grüne-Fraktion hatten wir bedauert, dass sich
die schwarz-gelbe Koalition erneut geweigert hat,
diese Initiative mit allen Fraktionen dieses Hohen
Hauses vorzulegen, was wir angeregt hatten. Umso erfreulicher finden wir es, dass auch die Linke das Anliegen unterstützt und so zum Ausdruck bringt, dass der
vorgelegte Antrag in der Tat den Willen aller Fraktionen widerspiegelt.
Dass unser Antrag, in dem wir feststellen, dass innovative, leistungsfähige und sichere Informationssysteme heute eine „unverzichtbare Grundlage der Wissens- und Informationsgesellschaft“ sind, in der hierzu
stattgefundenen Anhörung des Rechts- und des Wirtschaftsausschusses breite Zustimmung der geladenen
Sachverständigen fand und vielfach gelobt wurde, hat
uns sehr gefreut. Ihnen an dieser Stelle für Ihre Expertise noch einmal einen ganz herzlichen Dank.
Gewiss ist der Antrag auch ein Stück weit der guten
Zusammenarbeit im Rahmen der Enquete-Kommission
„Internet und digitale Gesellschaft“ zu verdanken, die
sich in einer eigenen Projektgruppe mit den Fragestellungen, die nun auch Gegenstand der Initiative sind,
sehr intensiv auseinandersetzte.
Ich bin mir sehr sicher, dass der heute in abschließender Beratung auf der Tagesordnung stehende Antrag nicht die letzte Initiative sein wird, die auf den
vielfach wirklich progressiven - vielfach interfraktionell verabschiedeten - Handlungsempfehlungen der
Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ aufbaut, und verspreche Ihnen, dass zumindest
meine Fraktion an verschiedenen Stellen auf die gemeinsam gefassten Beschlüsse zurückgreifen und auch
Sie gegebenenfalls an sie erinnern wird.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13764, den Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13086 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Ilja Seifert, Jan Korte, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Diskriminierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufnehmen
- Drucksachen 17/9563, 17/13765 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Stephan Harbarth
Stephan Thomae
Ingrid Hönlinger
Die Reden gehen zu Protokoll.
Mit der Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist Deutschland seiner Verpflichtung
nachgekommen, vier Richtlinien der Europäischen
Union umzusetzen, die den Schutz vor Diskriminierung
regeln. Daraufhin trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, am 14. August 2006 in Kraft.
Den nun von der Fraktion Die Linke vorgelegten
Antrag, den Diskriminierungsschutz für chronisch erkrankte Menschen ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufzunehmen, lehnen wir ab. Hierfür gibt es im
Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen sahen die umgesetzten Richtlinien einen derartigen Schutz für chronisch kranke Menschen nicht vor. Meine Fraktion hält
es im Übrigen für nicht geboten, über die Vorgaben
von Richtlinien hinausgehend diese umzusetzen.
Zum anderen ist es problematisch, das AGG nur
aufgrund von speziellen gerichtlichen Einzelfallentscheidungen anpassen zu wollen. Hierzu muss man
nach sechs Jahren Geltung des AGG konstatieren,
dass wir in Deutschland bereits ein sehr hohes Schutzniveau vor Diskriminierungen haben.
Der Verweis der Antragsteller auf die Pressemitteilung der Leiterin der Antidiskriminierungsstelle vom
30. November 2011 zeigt ebenfalls, dass dem allenfalls
ein konkreter Einzelfall zugrunde lag.
Grundsätzlich kann man die Frage der Einbeziehung von weiteren Tatbeständen in den GeltungsbeDr. Stephan Harbarth
reich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, so
sie denn eine gewisse gesellschaftliche Relevanzschwelle überschreiten, diskutieren. Allerdings kann
ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Notwendigkeit
hier nicht erkennen.
Dennoch rege ich an, zu evaluieren, ob beim Diskriminierungsschutz für chronisch Erkrankte ein über das
hohe deutsche Schutzniveau hinausgehendes Regelungsbedürfnis besteht, welches ich derzeit allerdings
nicht erkennen kann.
Der heute zur Abstimmung stehende Antrag ist abzulehnen.
Seit 2006 gibt es das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, dessen Ziel es ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen
Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.
Das AGG verbietet Diskriminierungen und schafft
Rechtsansprüche gegen Arbeitgeber und Private,
wenn diese gegen die gesetzlichen Verbote verstoßen.
Es gilt für den Arbeitsmarkt, den Zugang zu Gütern
und Dienstleistungen sowie für einzelne sozialrechtliche Fragen.
Von Kritikern wurde damals vorhergesagt, dass die
Einführung des Gesetzes eine Prozessflut hervorrufen
würde. Diese ist ausgeblieben. Insgesamt haben wir
mit dem AGG vielmehr ein hohes Maß an Diskriminierungsschutz erreicht. Aber es gibt natürlich auch immer wieder einige Schwierigkeiten, insbesondere in
Bezug auf die praktische Umsetzung des Gesetzes.
Eine Problematik greift die Fraktion Die Linke mit
ihrem Antrag, der heute zur Abstimmung steht, auf: die
Ausweitung des Diskriminierungsschutzes auf chronisch erkrankte Menschen. Die chronischen Erkrankungen sind sehr vielfältig. Neben HIV-Infektionen,
Diabetes und Krebs fallen hierunter auch Adipositas,
Hautkrankheiten oder psychische Erkrankungen. Ob
Menschen mit chronischen Krankheiten unter den
Schutz des AGG fallen, hängt zurzeit davon ab, ob ihre
Erkrankung als Behinderung gilt.
Die Gruppe der chronisch kranken Menschen ist
also nicht grundsätzlich vom Schutz des AGG ausgeschlossen. Aber nicht jeder chronisch Kranke ist behindert, und nicht jeder Behinderte ist chronisch
krank. Und nicht jede chronische Erkrankung bedarf
eines besonderen, besseren Schutzes. Die Abgrenzungen und Definitionen in diesem Bereich sind schwierig; die Grenzen verschwimmen und erscheinen teilweise willkürlich. Damit fehlt es dieser Gruppe an
Rechtssicherheit.
Besonders schwierig wird es, wenn eine chronische
Erkrankung eine relativ geringe Funktionsbeeinträchtigung und damit auch einen niedrigen Grad der Behinderung, GdB, hat, diese Erkrankungen in der Gesellschaft aber besonders stark stigmatisiert wird.
Menschen mit einer HIV-Infektion stehen oft vor diesem Problem: Statt Mitleid mit den Betroffenen steht
die Angst vor einer Ansteckung im Vordergrund. Dieses Beispiel zeigt, in was für einem sensiblen Bereich
wir uns mit dieser Thematik befinden.
Die Antidiskriminierungsstelle, ADS, hat eine Expertise „Schutz vor Benachteiligung aufgrund chronischer Krankheit“ in Auftrag gegeben, die im Mai 2013
veröffentlicht wurde. Die Autoren fordern unter anderem die Einführung einer neuen Diskriminierungsdimension, um einen effektiven Schutz vor Diskriminierung aufgrund chronischer Krankheit zu ermöglichen.
Sie stellen unterschiedliche Lösungsansätze sowie deren Vor- und Nachteile vor.
Grundsätzlich unterstützen wir dieses Anliegen. Es
sind rechtlich sehr unterschiedliche Wege denkbar, wie
ein solcher Schutz verankert werden könnte. Neben der
Einführung einer neuen Diskriminierungsdimension
ist auch die Weiterentwicklung des Behindertenbegriffs zu überprüfen. All diese Vorschläge sollten wir
genau prüfen und gegeneinander abwägen.
Hier ist vor allem auch die Praktikabilität und Umsetzungsfähigkeit von großer Bedeutung. Die unterschiedlichen Definitionen und die Vielzahl der chronischen Erkrankungen machen diese Aufgabe sicherlich
nicht einfacher. Wir werden dem Antrag der Linken daher heute nicht zustimmen, sondern uns enthalten.
Ein Anliegen des AGG ist es, in Deutschland eine
Kultur der Antidiskriminierung zu schaffen. Ob es mittels des AGG möglich sein wird, die Stigmatisierung
bestimmter Krankheiten in der Gesellschaft zu durchbrechen, wage ich allerdings zu bezweifeln. Hier sind
viele weitere, vor allem aufklärerische Maßnahmen
gefragt.
Die Linke möchte mit dem vorliegenden Antrag erreichen, dass chronische Erkrankungen als Diskriminierungsmerkmal ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aufgenommen werden. Menschen, die von
entsprechenden Krankheiten betroffen sind, sollen dadurch vor Diskriminierungen geschützt werden.
Die Bekämpfung der Diskriminierung in unserer
Gesellschaft ist ein gesellschaftspolitisches Ziel der
FDP. Der Auftrag zu einem umfassenden Persönlichkeitsschutz folgt unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG
({0}) in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG
({1}).
Man darf in diesem Zusammenhang aber nicht vergessen, dass jede Verschärfung des AGG einen Eingriff
in die Vertragsautonomie der beteiligten Privatpersonen darstellt. Der Abbau von Diskriminierungen lässt
sich nicht per Gesetz verordnen, sondern ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. Immer mehr Vorschriften zu erlassen - wie es die damalige schwarzrote Bundesregierung im Fall des AGG unter Rückgriff
auf einen rot-grünen Gesetzentwurf getan hat -, heißt
Zu Protokoll gegebene Reden
nicht, dass die Praxis nachher auch besser funktioniert. Es kommt auf eine dauerhafte Sensibilisierung
für das Thema, ein Umdenken in den Köpfen und eine
Veränderung des Bewusstseins bei jedem Einzelnen
an. Darüber hinaus ist es wichtig, insgesamt eine Kultur zu entwickeln, in der Vielfalt nicht nur akzeptiert
und toleriert, sondern als Bereicherung empfunden
wird.
Die Linke beruft sich in ihrem Antrag unter anderem auf Entscheidungen des Berliner Arbeitsgerichtes
und des Berliner Landesarbeitsgerichtes, die eine
Kündigung eines HIV-infizierten Chemielaboranten,
die aufgrund der Infektion ausgesprochen wurde, bestätigt haben. Die FDP-Bundestagsfraktion bezweifelt
jedoch, ob ein einzelner Fall einen hinreichenden
Grund für Änderungen am Gesetz darstellt. Vielmehr
ist die Tatsache, dass es nur zu einer relativ geringen
Anzahl von Klagen gegen AGG-Verletzungen gekommen ist, ein Zeichen dafür, dass der Grundsatz der allgemeinen Gleichbehandlung in Deutschland bereits
weitgehend eingehalten wird.
Statt unzählige neue Diskriminierungsmotive aufzuzählen und unter Strafe zu stellen, sollte man sich am
Weiteraufbau einer toleranten Zivilgesellschaft beteiligen.
Darüber hinaus beantwortet die Linke die Frage,
was sie unter einer chronischen Erkrankung versteht,
nicht konkret genug. Sie nennt in dem Antrag zwar eine
HIV-Infektion, Diabetes, Multiple Sklerose und Krebs
als Beispiele. Eine Abgrenzung, welche Erkrankungen
nicht mehr unter diesen Begriff fallen sollen, nimmt
der Antrag nicht vor. So stellt sich die Frage, welchen
Belastungsgrad die Krankheit für den Einzelnen aufweisen muss, um als chronisch im Sinne des Antrags
der Linken verstanden zu werden. Dürften Asthmatiker
und Rheumatiker dann auch hoffen, unter das AGG zu
fallen?
Die Linke verweist in ihrem Antrag auf Regelungen
im europäischen Ausland. Die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen Ländern sind aber ein Beleg
dafür, dass die Abgrenzungsfrage, was eine chronische
Krankheit ist und was nicht, überaus schwer zu beantworten ist.
Daher kommt die FDP-Bundestagsfraktion zu dem
Ergebnis, dass weder die Datenbasis noch die vorgebrachten Argumente ausreichen, um eine Änderung
des AGG zu begründen. Wir lehnen den Antrag daher
ab.
Der Bundestag wolle beschließen: „Das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz, AGG, ist dergestalt zu ändern, dass eine chronische Erkrankung, zum Beispiel
eine HIV-Infektion, Diabetes, Multiple Sklerose oder
Krebs, als Diskriminierungsmerkmal festgehalten
wird, damit chronisch erkrankte Menschen ebenso wie
Menschen mit Behinderungen durch das AGG geschützt sind.“ Nicht mehr und nicht weniger fordert
die Linke mit dem heute zur Abstimmung stehenden
Gesetzentwurf.
Dass die Koalition aus CDU/CSU und FDP diesen
Diskriminierungsschutz für chronisch Kranke nicht
will, wundert mich nicht. Schon mit dem - dann Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz - AGG genannten
Gesetz taten sich die Schwarz-Gelben sehr schwer.
Dass aber auch die SPD den Gesetzentwurf nicht unterstützt, wundert mich schon eher.
Ausgangspunkt für den Gesetzentwurf der Linken
war ein HIV-infizierter Chemielaborant, dem gekündigt wurde, als der Arbeitgeber von der Infektion
erfahren hatte. Die Kündigung wurde sowohl vom Berliner Arbeitsgericht als auch vom Berliner Landesarbeitsgericht ({0}) bestätigt. Und dies, obwohl eine Kündigung aufgrund einer
HIV-Infektion sachlich nicht mit einem Übertragungsrisiko zu begründen ist. Dies bestätigte auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der
Fraktion Die Linke auf Bundestagsdrucksache 17/7283.
Sieben Jahre nach dem Inkrafttreten des AGG ist zu
resümieren, dass es hilft, Diskriminierungen zu verringern. Dennoch weist es noch erhebliche Lücken auf.
Eine Lücke ist das Fehlen eines Diskriminierungsschutzes für chronisch erkrankte Menschen. Anders als
in vielen anderen Ländern Europas und entgegen einer
ausdrücklichen Empfehlung der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, sind chronische Krankheiten
in Deutschland nicht ausdrücklich benannter Bestandteil des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes.
Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, die
seit dem 26. März 2009 in Deutschland in Kraft ist, gilt
die UN-Behindertenrechtskonvention auch für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Deswegen wäre
eine Änderung im AGG also eine - überfällige - Klarstellung, die in der Umsetzung bzw. Anwendung von
Gesetzen, Verordnungen, der gesellschaftlichen Praxis
bis hin zur Rechtsprechung äußerst hilfreich wäre.
Wer mir bzw. der Linken nicht glauben will oder
darf, sei hier auf die Studie „Schutz vor Benachteiligungen aufgrund chronischer Krankheit“ von Professor Dr. Kurt Pärli und Lic. iur. Tarek Naguib aus
dem Jahr 2013 verwiesen. Sie finden Sie auf der Internetseite der Antidiskriminierungsstelle des Bundes,
www.antidiskriminierungsstelle.de.
Über ein Jahr hat der Bundestag benötigt, um über
diesen Gesetzentwurf zu beraten und abzustimmen.
Über ein Jahr, in dem die Koalition und auch die SPD
nicht in der Lage waren, über ihren Schatten zu springen oder einen eigenen Gesetzentwurf vorzulegen. Ich
hoffe, die Betroffenen werden das bei der Wahl am
22. September entsprechend würdigen. Die Linke - so
viel sei jetzt schon versprochen - wird das Thema nach
der Wahl wieder auf die Tagesordnung setzen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion will
eine Klarstellung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz erreichen, wonach sichergestellt wird, dass
Menschen auch vor Diskriminierung aufgrund einer
chronischen Erkrankung vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geschützt sind. Dieses Anliegen ist
richtig; Bündnis 90/Die Grünen unterstützen dies bereits seit längerem.
Bei der ursprünglichen Fassung des Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes sind wir gemeinsam davon ausgegangen, dass chronische Erkrankungen vom
Merkmal „Behinderung“ abgedeckt seien. Inzwischen
haben uns Gerichtsurteile deutlich gemacht, dass dies
nicht immer der Fall ist und etwa HIV-Positive oder
auch an Krebs erkrankte Menschen diskriminiert werden, obwohl sie nicht unter dieses Merkmal fallen. So
hat das Berliner Landesarbeitsgericht eine Kündigung
für statthaft gehalten, die erfolgte, als der Arbeitgeber
von der chronischen Erkrankung seines Mitarbeiters
erfuhr. Das können wir so nicht stehen lassen, sondern
müssen diese ja ohnehin vom Schicksal gebeutelten
Menschen schützen.
Dabei ist auch klar, dass eine chronische Krankheit
ebenso zu den unveränderbaren Persönlichkeitsmerkmalen gehört wie die anderen Merkmale im AGG. Die
Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat sich in diesem Jahr sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt und
es zu ihrem Schwerpunkt in diesem Jahr gemacht und
ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die Aufnahme
des Merkmales dringend empfiehlt. Die Leiterin der
unabhängigen Stelle, Frau Christine Lüders, fordert
deswegen eine Klarstellung im AGG. Dafür genügte
es, in der Aufzählung der geschützten Merkmale einzufügen: „aufgrund einer chronischen Krankheit“. Ob es
hier weiterer Folgeänderungen im Gesetz bedarf, ist
noch zu erörtern.
In vielen anderen Staaten der Welt werden chronisch Erkrankte bereits von den jeweiligen Antidiskriminierungsgesetzen gestützt. Es ist an der Zeit, dass
auch wir hier ganz klar sind. Deswegen wird meine
Fraktion diesem Antrag zustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13765, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/9563 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke und
einer weiteren Änderung des Urheberrechtsgesetzes
- Drucksache 17/13423 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13423 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt kommen wir zum Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Priska Hinz ({1}), Tabea
Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparente Kriterien und verbindliche Rahmenbedingungen schaffen für die Bundesförderung von kulturellen Institutionen und Projekten
- Drucksache 17/12196 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Haushaltsausschuss
Die Reden gehen zu Protokoll.
Ihr Frust über Bayreuth muss ja verdammt tief sitzen! Da legen Sie einen Antrag mit sage und schreibe
27 Unterpunkten für Förderkriterien in der Bundeskulturpolitik vor und begründen das seitenlang mit Ihrem
Ärger über die Bayreuther Festspiele. Das muss man
erst mal hinkriegen!
Klar, die Grünen können mit Bayreuth wenig anfangen, wenn nicht gerade Claudia Roth dort zur Premiere erscheint. Aber reicht das aus, um die gesamte
Kulturförderung des Bundes in ein Korsett zu zwängen, das an Kleinteiligkeit nicht mehr zu überbieten
ist? Dass keine Partei, nicht einmal die SPD, so etatistisch agiert wie die Grünen, das ist aus allen Politikfeldern bekannt. Aber so? Und in der Kultur? Was haben
Sie sich nur dabei gedacht?
Zur Sache: Die Bayreuther Festspiele haben immer
mal wieder Probleme, wie jede andere ({0})Ein-
richtung auch. Und ganz sicher ist Toni Schmid auch
ungeschickt im Kulturausschuss aufgetreten, was er in
der Öffentlichkeit auch gerne mal macht.
Aber die Schwierigkeiten bei der Ticketvergabe sind
nicht zuletzt wegen der Kritik des Bundestages und des
Rechnungshofes inzwischen weitgehend korrigiert
worden, es sind inzwischen viel mehr Karten im freien
1) Anlage 13
Verkauf. Und eine wesentliche Änderung am Geschäftsgebaren der Bayreuther Festspiele ist die Einsetzung eines Geschäftsführers dort. Kann sein, dass
Ihnen, liebe grüne Kollegen, das nicht reicht, dass Sie
nach wie vor nicht so recht warm werden wollen mit
der klassischen Hochkultur. Am besten lassen Sie Bayreuth nun aber auch mal die neue Praxis erproben, bevor dann eine ja auch in Ihrem Antrag empfohlene
Evaluation unser aller Urteilsfähigkeit dazu schärft.
Und dann Ihre Kritik an den „Förderentscheidungen hinter verschlossenen Türen“: Das ist nun mal das
Los der Opposition, dass Sie nicht immer mit hinter
diesen Türen sitzen. Daraus aber gleich den Vorwurf
intransparenter Förderstrukturen abzuleiten, ist zumindest unredlich: In jedem Einzelfall prüft BKM vor
der Förderung, ob ein Vorhaben von gesamtstaatlicher
Bedeutung, also in einem besonderen Bundesinteresse
ist.
Einen für alle Bundesprogramme einheitlichen Kriterienkatalog über alle Institutionen und Projekte zu
stülpen, hieße aber, ihre ungeheure Vielfalt, ihren Anspruch auf Einzigartigkeit, ja auch ihre Autonomie
grob zu missachten.
Für fast alle Förderungen bzw. Fördertatbestände
bestehen längst Kriterien, aber spezifische halt, die
sich auf die sehr verschiedenen Charaktere der Einrichtungen beziehen. Oder wollen Sie die Filmförderung, die kulturelle Bildung, den Denkmalschutz, die
Geschichtsaufarbeitung, die Museen, den Tanz, die Literatur, die Musik etwa alle nach dem gleichen Muster
beglücken?
Oder nehmen wir Ihre Forderung nach einer Quote
bei der Verteilung der Mittel auf einzelne Sparten. Der
Katalog der in der Bundesförderung bereits befindlichen Einrichtungen ist ja gegeben. Wollen Sie etwa
einzelne Häuser wieder aus der Bundesförderung herausschmeißen, um genügend andere hereinnehmen zu
können? Oder wollen Sie den Etat des BKM signifikant
erhöhen, um noch ein wenig mehr Tanz, Literatur oder
neue Musik dazutun zu können? Das müssten Sie dann
schon einmal erklären. Wollen Sie tatsächlich Förderanträge ablehnen mit der Begründung: „Von Malerei
haben wir schon genug, versuchen Sie es doch mal mit
Tanzen“? Da steht für uns dann doch die Freiheit der
Kunst weit im Vordergrund.
Die jetzige Förderung ist ausgerichtet an der Frage
nach dem „erheblichen Bundesinteresse“, der „gesamtstaatlichen Bedeutung“. Ihre avisierte „Gleichberechtigung“ ist ja vielleicht gut gemeint, hier aber völlig sachfremd: Kultur und Kunstproduktion laufen
einfach nicht „nach Plan“ - ein Irrtum, dem hoffentlich auch die KuPoGe mit ihrer Tagung in der kommenden Woche auf die Spur kommt …-, auch nicht
nach „Fünfjahresplänen“ - das hatten wir schon mal,
erinnern Sie sich?.
In Ihrem Antrag können Sie es auch nicht lassen,
das bekannte Lied von Mindestgagen, Tarifverträgen,
Ausstellungsvergütungen, Gleichstellung von Mann
und Frau, Vergabe von Praktika zu singen - gut und
schön auch das. Wie selbst Sie wissen müssten, wird
das alles, wirklich alles, selbstverständlich praktiziert.
Das BKM hält sich an die Bundeshaushaltsordnung,
an Tarifverträge, an Verwaltungsvorschriften zur
Gleichstellung; Praktikanten werden korrekt behandelt. Und den vom BKM geförderten Einrichtungen
unterstellen wir ein entsprechend gesetzeskonformes
Verhalten auch. Im rechtsfreien Raum agiert auch die
Bundeskulturpolitik nicht.
Und zur Ausstellungsvergütung haben nicht nur wir
von der CDU, sondern auch die meisten Museen eine
sehr gut begründete, eindeutig ablehnende Haltung,
die Ihnen in der Anhörung bekannt geworden ist. Wir
wollen nämlich ohne noch höhere Kosten weiterhin
junge lebende Künstler ausstellen, sie so bekannt machen und ihnen einen öffentlichen Auftritt ermöglichen statt nur die bereits verstorbenen alten Meister oder
die klassische Moderne zu präsentieren, die weniger
kostet und ohnehin ein größeres Publikum hat.
Evaluationen sind sicher oft sinnvoll und ein wirksames Instrument zur Entscheidungsfindung - aber sie
binden große Kräfte: finanziell, personell und nervlich, gerade in den Einrichtungen selbst. Man sollte
das also anlassbezogen tun und nicht zum Dauerstress
verkommen lassen. Im Übrigen ist ja nicht zuletzt das
Parlament ein wirksames Kontrollorgan.
Sie verlangen die Vorlage der Haushaltsentwürfe
„detailliert und in schriftlicher Form“. Wo waren Sie
in den vergangenen Jahren? Der Haushalt wird von
BKM wie alle anderen auch als umfangreiches Kompendium dargeboten. Der letzte hatte einen Umfang
von 213 Seiten. Reicht Ihnen das nicht?
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal daran erinnern, wie man es auch machen kann: Nationale
Identität erwächst zuallererst aus dem Kulturleben eines Landes. Daher folgt die Bundeskulturpolitik dem
Grundsatz des Bewahrens unseres kulturellen Erbes
einerseits und des Ermöglichens der Avantgarde andererseits.
So fördern und schützen wir die uns anvertrauten
Institutionen, und wir haben für die Künstler, die Kreativen, für die Förderung einzelner Projekte aus der
freien Szene die Bundeskulturstiftung und den Hauptstadtkulturfonds eingerichtet.
Obwohl die Kultur in erster Linie Sache der Länder
und der Kommunen ist, übernimmt auch der Bund einen circa 13-prozentigen Anteil an der Kulturförderung. Die Grundsätze des Bundes dabei sind das „erhebliche Bundesinteresse“, die „gesamtstaatliche
Bedeutung“ und natürlich auch die Anerkennung der
besonderen Rolle der Hauptstadt für die Republik woraus ein großer Anteil der Bundesförderung für
Berlin resultiert. Dass wir dabei auch Prinzipien wie
Staatsferne, Subsidiarität oder Pluralität beachten,
versteht sich von selbst.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der deutsche Staat, auch der Bund, macht die Kultur durch seine großzügige finanzielle Förderung unabhängig von Zeitgeist und Geldgebern. Diese staatliche Fürsorge für die Kultur, ihre Freiheit, die mit dem
Mut zum Experiment auch immer das Risiko des Scheiterns in Kauf nimmt, dafür aber auch immer wieder
weltweit beachtete Leistungen ermöglicht hat, dieses
hartnäckige Engagement für die Künste hat entscheidenden Anteil am hohen Ansehen Deutschlands in der
Welt.
Ein solches Verständnis von Kultur verbietet eine
allzu kleinliche Steuerung, denn Kunst und Kultur
brauchen Freiheit, um sich entfalten zu können. Was
sie sicher nicht brauchen, sind autoritative Vorgaben.
Eine so verstandene Kultur gibt Auskunft über die
Wertegrundlagen einer Gesellschaft. Sie ist nicht nur
ein Standortfaktor, sondern Ausdruck von Humanität.
Sie stiftet Identität, die Sorge für das kulturelle Erbe
einerseits und das Ermöglichen geistig-kreativer
Avantgarde andererseits. Dieser Anspruch bleibt in
Deutschland eine ständige Herausforderung. Diesem
Geist ist auch die Kulturpolitik des Bundes verpflichtet.
Kultur ist der Modus unseres Zusammenlebens. Wir
können sie genauso wenig neu bestimmen wie unsere
Sprache - beides war immer schon da. Man kann Kultur so verstanden auch nicht einsetzen für etwas, man
kann Kultur nicht instrumentalisieren - sie ist mehr als
alles andere ein Wert an sich. Sie ist das Wie einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft, nicht das Was. Genau
diesem Bewusstsein folgt auch unsere Kulturpolitik.
Und vor einem „Paradigmenwechsel“ in Ihrem Sinne
kann ich da nur dringend warnen!
Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist für diesen
Antrag zu danken, da er zum Ende der Legislaturperiode noch einmal eine Reihe von wichtigen kulturpolitischen Fragestellungen zusammenträgt, mit
denen wir uns im Laufe dieser Legislaturperiode in unterschiedlicher Form befasst haben.
Im Wesentlichen beschäftigt sich der Antrag mit der
Struktur, den Kriterien und den Instrumenten der Kulturförderung des Bundes. Auch meine Fraktion hat
sich in dieser Legislaturperiode mit diesem Thema beschäftigt: Ausgangspunkt war die Handlungsempfehlung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, „zeitnah eine Kulturentwicklungskonzeption
für den Bund zu erarbeiten“. Meine Fraktion erachtet
diese Empfehlung für sehr wichtig, weil sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Kulturförderung ändern und sich deshalb Kulturpolitik auch immer wieder neu legitimieren muss.
In einer Großen Anfrage zur Musikförderung des
Bundes, Bundestagsdrucksache 17/7222, haben wir
genau diese Fragen zu Kriterien und Strukturen der
Bundeskulturförderung beispielhaft an einem Teilbereich thematisiert. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass
es etliche Ansatzpunkte für Neujustierungen gibt:
keine klaren und transparenten Ziele und Kriterien,
keine Evaluation, das Omnibusprinzip und die damit
verbundene Benachteiligung neuerer Genres und Einrichtungen. Auf dieser Grundlage haben wir das Netzwerk für Kulturberatung und das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim mit einem Gutachten beauftragt, um am Beispiel der Musikförderung
auszuloten, wie auch auf Bundesebene konzeptbasierte
Kulturförderung gestaltet werden könnte. Ich will damit sagen, dass der Handlungsbedarf von meiner
Fraktion bereits erkannt ist und wir uns bereits auf den
Weg gemacht haben, nach konkreten Wegen zu suchen,
um eine, wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
gefordert, nach transparenten Kriterien ausgestaltete
und damit klar nachvollziehbare Kulturförderung zu
gestalten.
So verstehen wir unseren politischen Auftrag: nicht
nur darüber reden, sondern auch konkrete Vorschläge
entwickeln, wie man es besser machen kann. Etwas
besser machen wäre eigentlich Aufgabe einer Regierung. Aber die noch amtierende schwarz-gelbe Koalition verweigert von Beginn an jedwede politische Gestaltung.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen beinhaltet
neben dieser generellen Fragestellung aber auch viele
weitere kulturpolitische Aufgabenstellungen, zu denen
die schwarz-gelbe Koalition in dieser Legislatur jede
Antwort verweigert hat. Dazu gehören die Fragen der
Gleichstellung von Männern und Frauen im Kulturund Medienbetrieb, die angemessene Vergütung im
Urheberrecht bzw. im Urhebervertragsrecht, die Einhaltung sozialer Mindeststandards und das Zahlen von
Mindesthonoraren in der Kulturförderung des Bundes,
der Zugang zu Kultur und Medien für alle, eine Ausstellungszahlung für bildende Künstlerinnen und
Künstler. Ich könnte die Liste weiter fortsetzen. Zu all
diesen Punkten hat die SPD konkrete Vorschläge erarbeitet.
Unseren Gesetzentwurf für Kultur und Sport als
Staatziel im Grundgesetz lehnen CDU/CSU und FDP
ab. Mit der Verabschiedung unseres Gesetzentwurfs
könnte der Kultur in allen Belangen mehr Gewicht
verliehen werden. In unserem Projekt des Kreativpaktes haben wir gemeinsam mit Künstlern und Kreativen,
mit der Kreativwirtschaft und der Wissenschaft
konkrete Vorschläge erarbeitet, um die Potenziale der
Kultur- und Kreativwirtschaft gezielt zu fördern. Wir
haben den Kultur- und Kreativschaffenden eine
Stimme gegeben und mit ihnen Vorschläge im Bereich
des Urheberrechts, der sozialen und wirtschaftlichen
Lage der Kultur-, Medien- und Kreativschaffenden
und den Instrumenten der Kultur- und Wirtschaftsförderung entwickelt.
Unser Verständnis von kultureller und medialer
Teilhabe für alle haben wir in unserem Antrag „Kultur
für alle“, mit dem im Übrigen erstmals von einer Fraktion eine Parlamentsinitiative in leichter Sprache in
den Bundestag eingebracht wurde, verdeutlicht. Darin
Zu Protokoll gegebene Reden
heißt es in leichter Sprache: „Die Politikerinnen und
Politiker der SPD wollen, dass alle Menschen überall
mitmachen können. Sie wollen Kultur für alle.“ Und
wir haben in unserem Antrag zur Gleichstellung deutlich gemacht, dass die tatsächliche Gleichstellung von
Frauen und Männern auch im Kunst-, Kultur- und Medienbereich noch längst nicht erreicht ist, dass zugleich aber Möglichkeiten bestehen, diese zu fördern.
Ich nehme zur Kenntnis, dass die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag, so wie wir auch,
eine kritisch-konstruktive Bewertung der bestehenden
Strukturen, Kriterien und Instrumente der Kulturförderung des Bundes vornimmt. Ich sehe Ansatzpunkte, gemeinsam über Verbesserungen nachzudenken. In den
noch ausstehenden Ausschussberatungen wird sich
zeigen, inwieweit auch die schwarz-gelbe Koalition
bereit ist, das Bestehende zu hinterfragen. Ich gehe allerdings schon jetzt davon aus, dass CDU/CSU und
FDP ihrer Linie treu bleiben: Einfach nichts tun. Wenigstens darin kann man sich auf diese Regierungskoalition verlassen. Dass das allerdings angesichts
der bestehenden Herausforderungen kein überzeugendes Politikangebot sein kann, habe ich deutlich gemacht.
Wenn man den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
liest, dann könnte man den Eindruck bekommen, die
Kulturförderung des Bundes erfolgt intransparent,
willkürlich und nach undefinierbarem Bauchgefühl
oder Geschmack. Diesem Eindruck muss ich entschieden entgegentreten. Gerade da es um die Kulturförderung von Projekten und Einrichtungen von gesamtstaatlicher Bedeutung geht, macht es sich der BKM
nicht leicht. Für die vom BKM ausgereichten Mittel
gibt es sehr wohl klar umrissene Kriterien und Bedingungen, auch wenn diese notwendigerweise wegen der
Vielfalt und Heterogenität der deutschen Kunst- und
Kulturlandschaft gerade nicht einheitlich und starr
sein können. Hier muss ich den Kulturstaatsminister in
Schutz nehmen und klar und deutlich sagen, dass der
BKM eine hervorragende Arbeit macht, was man im
Übrigen auch selbst wahrnehmen könnte, würde man
die Kulturschaffenden einmal dazu befragen.
Ganz klar ist, dass alle Formen von Kunst und Kultur ihre Daseinsberechtigung haben. Die bisher geltenden flexibel angelegten Förderbedingungen des
BKM, ob mit oder ohne Jury, wirken der Gefahr entgegen, dass Projekte durch zu starre Förderkriterien aus
dem Raster und somit aus der Förderungsmöglichkeit
fallen, weil strenge oder kunstformfremde Kriterien
nicht erfüllt werden. Entscheidungen müssen jedem
Einzelfall gerecht werden können. So weist die Filmförderung ganz andere Merkmale als die Förderung
der Kultur und Sprache nationaler Minderheiten auf.
Ein Festival funktioniert anders als die Errichtung eines Denkmals. Wir, die Koalition, wollen die Kulturlandschaft aber stärken und nicht schwächen. Der Vorschlag der Grünen, die Förderkriterien starr zu regeln,
würde unserer Meinung nach eine kontraproduktive
Wirkung erzielen.
Will man, wie der uns vorliegende Antrag suggeriert, den einzelnen Kunst- und Kultursparten eine
feste Förderquote zuteilen? Dies birgt die Gefahr, dass
Projekte, die gesamtstaatliche Bedeutung haben, wegen der Ausschöpfung einer Quotierung nicht gefördert werden können, während eine andere Kultursparte viele redundante Projekte fördern muss, weil
die Quote noch nicht ausgeschöpft ist. Die Freiheit der
Kunst braucht auch Freiheit und Flexibilität bei der
Mittelvergabe. Dafür werden wir uns in der christlichliberalen Koalition auch weiterhin einsetzen.
Sie kritisieren schlechte soziale Standards im Kunstund Kulturbereich und behaupten, es gäbe keine
verbindlichen staatlichen Vorgaben zur sozialen und
wirtschaftlichen Absicherung von Künstlerinnen und
Künstlern. Mit Verlaub, das ist kompletter Unsinn. Haben Sie die Künstlersozialversicherung KSK auf einmal vergessen? Ist Ihnen entgangen, dass wir erst
kürzlich hier im Deutschen Bundestag die ALG-I-Bezugsbedingungen für kurzfristig beschäftigte Arbeitnehmer verlängert und auf bis zu zehn Wochen andauernde Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet haben?
Ist Ihnen entgangen, dass auch in der Kultur Arbeitsgesetze, Tarifverträge und Antidiskriminierungsvorschriften genauso gelten wie in anderen Branchen?
Wir Liberalen können den Argumentationen Ihres Antrags nicht folgen, da sie nicht den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen.
In einem Teil des Antrags ärgern Sie sich über die
zusätzlichen Mittelvergaben für Kulturprojekte und
Einrichtungen, die der Haushaltsausschuss in seinen
abschließenden Sitzungen beschließt. Ich gebe Ihnen
recht: Hier könnten wir alle gemeinsam noch besser
werden und etwas strukturierter vorgehen. Ich weise
Sie aber darauf hin, dass die Verhandlungen im Haushaltsausschuss doch gerade unsere eigene Angelegenheit sind und nicht die Angelegenheit der Bundesregierung. Wir können doch nicht die Bundesregierung
auffordern, für mehr Ordnung in einem unserer Gremien zu sorgen. Wenn Sie etwas verbessern wollen,
dann muss dies schon in unseren Ausschüssen selbst
erfolgen, und zwar durch parlamentarische Arbeit,
nicht durch Gesetze, Verordnungen und Aufforderungen an die Bundesregierung.
Über die Frage der Anzahl der für den freien Verkauf verfügbaren Festivaleintrittskarten kann und
muss man sicherlich im Gespräch bleiben. Sie sprechen hier einen Punkt an, der mir auch Kopfzerbrechen bereitet. Ich bin hier ganz auf der Seite des Bundesrechnungshofes. Ich kann mir aber keine rechtliche
Vorschrift vorstellen, die den öffentlich geförderten
Festivals und Projekten eine Eintrittskartenvorgabe
macht. Das ist in meinen Augen schlicht nicht praktikabel und schafft zusätzliche Bürokratie und Nachweisverpflichtungen. Hier müssen sich die Beteiligten
an einen Tisch setzen und sinnvolle Lösungen für den
Einzelfall erarbeiten. Schließlich finanziert nicht nur
Zu Protokoll gegebene Reden
der Staat hochrangige Kulturevents wie die Bayreuther
Festspiele, sondern dies tun ebenso Fördervereine
oder Sponsoren. Auch deren Interessen müssen meiner
Meinung nach Berücksichtigung finden.
Zum Schluss möchte ich deutlich machen, dass gerade im Bereich von Kunst und Kultur die Regelungsund Verordnungsdichte nicht höher, sondern niedriger
werden muss. Fragen Sie einfach mal den Leiter eines
Museums oder einen Vereinsvorsitzenden!
Aus den genannten Gründen werden wir Ihrem Antrag daher nicht zustimmen.
Beispiel eins: Ein deutsches Zentrum für Poesie als
Ort, an dem Poesie in all ihren Erscheinungsformen
gefördert wird und der der Bewahrung und Sammlung
dichterischer Quellen in einer der Allgemeinheit zugänglichen Mediathek dient, ist eine überzeugende
Idee.
Beispiel zwei: der Fonds Neue Musik. Ein Fonds
zur Förderung von neuer, zeitgenössischer Musik, der
nicht auf die Förderung der sogenannten E-Musik beschränkt ist, sondern auch all die aktuellen Musikrichtungen fördert, die sich nicht allein über den Markt
finanzieren können, würde eine Lücke in den existierenden Förderstrukturen füllen. Auch dies erscheint
unmittelbar einleuchtend.
Aber sind diese Projekte aus bundespolitischer
Sicht förderungswürdig? Bislang nicht. Warum das so
ist, wissen wir nicht.
Der heute zu debattierende Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, der „transparente Kriterien
und verbindliche Rahmenbedingungen“ für die „Bundesförderung von kulturellen Institutionen und Projekten“ fordert, ist berechtigt, ja überfällig. Die Kulturförderpraxis der Bundesregierung findet in einer Art
traditioneller Fortschreibung statt und ist von daher
auch willkürlich zu nennen. Es gibt eigentlich nur ein
Kriterium, das nennt sich „gesamtstaatliche Bedeutung“. Das ist ein großes Wort, darüber, was darunter
genau zu verstehen ist, lässt sich an jedem Fall streiten.
Am Fall der Bayreuther Festspiele zum Beispiel,
welchen die Antragsteller ausführlich beschreiben, ist
dies besonders deutlich zu machen. Als die Bayreuther
Festspiele 1953 das erste Mal vom Bund gefördert
wurden, wenige Jahre nach der bereitwilligen Hingabe
dieser Festspiele an die faschistische Diktatur, wurde
dies recht durchsichtig sozial verbrämt und so begründet: „Mit seiner Förderung will der Bund dazu beitragen, einen maßgeblichen Beitrag zur künstlerisch-ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Schaffen
Richard Wagners in hoher Qualität am authentischen
Ort zu leisten und sein Werk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.“
Einer breiten Öffentlichkeit! Wenn das damals so
war, was ist heute daraus geworden? - Viele reiche
und schöne Menschen kommen nach Bayreuth, eine
breite Öffentlichkeit unseres Landes ist das nicht. Außerdem wird Wagner heute auf allen Bühnen landauf,
landab gespielt. Niemand muss nach Bayreuth, um
sich dort mit seinem Schaffen auseinanderzusetzen. Insofern wäre angebracht zu begründen - das einmal
grundsätzlich -, warum 60 Jahre später diese Festspiele noch immer mit dem wahrhaft nicht kleinen Betrag von 2,3 Millionen Euro jährlich finanziert werden, zum anderen müsste es eine Auseinandersetzung
mit den vielfachen Mängeln und Unzulänglichkeiten
des Betriebs geben, die in der Begründung des Antrags
ausführlich beschrieben sind.
Über das Beispiel Bayreuth hinaus ist es vollkommen richtig, allgemein einen ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb der geförderten Institutionen zu verlangen. Vollkommen richtig ist ebenfalls die Forderung,
dass 80 Prozent der Karten für den freien Verkauf zur
Verfügung stehen sollten. Nicht zuletzt muss eine angemessene Entlohnung und Lohngleichheit für Männer
und Frauen gefordert werden.
Bei der bildenden Kunst ist eine Ausstellungsvergütung für die Künstlerinnen und Künstler überfällig.
Die Linke hat sie in ihrem Antrag „Rechtliche und
finanzielle Voraussetzungen für die Zahlung einer Ausstellungsvergütung für bildende Künstlerinnen und
Künstler schaffen“ vom 18. Januar 2012 gefordert,
und zwar über vom Bund geförderte Ausstellungen hinaus, da aber in erster Linie.
Ein anderes Beispiel ist die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Sie wird seit 2008 von der Bundesregierung auf der Grundlage eines Beschlusses des
Deutschen Bundestags gefördert. Das begann 2008
mit der Summe von 148 000 Euro; diese ist im Laufe
der Jahre immer weiter angestiegen und das trotz immer neuer, kritischer Nachfragen seitens des Parlamentes.
Seit 2010 kritisieren wir, dass Arnold Tölg und
Hartmut Saenger stellvertretende Mitglieder des
Stiftungsrates der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung sind. Beide haben sich vor ihrer Wahl mit unhaltbaren, geschichtsrevisionistischen Äußerungen exponiert. Aufgrund dieser Tatsache lässt seitdem der
Zentralrat der Juden seine Mitgliedschaft ruhen - und
niemanden von den Verantwortlichen scheint das zu
bekümmern.
Im wissenschaftlichen Beraterkreis ist nach wie vor
kein Vertreter des Zentralrats der Deutschen Sinti und
Roma vertreten. Auch das scheint niemanden zu bekümmern.
Mehrfach haben wir und die Grünen in den Haushaltsberatungen eine Streichung der Mittel für die Stiftung beantragt. Dennoch wird das Projekt unbeirrt
und ohne Transparenz weiter gefördert. 7,178 Millionen Euro sind bereits geflossen, politische Kritik wird
ignoriert.
Zu Protokoll gegebene Reden
In ihrem Antrag fordern die Grünen transparente
Kriterien und verbindliche Rahmenbedingungen. Genau darum geht es. Als Mitglieder des Ausschusses für
Kultur und Medien haben wir immer wieder erleben
müssen, vollendete Tatsachen vorgesetzt zu bekommen,
wenn es um die Kulturförderung durch den Bund geht.
Nach der berühmten Methode „Friss, Vogel, oder
stirb“ sind wir zum Abnicken geradezu erpresst worden. Insofern halten wir Punkt 4 des Forderungskatalogs für zentral, welcher in Zukunft regeln soll, dass
die Haushaltsentwürfe des BKM in den Haushaltsberatungen des Ausschusses für Kultur und Medien so
rechtzeitig, detailliert, in schriftlicher Form vorzulegen sind, dass eine Beratung noch vor den abschließenden Abstimmungen möglich ist.
Die Frage bleibt, wie der Bund den Erhalt unserer
Kulturtradition und ihre gegenwärtige Vielfalt gleichermaßen fördern kann. Das ist die Kernfrage, und
sie ist zugegebenermaßen nicht einfach zu beantworten, insbesondere dann nicht, wenn die Mittel gleich
bleiben.
Auch der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gibt hier nur einen Anstoß zur Diskussion.
Da heißt es:
Neue Förderkriterien sollen entwickelt und veröffentlicht werden. Aber wer entwickelt sie?
Alle künstlerischen Sparten - Musik, bildende
Kunst, Literatur und darstellende Künste - sollen zumindest annähernd gleichberechtigt vertreten sein.
Aber wie setzt man diese Forderung um? Mit einer
Quotenregelung? Das wäre möglicherweise ein Ansatz.
Eine Fachjury soll eingerichtet werden mit externen
Expertinnen und Experten aus Kunst und Kultur, deren
Besetzung im Vierjahresrhythmus wechselt. „Fachjury“ klingt immer gut. Aber welche Erfahrungen haben wir mit Fachjurys in der Vergangenheit gemacht?
Einer Fachjury verdanken wir die goldene Schüssel als
Freiheits- und Einheitsdenkmal. Das ist nur ein Beispiel unter vielen. Vielleicht würde ein Arts Council,
wie in Großbritannien üblich, hier positive Veränderungen schaffen. Mehr Transparenz ergäbe sich auf jeden Fall.
Nun muss die Ausschussarbeit uns ein Stück weiter
bringen. Der Anfang ist mit diesem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gemacht. Die Fraktion Die Linke
wird ihn unterstützen.
Aufgrund der Kompetenzaufteilung zwischen Bund
und Ländern liegen lediglich rund 13 Prozent der
staatlichen Kulturausgaben beim Bund. In der Regel
fördert der Bund Kulturinstitutionen, Festivals oder
Modellprojekte nur dann, wenn diese von „gesamtstaatlicher Bedeutung“ sind. Aber welche Qualifikationen rechtfertigen eine „gesamtstaatliche Bedeutung“? Welche Rahmenbedingungen müssen erfüllt
werden, damit eine Förderung durch den Bund erfolgt? Ein Konzept mit transparenten Kriterien liegt
offiziell nicht vor. Die Gründe für die Förderung kultureller Einrichtungen und Projekte durch die Bundesregierung sind deshalb oft nicht transparent nachvollziehbar. In Zeiten von Sparzwängen, die für manche
Kultureinrichtungen existenzbedrohend sind, sorgt vor
allem eine Bundesförderung von renommierten Kulturveranstaltungen und von Institutionen mit konstant hohen Besucherzahlen für Unmut.
Wir sind der Überzeugung, dass die gesamtstaatliche und internationale Ausstrahlung von Festivals,
Modellprojekten oder Kulturinstitutionen als Argument für eine Bundesförderung nicht ausreicht. Es
muss auch wirtschaftlich begründet werden, ob und in
welcher Höhe derart etablierte Veranstaltungen wie
beispielsweise die Bayreuther Festspiele eine verstetigte staatliche Finanzierung des Betriebs überhaupt
benötigen. Darüber hinaus haben wir in der laufenden
Legislaturperiode bereits mehrfach kritisiert, dass
viele Förderentscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Regelmäßig wurde der Kulturausschuss nicht in die Entscheidungsfindung einbezogen und mit vollendeten Tatsachen konfrontiert.
Dadurch wird die mitberatende Funktion eines parlamentarischen Fachgremiums durch die Bundesregierung systematisch ausgehöhlt. Aktuelle Beispiele für
dieses Vorgehen sind die umstrittene Bewilligung von
10 Millionen Euro unter Sperrvermerk für die Umgestaltung der Alten Gemäldegalerie oder die Verteilung
der in der Bereinigungssitzung zum Kulturhaushalt
2013 zusätzlich beschlossenen 100 Millionen Euro allein 10 Millionen gehen an das Sudetendeutsche Museum in München. Eine Entscheidung, an der wir nicht
nur das Verfahren kritisieren. Wahlkampfgeschenke
können nicht mit „gesamtstaatlicher Bedeutung“ gerechtfertigt werden.
Ziel unseres Antrags ist es, Willkür und Intransparenz bei der Kulturförderung des Bundes zu beenden.
Wir fordern einen Kriterienkatalog, der Regeln für
eine fairere Förderpraxis festlegt. Dieser soll unter anderem sicherstellen, dass bei vom Bund geförderten
Kultureinrichtungen und -projekten, Stiftungen und
Fonds alle künstlerischen Sparten und Ausdrucksformen Berücksichtigung finden und Künstlerinnen und
Künstler angemessen bezahlt werden. Wenn der Bund
mitfinanziert, muss er darauf einwirken, dass die an einem Projekt beteiligten und an einer Kulturinstitution
beschäftigten Künstlerinnen und Künstler branchenspezifische Mindestgagen erhalten bzw. nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes entlohnt werden. Dies ist
momentan nicht immer der Fall. Bei einem aktuell aus
dem Hauptstadtkulturfonds geförderten Projekt an der
Neuköllner Oper in Berlin - das „Internationale Festival für Musiktheater unter prekären Bedingungen“ erhalten die beteiligten Künstlerinnen und Künstler bis
zu 30 Prozent unter den üblichen Tarifen des öffentlichen Dienstes. Bei den vom Bund geförderten Bayreuther Festspielen gibt es für die OrchestermusikerinZu Protokoll gegebene Reden
nen und -musiker nach Angaben der Deutschen
Orchestervereinigung eine Tagesgage von 170 Euro,
was deutlich unterhalb dessen liegt, was Mitwirkende
bei anderen vergleichbar renommierten Festivalorchestern - beispielsweise in Luzern - pro Tag verdienen.
Bei Ausstellungen, die durch den Bund gefördert
werden, sollte eine Ausstellungszahlung an die Künstlerinnen und Künstler erfolgen. Und auch die Lohngleichheit zwischen Männern und Frauen muss bei der
Durchführung aller bewilligten Förderanträge gewährleistet sein. Wenn der Bund fördert, steht er in der
Verantwortung, die Gleichstellung von Frauen zu berücksichtigen. Ein Förderkriterium muss daher sein,
dass Frauen bei der Besetzung künstlerischer Projekte, in geförderten Einrichtungen sowie bei der Veröffentlichung von Werken bzw. bei Werksaufträgen
nicht unterrepräsentiert sind, sofern eine anderweitige
Geschlechterverteilung nicht durch künstlerische Vorgaben zu begründen ist.
Ein weiteres zentrales Kriterium für eine Bundesförderung von Kulturprojekten und Institutionen sehen
wir in der Einbindung von Teilhabe- und Beteiligungsformaten für möglichst viele gesellschaftliche Gruppen. Darunter verstehen wir beispielsweise programmatische Angebote für Kinder und Jugendliche, für
Menschen mit Migrationshintergrund oder Ermäßigungsmodelle für Menschen mit geringem Einkommen. Auch die mediale Darstellung von Theater, Operund Konzertaufführungen sowie musealen Archiven
auf der Homepage der jeweiligen Träger kann zu einer
breiteren gesellschaftlichen Teilhabe beitragen. Die
Träger staatlich finanzierter Projekte und Institutionen
müssen daher die Möglichkeit erhalten, auf ihrer offiziellen Homepage Ausschnitte sowie komplette Aufführungen, Inszenierungen und Werke in Bild und Ton zu
veröffentlichen - unter der Voraussetzung, dass die
ausführenden Künstlerinnen und Künstler sowie die
Urheberinnen und Urheber der Veröffentlichung im
Internet nicht widersprechen und ihnen eine angemessene Vergütung zukommt.
Außerdem fordern wir, dass zukünftig - analog zum
bereits bestehenden Denkmalschutzkomitee - eine
Fachjury mit Expertinnen und Experten aus den
Kunst- und Kulturbranchen vom BKM eingesetzt wird.
Unter Berichterstattungspflicht gegenüber dem Haushalts- und Kulturausschuss soll diese Fachjury dem
BKM eine Auswahl der eingegangenen Anträge zur
Förderung von Kultureinrichtungen und kulturellen
Projekten vorschlagen. Damit wollen wir verhindern,
dass weiterhin Förderentscheidungen intransparent im
Hinterzimmer des Kulturstaatsministers getroffen werden. Auch eine regelmäßige Evaluation aller geförderten Kulturinstitutionen, Fonds, Bundesvereinigungen,
Projekte und Festivals als obligatorischer Bestandteil
der Bundeskulturförderpraxis ist eine Forderung unseres Antrags.
Im Abschlussbericht der Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ wurden Handlungsempfehlungen für objektive und transparente Förderkriterien
staatlicher Kulturfinanzierung entwickelt. Die Forderungen unseres Antrags orientieren sich an diesen
Handlungsempfehlungen.
Das wichtige Thema der Kulturförderung des Bundes liegt mir sehr am Herzen, und als Abgeordneter für
den Wahlkreis Bayreuth habe ich einen besonders engen Bezug zur im Antrag explizit erwähnten Förderung
der Bayreuther Festspiele. Die Bayreuther Festspiele
sind ein weit über die Grenzen Deutschlands hinaus
bekannter und hochgeschätzter Teil der hiesigen Kulturlandschaft. Dies gilt in diesem Jahr ganz besonders: Im Jahr 2013 liegt die ganze Aufmerksamkeit der
musik- und theaterinteressierten Öffentlichkeit in ganz
besonderer Weise auf Richard Wagner. Anlass geben
der 200. Geburtstag sowie der 130. Todestag des Komponisten. Im Fokus sind Richard Wagners Geburtsstadt Leipzig und seine Wirkungsstadt Bayreuth und
die von ihm ins Leben gerufenen Bayreuther Festspiele. Trotzdem haben die hier zuständigen Stellen der
Bundesregierung, insbesondere der Beauftragte für
Kultur und Medien, die dafür eingesetzte Bundesförderung - wie in allen anderen Bereichen auch - immer
wieder kritisch im Blick, prüfen Art, Höhe und Notwendigkeit der eingesetzten Mittel, prüfen und verbessern gemeinsam mit den lokalen Partnern Fördergrundlagen und andere Umstände. Darum bin ich mir
sicher, dass auch die aktuellen Themen in gewohnter
Weise von allen Beteiligten auf der Basis der geltenden
Regelungen mit Blick auf eine gute Zukunft dieser
wichtigen Kultureinrichtung behandelt werden.
Frei nach Albert Schweitzer fällt Kultur uns nicht
wie eine reife Frucht in den Schoß; vielmehr muss der
Baum gewissenhaft gepflegt werden, wenn er Früchte
tragen soll. Zunächst scheint der vorliegende Antrag
nicht abwegig: Wer wäre zum Beispiel gegen „transparente Kriterien“? Und „verbindliche Rahmenbedingungen“ scheinen immer und selbstverständlich wichtig, wenn es um den Einsatz von Steuermitteln geht. Bei
genauerem Hinsehen steckt der Teufel, wie so oft, im
Detail.
Insgesamt vermittelt der Antrag nämlich den Eindruck der Intransparenz der Bundeskulturförderung
mangels konkreter und einheitlicher Kriterien. Das ist
aber alles andere als zutreffend. Vor einer Bundesförderung wird in jedem Einzelfall geprüft, ob ein Vorhaben gesamtstaatlich bedeutsam ist und ein besonderes
Bundesinteresse an der Förderung besteht.
Ich will auch auf folgende problematische Aspekte
des Antrags hinweisen:
Ein einheitlicher Kriterienkatalog und eine Jury für
sämtliche Fördertatbestände, Forderung unter Ziffer II.1
und 3 des Antrags, sind weder sinnvoll noch möglich.
Das besondere Bundesinteresse und die gesamtstaatliche Relevanz müssen in jedem Einzelfall konkretisiert
werden und lassen sich angesichts der Vielfalt der
Zu Protokoll gegebene Reden
Sachverhalte und Förderungsgründe nicht verallgemeinern. Auch liegen unterschiedlichen Förderbereichen vollkommen unterschiedliche Überlegungen zugrunde; vielfach existieren ganz spezifische Kriterien
- zum Beispiel kulturelle Vermittlung, Filmförderung,
Denkmalschutz -, zum Teil votieren zudem bereits Jurys. Im Einzelfall müssen auch parlamentarische Forderungen berücksichtigt werden können.
Eine übergeordnete Gewichtung oder Quote bei der
Verteilung der Mittel auf einzelne Kunstgattungen
oder -sparten verbietet sich, weil die Entscheidung
über die Förderung ausschließlich am Vorliegen gesamtstaatlicher Bedeutung und des erheblichen Bundesinteresses ausgerichtet sein muss. Eine solche
„Gleichberechtigung“ ist gut gemeint, aber sachfremd; denn Kulturförderung erfolgt nicht nach einem
übergeordneten Plan. Ablehnungen mit der Begründung, man habe in dieser Sparte leider das Fördervolumen schon ausgeschöpft, wären verheerend.
Soweit im Antrag, Ziffer II.2, Barrierefreiheit,
Gleichstellung von Mann und Frau, ordnungsgemäße
Geschäftsführung, Vergabe von Praktika etc. gefordert
werden, kann ich auf Gesetze, Tarifverträge oder Verwaltungsvorschriften wie zum Beispiel die Bundeshaushaltsordnung, Gleichstellungsgesetze etc. verweisen, in deren Rahmen sich die Kulturförderung des
Bundes schon jetzt bewegt. Auch die geförderten Einrichtungen müssen sich hier an Gesetze halten. Die
Kulturförderung des Bundes findet nicht im rechtsfreien Raum statt.
Dies gilt in besonderem Maße für die Forderung
nach Anwendung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst oder die Einführung von Mindestgagen
für alle Projekte bzw. geförderten Künstler. Der TVöD
gilt schon jetzt in den dafür geeigneten Bereichen der
künstlerischen Tätigkeiten. In anderen Bereichen lassen sich spezifische künstlerische Tätigkeiten nicht
ohne Weiteres in den TVöD einpassen. Hier müssen
auch andere Überlegungen möglich bleiben.
Evaluationen sind zwar grundsätzlich ein wirksames Instrument für die Entscheidungsfindung und
Kontrolle von Prozessen, binden aber große finanzielle, zeitliche und personelle Ressourcen; sie erfolgen daher eher anlassbezogen. Das Erreichen der
Förderziele wird schon jetzt durch Erfolgskontrolle
nach den Verwaltungsvorschriften der Bundeshaushaltsordnung geprüft.
Die Einführung einer Ausstellungsvergütung könnte
kontraproduktiv wirken, da die Gefahr besteht, dass
sich nur noch große Galerien Ausstellungen „leisten“
können und junge, unbekannte Künstler keine Chance
mehr haben, ihr Wirken auszustellen.
Als Parlamentarischer Staatssekretär beim für den
Bundeshaushalt zuständigen Bundesfinanzminister
sehe ich auch die im Antrag, Ziffer II.4, enthaltenen
Vorschläge zur Änderung des Haushaltsaufstellungsverfahrens kritisch. Bis zum Kabinettsbeschluss über
den Entwurf des jeweiligen neuen Haushaltsplans ist
die Haushaltsaufstellung Aufgabe der Exekutive. Der
Regierungsentwurf des Bundeshaushalts wird dem
Deutschen Bundestag nach Kabinettsbeschluss zugeleitet, an alle Abgeordnete verteilt und an den Haushaltsausschuss zur Beratung überwiesen. Gerade im
Bereich der Bundeskulturförderung wird diese Überweisung dann von einem umfangreichen Kompendium,
in 2013 über 200 Seiten, mit einer Fülle von Informationen für die zuständigen Abgeordneten begleitet. Für
Änderungen an diesem bewährten Verfahren sehe ich
keine Notwendigkeit, und solche Änderungen könnten
zudem sicher nicht auf den Kulturbereich beschränkt
werden.
Die vorgeschlagene urheberrechtliche Schranke,
Ziffer II.5, würde an urheberrechtsfremde Erwägungen, nämlich die öffentlich-rechtliche Förderung, anknüpfen. Zudem sind Veröffentlichungen bei Einverständnis aller Beteiligten bereits heute möglich.
Die Kunst- und Kulturförderung ist nach dem
Grundgesetz in Deutschland in erster Linie Sache der
Länder und Gemeinden. Der Bund ist - nur - für kulturelle Einrichtungen und Projekte von nationaler Bedeutung zuständig. Diese Aufgabe erfüllt der Bund
schon jetzt umfassend und mit ausreichender Sorgfalt.
Die hierfür geltenden Kriterien sollten nicht aufgeweicht oder ausgedehnt werden. Der Antrag ist deshalb abzulehnen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12196 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 27:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs
- Drucksache 17/13670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.
Der zweite Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs, BuWiN, wurde am 18. April 2013 der Bundesregierung übergeben und veröffentlicht. Die im Bericht vorgenommene Bestandsaufnahme zeigt, dass die
Bedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs
in Deutschland sehr gut sind und sich in einigen Bereichen weiter verbessert haben.
Der Zustrom von Nachwuchswissenschaftlern an
unsere Hochschulen ist ungebrochen. Von 1 000 Personen eines Jahrgangs promovieren in Deutschland
2,7. Im EU-Durchschnitt sind es 1,5. Im Jahr 2010
wurden 25 600 Promotionen erfolgreich abgeschlossen. Eine Stufe darüber, bei den habilitierten Nachwuchswissenschaftlern, drängen jährlich 2 500 bis
3 000 auf den universitären Berufungsmarkt. Sie bewerben sich auf circa 600 bis 700 Stellen, hinzu kommen rund 200 Stellen an außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Diese Zahlen verdeutlichen:
Für zahlreiche hochqualifizierte Menschen ist eine
wissenschaftliche Karriere weiterhin sehr attraktiv.
Dabei ist die Zufriedenheit der im Wissenschaftssystem verbleibenden Nachwuchswissenschaftler ebenso
hoch wie die Zufriedenheit derer, die sich für eine Karriere außerhalb des Wissenschaftssystems entscheiden.
Besondere Fortschritte stellt der BuWiN 2013 beim
Abbau der Geschlechterdifferenzen fest. Zwischen
2000 und 2010 sind die Frauenanteile in allen untersuchten Stufen der wissenschaftlichen Qualifizierung
und Karriere angestiegen. Das gilt für Promotionen,
Habilitationen, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen an
Universitäten, Juniorprofessorinnen, Professoren sowie Hochschulleitung. Die Maßnahmen der Bundesregierung - etwa das Professorinnenprogramm oder die
Verpflichtung im Pakt für Forschung und Innovation,
den Anteil von Frauen in Leitungspositionen der Wissenschaft anzuheben - zeigen Wirkung. Beim Abbau
der Geschlechterdifferenzen sind wir auf einem guten
Weg.
Neben diesen positiven Entwicklungen benennt der
BuWiN 2013 aber auch Probleme, mit denen der wissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland zu kämpfen
hat. Auf zwei wesentliche Kritikpunkte - die Vielzahl
befristeter Beschäftigungsverhältnisse und mangelnde
Personalentwicklungskonzepte - möchte ich gerne detaillierter eingehen.
Im Hinblick auf die vielerorts überbordende Befristungspraxis stellt der BuWiN 2013 zunächst richtigerweise fest, dass sich die Gestaltungsspielräume der
Länder zur Veränderung der Personalstruktur an den
Hochschulen im Zuge der Föderalismusreform 2006
vergrößert haben. Von diesem Gestaltungsspielraum
machen die Länder jedoch nur unzureichend Gebrauch. Durch eine Änderung ihrer Landeshochschulgesetze könnten sie der um sich greifenden Befristungspraxis Einhalt gebieten. Deshalb unterstütze ich
die Bundesregierung ausdrücklich, die in ihrer Stellungnahme zum BuWiN 2013 den Apell an die Länder
richtet, das Verhältnis befristeter und unbefristeter
Stellen an Hochschulen zu verändern und TenureTrack-Modelle weiter auszubauen.
Wie der Bericht feststellt, verlagern jedoch die Länder ihre Verantwortung für den wissenschaftlichen
Nachwuchs zunehmend an die Hochschulen. Diese haben die ihnen gegebenen Freiräume jedoch ebenfalls
nicht genutzt. Mit Blick auf die vorherrschende Befristungspraxis hat sich die Leiterin des BuWiN-Kuratoriums, Frau Dr. Anke Burkhardt, im gestrigen Expertengespräch vor dem Ausschuss mehr Mut von den
Hochschulen gewünscht. Dem kann ich mich nur anschließen. Der Bund hat erst vor wenigen Wochen
erneut Milliardensummen zur Finanzierung des Hochschulpakts bis 2018 verbindlich zugesagt. Diese neugewonnene finanzielle Planungssicherheit muss nun
von den Hochschulen genutzt werden, um längere Vertragslaufzeiten zu ermöglichen und mehr unbefristete
Stellen zu schaffen. Klar ist, dass das WissZeitVG nicht
die Ursache für eine Zunahme der Befristungspraxis
ist und eine Änderung dieses Gesetzes allenfalls zu
marginalen Verbesserungen führen könnte. Hier stehen wir mit der Bundesregierung im Dialog. Zugleich
darf ich auf die bevorstehende Anhörung am 12. Juni
2013 sowie die zu diesem Thema geführten Debatten
verweisen.
Durch Sonderfinanzierungsprogramme wie Exzellenzinitiative und Professorinnenprogramm hat die
Bundesregierung in den letzten Jahren maßgeblich zu
besseren Karrieremöglichkeiten für Nachwuchswissenschaftler beigetragen. Aufgrund der grundgesetzlichen Vorgaben können Bundesmittel aber immer nur
zeitlich befristet gewährt werden. Deshalb sind sie nur
bedingt geeignet, langfristige personelle Planungssicherheit für die Hochschulen sicherzustellen. Keinesfalls darf zusätzliches Bundesgeld dazu führen, dass
sich die Länder aus der Grundfinanzierung der Hochschulen zurückziehen. Ein solcher Rückzug hätte direkte Konsequenzen für die Anzahl unbefristeter Professorenstellen und die Laufzeiten befristeter Verträge.
Ein stärkeres und dauerhaftes Engagement des Bundes
für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist nur im Zuge
einer Änderung von Art. 91 b GG möglich. Die Bundesregierung hat vor einem Jahr einen entsprechenden
Gesetzentwurf eingebracht. Er wird jedoch von SPD
und Grünen im Bundesrat blockiert. Diese Verweigerungshaltung ist unverantwortlich gegenüber den
Hochschulen und den dort beschäftigten Menschen.
Zweites Grundproblem ist die Stellenstruktur an
deutschen Hochschulen. So gibt es an Universitäten
unterhalb der Professur kaum unbefristete Angebote.
Der BuWiN 2013 stellt hierzu fest: „Wenn man ... zwischen einer Junior-Staff-Ebene ({0}) und einer Assistant-Staff-Ebene ({1}) unterscheidet, wird erkennbar, dass erstere in Deutschland
fast völlig fehlt.“ Dieses Problem haben die Koalitionsfraktionen bereits in ihrem Antrag „Exzellente
Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs
fortentwickeln“ ({2}) identifiziert und die Einführung von sogenannten Associate-Professuren angeregt. Zu wenige Länder und
Hochschulen haben diese Vorschläge bislang aufgegriffen. Einzig die TU München hat mit der Einführung
des Personalentwicklungskonzepts „Faculty Tenure
Track“ Associate-Professuren unterhalb der Vollprofessur eingerichtet und ein zukunftsweisendes Modell
auf den Weg gebracht. Ich kann nur an die Länder und
Hochschulen appellieren, diesen Weg ebenfalls zu gehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende entgegen, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, eine kurze
Bilanz unserer Politik für den wissenschaftlichen
Nachwuchs zu ziehen. Seit 2005 haben zwei unionsgeführte Bundesregierungen die Angebote für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die der Bund mit oder alleine verantwortet, massiv ausgebaut. Durch den
Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative und den Pakt
für Forschung und Innovation sind zahlreiche Stellen
für Nachwuchswissenschaftler neu entstanden. Allein
im Rahmen der Exzellenzinitiative sind dies bisher
über 4 000, darunter viele mit langfristiger Perspektive, zum Beispiel Tenure Track. Insgesamt ist das
hauptberufliche wissenschaftliche Personal an den
Hochschulen von 2005 bis 2011 um 29 Prozent auf
knapp 200 000 angewachsen. Die Förderung der „Eigenen Stelle“ bei der DFG wurde massiv aufgestockt,
Zuwächse gab es auch bei den Programmen „Emmy
Noether“ und „Heisenberg“. Die Anzahl der Nachwuchsgruppen bei der Fraunhofer-Gesellschaft, der
Helmholtz-Gemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft und der Leibniz-Gemeinschaft wurden seit 2005
verdoppelt. Die Mittel für die Promotionsförderung
der Begabtenförderungswerke wurden seit 2005 um
56 Prozent angehoben.
Diese Bilanz kann sich wahrlich sehen lassen. Der
wissenschaftliche Nachwuchs an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen leistet einen entscheidenden Beitrag zur Zukunftsfähigkeit
unseres Landes und zum Wohlstand kommender Generationen. Wir haben das nicht nur erkannt, sondern
unternehmen enorme Anstrengungen, um - soweit es
dem Bund möglich ist - bestmögliche Rahmenbedingungen für die Nachwuchswissenschaftler zu schaffen.
An diesem Mittwoch haben wir im Ausschuss für
Bildung und Forschung den Bundesbericht „Wissenschaftlicher Nachwuchs 2013“ vorgestellt bekommen von den verantwortlichen Autoren. Und wir hatten die
Gelegenheit, zu dieser umfangreichen und unabhängigen Studie mit den Autoren zu sprechen. In dieser
Diskussion haben wir - über die bisherige Presseberichterstattung hinaus - einige interessante Zusatzinformationen und Einschätzungen erhalten.
Es ist an dieser Stelle nicht möglich, dem Umfang
der Debatte und der Fülle von Informationen und Erkenntnissen des Berichtes auch nur annäherungsweise
gerecht zu werden. Darum beschränke ich mich auf einige zentrale Ergebnisse.
Zunächst sollte festgehalten werden, dass Wissenschaft in Deutschland außerordentlich attraktiv ist. In
den letzten Jahren sind, insbesondere durch die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, enorm viele
Stellen in der Wissenschaft geschaffen worden. Auch
die Zahl der Juniorprofessuren steigt wieder an, die
Frauenanteile steigen, wenn auch noch nicht ausreichend, die Internationalisierung nimmt zu und die Arbeitsmarktintegration von Wissenschaftlern ist außerordentlich erfolgreich.
Es liegt aber in der Natur der Sache, dass wir uns
nicht nur auf die Schulter klopfen dürfen, sondern uns
im Bundestag der Probleme annehmen müssen. Mit Sicherheit im Zentrum der Aufmerksamkeit - auch des
medialen Interesses - steht die Feststellung, dass der
Trend zu Befristungen ungebrochen ist, sich sogar verstärkt hat. In Zahlen ausgedrückt ist der Anteil von
79 Prozent im letzten Bericht auf nun 90 Prozent angestiegen. Die Teilzeitquote ist von 38 auf 45 Prozent gestiegen und die Drittmittelfinanzierung von 36 auf
43 Prozent.
Die Befristungsquote ist eine eindeutige Bestätigung für unseren Vorschlag der Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, um dem Befristungsunwesen ein Ende zu setzen. Wir wollen dabei ganz und gar
nicht Befristungen gänzlich verbieten. Das wäre
falsch, weil es der besonderen Dynamik und Charakteristik des Wissenschaftsbereiches widerspräche. Doch
die bestehenden Regelungen zur arbeitsrechtlichen
Befristung in der Wissenschaft werden, anders als bei
der Gesetzesformulierung intendiert, vielerorts zu lasten der Nachwuchswissenschaftler ausgenutzt.
Wir wollen darum in der Qualifizierungsphase während der Promotion eine Betreuungsvereinbarung sicherstellen, nach der Promotion nur noch in begründeten Fällen Befristungen von unter 24 Monaten
zulassen, die Befristungen aufgrund der überwiegenden Drittmittelfinanzierung mindestens an die Laufzeit
der Drittmittelfinanzierung angleichen, dies auch für
das nichtwissenschaftliche Personal gelten lassen, darüber hinaus Verbesserungen bei der Anrechnung von
studienbegleitend angefallenen befristeten Beschäftigungen formulieren sowie bei der Anrechnung von Eltern-, Betreuungs- und Pflegezeiten helfen.
Und wir wollen die Tarifsperre streichen. Wenn die
Wissenschaft immer Autonomie einfordert, dann sollte
das auch für die Tarifautonomie gelten!
Wir sind - das habe ich bereits bei der Einbringung
des Gesetzentwurfes im Plenum gesagt und bei der Anberatung gestern im Ausschuss wiederholt - nicht der
Auffassung, dass dieser Gesetzentwurf unveränderbar
ist. Wir hören uns gerne die Positionen und Verbesserungsvorschläge der Sachverständigen, der anderen
Fraktionen und auch der Länder an. Darum ist die bisherige Haltung der Koalition von CDU/CSU und FDP
umso enttäuschender, die das gesamte Anliegen einfach vom Tisch wischt. Mit hanebüchenen Argumenten! Auch die Koalition, auch die Bundesregierung hat
die Handlungsnotwendigkeit eingeräumt. Und wenn
dann aber einfach nur auf die Zuständigkeit der Länder und Hochschulen verwiesen wird, dann ist das ein
plattes Ablenkungsmanöver: Alle müssen im Rahmen
ihrer Möglichkeiten handeln - und der Bund hat eben
diese, und sehr wichtige, Möglichkeit des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes!
Zu Protokoll gegebene Reden
Swen Schulz ({0})
Bemerkenswert ist die Aussage des Berichtes und
seiner Autoren, dass die Landeshochschulgesetze wenig differieren - und dann sogar selbst diese Differenzierungen in der Praxis kaum Wirkung entfalten. Dabei pochen die Länder doch immer darauf, dass sie
ihre spezifischen Wege einschlagen können. Doch Föderalismus macht natürlich nur dann Sinn, wenn erkennbar ist, dass auf regional unterschiedliche Situationen unterschiedlich eingegangen wird - oder aber
neue Ideen erprobt werden, die geprüft und gegebenenfalls anderswo übernommen werden können. So
- um es hart zu sagen - beschäftigen wir nur ein Heer
von Leuten, um unterschiedliche Detailregelungen zu
erdenken, umzusetzen und zu kontrollieren - ohne
Mehrwert, aber mit hohen Kosten und Chaos-Potenzial. Diese Frage müssen wir in den nächsten Jahren
intensiver untersuchen.
Leider ist die Grundlage für Aussagen über Erfolg
oder Misserfolg von hochschulspezifischen Regelungen im Rahmen der Hochschulautonomie - auch hier
besteht weiterer Erkenntnisbedarf in künftigen Berichten.
Klar ist dagegen geworden, dass die Karrierewege
von Absolventen der Fachhochschulen nicht durchlässig genug sind. Diese Frage des Verhältnisses von Universitäten und Fachhochschulen, gerade vor dem Hintergrund der Bologna-Reform, ist im Grunde weiterhin
in der Schwebe. Das verwundert nicht, da ja auch innerhalb der Hochschulrektorenkonferenz, auch zwischen Universitäten die Frage von Sinn und Unsinn
der Ausdifferenzierung hoch umstritten ist. In jedem
Fall müssen wir erreichen, dass die wissenschaftlichen
Karrierewege Absolventen der Fachhochschulen geöffnet werden!
Ein letztes Thema will ich ansprechen: die Chancengleichheit. Die Benachteiligung von Frauen habe
ich kurz erwähnt. Der Bericht weist darüber hinaus
vollkommen zurecht darauf hin, dass ja auch Benachteiligungen aufgrund regionaler, sozialer oder ethnischer Herkunft bestehen mögen, dass der kulturelle
oder religiöse Hintergrund eine Rolle spielen könnte
oder familiäre Belastungen, Krankheiten, Behinderungen. Ich habe das Thema im Ausschuss nachgefragt,
aber die Autoren verweisen darauf, dass sie zu wenig
Daten haben, um dazu solide zu arbeiten. Auch das ist
eine wichtige Stelle - für die Chancengleichheit, für
die Gerechtigkeit, auch für die künftige Leistungsfähigkeit der Wissenschaft, mithin für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir müssen mit den Autoren klären,
wie wir diesem Forschungsbedarf künftig nachkommen.
Insgesamt war die Entscheidung des Bundestages
richtig, einen solchen Bundesbericht „Wissenschaftlicher Nachwuchs“ unabhängig erstellen zu lassen. Er
regt uns zu politischen Konsequenzen an. Da Bundesregierung und Koalition sich dem verweigern, packen
wir es eben in der nächsten Legislaturperiode an.
Im Jahr 2009 beschloss der Deutsche Bundestag,
dass die Bundesregierung in regelmäßigen Abständen
und mindestens einmal pro Legislaturperiode über die
Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses im Deutschland informieren soll. Nun liegt uns seit April 2013 der
Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs vor, der
komplett auf Basis wissenschaftlicher Unabhängigkeit
erstellt wurde. Deshalb möchte ich an dieser Stelle dem
verantwortlichen Konsortium aus Experten der Hochschulforschung für die Ausarbeitung dieses Berichts
danken.
Die Präsentation im Ausschuss hat gezeigt, dass
sich der wissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland
in einer sehr guten Situation befindet. Er wird nicht
nur hervorragend ausgebildet, sondern ihm bieten sich
auch wirklich gute Perspektiven. Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache. Unser wissenschaftliches
Qualifizierungssystem ist offen und von Vielfalt geprägt. In der wissenschaftlichen Qualifizierung sind
Unterbrechungen und Wiedereinstieg an der Tagesordnung. Der Bundesbericht legt nahe, dass dem Großteil
der Promovierten ein rascher Berufseinstieg gelingt.
Zudem sind im Alter von 35 bis 45 Jahren etwa 95 Prozent aller Promovierten jedweder Fachrichtung erwerbstätig und erzielen zudem ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Der Bundesbericht legt ferner
offen, dass sich auch in der Gleichstellung von Frauen
im Wissenschaftssystem signifikante Verbesserungen
ergeben haben. Selbstverständlich können wir noch
nicht auf allen Ebenen des Wissenschaftssystems von
einer faktischen Gleichstellung sprechen; jedoch zeigen die Zahlen auf Basis des 16. Fortschrittsberichtes
der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz, GWK, zu
Frauen in der Wissenschaft eine positive Entwicklung.
So ist der Anteil an den Promotionen von 2005 zu 2010
auf rund 44 Prozent gestiegen. Auch im Bereich der Internationalisierung an den Hochschulen zeigt sich
eine positive Tendenz. Der Anteil von Ausländerinnen
und Ausländern an den Promotionen hat sich im Zeitraum von 2000 bis 2010 annähernd verdoppelt.
Unter diesen positiven Entwicklungen möchte ich
einen ersten Strich ziehen. Genaue Zahlen und detaillierte Entwicklungen sind im Bundesbericht nachzulesen. Es zeigt aber, wie gut wir in Deutschland und wie
gut diese christlich-liberale Koalition in den letzten
vier Jahren gearbeitet hat. Das belegt der Bundesbericht, der dem Bund bescheinigt, gemeinsam mit den
Ländern wichtige Akzente in der Nachwuchsförderung
und im Wissenschaftssystem gesetzt zu haben. Beispielsweise durch die Exzellenzinitiative, die Förderung von Nachwuchsgruppen und die Einführung von
Juniorprofessuren oder Tenure-Track-Angeboten.
Oder zu nennen sind der Hochschulpakt 2020 oder der
Qualitätspakt Lehre, die dem wissenschaftlichen
Nachwuchs bessere Studienbedingungen und Karriereperspektiven eröffnet haben, indem sie die Hochschulen dazu ertüchtigen, die steigenden Studierendenzahlen zu stemmen. Wir unterstützen die Länder und
konnten vor kurzer Zeit sogar die Aufstockung des
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
Paktes in Form von weiteren 3,8 Milliarden Euro bis
zum Jahr 2018 sicherstellen.
Als christlich-liberale Koalition wollten wir aber
nicht nur über Behelfskrücken in die Hochschule wirken, sondern durch eine Grundgesetzänderung in Art.
91 b eine dauerhafte Beteiligung des Bundes schaffen.
Denn wir wissen, dass gute Programme und erfolgreiche Maßnahmen Verstetigung brauchen, damit diese
erfolgreich fortgesetzt werden können. Bedauerlicherweise sperren sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen
bis heute gegen eine solche Grundgesetzänderung aufgrund kleiner parteipolitischer Münze, weil man
eben nicht an einem Fortschritt im Wissenschaftssystem interessiert ist, sondern lediglich bereits auf den
Wahlkampf schielt.
Neben der Grundgesetzänderung haben wir weitere
Programme und Fördermaßnahmen weiterentwickelt
und angestoßen. So haben wir durch stetige Impulse
und Gespräche mit den Forschungseinrichtungen
erreicht, dass 2011 die Allianz der Forschungseinrichtungen sich zu ihrer Verantwortung für die Nachwuchsförderung bekannt hat und beispielsweise Leitlinien in
den Organisationen entwickelt wurden. Des Weiteren
haben wir mit den Ländern das erfolgreiche Professorinnenprogramm verlängert, sodass die nächsten fünf
Jahre etwa 250 Professorinnenstellen an Hochschulen
geschaffen werden. Wir haben zudem in die Begabtenförderung investiert. Wurden 2005 „nur“ 16 404 Stipendien vergeben, sind es in 2012 etwa 43 500 Stipendien gewesen.
Die christlich-liberale Koalition hat ihre Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs wahrgenommen. Und wir werden auch zukünftig diese Verantwortung wahrnehmen und in die Förderung des
wissenschaftlichen Nachwuchses investieren.
Der Bundestag befasst sich seit langem auch auf
Initiative der Linken hin mit den Arbeitsbedingungen
für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler; er hat
dazu mehrere Anhörungen und unzählige Debatten
durchgeführt. Wir haben auf den Gegensatz zwischen
den „exzellenten“ Aushängeschildern, die im gleichnamigen Wettbewerb gekürt worden sind, und den
schlechten Perspektiven der vielen Promovierenden
und Promovierten hingewiesen.
Auch die Debatte um die finanziell aufwendige Anwerbung von Spitzenwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus dem Ausland stand in einem starken
Gegensatz zu den Bedingungen für den eigenen Nachwuchs. Dies haben wir immer wieder deutlich gemacht.
Am Wissenschaftszeitvertragsgesetz übten 2007 neben uns Linken nur die Grünen noch Kritik.
Der erste Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses war 2008 eine Initialzündung für eine neue Richtung der Debatten um prekäre
Beschäftigung in der Wissenschaft. Der Bericht zeigte
in seinen Zahlen das dramatisch gestiegene Ungleichgewicht zwischen den wenigen selbstständig und unbefristet tätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und der übergroßen Mehrheit derjenigen, die auf
befristeten, zumeist noch geteilten Stellen weisungsgebunden forschen und lehren.
Gemeinsam mit der GEW, mit Verdi und anderen
Akteuren haben wir seitdem immer wieder auf die
strukturell schlechten Bedingungen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterhalb der Professur
hingewiesen und Lösungen vorgeschlagen. Zudem äußerten auch Akteure aus dem Wissenschaftssystem wie
etwa der Wissenschaftsrat ihre Bedenken, ob eine solche Personalstruktur zukunftsfähig sei.
Das Templiner Manifest der GEW bildete 2010 einen weiteren Meilenstein in der Debatte und formulierte ein mittlerweile 10 000-fach unterzeichnetes
Programm für Gute Arbeit in der Wissenschaft. Die
Bundesregierung und die schwarz-gelbe Koalition haben die Debatten weitgehend ungerührt gelassen.
Symptomatisch für dieses Wegsehen ist die Äußerung
eines Unionsabgeordneten, der im Forschungsausschuss sagte: „Von prekärer Beschäftigung kann hier
keine Rede sein, schließlich handelt es sich um exzellente Spitzenwissenschaftler.“
Weder will die Koalition das Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft reformieren und begrenzen,
noch gehen sie neue Förderprogramme an. In der Regel wird auf die Personalhoheit von Ländern und
Hochschulen verwiesen. In der außeruniversitären
Forschung gibt es immerhin einige positive Entwicklungen, auch bei der DFG.
Der neue Bundesbericht zeigt die Ausmaße des Problems. In allen Bundesländern gibt es einen klaren
Trend: mehr Befristung, kürzere Befristung, mehr Teilzeit, mehr Drittmittelfinanzierung. Es handelt sich
nicht um das Phänomen einzelner Regionen, sondern
ganz klar des gesamten Wissenschaftssystems. Auch
die einzelnen Hochschulgesetze spielen laut des aktuellen BuWiN eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist der Trend der Verbetriebswirtschaftlichung
der Hochschulen, die noch dazu auf eine stagnierende
Grundfinanzierung trifft.
Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler werden kurz befristet, um „Beinfreiheit“ in den
Haushalten zu haben. Dies soll dem Leitbild der „unternehmerischen Hochschulen“ entsprechen. Doch
fehlt diesen oftmals die Kompetenz zu einer nachhaltigen Personalplanung, wie sie zu gut geführten Unternehmen gehört.
90 Prozent der angestellten Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler arbeiten auf befristeten Verträgen, 45 Prozent in Teilzeit, über ein Drittel auf Drittmittelstellen. Professorinnen und Professoren, die
eigentlich die alleinige Vertretungshoheit für die Wissenschaft haben, sind eine Randgruppe geworden und
machen weniger als 10 Prozent des wissenschaftlichen
Personals aus.
Zu Protokoll gegebene Reden
Diese Ausweitung zu einem riesigen prekären Sektor in Wissenschaft und Forschung trägt nicht zur Effizienz bei. Professor Teichler vom INCHER-Institut
Kassel bestätigte uns im Ausschuss, dass große „Hofstaaten“ von Assistenzstellen an Lehrstühlen auch
nicht mehr Output generieren als mehr Professorinnen
und Professoren mit weniger Ausstattung.
Mit den angeblich „exzellenten“ Finanzierungmodellen ist eben auch die ganze Personalstruktur in
Deutschland aus der Balance geraten.
Nach der Promotion bis zur Professur existiert ein
unübersichtlicher Bereich der Chancen und des massenhaften Ausstiegs aus der Wissenschaft - mit vielfältigsten Personalkategorien, Beschäftigungsbedingungen, Gehaltsstufen und Aufgabenprofilen. Auf die
jährlich frei werdenden lediglich 700 Professuren
kommen 3 000 adäquat qualifizierte Bewerbungen.
Für mehr als 2 000 dieser speziell höchstqualifizierten
Fachleute ist dann Schluss.
Dass es so nicht weitergehen kann, darüber sind
sich inzwischen eigentlich alle einig - sogar die Bundesregierung schreibt in ihrer Stellungnahme, es solle
bessere Perspektiven für die Karriereverläufe geben.
Kein Unternehmen würde sich einen derartigen Verschleiß an Personal leisten, wie dies unsere Wissenschaft derzeit tut.
Wir müssen die Strukturen und Rahmenbedingungen dringend ändern, damit die Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen die Möglichkeit für eine
nachhaltige Personalpolitik bekommen.
Zwei Dinge kann die Bundesregierung in diesem
Sinne schnell auf den Weg bringen und damit das
ganze Klima in unseren Wissenschaftseinrichtungen
verändern: erstens eine Änderung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, wie sie die Opposition, aber
auch einzelne Bundesländer fordern. Die zweite Maßnahme wäre ein Bund-Länder-Programm für jährlich
5 000 unbefristete Stellen in der Wissenschaft, wie dies
wir Linke und die GEW vorgeschlagen haben. Wenn
die Einrichtung einer Stelle mit Tenure Track und Option auf die unbefristete Einstellung für zwei Jahre mit
je 10 000 Euro gefördert würde, entstünde ein echter
Anreiz für die Hochschulen. Das Programm nach dem
Vorbild des Professorinnenprogramms wäre mit
100 Millionen Euro jährlich auch finanziell machbar.
Ein Euro-Hawk-Desaster weniger, und das Programm
ist für fünf Jahre ausfinanziert. Wir wollen es absichtlich nicht auf eine bestimmte Personalkategorie einschränken, um den unterschiedlichen Bedingungen in
den Ländern gerecht zu werden. Das wäre ein echter
Bottom-up-Ansatz.
Der aktuelle Bundesbericht zum wissenschaftlichen
Nachwuchs zeigt dramatischen Handlungsbedarf an.
Deshalb ist es an der Zeit, dass der Bund endlich handelt.
Vor kurzem haben wir den zweiten Bundesbericht
zum wissenschaftlichen Nachwuchs erhalten, zu dem
die Bundesregierung inzwischen auch offiziell Stellung
genommen hat.
Die Detaildaten dieses Berichts werden die wissenschaftspolitischen Diskussionen sicherlich noch bis
weit in die nächste Legislaturperiode hinein bereichern. Die Kernaussagen sind allerdings hinlänglich
bekannt: Die Perspektiven des wissenschaftlichen
Nachwuchses sind hochgradig unsicher. Inzwischen
sind sogar 90 Prozent der Arbeitsverträge für wissenschaftliche Mitarbeiter befristet, die Hälfte davon mit
Laufzeiten von unter einem Jahr. Gestandene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden bis ins
fünfte Lebensjahrzehnt als Nachwuchs behandelt und
haben kaum Möglichkeiten für selbstständige Forschung und Lehre. Der Bundesbericht bestätigt all
diese Fakten über das ausufernde Befristungsunwesen
im Wissenschaftsbereich und die mangelnde Planbarkeit wissenschaftlicher Karrieren, die wir in diesem
Haus schon seit einigen Jahren diskutieren. Auch die
Bundesregierung kann und will diese ernst zu nehmenden Probleme inzwischen nicht mehr länger leugnen.
Das ist schon einmal ein gewisser Fortschritt.
Der Erkenntniszugewinn ist aber leider auch schon
der einzige Pluspunkt, der sich aus der Stellungnahme
der Bundesregierung ergibt. Statt zu fragen, welchen
Anteil auch die Bundespolitik an den unsicheren Perspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchses hat,
beschränkt sich die Bundesregierung auf Schuldzuweisungen an die Hochschulen und die Bundesländer.
Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung nur bei
den anderen. Dabei tragen zum Beispiel die begrenzten Kooperationsmöglichkeiten der Verfassung auch
dazu bei, dass Unsicherheiten und Risiken einseitig auf
die wissenschaftlichen Mitarbeiter abgewälzt werden.
Im Gegensatz zu den außeruniversitären Forschungseinrichtungen erreichen Bundesmittel die Universitäten nur als Dritt- oder Projektmittel, deren Quote gegenüber der Grundfinanzierung stark gestiegen ist.
Auch der Hochschulpakt ist projektförmig finanziert
und bietet keinerlei längerfristige Planungssicherheit.
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz hat ebenfalls zur
Ausweitung von kurzzeitigen Befristungen beigetragen. Das sind die Rahmenbedingungen, innerhalb deren die Personalpolitik der Hochschulen stattfindet.
Selbstverständlich sind die Hochschulen und Länder gefordert, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um
das überbordende Befristungsunwesen einzudämmen
und dem Nachwuchs verlässlichere Karrierewege zu
bieten. Das entlastet aber nicht den Bund davon, selbst
auch tätig zu werden. Von einer Stellungnahme des
Bundes und von Lösungsvorschlägen des Bundes erwarte ich mir, dass der Bund zuallererst seine eigenen
Handlungsmöglichkeiten nennt und wahrnimmt. Dies
aber sucht man in der Stellungnahme vergeblich. Vielmehr will sich die Bundesregierung ausdrücklich auf
die intensive Beobachtung und Kommentierung des
Zu Protokoll gegebene Reden
Geschehens beschränken. Statler und Waldorf aus der
Muppet Show lassen grüßen.
Selbstverständlich kann die Bundesregierung ihren
Teil dazu beitragen, die Situation des Nachwuchses zu
verbessern. An erster Stelle muss hier auf das Wissenschaftszeitvertragsgesetz verwiesen werden. Seit der
Ausweitung der Befristungsmöglichkeiten 2007 ist der
Anteil der befristeten Beschäftigung massiv gewachsen. Es ist scheinheilig, hier nur auf die Hochschulen
als Arbeitgeber zu zeigen, die das Gesetz nicht richtig
handhaben würden. Wenn ein Gesetz andere Effekte
hat als beabsichtigt und erwartet, dann ist es an der
Zeit, das Gesetz zu verändern - anstatt die Nutznießer
dieses Gesetzes dafür an den Pranger zu stellen, dass
sie die Möglichkeiten des Gesetzes ausschöpfen. Niemand bezweifelt, dass Befristungen im Wissenschaftsbereich sinnvoll und notwendig sind. Über Jahrzehnte
hinweg kamen auf eine feste Stelle drei unbefristete.
Wenn aber jetzt auf jede feste Stelle neun befristete
kommen, dann muss das Verhältnis zwischen berechenbaren Karrierewegen und notwendiger permanenter Erneuerung eines innovativen Wissenschaftssystems wieder ins Lot gebracht werden.
Wir wollen, dass die befristeten Arbeitsverträge in
der Regel mindestens über zwei Jahre laufen, die Laufzeiten der Verträge nicht unter den Bewilligungszeiträumen von Drittmittelprojekten liegen und dass die
Tarifsperre aufgehoben wird. Ausnahmen im Interesse
der Betroffenen sollten ausdrücklich begründet werden
müssen. Durch einen Vorrang der qualifikationsbedingten Befristung gegenüber der Drittmittelbefristung wollen wir sicherstellen, dass möglichst viele
junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen
Rechtsanspruch auf Vertragsverlängerung bei Mutterschutz-, Eltern-, Pflege- oder Mitbestimmungszeiten
haben.
Der Bund könnte sich aber auch ein Beispiel an der
Deutschen Forschungsgemeinschaft nehmen und mehr
Verantwortung in seiner Funktion als Drittmittelgeber
übernehmen. Mehr als zwanzig Prozent der Drittmittel, die an die Hochschulen gehen, stammen aus der
Projektförderung des Bundes. Damit ist er nach der
DFG der zweitwichtigste Drittmittelgeber. Die DFG
hat inzwischen eine Vielzahl von Regelungen, die eine
flexible Drittmittelbewirtschaftung zugunsten berechenbarerer Karriereperspektiven ermöglichen: Zwischenfinanzierung von Haushaltsstellen, Finanzierung
der eigenen Stelle, Bewilligung von Fonds zur Finanzierung von Elternzeitvertretungen, personenbezogene
Nachbewilligungsmöglichkeiten bei Vertragsverlängerungen im Zuge von Familienpflichten. Warum übernimmt der Bund nicht solche Elemente in seine Projektfinanzierung?
Last, but not least könnte der Bund zum Beispiel bei
der gemeinsamen Forschungsförderung die Länder
entlasten, damit diese im Gegenzug die Grundfinanzierung der Hochschulen verbessern. Auch das wäre ein
wichtiger Schritt, der zeigen würde, dass die Bundesregierung die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses tatsächlich ernst nimmt. Aber die Länder zu
beschimpfen, weil sie die Hochschulen nicht stärker
unterstützen, und gleichzeitig den Ländern durch unsinnige Steuergeschenke wie die Mövenpick-Steuer das
Geld aus der Tasche zu ziehen, ist billig und wohlfeil.
Fast eine halbe Milliarde höhere Steuereinnahmen
hätten allein die Länder im Jahr 2013, wenn es die Hotelsubventionierung nicht gäbe - Geld, das für den
Ausbau der Bildungsinfrastrukturen jedes Jahr aufs
Neue dringend fehlt.
Verlässlichere Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs gibt es nur, wenn Bund, Länder,
Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gemeinsam diese Aufgabe angehen. Nur
mit dem Finger auf andere zu zeigen, hilft nicht weiter.
Anträge und Stellungnahmen, die ausschließlich
Schuldzuweisungen an andere enthalten, passen vielleicht zum Wahlkampf. Dem Nachwuchs helfen sie
nicht.
Deutschland gehört zu den leistungsstärksten und
innovativsten Gesellschaften der Welt. Einen ganz wesentlichen Anteil daran haben Wissenschaft und Forschung. Damit dies so bleibt, braucht Deutschland
hervorragend ausgebildeten wissenschaftlichen Nachwuchs. Der kürzlich veröffentlichte Bundesbericht
Wissenschaftlicher Nachwuchs bestätigt, dass dies in
Deutschland grundsätzlich der Fall ist und dass der
wissenschaftliche Nachwuchs in Deutschland gute
Karriereperspektiven hat. Lassen Sie mich dies an einigen Beispielen darlegen:
Erstens. Das Qualifizierungssystem in Deutschland
zeichnet sich durch Offenheit und Vielfalt aus. Es ermöglicht Unterbrechungen und Wiedereinstiege.
Zweitens. Der ganz überwiegenden Mehrheit der
Promovierten gelingt nach der Promotion ein zügiger
Berufseinstieg. Im Alter von 35 bis 45 Jahren sind Promovierte in allen Fachgruppen nahezu vollständig erwerbstätig. Zudem erzielen sie ein überdurchschnittliches Einkommen. Im Bericht wird dies als Beleg für
die Anerkennung der Promotion auf dem Arbeitsmarkt
und ihre Attraktivität für viele berufliche Karrieren interpretiert.
Drittens. Die Situation von Frauen im Wissenschaftssystem hat sich signifikant verbessert. Zwischen
2000 und 2010 sind die Frauenanteile in allen untersuchten Stufen der wissenschaftlichen Qualifizierung
und Karriere gestiegen. Besonders hervorzuheben ist
der Gleichstellungsfortschritt bei den Juniorprofessuren. Das Geschlechterverhältnis von Frauen zu Männern lag dort 2010 bei 37 zu 63 Prozent und übertrifft
damit den Frauenanteil bei den Habilitationen,
25 Prozent, deutlich.
Viertens. Die zahlreichen Internationalisierungsmaßnahmen der Bundesregierung, des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander-vonZu Protokoll gegebene Reden
Humboldt-Stiftung im Bereich des wissenschaftlichen
Nachwuchses tragen Früchte. So konnte beispielsweise der Anteil von Ausländerinnen und Ausländern
an den Promotionen von 7,5 Prozent im Jahr 2000 auf
14,9 Prozent im Jahr 2010 nahezu verdoppelt werden.
Zu diesen positiven Entwicklungen tragen die Aktivitäten der Bundesregierung - die vielfach gemeinsam
mit den Ländern durchgeführt werden - ganz maßgeblich bei. Die großen Initiativen, die der Bund gemeinsam mit den Ländern finanziert, und hier insbesondere
die Exzellenzinitiative und der Pakt für Forschung und
Innovation, befördern strukturelle Veränderungen und
eröffnen die Chance, neue Qualifizierungsmöglichkeiten zu schaffen. Dazu gehören beispielsweise die Einrichtung von Nachwuchsgruppen, Juniorprofessuren
und Tenure-Track-Angeboten.
Darüber hinaus unterstützt der Bund den wissenschaftlichen Nachwuchs durch seine Programm- und
Projektförderung einschließlich der internationalen
Mobilität. Genannt seien hier beispielsweise das erfolgreiche Professorinnen-Programm, das von Bund
und Ländern Anfang 2013 verlängert wurde, die Finanzierung der Programme des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Alexander-vonHumboldt-Stiftung zur internationalen Qualifizierung
des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie der massive Ausbau der Begabtenförderung.
Der Bund trägt entschieden dazu bei, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen verstärkt Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs
übernehmen. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen hat sich auf Initiative des BMBF Ende 2011 zu ihrer Verantwortung für die Nachwuchsförderung bekannt, bessere Planbarkeit und Transparenz
wissenschaftlicher Karrierewege zu befördern. Zahlreiche außeruniversitäre Forschungseinrichtungen
und die Hochschulrektorenkonferenz haben inzwischen konkretisierende Empfehlungen für verbesserte
Arbeitsbedingungen und Karriereperspektiven verabschiedet bzw. haben die Beratung darüber aufgenommen.
Nicht zuletzt fördert die Bundesregierung die Datenerhebung und die Forschung zum wissenschaftlichen Nachwuchs. Dass dies essenziell ist, zeigt ein
ganzes Kapitel im Bericht, das sich den Daten- und
Forschungsdefiziten widmet. Zum ersten Mal hat ein
wissenschaftliches Konsortium den Bundesbericht
Wissenschaftlicher Nachwuchs als unabhängigen wissenschaftlichen Bericht erstellt. Hochschulen und
Hochschulpolitik in Bund und Ländern benötigen ein
solches unabhängiges, wissenschaftlich fundiertes
Monitoring. Dafür wurde mit dem Bericht der Grundstein gelegt.
Nach wie vor gibt es zentrale Herausforderungen,
vor denen die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Deutschland stehen und für die wir Lösungen finden müssen. Dies möchte ich an dieser Stelle
nicht verschweigen. Es gibt im Anschluss an die in der
Regel befristeten Qualifikationsstellen weiterhin so
gut wie keine regulären Positionen für selbstständig
forschende und lehrende Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler neben der Professur sowie kaum dauerhafte Funktionsstellen zum Beispiel im Bereich Forschungsmanagement und Personalentwicklung. Mit
der gewachsenen Zahl an Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern ist zudem kein
vergleichbarer Aufwuchs bei den Professuren einhergegangen. Außerdem ist ein Wechsel in Bereiche außerhalb der Wissenschaft in der ({0}) Post-docPhase offenbar nach wie vor schwer.
Der wissenschaftliche Nachwuchs braucht planbarere, verlässlichere und transparentere Karrierewege.
Gefordert sind hier in erster Linie die Hochschulen
und die Länder, die für die Personalstruktur an Hochschulen zuständig sind. Die Bundesregierung fordert
daher die Hochschulrektorenkonferenz auf, einen Orientierungsrahmen zu entwickeln, der mit Blick auf eine
funktionsdifferenzierte Personalstruktur Eckdaten für
Transparenz und Planbarkeit der Karrierewege setzt
und gleichwohl Spielraum für die Vielfalt der hochschulspezifischen Ansätze lässt. Außerdem fordert die
Bundesregierung die Länder auf, für eine angemessene Grundausstattung zu sorgen und zu überprüfen,
inwieweit das Verhältnis befristeter und unbefristeter
Stellen an den Hochschulen verändert werden muss
und Tenure-Track-Modelle weiter ausgebaut werden
sollten.
Die Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen müssen darüber hinaus dauerhafte Strukturen für Personalberatung und Personalentwicklung an den Hochschulen und außeruniversitären
Einrichtungen schaffen. Die Karriereplanung der
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ist genuine strategische Aufgabe der Leitungen dieser Einrichtungen. Die sollten auch die Länder als die für die Hochschulen Verantwortlichen
verstärkt einfordern.
Mit Blick auf den hohen Anteil befristet beschäftigter Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler an den Hochschulen schießen die
Oppositionsforderungen nach einer Änderung des
Wissenschaftszeitvertragsgesetzes über das Ziel hinaus. Starre Regeln würden nur zu Ausweichstrategien
der Hochschulen führen oder sogar Anstellungen verhindern. Außerdem ist die Befristung für die Qualifikationsphase hinsichtlich der Ausbildungsfunktion der
Hochschulen essenziell. Denn auch nachfolgende Generationen junger Menschen müssen die Möglichkeit
einer wissenschaftlichen Qualifizierung haben. Der
ausgebildete wissenschaftliche Nachwuchs rutscht
nach Ende des Vertrags nicht ins vermeintliche Prekariat ab.
Die Handhabung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes muss dennoch aus ureigenem Interesse der
Wissenschaft, um nämlich die Besten zu halten oder zu
gewinnen, verbessert werden. Aus Sicht der Bundesregierung sollten sich Vertragslaufzeiten in der QualifiZu Protokoll gegebene Reden
kationsphase an dem für eine wissenschaftliche Qualifizierung erforderlichen Zeitbedarf orientieren und
bei Befristungen wegen Drittmittelfinanzierung am
Zeitraum der Mittelbewilligung. Die Arbeitgeber des
wissenschaftlichen Personals sind aufgefordert, ihre
Personalverantwortung verantwortungsvoller wahrzunehmen. Im Zuge des vom BMBF initiierten Diskussionsprozesses in den Allianzorganisationen sind in der
Hochschulrektorenkonferenz und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen bereits Empfehlungen
für diesen Bereich erarbeitet worden, die jetzt umgesetzt und öffentlich nachvollziehbar dokumentiert werden müssen. Der Bund wird die Entwicklung nicht nur
weiter beobachten, sondern auch überprüfen, ob die
von den Hochschulen und Forschungseinrichtungen
ergriffenen Maßnahmen Wirkung entfalten.
In der Postdoc-Phase sind mehr Mobilität und größere Durchlässigkeit zwischen dem Arbeitgeber Wissenschaft und anderen Beschäftigungsfeldern erforderlich. Berufe außerhalb der Wissenschaft müssen
auch für Postdocs zur attraktiven Selbstverständlichkeit werden. Hier scheint ein Mentalitätswechsel notwendig: Eine Karriere außerhalb der Wissenschaft ist
keine Karriere zweiter Klasse. Dies gilt gerade in einer Zeit, in der die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse für Wirtschaft und Gesellschaft stetig zunimmt.
Nach wie vor wissen wir zu wenig über die Situation
des wissenschaftlichen Nachwuchses. Nach wie vor
wissen wir beispielsweise nicht zuverlässig, wie viel
Personen in Deutschland promovieren, wie viele
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler sich in der Postdoc-Phase befinden oder
wie die Karriereverläufe aussehen. Belastbare Informationen hierzu sind jedoch eine zentrale Voraussetzung für eine empirisch fundierte Steuerung der politischen Administration. Daher wird die Bundesregierung - in Abstimmung mit den Ländern und den Hochschulen - zügig eine breit gefächerte und kohärente
Datengewinnungs- und Forschungsstrategie entwickeln.
Wenn wir es schaffen, angesichts der Herausforderungen, vor denen junge Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler in Deutschland heute noch vielfach
stehen, zügig Verbesserungen herbeizuführen, werden
wir auch weiterhin im internationalen Wettbewerb hervorragend aufgestellt sein. Die Bundesregierung wird
ihren Beitrag dazu leisten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13670 an den Ausschuss für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 17/56 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler,
Markus Kurth, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Verbesserung der sozialen Situation von
Menschen, die ohne Aufenthaltsstatus in
Deutschland leben
- Drucksache 17/6167 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/13157 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Serkan Tören
Memet Kilic
Die Reden gehen zu Protokoll.
In den beiden uns heute vorliegenden Gesetzentwürfen der SPD-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht es im Wesentlichen darum, die
Meldepflichten öffentlicher Stellen gegenüber den
Ausländerbehörden gemäß § 87 Aufenthaltsgesetz einzuschränken und die humanitär motivierte Beihilfe
zum illegalen Aufenthalt straffrei zu stellen. Ferner
enthält der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen Regelungen zur Umsetzung der EU-Sanktionsrichtlinie.
Die Debatte, die wir zu diesen beiden Gesetzentwürfen heute in zweiter und dritter Lesung führen, ist
aufgrund der mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz
2011 bereits vorgenommenen Umsetzung inzwischen
weitgehend überholt.
So wurde die in § 59 Abs. Satz 2 Aufenthaltsgesetz
geregelte Ausreisefrist im Interesse der Opfer von
Menschenhandel und illegaler Beschäftigung auf mindestens drei Monate verlängert, um diesen Menschen
ausreichend Bedenk- und Stabilisierungszeit zu gewährleisten.
§ 62 a Abs. 4 Aufenthaltsgesetz wurde dahin gehend
präzisiert, dass Mitarbeitern von einschlägig tätigen
Hilfsorganisationen der Besuch von Abschiebungsgefangenen nun im Regelfall gestattet werden soll, unter
der Voraussetzung, dass der Gefangene dies wünscht.
Auf die bisherige Kannregelung wird verzichtet.
Was die Meldepflichten anbelangt, so wurden diese
ebenfalls bereits durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2011 eingeschränkt. Um Kindern den Besuch öffentlicher Schulen und Einrichtungen zu ermöglichen
und ihren Eltern die Furcht vor Entdeckung zu nehHelmut Brandt
men, wurden öffentliche Schulen von den bislang uneingeschränkt bestehenden aufenthaltsrechtlichen
Übermittlungspflichten gegenüber Ausländerbehörden
ausgenommen. Das ist auch gut und richtig so. Den
Nachteil, den Kinder besonders in frühen Jahren dadurch erleiden, monatelang nicht zur Schule gehen zu
können, holen sie später nie wieder auf. Diese Kinder
können aber gar nichts für die Situation ihrer Eltern.
Deshalb wollen wir diesen Kindern die gleichen Chancen einräumen wie anderen Kindern auch.
Für weitere Einschränkungen der Meldepflichten
sehe ich jedoch keine Veranlassung. Denn eines
möchte ich an dieser Stelle gerne einmal klarstellen:
Wir unterhalten uns hier über Menschen, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die Personen, um die es
hier geht, sind grundsätzlich allesamt ausreisepflichtig. Dieser Umstand bleibt meiner Meinung nach in
der Diskussion um die Einschränkung von Meldepflichten allzu häufig unbeachtet.
Ich räume gerne ein, dass die Situation der in
Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländer
ohne gültige Papiere für diese sehr schwierig und unbefriedigend ist. Richtig ist auch, dass auch sich in
Deutschland illegal aufhaltende Menschen das Recht
auf eine menschenwürdige Behandlung und damit einen Anspruch auf eine Mindestversorgung haben. Deshalb haben wir, wie eben bereits gesagt, die Schulen
von der Übermittlungspflicht ausgenommen. Deshalb
haben wir für den Ausnahmefall der Notfallbehandlung durch die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften
zum Aufenthaltsgesetz eine Verbesserung erreicht.
Wir sollten aber nicht vergessen, dass die meisten
Illegalen aus wirtschaftlichen Gründen hierherkommen. Auch sie haben einen Anspruch auf medizinische
Versorgung; das ist unumstritten. Deshalb kann sich
jeder - auch sich hier illegal aufhaltende Menschen bei einem Arzt behandeln lassen, und er muss dabei
keine Angst haben, entdeckt zu werden. Aber wenn es
sich nicht um einen Notfall handelt, muss er dies auf
eigene Rechnung tun. Ich finde das auch richtig so. Es
ist doch nicht die Aufgabe eines Sozialstaates, Illegalität zu unterstützen. Denn genau das wäre die Konsequenz Ihrer Vorschläge.
Die von Ihnen geforderte generelle Abschaffung der
Meldepflichten würde zu einer Art Parallelwelt führen,
in der diese Menschen zum Arzt gehen könnten, ohne
gemeldet zu sein, in der sie ihre Kinder zur Schule
schicken könnten, ohne gemeldet zu sein, und in der sie
arbeiten gehen könnten, ohne gemeldet zu sein. Ihr Leben würde sich im Grunde nur noch wenig von dem der
sich rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhaltenden
Ausländerinnen und Ausländern unterscheiden. Von
dem Pull-Effekt, den solch eine Regelung nach sich
ziehen würde, ganz zu schweigen, käme Ihre Forderung einer Art Legalisierung des Illegalen gleich und
das können wir in einem Rechtsstaat nicht dulden.
Denn das hieße, dass der Ehrliche der Dumme ist.
Das ist nicht nur ungerecht denen gegenüber, die einen Aufenthaltsstatus haben und mit Recht hier sind;
es würde vor allem die grundsätzlich vorhandene Integrationsbereitschaft unserer Bevölkerung überstrapazieren. Nicht zuletzt wäre es das völlig falsche Signal
gegenüber Menschen, die sich illegal aufhalten. Es
wäre das Signal „Ihr habt keinen gesetzlichen Anspruch zu bleiben, aber irgendwie wird es schon gehen.“ Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD und von Bündnis 90/Die Grünen: Es geht eben
nicht irgendwie. - Daran ist auch nichts inhuman, wie
es uns von Ihrer Seite aus immer wieder unterstellt
wird.
Als wir vor einigen Wochen einen starken Zustrom
von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien erlebt
haben, waren die Aufnahmelager in mehreren Bundesländern überfüllt und die zur Verfügung stehenden Kapazitäten erschöpft. Es waren gerade die SPD-geführten Kommunen, die Alarm geschlagen haben und
signalisiert haben, dass sie mit diesem Andrang überfordert seien. Vor dem Hintergrund der finanziellen
und wirtschaftlichen Probleme, insbesondere in den
südlichen Staaten Europas, und vor dem Hintergrund
einer Vielzahl an bewaffneten Konflikten auf dieser
Welt ist damit zu rechnen, dass die Anzahl an Flüchtlingen, darunter viele Wirtschaftsflüchtlinge, in den
nächsten Jahren eher noch zunehmen wird. Ich bin
deshalb überrascht, dass Sie in Ihren Anträgen und
Gesetzesentwürfen im Bereich der Ausländerpolitik
immer noch nach mehr schreien und damit das Signal
setzen: Kommt alle her; irgendwie schaffen wir das
schon. - Ihre Politik geht damit an politischen und gesellschaftlichen Realitäten vorbei.
Überdies finde ich sie inhuman. Denn wer sich unerlaubt in Deutschland aufhält, hat dieses Land zu verlassen. Mit diesem Grundsatz steht Deutschland keineswegs allein da, sondern dieses sich aus unserer
Verfassung ergebende Prinzip hat sich jedes Land auf
dieser Welt zu eigen gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, CDU/CSU und
FDP haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Erleichterungen und Verbesserungen für hier lebende
Ausländer erreicht. Wir haben zum Zwecke der Arbeitsaufnahme die Residenzpflicht gelockert. Wir haben ein ganzes Paket an Maßnahmen im Rahmen des
Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex umgesetzt. Mit ihren Vorstößen versuchen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen letztlich, einen im Arbeitsund Sozialrecht unerlaubten Aufenthalt materiell abzusichern und zu legalisieren. Das können und das
wollen wir nicht umsetzen.
In den vergangenen nunmehr rund 15 Jahren, in denen wir um die Verbesserung der humanitären Situation von Menschen ohne Papiere gerungen haben, hat
sich doch einiges getan. Immer schon ging es um drei
Zu Protokoll gegebene Reden
Problembereiche: die gesundheitliche Versorgung, die
Beschulung von Kindern von Menschen ohne Papiere
und die Einklagbarkeit von Lohn für Illegale - nach
Vorstellung von uns, von Bündnis 90/Die Grünen und
auch von der Fraktion Die Linke ohne befürchten zu
müssen, nach Inanspruchnahme dieser Rechte abgeschoben zu werden. In Teilbereichen dieser Forderungen waren auch die beiden anderen Fraktion, die
CDU/CSU-Fraktion und die FDP, unserer Ansicht.
Eine erste deutliche Verbesserung bei der medizinischen Versorgung Illegaler erfolgte im Juli 2009 durch
die Klarstellungen in den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz. Danach darf das
Sozialamt keine Daten weiterleiten, die den Mitarbeitern von sogenannten Geheimnisträgern übermittelt
worden sind, wie zum Beispiel Ärzten, Apothekern,
Hebammen und insbesondere auch den „berufsmäßig
tätigen Gehilfen dieser Berufsgruppen“ und „das mit
der Abrechnung befasste Verwaltungspersonal öffentlicher Krankenhäuser“. Wenn also ein Illegaler in einem Notfall direkt zum Krankenhaus geht und sich
dort behandeln lässt, so muss er nicht befürchten,
seine Daten würden an die Ordnungsbehörden weitergegeben.
In allen anderen Fällen außer einer Notbehandlung
muss ein Illegaler jedoch zum Sozialamt gehen und die
Leistung bzw. Behandlung vorher beantragen. Dann
erfährt der Sozialamtsmitarbeiter von der Papierlosigkeit nicht von einem Geheimnisträger und ist folglich
mitteilungspflichtig. Vorsorgeuntersuchungen oder die
Behandlung von chronisch kranken Illegalen finden
mithin häufig nicht statt. Dass kann jedoch nicht in unserem Interesse sein: einmal aus humanitären Gesichtspunkten, aber auch, weil bei einer nicht behandelten Krankheit die Gefahr besteht, dass sie sich zum
einem Notfall auswächst oder aber für die übrige Bevölkerung zu einem Gesundheitsrisiko wird. Hier wollen wir die Mitteilungspflichten weiter einschränken zum Wohle der Illegalen, aber auch zu unserem eigenen.
Auch im Bereich des Zugangs zu Bildung für die
Kinder von Illegalen hat sich erfreulicherweise etwas
seit unserer letzten Debatte hier im Bundestag getan.
Nunmehr sind Schulen sowie Bildungs- und Erziehungseinrichtungen von der Übermittlungspflicht ausgenommen, § 87 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz. Das ist ein
sehr guter Schritt gewesen.
Unverändert ist allerdings die Lage für Illegale in
Arbeitsverhältnissen, wenn sie um ihren Lohn geprellt
werden. Wie wir wissen, können sie ihren Lohn einklagen, und wie wir auch wissen, tun sie es nicht aus
Furcht davor, daraufhin das Land verlassen zu müssen; denn die Arbeitsrichter sind mitteilungspflichtig.
Damit wird Ausbeutung ermöglicht. Das wollen wir
nicht.
Unserer Ansicht nach ist dies auch nicht nur eine
Forderung von uns und den Kollegen und Kolleginnen
der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Linken, sondern auch eine europäische Vorgabe, die
die Richtlinie 2009/52/EG über „Mindeststandards für
Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die
Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt
beschäftigen“ macht. Leider hat es die Regierungskoalition im 2. Richtlinienumsetzungsgesetz versäumt,
für eine dementsprechende Umsetzung der genannten
Richtlinie zu sorgen. Aber Sie haben ja heute die Möglichkeit, dieses Versäumnis nun nachzuholen.
Schließlich besteht für Menschen, die aus rein humanitären Beweggründen Illegalen helfen, weiterhin
Unsicherheit darüber, ob sie sich strafbar machen
oder nicht. Zwar ist die qualifizierte Strafbarkeit für
diese Helfer schon 2007 aufgehoben worden, doch
über die allgemeinen Regeln der Strafbarkeit von Beihilfehandlungen können sie sich weiterhin strafbar
machen. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle,
dass es bislang nicht zu Verurteilungen gekommen ist.
Menschen, die Illegalen helfen und Zivilcourage zeigen, wollen wir ermutigen, nicht demotivieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
Fraktion und von der FDP, indem Sie eine Ausnahme
von der Übermittlungspflicht für Schulen und sonstige
Bildungseinrichtungen in das Aufenthaltsgesetz eingeführt haben, sind Sie unseren Änderungsanträgen gefolgt, was uns natürlich sehr gefreut hat. Mit dieser
Entscheidung haben Sie eine Abwägung zugunsten des
Rechts eines jeden Kindes und Jugendlichen auf Bildung getroffen. Sie haben diesem Recht Vorrang vor
dem Interesse des Staates an der Beendigung und Aufdeckung eines illegalen Aufenthalts in Deutschland
eingeräumt.
Noch einmal: Hier haben Sie sich ein gutes Stück in
unsere Richtung bewegt. Ich möchte Sie ermuntern,
sich heute nochmal ein Stück zu bewegen und dem
Recht eines jeden Menschen auf gesundheitliche Versorgung und dem Recht auf Einklagbarkeit des Lohns
für geleistete Arbeit Vorrang einzuräumen.
Die vorliegenden Anträge sind durchaus bizarr:
Der Antrag der Grünen wurde vor fast zwei Jahren,
der der SPD bereits zu Beginn dieser Legislaturperiode eingebracht, doch offenbar verloren die Antragsteller das Interesse, die Themen weiterzuverfolgen.
Jetzt holen SPD und Grüne ihre alten Hüte wieder hervor; der Wahlkampf steht bevor.
Ich habe bei der ersten Beratung des Grünen-Antrags hier im Hause im Jahre 2011 erklärt - diese Ausführungen sind nach wie vor aktuell und richtig -:
„Wir haben … am 7. Juli dieses Jahres die dem Gesetzentwurf zugrundeliegenden Fragen geklärt. Die
Richtlinienumsetzung ist bereits erfolgt.“ Warum die
Grünen nicht damals schon einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, sondern jetzt erst, ist rätselhaft.
Bereits im April wurden hier im Bundestag die Vorschläge der Koalition zur Umsetzung der Rückführungs- und der Sanktionsrichtlinie diskutiert. Die GrüZu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
nen haben den Termin verschlafen und wollen sich nun
mit einem verspäteten Aufguss alter Ideen als wach im
Bereich sozialer Rechte für Illegale präsentieren. Das
ist wenig überzeugend.
Wir haben bei der abschließenden Beratung des genannten Richtlinienumsetzungsgesetzes zu Recht festgestellt: Es ist ein humanitärer Fortschritt, wenn wir
die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen ändern, um den Schul- und Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten. Bildung
ist die Basis für gesellschaftliche Integration und persönlichen Erfolg. Die Koalitionsfraktionen haben sich
entschieden, auch die Stabilisierungszeit für Menschenhandelsopfer auf drei Monate auszudehnen. Wir
folgen damit einem dringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch der Polizei. Wir haben dafür gesorgt, dass Abschiebehäftlinge auf ihren Wunsch hin
von Nichtregierungsorganisationen besucht werden
dürfen.
Betonen möchte ich erneut, dass ausgerechnet
große Teile der Opposition den vorgenannten Änderungen des Gesetzentwurfs nicht zugestimmt haben.
Ausgerechnet diejenigen, die sich immer als Hüter des
Flüchtlingsrechts erachten, haben diesen wichtigen
und wegweisenden Verbesserungen nicht zugestimmt,
obwohl die SPD sogar bei der Verabschiedung der
Richtlinien auf europäischer Ebene noch beteiligt war.
Da kann ich nur sagen: Man sieht, dass Sie nur aus
taktischen Erwägungen handeln. Wenn es darum geht,
Verbesserungen für die Betroffenen zu schaffen, ducken Sie sich weg. Lieber gegen die Koalition stimmen,
bevor man Verbesserungen schafft. Das ist wirklich
nicht an der Sache orientiert! Aktionismus wie der vorliegende, verspätete Grünen-Gesetzentwurf täuscht
Handeln nur vor.
Allen Unkenrufen zum Trotz: Wir haben bei den erfolgreichen Verhandlungen innerhalb der Koalition
die für die Thematik wichtigen Weichenstellungen
längst vorgenommen; wir haben gehandelt. Das gilt
auch für den noch viel älteren Gesetzentwurf der SPD:
Wir haben die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen geändert, um den Schulund Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten, und die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Wir haben
einen echten humanitären Fortschritt erreicht, als wir
die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungspflichten öffentlicher Stellen reduziert haben. Bildung ist die Basis
für gesellschaftliche Integration und persönlichen Erfolg. Die SPD hatte vor uns elf Jahre in Regierungsverantwortung gestanden und nichts dergleichen getan. Diese Koalition kann wirklich stolz darauf sein,
dass sie substanzielle Verbesserungen gerade im humanitären Ausländerrecht erreicht hat.
Wir debattieren hier heute zwei Gesetzentwürfe, die
sich mit der Situation von Menschen befassen, deren
Aufenthalt durch das deutsche Aufenthaltsrecht illegalisiert wurde. Beide Gesetzentwürfe wollen die menschenrechtliche Lage von Menschen ohne Aufenthaltsstatus verbessern. Derzeit müssen diese Illegalisierten
bei vielen Kontakten mit Behörden damit rechnen, dass
ihr irregulärer Aufenthalt aufgedeckt wird und sie in
die Abschiebemaschinerie von Ausländerbehörden
und Bundespolizei geraten.
Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion setzt bei der
deutlichen Einschränkung der Meldepflichten im Aufenthaltsgesetz an. Bislang sind Mitarbeiter aller öffentlichen Stellen verpflichtet, Menschen ohne Aufenthaltsstatus an die Ausländerbehörden zu melden, wenn
sie in Ausübung ihrer Aufgaben Kenntnis von ihrem
Status erhalten. Lediglich Schulen und Kindertageseinrichtungen sind mittlerweile von dieser Pflicht ausgenommen worden. Aber bei Zugang zu Gesundheitsversorgung oder zu Arbeitsgerichten, um entgangenen
Lohn einzuklagen, greift die Meldepflicht weiter und
verhindert so die effektive Wahrnehmung von Menschenrechten. Deshalb begrüßen wir den Gesetzentwurf der SPD als einen Schritt in die richtige Richtung. Er will die Meldepflicht auf die Polizei- und
Ordnungsbehörden beschränken.
Allerdings übersieht der Gesetzentwurf der SPD dabei die weiter bestehenden Meldepflichten im Sozialrecht. Der Gesetzentwurf der Grünen will auch diese
abschaffen, und damit wäre tatsächlich ein Schritt getan, damit Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität die sozialen Menschenrechte auch ohne Angst
vor Aufdeckung und Abschiebung wahrnehmen können.
Leider beantwortet das noch nicht die Frage, wer
dann beispielsweise medizinische Behandlungen bezahlen soll. Die medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus ist aus menschenrechtlicher Perspektive sicherlich das drängendste Problem.
Aber wer keinen legalen Aufenthaltsstatus hat, der
kann auch keine Krankenversicherung abschließen,
weil auch hier die Meldepflicht greift. Modelle für eine
medizinische Versorgung von Illegalisierten, beispielsweise Fonds oder einen durch die Sozialämter ausgegebenen anonymisierten Krankenschein, gibt es bereits.
Dass die Bundesregierung an ihrer dogmatischen
Haltung festhält, den Aufenthalt von Menschen ohne
legalen Status allein aus ordnungspolitischer Perspektive betrachten zu wollen, ist uns schon lange bekannt.
Aber auch SPD und Grüne sind von dieser inhumanen
Sichtweise nicht frei; sie dokumentiert sich auch in den
vorliegenden Gesetzentwürfen. So heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs der SPD: „Die Durchsetzung der Ausreisepflicht dient der öffentlichen Ordnung.“ Angesichts beispielsweise der afrikanischen
Libyen-Flüchtlinge, die sich derzeit in Hamburg aufhalten und ebenfalls ausreisepflichtig sind, stellt sich
doch die Frage: Was ist das für eine öffentliche Ordnung, in der Menschen gezwungen werden, sich in absolut menschenunwürdige Lebensbedingungen zu beZu Protokoll gegebene Reden
geben? Hier fehlt leider jede kritische Reflexion über
die rechtlichen und politischen Bedingungen, unter
denen Menschen in Deutschland ausreisepflichtig werden. Der Gesetzentwurf der Grünen bleibt dieser ordnungspolitischen Perspektive im Umgang mit den Opfern von Menschenhandel und Arbeitsausbeutung
verhaftet: Sie sollen nur dann ein Aufenthaltsrecht erhalten, wenn ihre Aussagen strafrechtlich verwertbar
sind.
Trotz dieser Kritikpunkte wird die Linke den vorliegenden Anträgen zustimmen.
Heute stimmen wir über unseren Gesetzentwurf ab,
mit dem die Rechte von Menschen ohne Aufenthaltsstatus gestärkt werden sollen.
In Deutschland leben viele Menschen am Rande der
Gesellschaft, ohne ihre elementarsten Rechte wahrzunehmen. Diese Menschen sind nicht gewaltbereite Kriminelle, sondern Familienväter und -mütter, die in den
Hinterzimmern von Restaurants arbeiten, um ihre Familie über Wasser zu halten. Sie müssen ständig in
Angst leben, dass sie denunziert werden oder bei einer
einfachen Kontrolle ihre Identität nicht nachweisen
können. Aus Angst davor, abgeschoben zu werden, vermeiden Kranke den Kontakt mit Krankenhäusern. Eltern trauen sich nicht, ihre Kinder die Schule oder den
Kindergarten besuchen zu lassen. Und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehen sich häufig in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen gefangen. Das ist
nicht nur für die einzelnen Betroffenen unzumutbar,
sondern widerspricht auch unserem Rechtsstaat.
Unser Ziel muss es sein, allen in Deutschland lebenden Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die deutsche Rechtslage hindert Betroffene
daran, ihre gesetzlich garantierten sozialen Menschenrechte in Anspruch zu nehmen. Die Meldepflicht
aller öffentlichen Stellen gegenüber den Ausländerbehörden stellt dabei das größte Hindernis dar. Mit
unserem Gesetzentwurf wollen wir die Übermittlungspflichten daher auf die öffentlichen Stellen, die der Gefahrenabwehr und Strafrechtspflege dienen, beschränken. Dadurch soll insbesondere öffentlichen Stellen,
deren Kernaufgabe die Gewährung sozialer Rechte ist,
die Datenübermittlung untersagt werden. Denn die
Übermittlungspflicht steht der Erfüllung ihrer Aufgaben entgegen. Nur wenn die Menschen sicher sein können, dass die Ausländerbehörden über ihren Aufenthalt nicht informiert werden, werden sie sich an die
Leistungsträger wenden, um ihre Rechte wahrzunehmen. Die Übermittlungspflichten sind als Instrument
zur Migrationskontrolle ohnehin nicht geeignet.
Besonders wichtig ist es uns, die Situation für Kinder zu verbessern. Gerade Kinder in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität müssen die Chance haben, in
der Kita oder in der Schule ein Stück Normalität zu erleben.
Zwar hat die Bundesregierung in dieser Wahlperiode Schulen und Kindergärten von der Übermittlungspflicht nach § 87 Aufenthaltsgesetz ausgenommen. Das war ein Schritt in die richtige Richtung,
reicht aber bei weitem nicht aus. Der Schul- und Kindergartenbesuch ist dadurch nicht sichergestellt.
Unser Gesetzentwurf sieht daher weiter gehende Änderungen vor. Bislang sind statuslose Kinder von Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz ausgeschlossen. Durch den Ausschluss wird ihnen nicht
nur der Anspruch auf einen Kitaplatz verwehrt, sondern auch dessen Förderung. Wir wollen die Kinderund Jugendhilfe für Kinder in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität öffnen, damit die Kinder einen sicheren und bezahlbaren Kitaplatz erhalten.
Darüber hinaus sieht unser Gesetzentwurf aufenthaltsrechtliche Verbesserungen für Opfer von Menschenhandel und schwerer Arbeitsausbeutung vor. Im
Gegensatz zur Bundesregierung beschränken wir uns
nicht auf die strafrechtliche Verfolgung der Täter, sondern sorgen gleichzeitig für besseren Schutz der Opfer.
Diese oft traumatisierten Personen stehen unter vielfältigen Formen von Druck, Zwang und körperlicher,
sexueller sowie psychischer Gewalt. Sie benötigen ein
sicheres Aufenthaltsrecht, das es zulässt, Entschädigungs-, Schadensersatz- und Lohnansprüche geltend
zu machen, und zwar unabhängig von der Bereitschaft,
in einem Strafprozess auszusagen.
Schließlich herrscht unter helfenden Personen weiterhin Rechtsunsicherheit darüber, unter welchen
Umständen sie im Einzelnen Hilfe leisten dürfen. Insbesondere besteht bei Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften, Lehrerinnen und Lehrern und selbst bei Pfarrerinnen und Pfarrern und Seelsorgerinnen und
Seelsorgern, die Menschen ohne Aufenthaltsstatus unterstützen, erhebliche Unsicherheit darüber, ob sie
sich durch ihr Verhalten strafbar machen. Diesem Problem helfen wir durch eine gesetzliche Klarstellung ab.
Unsere Vorschläge stehen nicht im Widerspruch zu
der Pflicht des Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Dabei muss der
Staat aber die ihm durch die Grundrechte und Menschenrechte gesetzten Grenzen beachten. Der Gesetzentwurf definiert diese Grenzen und schafft einen Ausgleich zwischen dem ordnungspolitischen Interesse der
Migrationskontrolle und dem rechtsstaatlichen Interesse der Wirksamkeit von fundamentalen Rechten für
alle in Deutschland lebenden Menschen.
Wir werden dem Gesetzentwurf der SPD zustimmen,
weil er das gleiche Kernanliegen verfolgt. Beide Gesetzentwürfe sehen die Einschränkung der Übermittlungspflichten nach § 87 Aufenthaltsgesetz vor. Auch
stimmen wir in der Frage überein, dass humanitäre
Hilfe straflos sein muss und dies im Gesetz klargestellt
werden muss. Dennoch geht uns der Gesetzentwurf der
SPD nicht weit genug. Allein die Übermittlungspflichten nach dem Aufenthaltsgesetz einzuschränken, wird
die Situation für die Betroffenen nicht verbessern.
Denn vergleichbar abschreckende Regelungen finden
Zu Protokoll gegebene Reden
sich auch in anderen Gesetzen. Außerdem wird der Gesetzentwurf der SPD nicht dem besonderen Schutzbedürfnis von Kindern sowie von Opfern von Menschenhandel und schwerer Arbeitsausbeutung gerecht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13157, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/56 abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/13157 empfiehlt der Innenausschuss, den
Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/6167 abzulehnen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes
- Drucksache 17/13469 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 17/13766 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Dr. Stefan Ruppert
Jens Petermann
Jerzy Montag
Die Reden gehen zu Protokoll.
Nachdem wir die Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes in der vergangenen Woche in erster
Lesung debattiert haben, stehen schon heute die zweite
und dritte Lesung an. Anlässlich der ersten Lesung
habe ich für meine Fraktion die geplanten Änderungen
ausführlich dargestellt und begründet. Dem ist nichts
hinzuzufügen. Darauf möchte ich zunächst verweisen.
Änderungen am Gesetzentwurf hat es nicht gegeben.
Auch sonst gibt es nicht Neues. Von daher ist eine erneute Debatte eigentlich überflüssig.
Ich sehe mich aufgrund des Beitrags des Kollegen
Korte von der Fraktion Die Linke aus der ersten Lesung jedoch veranlasst, einige Bemerkungen zu seinen
Darlegungen zu machen. Herr Korte hat es für richtig
gehalten, der CDU/CSU Fraktion eine widersprüchliche Haltung, wörtlich „eine rasante Kehrtwende“, in
der Frage der Transparenz für die Akten des Bundesverfassungsgerichts vorzuwerfen. Er hat es weiter für
richtig gehalten, uns aufzufordern, „auch in anderen
Bereichen der Innen- und Rechtspolitik“ von den Konzepten und Positionen der Fraktion Die Linke zu lernen. Dazu sage ich Ihnen ganz klar: Wenn es jemanden
gibt, von dem wir in politischen Fragen keine Belehrungen entgegennehmen oder etwas lernen wollen,
dann ist das die Linke.
Es ist erstens falsch, dass der jetzige Gesetzentwurf
dem Konzept der Linken für den Zugang zu Akten des
Bundesverfassungsgerichts entspreche. Um nur einmal die beiden grundlegenden Unterschiede zu benennen:
Erstens. Wir sind, im Gegensatz zur Linken, nicht
für eine Regelung im Bundesarchivgesetz, sondern
wollen, der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend, eine eigenständige Regelung im Bundesverfassungsgerichtsgesetz.
Zweitens. Wir halten Sperrfristen von 30 bzw.
60 Jahren in Bezug auf Urteilsentwürfe, Beschlüsse
etc. für grundsätzlich angemessen und sind nicht dafür,
diese bereits nach 20 Jahren der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Gründe dafür habe ich anlässlich der ersten Lesung des Gesetzentwurfs erläutert.
Des Weiteren ist die Selbstbeweihräucherung des
Kollegen Korte aus der ersten Lesung des Gesetzentwurfs geradezu peinlich. Er hat dort allen Ernstes die
Auffassung vertreten, seine Partei habe bereits vor
mehr als 20 Jahren eine entscheidende Lehre aus der
Geschichte gezogen. Die Linke stehe „deshalb für
Transparenz“ und die „aus vordemokratischen Zeiten
stammende Politik der Intransparenz, die einzig dem
Machterhalt einer Minderheit diene, müsse überwunden werden.“ Selten so gelacht, kann ich da nur sagen.
Das ist eine Beschreibung aus dem sozialistischen
Märchenbuch.
Wer die tatsächliche Haltung der Linken in Sachen
Transparenz kennenlernen möchte, muss sich nur einmal den Bericht der Unabhängigen Kommission zur
Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der DDR, UKPV, vom 31. August
2006 anschauen. Nur einige Kostproben daraus: „Die
SED/PDS verfolgte eine Strategie der Vermögensverschleierung“, Seite 29. „Es handelt sich bei den Auslandsprozessen im Zusammenhang allein mit der früheren SED-Firma Novum um in Zürich in erster
Instanz noch anhängige zwei Zivilgerichtsverfahren,
deren Klagesummen sich, addiert, auf 237 Millionen
Euro - zuzüglich Zinsen - belaufen“, Seite 9. „Dies alles zusammengenommen bedeutet, dass es nach
menschlichem Ermessen weiterhin eine Dunkelziffer
an unentdecktem Parteivermögen geben dürfte“,
Seite 15. „Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die
PDS sich während der gesamten Arbeitsdauer der
UKPV insgesamt nur wenig kooperativ gezeigt hat.
Die Partei musste regelmäßig eher gezwungen werden,
als dass sie den gesetzlichen Verpflichtungen von sich
aus nachgekommen wäre.
In seinem Bericht vom 28. Mai 1998 hat der 2. Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages
festgestellt, dass die Haltung der SED/PDS „…von
Anfang an darauf gerichtet war, einen möglichst großen Teil der in der Zeit ihrer Herrschaft angeeigneten
Vermögenswerte für sich zu sichern“. Darüber hinaus
sei deutlich geworden, dass dem eine „…sorgfältig geplante Strategie der Partei zur ‚Abwehr von Angriffen
auf das Parteivermögen‘ ...“ zugrunde lag. „Man
kann den Eindruck haben, dass das Verhalten der PDS
gegenüber der UKPV nahezu durchgängig von stets
ebendiesen strategischen Zielsetzungen geprägt war“,
Seite 16.
Das zeigt mehr als deutlich, was die Linke unter
Transparenz versteht. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf trägt unsere Handschrift, und das ist gut so!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf beraten wir in
zweiter und dritter Lesung die Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. In diesem gemeinsamen
Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU
und der FDP wollen wir gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen für die zeitgeschichtliche Forschung
zu beiden deutschen Staaten schaffen.
Konkret geht es um die Einsichtnahme in Akten und
Entscheidungsvorschläge des Bundesverfassungsgerichts zu Forschungszwecken. Zwar war das Bundesverfassungsgericht weitgehend von personellen
Kontinuitäten mit der NS-Vergangenheit verschont geblieben, doch es besteht dennoch ein Forschungsbedarf. Der Forschungsbedarf beim Bundesverfassungsgericht besteht insbesondere darin, zu erforschen, wie
der Aufbau des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates erfolgen und sich das heutige Verfassungsverständnis entwickeln konnte.
Die Forschung benötigt den Zugang zu Akten und
Entscheidungsunterlagen der betroffenen Behörden,
Gerichte und Ministerien. Wir schaffen mit unserem
Gesetzentwurf die Rahmenbedingungen für eine unabhängige Einsichtnahme in die Unterlagen des Bundesverfassungsgerichts.
In einer demokratischen politischen Ordnung erhält
die politische Unabhängigkeit der Wissenschaften eine
besondere Brisanz, da wissenschaftliches Wissen eine
Grundvoraussetzung dafür ist, dass Bürger politische
Präferenzen ausbilden können, die ihre Interessen und
Werte auf angemessene Weise widerspiegeln.
Ich möchte mich nicht dahin gehend wiederholen,
was ich zum Gesetzentwurf in erster Lesung vorgetragen habe.
Entscheidend ist, dass wir künftig nicht nur in das
Archivgut des Bundesarchivs einsehen können, sondern auch in die Akten im Zwischenarchiv, natürlich
nach den bundesarchivgesetzlichen Regeln, und nach
den Sperrfristen von 30 bzw. 60 Jahren.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert eine
Überprüfung der 60-jährigen Geheimhaltungsfrist. Sie
fordert zu Recht nicht unmittelbar eine Verkürzung.
Die Diskussion ist mit Experten zu führen. Dem schließen wir uns gern an. Doch sollte zunächst dieser Gesetzentwurf in der noch laufenden Legislaturperiode
verabschiedet werden. Die Frage der angemessenen
Fristen kann mit der Novellierung des Bundesarchivgesetzes in der nächsten Legislaturperiode in diesem
Hohen Haus diskutiert werden.
Wir haben auch den hohen Rang des Beratungsgeheimnisses und dessen Schutzwürdigkeit in erster
Beratung betont. Die Forderung der Fraktion der Linken auf Verkürzung der 30-jährigen Frist auf 20 Jahre
muss demnach abgelehnt werden.
Die Gesetzesänderung ist gut für Wissenschaft und
Forschung, gut für die langfristige Sicherung der Gerichtsakten, ein Fortschritt für Bundesarchiv wie Bundesverfassungsgericht und ein starkes Signal an alle,
denen die qualifizierte Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland am Herzen
liegt. Ich begrüße es außerordentlich, die Änderung
des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes noch in dieser
Legislaturperiode zu beraten und zu verabschieden und lade alle Fraktionen ein, diesem Entwurf zuzustimmen.
Mit der Gesetzesänderung setzen wir Forderungen
um, die meine Fraktion im vergangenen November erhoben und dann in einer gemeinsamen Initiative mit
der Koalition beschlossen hat. Wir wollen zur weiteren
Aufarbeitung von personellen Kontinuitäten und Brüchen in Bundesministerien, -behörden und -gerichten
beitragen.
Denn noch immer bleibt in vielen Fällen unklar,
welchen Einfluss Personen, Netzwerke und Gedankengut aus der Zeit des Nationalsozialismus auf die Entwicklung bundesdeutscher Institutionen und deren
Entscheidungen hatten. Auch der Einfluss auf Institutionen in der DDR ist noch nicht ausreichend erforscht.
Zwar ist in den vergangenen Jahren viel geschehen.
Bundesministerien haben historische Kommissionen
eingesetzt, die immer wieder über aktuelle Ergebnisse
aus ihrer Arbeit berichten. Dabei werden aber auch
Forschungslücken sichtbar. Am Montag beispielsweise
legten Historiker im Bundesfinanzministerium erste
Forschungsergebnisse zum Reichsfinanzministerium
vor. Dieses war während der Zeit des NationalsozialisZu Protokoll gegebene Reden
mus maßgeblich an der Ausplünderung von Juden beteiligt. Die geplanten Untersuchungen werden 1945
enden und weiterreichende personelle Kontinuitäten
der Beamtenschaft nicht in den Blick nehmen.
Es bleibt also noch einiges zu tun. Um einen verlässlichen Überblick zu erhalten, folgte der Deutsche Bundestag vergangenen November dem Vorschlag meiner
Fraktion und beschloss, beim Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam eine Bestandsaufnahme
zu beauftragen, die den aktuellen Forschungsstand zu
Ministerien und Behörden dokumentiert und eine
Grundlage für weitere Untersuchungen bereitstellt.
Für gegenwärtige und zukünftige Forschungen ist es
unerlässlich, dass Wissenschaftler Zugang zu entsprechenden Akten erhalten. Hier sind zunächst die Bundesministerien und -behörden selbst gefragt. Grundsätzlich aber müssen die Praxis der Aktenabgabe an
das dafür zuständige Bundesarchiv und in Verbindung
damit der Aktenzugang für die Wissenschaft nachvollziehbar, einheitlich und nach allgemeingültigen Regeln
organisiert werden.
Dies gilt auch für die Bundesgerichte. Gerade die
Möglichkeiten der Einsicht in deren Akten müssen sich
verbessern. Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute diskutieren, ist ein erster Schritt getan.
Dass es das Bundesverfassungsgericht ist, bei dem
diese Initiative ansetzt, ist kein Zufall. Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinen Entscheidungen die
Verfassungswirklichkeit und das Verfassungsverständnis im Deutschland der Nachkriegszeit maßgeblich geprägt. Es ist deshalb auch für die historische Forschung von besonderer Relevanz.
Der Gesetzentwurf entstand nicht gegen den Willen,
sondern gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht. Ich denke, das ist ein weiterer Punkt, der für den
Entwurf spricht. Konkret regelt er die Schutzfristen für
den Aktenzugang zu den Gerichtsakten des Bundesverfassungsgerichtes. Er legt also die Rahmenbedingungen für die Einsichtnahme durch Wissenschaft und
Forschung fest und - dies ist von großer Bedeutung findet einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den
berechtigten Interessen des Bundesarchivs auf der einen Seite und der Schutzwürdigkeit des Beratungsgeheimnisses des Bundesverfassungsgerichts auf der anderen Seite.
Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz nimmt Regelungen des Bundesarchivgesetzes auf und verknüpft
diese Gesetze. Dafür regelt nicht das Bundesarchivgesetz, sondern das Bundesverfassungsgerichtsgesetz
den Umgang mit den Akten. Dies ist angesichts der herausragenden Stellung des Bundesverfassungsgerichtes als eines der obersten Verfassungsorgane für uns
akzeptabel.
Zwar wäre es schöner gewesen, wenn das Bundesarchivgesetz bereits in dieser Legislaturperiode geändert worden wäre, sodass es auch für das Bundesverfassungsgericht verbindliche Neuregelungen
geschaffen hätte. Dies ist aber nicht erfolgt. An meiner
Fraktion lag das nicht. Der Kulturstaatsminister hat
dieses Thema auf die lange Bank geschoben - bis es zu
spät war.
Der Gesetzentwurf ist dennoch ein wirklicher Fortschritt und wird hoffentlich Signalwirkung entfalten.
Ich würde mich freuen, wenn andere Bundesgerichte
dem Beispiel des Bundesverfassungsgerichtes folgten.
Das Vertrauen der Bürger in ihre Staatsorgane ist
für unser Gemeinwesen, für unsere Demokratie unerlässlich. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte von Ministerien, Behörden und Bundesgerichten trägt dazu bei. Der Gesetzentwurf verbessert
die Rahmenbedingungen für diese Auseinandersetzung. Deshalb stimmt meine Fraktion ihm zu.
Wir schließen am heutigen Tag ein Gesetzgebungsverfahren im Bundestag ab, das mir als Liberaler, aber
vor allem auch als Wissenschaftler und Rechtshistoriker ein besonderes Anliegen war. Wir verbessern mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf den Zugang zu den
Akten des Bundesverfassungsgerichts. Bisher konnten
Wissenschaftler nur sehr eingeschränkt Quellen aus
dem höchsten Verfassungsgericht einsehen. Diese unbefriedigende Rechtslage werden wir nun beenden. Damit werden wir unserem liberalen Forschungsansatz
- der Staat soll Forschung fördern und ermöglichen,
nicht aber selbst beauftragen - gerecht. Zukünftig haben nicht nur staatlich einberufene Historikerkommissionen, die zweifellos eine wichtige Bedeutung in der
Aufarbeitung der Geschichte verschiedener Behörden,
Ministerien und Gerichte haben, einen freien Aktenzugang. Mit unserer Reform schaffen wir neue Möglichkeiten für alle Wissenschaftler - ganz gleich ob
etablierter Professor, fleißiger Doktorand oder motivierter Hauptseminarstudent. Über diese breite Forschungsfreiheit freue ich mich besonders.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik entscheidend geprägt.
Eine umfassende und differenzierte historische Aufarbeitung dieser herausragenden Rolle war bisher ein
Forschungsdesiderat. Dies haben unter anderem der
Deutsche Rechtshistorikertag oder Experten wie der
Frankfurter Rechtshistoriker Michael Stolleis bestätigt. Wir haben nun die Weichen gestellt, dass dieser
Forschungsbedarf zukünftig bedient werden kann. Dabei ist uns eine Lösung gelungen, die eine sehr gute
Balance zwischen dem Beratungsgeheimnis des Karlsruher Gerichts einerseits und dem Forschungsinteresse der wissenschaftlichen Gemeinschaft andererseits schafft. Dass wir die SPD und zum Schluss auch
die Grünen von dieser Lösung überzeugen konnten,
begrüße ich ausdrücklich.
Ich danke allen Beteiligten im Bundestag und natürlich ebenso den Vertretern des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere dem Vizepräsidenten Ferdinand
Kirchhof und dem Bundesverfassungsrichter Wilhelm
Zu Protokoll gegebene Reden
Schluckebier, für das sehr konstruktive Verfahren. Mit
diesem sehr sachlichen und ergebnisorientierten Politikansatz sollten wir in der nächsten Wahlperiode auch
gemeinsam die noch vor uns liegende Reform des Bundesarchivgesetzes angehen.
Die Rolle und Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für die Demokratie in Deutschland ist unstrittig
und allen hier im Hause bewusst. Das Verfassungsgericht gehört zu den staatlichen Organen mit dem
höchsten Ansehen in der Bevölkerung, seine Entscheidungen sind in vielen Fällen wegweisend für politische
Debatten im Land gewesen.
Die Chefin des Allensbach-Instituts, Renate Köcher,
veröffentlichte im letzten Jahr einen Artikel in der
„FAZ“, in dem sie das hohe Ansehen des Gerichts und
seine enorme politische Rolle für die Bundesrepublik
beschrieb, „FAZ“ vom 21. August 2012. Entscheidungen zu Hartz IV, zum Wahlrecht, zur Frage der Datenüberwachung, zu Kriegseinsätzen der Bundeswehr
oder zur Euro-Rettungspolitik zeigen die große politische Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts.
Transparenz und Offenheit sind die Voraussetzungen
für diese hohe Akzeptanz des Bundesverfassungsgerichts. Diese Transparenz und Offenheit müssen auch
für die Akten des Gerichts gelten, sind sie doch eine
wichtige Quelle zeitgeschichtlicher Forschung und
journalistischer Recherche in der Bundesrepublik und
damit die Grundlage für das Verständnis so mancher
richtungsweisender Entscheidung.
Die Linke hat bereits zu Beginn der Legislaturperiode einen Antrag mit dem Titel „Akteneinsichtsrechte Dritter in die Verfahrensakten des Bundesverfassungsgericht stärken“, Drucksache 17/4037,
vorgelegt. Nachdem die Koalitionsfraktionen unser
Ansinnen damals noch als völlig untragbar kennzeichneten und damit den leider üblichen Reflexen bei noch
so sachlich begründeten Anträgen der Linken unterlagen, haben sie sich zum Ende der Legislatur - leider
nur in Ansätzen - eines Besseren belehren lassen und
sind den richtigen Forderungen der Linken entgegengekommen. Dabei sind sie aber auf halbem Wege stehen geblieben und werden mit ihrem Gesetzentwurf
den Forderungen einer modernen Wissens- und Informationsgesellschaft nicht gerecht.
Wo liegen unsere Differenzen? Während Koalition
und SPD eine Frist von 30 Jahren für die Einsichtnahme in die Akten des Bundesverfassungsgerichts
vorsehen und für die Entscheidungsvorschläge, -Voten
und -entwürfe sogar 60 Jahre Frist festschreiben wollen, will die Linke eine generelle Einsichtnahme nach
20 Jahren ermöglichen. Übrigens wollen wir diese
Verkürzung generell, also auch für die Akten des Bundesarchivs.
Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum die
Dokumente solange unter Verschluss bleiben sollen.
Gerade vor dem Hintergrund einer immer rasanteren
Entwicklung der Informationsgesellschaft, in der die
Dauer und Relevanz von Entscheidungsprozessen und
den ihr zugrundeliegenden Motiven einer ständigen
Überprüfung unterworfen sind, wäre eine zügige
Offenlegung solcher Entscheidungsprozesse von großer Bedeutung. 20 Jahre sind unserer Ansicht nach
eine ausreichend lange, aber auch eine vertretbar
kurze Frist, um die Akten des Bundesverfassungsgerichts zugänglich zu machen. Eine solche 20-JahresFrist ändert nichts an der Unabhängigkeit des
Gerichts. Andere nachvollziehbare Interessen für eine
30- bis 60-jährige Geheimhaltung sind ebenfalls nicht
erkennbar.
Das Bundesarchivgesetz, das nun auch für die Bundesverfassungsgerichtsakten zur Geltung kommen
soll, enthält eine Vielzahl von Ermessensvorschriften,
die zu Einschränkungen der Einsichtnahme führen
können, die wir nicht wollen. Insbesondere vor dem
Hintergrund, dass ein Rechtsschutz bei Versagung der
Einsicht nicht ausdrücklich geregelt ist, erscheint uns
dies problematisch. Aus diesem Grund sollten die Ermessensvorschriften des Bundesarchivgesetzes insgesamt durch Mussvorschriften ersetzt werden.
Zudem sollte ein Rechtsschutz ausdrücklich geregelt werden. Denn nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom Juli 2009 ist der Verwaltungsrechtsweg nicht eröffnet, da es sich bei der
ablehnenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Akteneinsicht Dritter „um rechtsprechende
Tätigkeit“ handele. Dieses Urteil ist zwar nicht nachvollziehbar, da die Entscheidung über die Gewährung
von Akteneinsicht und -auskunft offensichtlich nicht
spruchrichterliche Tätigkeit, sondern materiell-rechtlich der vollziehenden Gewalt zuzurechnen ist, mithin
die Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes gewährleistet werden muss. Da das Urteil
aber in der Welt ist, wäre die Klärung der Frage des
Rechtsschutzes durch ausdrückliche Regelung im Bundesverfassungsgericht - welche auch den Antragsgegner benennt - sinnvoll gewesen.
Aus Sicht der Linken enthält die vorgelegte Gesetzesinitiative zu viele Mängel, Beschränkungen und Inkonsistenzen, als dass wir ihr zustimmen könnten. Aber
immerhin, sie haben sich, wenn auch spät, in die richtige Richtung bewegt. Die Linke steht für Offenheit,
Transparenz und Bürgerrechte. Der vorliegende Gesetzentwurf geht einen zu kleinen Schritt in diese Richtung.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine zentrale
Stellung in unserem Rechtssystem. Es ist Hüter der
Verfassung. Viele der für das Gemeinwesen wichtigen
Kontroversen finden auch vor dem Verfassungsgericht
einen Austrag. Die Entscheidungen des Gerichts haben eine große Verbindlichkeit, nicht zuletzt für den
Gesetzgeber, wie aus vielen BVG-Urteilen ersichtlich.
Die Arbeit eines Gerichts mit einer so hohen auch
zeitgeschichtlichen Relevanz sollte keine Blackbox
Zu Protokoll gegebene Reden
Claudia Roth ({0})
sein, sondern verstärkt Gegenstand von wissenschaft-
licher Forschung und Debatte. An einer solchen For-
schung haben wir alle ein Interesse, denn sie dient der
Selbstvergewisserung im demokratischen Rechtsstaat,
macht wichtige Stränge der Rechtsentwicklung nach-
vollziehbar und zeigt Recht als Prozess in juristischen,
sozialen und politischen Kontexten.
Wir wollen eine solche Forschung unterstützen und
ihr einen besseren und schnelleren Zugang zu ent-
scheidungsrelevanten Unterlagen ermöglichen. Das
Verfassungsgericht selbst hat für seine Akten eine
Sperrfrist von 90 Jahren vorgeschlagen. Akten zu Ur-
teilen des Jahres 2013 könnten so erst im Jahr 2103
eingesehen werden. Und Akten zu den frühen Jahren
des Gerichts würden überhaupt erst ab 2039 sukzessiv
zugänglich. Das ist viel zu spät, was auch der deutsche
Rechtshistorikertag 2010 in einer Resolution kritisiert
hat. Nach so vielen Jahren ist mit einem deutlich ab-
nehmenden zeitgeschichtlichen Interesse zu rechnen.
Und es wäre auch eine Sonderregelung, denn üblich
sind Sperrfristen von 30 respektive 60 Jahren.
Der vorliegende Gesetzentwurf greift die berech-
tigte Kritik der Geschichtswissenschaftler auf. Wir un-
terstützen auch den Entwurf. Er ist ein Schritt in die
richtige Richtung, hin zu einem schnelleren Aktenzu-
gang. Wobei auch eine Sperrfrist von bis zu 60 Jahren
noch sehr lange ist - auch angesichts der beschleunig-
ten gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der wir leben. Es
wäre deshalb zu prüfen, ob nicht ein schnellerer Zu-
gang sinnvoll und möglich ist.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/13766, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 17/13469 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zwei-
ter Beratung bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist in dritter Beratung mit gleichem Stimmenverhältnis
angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Michael Hartmann
({1}), Sören Bartol, Sabine BätzingLichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Mehr Transparenz beim Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung - Bericht des
Bundesrechnungshofes vollständig umsetzen
- Drucksachen 17/5230, 17/13314 Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster ({2})
Michael Hartmann ({3})
Manuel Höferlin
Dr. Konstantin von Notz
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Eva
Högl, Michael Hartmann ({5}),
Christian Lange ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Interessenvertretung sinnvoll regeln - Lobbyismus transparent machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({7}), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Transparenz schaffen - Verbindliches Register für Lobbyistinnen und Lobbyisten
einführen
- Drucksachen 17/6442, 17/2096, 17/2486,
17/13737 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Christian Lange ({8})
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({9})
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen.
Über die heute zur Debatte stehenden Oppositionsanträge zur Einführung eines Lobbyistenregisters
haben wir an dieser Stelle bereits am 10. April 2011
debattiert und jetzt noch einmal im Geschäftsordnungsausschuss intensiv diskutiert. Den Einfluss auf
Abgeordnete durch Interessenvertreter werden Sie mit
noch so einem detaillierten Lobbyistenregister nicht
verhindern. Sie schüren mit Ihren Anträgen lediglich
ein Klima des Misstrauens gegen unabhängige Abgeordnete. Offenbar haben Sie Zweifel an der grundgesetzlich garantierten Unabhängigkeit des Abgeordneten in Ihren eigenen Fraktionen. Meinen Sie
tatsächlich, die Unabhängigkeit Ihrer Entscheidungen
nur mithilfe eines so bürokratischen Monstrums wie einem verpflichtenden Lobbyistenregister glaubhaft machen zu können? Damit stellen Sie Ihrer persönlichen
und politischen Integrität doch ein Armutszeugnis aus.
Ihre Anträge sind doch vollkommen praxisfremd.
Die Grünen behaupten in ihrem Antrag, die Durchsetzung von Interessen gehe mit illegitimen Vorteilen
oder Geldzahlungen einher. Korruption, Klüngelwirtschaft und undurchsichtige Mauscheleien beschädigten die demokratischen Institutionen und zerstörten
das Vertrauen in die Politik. Beispiele dafür bleiben
Sie schuldig. Die Linken behaupten apodiktisch, die
Interessen der ökonomisch stärkeren Interessen der
Wirtschaftslobbyisten würden sich gegen die Gewerkschaften durchsetzen.
Die Oppositionsfraktionen wollen, dass über das
bisherige Verbänderegister des Bundestages hinaus
eine Vielzahl weiterer Daten aufgenommen werden,
unter anderem Auftraggeber von Lobbyisten sowie
verpflichtende Angaben zur Finanzierung der Interessenvertretung. Ich habe erhebliche Zweifel, wie hier
noch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
und die berechtigten Interessen an der Vertraulichkeit
von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen gewahrt
werden können.
Ein solches verpflichtendes Lobbyistenregister
würde in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung eingreifen, demzufolge der Betroffene
grundsätzlich selbst entscheiden kann, ob, wann und
wie persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden.
Das sollte eigentlich gerade die Grünen beunruhigen,
die doch bei jeder sich bietenden Gelegenheit behaupten, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung würde außer Kraft gesetzt.
Das in Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz enthaltene
Grundrecht der Berufsfreiheit bezieht in seinen Schutz
auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse ein. Dazu
gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts alle auf ein Unternehmen bezogenen
Tatsachen, Umstände und Vorgänge, die nicht offenkundig, sondern nur einem begrenzten Personenkreis
zugänglich sind und an deren Nichtverbreitung der
Rechtsträger ein berechtigtes Interesse hat. Es wäre
daher verfassungsrechtlich sehr problematisch, von
Unternehmen die Offenlegung von Unternehmensinterna, wie finanzielle Aufwendungen und Angaben zu
geschäftlichen Kontakten, zu verlangen.
Darüber hinaus folgt aus dem Grundrecht der
Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz, dass
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände das Recht
haben, im gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die organisierten Gruppeninteressen gegenüber dem Staat und den politischen Parteien
darzustellen und zu verfolgen; dies ist die ständige
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Diese Tätigkeit ist durch Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz also in ganz
besonderer Weise grundrechtlich geschützt. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände dürften daher nicht
in ein mit Registrierungs- und Offenbarungspflichten
verbindliches Lobbyistenregister einbezogen werden.
Ein über das bereits jetzt eingeführte Verbänderegister
im Bundestag hinausgehendes verpflichtendes Lobbyistenregister wirft also erhebliche verfassungsrechtliche Fragen auf, die in Ihren Anträgen völlig außer
Acht gelassen werden.
Die politische Einflussnahme von Interessenvertretern ist legitim und Bestandteil des politischen Entscheidungsprozesses. Es gehört zur Demokratie, Position zu beziehen und sich Mehrheiten zu suchen.
Natürlich müssen diese Entscheidungen transparent
und nachvollziehbar sein. Das wird durch die parlamentarischen Entscheidungsabläufe gewährleistet. Es
fällt auf, dass gerade die größten Verfechter eines weiter gehenden Lobbyistenregisters sich nicht einmal ansatzweise mit den parlamentarischen Entscheidungsabläufen auseinandersetzen, die ja eine Vielzahl
unterschiedlichster Beteiligter einbeziehen und damit
für Transparenz sorgen.
Fraktionen, Parlament und Fachausschüsse, öffentliche Anhörungen, Beiräte, Sachverständige sowie unterschiedlichste - auch gegensätzliche - Interessenvertreter bis hin zum Bundesrat und dem
Vermittlungsausschuss wirken an den politischen Entscheidungen mit. Ein Viertel der Mitglieder eines federführenden Ausschusses kann im Bundestag die Anhörung zu einer Gesetzesvorlage verlangen. Die
Fraktionen können für diese Anhörung Sachverständige benennen. Die Anhörungen sind öffentlich und
werden im Internetfernsehen des Bundestages übertragen. An öffentlicher und kontroverser Debatte gibt es
also keinen Mangel. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren von der Einbringung des Gesetzentwurfs über
die Plenardebatte und die Beschlussempfehlung des
Ausschusses sind auf der Internetseite des Bundestages ständig abrufbar. Jedes Gesetzgebungsverfahren
unterliegt darüber hinaus einer allgegenwärtigen medialen Kontrolle. Es gibt also keine Transparenz- und
Informationsdefizite; den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts, dass der gesamte parlamentarische
Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar
ist, wird umfassend Rechnung getragen.
Politische Entscheidungen bestehen fast immer aus
Kompromissen unterschiedlicher Interessen. Es ist
wohlfeil, die Entscheidung anschließend unter Lobbyismusverdacht zu stellen, weil man sich damit sehr
leicht der sachlichen politischen Auseinandersetzung
entziehen kann. Tatsächlich tragen wir als Parlamentarier für alle von uns beschlossenen Gesetze die Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
und müssen ihnen dafür in vielfacher Weise Rechenschaft im Wahlkreis und im Parlament ablegen. Ein
Lobbyistenregister kann uns diese Verantwortung
nicht abnehmen. Die Anträge der Opposition werden
wir daher ablehnen.
Ich bin seit dreieinhalb Jahren im Deutschen Bundestag, bin 52 Jahre alt und war vorher kein Politiker;
ich bin also in der ersten Periode ein Externer - oder
sogar ein Lobbyist? Denn: Ich vertrete Interessen, ich
Zu Protokoll gegebene Reden
Armin Schuster ({0})
habe Fachwissen, und ich gestalte Politik. Das alles
sind jedenfalls typische Merkmale von Lobbyisten.
Als ehemaliger Bundespolizist oder als Qualitätsmanager bin ich zu meinem beruflichen Glück seit
Jahren Fachmann und Interessenvertreter zugleich.
Ich bin aus eigener Erfahrung noch nahe dran an den
Themen, für die ich im Innenausschuss auch fachpolitisch Verantwortung habe und empfinde.
Das mag mancher vielleicht seltsam finden oder sogar kritisieren. Aber Fachwissen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, vor allem von der Opposition,
hat noch niemandem geschadet. Wenn ich Nichtpolitikern davon berichte, dass der eine oder andere hier
findet, ich sei zu nah dran, zu sehr selbst betroffen,
ernte ich nur Unverständnis.
Wir alle sind Interessenvertreter, ob fachlich, parteipolitisch, regional oder ideologisch, und viele von
uns sind Experten. Sie haben sich - hoffentlich - Wissen und Kenntnisse erworben in Ihrem Leben vor der
Politik, Sie haben Erfahrungen gesammelt, und Sie haben sich eine Meinung zu vielen Themen gebildet. Das
ist in einer repräsentativen Demokratie richtig und gut
so, ja unverzichtbar.
Expertenwissen sammelt man in der Wirklichkeit.
Es entsteht vor allem durch eigene Erfahrungen und
durch spezielle Ausbildungen. Deshalb werden wir in
der Exekutive wie in der gesetzgebenden Gewalt immer auf Fachleute aus dieser Wirklichkeit angewiesen
sein. Und darum sage ich ganz klar und deutlich: Wir
brauchen die Unterstützung von Externen in Bundesbehörden!
Und genau aus diesen Gründen lehne ich eine Stigmatisierung von externen Fachleuten in Ministerien
und anderen oberen Bundesbehörden ab. Ich sehe keinen Nutzen darin, diese Experten in öffentlich zugänglichen Berichten praktisch an den Pranger zu stellen.
Ich erkenne auch keinen Mehrwert darin, dem Bundesministerium des Innern weitere Berichtspflichten aufzuerlegen.
Die derzeitige Praxis ist gut, sie ist transparent und
schützt zugleich die Betroffenen. Seit 2008 gibt es die
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Einsatz von außerhalb des öffentlichen Dienstes Beschäftigten. Dazu
gehört auch, dass solche Externen nicht an der Formulierung von Gesetzentwürfen und anderen Rechtssetzungsakten beteiligt werden dürfen. Das Auswahlverfahren ist transparent zu gestalten, der Einsatz soll
nicht länger als sechs Monate dauern. Die Empfehlungen des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2007
wurden mit der Verwaltungsvorschrift 2008 konsequent umgesetzt; diese Praxis hat sich bewährt.
Der nun schon neunte Bericht über den Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung bringt uns
folgende Erkenntnisse: Die bloße Zahl von solchen Externen in den obersten Bundesbehörden ist sehr niedrig. Wir reden von gerade einmal 48 Personen; die
meisten von ihnen kommen aus bundesnahen Einrichtungen, nur in acht Fällen kommen sie aus der Wirtschaft bzw. einem Wirtschaftsverband. Das ist dann
wirklich nicht zu viel. Die vier sogenannten Altfälle,
die im Bericht beschrieben werden, sind aus meiner
Sicht eine zu vernachlässigende Größe, zumal in jedem
Fall sehr gut und nachvollziehbar begründet wurde,
warum diese Personen mehr als sechs Monate eingesetzt worden sind. Bereits jetzt dürfen Externe nicht an
der Formulierung von Gesetzentwürfen und anderen
Rechtssetzungsakten beteiligt werden.
Ich bedauere es sehr, dass interessierte politische
Kreise in Deutschland gerne zwischen „guten“ und
„bösen“ Interessenvertretern unterscheiden und damit
Vorurteile in der Öffentlichkeit schüren. So ist es offensichtlich gut und richtig, wenn in einem Ministerium
ein Mitarbeiter eines großen Umweltverbandes arbeitet, aber es ist schlecht und korrupt, wenn externe
Wirtschaftsvertreter das Wirtschaftsministerium unterstützen. Eine der erfolgreichsten Wirtschaftsnationen
der Welt darf also nach Ansicht der SPD keine wirtschaftsnahen Experten um Rat fragen. Dagegen ist das
Engagement von Umweltaktivisten zu begrüßen? Das
kann nicht sein. Genauso wenig kann es sein, dass
ganz bestimmte Lehrer als Gemeinschaftsschul-ChefLobbyisten im SPD-Bildungsministerium Baden-Württemberg plötzlich Karriere machen oder sogenannte
Parkschützer im Stuttgarter Grünen-Verkehrsministerium eine Hotline zu Stuttgart21 betreuen. Welche
scheinheilige Doppelmoral, meine Damen und Herren
von Rot-Grün! Da machen wir nicht mit.
Ich habe in den dreieinhalb Jahren als Abgeordneter viel gelernt. Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse
ist: Interessenvertretung, Expertenwissen und Lobbyismus gehören zu den wertvollsten Instrumenten unserer repräsentativen, pluralistischen Demokratie.
Auch ich weiß: Parlamentarische Mühlen mahlen
manchmal langsam. Ich habe die Hoffnung noch nicht
aufgegeben, dass wir als selbstbewusste Parlamentarier aller Fraktionen in der Frage externer Beschäftigter in den Ministerien am Ende an einem Strang ziehen
werden. Ich kenne jedenfalls keine Kollegin und keinen
Kollegen, der oder dem es egal ist, wer an Gesetzentwürfen mitarbeitet. Genau das ist der Kern unseres
Antrags. Ich möchte als Parlamentarier wissen, wer
an einem Gesetz mitgewirkt hat, über das ich hier im
Hohen Hause abzustimmen habe, und ob dabei die
Neutralität des Verwaltungshandelns noch gewährleistet ist. Wir wollen mit unserem Antrag eben nicht die
legitime Interessensvertretung verbieten, sondern die
versteckte Einflussnahme offenlegen. Deshalb fordern
wir, zukünftig im Vorblatt eines jeden Gesetzentwurfs
aufzulisten, ob und in welcher Zuständigkeit externe
Mitarbeiter an der Entstehung eines Gesetzes beteiligt
waren. Nur so besteht die Möglichkeit, die seit Jahren
offenkundigen Missstände abzuschaffen und vermeidbaren Schaden zu verhindern. Nur Transparenz schützt
vor ungewollter Einflussnahme und schafft den nötiZu Protokoll gegebene Reden
Michael Hartmann ({0})
gen Rahmen, um die Risiken des Missbrauchs zu minimieren.
Ich möchte aber bei dieser Gelegenheit auch ausdrücklich anerkennen, dass durch den Druck der kritischen Öffentlichkeit und unsere parlamentarischen
Aktivitäten bereits viel geschehen ist: Die Zahl der externen Mitarbeiter in den Ministerien ist seither gesunken, die Vertreter aus der Wirtschaft und den Wirtschaftsverbänden bilden nur noch eine kleine Gruppe,
und viele der sogenannten Altfälle wurden beendet.
Dennoch stellen mich die bisherigen Ergebnisse
nicht zufrieden. Auch in dem inzwischen vorliegenden
Zehnten Bericht zum Einsatz externer Personen in der
Bundesverwaltung hält sich die Bundesregierung nicht
an ihre selbst aufgestellten Spielregeln. Schon lange
kritisiere ich die viel zu laxen Regeln. Wenn aber nicht
einmal diese viel zu lockeren Regeln eingehalten werden, zeigt dies, wie ernst es der Bundesregierung mit
der vielgepriesenen Transparenz ist.
Ich möchte Ihnen daher heute gern detailliert die
Missstände benennen, welche eine zukünftige rotgrüne Bundesregierung sehr schnell abstellen muss,
weil Schwarz-Gelb dies zu meinem Bedauern leider
vier Jahre lang versäumt hat.
Erstens. Für die sogenannten Altfälle - das sind
Einsätze, die vor dem Inkrafttreten der Verwaltungsvorschrift begonnen wurden und sich zudem meistens
über mehrere Jahre erstrecken - gilt die Verwaltungsvorschrift aus dem Jahre 2008 nicht. Schon das finde
ich schade. Warum hat man seitens der Bundesregierung eine solche Unschärfe zugelassen und nicht reinen Tisch gemacht und alle Altfälle schon 2008 beendet? Wenn ein solcher Altfall heutzutage bereits über
103 Monate - und das sind nach Adam Riese fast
8,5 Jahre - läuft, ist dies zwar unschön, aber verstößt
nicht gegen die Regel. Die Forderung des Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes in der Anhörung des
Innenausschusses im Jahr 2009, die Altfälle zügig zu
beenden, wird von der Bundesregierung weiter ignoriert. Ein paar sind beendet worden, andere nicht - wie
der aktuelle Zehnte Bericht des Bundesinnenministeriums zeigt. Im Jahr 2013 schlagen immer noch vier Altfälle zu Buche. Diese Einsätze müssen besser heute als
morgen beendet werden.
Zweitens. Weiterhin kritisch sehe ich die Verweildauer der eingesetzten Leihbeamten. Aktuell überschreiten 64 Prozent der externen Mitarbeiter die vorgeschriebene Einsatzdauer von sechs Monaten um ein
Vielfaches - ohne Konsequenzen. In neun Fällen wird
die Verweildauer sogar bis auf über 24 Monate ausgereizt. Dabei kann wohl niemand mehr von einem temporären Wissensaustausch sprechen. So setzt das Auswärtige Amt die ehemalige Leiterin des GoetheInstituts Nancy für 52 Monate im Referat Deutsch als
Fremdsprache ein. Dauerhafter Bedarf an Fachwissen
darf aber ausdrücklich nicht von externen Personen
gedeckt werden. Solche Einsätze müssen dringend abgestellt werden, und die Missachtung der Verwaltungsvorschrift darf nicht ohne Konsequenzen bleiben.
Drittens. Leider sind befristete Arbeitsverträge von
der Verwaltungsvorschrift ausgenommen. Dies stellt
ein Schlupfloch dar, das wir unbedingt schließen müssen. Auch befristete Arbeitsverträge müssen der Transparenzpflicht unterliegen.
Viertens. Ich frage mich ernsthaft, welches Verständnis von Transparenz die Bundesregierung hat,
wenn nur die Haushalts- und Innenpolitiker die Berichte erhalten und sich die interessierte Öffentlichkeit
und Journalisten die Berichte seit Jahren über Umwege „besorgen“ müssen. Ohne eine kritische Medienöffentlichkeit gibt es keine Kontrolle und Prävention. Ich hoffe, das wird auch der Bundesregierung
noch klar. Ich fordere deshalb schon lange, die Berichte im Internet zu veröffentlichen und jährlich im
Plenum des Deutschen Bundestages zu debattieren.
Fünftens. Fünf aktuelle Einsätze finden im Rahmen
eines Personalaustausches zwischen den Ministerien
und den entsendenden Stellen statt. Leider erfahren
wir als Parlamentarier nicht, welche Aufgaben zum
Beispiel ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts beim
Bundesverband der Industrie wahrnimmt, der dort als
Tauschpartner für 24 Monate tätig ist. Das sollte sich
im nächsten Bericht ändern; ich fordere hier lückenlose Vollständigkeit.
Sechstens. Der Einsatz von externen Mitarbeitern
ist zulässig, wenn Fachwissen für die Erfüllung spezifischer Aufgaben im Ministerium benötigt wird. Er ist
aber nicht zulässig, wenn lediglich ein Personalmangel beseitigt werden soll. Deshalb wundert es mich
schon, dass im Bundesministerium für Bildung und
Forschung derzeit 30 externe Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e. V. eingesetzt sind, deren Einsatz mit dem „Kennenlernen der
Tätigkeit des BMBF“ oder „einem erhöhten Betreuungsaufwand der Forschungsmuseen“ begründet
wird. Ein Mitarbeiter der VDI Technologiezentrum
GmbH ist zudem im BMBF mit der „Betreuung des nanoTrucks“ beauftragt; gezahlt wird der Einsatz von
der entsendenden Stelle. Insgesamt hat das BMBF somit 36 externe Mitarbeiter, wohingegen 17 von insgesamt 22 obersten Bundesbehörden gar keine Externen
gemeldet haben. Leider können wir als Parlamentarier
nicht nachprüfen, ob eine Nichtmeldung bedeutet, dass
keine externen Mitarbeiter im betreffenden Ministerium tätig sind, oder schlicht und einfach die Meldung
an das BMI vergessen wurde. Ich fordere deshalb die
Einführung der Negativmeldung. Auch ein Ministerium, das derzeit keine externen Mitarbeiter beschäftigt, muss dies dem BMI verpflichtend melden.
Trotz der vielen sozialdemokratischen, grünen und
linken Initiativen ist es uns in dieser Legislaturperiode
leider nicht gelungen, die schwarz-gelbe Koalition von
der Notwendigkeit einer umfassenden Transparenzinitiative zu überzeugen. Dennoch bin ich fest davon
überzeugt, dass unsere parlamentarischen SelbstheiZu Protokoll gegebene Reden
Michael Hartmann ({1})
lungskräfte uns davor bewahren sollten, auch nur den
Hauch eines Anscheins zu erwecken, Deutschland
würde von Lobbyisten regiert. Darin müssen wir Parlamentarier uns einfach einig sein und alles dafür tun,
das Gegenteil zu beweisen. Ich hoffe, dass wir in der
neuen Legislaturperiode fraktionsübergreifend endlich
auf den Weg bringen können, was die Menschen in
unserem Land zu Recht von uns erwarten: die Verschärfung des Straftatbestandes der Abgeordnetenbestechung, mehr Transparenz beim Einsatz externer
Personen in der Bundesverwaltung, ein verpflichtendes Lobbyregister für den Deutschen Bundestag, mehr
Transparenz beim Einsatz externer Berater in Normsetzungsverfahren, die Einführung eines Verhaltenskodex für ausscheidende Regierungsmitglieder und die
Neuregelung der Veröffentlichungspflichten für Nebeneinkünfte. Deutschland ist kein korrupter Staat,
und all jenen, die daran zweifeln, sollten wir mit einer
solchen Transparenzinitiative den Wind aus den Segeln nehmen.
Ich fordere Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der Koalitionsfraktionen, erneut auf, gemeinsam mit
uns eine transparente Regelung für den Einsatz externer Beschäftigter in Ministerien zu schaffen und somit
weiteren Schaden vom Gesamtansehen der Politik abzuwenden.
Vertrauen in die Legitimität staatlicher Entscheidungen setzt Transparenz voraus. Jedoch ist gerade
die Mitwirkung unterschiedlichster organisierter Interessen an der Gestaltung von Politik weitgehend intransparent.
Zu oft gab es in der Vergangenheit Fälle über zweifelhaften Einfluss von Interessenvertretern oder auch
externen Beratern, was aber für die interessierte Öffentlichkeit nicht ausreichend nachvollziehbar war.
Das Vertrauen in die Politik leidet, wenn Bürgerinnen
und Bürger befürchten müssen, dass Entscheidungen
der Politik hinter verschlossenen Türen getroffen werden. „Lobbyismus“ wird inzwischen eher als illegitimer Einflussversuch anstatt als legitime Interessenvertretung angesehen. Und es ist tatsächlich für den
interessierten Bürger und die interessierte Bürgerin
kaum nachvollziehbar, wer in wessen Namen Kontakte
im Parlament pflegt und wessen Interessen vertreten
werden. Dies muss sich ändern, denn wir Politiker sind
auf das Vertrauen der Bevölkerung in unsere politische
Arbeit angewiesen.
Nachdem sich Europäisches Parlament und Europäische Kommission darauf geeinigt haben, nun auch
ein gemeinsames Lobbyistenregister zu führen, das
mehr Transparenz in den Gesetzgebungsprozess bringen wird, ist es höchste Zeit, dass wir auch in Deutschland zu einer weiterführenden Regelung kommen, die
mehr Transparenz als bisher gewährleisten kann. Wir
müssen vor allem einen gravierenden Mangel des
deutschen Lobbyistenregisters überwinden: seine
Freiwilligkeit. Ein Mangel, der auch dem gemeinsamen europäischen Lobbyistenregister weiterhin anzulasten ist.
1972 richtete Deutschland als erstes Land der damaligen Europäischen Gemeinschaft ein Lobbyistenregister ein, in das sich alle Verbände einzutragen haben, die Interessen gegenüber dem Bundestag oder der
Bundesregierung vertreten. Zu diesen Angaben gehören Name und Sitz des Verbandes, die Zusammensetzung von Vorstand und Geschäftsführung, der Interessenbereich des Verbandes, Mitgliederzahl, die Namen
der Verbandsvertreter sowie die Anschrift der Geschäftsstelle am Sitz von Bundestag und Bundesregierung. Bei Anhörungen des Bundestags werden nur Vertreter derjenigen Verbände zugelassen, die mit den
vollständigen Angaben eingetragen sind. Dies reicht
allerdings bei weitem nicht aus, um beispielsweise finanzielle Verflechtungen offenzulegen.
Deshalb setzt sich die SPD-Bundestagsfraktion für
die Schaffung einer Registrierungspflicht ein: ein verbindliches und öffentliches gesetzliches Lobbyistenregister, in das sich alle Interessenvertreter - natürliche
sowie juristische Personen - eintragen müssen.
Dabei ist Folgendes zu berücksichtigen:
Es müssen Definitionen von Interessenvertretung
formuliert werden.
Dabei sind die Absicht und das Ziel der Auftraggeberinnen und Auftraggeber zentral, direkten Einfluss
auf die Abläufe und Entscheidungen, also auf den demokratischen Willensbildungsprozess des Deutschen
Bundestages und der Bundesbehörden auszuüben. Als
entscheidendes Kriterium der Kontaktaufnahme zu
Bundestagsabgeordneten oder Bundesbehörden müssen finanzielle wie zeitliche Schwellenwerte festgelegt
werden.
Zu den offenlegungspflichtigen Angaben gehören:
Name, Anschrift, Geschäftssitz und weitere geschäftliche Kontaktinformationen sowie der finanzielle Rahmen, insbesondere Herkunft und Höhe der aus Interessenvertretung erzielten steuerlichen Einnahmen, der
registrierungspflichtigen Interessenvertreterin bzw.
des registrierungspflichtigen Interessenvertreters.
Dazu gehört auch die Zuordnung zu einzelnen Arbeitgebern bzw. Auftraggebern, wie Name, Anschrift,
Geschäftssitz, weitere geschäftliche Kontaktinformationen, Geschäftsführung und Vorstand, Mitgliederzahl, Anzahl der mit Interessenvertretung beauftragten
Lobbyistinnen und Lobbyisten, finanzieller Rahmen,
sofern die Interessenvertretung nicht auf eigenen Namen erfolgt.
Außerdem gehört dazu eine zusammenfassende Beschreibung der Tätigkeitsbereiche.
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die Lobbytätigkeiten nachgehen, müssen in dem Register vermerkt werden.
Die Höhe der finanziellen Aufwendungen für die Interessenvertreterin und den Interessenvertreter sind
Zu Protokoll gegebene Reden
Christian Lange ({0})
ebenfalls mit aufzunehmen. Damit wird deutlich, in
wessen Namen und Auftrag Lobbyisten handeln.
Zur Ahndung von vorsätzlichen oder fahrlässigen
Verstößen gegen die Registrierungspflicht soll ein
Ordnungswidrigkeitstatbestand geschaffen werden.
Außerdem brauchen wir einen sanktionsbewehrten
Verhaltenskodex für Interessenvertreter mit Grundregeln für die Wahrnehmung ihrer Tätigkeit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Offenheit,
Transparenz, Ehrlichkeit und Integrität. Diesem Verhaltenskodex können sich registrierungspflichtige Interessenvertreter bei Registrierung freiwillig unterwerfen, wodurch sie seine Geltungskraft jedoch
verbindlich anerkennen. Im Lobbyistenregister wird
die freiwillige Annahme oder Nichtannahme des Kodex öffentlich einsehbar vermerkt, sodass ein starker
Anreiz zur Unterwerfung unter den Kodex existiert.
Letztlich schaffen wir erst mit einer verbindlichen
Regelung ein Instrumentarium, das es der interessierten Öffentlichkeit ermöglicht, selbst zu entscheiden,
wem sie ihr Vertrauen schenken will.
Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum Antrag
der SPD-Fraktion.
Wir haben in dieser Legislaturperiode mehrfach das
Thema „Lobbyismus und Transparenz“ behandelt.
Leider muss man sagen, dass wir in der Debatte kaum
vorangekommen sind. Wir Liberale wären durchaus zu
sachlichen Gesprächen und Verbesserungen im Detail
bereit gewesen. Aber bedauerlicherweise sind wir aufgrund des ideologisch sehr aufgeladenen und zudem
noch unscharfen Lobbyismusverständnisses der Opposition in der Sache nicht über Grundsatzdebatten hinausgekommen. Damit wurde dem Ansehen der Politik
und des Deutschen Bundestages sicher kein Gefallen
getan.
Interessenvertreter aus der Mitte der Gesellschaft
sind für eine funktionierende Demokratie wichtig. Lobbyisten kommen im Gegensatz zum Glauben der Opposition nicht nur von Unternehmen oder Wirtschaftsverbänden. Sie kommen ebenso aus Gewerkschaften,
Kirchen, Hilfsorganisationen und Umweltinitiativen.
Deshalb ist eine Einteilung in „gute“ und „schlechte“
Interessenvertreter auch wenig sinnvoll, weil prinzipiell jedes gesellschaftliche Interesse in einer Demokratie einen Anspruch auf Gehör hat. Und das Herantragen von Anliegen aus der Mitte der Gesellschaft an
die Politik ist legitim. So können neue Aspekte in die
politische Diskussion eingebracht werden, die zuvor
nicht gesehen wurden. Manchmal ergeben sich so auch
Hinweise auf Folgen gesetzlicher Regelungen, die man
zuvor nicht berücksichtigt hat und die von der Politik
nicht beabsichtigt sind. Solche klärenden Gespräche
können dazu beitragen, dass Gesetzentwürfe im parlamentarischen Verfahren verbessert werden.
Es ist keineswegs der Fall, dass wir Bundestagsabgeordnete eins zu eins die Dinge übernehmen, die uns
von Interessenvertretern vermittelt werden. Ganz im
Gegenteil! Wir Abgeordnete sind mit dem freien Mandat ausgestattet und letztlich nur unserem Gewissen
unterworfen. Um politisch gute Entscheidungen zu
treffen, sollte sich ein Politiker aber nicht nur einseitig
informieren. Vielmehr sollte er möglichst viele Argumente und Sichtweisen unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen hören und diese zur Grundlage seiner
eigenen Abwägungsentscheidung machen. Das ist
mein Verständnis von Politik. Ohne den eigenen inneren Kompass ist man im Berliner Politikbetrieb schnell
verloren.
Ein paar abschließende Anmerkungen zu den Anträgen der Opposition:
Die Forderungen der SPD mit Blick auf externe
Personen in der Bundesverwaltung sind größtenteils
realitätsfern. Die Maßnahme einer Kennzeichnungspflicht für Externe ist nicht nur ein massiver Eingriff in
deren Arbeitssituation, sondern ein ebenso starker in
das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen. Das halte ich
für den völlig falschen Weg! Den von der SPD vorgeschlagenen legislativen Fußabdruck in der Bundesverwaltung halte ich prinzipiell für einen diskussionswürdigen Ansatz. Allerdings vergisst die SPD, dass noch
andere Akteure den Gesetzestext im Verfahren entscheidend beeinflussen: der Bundestag und schlussendlich der Bundesrat. Wie dann die Idee des Fußabdrucks über alle drei Institutionen hinweg konsequent
verwirklicht werden könnte, halte ich für eine sehr
schwierige Frage, die auch die SPD nicht gelöst hat.
Die Vorschläge der Opposition für ein Lobbyregister sind ebenso praxisfern oder haben keinen tatsächlichen Nutzen für die Transparenz. Beispielsweise
ließe sich der zeitliche Aufwand für ein Vorhaben oder
einen Auftraggeber nur schwer quantifizieren, wenn
Interessenvertreter Gespräche zu mehreren Themen
oder mit verschiedenen Abgeordneten führen. Auch
sagt die Arbeitsdauer für ein bestimmtes Vorhaben
noch nichts über den „Erfolg“ der Lobbytätigkeit aus.
Gleiches gilt für die Forderung, die Lobbyarbeit nur
ab einer finanziellen Grenze zu erfassen. Einflussnahme ist sicher auch ehrenamtlichen Interessenvertretern möglich.
Viele Vorschläge wie diese sind kaum kontrollierbar
oder verursachen enorme Bürokratiekosten. Daher
können wir die Anträge der Opposition nur ablehnen.
Über Lobbyismus wurde in diesem Hause bereits
des Öfteren diskutiert. Oft schon hat die Opposition
ganz konkrete Vorschläge für mehr Transparenz bei
der Interessenvertretung gegenüber Bundesregierung
und Bundestag vorgelegt. Und oft schon hat die Regierungskoalition entschieden, diese Dinge im Dunkeln
zu belassen.
Dabei wird die Forderung nach mehr Öffentlichkeit
und Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungsprozesse von CDU/CSU und FDP stets so behandelt,
Zu Protokoll gegebene Reden
als spreche man über Almosen. Transparenz ist aber
kein Almosen, sondern laut Bundesverfassungsgericht
ein verbriefter Anspruch der Bevölkerung. Denn
Transparenz ist die Grundlage für Vertrauen, für nicht
weniger als das Vertrauen in die Politik und in unsere
Demokratie.
Heute geht es um unsere Forderung nach einem verbindlichen, sanktionsbewehrten Lobbyistenregister,
nicht weltbewegend, aber dennoch wichtig. Die handelnden Personen und deren mögliche Einflussnahme
sollen nachvollziehbar werden. Die finanziellen Aufwendungen der zu registrierenden Lobbyisten für ihre
Tätigkeit sollen dazu offengelegt werden. Im Falle der
Nichtbeachtung soll es entsprechende Sanktionen geben, die von unabhängiger Stelle festgelegt werden.
Wenn, wie Sie von der Koalition immer behaupten,
durch Lobbyismus tatsächlich keine unzulässige Einflussnahme auf die Politik erfolgt, warum sollen diese
Informationen dann nicht öffentlich sein? Was hat jemand, der nur ganz legal seine Interessen gegenüber
der Politik äußert, denn dabei zu befürchten? Die Antworten auf diese Fragen bleiben Sie uns schuldig.
Ich muss aber auch feststellen: Ganz so harmlos wie
Ihnen stellt sich mir die Lage leider nicht dar. Ein
Blick in die Schlagzeilen muss einen fürchterlichen
Eindruck bei der Bevölkerung hinterlassen. Und darunter leidet das Ansehen der gesamten Politik. So haben beispielsweise einige Mitglieder des Landtages in
Bayern ihre Angehörigen auf Kosten der Allgemeinheit beschäftigt. Der Staatsminister Eckart von
Klaeden wechselt vom Bundeskanzleramt direkt zur
Lobbyabteilung bei der Daimler AG. Und er ist leider
keine Ausnahme, sondern nur einer von vielen Politikern, die die sogenannte Drehtür von der Politik in die
Wirtschaft aufgrund ihrer guten Kontakte für sich sehr
gewinnbringend ausgenutzt haben. Umgekehrt sitzen
Lobbyisten in den Ministerien; das darf nicht sein.
Die Daimler AG hat übrigens - laut Veröffentlichungsbericht des Bundestagspräsidenten - noch vor
kurzem jeweils 100 000 Euro an die CDU und die SPD
gespendet. Wir wollen solche Unternehmensspenden
- egal von wem sie kommen - verbieten. Denn wir
denken, es ist schlichtweg ungerecht, wenn die Wirtschaft sich den Einfluss bei Parteien sichert und ihre
Interessen dann Vorrang haben. Das sagen wir übrigens nicht nur, weil die Linke als Vertreterin der Interessen der Beschäftigten, Sozialleistungsempfängerinnen und -empfänger, Rentnerinnen und Rentner als
einzige Partei keine Spenden von Unternehmen erhält.
Die Reglementierung des Einflusses von Interessengruppen auf die Politik ist für uns einfach unverzichtbar, um die soziale Gerechtigkeit voranzubringen.
Denn die Durchsetzbarkeit gesellschaftlicher Interessen hängt leider immer auch stark von den wirtschaftlichen und strukturellen Mitteln ihrer Vertretung ab.
Oder wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass einzelne Bürgerinnen und Bürger mit ihren Sorgen im Regelfall den gleichen Einfluss auf die Politik haben wie
ein Unternehmen?
Dies ist offensichtlich nicht der Fall: In der Bundesregierung und im Bundestag werden immer wieder von
der Unternehmerlobby konkrete Formulierungswünsche in die Gesetze übernommenen. In einem Fall am
Ende des letzten Jahres wurden so beispielsweise vom
Bundestag nach massivem Lobbyeinsatz der Versicherungsunternehmen finanzielle Verluste für die Verbraucherinnen und Verbraucher von mehreren Milliarden Euro beschlossen. Das ist ein Skandal. Es ist uns
wichtig, solche Einflussnahme auf die Politik regulär
sichtbar zu machen und nicht nur zufällig ans Licht der
Öffentlichkeit gelangen zu lassen.
All die erwähnten Vorgänge fanden an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten statt.
Und dennoch haben sie eines gemeinsam: den stetig
dahinschmelzenden Vertrauensvorschuss der Bevölkerung. Dieser Prozess muss endlich umgekehrt werden.
Wir alle sind aufgefordert, nicht nur dem Eindruck,
sondern auch den ganz realen Gefahren der Käuflichkeit von Politik vorzubeugen - durch Transparenz und
Unabhängigkeit im Bundestag und in der Bundesregierung. In einem gleichnamigen Antrag haben wir
schon vor langer Zeit unsere wichtigsten Forderungen
dazu wiederholt. Sie haben diesen Antrag leider reflexartig abgelehnt. Genauso werden Sie heute mit der
Forderung nach einem verpflichtenden Lobbyistenregister umgehen.
Und so werden Sie auch - gegen jede Vernunft und
gegen internationale Verpflichtungen - unseren konkreten Gesetzesvorschlag zur Verschärfung der Strafbarkeit der Abgeordnetenbestechung mit Ihrer Mehrheit weiter blockieren.
Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
werden auch weiter weder den Mut noch den Willen
aufbringen, eine angemessene Karenzzeitregelung für
Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretäre einzuführen. Es geht dabei um
den Wechsel in solche Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit der vorherigen Zuständigkeit des Ministeriums stehen. Schließlich würden Sie so das lukrative
Drehtürgeschäft für die Parteifreunde einschränken.
Die bekannt gewordenen Fälle zeigen, dass die betroffenen Politiker selbst die Grenzen nicht mehr erkennen, wenn es um ihren persönlichen Vorteil geht.
Und letztlich werden Sie, werte Abgeordnete der
Regierungskoalition, auch weiterhin die von der Opposition geforderte betragsgenaue Veröffentlichung
der Nebeneinkünfte von Abgeordneten auf Euro und
Cent ausbremsen, obwohl die Bevölkerung auf dieses
Wissen einen Anspruch hat.
Sie werden immer weiter so tun, als sei die Erwartung der Wählerinnen und Wähler, dass die Abgeordneten unabhängig und nur dem Gewissen verpflichtet
handeln, nur ein dummer Aberglaube. Ist es denn wirklich so dumm, darauf zu vertrauen, dass Politiker nicht
zum eigenen, sondern zum gemeinen Wohl entscheiZu Protokoll gegebene Reden
den? Ich sage Ihnen: Es ist nicht dumm, sondern ganz
einfach: Transparenz wird belohnt. Der Lohn ist Vertrauen. Beweisen Sie, dass Sie das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler ernst nehmen, und handeln Sie
endlich!
Die Organisation von Interessen gehört zur Demokratie. Der Austausch von Meinungen ist Kernbestandteil einer pluralistischen Gesellschaft. Daher
sind auch der Lobbyismus und sein Ansinnen, Interessen in der Gesellschaft in organisierter Form zu kanalisieren und bei den politischen Entscheidungsträgern
und in der Öffentlichkeit für deren Umsetzung zu werben, legitimer Bestandteil einer demokratischen Zivilgesellschaft. Lobbyismus ist als solcher nicht anrüchig. Wir dürfen auch die ehrlichen Lobbyisten, die
uns mit Expertisen ausstatten und auf Fehler bei Gesetzentwürfen hinweisen oder auch nur ihre Interessen
vortragen, die mit anderen Interessen im Widerstreit
sind, nicht diffamieren.
Es gibt aber auch die negativen Beispiele. Lobbyistinnen und Lobbyisten, die hier mit Geld unterwegs
sind und nicht sagen, wer sie eigentlich sind, zum Beispiel die Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“,
bei der die Öffentlichkeit nicht so genau weiß, wer dahintersteckt und wer ihre Kampagnen finanziert.
Die beste Prophylaxe gegen Korruption und anrüchige Hinterzimmerpolitik ist Transparenz. Das ist der
Ansatz für ein Lobbyistenregister. Ich hätte mir ja gewünscht, dass die Damen und Herren von der Koalition mit uns gemeinsam über die Details reden. Denn
über die muss man reden, und man muss das sachlich
machen. Aber wenn Sie nur diffamieren und behaupten, wir agitierten hier gegen die Interessenvertretung
der Gesellschaft in diesem Land, dann zeigt das, dass
Sie offensichtlich etwas befürchten, wenn das transparenter wird.
Das kommt bei der Mövenpick-Koalition allerdings
nicht ganz von ungefähr. Sie haben in der Tat ein Problem; denn bei Ihnen gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Geldüberweisungen an die Parteien und gesetzgeberischen Bonbons hinterher, die
den Steuerzahler teuer zu stehen kommen. So etwas
sollten wir abstellen. Ein Beitrag dazu kann das Lobbyistenregister sein. Die Demokratie nimmt insgesamt
Schaden, wenn der Eindruck entsteht, es würden mit
Geld bestimmte Interessen im politischen Meinungsstreit verstärkt und es werde illegitimerweise auf Entscheidungen des Gesetzgebers oder der Exekutive Einfluss genommen. Deshalb finden wir es wichtig, dass
wir Parlamentarier überlegen, wo wir durch mehr
Transparenz dafür sorgen können, dass die politischen
Entscheidungen nachvollziehbarer werden und dass es
schwieriger wird, auf illegitime Weise auf die Gesetzgebungsorgane und auf die Exekutive Einfluss zu nehmen. Wir haben das unter Rot-Grün bei den Abgeordneten mit der von der Koalition viel gescholtenen
Regelung zur Transparenz bei den Nebentätigkeiten
begonnen.
Keine Lösung ist da die „Ständig aktualisierte Fassung der öffentlichen Liste über die Registrierung von
Verbänden und deren Vertretern“. Diese Liste ist völlig
intransparent und uninformativ, kostet aber Arbeit.
Warum machen wir das nicht zu einem wirklichen informativen und transparenten Instrument, damit jede
Bürgerin und jeder Bürger, Abgeordnete und Journalisten hier entsprechende Informationen finden kann?
Auch bei den externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muss sich etwas ändern. Denn wir wollen unsere Verwaltung nicht gegen externen Sachverstand
abschotten. Das muss aber transparent erfolgen und in
einer Art und Weise geschehen, dass keine illegitime
Einflussnahme auf exekutives Handeln möglich ist, wie
es in der Vergangenheit geschehen ist, als Industriemitarbeiter Genehmigungsverfahren durchgeführt und
Gesetzentwürfe formuliert haben.
Wir brauchen aber auch etwas, was die Europäische Union längst hat: Eine Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder, wie Herrn von Klaeden.
Man hat auf EU-Ebene eine solche Karenzzeit damals
wegen Herrn Bangemann eingeführt, der zu einem Telekommunikationsunternehmen gewechselt ist. Ich erinnere aber auch an Schröder, Clement und andere.
Karenzzeit heißt nicht Betätigungsverbot, aber Genehmigungspflicht für Anschlussverwendungen an das
Amt.
Lobbyismus ist keine schlechte Sache. Ob die Deutsche Bischofskonferenz oder der Lesben- und Schwulenverband, ob die Solarindustrie oder das Deutsche
Atomforum hier ihre Interessen vortragen, ist per se
nichts Schlechtes. Wir haben als Parlamentarier die
Aufgabe, die Argumente zu wägen und im Interesse des
Allgemeinwohls auszugleichen. Dabei sind wir aber
darauf angewiesen, zu wissen, mit wem wir es jeweils
zu tun haben. Das Lobbyistenregister kann dazu einen
wertvollen Beitrag leisten.
Tagesordnungspunkt 30 a. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Mehr Transparenz beim Einsatz externer Personen in
der Bundesverwaltung - Bericht des Bundesrechnungshofes vollständig umsetzen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13314, den Antrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/5230 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Tagesordnungspunkt 30 b. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung auf Drucksache
17/13737.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/6442 mit dem Titel
„Interessenvertretung sinnvoll regeln - Lobbyismus
transparent machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2096 mit dem Titel „Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und
Grünen angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2486 mit dem Titel „Transparenz schaffen - verbindliches Register für Lobbyistinnen und Lobbyisten
einführen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 31:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes
- Drucksache 17/10511 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.
Bereits mit dem Neunten Gesetz zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes, welches am 9. Dezember
2011 in Kraft getreten ist, hat die christlich-liberale
Koalition zum Ausdruck gebracht, welche hohe Bedeutung sie den Anliegen von Spätaussiedlern und deren
Familien beimisst.
Durch die zwischenzeitlich in Kraft getretene Änderung haben im Bundesgebiet wohnende Spätaussiedler
erstmals die Möglichkeit erhalten, im Herkunftsgebiet
verbliebene Ehegatten und Abkömmlinge in den Aufnahmebescheid nachträglich einzubeziehen.
Der vom Bundesrat beschlossene Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundesvertriebenengesetzes knüpft an
die von der christlich-liberalen Koalition vorgenommene Änderung an und greift einen in der Praxis äußerst bedeutsamen Aspekt bei der Umsetzung der Härtefallregelung in § 27 BVFG auf.
Aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage kommt es
immer wieder zu unbilligen Ergebnissen, die trotz der
bereits vorhandenen Härtefallregelung im Bundesvertriebenengesetz nicht verhindert werden können.
Die unbilligen Ergebnisse können vor allem dadurch entstehen, dass an der Voraussetzung des Besitzes von Grundkenntnissen der deutschen Sprache für
Familienangehörige festgehalten wird und eine Ausnahme hiervon nicht zugelassen wird.
Schließlich fordert das Bundesvertriebenenrecht
nach der derzeitigen Rechtslage für die Aufnahme von
Ehegatten oder Abkömmlingen in den Aufnahmebescheid des Spätaussiedlers von den Ehegatten oder
Abkömmlingen den Nachweis des Besitzes von Grundkenntnissen der deutschen Sprache vor der Ausreise
aus dem Aussiedlungsgebiet.
Die Verwaltungspraxis hat jedoch gezeigt, dass dieses unabdingbare Erfordernis in Einzelfällen zu unbilligen Härten führen kann. Diese gehen über den gesetzlich bereits gesondert geregelten Ausnahmefall der
Behinderung im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch hinaus.
Es handelt sich insbesondere um Fälle, in denen der
Ehegatte oder Abkömmling aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder in einem vergleichbaren Fall nicht in der Lage ist, die erforderlichen Grundkenntnisse der deutschen Sprache
zu erwerben.
Die Feststellungen des Bundesrates, dass es an dieser Stelle gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt,
unterstütze ich.
Schließlich gehen jedes Jahr weiterhin mehr als
1 500 Anträge von Spätaussiedlern beim Bundesverwaltungsamt ein. Einige davon fallen auch in den Anwendungsbereich der Härtefallregelung nach § 27
BVFG.
Aus meiner Sicht geht allerdings der vom Bundesrat
vorgeschlagene Lösungsansatz nicht weit genug, da
die bisherigen Regelungen des Bundesvertriebenengesetzes dem Gedanken der Familienzusammenführung
noch nicht ausreichend genug Rechnung tragen. Die
Vorlage des Bundesrates sollte daher dafür genutzt
werden, die bisherige Härtefallregelung des Bundesvertriebenengesetzes deutlich zu verbessern und zu erweitern.
Eine solche Erweiterung könnte beispielsweise berücksichtigen, dass der Verlust der deutschen Sprache
zum Kriegsfolgenschicksal vieler Russlanddeutschen
gehört. Dementsprechend könnte zukünftig minderjährigen Kindern des Spätaussiedlers die Mitaussiedlung
oder die nachträgliche Einbeziehung unter Verzicht
auf Spracherfordernisse gestattet werden.
Die Befreiung vom Spracherfordernis würde damit
nur die wegen ihrer Minderjährigkeit besonders
schutzbedürftigen noch nicht erwachsenen Abkömmlinge des Spätaussiedlers betreffen. Dem Ehegatten
und den volljährigen Abkömmlingen des Spätaussied30944
Stephan Mayer ({0})
lers wäre der Erwerb von Deutschkenntnissen vor der
Aussiedlung grundsätzlich auch weiterhin zumutbar.
Die bestehende Ausnahmeregelung wäre jedoch, so
wie vom Bundesrat bereits vorgesehen, auch für nachvollziehbare Krankheitsfälle zu erweitern. Eine solche
maßvolle Änderung wäre aus meiner Sicht auch aus
integrationspolitischen Gesichtspunkten her vertretbar.
Darüber hinaus sollte aus meiner Sicht auch geprüft werden, ob nicht auch bei den Anforderungen an
das Bekenntnis zur Volkszugehörigkeit nach § 6 BVFG
Änderungsbedarf besteht.
Derzeit muss der Spätaussiedlerbewerber nachweisen, dass er sich von Eintritt der Bekenntnisfähigkeit
({1}) bis zur Aussiedlung
„nur“ zum deutschen Volkstum bekannt hat.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss der Spätaussiedlerbewerber durchgängig alle sich ihm bietenden Möglichkeiten zur Nationalitätenerklärung genutzt haben.
Die früher bestehende Möglichkeit zur Abgabe von
Nationalitätenerklärungen in Inlandspässen oder anderen amtlichen Dokumenten ist jedoch der jüngeren
Generation in einigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wie der Russischen Föderation und der
Ukraine, seit 1998 tatsächlich verwehrt.
Diesen Spätaussiedlerbewerbern bleibt somit lediglich die Möglichkeit, durch Vorlage von weiteren amtlichen Dokumenten ({2}) oder aber amtlichen Anträgen ({3}) den erforderlichen Nachweis zu erbringen.
Die Kombination von engem Gesetzeswortlaut und
restriktiver Auslegung durch die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts führt somit im Ergebnis zu
unverhältnismäßig hohen Aufnahmehürden für die Bewerber. Viele scheitern an diesen, sodass die ansonsten
begründeten Anträge abgelehnt werden müssen. Es erscheint daher aus meiner Sicht überlegenswert, den
bisherigen Wortlaut der Vorschrift an die tatsächliche
Situation in Russland und der Ukraine anzupassen und
bezüglich des Nachweiserfordernisses zu lockern. Die
Beibringung eines Nachweises „vergleichbarer Art“
sollte ausreichend sein, um das Bekenntnis zur deutschen Volkszugehörigkeit nachzuweisen.
Die Spätaussiedlerbewerber würden mit der Lockerung der Nachweispflichten deutlich mehr Flexibilität
bei der Nachweisführung erhalten. Dies könnte zu einer höheren Anerkennungsquote als bisher beitragen.
Auch an anderen Stellen im Bundesvertriebenengesetz
gibt es aus meiner Sicht Korrekturbedarf. So kommt
aus meiner Sicht auch eine Überprüfung der Anforderungen an die bisher im Gesetz vorgesehene „familiäre Übermittlung“ der deutschen Sprache nach § 6
BVFG in Betracht.
Bisher ist das vorgenannte Merkmal unabdingbare
Voraussetzung für die deutsche Volkszugehörigkeit.
Dieses Erfordernis stellt jedoch eine nicht mehr zeitgemäße Verschärfung dar, die in der Verwaltungspraxis
des Bundesverwaltungsamtes immer häufiger zu unbilligen Ablehnungsentscheidungen geführt hat.
Hinzu kommt, dass der Spätaussiedlerbewerber zusätzlich zur familiären Übermittlung weitere Nachweise zur Abstammung von einem deutschen Volkszugehörigen und zum Bekenntnis zum deutschen
Volkstum vorlegen muss.
Zu bedenken ist aus meiner Sicht insoweit auch,
dass sich eine deutschstämmige Person auch durch
das Erlernen der deutschen Sprache außerhalb der
Familie mit ihrer Sprache und Kultur auseinandersetzen und zu ihrem Deutschsein bekennen kann.
Es erscheint mir daher durchaus prüfenswert, einen
alternativen Nachweis für den Erwerb der erforderlichen Sprachkenntnisse zuzulassen. Gleichzeitig sollte
aber natürlich die Möglichkeit eines Nachweises über
einen familiären Erwerb weiter möglich sein.
Die von mir dargestellten Fallkonstellationen zeigen, dass der vom Bundesrat festgestellte gesetzgeberische Handlungsbedarf beim Bundesvertriebenengesetz tatsächlich noch größer ist als vielleicht auf den
ersten Blick angenommen.
Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir den an uns
gestellten Anforderungen noch in dieser Wahlperiode
gerecht werden können und wesentliche Verbesserungen beim Bundesvertriebenengesetz erreichen werden.
Über die Unterstützung eines solchen Vorhabens durch
die anderen Fraktionen dieses hohen Hauses würde
ich mich sehr freuen.
Damit Ehegatten und Abkömmlinge in den Aufnahmebescheid eines Spätaussiedlers mit einbezogen werden können, müssen sie den Nachweis von Grundkenntnissen der deutschen Sprache erbringen. So
fordert es das Bundesvertriebenengesetz. In Einzelfällen kann dies zu unbilligen Härten führen, zum Beispiel dann, wenn der Ehegatte oder Abkömmling aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen
Krankheit oder in einem vergleichbaren Fall nicht in
der Lage ist, die notwendigen Sprachkenntnisse zu erwerben.
Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes wurden Vertriebene sonstigen Ausländern gleichgestellt.
Allerdings hat Deutschland aufgrund seiner Geschichte Aussiedlern gegenüber eine besondere Verantwortung. Das Fehlen von Sprachkenntnissen ist gerade auch Teil und Auswirkung des in Russland
erlittenen Verfolgungsschicksals. Anders als andere
Ausländergruppen empfinden sich Aussiedler nicht als
Migranten, sondern gerade als Deutsche.
Wenn man jedoch Aussiedler mit Ausländern gleichstellt, dann doch auch bitte hinsichtlich der Vermeidung von ungewollten und unbeabsichtigten Härten.
Für zu Ausländern nachziehende Ehegatten gibt es im
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufenthaltsgesetz eine Ausnahmevorschrift für das
Beibringen von Kenntnissen der deutschen Sprache,
wenn von dem nachziehenden Ehegatte eben aufgrund
einer „körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit“ nicht zu erwarten ist, dass er die Sprachkenntnisse wird erlernen können.
Mit dem Gesetzentwurf des Bundesrates kann die
bestehende Ungleichbehandlung von Angehörigen von
Spätaussiedlern und Angehörigen von Ausländern beendet werden.
Ich schlage vor, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
Gestern jährte sich das Inkrafttreten des Bundesvertriebenengesetzes zum 60. Mal. Am 5. Juni 1953 trat
das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen
und Flüchtlinge in Kraft.
Dabei ist das Gesetz damals wie heute kein Akt des
Revisionismus, sondern vielmehr ein Baustein zur Aufarbeitung des Unrechts des Nationalsozialismus. Die
Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren
Familien vertrieben wurden, haben - bei ganz nüchterner Betrachtung - viel Leid erlebt. Bei allem
- menschlichen - Verständnis für ein Rachebedürfnis
der Völker und Staaten, die von den Deutschen mit
Krieg, Massenmord und Grauen überzogen wurden, ist
für jede betroffene Familie mit Vertreibung ein bitteres
Schicksal verbunden. Die unbestreitbare Kriegsschuld
der Deutschen und die untilgbare Schuld an Massenmord, Vernichtung, Zwangsarbeit und zahllosen weiteren Verstößen gegen Humanität und Menschlichkeit
kann und konnte nicht dadurch beglichen werden, dass
wiederum Unrecht durch Vertreibung geschah. Vertreibung ist kein Akt der Wiedergutmachung oder der individuellen Verurteilung wegen Krieg und Verbrechen,
die von den Deutschen begangen wurden. Dass
Deutschland sich heute weltweit gegen Vertreibung
einsetzt, gemeinsam mit der Europäischen Union anprangert, wo Vertreibung geschieht und damit Unrecht
an vielen - auch unschuldigen - Menschen und deren
Familien begangen wird, ist ein Beitrag zur Aufarbeitung von Kriegsfolgen und zur Aussöhnung. Dies gilt
auch für den Umgang mit den deutschen Vertriebenen.
Wichtig ist hier immer, nicht neue Konflikte heraufzubeschwören, sondern klar und unzweideutig das Ziel
einer Aussöhnung vor Augen zu haben.
Wir sind unserer Geschichte verpflichtet - sowohl
und zuvörderst im Hinblick auf die Aufarbeitung der
Gräuel des Nationalsozialismus, auf Aussöhnung und
Völkerverständigung sowie Wiedergutmachung an
denjenigen, die der nationalsozialistischen Barbarei
zum Opfer gefallen sind, aber eben auch im Hinblick
auf Unrecht, das deutschen Staatsangehörigen in der
Folge widerfahren ist.
Wir bekennen uns aber als Deutsche heute auch
dazu, Minderheiten besonders zu schützen. Das kulturelle Erbe von Minderheiten, den Erhalt ihrer kulturellen und ethnischen Identität betrachten wir heute weltweit als Menschenrecht. Die Nachkommen der
deutschen Vertriebenen, die dort, wo sie heute leben,
eine solche Minderheit sind, haben dann ebenso ein
Recht darauf, ihre kulturellen Wurzeln zu erhalten und
zu pflegen. Vielfach ist das aber schwierig bis unmöglich.
Dennoch verlangen wir aber natürlich nach wie vor,
dass diejenigen, die nach dem Vertriebenengesetz nach
Deutschland kommen, ihre Identifikation mit ihrer
deutschen Kultur nachweisen. Daran wird auch nicht
gerüttelt. Vielmehr geht es darum, für besondere Härtefälle eine vernünftige Lösung zu finden. Einen dieser
Fälle greift der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates auf. Für Fälle, in denen aufgrund von körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit des Ehegatten oder des Abkömmlings ein Spracherwerb der
deutschen Sprache nicht möglich ist, soll künftig dasselbe gelten wie für Fälle, in denen diese Personen
eine Behinderung haben.
Allerdings geht der Bundesratsentwurf darin zu
weit, dass auch noch weitere „vergleichbare Fälle“
aufgenommen werden sollen. Die Bundesregierung hat
bereits in ihrer Gegenäußerung darauf verwiesen,
dass dies zu einer unabsehbaren Erweiterung des Tatbestands führen würde. Die Koalitionsfraktionen werden daher einen Änderungsantrag stellen, mit dem wir
das korrigieren werden. Mit der dann erfolgenden Änderung können Härtefälle vermieden werden, wenn ein
Ehepartner wegen einer Krankheit die deutsche Sprache nicht im geforderten Maße nachweisen kann.
Zudem werden die Koalitionsfraktionen dahin gehend Änderungen vorschlagen, dass auch für den Betroffenen selbst für den Fall, dass wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit der
Spracherwerb nicht möglich war, kein Ausschlussgrund mehr vorliegt. Weiterhin wird die Koalition vorschlagen, dass das strikte Erfordernis des familiären
Spracherwerbs gelockert wird, da in vielen Familien
die deutsche Sprache über Jahrzehnte aufgrund ihres
Umfelds selbst im häuslichen Bereich kaum noch gesprochen werden durfte und daher vielfach nur noch
sehr rudimentär vorhanden ist. Wer sich hier dann
durch Erwerb der Sprache seiner kulturellen Herkunft
aktiv bemüht, um sich anzueignen, was zu Hause verschütt gegangen ist, soll künftig nicht von vornherein
von den Ansprüchen nach dem Bundesvertriebenengesetz ausgeschlossen sein.
Die Linke kämpft seit Jahren dagegen, das Recht
auf Familieneinheit von der Erfüllung von Sprachanforderungen abhängig zu machen. Es ist nicht akzeptabel, dass die Geltung von Grundrechten davon abhängig sein soll, welchen Bildungsstand jemand hat, wie
sprachgewandt jemand ist oder welche Noten im
Deutschunterricht erzielt wurden. Doch in Deutschland wird seit 2007 der Ehegattennachzug von einem
Sprachnachweis abhängig gemacht. Im BundesvertrieZu Protokoll gegebene Reden
benengesetz findet sich eine ähnliche Regelung bereits
seit 2005.
Nun hat die Forderung nach Deutschkenntnissen im
Kontext des Bundesvertriebenengesetzes zumindest
eine gewisse Logik. Denn wenn Einwanderungsrechte
allein aufgrund der deutschen Volkszugehörigkeit bzw.
Abstammung eingeräumt werden - was wir als Linke
durchaus kritisch sehen -, dann können wohl zumindest Grundkenntnisse der deutschen Sprache verlangt
werden. Aber etwas ganz anderes ist es, wenn es um
den Nachzug von Ehegatten dieser Personengruppe
geht. Denn dann müssen die Wahrung der Familieneinheit und das Recht auf Zusammenleben im Vordergrund stehen. Hier gilt nach unserer Auffassung nichts
anderes als im Aufenthaltsrecht: Sprache darf nicht
zum Ausgrenzungskriterium werden!
Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
will für den Familiennachzug zu Spätaussiedlerinnen
und Spätaussiedlern zumindest eine Härtefallregelung
hinsichtlich der geforderten Sprachkenntnisse schaffen - was wir im Interesse der Menschen als einen
Schritt in die richtige Richtung begrüßen. Ausnahmen
sollen gelten bei körperlichen oder seelischen Krankheiten oder vergleichbaren Fällen. Begründet wird
dies mit unbilligen Härtefällen, die es in der Verwaltungspraxis gegeben habe; dauerhafte Familientrennung soll vermieden werden. In der Gesetzesbegründung wird mit einer Zahl von etwa 1 000 Menschen
gerechnet, die aufgrund der Neuregelung künftig zu ihren Ehepartnern nachziehen könnten. Sie sind bislang
Opfer der ausgrenzenden und unmenschlichen Sprachanforderungen beim Ehegattennachzug für Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler geworden.
Man muss daran erinnern, dass der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates eine Initiative des Landes
Niedersachsen vom Juni 2012 war, getragen vom damaligen Ressortchef Uwe Schünemann, in Fragen des
Aufenthaltsrechts ansonsten ein Hardliner in der
Union. In der Gesetzesbegründung heißt es, dass für
Spätaussiedler eine Gleichstellung mit den Regeln des
Ehegattennachzugs im Aufenthaltsrecht erfolgen soll.
Interessanterweise geht der Vorschlag im Bereich des
Vertriebenenrechts aber über die Regelung im Aufenthaltsrecht in einem entscheidenden Punkt hinaus.
Denn durch den unbestimmten Rechtsbegriff des „vergleichbaren Falls“ sollen „humanitäre Lösungen“ ermöglicht werden, etwa „aufgrund des Alters oder der
Gebrechlichkeit des Familienangehörigen sowie aufgrund von Lernschwäche oder Bildungsferne bei dem
konkret Betroffenen“. Das wäre genau die allgemeine
Härtefallregelung, die die CDU/CSU-Fraktion im Aufenthaltsrecht seit Jahren so vehement verweigert. Eine
solche allgemeine Härtefallregelung würde „die ganze
Vorschrift leerlaufen“ lassen, hatte der zuständige Berichterstatter Reinhard Grindel im Mai 2010 hier im Parlament erklärt ({0}).
Diese Aussage macht nur Sinn vor dem Hintergrund,
dass es das eigentliche Ziel der Regelung der Sprachanforderungen ist, den Nachzug bildungsferner
Menschen zu erschweren. Deshalb wollen die Regierungsfraktionen auch keine Ausnahmeregelung im allgemeinen Familiennachzugsrecht.
Nicht Humanität und Einzelfallgerechtigkeit, sondern die Durchsetzung sozial selektiver Ausschlussmechanismen ist auch das Anliegen dieser Bundesregierung. Deshalb hat sie in ihrer Stellungnahme zum
Gesetz erklärt, die Ausnahmeregelung für „vergleichbare Fälle“ sei „problematisch“, weil sie bei den Betroffenen falsche Hoffnungen wecken könne. Der Spracherwerb dürfe nicht auf die Zeit nach der Einreise
verschoben werden. Diese unerbittliche Härte gegenüber bildungsbenachteiligten und älteren Menschen ist
unerträglich!
Die Regierungsfraktionen sollten deshalb an der
vorliegenden Formulierung festhalten und die Gelegenheit nutzen, im Familiennachzugsrecht des Aufenthaltsgesetzes eine vergleichbare Härtefallregelung zu
schaffen. Das wäre zumindest ein kleiner Schritt im
Sinne der Betroffenen. Im Übrigen bleiben wir bei unserer Forderung, auf Sprachanforderungen im Familiennachzug zu verzichten.
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesvertriebenengesetzes möchte der Bundesrat
eine flexible Härtefallregelung für Familienange-
hörige von Spätaussiedlern einführen, die nicht in der
Lage sind, die für den Nachzug erforderlichen
Deutschkenntnisse zu erwerben. Dieses Anliegen un-
terstützen wir. Positiv an der Regelung ist insbeson-
dere, dass die nicht abschließende Aufzählung der
Ausnahmetatbestände eine angemessene Berücksichti-
gung der Einzelschicksale erlaubt.
Bereits im Gesetzgebungsverfahren zur Änderung
des Bundesvertriebenengesetzes im Jahr 2011 haben
wir Grünen einen Änderungsantrag zu den geforderten
Deutschkenntnissen eingebracht. Wir sind aber einen
Schritt weiter gegangen als der Bundesrat. Wir haben
die Abschaffung der Deutschkenntnisse als Vorausset-
zung für den Nachzug an sich gefordert. Klarstellen
möchte ich, dass unsere Motivation dabei nicht die
weitergehende Privilegierung von Vertriebenen im
Vergleich zu Einwanderern ist, deren Nachzug sich
nach dem Aufenthaltsgesetz richtet. Wir fordern die
Abschaffung des Spracherfordernisses für alle Fami-
lienangehörigen, unabhängig davon, auf welcher ge-
setzlichen Grundlage sie nach Deutschland einreisen.
Als Obmann des Petitionsausschusses meiner Frak-
tion weiß ich, dass uns in den letzen Jahren eine Viel-
zahl von Petitionen erreicht hat, in denen Familien ihr
schweres Leid von ungewollten Trennungen vortrugen.
In vielen Fällen wurde der Familiennachzug verwehrt,
weil es den Angehörigen an den erforderlichen
Deutschkenntnissen gemangelt hat. Insbesondere älte-
ren Menschen und Personen aus ländlichen Gebieten
oder mit wenig Bildungserfahrung bzw. aus bildungs-
fernen Schichten ist der Spracherwerb im Ausland oft
nicht möglich. Diese Petitionen betreffen aber nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
nur Spätaussiedler; auch Ehegatten von Deutschen,
Türkinnen und Türken, Argentinierinnen und Argenti-
niern und anderen Drittstaatsangehörigen beklagen
viel zu oft die Härten einer jahrelangen Trennung, die
das deutsche Einwanderungsrecht ihnen zumutet.
Es steht außer Frage, dass es für das Zusammen-
leben in Deutschland wichtig ist, dass die Familienan-
gehörigen Deutsch sprechen. Dafür ist aber ein
Deutschkurs im Ausland weder notwendig noch geeig-
net. Den nachgezogenen Familienangehörigen steht in
Deutschland ein umfangreiches Angebot an Integra-
tionskursen zur Verfügung.
Schließlich wächst der Druck aus der Europäischen
Union, den Familiennachzug zu reformieren. Die
Kommission hat ausdrücklich erklärt, dass Sprachtests
im Ausland als Bedingung für die Einreise gegen die
Familienzusammenführungsrichtlinie verstoßen. Mit
einem wegweisenden Urteil in der Rechtssache
Chakroun hat der Europäische Gerichtshof, EuGH,
klargestellt, dass die Genehmigung des Familiennach-
zugs die Grundregel darstellt. Die den Mitgliedstaaten
eingeräumten Handlungsspielräume müssten dagegen
eng ausgelegt werden. Betont hat der EuGH dabei
auch, dass die Behörden bei jeder Entscheidung eine
Abwägung im Einzelfall vornehmen müssen. Davon
sind wir in Deutschland noch weit entfernt.
Für Personen, denen es nicht gelingt die strengen
Voraussetzungen für den Nachzug zu erfüllen, muss
das deutsche Recht eine allgemeine Härtefallregelung
vorsehen. Die bereits existierende Härtefallregelung
im Bundesvertriebenengesetz könnte insofern als
Grundlage für eine allgemeine Härtefallregelung im
Aufenthaltsgesetz dienen. Die Regelung im Bundesver-
triebenengesetz setzt „nur“ eine „einfache Härte“ für
den Familiennachzug voraus. Dagegen setzen die im
Aufenthaltsgesetz enthaltenen Sonderbestimmungen
für Härtefälle bislang höhere Anforderungen an die
vorgebrachte Härte. Eine unterschiedliche Behand-
lung von Vertrieben und sonstigen Einwanderern leh-
nen wir ab.
Eine Härtefallregelung für den Familiennachzug ist
dem deutschen Recht auch nicht ganz fremd. So
enthielt bereits das Ausländergesetz von 1990 eine
Klausel, nach der von dem Erfordernis der Lebens-
unterhaltssicherung abgesehen wurde, wenn aus der
Ehe ein Kind hervorgegangen oder die Ehefrau
schwanger war.
Vor zwei Jahren hat die Bundesregierung ihren Ge-
setzentwurf zum Bundesvertriebenengesetz damit be-
gründet, Härtefälle zu vermeiden, die durch dauer-
hafte Familientrennungen entstehen, und dadurch die
Integration von Spätaussiedlern in Deutschland zu
fördern. Genau diesem Ziel dient auch der aktuelle
Gesetzentwurf des Bundesrates. Es wäre ein gutes
Zeichen, wenn die Bundesregierung ihren positiven
Absichtserklärungen Taten folgen ließe und ihre ableh-
nende Haltung zu diesem Gesetzentwurf noch einmal
überdenkt.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10511 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak,
Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion DIE LINKE
Das System der Verwertungsgesellschaften
grundlegend modernisieren
- Drucksachen 17/11043, 17/13767 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Burkhard Lischka
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Diana
Golze, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes - Einbeziehung von Kindertagesbetreuungseinrichtungen in die Schrankenregelungen
- Drucksache 17/4876 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({1})
- Drucksache 17/13768 Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Geis
Burkhard Lischka
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Die Reden gehen zu Protokoll.
Es ist schon abenteuerlich, was die Fraktion Die
Linke wieder einmal mit dem Urheberrecht vorhat.
Man könnte auch sagen, die Linke wolle das Urheberrecht nahezu vollständig aushebeln. Dieser Eindruck
entsteht zumindest beim Lesen des Antrags „Das System der Verwertungsgesellschaften grundlegend modernisieren“. Die sogenannte grundlegende Modernisierung bedeutet in diesem Fall eine weitestgehende
Preisgabe des bewährten Systems der kollektiven
Rechtewahrnehmung.
Bei der Fraktion Die Linke mag man ja eigentlich
nicht annehmen, dass sie Systeme kollektiver Organi30948
sation und Verwertung nicht gutheißen mag. Doch
selbst darauf ist bei der Fraktion Die Linke offensichtlich kein Verlass mehr. Statt konstruktive und ernstgemeinte Verbesserungsvorschläge zur Debatte zu stellen, begnügt sich die Fraktion Die Linke wieder einmal
damit, auf den Populismuszug aufzuspringen und im
Rahmen der Debatte um die GEMA-Tarifreform undifferenzierte und vermeintliche Argumente munter in einem Antrag zusammenzuwürfeln. Es ist daher die einzig logische Schlussfolgerung, den vorliegenden
Antrag abzulehnen.
Für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion bilden
Verwertungsgesellschaften nicht nur einen unverzichtbaren und integralen Bestandteil eines modernen funktionierenden Urheberrechts; sie leisten auch einen
maßgeblichen Beitrag zur kulturellen Vielfalt in unserem Land und übernehmen darüber hinaus eine wichtige soziale Funktion für Künstlerinnen und Künstler.
Das System der kollektiven Rechtewahrnehmung
hat sich in Deutschland bewährt. Es sorgt für einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der
Rechteinhaber, der Urheber und der Konsumenten.
Deshalb steht die kollektive Rechtewahrnehmung auch
für einen funktionierenden und effizienten Verbraucherschutz. Denn mit einer vorliegenden Lizenzierung
durch eine Verwertungsgesellschaft brauchen sich die
Nutzer mit der Vergütung der Urheber nicht weiter zu
befassen, was umgekehrt für den einzelnen Nutzer
auch schwierig möglich wäre. Offensichtlich ist der
Fraktion Die Linke nicht wirklich daran gelegen, etwas für den Schutz der deutschen Verbraucherinnen
und Verbraucher zu tun. Auch die Urheber profitieren
auf der anderen Seite ebenso vom System der kollektiven Rechtewahrnehmung, da sie ihre rechtlichen Ansprüche gegenüber der Vielzahl von Nutzern kaum allein durchsetzen könnten.
Natürlich ist innerhalb des lange bewährten Systems der kollektiven Rechtewahrnehmung auch Verbesserungspotenzial vorhanden, das noch nicht vollständig ausgeschöpft ist. Durch die gesetzlich
legitimierte Monopolstellung der Verwertungsgesellschaften ergeben sich besondere Anforderungen an die
Transparenz sowie an die Struktur der einzelnen Verwertungsgesellschaften. Doch hier ist der vorliegende
Antrag der Fraktion Die Linke sicher nicht der Weg
zum Ziel. Denn konkrete Vorschläge für Verbesserungen sucht man in dem Antrag vergeblich.
Stattdessen hatte die Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“ in ihrem Abschlussbericht umfangreiche Feststellungen zu Veränderungs- und Weiterentwicklungsprozessen im System der Verwertungsgesellschaften vorgebracht, von denen bereits einige
Vorschläge in Gang gesetzt worden sind.
Auch der ebenfalls zur Debatte stehende Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Urheberrechtsgesetzes birgt keine konstruktiven Vorschläge. Die geforderte Einbeziehung von Kindertagesbetreuungseinrichtungen in die Schrankenregelungen basiert ebenfalls - wieder einmal - auf einem
populistisch motivierten vermeintlichen Aufreger,
nämlich einem Anschreiben der GEMA im Auftrag der
Verwertungsgesellschaft Musikedition an die Kindertagesstätten mit dem Angebot eines Abschlusses von
Lizenzverträgen.
Wie die Linke bereits richtig zitiert, kommt die Verwertungsgesellschaft Musikedition damit dem Wunsch
vieler Kindertagesstätten nach, eine praxisorientierte
und handhabbare Lösung für das Fotokopieren von
Lieder- und Notenzetteln zu finden. Während die Fraktion Die Linke hierzu bemerkt, dass dieses Vorgehen
„leider“ mit geltendem Recht vereinbar sei, sind wir
der Auffassung, dass es keinen Änderungsbedarf gibt.
Durch die einmalige Lizenzierung bei der Verwertungsgesellschaft Musikedition haben die Kindertagesstätten die Möglichkeit, ohne bürokratischen Aufwand durch die Zahlung einer Pauschale eine
bestimmte Anzahl von Kopien pro Jahr anzufertigen.
Im Übrigen sind mittlerweile durch Gesamtvertragsregelungen in vielen Fällen tragfähige Lösungen für
viele Einrichtungen gefunden worden. Damit wird dem
Bedarf der Kindertagesstätten Rechnung getragen,
eben keinen „Bürokratismus“ betreiben und „realitätsferne“ Anforderungen erfüllen zu müssen, wie die
Linke in ihrem Gesetzentwurf behauptet.
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist an dieser
Stelle im geltenden Urheberrecht keine Anpassung
oder Änderung notwendig. Die aktuelle Rechtslage
bietet hier bereits einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen der Rechteinhaber auf der einen
und der Kindertagesstätten, also der Nutzer, auf der
anderen Seite. Die Verwertungsgesellschaften sorgen
hier für eine praktikable und transparente Wahrnehmung der Urheberrechte. Wir werden daher sowohl
den vorliegenden Antrag „Das System der Verwertungsgesellschaften grundlegend modernisieren“ als
auch den Gesetzentwurf zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes der Fraktion Die Linke ablehnen.
Das Urheberrecht hat sich zu einem Dauerbrennerthema im politischen Geschäft entwickelt. Es unterliegt einem ständigen Anpassungsdruck. Die vorliegenden Initiativen der Fraktion Die Linke greifen zwei
Aspekte zur Reform des Urheberrechts auf: kollektive
Rechtewahrnehmung und Schranken.
Zum einen wollen die Linken das System der Verwertungsgesellschaften grundlegend modernisieren.
Verwertungsgesellschaften sind integraler Bestandteil
des geltenden Urheberrechtssystems und leisten einen
wesentlichen Beitrag für die Einräumung von Nutzungsrechten an geschützten Werken und die Vergütung der Urheber. Wir Sozialdemokraten wollen das
System der kollektiven Rechtewahrnehmung in
Deutschland daher nicht infrage stellen. Wir stehen
ebenfalls für eine starke Aufsicht über Verwertungsgesellschaften, halten aber die im Antrag enthaltene Forderung nach einer umfassenden Staatsaufsicht mit
Zu Protokoll gegebene Reden
nahezu unbegrenzten Eingriffsbefugnissen für überzogen. Den Vorschlag, der Aufsicht vorzuschreiben, Tarife der Verwertungsgesellschaften bereits vor Veröffentlichung zu überprüfen, halten wir für verfehlt. Ziel
des Gesetzgebers war und ist es, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sich die betroffenen Marktteilnehmer, das heißt Verwertungsgesellschaften und
Nutzervereinigungen, auf angemessene Tarife verständigen können. Dieses Ziel gilt es weiterzuverfolgen.
Der Staat sollte sich aus den Verhandlungen der Beteiligten heraushalten.
Im Übrigen verfügt Deutschland im europäischen
Vergleich schon heute über eine starke Aufsicht. Anstatt punktuelle Veränderungen an dem grundsätzlich
funktionierenden System kollektiver Rechtewahrnehmung vorzunehmen, müssen wir vor allem unseren
Einfluss in Europa geltend machen und verhindern,
dass die Harmonisierungsbestrebungen der EU-Kommission zu einer Absenkung der bestehenden hohen
Standards in Deutschland führen.
Zum anderen sehen die Kolleginnen und Kollegen
von der Fraktion Die Linke Handlungsbedarf bei den
Schrankenregelungen; insbesondere die Schranke der
öffentlichen Wiedergabe geht ihnen nicht weit genug.
Die Schranken der §§ 52, 53 Urheberrechtsgesetz sollen um Ausnahmen für Kitas und für Betreuungseinrichtungen von Schülern erweitert werden. Dabei geht
es vor allem um die vergütungsfreie Erlaubnis zum Kopieren von Notenblättern und zum Vortragen von Kinderliedern im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen, die durch die Kita durchgeführt werden. Die
vorgeschlagene Änderung geht der SPD-Fraktion
- bei allem Verständnis für das Anliegen, das wir im
Grundsatz unterstützen - zu weit. Eine verfassungskonforme Klarstellung des Anwendungsbereichs von
§ 52 wäre allerdings zum Beispiel für das Vortragen
von Kinderliedern im öffentlichen Raum, das keinen
Erwerbszwecken dient - zum Beispiel im Rahmen eines Laternenumzugs -, wünschenswert.
Erlauben Sie mir noch ein Wort in Richtung Bundesregierung. Nach breiten Ankündigungen zu Beginn
dieser Legislaturperiode stehen wir heute in Sachen
Urheberrecht vor einer ernüchternden Bilanz: Neben
der Verabschiedung des umstrittenen Leistungsschutzrechts für Presseverlage ist nichts geworden aus dem
sogenannten dritten Korb. Auf den letzten Drücker hat
die Koalition heute ihren Entwurf zur Nutzung verwaister und vergriffener Werke eingebracht, mit dem
auch ein halbherziges Zweitverwertungsrecht für Autoren öffentlich geförderter wissenschaftlicher Werke
geschaffen werden soll. Wir könnten und müssten
schon viel weiter sein. Die „Reförmchen“, die die
Bundesregierung auf den Weg gebracht hat, sind ein
Tropfen auf den heißen Stein. Die drängendsten Probleme im Urheberrecht bleiben ungelöst und werden
uns in der nächsten Legislaturperiode, unter einer hoffentlich anderen Bundesregierung, weiterhin beschäftigen.
Zum wiederholten Mal debattieren wir heute über
das Urheberrecht. Die bisherigen Debatten und auch
die nun vorliegenden Anträge der Fraktion Die Linke
machen deutlich, dass die Auffassungen dabei fundamental voneinander abweichen.
Das Urheberrecht soll die Urheber schützen; das wird
schon anhand des Namens deutlich. Insbesondere der
Antrag der Linken auf Bundestagsdrucksache 17/4876
macht jedoch deutlich, dass die Linke in diesem Zusammenhang vielmehr den Fokus auf diejenigen richtet, die urheberrechtlich geschützte Werke nutzen wollen. Dieser Ansatz geht jedoch fehl. Ein Urheberrecht
macht nur Sinn, wenn es primär die Rechte der Kreativen schützt.
Ich habe bereits in der Debatte vom 13. Dezember
2012 vorgetragen, warum die FDP-Bundestagsfraktion den Antrag der Linken auf Bundestagsdrucksache 17/11043 ablehnt. Insofern verweise ich auf die
damals gemachten Ausführungen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt auch den Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 17/4876 ab.
Dies hat folgende Gründe:
Die Linke möchte erreichen, dass Kindergärten von
der in § 53 Abs. 4 Urheberrechtsgesetz vorgesehenen
Regelung, nach der Vervielfältigungen grafischer Aufzeichnungen von Werken der Musik, also von Noten,
befreit werden. Allerdings versäumt es die Linke,
schlüssig zu begründen, warum gerade die Träger der
Kindergärten, also vor allem Kirchen und Kommunen,
dieses Privileg erhalten sollen. Der Antrag stellt primär auf § 52 Urheberrechtsgesetz und auf § 53 Abs. 3
Urheberrechtsgesetz ab. Die Argumentation mit § 52
Urheberrechtsgesetz kann allein deshalb nicht überzeugen, weil es darin um die öffentliche Wiedergabe
urheberrechtlich geschützter Werke geht. Das Kopieren von Noten stellt aber keine öffentliche Wiedergabe
eines urheberrechtlich geschützten Werkes dar.
Die Urheberrechtsschranke des § 53 Abs. 3 Urheberrechtsgesetz kann nur dann greifen, wenn es um
Vervielfältigungsstücke von kleinen Teilen eines Werkes, von Werken von geringem Umfang oder von einzelnen Beiträgen, die in Zeitungen oder Zeitschriften
erschienen oder öffentlich zugänglich gemacht worden
sind, geht. Dies trifft in aller Regel auf Noten ebenfalls
nicht zu, da Noten nicht in Zeitungen oder Zeitschriften öffentlich zugänglich gemacht werden.
Der Antrag sieht eine Änderung des allein einschlägigen § 53 Abs. 3 Urheberrechtsgesetz dahin vor, dass
die Beschränkung der Vervielfältigungsfreiheit unter
anderem für Notenblätter in Kindertagesbetreuungseinrichtungen aufgehoben wird. Die Linke begründet
jedoch nicht, warum einzig Kindergärten und ähnliche
Einrichtungen von dieser Änderung profitieren sollen,
Schulen zum Beispiel aber nicht.
Der Grund für das Vervielfältigungsverbot für Noten in § 53 Abs. 4 Urheberrechtsgesetz liegt darin,
Zu Protokoll gegebene Reden
dass der Gesetzgeber in der Kopie von Notenblättern
wie auch von ganzen Büchern eine allzu große Beeinträchtigung der Absatzmöglichkeiten der Verlagsprodukte gesehen hat, die seiner Ansicht nach durch den
Vergütungsanspruch nicht hinreichend abgegolten
werde, vergleiche Bundestagsdrucksache 10/837,
Seite 17. Die Linke führt in ihrem Antrag nicht aus,
dass sich an dieser Ausgangslage etwas geändert hat,
weder mit Blick auf Kindergärten noch generell.
Auch die weitere Argumentation in dem Antrag
überzeugt nicht. So wird der Vorwurf erhoben, die an
die Kindergärten herangetragenen Forderungen seien
in ihren finanziellen Auswirkungen für die Einrichtungen und Eltern unverantwortlich. Tatsächlich beträgt
die Lizenzgebühr für das Erstellen von bis zu 500 Kopien 56 Euro pro Jahr; für kirchliche oder kommunale
Kindergärten aufgrund von bestehenden Gesamtverträgen sogar nur 44,80 Euro. Es ist nicht ersichtlich,
dass solche Beträge die Kritik der Linken rechtfertigen
können.
Zudem haben mit Bayern und Baden-Württemberg
bereits zwei Bundesländer Pauschalverträge mit der
VG Musikedition und der GEMA geschlossen. Darin
verpflichten sich die Bundesländer, die jährliche Pauschale sowie die Dokumentation der hergestellten Kopien in Abstimmung mit dem Gemeinde-, Landkreisund Städtetag zu übernehmen. Andere Bundesländer
führen zurzeit entsprechende Verhandlungen mit den
beiden Verwertungsgesellschaften. Dies zeigt, dass das
bestehende System funktioniert und ein gesetzgeberisches Eingreifen nicht erforderlich ist.
Aus den genannten Gründen lehnt die FDP-Bundestagsfraktion die hier zur Debatte stehenden Anträge
ab.
Groß war die Aufregung, als die GEMA und die VG
Musikedition Ende 2011 36 000 Kindertagesstätten
anschrieb und von ihnen eine Gebühr für das Kopieren
von Notenblättern verlangte. Die Empörung war damals sehr gerechtfertigt. Die Forderungen von GEMA
und VG Musikedition ließen sich, zumindest rechtlich,
nicht beanstanden. Moralisch mag das alles fragwürdig gewesen sein und realitätsfern sowieso - Erzieherinnen und Erzieher müssten akribisch Buch führen,
um ja nicht mehr als die lizensierten 500 Kopien zu
überschreiten -, rein juristisch waren und sind GEMA
und VG Musikedition im Recht.
Dabei nutzen sie eine Lücke im bestehenden Gesetz
aus. Das Urheberrecht wurde nämlich zugunsten von
Schulen und Aus- und Weiterbildungseinrichtungen
unter anderem unter Beachtung des Erziehungs- und
Bildungsauftrages des Staates beschränkt. Kindertagesstätten als Ort frühkindlicher Bildung sind jedoch
davon ausgeschlossen. Dies ist nur schwer einzusehen,
werden doch in Kindertagesstätten wichtige Grundlagen, insbesondere im Bereich der Spracherziehung,
gelegt. Die Linke fordert deshalb, diese Sonderregelung auch für Kindertagesstätten gelten zu lassen.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass das Image der
GEMA und von Verwertungsgesellschaften allgemein
stark gelitten hat. Insbesondere die GEMA fällt immer
wieder durch eigenmächtiges und unsensibles Handeln auf. Das zeigt auch der Streit um die Reform der
GEMA-Tarife, der erbittert geführt wurde und schließlich dazu führte, dass die GEMA ihre Tarifreform aussetzte. Inzwischen hat das Marken- und Patentamt die
Reform größtenteils kassiert. Die Tarife würden in vielen Fällen zu derartigen Steigerungen führen, dass
diese auch beim besten Willen „nicht als angemessen
anzusehen“ seien, begründete das Marken- und Patentamt seine Entscheidung. Nun müssen die Verhandlungen neu aufgenommen werden.
Doch auch aus anderen Gründen stehen Verwertungsgesellschaften bei Urheberinnen und Urhebern
in der Kritik. Der VG WORT wird vorgeworfen, einen
Teil des Geldes, das eigentlich den Urheberinnen und
Urhebern zustünde, zu Unrecht an Verleger auszuschütten. Die Sache ist mittlerweile in der zweiten Instanz verhandelt worden. Gegen die GEMA liegt eine
ähnliche Klage vor. Und die VFF, eine Filmverwertungsgesellschaft, handhabt einen Verteilungsplan, bei
dem die Sender einen Teil des Geldes bekommen, das
eigentlich den freien Auftragsproduzenten zustünde.
Das Deutsche Patent- und Markenamt schweigt zu all
diesen Prozessen, obwohl es mittlerweile sogar ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs gibt, das den originären Rechteinhabern in dieser Sache den Rücken
stärkt.
Ich könnte noch viele weitere Punkte anführen, die
zeigen, dass das bisherige System der Verwertungsgesellschaften seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllt.
Ein weiteres Beispiel dafür ist, dass in vielen Verwertungsgesellschaften nur ein geringer Prozentteil der
Mitglieder über Verteilungsschlüssel bestimmen darf
- nämlich die, die das große Geld machen - oder dass
aus diesem Grund Geld vor allem an die Gutverdienenden ausgezahlt wird und dass insbesondere Urheberinnen und Urheber, die von ihrem Schaffen kaum
leben können, größtenteils leer ausgehen. Es ist daher
an der Zeit, dieses System grundlegend zu reformieren.
Wir haben deshalb einen Antrag eingebracht, der konkrete Vorschläge für eine solche Reform unterbreitet.
Wir fordern, dass eine Regulierungsbehörde gebildet wird, die Tarife vor deren Inkrafttreten überprüft
und billigt und darüber hinaus kontrolliert, dass Ausschüttungen den tatsächlichen Rechteinhaberinnen
und Rechteinhabern zugewiesen werden. Damit würde
die Monopolstellung der Verwertungsgesellschaften
aufgebrochen, die die seltsamen Blüten, die dieses System derzeit treibt, erst ermöglicht.
Wir fordern, dass Verwertungsgesellschaften erst
dann als solche anerkannt werden, wenn sie demokratische Strukturen vorweisen können und sicherstellen,
dass alle Mitglieder gleichermaßen mitbestimmen dürfen. Dass dies funktioniert und nicht, wie gerne behauptet, bei großen Verwertungsgesellschaften zu einer Handlungsunfähigkeit führt, zeigt die VG BildZu Protokoll gegebene Reden
Kunst, die jedem ihrer knapp 51 000 Mitglieder gleiches Stimmrecht einräumt.
Wir fordern, dass Minderheitenrechte gewahrt werden. Sobald mindestens 10 Prozent der Mitglieder dies
fordern, soll die Regulierungsbehörde kontrollieren,
ob die Verwertungsgesellschaft ihrem gesetzlichen
Auftrag angemessen nachkommt, sprich: die Gelder
fair verteilt. Wir fordern, dass die GEMA-Vermutung,
wonach Veranstalter nachweisen müssen, dass die gespielte Musik nicht GEMA-pflichtig ist, dann nicht gilt,
wenn mehr als 5 Prozent der gespielten Werke nicht
GEMA-pflichtig sind. Das ist besonders in Bereichen
der elektronischen Musik und des improvisierten Jazz
der Fall. Eine generelle Aufhebung der GEMA-Vermutung halten wir für wenig praktikabel. In sehr vielen
Fällen erleichtert dies nämlich die Abrechnung von
Veranstaltungen.
Die Linke hat einen Vorschlag für transparente und
faire Verwertungsgesellschaften vorgelegt. Sie müssen
nur zustimmen.
Wir werden heute wie auch in der kommenden Sitzungswoche und damit zum „Grande Finale“ dieser
Legislaturperiode noch viele Reden zum Urheberrecht
hören; denn die Anträge der Opposition dazu stauen
sich. Und das tun sie aus einem guten Grund; denn
kaum einen Bereich hat diese Bundesregierung sträflicher vernachlässigt als das Urheberrecht.
Sie ignoriert damit neben ihren eigenen Ankündigungen der Verabschiedung eines dritten Korbes, ihrer
BMJ-eigenen Anhörungsrunde von 2010, auch die
dringenden Appelle ganz vieler betroffener Gruppen
einschließlich der heterogenen Gruppe der Urheber
und Urheberinnen selbst, die über schwierige und
schwierigste Zustände in den unterschiedlichsten Bereichen zu berichten wissen.
Darüber kann auch das jetzt vorgelegte Reförmchen
zu den verwaisten Werken überhaupt nicht hinwegtäuschen. Angefangen beim Abmahnunwesen, über die
Verlagsherrlichkeit im Umgang mit Autoren bis hin
zum Dauerärgernis GEMA und der Intransparenz der
Verwertungsgesellschaften - das Urheberrecht steht
im Konflikt und verliert mit jeder neuen Streitrunde an
Überzeugungskraft und innerer Bindungswirkung.
Die Stärke des Urheberrechts war und ist seine zentrale Ausgleichsfunktion zwischen den zahlreichen und
recht ungleich institutionalisierten Interessen im
Markt der Rechteverwertung. Doch die Politik der vergangenen Jahre, oft allein getrieben von internationalen und supranationalen Initiativen zur Stärkung der
Durchsetzbarkeit von Urheberrechten, hat den Ausgleich vernachlässigt und eine Unwucht zugunsten der
Verwertungsseite verursacht. Es wird deshalb, neben
der Sicherstellung der Effektivität des bestehenden Urheberrechtssystems angesichts neuer technischer Entwicklungen, auch Aufgabe einer umfassenderen
Reform des Urheberrechts sein, zeitgemäße Gemeinwohlaspekte der Urheberrechtsgesetzgebung herauszuarbeiten und dabei für einen fairen Interessenausgleich aller Beteiligten zu sorgen.
Der Reformbedarf bei den Verwertungsgesellschaften ist bereits seit vielen Jahren bundestagskundig dokumentiert. Geschehen ist auffälligerweise bis heute
wenig bis nichts. Besonders ausführliche Vorschläge
hatte bereits in 2008 die Enquete „Kultur“ vorgelegt.
Doch auch die Enquete „Internet und digitale Gesellschaft“ hat fraktionsübergreifend erheblichen Reformbedarf diagnostiziert. Die dazu vor zwei Jahren durchgeführte Anhörung brachte ein überwältigendes Votum
der versammelten Professoren und Professorinnen für
eine umfassende Gesetzesreform unter dem Gesichtspunkt der Digitalisierungsfolgen, auch in Bezug auf
Aspekte der Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften.
Das Bekenntnis zur allgemeinen Bedeutung und
wichtigen Bündelungsfunktion der Verwertungsgesellschaften, dem auch wir Grünen im Grundsatz zustimmen, sollte angesichts der zunehmend heftiger geführten Debatten auch und gerade durch betroffene
Mitglieder zumindest einzelner Verwertungsgesellschaften nicht mehr ohne eine erklärende Einschränkung erfolgen: Es darf keine Denkverbote hinsichtlich
eines Infragestellens des bestehenden gesetzlichen
Rahmens für Verwertungsgesellschaften geben, weil
sowohl deren treuhänderische Funktionen als auch deren durch den Gesetzgeber selbst zugewiesene Verteilungsaufgaben zu einer ständigen Überprüfung der
Gerechtigkeitsmaßstäbe bei den internen Verfahrens-,
Entscheidungs- und Verteilungsmechanismen zwingen.
Zutreffend greift der Antrag der Linken eine Reihe
der mittlerweile als unstreitig zu bezeichnenden Problempunkte auf: verbesserte Transparenz hinsichtlich
der Kriterien für die Verteilung sowie die tatsächliche
Verteilung der Einnahmen selbst, Überprüfung der inhaltlichen Kriterien für die Verteilung auf ihre innere
Stimmigkeit und Fairness, verbesserte Mitbestimmung, insbesondere bei Verwertungsgesellschaften mit
der durchaus komplex zu nennenden und durchaus
nachvollziehbar gelegentlich mit dem preußischen
Dreiklassenwahlrecht verglichenen Dreiteilung in ordentliche, außerordentliche und berechtigte Mitglieder, sowie eine verbesserte Aufsichtsstruktur.
Das Urheberrechtswahrnehmungsgesetz trifft bei
allen diesen Punkten und trotz der bislang vorliegenden Rechtsprechung immer noch allenfalls rudimentär
zu bezeichnende Grundregelungen und ist ansonsten
von allergrößter Zurückhaltung gegenüber den vereinsrechtlichen oder gesellschaftrechtlichen Strukturen der Verwertungsgesellschaften geprägt. Genau gegen diese Zurückhaltung bestehen zunehmende
Bedenken, wenn und soweit der Gesetzgeber in immer
mehr Fällen den Verwertungsgesellschaften die Einnahme- und Verteilungsrolle zuweist. Die damit wachsende treuhänderische Verantwortung der Verwertungsgesellschaften muss auch Konsequenzen für die
internen Strukturen nach sich ziehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ein zusätzliches Argument sind die sich weiter ausdifferenzierenden Interessen von Urhebern und Verwertungsgesellschaften angesichts eines wachsenden
Marktdruckes. Ein schönes Beispiel dafür spricht der
Antrag der Linken mit dem Wunsch vieler Urheber und
Urheberinnen an, zumindest im Rahmen ihrer Selbstvermarktung auf ihre eigenen Werke zugreifen zu können.
Einen Teil dieser Fragen, insbesondere zur Binnendemokratie von Verwertungsgesellschaften, greift auch
die EU-Richtlinie auf, die allerdings darüber hinaus
auch die grenzüberschreitende Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften unter Wettbewerbsbedingungen
zum Ziel hat, eine Entwicklung, die keinesfalls die im
Grundsatz angelegten, gleichwohl aber noch ausbaufähigen gemeinwohlbezogenen Funktionen von Verwertungsgesellschaften aushöhlen darf.
Der Antrag der Linken begegnet gleichwohl einigen
Bedenken, weshalb wir uns im Ergebnis enthalten wollen und müssen: Die Forderung nach einer Zuordnung
der Aufsicht zu einer ({0}) nicht näher benannten Regulierungsbehörde verdient zwar Verständnis. Denn
das Deutsche Patent- und Markenamt betreibt die Aufsicht trotz der auf wiederholten Druck erfolgten minimalen personellen Aufstockung auf geringem, nahezu
unsichtbarem Niveau. In der Konstruktion fällt dabei
auch die fehlende personelle wie institutionelle Unabhängigkeit des DPMA vom Bundesjustizministerium
ins Auge. Andererseits erfordert die Aufsicht einen maximal hohen Kenntnisstand der komplexen Rechtsmaterie und würde wohl auch bei jeder anderen Regulierungsbehörde Gefahr laufen, zunächst nur als ein
Anhängsel im Konzert mit anderen, oftmals als wichtiger wahrgenommenen Themen mitzulaufen. Pragmatischer erscheint es deshalb, dem DPMA noch eine
Chance zu geben - auf der Grundlage veränderter materiell-rechtlicher Bestimmungen und einer erneuten
Ressourcenaufstockung.
Auch die Forderung nach einer Vorabgenehmigungspflicht von Tarifen beim DPMA würde einen fundamentalen Paradigmenwechsel mit sich bringen. Damit würde die primäre Verantwortung - und damit
auch das „blame game“ - für die destruktiven Folgen
der massiven Streitigkeiten bei der Verwertung wieder
primär bei der Verwaltung liegen, unter anderem ohne
dass diese einen privilegierten Zugang zu den für eine
sachgerechte Streitbeilegung notwendigen Informationen hätte. Realistischer erscheint es deshalb, zunächst
einmal zu prüfen, wie das bestehende Aufsichtssystem
die ihm zugewiesenen Möglichkeiten auszuschöpfen
vermag. In diesem Zusammenhang beobachten wir
auch aufmerksam die Bemühungen der Mitglieder verschiedener Verwertungsgesellschaften, notwendige
Reformen anzustoßen.
Wir haben in unserem Programm für die Bundestagswahl 2013 formuliert: „Die Möglichkeit der kollektiven Wahrnehmung der Rechte von Urheberinnen
und Urhebern durch Verwertungsgesellschaften ist ein
entscheidendes Instrument, um eine angemessene Vergütung praktikabel sicherzustellen. Auch wenn nicht
alle Verwertungsgesellschaften über einen Kamm zu
scheren sind, wollen wir mehr gleichberechtigte Mitsprache sicherstellen. Die Verwertungsgesellschaften
müssen gerechter, transparenter und demokratischer
werden, wir werden dies rechtlich soweit möglich vorantreiben und unterstützen Initiativen wie auch die
Verwertungsgesellschaften selber, diese Reformschritte
zu gehen. Mitglieder einer Verwertungsgesellschaft
müssen alternative Lizenzmodelle wie ‚Creative Commons‘ nutzen oder andere Geschäftsmodelle entwickeln können.“
Die kommende Bundesregierung wird es sich nicht
wieder erlauben können, den gesellschaftlichen Konflikt um die Verwertungsgesellschaften auf die gleiche
Weise zu ignorieren, wie es diese schwarz-gelbe
Merkel-Chaostruppe aufgrund ihrer Zerstrittenheit
getan hat. Vor allem hilft angesichts der Komplexität
der Detailprobleme keine Vogel-Strauß-Taktik; denn
eine Verschleppung der Klärung zieht auch hier nur
noch größere Probleme nach sich. Wir Grüne stehen
ein für eine problemgerechte Lösung mit allen betroffenen Akteuren, die den fairen Ausgleich der Interessen in den Mittelpunkt rücken wird.
Zunächst Tagesordnungspunkt 32 a. Wir kommen zur
Abstimmung. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13767, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11043
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 32 b. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13768, den Gesetzentwurf der Fraktion Die
Linke auf Drucksache 17/4876 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei
Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen
abgelehnt. Damit entfällt die weitere Beratung.
Zusatzpunkt 10:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines …
Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches - Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien ({0})
- Drucksache 17/13707 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/13707 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 33:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Uwe Kekeritz, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit - Partnerschaft für eine menschenrechtsbasierte
nachhaltige Entwicklung
- Drucksache 17/13728 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.
Als ich mir diese Initiative von der grünen Fraktion
angesehen habe, war ich erst verwundert, was das
denn soll. Dann stellte ich mir die grundsätzliche
Frage nach den Aufgaben der Opposition in unserer
parlamentarischen Demokratie. Und schließlich habe
ich mich über den Antrag wegen seines verdeckten
politischen Ziels geärgert.
Nach allgemeinem Verständnis gehören zu den Auf-
gaben der Opposition in unserem Parlament in erster
Linie die Kontrolle, die Kritik an den Gesetzesvor-
schlägen und der Arbeit der Regierung und das Aufzei-
gen von Alternativen. Das sind wichtige Aufgaben, und
ich freue mich, dass Bündnis 90/Die Grünen sich in
der Opposition befinden. Ich bin sehr zuversichtlich,
dass Sie diese Aufgabe nach der nächsten Bundestags-
wahl auch weiter übernehmen werden. Ich bitte Sie
dann allerdings darum, Ihre Arbeit auf höherem Ni-
veau zu machen, als es bei diesem Antrag der Fall ist.
In Ihrem Antrag finde ich Oppositionsarbeit, was
die Opposition tun soll nicht wieder. Ich finde keine
sinnvolle, konstruktive Kritik am Regierungshandeln;
und eine Alternative zu dem, was wir in der Entwick-
lungspolitik unter schwarz-gelber Verantwortung leis-
ten, fehlt auch. Es handelt sich deshalb um einen ent-
behrlichen Antrag, wenn man die eben genannten
wichtigen, ja unerlässlichen Aufgaben der Opposition
in einer Demokratie als Maßstab anlegt.
Aber lassen Sie mich auch das Gute nennen: Wir
haben in unserem Parlament einen bemerkenswerten
Konsens, sowohl was die Bedeutung der Menschen-
rechte in der Entwicklungspolitik angeht als auch zur
1) Anlage 17
Rolle der Zivilgesellschaft. Ich begrüße es ausdrücklich, dass auch die Grünen eine menschenrechtsbasierte Entwicklungspolitik wollen. Nach dem Wahlprogramm und dem Fraktionsbeschluss gibt es nun auch
einen Antrag dazu.
Erforderlich wäre dies nun nicht mehr gewesen.
Denn die Regierung Merkel und die Entwicklungspolitiker von CDU/CSU stehen sowieso fest mit beiden Füßen auf dem Boden der Menschenrechte, ebenso die
Kollegen von der FDP übrigens. Deshalb müssen wir
auch nicht dazu aufgefordert werden.
Dies weiß auch jeder, und jeder kann es in zahlreichen Dokumenten nachlesen und in der Praxis unserer
Entwicklungszusammenarbeit überprüfen. Wenn ich
auf die Internetseiten des BMZ gehe und die Suchfunktion mit dem Suchbegriff „Menschenrechte“ anklicke,
dann erscheinen 479 Treffer. Da wird über all die
Dinge, die Sie in Ihrem Antrag fordern, informiert. Es
bedarf also keiner Aufforderung. Die Arbeit wird
schon gemacht, und zwar auf hohem Niveau. Beispiele
dafür könnte ich lange zitieren. Ich fordere Sie auf,
diese Informationen auch umfassend zur Kenntnis zu
nehmen, bevor Sie einen Antrag in den Deutschen
Bundestag einbringen.
2011 hat die Bundesregierung das Konzept „Menschenrechte in der deutschen Entwicklungspolitik“
vorgelegt. Auch darin finden Sie Ihre Forderungen
ausformuliert.
Lassen Sie mich auch zu Ihrer Forderung nach der
zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit Stellung nehmen. Auch hier rennen Sie offene Türen ein. Wir haben
für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft kontinuierlich bedeutende Finanzmittel aus dem Etat des
BMZ zur Verfügung gestellt. Der Dialog mit Vertretern
der Zivilgesellschaft ist intensiv, konstruktiv und kooperativ.
Es wurde 2012 ein neues Instrument zur Förderung
der Entwicklungsarbeit von Zivilgesellschaft, Kommunen und Ländern geschaffen. Es heißt „Engagement
Global“. Es trägt zu einer ökologisch, ökonomisch und
sozial nachhaltigen Entwicklung bei, damit auch zukünftige Generationen weltweit Handlungsoptionen
haben. Ich behaupte: Nie war es für die Zivilgesellschaft einfacher, ihre Entwicklungsarbeit zu planen
und durchzuführen, und zwar in Kooperation, mit Unterstützung und auch Finanzierung durch den Staat.
Auch durch „Engagement Global“ wird die Entwicklungspolitik in die Mitte der Gesellschaft geführt, und
zwar über die Zivilgesellschaft, die Sie in Ihrem Antrag zum Thema machen.
Ich habe auch den Suchbegriff „Zivilgesellschaft“
auf den Internetseiten des BMZ angeklickt und bekam
noch mehr Ergebnisse: 693 Treffer. Unser Ziel ist es,
die Zahl der Engagierten in der Zivilgesellschaft auf
2 Millionen zu verdoppeln. Die Haushaltsmittel für die
Zivilgesellschaft, Kirchen und politischen Stiftungen
ist auf hohem Niveau.
Wenn ich also zu dem Ergebnis komme, dass der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen sachlich entbehrlich
ist, frage ich mich, welchem Zweck er denn dienen soll.
Und damit komme ich zu einer weiteren negativen Beurteilung dieser Initiative. Ich behaupte: Es geht nur
um Wahlkampf, Selbstdarstellung und den Versuch, einen falschen Eindruck über die Arbeit der Entwicklungspolitik der Koalition zu erwecken.
Lassen Sie mich diese Behauptung begründen:
Wenn in Ihren Texten ausgeführt wird, dass Menschenrechtsschutz kein „weiches Thema“ sei, das der Realpolitik geopfert werden könne, wollen Sie dann damit
sagen, dass Bündnis 90/Die Grünen die eigentliche
und ehrliche „Menschenrechtspartei“ wäre? Sie implizieren, dass die Politik anderer Parteien mit „doppelten Standards“ Menschenrechte in der Realpolitik
„politischem Kalkül opfern“ würde. So formulieren
Sie es auch in Ihrem Fraktionsbeschluss zu Menschenrechten in der EZ vom Februar dieses Jahres. Wenn
ich so etwas lese frage ich mich: Sind Sie verblendet
und nehmen die Realität nicht richtig wahr oder wollen Sie bewusst einen falschen Eindruck erzeugen?
Denn in Wirklichkeit sind die Menschenrechtspolitik ebenso wie die Förderung und Zusammenarbeit mit
der Zivilgesellschaft Kernthemen unserer Entwicklungspolitik, wie jeder weiß. Und wer es nicht weiß,
dem habe ich einige Quellen dazu genannt.
Ich unterstelle Ihnen von den Grünen den Versuch,
mit diesem Antrag zu den Themen „Menschenrechte“
und „Zivilgesellschaft“ eine Abgrenzung von den anderen politischen Kräften vorzutäuschen. Dieses politische Manöver ist durchsichtig, und wir lehnen es empört ab.
Die Zivilgesellschaft ist ein zentraler Pfeiler jedes
demokratischen Staates. Ohne sie existiert demokratisches System nur auf dem Papier. Gemeinsam mit der
Gewaltenteilung und der Einhaltung von Menschenrechten ist die Zivilgesellschaft Voraussetzung, Bestandteil und Zukunft einer jeden Demokratie; denn
Partizipation der Bürger und kritische Begleitung der
Regierungsarbeit bedeuten letztlich auch die gesellschaftliche Akzeptanz des Systems. Dies kann ohne
eine funktionierende Zivilgesellschaft nicht erreicht
werden; damit aber wäre ein demokratischer Staat
nicht mehr als eine leere Hülse.
Welch fatale Auswirkung die Verstümmelung der Zivilgesellschaft zugunsten eines zivilgehorsamen Volkes
auf das Schicksal einer Nation haben kann, hat kaum
ein anderes Land als das unsrige in den Jahren des
Dritten Reiches und des real existierenden Deutschen
Sozialismus erfahren müssen. Andererseits zeigen die
Erfahrungen der Leipziger Montagsdemonstrationen,
welch immense politische Macht ein partizipierendes
Bürgertum beanspruchen kann.
Aber auch aktuell gibt es auf der politischen Landkarte zahlreiche Beispiele, die die elementare Rolle eines partizipierenden Bürgertums belegen. Die gewalttätigen Ausschreitungen wütender Bürger auf dem
Taksimplatz in Istanbul sind Ausdruck der Unzufriedenheit darüber, dass sich viele Menschen in der Türkei von der Politik Erdogans nicht mit einbezogen und
mitgenommen fühlen. Sie wollen nicht länger dulden,
dass die Politik ihnen Dinge vorschreibt, die weit ins
Private hineinreichen, wie etwa die Anweisung für
Paare, genau drei Kinder in die Welt zu setzen.
Es liegt auf der Hand, dass es für die zivilgesellschaftlichen Akteure leichter ist, sich in langjährigen
und institutionell wie wirtschaftlich stabilen Demokratien zu organisieren und zu agieren als in kriegsgebeutelten, wirtschaftlich schwachen und noch im Transformationsprozess befindlichen Staaten. Die Krux aber
ist: Zivilgesellschaft bildet sich eben nicht einfach infolge institutioneller Demokratisierung, vielmehr ist
sie zugleich wesentliche Voraussetzung für jede funktionierende und stabile Demokratie.
Deshalb ist es so wichtig, dass wir - neben den sogenannten klassischen staatlichen entwicklungspolitischen Aufgaben: Armuts- und Korruptionsbekämpfung, Schutz und Einhaltung von Menschenrechten,
der Ausbau demokratischer Institutionen und der Sofort- und Katastrophenhilfe - die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort unterstützen. Insbesondere dort,
wo staatliche Einrichtungen nicht oder nicht ausreichend als Kooperationspartner zur Verfügung stehen,
muss versucht werden, die Zusammenarbeit mit den lokalen Zivilgesellschaften auszubauen. Sie sind es, die
maßgeblich dazu beitragen, die Bedürfnisse und Interessen der Bürger in unterschiedlichen Gruppierungen
zu artikulieren, und dafür Sorge tragen, dass sinnvoll
getroffene Entscheidungen und eingeführte Maßnahmen auch wirklich bei den Betroffenen ankommen.
Deshalb müssen wir weiterhin auf enge Kooperation mit den Zivilgesellschaften vor Ort setzen. Entwicklungspolitik muss stärker als bisher den Schutz
und die Schaffung von günstigen rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für zivilgesellschaftliche
Akteure unterstützen, und zwar von staatlicher Seite
aus wie auch durch internationale Zusammenarbeit
der Nichtregierungsorganisationen. Zwei grundlegende Aspekte gilt es dabei zu berücksichtigen:
Zum einen müssen wir dafür Sorge tragen, dass Mitarbeiter unserer Nichtregierungsorganisationen in
Partnerländern vor Ort ihre Arbeit in Sicherheit ausüben können. Auch in der strategischen Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren muss die Wahrung
von Menschenrechten und Demokratie im Fokus der
Entwicklungspolitik stehen. Die jüngsten Nachrichten
aus Ägypten, wo das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung und auch Vertretungen amerikanischer Organisationen durch ein Kairoer Gericht zwangsweise geschlossen wurden, muss uns alarmieren. Einschränkungen der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen
müssen bilateral und auf Regierungsebene deutlicher
thematisiert und klare Kriterien für eine Zusammenarbeit eingeführt werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zum anderen sollten wir aber nicht nur kritisch auf
die Partnerländer schauen. Ein differenzierter Blick
lohnt sich durchaus auch auf die Bedingungen, wie sie
derzeit für Nichtregierungsorganisationen in Deutschland vorzufinden sind. An der zunehmenden und uns
Sorgen bereitenden Einflussnahme des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen - die zunehmende Kontrolle von NROPublikationen sei nur als Beispiel genannt - und nicht
zuletzt an der suboptimalen Ausrichtung des Deutschen Entwicklungstages 2013 ist abzulesen, welch geringen Stellenwert die Bundesregierung der Rolle von
Kirchen, politischen Stiftungen, Gewerkschaften und
anderen Nichtregierungsorganisationen beimisst.
Am Ende einer Legislaturperiode ist die Opposition
einmal mehr versucht, vermeintliche Fehler und Versäumnisse der Bundesregierung zu benennen; das gehört zum politischen Geschäft. Aber offensichtlich sind
Sie nicht fündig geworden, denn Sie bemühen wieder
einmal das weite Feld der Zivilgesellschaft.
Als Aufhänger benutzen Sie den ersten Deutschen
Entwicklungstag, der am 25. Mai dieses Jahres stattgefunden hat. Diese Veranstaltung war ein Novum.
Zum ersten Mal haben sich 569 Akteure in 16 Städten
zusammengefunden und entwicklungspolitisches
Engagement zeigen können. Verschiedenste NGOs,
Stiftungen, Kirchen, Kommunen, Bundesländer und
Unternehmen haben diese Möglichkeit genutzt, ihre
Ideen, Initiativen und Projekte vorzustellen. Sie haben
über ihre Arbeit berichtet, sie haben informiert, haben
Menschen begeistern können und Mitstreiter gewonnen.
Das Besondere dieses Tages war doch, Menschen,
die sich ehrenamtlich engagieren, Vereine, Verbände
und Initiativen in Aktion zu zeigen. Hier sollten nicht
wieder nur die üblichen offiziellen Vertreter zu Wort
kommen. Am 25. Mai wurde der Zivilgesellschaft breiter Raum gegeben.
Wenn diese nun bemängelt, sie hätte sich eine stärkere Beteiligung an der Organisation gewünscht, dann
frage ich mich: Warum hat sie nicht mitgemacht?
In Ihrer Presseerklärung zum Deutschen Entwicklungstag schreiben Sie: „Statt staatlicher Regulierung
fordern wir die Unterstützung einer bunten, vielfältigen und unabhängigen Zivilgesellschaft.“ Diese Regierung hat immer die Zivilgesellschaft einbezogen,
weil sie in ihr eine wichtige Säule der Entwicklungszusammenarbeit sieht. Es anders zu sehen, kann ich nur
selektive Wahrnehmung nennen.
Lassen Sie mich eines dazu bemerken: Unlängst
habe ich in meinem Wahlkreis eine Schule besucht, deren Schüler sich in der Entwicklungszusammenarbeit
engagieren wollen. Es war eine Freude, zu sehen, mit
welchem Interesse diese Neuntklässler dabei waren,
Fragen gestellt, Ideen aufgeworfen und diskutiert haben. Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: Viele kleine
Leute an vielen kleinen Orten, die viele kleine Dinge
tun, werden das Antlitz dieser Welt verändern. - Diese
Schüler fangen genau damit an, und ich bin überzeugt,
hier sind wir uns alle einig, diese nach Kräften zu
unterstützen. So beginnt zivilgesellschaftliches Engagement.
Vielleicht wird diese Schule am nächsten Deutschen
Entwicklungstag ihr Ergebnis präsentieren. Ich lade
Sie alle herzlich ein, dann mit dabei zu sein und diesen
Tag der Entwicklungspolitik weiter zu etablieren.
Dies als kleine Einleitung vorweg. Nun konkret zu
Ihren Forderungen.
Aus aktuellem Anlass möchte ich dezidiert auf einen
Punkt Ihres Antrages zu sprechen kommen: die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit politischer Stiftungen. Sie kennen die Reaktion der Bundesregierung auf
die Ereignisse in Ägypten, und daraus dürfen Sie
schließen, dass für uns Unabhängigkeit und Eigenständigkeit wichtig und unantastbar sind. Das Vorgehen gegen die Mitarbeiter von Stiftungen ist nicht hinzunehmen oder zu tolerieren. Noch einmal: Die
Haltung der Bundesregierung ist hier glasklar.
Des Weiteren unterzieht die Bundesregierung Staaten, die die politische Freiheit einschränken und/oder
auch Korruption in ihren Ländern dulden, einer kritischen Prüfung. Wir betrachten dies als Selbstverständlichkeit. In diesem Zusammenhang möchte ich das vom
BMZ eingeführte Konzept des Menschenrechts-TÜV
unterstreichen. Jede neue entwicklungspolitische
Maßnahme wird auf die Vereinbarkeit mit den Menschenrechten und ihre Auswirkungen darauf überprüft.
Sie sprechen in Ihrem Antrag die Rolle von Engagement Global an. Diese neu geschaffene Organisation
soll zusätzlich auch organisatorisch nicht gebundenes
Engagement auffangen, beraten und bündeln. Sie
schreiben natürlich völlig zu Recht: „Zivilgesellschaftliche Akteure verfolgen auch Eigeninteressen und stehen in Konkurrenz zueinander.“ Genau das soll durch
Engagement Global zumindest vermindert werden,
denn nun gibt es einen zentralen Ansprechpartner, der
zivilgesellschaftliches Engagement effektiv im Sinne
der Entwicklungspartnerländer verknüpft. Daher teile
ich Ihre Argumentation nicht, hier würden Parallelstrukturen aufgebaut. Das wäre nur der Fall, wenn die
NGOs sich der Zusammenarbeit verweigern würden.
In einem Punkt Ihres Antrags sind wir uns aber einig: die Mittelvergabe stärker an eine positive Evaluierung vergangener Projekte zu koppeln. Hier geht das
Ministerium mit gutem Beispiel voran. Mit der Gründung von DEval, dem unabhängigen Evaluierungsinstitut, hat es diese Forderung vorweggenommen.
Im Übrigen gilt diese Vorreiterrolle auch für die
Forderung nach mehr Partizipation der Zivilgesellschaft. Denken Sie zum Beispiel an die Initiative
„Engagement fairbindet“. Bei der letzten Veranstaltung im Mai 2012 haben sich rund 3 500 Menschen in
Zu Protokoll gegebene Reden
Bonn getroffen, erfolgreiche Ideen vorgestellt und
neue Projekte entwickelt.
Nur zu Ihrer Kenntnis: Der Anteil der Mittel, die
das BMZ für die Förderung entwicklungspolitischer
Projekte und Programme deutscher zivilgesellschaftlicher Organisationen bereitgestellt hat, ist in den Jahren 2009 bis 2013 um nahezu 20 Prozent auf rund
670 Millionen Euro gestiegen und macht inzwischen
circa 11 Prozent des BMZ-Haushaltes aus.
Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen in
Deutschland und in den Kooperationsländern wird
weiter stärker gefördert werden. Wie, darüber werden
wir gerne kontrovers, aber mit großem Engagement
diskutieren.
Wie Sie sehen, ist doch bereits ein großer Teil Ihrer
Forderungen umgesetzt. Daher werde ich Ihren Antrag
nicht unterstützen.
Die Bedingungen für Entwicklungszusammenarbeit
in Deutschland haben sich in dieser Legislaturperiode
für die Akteure in den Nichtregierungsorganisationen
deutlich verschlechtert: Beispiele sind die zivil-militärische Zusammenarbeit, die einseitige Stärkung der Interessen der deutschen Wirtschaft mit Mitteln aus dem
Entwicklungshaushalt und die Einschränkung der Veröffentlichungen von Nichtregierungsorganisationen
durch die Designrichtlinie des BMZ, die nach dem
Motto „Wer zahlt, muss auch erkennbar sein“ durchgesetzt wurde. Die Fraktion Die Linke setzt sich dafür
ein, dass diese fatalen Entwicklungen zurückgenommen werden.
Durch die erzwungene zivil-militärische Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Nichtregierungsorganisationen wurden die Arbeit der NGOs gefährdet
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der NGOs in
Gefahr gebracht. In diesem Zusammenhang will ich
ausdrücklich den aktuellen Versuch der Bundesregierung zurückweisen, die Entwicklungsorganisationen
für den Regimechange in Syrien einzuspannen. Nichtregierungsorganisationen sollen durch diese fatale
Politik der Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche degradiert werden, indem ihnen ein Kombattantenstatus zugewiesen wird. Ihre Glaubwürdigkeit in
der Bevölkerung, vor allem aber die Möglichkeit des
ungehinderten Arbeitens durch die Akzeptanz auch der
Gegenseite, geht verloren; denn sie werden von der
Regierung aufgefordert, ihre Neutralitätspflicht zu
missachten. Damit wird ein wichtiger Pfeiler effektiven
humanitären Arbeitens infrage gestellt. Die Politik der
Bundesregierung, die in allen Bereichen eine Militarisierung der Politik forciert, hat völlig versagt. Wir erwarten von der nächsten Bundesregierung, dass diese
zivil-militärische Zusammenarbeit sofort beendet
wird.
Mit ihrem neoliberalen Grundverständnis hat die
Leitung des Hauses begonnen, eine über viele Jahrzehnte gewachsene Struktur des BMZ, vor allem aber
auch der staatlichen Entwicklungsorganisationen, zu
zerschlagen und umzubauen. Ziel ist eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Entwicklungspolitik, in der
die GIZ als Anbieter neben Privatanbietern auf dem
„Markt der Entwicklungspolitik“ positioniert werden
soll. Um dies zu beschleunigen, wurden in die Leitungsfunktionen des BMZ und der GIZ FDP-treue Anhängerinnen und Anhänger installiert. „Spezlwirtschaft“ à la München wurde leider auch hier in Berlin
forciert.
Als besonders empörend empfinde ich die faktische
Zensur der Medien der geförderten Partner des BMZ.
Mit der Auflage, die Veröffentlichungen dem BMZ zur
Durchsicht vorzulegen, wird eine faktische Selbstzensur der NGOs befördert. Mit einer aufgeklärten, demokratischen Zusammenarbeit mit den NGOs im entwicklungspolitischen Bereich hat dies wenig zu tun.
Ins gleiche Horn stößt die Designrichtlinie des
BMZ, in der unter dem Motto „Wer zahlt, muss auch
erkennbar sein“ eine Werbestrategie für das BMZ entwickelt wurde. Damit werden Medien der Nichtregierungsorganisationen als Werbefläche für Regierungspolitik missbraucht.
In dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
stehen im innenpolitischen Teil viele Forderungen, die
wir unterstützen können. Der außenpolitische Teil ist
jedoch zum Teil ausgesprochen problematisch. Wenn
sich die Grünen dafür einsetzen, „die finanziellen
Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Beteiligung
der Zivilgesellschaft“ zu schaffen, liest sich dies wie
eine deutsche Nebenaußenpolitik durch zivilgesellschaftliche Akteure. Die Förderung von „genehmen“
Nichtregierungsorganisationen in den Ländern des
globalen Südens als Möglichkeit der Einflussnahme
deutscher Außen- und Entwicklungspolitik ist zumindest fragwürdig und fördert nicht die Entwicklung einer eigenständigen demokratischen Kultur in diesen
Ländern.
Die Fraktion Die Linke setzt sich vielmehr dafür
ein, mit einer neuen Außenhandelspolitik den Ländern
des globalen Südens Entwicklungschancen zu ermöglichen, die ihnen die notwendigen Perspektiven für eine
eigenständige Entwicklung geben. Auf „unabhängige“
Nichtregierungsorganisationen zu setzen, die vom
Haushalt des Auswärtigen Amtes oder des Entwicklungshilfeministeriums finanziert werden, muss zumindest kritisch hinterfragt werden.
Gerade bei meinen Besuchen in Ländern des Südens
ist mir aufgefallen, dass mir immer mehr politische Akteure begegnen, die in den Eliteuniversitäten der Industriestaaten ausgebildet wurden, über Stipendien
der Staaten des Nordens gefördert wurden oder ihre
Arbeit durch finanzielle Hilfen der nördlichen Industriestaaten organisieren. Dass hier auch Abhängigkeitsverhältnisse dieser Akteure gegenüber ihren Geldgebern entstehen, ist nicht von der Hand zu weisen.
Viele politische Karrieren werden in diesen Ländern
mittlerweile in NGOs vorbereitet, die von der EU oder
Zu Protokoll gegebene Reden
westlichen Regierungen finanziert werden. Das „N“
im Begriff „NGOs“ ist insofern hinterfragbar, als
diese Organisationen vielleicht unabhängig von ihrer
eigenen Regierung sind, dafür aber im höchsten Maße
abhängig von ausländischen Regierungen. Andere
politische Akteure in diesen Ländern beklagen die
Macht der NGOs und das enorme Manipulationspotenzial von außen, das damit verbunden ist. Sie sprechen von „NGOisierung“ oder der Herrschaft der
NGOs. In schwach entwickelten Zivilgesellschaften
des Südens kann man mit finanzieller Unterstützung
einzelner Gruppen die Kräfteverhältnisse erheblich
beeinflussen und selbst solche Kräfte stark machen,
die eigentlich über wenig Rückhalt in der Bevölkerung
verfügen. Wir erleben immer wieder, dass die EU und
die Bundesregierung dieses Manipulationspotenzial
gezielt einsetzen. Zuletzt hat der Umsetzungsbericht
der Kommission zum Aktionsplan zur Unterstützung
der Demokratie ein beredtes Beispiel dafür abgegeben.
Hier ist ein sehr hohes Maß an Sensibilität gefragt.
Die Grünen werden dem mit ihren sehr generellen Forderungen nicht gerecht. Ihr Antrag reiht sich in die generelle Politik von Bündnis 90/Die Grünen ein, die
durch eine offensive Außenpolitik und durch militärische und zivile Einflussnahme in den Ländern des globalen Südens Politik in diesen Ländern aus Deutschland heraus gestalten wollen. Wir halten einen solchen
Ansatz für falsch. Insgesamt stehen wir deshalb dem
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen kritisch gegenüber
und werden deshalb nicht zustimmen.
Was wäre Politik ohne Zivilgesellschaft? Was wären
wir in der Entwicklungspolitik ohne die Informationen
von Amnesty International, Terre des Femmes, Welt-
hungerhilfe, Misereor, Brot für die Welt, urgewald,
Greenpeace, Global Witness und vielen mehr?
Wir wären annähernd blind und taub, weil wir nicht
mitbekämen, was sich auf dieser Welt wirklich ereig-
net. So viele Fact Finding Missions könnten wir als
Politikerinnen und Politiker nie leisten, um mitzube-
kommen, wo Menschenrechte verletzt, Verbrechen be-
gangen und ökologische Wahnsinnsprojekte an den
Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigehen. Daher ge-
hört die Zusammenarbeit mit einer Zivilgesellschaft,
die sich den universellen Werten der Menschenrechte
verschrieben hat, zum Kern der Entwicklungspolitik.
Diese Nichtregierungsorganisationen sammeln In-
formationen, halten Kontakt zu den Menschen vor Ort
und sind Botschafter für den internationalen Raum.
Unsere Welt braucht deshalb eine unabhängige, fähige
und engagierte Zivilgesellschaft. Sie sind für uns in der
Entwicklungspolitik wichtige Partnerinnen und Part-
ner. Deshalb auch von dieser Seite ein großes Danke-
schön an eine vielfach ehrenamtliche, oft schwierige,
manchmal lebensgefährliche wie auch oft hochprofes-
sionelle Arbeit.
Unser Antrag will deswegen hier ein Ausrufezei-
chen setzen!
Das ist hochaktuell, wie uns Ägypten zeigt. Anfang
dieser Woche hat ein Gericht Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung - in Abwe-
senheit - zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Das
ist ein fataler Rückschritt für die demokratische Ent-
wicklung in Ägypten. Aber auch in anderen Teilen der
Welt erleben wir, wie die Freiräume von NROs einge-
schränkt werden; das reicht über Äthiopien, Angola,
Kasachstan bis nach Russland und viel zu vielen ande-
ren Ländern.
Doch ich will auch nicht so tun, als ob nur heile
Welt in Bezug auf Zivilgesellschaft existiert; denn zu
der Zusammenarbeit gehört auch der kritische Dialog.
Zivilgesellschaft ist nicht per se immer gut und richtig.
So müssen auch NROs Rechenschaft über ihre Ziele
ablegen und darüber, wie sie die Mittel, die sie vom
Staat erhalten, umsetzen. Auch können Nichtregie-
rungsorganisationen demokratisch gewählte Parla-
mente nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Außerdem
gibt es Beispiele von Organisationen, die Vertrauen
missbrauchen. Deswegen braucht es klare Kriterien.
Wir müssen uns kritisch auseinandersetzen mit den
nicht immer positiven NRO-Phänomenen, wie auf
Mittelakquise spezialisierte Hauptstadt-NROs, die
Dominanz von Nord-NROs gegenüber kleinen Organi-
sationen aus dem Süden oder die viel zitierte Katastro-
phenkarawane.
Erwähnen möchte ich ein positives Beispiel aus
Afghanistan. Dort wurde im Vorfeld der Afghanistan-
Konferenz in Bonn vor zwei Jahren ein Prozess ange-
stoßen, der bis heute andauert. Zivilgesellschaftliche
Organisationen aus allen Teilen des Landes - eben
nicht nur die hochprofessionellen Hauptstadt-NROs -
haben sich zusammengeschlossen und Forderungen an
die afghanische Regierung und die internationale Ge-
meinschaft formuliert. Erst diese Woche konnte ich mit
Vertreterinnen und Vertretern dieses afghanisch getra-
genen Prozesses sprechen; das macht Hoffnung. Das,
was diese kriegsgebeutelte Nation durch all die weite-
ren schwierigen Jahre stützen kann, ist eine aktive,
bunte und gut vernetzte Zivilgesellschaft.
Dies gilt nicht nur für Afghanistan. Das gilt für alle
Länder, und es gilt ganz besonders für die fragilen
Staaten. Denn gerade in Räumen begrenzter Staatlich-
keit müssen die friedlichen, vorwärtsgewandten
Akteure in Lücken springen, die von staatlicher Seite
freigelassen werden. Denn sonst wird diese Lücke von
radikalen Kräften gefüllt.
Diese Arbeit an der gesellschaftlichen Infrastruktur
muss noch mehr in unser Bewusstsein und unser Be-
mühen rücken. Nach wie vor ist es für NROs schwer,
sich für internationale Konferenzen zu akkreditieren
oder eine Teilnahme auch nur zu finanzieren. Allein
dies ist schon ein einfacher Hebel für mehr „Empow-
erment“ von Zivilgesellschaft.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist im
Bereich der Stärkung von Zivilgesellschaft bereits ak-
tiv. Aber die natürliche Partnerin dafür ist die vielfäl-
tige Zivilgesellschaft hier in Deutschland mit ihren
Projekten, Partnerschaften und Netzwerken in zahlrei-
chen Ländern des Südens.
Darum ist es so fatal, dass sich trotz gegenteiliger
Ankündigungen ein größer werdender Graben auftut
zwischen der Bundesregierung, konkret dem BMZ, und
der Zivilgesellschaft. Jüngstes Beispiel ist der erste
deutsche Entwicklungstag, der mehr wegen Ignoranz
und schlechter Einbindung der Zivilgesellschaft ins
Wasser fiel als durch den Regen, der zusätzlich vor al-
lem in Berlin zum Fiasko führte.
Die zentrale Botschaft unseres grünen Antrags ist:
Zivilgesellschaft ist aus einem partizipativ-emanzipa-
torischen Grundverständnis heraus die natürliche
Partnerin der internationalen Zusammenarbeit. För-
derung und Einbeziehung der Zivilgesellschaft sind
von großer strategischer Bedeutung für eine men-
schenrechtsbasierte nachhaltige Entwicklung.
Ich bitte um Zustimmung.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13728 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 34 a und 34 b:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD sowie der Ab-
geordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kennzeichnung von Honig mit Gentech-Pollen
sicherstellen - Schutz der Imkerei vor GVO-
Verunreinigungen gewährleisten
- Drucksachen 17/12839, 17/13273 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Rief
Dr. Christel Happach-Kasan
Harald Ebner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Imkerei vor der Agro-Gentechnik schützen
- Drucksachen 17/9985, 17/11057 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Max Lehmer
Dr. Christel Happach-Kasan
Harald Ebner
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.
Die von den Linken und den Grünen vorgelegten
Anträge gehen an der Realität völlig vorbei. Aber sicher muss jeder Versuch zur Skandalisierung genutzt
werden, weil der Wahlkampf unmittelbar bevorsteht
und die Bienen und ihre Imker wieder einmal dafür
herhalten müssen.
Da wir de facto keinen Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen in Deutschland haben, sind der
Schutz von Bienen vor Grüner Gentechnik beziehungsweise die Verunreinigung von Honig und Pollen in
Deutschland kein Problem. Warum sollen nun diese
Anträge beschlossen werden? Dieses Wahlkampfmanöver ist auch ohne große Fachkenntnis leicht zu
durchschauen.
Betrachtet man die Anbauzahlen von gentechnisch
veränderten Pflanzen der letzen Jahre genauer, stellt
man fest, dass es nur die Ausnahme eines Versuchsanbaus von Stärkekartoffeln zu Forschungszwecken
gab und darüber hinaus keinerlei Anbau stattfindet.
Diese Zahlen kennen Sie, meine Damen und Herren
von der Opposition, auch ganz genau.
Auch wissen Sie ganz genau, dass in Deutschland
weder die Bevölkerung noch die Landwirtschaft besonders an der Einführung von gentechnisch veränderten Pflanzen und der Grünen Gentechnik insgesamt
interessiert sind. Bei der Zulassung gibt es hohe europäische und nationale Hürden, weshalb sich der Anbau kaum lohnt. Zudem sind die Erfolge oft auch durch
konventionelle Zucht zu erreichen.
Bei der Einfuhr von Saatgut gilt eine Nulltolleranz
gegenüber der Verunreinigung mit gentechnisch verändertem Material, sodass auch schon minimal verunreinigte Chargen nicht zur Aussaat zugelassen und
vernichtet werden.
Auf dem Weltmarkt kann man sehr gut nachvollziehen, dass der vermeintliche Vorteil beim Anbau von
gentechnisch veränderten Pflanzen oft durch einen geringeren Weltmarktpreis gegenüber dem Preis für das
konventionelle Produkt aufgezehrt wird.
Dies sind die Gründe, warum es in Deutschland
keine Grüne Gentechnik gibt und damit die Bedrohung
schlichtweg nicht existiert, die von Linkspartei und
den Grünen so gefürchtet wird.
Eine mögliche Verunreinigung von Honig mit Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen könnte also
nur bei importiertem Honig vorkommen. Hier hat der
Europäische Gerichtshof in seinem sogenannten Honig-Urteil entschieden, dass solch ein Honig nicht nur
deklariert werden muss, sondern auch einer Zulassung
bedarf.
Der Antrag der Grünen geht von falschen Vorstellungen aus. Pollen sind ein natürlicher Bestandteil von
Honig, der ein reines Naturprodukt ist. Hier nun die
Verunreinigung durch kleinste Mengen Pollen von
gentechnisch veränderten Pflanzen zuverlässig nachweisen zu wollen, ist bisher technisch nicht möglich.
Für so geringe Mengen fehlt eine brauchbare Analysemethode. Aber auch hier gilt, dass im Honig nur gentechnisch veränderte Pollen von Pflanzen enthalten
sein dürfen, die in der EU als Lebensmittel zugelassen
sind.
Aus Sicht der Verbraucher ist die Entscheidung sehr
einfach: Wer reinen deutschen Honig kauft, kann sicher sein, dass er ein gentechnikfreies, hochwertiges
Produkt erwirbt. Der Verbraucher trägt so dazu bei,
dass heimische Imkerinnen und Imker gefördert werden und die Anerkennung erfahren, die ihnen für ihre
wichtige Arbeit gebührt. Wir stärken so die Attraktivität der Imkerei und können den Nachwuchssorgen begegnen, die es momentan gibt. Der Erhalt der Honigbiene als Honiglieferant und vor allem als Bestäuber
im Gartenbau und in der Landwirtschaft sollte uns allen am Herzen liegen. Die Bestäubungsleistung übersteigt dabei die volkswirtschaftliche Bedeutung der
Honigproduktion bei weitem.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Opposition, nicht die unnötige Angst vor gar nicht angebauten gentechnisch veränderten Pflanzen ist bei
uns ein Problem. Vielmehr sollten wir uns um den
Nachwuchs bei den Imkern kümmern und für einen
professionellen Umgang mit Schädlingen wie der
Varroamilbe werben.
Wir lehnen Ihre Anträge, wie vom Ausschuss empfohlen, ab.
Im September 2011 hat der Europäische Gerichtshof, EuGH, ein für Imker und Verbraucher grundlegendes Urteil verkündet: Der EuGH entschied, dass
Honig, der Material bzw. Pollen von GVO-Pflanzen
enthält, sowohl eine Lebensmittelzulassung als auch
eine entsprechende Kennzeichnung braucht. Dies gilt
unabhängig davon, ob das GVO-Material absichtlich
beigegeben wurde oder nicht.
Wir haben dieses Urteil sehr begrüßt:
Der EuGH stellte damit klar, dass die mit der Lebensmittelzulassung verbundene Prüfung der gesundheitlichen Unbedenklichkeit in jedem Fall und ohne
Ausnahme bei allen für den menschlichen Verzehr geeigneten Pflanzen durchgeführt werden muss, denn ein
Eintrag solcher GVO-Pflanzen in die Lebensmittelkette ist nicht auszuschließen.
Der Gerichtshof bestätigt den Grundsatz der Nulltoleranz für Spuren von gentechnisch verändertem
Material, das nicht über die nach EU-Recht erforderliche Zulassung verfügt.
Er bestätigte, dass Honig aus dem Verkehr gezogen
werden muss, wenn er auch nur geringste Spuren von
nicht zu Lebensmittelzwecken zugelassenen gentechnisch veränderten Pollen enthält - und dies auch unabhängig davon, ob der Pollen zufällig und unbeabsichtigt in das Produkt geriet. Daraus folgt, dass
betroffene Imker Anspruch auf Schadenersatz und Anspruch auf Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der
Verunreinigung haben.
Dieses Urteil schafft Klarheit für die Imker, und es
schützt und stärkt Verbraucher und ihre Wahlfreiheit.
Denn erstens: Honig mit Pollenanteilen gentechnisch
veränderter Pflanzen ohne Lebensmittelzulassung darf
nicht verkauft werden. Der dadurch dem Imker entstehende wirtschaftliche Schaden muss vom Verursacher
der Verunreinigung ausgeglichen werden. Und zweitens: Honig mit Pollen, der zu 0,9 oder mehr Prozent
aus GVO-Pollen besteht, muss entsprechend gekennzeichnet werden. Solcher Honig ist also für Verbraucher zu erkennen und kann je nach Wunsch gekauft
oder gemieden werden. Dass Honig ohne entsprechende Kennzeichnung auch wirklich keine GVO enthalten darf, stärkt das Image des Honigs und das Vertrauen der Verbraucher.
So weit, so gut. Im September 2012 aber hat die EUKommission einen Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 2001/110/EG über Honig vorgelegt, der der Intention des EuGH-Urteils zuwiderläuft. In diesem
Vorschlag ist eine Definition des Pollens als „Bestandteil“ des Honigs vorgesehen. Honig, der gentechnisch
veränderte Pollen enthält, bliebe damit ohne entsprechende Kennzeichnung. Denn danach würde der
Grenzwert von 0,9 Prozent GVO-Anteil ({0}) nicht
für den Pollen im Honig gelten, sondern für das Gesamtprodukt Honig. Da der Pollenanteil in Honig sich
aber nur zwischen 0,1 Prozent und 0,5 Prozent bewegt,
würde also die Kennzeichnungspflicht nie ausgelöst.
Der EuGH dagegen hatte im September 2011 entschieden, Pollen in Honig sei wie eine „Zutat“ zu behandeln. Damit würden im Falle der GVO-Verunreinigung die 0,9 Prozent für den Pollen selbst gelten, und
Honig mit GVO-Pollen würde kennzeichnungspflichtig.
Der Bundesrat hat daraufhin am 23. November
2012 den EU-Kommissionsvorschlag zur Änderung
der Honig-Richtlinie abgelehnt und einen Beschluss
gefasst, der der Linie des EuGH-Urteils folgt und die
Kennzeichnung von Honig mit GVO-Pollen verlangt,
damit Verbraucher dies erkennen können.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit unserem Antrag „Kennzeichnung von Honig mit
Gentech-Pollen sicherstellen - Schutz der Imkerei vor
GVO-Verunreinigungen gewährleisten“ fordern wir
die Bundesregierung auf, den Bundesratsbeschluss
vom 23. November 2012 umzusetzen. Damit sollen
Verbraucherinnen und Verbraucher endlich erkennen
können, ob in Honig GVO-Pollen enthalten sind oder
nicht. Honig, der GVO-Pollen enthält, soll als solcher
gekennzeichnet werden müssen. Zudem soll die Nulltoleranz für Verunreinigungen von Lebensmitteln mit
nichtzugelassenen GVO unbedingt erhalten bleiben.
Um einen besseren Schutz der gentechnikfreien Landund Lebensmittelwirtschaft zu gewährleisten, fordert
der Bundesrat zudem, dass die Bundesländer über die
bundesweiten Bestimmungen hinausgehende Abstandsregelungen treffen dürfen.
Die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP haben im Ausschuss beschlossen, unseren Antrag abzulehnen. Wir fordern die Regierungsfraktionen auf,
diese Ausschussempfehlung abzulehnen und unserem
Antrag zuzustimmen. Dafür gibt es gute Gründe:
Der Vorschlag der EU-Kommission hat negative
Auswirkungen:
Er hat negative Auswirkungen für die Verbraucherinnen und Verbraucher, denn danach bliebe Honig,
der gentechnisch veränderte Pollen enthält, ohne entsprechende Kennzeichnung. So kann ihnen Gentechnik
untergeschoben und einer schleichenden Verunreinigung Vorschub geleistet werden. Dies steht im Widerspruch zu Transparenz und Wahlfreiheit für Verbraucher.
Er hat negative Auswirkungen für die Imker, denn
darunter leidet das Image des Honigs als gesundes,
natürliches Produkt. Zudem ergeben sich aus der
Kennzeichnungspflicht auch Schadenersatzansprüche
und eventuell Konsequenzen hinsichtlich der Maßnahmen zum Schutz vor GVO-Verunreinigungen. Deshalb
möchten die Imker den Pollen im Honig wie eine Zutat
behandelt und die Interessen der Bienenwirtschaft
endlich im Gentechnikrecht berücksichtigt wissen.
Der Vorschlag der EU-Kommission steht nicht im
Einklang mit dem EuGH-Urteil. Hier ist eine neue
Sachlage entstanden, die es unbedingt notwendig
macht, dass CDU/CSU und FDP ihre Haltung überdenken. Denn inzwischen soll es ein Gutachten von
den Rechtsexperten des EU-Ministerrats geben, welches den Kommissionsvorschlag als „rechtswidrig“
einstuft.
In dem Gutachten soll laut Informationsdienst Gentechnik die Rede davon sein, dass die Absicht der
Kommissare „Anlass zu Bedenken“ gebe. Denn die
Auslegung des Gerichtshofs, dass Pollen eine Zutat
des Honigs sei, dürfe nicht einfach umgangen werden.
Sollten Mitgliedstaaten und Parlament einer Änderung der Honigrichtlinie zustimmen und es in der
Folge zu einem Rechtsstreit kommen, würde dieser
„vermutlich damit enden, dass sie für rechtswidrig befunden würde“, so der juristische Dienst des Ministerrats. Die Richter würden die Ausnahme für Gentechnikpollen wohl kassieren und dies damit begründen,
dass sie „dem Ziel des Schutzes der menschlichen Gesundheit zuwiderläuft“, so die Sachverständigen.
Deshalb, werte Kolleginnen und Kollegen aus den
Regierungsfraktionen, fordere ich Sie auf, sich unserem gemeinsam von SPD und Grünen erarbeiteten Antrag anzuschließen und auf Einhaltung der Vorgaben
des Europäischen Gerichtshofs zu dringen.
Nur wenn eine Gefahr besteht, ist es notwendig,
Schutz zu suchen. Bei strahlend blauem Himmel
braucht man auf dem Spaziergang keinen Regenschirm
mitzunehmen.
Beimengungen von Pollen von gentechnisch veränderten Pflanzen beeinträchtigen in keiner Weise die
Qualität von Honig. Beide Anträge bewirken somit
nichts für die Imkerinnen und Imker.
Imkerinnen und Imker müssen ihre Bienenvölker
vor verschiedenen Parasiten und Krankheiten schützen, die Varroamilbe hat einen erheblichen Anteil an
den Völkerverlusten im Winter; doch dazu leisten die
beiden Anträge nichts. Das heißt, sie blenden ein ganz
wesentliches Problem der Imkerinnen und Imker völlig
aus.
Ziel der Anträge ist somit nicht die Unterstützung
der Imkerinnen und Imker. Ziel ist es vielmehr, die
Züchtungsmethode Grüne Gentechnik zu thematisieren
und die Ablehnung dieser wichtigen und weltweit erfolgreichen Züchtungsmethode zum Ausdruck zu bringen. Die Grünen sind schon lange auf diesem Weg, die
SPD hat sich nachträglich wider besseres Wissen angeschlossen und eine eigenständige Bewertung der
Züchtungsmethode aufgegeben.
Bei der Anwendung der Gentechnik zur Züchtung
von Mikroorganismen haben die Grünen inzwischen
ihren Protest aufgegeben und die Realität anerkannt.
Immer mehr Wirkstoffe für Arzneimittel, Impfstoffe,
Zusatzstoffe zu Lebens- und Futtermitteln wie Vitamine, Enzyme wie Chymosin zur Käseherstellung werden mithilfe von gentechnisch veränderten Mikroorganismen produziert. Das spart Wasser, Energie und
Kosten und ist damit ein Beitrag zur Nachhaltigkeit.
Gentechnik ist inzwischen Alltag. Und das ist gut so.
Da haben die beiden Anträge leicht anachronistische Züge.
Die FDP unterstützt den Vorschlag der EU-Kommission zur Änderung der Honigrichtlinie. Die Ablehnung des Kommissionsvorschlags durch SPD und
Grüne macht deutlich, dass Priorität in beiden Fraktionen die Ablehnung der Gentechnik ist und nicht die
Sicherstellung des Produktes Honig.
Die Änderung der Honigrichtlinie wurde notwendig
durch das Fehlurteil des EuGH, in dem Pollen im Honig als Zutat bezeichnet wurde.
Zu Protokoll gegebene Reden
Eine große Mehrheit in der EU unterstützt die von
der Kommission beabsichtigte Klarstellung in der Honigrichtlinie. Pollen ist ein natürlicher, honigeigener
Bestandteil. Pollen ist keine Zutat vergleichbar den
vom Pizzabäcker auf die Pizza gelegten Tomaten, sondern wird von den Bienen eingetragen. Honig ist ein
natürliches Monoprodukt. Dies wird in allen Regelungen über Honig berücksichtigt. Ein Beispiel dafür ist
die Bestimmung des Pollenspektrums zum Nachweis
über die Sortenreinheit des Honigs.
Wäre Pollen eine Zutat, bräuchte der Honig ein Zutatenverzeichnis. Der Vorschlag der EU-Kommission
stellt sicher, dass Honig auch in Zukunft kein Zutatenverzeichnis braucht. Die FDP sieht sich durch das
Handeln der EU-Kommission in ihrer Auffassung bestätigt. Es ist gut, dass eine Koalition der Vernünftigen in
der EU sich einig ist, die durch das Fehlurteil des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-442/09 verursachte Rechtsunsicherheit zu beseitigen. Schon jetzt
wird entsprechend dem Kommissionsvorschlag gehandelt. In keinem Land der EU wird Pollen als Zutat bei
Honigen aufgeführt. Vom Kommissionsvorschlag unberührt bleibt die Tatsache, dass Honig mit Pollen aus
nichtzugelassenen gentechnisch veränderte Pflanzen
grundsätzlich weiterhin nicht verkehrsfähig ist.
Auch das Beharren auf der sogenannten Nulltoleranz gegenüber nicht in Europa zugelassenen gentechnisch veränderten Pflanzen bringt weder für die Imker
noch für sonst jemand einen Vorteil. Die Nulltoleranz
für Futtermittel wurde bereits aufgehoben. Es ist überfällig, dass sie auch für Lebensmittel und Saatgut aufgehoben wird. Sie verursacht Kosten, die letztlich von
den Verbraucherinnen und Verbrauchern zu bezahlen
sind, denen kein Nutzen gegenübersteht. Sie führt außerdem zu Rechtsunsicherheit.
Es ist ein Beispiel für Heuchelei, wenn die Grünen
einerseits die Verschwendung von Lebensmitteln beklagen und andererseits fordern, dass geringste Spuren von nichtzugelassenen gentechnisch veränderten
Pflanzen in Lebensmitteln zum Verlust der Verkehrsfähigkeit führen und vernichtet werden müssen. Es geht
offensichtlich nicht um Sicherheit, sondern um Prinzipienreiterei. Wer ein gelbes Auto bestellt und einen
grünen Farbtupfer auf dem Kotflügel findet, fordert
auch nicht, das Auto der Schrottpresse zuzuführen.
Immerhin hat Rot-Grün inzwischen zur Kenntnis
genommen, dass der Anbau gentechnisch veränderter
Pflanzen Bienen nicht gefährdet. Das ist ein Fortschritt. Die vom Von-Thünen-Institut in Braunschweig
vorgestellten Ergebnisse haben sehr überzeugend bestätigt, dass gentechnisch veränderter Mais und sein
Pollen die Gesundheit von Bienen nicht gefährden.
Der Anbau von insektenresistentem Bt-Mais ist schonender für die Natur als die Bekämpfung von Schadinsekten mit Pflanzenschutzmitteln. Das haben Langzeitversuche in Bayern schon vor mehreren Jahren
ergeben. Die Ergebnisse der Untersuchung sollten
dazu führen, die grundsätzliche Ablehnung von BtMais zu überdenken und den Anbau von gentechnisch
veränderte Sorten als eine Möglichkeit für eine naturverträgliche Landwirtschaft stärker in den Fokus zu
rücken.
Inzwischen werden weltweit auf über 170 Millionen
Hektar gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut.
Es ist an der Zeit, über die Nutzung der Züchtungsmethode nachzudenken, statt die Phantasie anzustrengen, um sie weiter zu diskreditieren. Vielleicht ist eine
Idee aus den USA dabei hilfreich. Dort wollen Gentechnikfans „Gentechnik für alle“ und stellen dafür
Baukästen zur Verfügung. Auf die Ergebnisse sind wir
alle gespannt.
Die Linke will die Bienen schützen, zum Beispiel
weil ihre Bestäubungsleistung für gute Ernten wichtig
ist. Doch leider werden sie vielfältig bedroht: durch
Blühpflanzenarmut in der modernen Agrarlandschaft,
durch Pflanzenschutzmittel, durch Krankheiten oder
auch durch gentechnisch veränderte Pflanzen. Wir
können und sollten also nicht einfach so weitermachen, sondern müssen etwas ändern.
Gerade weil Honig eines der gesündesten Lebensmittel ist, muss die Unvereinbarkeit von Agrogentechnik und der gentechnikfreien Imkerei ernst genommen
werden. Riskant sind dabei zwei Effekte: Zum einen
werden Bienen durch gentechnisch veränderte Pflanzen, die zu ihrem Schutz insektenschädliche Substanzen produzieren, beeinträchtigt. Zum anderen wird
Honig durch den Eintrag von Pollen gentechnisch veränderter Pflanzen entwertet.
Deshalb wird der Schutz der gentechnikfreien Imkerei und Landwirtschaft vor transgenen Pflanzen
bereits seit Jahren von Bauern-, Umwelt- und Verbraucherorganisationen sowie kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gefordert. Falls kein
Verbot des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen
erreicht werden kann, sollen wenigstens bienensichere
Abstände zwischen Bienenstöcken und Feldern mit
gentechnisch veränderten Pflanzen von bis zu 10 Kilometern eingehalten werden. So weit können Bienen
fliegen, um Pollen zu sammeln. Ein solcher Abstand
müsste in der Gentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung geregelt werden. Das Risiko für wildlebende Insekten reduziert das übrigens nicht; aus dieser Sicht
wäre auch das kein guter Kompromiss. Und das Standortregister muss für mehr Bienenschutz weiterentwickelt werden. In diesem Register sind alle Gentechflächen dokumentiert, egal ob es sich um kommerziellen
Anbau oder um Freisetzungsversuche handelt.
Am 27. März 2012 urteilte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass Imkerinnen und Imker keinen
Anspruch auf Schutzmaßnahmen gegen die Verunreinigung ihres Honigs durch den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen haben. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, dass Verunreinigungen des Honigs durch Pollen
des gentechnisch veränderten Mais MON 810 aber
dazu führen, dass dieser Honig nicht mehr verkauft
Zu Protokoll gegebene Reden
werden darf. Vorausgegangen war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, EuGH. Dieser stellte am
6. September 2011 fest, dass die Verkehrsfähigkeit des
Honigs durch die MON810-Pollen-Verunreinigungen
beeinträchtigt wird. Im Klartext: Schutz für die Imkerei
gibt es nicht, aber der Honig muss als Müll entsorgt
werden.
Deshalb fordert die Linke in ihrem Antrag auf Bundestagsdrucksache 17/9985, dass die Imkerei wirksamer vor Verunreinigungen durch gentechnisch veränderte Pollen geschützt werden muss. Dafür soll die
Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Änderung
des Gentechnikgesetzes vorlegen. Das wäre ein wichtiger, wenn auch längst nicht der einzige notwendige
Baustein zu einer bienenfreundlicheren Landwirtschaft.
Doch die Bundesregierung hat für Bienen höchstens
Aktionismus übrig. So zum Beispiel die neue BienenApp, die Ministerin Aigner kürzlich in Berlin vorstellte. Das mag vielleicht die eine oder den anderen
für die Bienen sensibilisieren - und das ist auch nicht
unwichtig. Aber Bienenschutz auf dem Smartphone
nutzt gar nichts, wenn er nicht auch auf dem Acker
stattfindet. Die ökologischen Vorrangflächen als Teil
einer neuen EU-Agrarpolitik ab 2014, die auch zu
mehr Blühflächen genutzt werden können, wurden
lange aus dem Aigner-Ministerium bekämpft. Dem
zeitweisen Verbot besonders bienengefährlicher Pestizide hat die Bundesregierung erst nach enormem öffentlichem Druck in Brüssel zugestimmt.
Dabei gibt es viel und Dringendes zu tun. Ohne umfangreiche Änderungen im nationalen und europäischen Gentechnikrecht gibt es keinen besseren Schutz
für Verbraucherinnen und Verbraucher, die gentechnikfreie Landwirtschaft und Imkerei.
Als Sofortmaßnahme wollen wir den Schutz der Imkerei wirksam verbessern. Wir halten es für richtig,
dass Honig nicht verkauft werden darf, wenn er Pollen
von transgenen Pflanzen enthält, die keine Lebensmittelzulassung haben. Paradox und nicht hinnehmbar
ist, dass gleichzeitig kein Rechtsanspruch auf den
Schutz vor solchen Verunreinigungen besteht. Deshalb
muss das durch den Gesetzgeber unverzüglich geändert werden. Eine besondere Sorgfaltspflicht muss
neben dem Verursacherprinzip auch den Vorsorgegedanken bei der Risikotechnologie Agrogentechnik
stärken. Doch das Handeln der Koalition sieht ganz
anders aus: Unionskollege Lehmer betonte in der ersten Lesung unseres Antrages, dass Sicherheitsabstände zu Bienenkörben nicht so groß sein dürfen, dass
Gentechnikanbau verhindert wird. Statt eines konsequenten Reinheitsgebots für Honig fordert er also,
nicht als Lebensmittel zugelassene Gentechbestandteile im Honig einfach zu tolerieren, das heißt eigentlich: zu ignorieren. Der Schutz der Interessen der Gentechkonzerne ist der Koalition offensichtlich wichtiger
als der Schutz der Bienen und des Honigs.
SPD und Grüne fordern in ihrem Antrag, den Änderungsvorschlag der EU-Kommission zur Honigrichtlinie abzulehnen. Mit diesem reagiert die EU-Kommission auf das bienen- und imkerfreundliche EuGHUrteil. Aber statt der Intention dieses Urteils zu folgen,
sucht sie nach einer Lösung im Interesse der Agroindustrie. Der Bundesrat dagegen stellte sich hinter die
Imkerverbände und hat im vergangenen November
ihre wesentlichen Kritikpunkte am Vorschlag der EUKommission aufgegriffen. Er hat die Bundesregierung
aufgefordert, sich für eine eindeutige Klarstellung der
rechtlichen Bewertung von Pollen im Honig einzusetzen, die der verbraucher- und bienenfreundlichen Intention des Honigurteils folgt. Das ist auch für die
Linke entscheidend: Die Verbraucherinnen und Verbraucher lehnen mehrheitlich Agrogentechnik ab und
wollen sie nicht in Lebensmitteln. Der Schutz der gentechnikfreien Imkerei ist also ein klarer gesellschaftlicher Auftrag an uns als Gesetzgeber.
Die Argumentation des EuGH-Urteils, Pollen wäre
eine Zutat, ist umstritten. Das wäre nur schlüssig,
wenn Pollen durch Handlungen der Imkerin oder des
Imkers eingetragen würde. Es gibt solche Arbeitsgänge, aber natürlich wird Pollen auch durch Bienen
eingetragen und ist damit ein natürlicher Bestandteil
des Honigs. Aber unabhängig von diesem Streitpunkt
unterstützen wir als Linke die politische Intention des
EuGH. Eine Änderung der Honigrichtlinie halten wir
für nötig, aber eben nicht im Interesse der Gentechnikindustrie, sondern im Interesse der Gesellschaft. Der
Kommissionsvorschlag hätte zur Folge, dass mit gentechnisch veränderte Pollen kontaminierter Honig
nicht als solcher gekennzeichnet werden muss. Das ist
definitiv nicht im Sinne eines vorsorgenden Verbraucherschutzes. Für Verbraucherinnen und Verbraucher
muss klar erkennbar sein, ob ein Honig GVO-Pollen
enthält oder nicht. An der Nulltoleranz gegenüber in
der EU nichtzugelassenen GVO muss festgehalten
werden, erst recht bei Lebensmitteln wie Honig.
Wir wollen das tolle Naturprodukt frei von Gentechpollen.
Darüber hinaus fordert die Linke aber generell eine
bienenfreundlichere Agrarpolitik. Auf die Agrogentechnik kann dabei völlig verzichtet werden. Sie ist
teuer und riskant. Außerdem wollen acht von zehn Verbraucherinnen und Verbrauchern sie nicht haben, wie
regelmäßige Umfragen immer wieder belegen. Das hat
selbst die Agroindustrie verstanden. Anfang des Jahres
verlegte die BASF ihre Genforschung in die USA. Vergangene Woche kündigte Monsanto an, kein Gentechlobbying mehr in der EU machen zu wollen. Es sei
kontraproduktiv, gegen Windmühlen zu kämpfen, so
eine Konzernsprecherin. Da hat der Konzern einmal
recht. Allerdings muss er beweisen, dass er es ernst
meint, und alle Anträge auf Zulassung von gentechnisch veränderten Pflanzen zurückziehen, egal ob für
Anbau oder Handel. Alles andere ist nur Propaganda,
und das werden wir Monsanto nicht durchgehen lassen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Honig ist eines der beliebtesten Lebensmittel überhaupt. Laut einer aktuellen Umfrage essen fast zwei
Drittel der Menschen in Deutschland regelmäßig Honig. Er gilt als gesundes, unverfälschtes Naturprodukt.
Doch der gute Ruf dieses Lebensmittels wird durch
das Ansinnen der EU-Kommission aufs Spiel gesetzt.
Durch die Hintertür der EU-Honigrichtlinie wird versucht, ein sehr wichtiges Urteil des Europäischen Gerichtshofes auszuhebeln. Dieser hatte im September
2011 entschieden, dass Pollen im Honig als Zutat zu
werten ist. Wenn über 0,9 Prozent des enthaltenen Pollens von gentechnisch veränderten Pflanzen, GVO,
stammen, muss Honig demnach als Genfood gekennzeichnet werden. Die Kommission will nun Pollen als
natürlichen Bestandteil von Honig definieren. Damit
würde die Kennzeichnungspflicht de facto wegfallen.
Warum ist das so? Weil der Pollenanteil im Honig von
Natur aus stets weit unter 0,5 Prozent liegt. Und die
Folge? Selbst wenn Honig und der darin enthaltene
Pollen zu 100 Prozent von Gentechpflanzen stammen,
werden Konsumentinnen und Konsumenten darüber
nicht informiert. Das ist ein Skandal!
Die Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten zu
Recht, dass alle Lebensmittel, die unter Beteiligung
von gentechnisch veränderten Pflanzen produziert
werden, als solche gekennzeichnet werden. Es kann
und darf nicht sein, dass GVO-Pollen im Honig durch
einen juristischen Trick einfach zum „natürlichen“
Bestandteil von Honig umdefiniert wird. Doch die
Bundesregierung versucht, die Änderung der EU-Honigrichtlinie als „Fortschreibung der gegenwärtigen
Praxis“ zu verharmlosen und die massiven Auswirkungen auf den Verbraucherschutz als „allenfalls gering“
kleinzureden. Damit versucht Schwarz-Gelb die Öffentlichkeit für dumm zu verkaufen! Kommission und
Bundesregierung nutzen die technischen Herausforderungen bei der quantitativen Bestimmung des GVOPollenanteils jetzt dazu, in ihren Augen unbequemes
Recht durch „kreative“ Normensetzung zu umgehen.
Das Vorhaben der EU-Kommission ist auch ein Anschlag auf unsere Imkerei. Wenn keine Kennzeichnungspflicht besteht, wird es für Imkerinnen und Imker
fast unmöglich, bei GVO-Verunreinigungen ihrer Produkte erfolgreich Schadenersatz einzuklagen.
Bei der Frage der Kennzeichnung von Honig mit
GVO-Pollen geht es also um grundlegende Prinzipien
des Verbraucherschutzes wie Transparenz, Wahlfreiheit und die dauerhafte Sicherung der gentechnikfreien
Lebensmittelwirtschaft. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, den Kommissionsvorschlag abzulehnen und sich für eine Kennzeichnung von Honig mit
GVO-Pollen einzusetzen.
Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes hatte Ministerin Aigner das Urteil noch ausdrücklich dafür gelobt, dass es Klarheit und Transparenz für
den Verbraucher schaffe. Frau Aigner kündigte zugleich an, die Entscheidung der Richter in eine Novelle
des Gentechnikgesetzes einfließen zu lassen. Heute
aber will die Bundesregierung von dieser Begeisterung und ihrem Versprechen nichts mehr wissen.
Schwarz-Gelb unterstützt jetzt unverblümt den verbraucher- und imkerfeindlichen Kommissionsplan und
ignoriert seine fatalen Auswirkungen völlig.
Der Juristische Dienst des EU-Ministerrates hat in
einem Gutachten erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des aktuellen Vorschlages geäußert. Umwelt-,
Verbraucher- und Imkerverbände und auch der Bundesrat lehnen den Kommissionsplan ab. Doch die Interessen der Gentechlobby, der Honigimporteure und die
Angst vor WTO-Klagen sind für EU-Kommission und
Bundesregierung offenbar wichtiger.
Das eigentliche Motiv zur geplanten Änderung der
Honigrichtlinie ist nicht etwa eine rechtliche Klarstellung oder gar das berechtigte Anliegen, den Imkerinnen und Imkern den Aufwand einer Neuetikettierung
ihrer Honiggläser - mit dem Hinweis „enthält Pollen“ - zu ersparen. Dieses Ziel ließe sich auch auf anderen rechtlichen Wegen erreichen.
In Wahrheit geht es um etwas ganz anderes: EUKommission und Schwarz-Gelb wollen die Tür für die
Agrogentechnik in Europa weiter offenhalten - gegen
den Willen einer breiten Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher, Imkerinnen und Imker sowie
Bäuerinnen und Bauern. Da Bienen zum Pollensammeln bis zu 10 Kilometer weit fliegen, ist eine Koexistenz der - gentechnikfreien - Imkerei mit dem Anbau
von Gentech-Pflanzen bei der kleingliedrigen Agrarstruktur in den meisten Regionen Deutschlands und
Europas praktisch unmöglich. Bei einer Kennzeichnungspflicht für GVO-Pollen in Honig müssten die
Nutzer der Agrogentechnik mit einer Welle von
Schadenersatzklagen vonseiten der Imkerschaft rechnen.
Allein das ist der Grund, warum Schwarz-Gelb die
berechtigten Interessen der Imkerinnen und Imker
nach wie vor ignoriert und es bis heute nicht geschafft
hat, deren Schutzansprüche im Gentechnikgesetz zu
verankern. Wir Grüne fordern schon seit Jahren, diesen Zustand zu beenden. Auch der Bundesrat hat mit
seinem Beschluss vom 23. November 2012 die Bundesregierung beauftragt, für eine bundeseinheitliche Regelung zum Schutz der Imkerei zu sorgen sowie eine
Ermächtigung der Länder für entsprechende Regelungen zum Schutz von Landwirtschaft und Imkerei vor
GVO-Verunreinigungen zu schaffen.
Aber selbst die Forderung ihres Parteifreundes und
damaligen bayerischen Umweltministers Söder nach
Mindestabständen von 3 Kilometern zwischen Bienenstöcken und Genäckern hat nichts an dieser Untätigkeit von Ministerin Aigner geändert. Diese überfälligen Hausaufgaben muss die Bundesregierung endlich
erledigen!
Ministerin Aigner hat jüngst werbewirksam auf dem
Berliner Dom eine Bienen-App für Smartphones präsentiert. Mit diesem Programm kann man einen virtuZu Protokoll gegebene Reden
ellen Balkon mit virtuellen Blühpflanzen bestücken,
welche dann von virtuellen Bienen besucht werden, um
virtuellen Honig zu produzieren. Den soll man dann
sogar - kein Witz - per E-Mail an Freunde verschicken. Fazit: Die Bundesregierung begnügt sich damit,
in einer Parallelwelt aus Bits und Bytes für garantiert
gentechnikfreien Honig und genügend Blütennahrung
für Bienen zu sorgen. Das passt zum politischen Stil
von Merkel und Aigner: Es wird viel versprochen, und
Handeln wird durch PR-Aktionen vorgetäuscht, aber
am Schluss passiert wenig bis nichts.
Doch die Menschen in diesem Land erwarten auch
beim Bienen- und Verbraucherschutz von dieser Regierung mehr als billige Schaufensterpolitik.
Am 10. Juni dieses Jahres steht in Brüssel die Zulassung von Pollen der Gentech-Maissorte MON810 als
Lebensmittel sowie eine mögliche Entscheidung über
die Importzulassung des Genmaises SmartStax auf der
Tagesordnung. Letzterer enthält neben zwei Herbizidresistenzen auch sechs verschiedene Insektengifte.
Deutschlands Abstimmungsverhalten zu diesen Punkten wird ein weiterer Lackmustest dafür sein, wie ernst
es Ministerin Aigner mit dem Schutz der Umwelt und
der gentechnikfreien Lebensmittelproduktion wirklich
meint.
Tagesordnungspunkt 34 a. Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13273, den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12839 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 b: Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11057,
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/9985 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Linken
bei Enthaltung von SPD und Grünen.
Tagesordnungspunkt 35:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Ute Kumpf,
Petra Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrich
Schneider, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Freiwilligendienste in zivilgesellschaftlicher
Verantwortung stärken
- Drucksachen 17/9926, 17/12904 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Peter Tauber
Florian Bernschneider
Heidrun Dittrich
Die Reden gehen zu Protokoll.
Wir debattieren heute über einen Antrag von zwei
Oppositionsfraktionen vom 12. Juni 2012 - einen Antrag, der fast ein Jahr alt ist und der daher die aktuellen Entwicklungen und den anhaltenden Erfolg des
neuen Dienstes überhaupt nicht berücksichtigt. Der
Bundesfreiwilligendienst ist knapp zwei Jahre nach
seinem Start immer noch eine riesige Erfolgsgeschichte. Die Aussetzung des Zivildienstes hat die
christlich-liberale Koalition dazu genutzt, freiwilliges
Engagement in Deutschland auf eine breitere Basis zu
stellen. Nicht mehr nur junge Männer, sondern Frauen
und Männer jeden Alters können sich im Bundesfreiwilligendienst engagieren. Gleichzeitig haben wir die
bereits bestehenden und bewährten Jungendfreiwilligendienste gestärkt.
Neben den mehr als 200 Millionen Euro, mit denen
der Bund den Bundesfreiwilligendienst fördert, haben
wir auch die Mittel für die Jugendfreiwilligendienste
erhöht auf über 90 Millionen Euro jährlich. Das sind
fast viermal so viele Fördermittel wie in den Jahren
davor. Noch nie wurden Bundesmittel in dieser Höhe
für die Jugendfreiwilligendienste bereitgestellt. Das
Ergebnis: Heute haben wir über 85 000 Freiwillige im
Bundesfreiwilligendienst und in den Jugendfreiwilligendiensten. Mehr als 40 Prozent der Freiwilligen im
Bundesfreiwilligendienst sind über 27 Jahre alt, rund
20 Prozent über 50 Jahre.
Dass sich so viele Menschen, vor allem auch ältere,
in Deutschland freiwillig engagieren, war bei der Einführung des Bundesfreiwilligendienstes zum 1. Juli
2011 überhaupt nicht absehbar. Vor allem die Oppositionsfraktionen, die heute in ihrem Antrag selbst zugestehen müssen, dass „die Warnungen vor Verwerfungen im Sozialbereich infolge der Zivildienstaussetzung
unbegründet und übertrieben waren“ und jetzt ausdrücklich feststellen, dass „das große Interesse“ an einem Bundesfreiwilligendienst nicht verwundert, waren
vorher die größten Kritiker des neuen Dienstes.
Was haben Sie nicht wortreich und lautstark vor
mangelnder Akzeptanz und vor Konkurrenz für die Jugendfreiwilligendienste gewarnt! Und vor allem haben
Sie angezweifelt, dass es ausreichend Interessierte geben werde. Alles nicht eingetroffen - ganz im Gengenteil!
Da Sie daher nun mangelndes Interesse nicht mehr
überzeugt beklagen können, meinen Sie stattdessen
jetzt „handwerkliche Mängel“ bei der Einführung des
Bundesfreiwilligendienstes feststellen zu müssen, die
zu beheben seien. Es ist Ihnen ein Dorn im Auge, dass
die Freiwilligendienste nicht vollständig zivilgesellschaftlich organisiert sind.
Um das zu erreichen, stellen Sie einige Forderungen, auf die ich gerne eingehe:
Sie fordern, das Trägerprinzip im Bundesfreiwilligendienst zu stärken, indem es gesetzlich verpflichtend
vorgeschrieben werden soll. Wir dagegen sehen dazu
keine Notwendigkeit, da die Einsatzstellen und Verbände ihre internen Strukturen im Bundesfreiwilligendienst sehr gut selbst gestalten können.
Ihre Forderungen zur Verbesserung der Anerkennungskultur wurden von uns längst in vielfältiger
Weise umgesetzt: Nicht nur die Freiwilligen im Bundesfreiwilligendienst, sondern auch die in den Jugendfreiwilligendiensten erhalten einen kostenlosen Freiwilligenausweis. Nun ist es Aufgabe der Kommunen
und der Privatwirtschaft, diesen Ausweis für Vergünstigungen, zum Beispiel bei Eintrittsgeldern für kulturelle oder sportliche Veranstaltungen, anzuerkennen.
Bei der Vergabe von Studienplätzen wird die Zeit,
die sich Jugendliche in Freiwilligendiensten engagieren, bereits in vielen Fällen als Wartezeit berücksichtigt. Insoweit kann der Bund nur weiter an die zuständigen Länder und Hochschulen selbst appellieren, den
Freiwilligendienst anzuerkennen; er kann dies seinerseits nicht gesetzlich vorschreiben.
Die Öffentlichkeitsarbeit für die Freiwilligendienste
betreibt der Bund effektiv: Obwohl es immer noch
mehr Bewerberinnen und Bewerber gibt als offene
Stellen, werden weiterhin Informationsmaterialien für
die Öffentlichkeitsarbeit hergestellt.
Einem Aspekt, auf den Sie in Ihrem Antrag hinweisen, widmen auch wir unsere volle Aufmerksamkeit:
Die Sicherstellung der Arbeitsmarktneutralität der
Freiwilligendienste ist von entscheidender Bedeutung
für deren gesamtgesellschaftlichen Erfolg. Gerade dadurch, dass wir den Bundesfreiwilligendienst auch für
ältere Interessierte und arbeitslose Menschen geöffnet
haben, müssen wir genau hinsehen, dass die Tätigkeiten, die die Freiwilligen ausführen, wirklich arbeitsmarktneutral ausgestaltet sind. Wir stellen dies sicher,
indem sich die Einsatzstellen gegenüber dem Bund
nicht nur zur Wahrung der Arbeitsmarktneutralität
verpflichten müssen, sondern auch bestätigen müssen,
dass der Betriebs- oder Personalrat bei der Entscheidung über den Einsatz Freiwilligendienstleistender beteiligt wurde.
Außerdem überprüft das Bundesamt für Familie und
zivilgesellschaftliche Aufgaben alle Hinweise auf die
Verletzung der Arbeitsmarktneutralität und verhängt
Sanktionen bei Verstößen: Rückforderungen der Förderung bis hin zum Entzug der Zulassung als Träger
sind möglich.
Noch ein Wort zur Rolle des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Sie kritisieren
und befürchten einen Interessenkonflikt dadurch, dass
das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
Aufgaben sowohl für die administrative Durchführung
des Bundesfreiwilligendienstes zuständig, zugleich
aber auch Träger der Zentralstelle ist. Doch dadurch,
dass beide Aufgabenbereiche von getrennten Organisationseinheiten im Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben durchgeführt werden, kann
es zum einen gar nicht zu einem Interessenkonflikt
kommen. Zum anderen wurde die Funktion des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben als Zentralstelle von den Bundesländern und auch
von vielen zivilgesellschaftlichen Einsatzstellen und
Trägern ausdrücklich gewünscht. Für alle, die sich
keiner anderen Zentralstelle zuordnen wollten, wurde
so die Möglichkeit geschaffen, am Bundesfreiwilligendienst teilzunehmen.
Was die von Ihnen geforderte Information über Zwischenergebnisse der Evaluation der Dienste betrifft, so
ist geplant, dass erste Ergebnisse bereits Ende 2013 in
einem Zwischenbericht vorgelegt und auch dann schon
diskutiert werden, um möglicherweise noch an der einen oder anderen Stelle nachjustieren zu können.
Meine Damen und Herren von der Opposition, die
Realität des erfolgreichen Bundesfreiwilligendienstes
hat Ihren Antrag bereits überholt. Springen Sie über
Ihren Schatten und freuen Sie sich mit uns über den Erfolg, von dem unsere ganze Gesellschaft profitiert.
Es ist nun nahezu ein Jahr her, dass wir den vorliegenden Antrag von SPD und Grünen auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestags stehen hatten. Schon
damals hatte ich zu Protokoll gegeben, dass der Antrag nicht sonderlich gelungen ist. Daran hat sich, ein
Jahr später und damit auch einige Entwicklungsschritte weiter, nichts geändert. Im Gegenteil: Eine
Reihe der Forderungen, die in dem Antrag erhoben
werden, sind nun noch mehr überholt, als sie damals
schon waren. Ich verrate Ihnen insofern wahrlich kein
Geheimnis, wenn ich schon vorab erkläre, dass meine
Fraktion diesen Antrag auch dieses Mal ablehnt.
Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, einige
Worte zum Verhältnis von Bundesfreiwilligendienst
und den Jugendfreiwilligendiensten zu verlieren. Zwischenzeitlich hat der BFD nunmehr fast sein zweites
Jahr abgeschlossen. Vorausgegangen war ein unsägliches Gezeter der versammelten Opposition: Der Bundesfreiwilligendienst wird als Lückenbüßer für den Zivildienst nicht funktionieren und kein Erfolgsmodell
sein. - Das war die Aussage eines grünen Redners von
damals; um nur ein Beispiel zu nennen.
Heute wissen wir, dass diese vom Pessimismus geprägten Aussagen gravierende Fehleinschätzungen
Zu Protokoll gegebene Reden
gewesen sind. Zwei Jahre nach seiner Einführung läuft
der Bundesfreiwilligendienst sehr erfolgreich. Neben
der Tatsache, dass die Bundesregierung die Weichen
bei der Einführung richtig gestellt hat, ist dies ganz
entscheidend auch der sehr klugen und hochprofessionellen Organisation von Herrn Dr. Jens Kreuter, dem
ehemaligen Bundesbeauftragten für den Zivildienst,
und seinem Team zu verdanken. Herr Dr. Kreuter hat
den höchsten Respekt aller Beteiligten für den Kraftakt
verdient, den er zu bewältigen hatte, um den Bundesfreiwilligendienst zu dem zu machen, was er heute ist.
Mein Dank gilt Ministerin Schröder und dem gesamten
Haus für ihren Einsatz und die ambitionierte Arbeit.
Der große Erfolg des BFD gibt ihnen allen recht!
Natürlich spielen auch die Einsatzstellen und Träger eine ganz entscheidende Rolle. Dass wir einen derart bunten, vielfältigen und spannenden BFD anbieten
können, hängt letztendlich mit der Vielfalt der vielen
fantastischen Einsatzstellen zusammen, die ganz oft ihren Beitrag dazu leisten, unsere Gesellschaft ein Stück
menschlicher und lebenswerter zu machen. Natürlich
sind insbesondere die vielen jungen Menschen zu nennen, die den BFD mit Leben füllen, die sich einbringen
und in beeindruckender Art und Weise Zeichen der
Menschlichkeit setzen. Dass der BFD auch der älteren
Generation offensteht, macht ihn zusätzlich einmalig.
Der Erfolg des Bundesfreiwilligendienstes ist aber
auch eine Lehrstunde für die Opposition gewesen. Unterschätzt unsere Jugendlichen nicht! Dies rufe ich all
jenen zu, die ein Scheitern herbeigeredet haben und
damit explizit immer auch ein Desinteresse der Jugend
an freiwilligem Engagement unterstellt haben. Es ist
ein Grundproblem der politischen Linken in diesem
Land, den Bürgerinnen und Bürgern zu wenig zuzutrauen und immer wieder Lösungen anzustreben, die
die Menschen bevormunden. Dies soll heute aber nicht
unser Thema sein, auch wenn wir uns dringend einmal
darüber unterhalten müssten.
Eine weitere Fehleinschätzung der Opposition war
die lautstark vorgetragene Befürchtung, die Freiwilligendienste gingen aus dem Systemwechsel geschwächt
hervor. Auch diese Mutmaßung bewahrheitete sich
nicht. Gerade das Gegenteil ist der Fall, denn - ich
denke, das bestreitet heute niemand - die Freiwilligendienste sind gestärkt aus dem gesamten Prozess hervorgegangen. Dies bestätigen mir die vielen Gesprächspartner, die sich tagtäglich für die Freiwilligendienste engagieren. Wir alle wissen um die massive
Mittelaufstockung für die Freiwilligendienste, die
diese Bundesregierung trotz Schuldenbremse möglich
gemacht hat.
Genauso wenig ist die von der Opposition immer
wieder vorgetragene Befürchtung wahr geworden, die
Zivilgesellschaft und ihre Akteure würden durch den
Bundesfreiwilligendienst zugunsten staatlicher Strukturen geschwächt. Die Jugendfreiwilligendienste mit
ihrer wichtigen Rolle für die Gesellschaft bleiben eine
starke Säule mit selbstbewussten zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie sie es schon immer waren. Ich habe
die Diskussionen und Gespräche mit ebendiesen Akteuren und ihren verschiedenen Verbänden als sehr
wohltuend und sehr konstruktiv erlebt. Die Detailkenntnisse und das Know-how in einer ganz heterogenen Bandbreite von Feldern sind immer wieder beeindruckend. Der von der Opposition erweckte Eindruck,
zumindest zum Zeitpunkt der Antragstellung, wir setzten nicht auf diese zivilgesellschaftlichen Kräfte, erscheint uns heute allen sicherlich als ziemlich absurd
und abwegig.
Ich bin davon überzeugt, dass die Freiwilligendienste und der Bundesfreiwilligendienst in eine sehr
positive und vielversprechende Zukunft gehen werden.
Die christlich-liberale Koalition hat mit ihrem Ansatz,
mit dem BFD eine zweite gleichberechtigte Säule neben die etablierten Freiwilligendienste zu stellen, recht
behalten und richtig gehandelt. Gewiss gibt es immer
noch Verbesserungspotenziale und Optimierungsmöglichkeiten; aber die Richtung stimmt. Allein die Tatsache, dass wir ganz allgemein mehr Bewerber als freie
Plätze haben, zeigt uns, dass die Freiwilligendienste
ein Riesenerfolg sind.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal meine
Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass wir in einem Land leben, in dem sich junge Menschen gerne für
ihre Gesellschaft einsetzen. Als früherer Vorsitzender
einer politischen Jugendorganisation habe ich gelernt,
dies zu ermessen und wertzuschätzen. Genau diese Beobachtungen mache ich heute wieder bei den Jugendfreiwilligendiensten und beim BFD. Gleiches gilt aber
auch für die ältere Generation, die ja auch ein wichtiger Bestandteil des Bundesfreiwilligendienstes ist.
Ohne die Älteren in der Gesellschaft mit ihrem individuellen Einsatz und ihrer Erfahrung wäre so vieles gar
nicht erst möglich. Allein diese Bereitschaft zum Engagement für andere gibt uns einigen Anlass, positiv in
unsere Zukunft zu blicken.
In den letzten Jahren hat sich in der Freiwilligendienstlandschaft viel bewegt: Die beliebten Formate
FSJ und FÖJ wurden evaluiert und weiterentwickelt.
Mit „kulturweit“ und „weltwärts“ haben sich zwei internationale Jugendfreiwilligendienste etabliert. Der
Freiwilligendienst aller Generationen schloss als Modellprojekt an die Generationsübergreifenden Freiwilligendienste an und natürlich - last, but not least wurden der Bundesfreiwilligendienst, BFD, und der
Internationale Jugendfreiwilligendienst, IJFD, eingeführt, nachdem der Wehr- und der Zivildienst ausgesetzt wurden. Die Freiwilligendienstlandschaft stellt
sich damit so vielfältig dar wie noch nie.
Als Berichterstatter für die Jugendfreiwilligendienste wusste ich um das hohe Interesse an dem Freiwilligen Sozialen und dem Freiwilligen Ökologischen
Jahr: Auf einen Freiwilligendienstplatz bewarben sich
zwei bis drei junge Menschen. Vor diesem Hintergrund
ist der große Erfolg des neuen Bundesfreiwilligendienstes nicht verwunderlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Als Jugendpolitiker und Mitglied im Familienausschuss liegt mein größtes Interesse darin, für junge
Menschen gute und sinnvolle Rahmenbedingungen zu
schaffen und ihnen dadurch eine sinnstiftende Freiwilligendiensterfahrung zu ermöglichen. Denn für uns
- meine Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Bundestagsfraktion und mich - sind Freiwilligendienste
nicht nur eine besondere Form des bürgerschaftlichen
Engagements, sondern viel mehr: Junge Menschen
können als Freiwilligendienstleistende ihre sozialen
Kompetenzen festigen, Neues erlernen und sich auf ihrem Weg in eine berufliche Laufbahn orientieren. So
entsteht auch ein ganz persönlicher Nutzen für die
Teilnehmenden.
Dass für uns das Wohl der jungen Frauen und Männer im Vordergrund steht, wird unter anderem in diesem Antrag deutlich, den wir gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen in den Deutschen Bundestag eingebracht haben. Wie Sie dem Antrag entnehmen können,
sieht die SPD-Bundestagsfraktion den vor zwei Jahren
eingeführten Bundesfreiwilligendienst, BFD, kritisch.
Die hastige Gesetzgebung und Einführung des BFD
führten zu Unsicherheiten und Unstimmigkeiten aufseiten aller Beteiligten, insbesondere waren viele
junge Menschen verunsichert. Deshalb haben wir einen Antrag vorgelegt, der unter anderem fordert, den
Bundesfreiwilligendienst stärker in zivilgesellschaftliche Verantwortung zu geben und ihn den Jugendfreiwilligendiensten anzugleichen.
Auch wenn an einigen Stellen bereits nachgebessert
wurde, gibt es doch weiterhin grundsätzliche Schwachstellen, die sich aus der „Pflichtdienstlogik“ ergeben schließlich sollte der BFD die Lücke schließen, die der
Zivildienst vermeintlich hinterlassen hat.
Zusätzlich gibt es Probleme bei der Umsetzung, der
Verzahnung zwischen BFD und FSJ/FÖJ und der Arbeitsmarktneutralität.
Man kann es aufgrund der aktuellen Entwicklungen
nicht oft genug sagen: Die Freiwilligendienste sind
weder Ausfallbürgen noch Lückenbüßer für sozialstaatliche Aufgaben - daran kann auch der Erste
Engagementbericht der Bundesregierung und das Zitat von der „Bürgerpflicht“ nichts ändern. Engagement im Rahmen eines Freiwilligendienstes ist für die
Gesellschaft, aber eben auch für den einzelnen Freiwilligen ein großer Gewinn. Freiwilligendienste sind
Bildungsdienste. Das muss auch für den BFD gelten.
Die Verankerung des Trägerprinzips im Bundesfreiwilligendienstgesetz ist uns ein großes Anliegen. Es
kann nicht sein, dass die Träger, die wichtige Ansprechpartner für ihre Freiwilligen sind, eine koordinierende
Funktion wahrnehmen und für die Qualitätssicherung
zuständig sind, im BFD aber keine Vertragspartner
sind. Neben dem Grundsatz der Subsidiarität, den es
hier zu wahren gilt, stellt die momentane Situation die
Träger allein schon verwaltungstechnisch vor unlösbare Aufgaben - müssen sie doch auch hinsichtlich ihres Kontingents den Überblick über die Anzahl und die
Daten „ihrer“ Freiwilligen behalten. Das ist momentan jedoch nicht der Fall.
Meine Erfahrungen mit dem BFD zeigen: Das
Fachpublikum, also die Trägerlandschaft und auch einige Einsatzstellen, weiß, was den BFD ausmacht.
Viele von ihnen geben sich Mühe, die Freiwilligendienstleistenden gemeinsam pädagogisch zu begleiten
und ihnen möglichst gleiche Rahmenbedingungen zu
bieten, egal, ob sie ein FSJ, FÖJ oder einen BFD absolvieren. Das lässt sich leichter bei denjenigen unter
27 Jahren handhaben als bei den Älteren.
Die pädagogische Begleitung der teilnehmenden
Ü 27 ist ein wichtiges Thema. Wir wollen, dass auch
der BFD in diesem Bereich - genau wie die Jugendfreiwilligendienste - seinen Anspruch als Bildungsdienst ernst nimmt. Noch ist dies nicht der Fall.
Manche von den Älteren, die einen BFD absolvieren, wissen nicht, dass dies auch ein Bildungsdienst
ist, und fordern somit auch nicht die entsprechenden
Maßnahmen ein. Einige vermuten dahinter gar eine
arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Leider finden wir
diese Unwissenheiten nicht allein bei den Teilnehmenden vor, sondern in einigen Fällen auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Argen und Jobcenter.
In einigen Jobcentern wird der BFD durchaus als Alternative zu Arbeitsmarktmaßnahmen beworben. Und
ich habe Kenntnis von zumindest einem Fall, in dem
die Leistung für einen SGB-II-Empfänger gekürzt
wurde, als dieser nach sechs Monaten den BFD abbrach. Genau diese Konsequenzen wollen wir nicht;
sie müssen verhindert werden.
Neben vielen anderen Punkten, die wir ({0})
noch kritisieren, ist mir ein Thema besonders wichtig:
die Doppelrolle des BAFzA. Diese sehen wir mehr als
kritisch. Denn einerseits ist das BAFzA steuernde, koordinierende und kontrollierende Behörde und verwaltet die Zuschüsse an die zivilgesellschaftlichen Zentralstellen. Andererseits ist es selbst Zentralstelle und
Dienstleister insbesondere für kleine und kommunale
Träger. Somit tritt das BAFzA in Konkurrenz zu den
Zentralstellen aus dem Dritten Sektor. Das widerspricht wiederum dem Subsidiaritätsgebot. Wir fordern, dass diese zweite Rolle des BAFzA aufgegeben
wird. In einem ersten Schritt muss die Konkurrenzsituation durch eine Angleichung der Verwaltungskostenpauschale aufgelöst werden.
Grundsätzlich müssen wir uns die Frage stellen, wie
wir uns die Freiwilligendienstlandschaft in Zukunft
vorstellen. Ich begrüße, dass es mit dem BFD nun auch
eine Möglichkeit für Menschen über 27 gibt, einen
Freiwilligendienst zu leisten. Diese Altersöffnung
bringt Chancen, birgt aber auch Risiken. Die Abgrenzung zum Arbeitsmarkt und zu anderen Formen des
bürgerschaftlichen Engagements muss gewährleistet
sein. Tätigkeitsfelder müssen neu definiert und stets
kontrolliert werden. Untersuchungen zeigen, dass der
BFD insbesondere für Freiwillige im erwerbsfähigen
Alter eine Alternative darstellt. Freiwillige über 65 finZu Protokoll gegebene Reden
den sich wenig - für diese Gruppe sind andere, niedrigschwellige Formate wie der Freiwilligendienst aller
Generationen offenbar attraktiver.
Wir brauchen ein kluges, durchdachtes und zivilgesellschaftlich orientiertes Konzept für eine Zukunft der
Freiwilligendienste. Wir wollen im Sinne der Freiwilligen die Dienste qualitativ und quantitativ weiterentwickeln. Wir wollen jede Altersgruppe einschließen und
deshalb unterschiedliche Formate fördern.
Die Anliegen, die an mich in den letzten Jahren herangetragen wurden, und die es bei diesen Planungen
zu berücksichtigen gilt, sind unter anderem eine mögliche Taschengelduntergrenze, eine Übernahme bzw.
Bezuschussung der Fahrtkosten, die Anerkennung eines Freiwilligendienstes als doppelte Wartesemester
und eine Ombudsstelle für Freiwilligendienstleistende.
Alles in allem bleibt es eine spannende Zeit für diejenigen, denen die Freiwilligendienste am Herzen liegen. Insbesondere, wenn die politischen Vorzeichen ab
Herbst anders stehen, bin ich zuversichtlich, dass es
auch eine gute Zeit werden kann.
Diese Woche könnte man problemlos unter das
Motto stellen: Je näher der Wahltermin, desto kopfloser die Opposition. Die Pirouetten, die im vorliegenden Antrag von der Opposition gedreht werden, sind
beeindruckend.
Erinnern wir uns knapp zweieinhalb Jahre zurück:
Erst hieß es, insbesondere von der SPD, die Wehrpflicht könne nicht ausgesetzt werden. Man trete für einen freiwilligen Pflichtdienst ein - was ein Widerspruch in sich ist. Aber damit war immerhin klar, dass
die Sozialdemokraten sich nie für die Aussetzung der
Wehrpflicht eingesetzt haben.
Dann, wiederum in paar Monate später, hieß es, die
Aussetzung sei überhastet. Nun wird diese von SPD
und Grünen im vorliegenden Antrag gelobt. Ein Sinneswandel, den ich als Liberaler nur begrüßen kann
und der diese Regierung in ihrer Arbeit bestätigt. Aber
dass SPD und Grüne in diesem Antrag versuchen den
Anschein zu erwecken, als hätten Sie diese mutige Reform aktiv begleitet oder gar gefordert, gehört nun
wahrlich ins Reich der Fabeln. Die Opposition war in
dieser Frage erst zerstritten, dann zögerlich und am
Ende haben Sie uns auch noch ein Scheitern der auf
die Aussetzung folgenden Freiwilligendienstreform
prophezeit. Nur taugen die Vorhersagen von SPD und
Grünen mittlerweile weniger als die Wettervorhersage: Denn sie lagen in allen Punkten daneben.
Stattdessen schreiben die Jugendfreiwilligendienste
und der neue Bundesfreiwilligendienst eine Erfolgsgeschichte. Über 80 000 Freiwillige engagieren sich im
Jahr für die Allgemeinheit. Und diesem Engagement,
dieser Einsatzbereitschaft gebührt unserer Respekt
und unsere Anerkennung.
Schade ist in diesem Zusammenhang auch, dass die
Opposition bis heute bekannte Realitäten ignoriert. So
stehen die ohne Zweifel erfolgreichen Jugendfreiwilligendienste in der Verwaltungszuständigkeit der Länder. Wenn Sie in Ihrem Antrag also schreiben, dass mit
der Einführung des BFD die „Chance einer Weiterentwicklung der Freiwilligendienste […] vertan“ wurde,
weil Sie der Auffassung sind, dass es gereicht hätte,
FSJ und FÖJ noch stärker auszubauen als wir es getan
haben, dann ignorieren Sie schlicht und einfach unsere
Verfassung, der auch Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages verpflichtet sind.
Der Bund nutzt schon heute die gegebenen Finanzierungsspielräume, das hat der Bundesrechnungshof
mehrfach unterstrichen, maximal aus. Und Ihr beredtes Schweigen, wie Sie denn die Freiwilligendienste
ohne den BFD hätten ausbauen wollen, verrät, dass
Sie versuchen, mit Ihrer Kritik die Menschen im Lande
hinters Licht zu führen. Sie haben im Gegensatz zu
Union und FDP weder Alternativen noch ein tragfähiges Konzept für die Freiwilligendienste. Sie betreiben
Miesmacherei und verlegen sich, wenn Sie nach Alternativen gefragt werden, auf das Werfen von Nebelkerzen.
Was ich Ihnen zugestehen möchte, ist, dass Sie in Ihrem Antrag einige Punkte aufgreifen, an denen noch
gefeilt werden muss. Das negiert auch niemand und
gerade mein geschätzter Kollege von der Union, Herr
Tauber, wie auch ich haben in den Debatten immer
wieder darauf hingewiesen, dass mit der Einführung
des BFD die Messe natürlich nicht gesungen ist. FSJ
und FÖJ haben sich über vier Jahrzehnte zu erfolgreichen Bildungsdiensten entwickelt, mit vielschichten,
abwechslungsreichen Konzepten, Trägern usw. All
dies lässt sich für den neuen Bundesdienst, zumal auch
die Altersgruppe über 27 Jahre mitzudenken ist, nicht
über Nacht bewerkstelligen. Hierfür brauchen wir Augenmaß und einfach Zeit - auch wenn sie erfahrungsgemäß knapp ist.
Anstatt sich aber auf die Punkte zu konzentrieren,
an denen wir noch arbeiten müssen, und hier Vorschläge zu unterbreiten, konzentrieren Sie sich wieder
einmal darauf, altbekannte Forderungen aus der Mottenkiste zu holen. In der Folge gibt es eine Reihe von
Punkten in Ihrem Antrag, bei denen ich nur noch den
Kopf schütteln kann. Denn eigentlich wissen Sie es
selbst besser.
Wenn Sie fordern, dass der Bund einen einheitlichen
Freiwilligendienstleistendenausweis schaffen solle,
muss ich mich schon fragen, ob Sie die letzten Wochen
und Monate engagementpolitisch geschlafen haben.
Diesen Ausweis gibt es doch im BFD längst. Und es
steht den FSJ/FÖJ-Trägern, der Zivilgesellschaft,
selbstredend frei, diesen Ausweis ebenfalls anzufordern und an ihre Freiwilligen auszugeben. Die Tür
steht sperrangelweit offen. Durchgehen muss die Zivilgesellschaft aber selbst. Das kann nicht der Bund regeln und das sollte er auch nicht. All dies wissen Sie und fordern trotzdem solchen Unfug.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ausgesprochen interessant ist auch, was Sie nicht
schreiben bzw. nur verklausuliert fordern. Wenn unter
Punkt 3 bei den Bildungszentren davon die Rede ist,
dass diese „zu reformieren“ und „anzupassen“ seien,
um „… damit möglichweise erzielte Einsparungen für
die Träger flexibel nutzbar zu machen“, kann wohl nur
gemeint sein, dass Sie die Bundesregierung auffordern, hier zu kürzen. Dann schreiben Sie doch, dass
Sie die Bildungszentren offen zur Diskussion stellen
und im Zweifel dort Stellen abbauen und massiv Mittel
kürzen wollen. Oder fehlt Ihnen hierzu der Mut? Warum schwurbeln Sie hier so rum? Wenn das der neue
Stil der Opposition sein soll, Herr Steinbrück hatte ja
„Klartext“ angekündigt, dann kann das ja heiter werden. Im Übrigen sollte Ihnen eines klar sein: Geld, das
an dieser Stelle eingespart wird, wird nicht den Trägern zur Verfügung stehen. Es handelt sich hier nicht
um flexibilisierte Haushaltstitel. Einsparungen kommen direkt dem Gesamthaushalt zugute. Auch das
müssten Sie eigentlich wissen, ansonsten lassen Sie
sich bitte die Grundzüge des Haushaltsrechtes von Ihren zuständigen Fachkollegen erklären.
Was die Konzepte und die Überprüfung der Bildungszentren unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten
angeht, kann ich Sie beruhigen: Eine Überprüfung der
Zentren ist längst ausgeschrieben worden. Aber im Gegensatz zu Ihnen warten wir die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Untersuchung ab, um auf Basis von
Fakten vernünftige und tragfähige Entscheidungen
treffen zu können. Das unterscheidet uns offensichtlich
von Ihnen, der Opposition.
Die Umsatzsteuerproblematik sprechen Sie zurecht
an, nur ist da auch zu Ihrer Regierungszeit nichts passiert. Und warum nicht? Weil wir uns hier in einem
schwierigen Feld bewegen. Wir alle wissen doch, wie
langsam die Mühlen malen und wie schwierig es ist,
sich auf EU-Ebene zu verständigen. Aber immerhin
haben wir, die Engagementpolitiker der Koalition und
das Bundesfamilienministerium, mittlerweile eine Expertise vorliegen, die klarstellt, dass eine Umsatzsteuerbefreiung auch im derzeit geltenden Rechtsrahmen
prinzipiell möglich ist. Der Bundesfinanzminister ist
hier zwar noch anderer Auffassung, aber ich bin guter
Dinge, dass wir auch diese Widerstände in der kommenden Wahlperiode überwinden können. Auch das
bekommen wir eher hin als Sie.
Geradezu absurd wird es allerdings, verehrte Kollegen von Rot-Grün, wenn Sie vom Bund fordern, die
Anerkennungskultur zu stärken, indem ein Freiwilligendienst zum Beispiel als Wartesemester an einer
Universität oder als Praktikum für eine Ausbildung
anerkannt werden soll. Das ist Sache der Länder. Nun
haben sich in diesen Fragen gerade rot-grün regierte
Länder wie NRW nicht gerade mit Ruhm bekleckert.
Und die Resonanz auf das Schreiben von Bundesministerin Schröder an ihre Länderkollegen mit der Bitte,
die Gesetze der Länder auf Möglichkeiten für eine bessere Anerkennung von ehrenamtlichem Engagement zu
durchforsten, war mehr als mau - um nicht zu sagen:
nicht vorhanden. Daher verstehen Sie bitte, dass ich
bei entsprechenden Forderungen aus Ihrem Munde
hellhörig werde. Denn es drängt sich der Eindruck auf,
dass Sie nicht zum ersten Mal Politik nach dem StanktFlorians-Prinzip machen. Zuständig sind bei Ihnen
immer die anderen.
Vor diesem Hintergrund werbe ich dafür, dass wir
alle zusammen unseren Landesregierungen in dieser
Frage Druck machen und gemeinsam für ein Mehr an
Anerkennungskultur werben, anstatt hier in Anträgen
„Schwarzer Peter“ zu spielen. Denn das hilft den Freiwilligen nicht, es hilft den Freiwilligendiensten nicht,
nein, dieses Spielchen auf Kosten der Hoffnungen von
Trägern und Engagierten schafft nur Verdruss. Und
das haben die Freiwilligendienste nun wirklich nicht
verdient.
Mit Studien und Statistiken sollte man immer erst
einmal vorsichtig umgehen. Aber die Untersuchung
der Hertie School of Governance, des CSI, Centrum
für soziale Investitionen und Innovationen, sowie der
Universität Heidelberg zum Bundesfreiwilligendienst
und speziell zu dessen Altersöffnung sind als seriös zu
bezeichnen. Und sie sollten ernst genommen werden nicht nur, weil sie schon seit langem geäußerte Befürchtungen und Kritikpunkte der Linken aufgreifen.
Circa 40 Prozent der Engagierten im Bundesfreiwilligendienst sind laut Studie 27 Jahre und älter. Mehr
Frauen als Männer über 27 Jahre leisten einen solchen Dienst. Vor allem die Ost-West-Unterschiede haben sich zuletzt verstärkt - es dominieren gerade im
Osten immer stärker die Älteren. Rund drei Viertel aller Freiwilligen in Ostdeutschland sind 27 Jahre und
älter. Dies gibt ebenso Anlass zur Sorge wie der Punkt
der Studie, dass über 60 Prozent aller 27-Jährigen und
Älteren ihren Dienst auf 18 Monate ausdehnen. Ein
Großteil dieser Freiwilligen ist arbeitsuchend und
sieht den Dienst als Alternative zur Erwerbstätigkeit.
Für sie stellt ein Bundesfreiwilligendienst nicht nur
eine Übergangsphase dar.
Doch soll das so sein? Sollte der Bundesfreiwilligendienst nicht wie die bisherigen Jugendfreiwilligendienste eher ein Lern- und Bildungsdienst sein?
Zum wiederholten Male stellt sich hier die Frage
nach der Abgrenzung des Bundesfreiwilligendienstes
von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen.
Insofern bin ich froh, dass die Linke wieder einmal
gewirkt hat und die SPD sowie die Grünen in ihrem
Antrag endlich deutlich fordern, die Arbeitsmarktneutralität der Einsatzstellen sicherzustellen und regelmäßig auf ihre Arbeitsmarktneutralität zu überprüfen.
Weiter heißt es: „Wird die Arbeitsmarktneutralität verletzt und handelt es sich bei der Einsatzstelle um einen
regulären Arbeitsplatz, so können hierfür keine Freiwilligen eingesetzt werden. Wird ein Arbeitsverhältnis
fälschlicherweise als Bundesfreiwilligendienst bezeichnet, führt dies zu einem regulären VergütungsanZu Protokoll gegebene Reden
spruch des/der Freiwilligen.“ Bleibt die Frage, wie effektiv und gewissenhaft dies überprüft wird und
werden kann.
Auch mit anderen Forderungen im Antrag ist die
Linke durchaus einverstanden. Ich möchte nur ein
paar herausgreifen:
Freiwilligendienste sollen vollständig zivilgesellschaftlich organisiert und Mindeststandards unterworfen werden. Das Trägerprinzip soll im Gesetz über den
Bundesfreiwilligendienst verankert werden. Die pädagogische Begleitung soll verbessert sowie flexible,
zielgruppengerechte Konzepte für die Bildungszentren
entwickelt werden. Eine bessere Anerkennung für das
Ableisten eines Freiwilligendienstes, zum Beispiel
durch Fahrtkostenerstattung, ermäßigte Eintrittspreise und eine Anerkennung als Wartesemester, begrüßen wir ebenso wie das Einziehen einer Taschengelduntergrenze.
Rot-Grün stellt also Forderungen auf, die sich zu einem gewissen Teil mit denen aus unserem Antrag „Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen statt Bundesfreiwilligendienst einführen“ ({0})
decken bzw. unsere Forderungen ausschmücken. Doch
warum haben SPD und Grüne dann nicht bereits im
Februar 2011 unserem Antrag zugestimmt?
Dies liegt vor allem daran, dass SPD und Grüne für
den Bundesfreiwilligendienst sind und trotz anfänglicher vereinzelter Kritik vollends auf Regierungskurs
umgeschwenkt sind.
Die Linke lehnt nach wie vor den Bundesfreiwilligendienst ab und will stattdessen die rechtlichen
Grundlagen schaffen, um die durch den Wegfall des
Zivildienstes frei werdenden Mittel für den weiteren
Ausbau der etablierten Jugendfreiwilligendienste,
FÖJ/FSJ, mithilfe erfahrener zivilgesellschaftlicher
Akteure zu verwenden. Hier sind die Länder in der
Mitverantwortung.
Wir sehen Parallelstrukturen aus Bundesfreiwilligendienst und den Jugendfreiwilligendiensten als kritisch an, denn es dürfen keine engagierten Menschen
durch Kompetenzwirrwarr und unterschiedliche Ausgestaltung der Dienste den Kürzeren ziehen. Dies
schadet der Engagementkultur.
Zudem bemängeln wir an vorliegendem Antrag,
dass er sich völlig unzureichend mit Zugangsbarrieren
zu Freiwilligendiensten auseinandersetzt. Die Linke
möchte durch niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten jugendliche Migrantinnen und Migranten, Menschen mit Behinderung sowie sozial Benachteiligte für
etablierte Jugendfreiwilligendienste motivieren. Wir
möchten motivieren, freiwillig, ohne äußere Zwänge,
einen solchen Lerndienst zu absolvieren.
Indem SPD und Grüne zum Bundesfreiwilligendienst stehen, stehen sie auch zu der Altersöffnung für
über 27-Jährige. Doch genau an dieser Stelle wird ihr
Antrag unglaubwürdig, wenn sie zugleich Arbeitsmarktneutralität sicherstellen wollen.
Sie sprechen zwar die Gefahr von Mitnahmeeffekten
durch die Altersöffnung an, ziehen aber keine Konsequenz. Es muss eine klare Abgrenzung erfolgen, um
eine Vermischung zwischen Arbeitsmaßnahmen und
Freiwilligendiensten zu vermeiden, doch die wird
durch die Altersöffnung geradezu unmöglich. So bleiben ihre Forderungen zur Arbeitsmarktneutralität
reine Lippenbekenntnisse.
Nicht zuletzt oben erwähnte Studie hat gezeigt: Die
Öffnung des Bundesfreiwilligendienstes für alle Altersgruppen hat dazu geführt, dass vor allem in Ostdeutschland, aber nicht nur dort, immer mehr Erwerbslose und Ältere in den Bundesfreiwilligendienst
strömen. Oftmals werden sie durch sanften Zwang von
Arbeitsagenturen hineingedrückt. Oder sie müssen
und wollen sich etwas dazuverdienen, weil zum Beispiel die Rente nicht reicht. Die mehr oder weniger
Freiwilligen erledigen nun für ein Taschengeld wichtige Aufgaben im sozialen Bereich. Doch hier ist mehr
qualifiziertes als mehr prekär beschäftigtes Personal
nötig. Gerade durch die Altersöffnung kann man also
beim Bundesfreiwilligendienst kaum mehr von Arbeitsmarktneutralität sprechen.
Wo die Vermittlung in echte sozialversicherungspflichtige Jobs nicht funktioniert, arbeitsmarktpolitische Instrumente weggekürzt werden und Angebote für
Menschen jeden Alters fehlen, bleibt als Alternative
eben oft nur der Bundesfreiwilligendienst.
Jüngst hat sich wieder einmal die katastrophale
Renten- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung
gezeigt, indem offensichtlich wurde, dass das Beschäftigungsprogramm „Perspektive 50 plus“ grandios gescheitert ist. Ältere Menschen sind weiter ziemlich
chancenlos auf dem Arbeitsmarkt. Wir brauchen statt
mehr Bundesfreiwilligendienst zielgerichtete, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen. Und die
Wirtschaft muss von der Bundesregierung viel stärker
in die Pflicht genommen werden, dauerhafte und gut
bezahlte Arbeitsplätze auch für Ältere zu schaffen.
Freiwilligendienste dürfen dabei genauso wenig als
Warteschleifen für betriebliche Ausbildungsplätze
oder einen Studienplatz dienen wie als Zuverdienstmöglichkeit für ältere Menschen, weil reguläre Arbeitsplätze fehlen, Löhne oder Renten nicht zum Leben
ausreichen. Freiwilligendienste sollen auch nicht
Arbeitskräfte für eine zusammengekürzte soziale Infrastruktur liefern.
Trotz einiger sinnvoller Forderungen zur Stärkung
der Freiwilligendienste enthält sich die Fraktion Die
Linke zu diesem Antrag. Denn wie die Bundesregierung bleibt Rot-Grün in der Logik des Bundesfreiwilligendienstes verhaftet und unterstützt damit die gefährliche Altersöffnung.
Wir wollen, dass solche Dienste wirklich arbeitsmarktneutral sind und dass in erster Linie mehr sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden und für gute Löhne und Renten gesorgt wird. Mit
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Bundesfreiwilligendienst kann keine Altersarmut
bekämpft werden!
Was hat sich seit dem letzten Jahr, als wir die Debatte zu Freiwilligendiensten schon einmal geführt haben, geändert? Nichts! Der Erfolg des Bundesfreiwilligendienstes ist nur scheinbar und liegt vor allem in der
Quantität, weniger in der Qualität. Wir haben den Antrag gemeinsam mit der SPD im Juni 2012 eingebracht, weil die schwarz-gelbe Bundesregierung den
Aufbau des Bundesfreiwilligendienstes auf Kosten der
Qualität vorantreibt. An dem dringenden Bedarf,
nachzubessern, hat sich nichts geändert: Die Bundesregierung spart auf Kosten der Freiwilligen und der
Einsatzstellen. Die Freiwilligen haben ein Recht auf
gute Betreuung und Begleitung. Das kostet Geld. Stattdessen wurden die Verwaltungsnachweise noch aufwendiger. Und ausgerechnet für die Betreuung der älteren Freiwilligen wurde im Januar 2013 die
Bildungspauschale um 25 Prozent monatlich gekürzt.
Dabei braucht gerade diese Gruppe individuelle Konzepte, die erst entwickelt werden und zusätzliches Geld
kosten.
Es gibt eine lange Liste an Aufgaben, die bisher
nicht angegangen wurden. Um nur vier Punkte zu nennen:
Erstens: Bildungsgutscheine. In der Sitzung des Unterausschusses am 29. Februar vergangenen Jahres
hatte der Leiter des Arbeitsstabes Freiwilligendienste
im Bundesfamilienministerium, Herr Kreuter, noch zugesichert, dass das System der Bildungsgutscheine
kurzfristig geändert würde. Bis heute hat sich hier
nichts, aber auch gar nichts getan.
Zweitens: Mitbestimmung Freiwilliger. In § 10,
„Beteiligung der Freiwilligen“, des Bundesfreiwilligendienstgesetzes steht ausdrücklich, dass es Sprecherinnen und Sprecher für die Vertretung der Freiwilligen gegenüber Einsatzstellen, Zentralstellen und der
zuständigen Bundesbehörde geben muss. Jetzt, zwei
Jahre nach Einführung des Bundesfreiwilligendienstes, gibt es den ersten Entwurf einer Wahlverordnung,
die allerdings wenig durchdacht ist: Unklar bleiben
die Rechte und Aufgaben der zukünftigen Sprecherinnen und Sprecher. Das Wahlverfahren findet ohne größere demokratische Meinungsbildung ausschließlich
elektronisch statt.
Drittens: Ältere Freiwillige: In der aktuellen Statistik
vom April 2013 zählt das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in seiner Statistik
14 444 Bufdis im erwerbsfähigen Alter zwischen 27 und
65 Jahren. Den Rekord hält Sachsen mit fast 80 Prozent
Bufdis im erwerbsfähigen Alter. Eine aktuelle Studie des
Centrum für soziale Investitionen und Innovationen bescheinigt, dass viele der Bufdis den Dienst als eine Alternative zu Erwerbsarbeit oder 1-Euro-Jobs sehen.
Diese Entwicklung finde ich äußerst besorgniserregend.
Die Freiwilligendienste sind Lern- und Orientierungsdienste. Dieses Profil müssen wir dringend stärken. Angesichts der Zahlen ist es umso schlimmer, dass die
schwarz-gelbe Bundesregierung so tut, als wäre alles in
bester Ordnung und der Dienst ein riesiger Erfolg.
Viertens: Die anfallende Umsatzsteuer in den Freiwilligendiensten. Mit dem Gesetz zur Stärkung des Ehrenamts wäre es endlich an der Zeit gewesen, die Umsatzsteuerproblematik zu beheben. Auch hier hat die
Bundesregierung die Lösung umschifft.
Ich möchte noch einmal betonen, dass wir der Bundesregierung in unserem Antrag zahlreiche Vorschläge
gemacht haben. Diese Vorschläge hätten kurzfristig
umgesetzt werden können. Ich fordere von der Bundesregierung, hier endlich nachzubessern: für eine bessere Anerkennung Freiwilligendienstleistender, für
eine Interessenvertretung Freiwilligendienstleistender,
für eine Ombudsstelle für Freiwilligendienstleistende,
damit die Freiwilligen mit ihren Sorgen und Nöten
neutrale Anlaufstellen haben, für mehr Qualität in Betreuung und Begleitung, für eine Prüfung der Arbeitsmarktneutralität, für ein transparentes System, in dem
beispielsweise die Rolle der vielen Regionalbetreuerinnen und -betreuer endlich klar würde.
Im Ergebnis hat sich die Situation - besonders im
Bundesfreiwilligendienst - verfestigt und verschlechtert.
Mein Fazit deshalb: Wir müssen überlegen, ob wir
den Bundesfreiwilligendienst mittelfristig brauchen
oder ob wir ihn nicht in die Jugendfreiwilligendienste
überführen und dabei zum Trägerprinzip zurückkehren.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12904, den
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/9926 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der SPD und der Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke.
Tagesordnungspunkt 36:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Obdach- und Wohnungslosigkeit erkennen
und bekämpfen
- Drucksache 17/13105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Reden gehen zu Protokoll.
Hartnäckigkeit zahlt sich ja bekanntlich oftmals
aus. Im Fall der Linken und ihrer Anträge zum sozialen Wohnungsbau hat man jedoch das Gefühl: Die sind
nicht hartnäckig, sondern etwas schwer von Begriff.
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole,
erkläre ich es Ihnen einfach noch einmal: Der Bund ist
für die soziale Wohnraumförderung nicht zuständig.
Das ist Ländersache.
Im Rahmen der Föderalismusreform 2006 haben
sich Bund und Länder darauf verständigt, dass jeder
künftig nur noch das zahlt, wofür er auch zuständig ist.
Ihre Forderung an den Bund nach einer bedarfsgerechten Bereitstellung von sozialem Wohnraum ist also
grundgesetzwidrig.
Im Übrigen weise ich auch hier noch einmal darauf
hin, dass der Bund den Ländern für einen Übergangszeitraum bis 2019 Kompensationszahlungen leistet,
die gerade auch für den sozialen Wohnungsbau bestimmt sind. Konkret hat er den Ländern bis zum Ende
des Jahres 2013 jedes Jahr mit 518 Millionen Euro für
den sozialen Wohnungsbau unter die Arme gegriffen.
Der Bund hilft den Ländern also bereits, und er hat
angekündigt, dies auch weiterhin zu tun, wenn die Länder das Geld zweckgemäß einsetzen. Berechtigt ist in
diesem Zusammenhang natürlich die Frage, ob die
Länder das auch tatsächlich tun und entsprechend verantwortungsvoll mit den Kompensationszahlungen des
Bundes umgehen.
Ich erinnere mich jedoch, dass gerade das Land
Berlin unter Regierungsbeteiligung der Linken das
Geld, das eigentlich für Investitionen in den sozialen
Wohnungsbau vorgesehen war, zweckentfremdet hat.
Damals hätten Sie zeigen können, wie sehr Ihnen der
soziale Wohnungsbau wirklich am Herzen liegt.
Doch was haben Sie stattdessen getan? Sie haben
das Geld genommen, um damit alte Schuldenlöcher zu
stopfen. Eigentlich ein waschechter Skandal. Doch
statt sich in Demut zu üben, kommen Sie jetzt und wollen noch mehr Geld.
In Bezug auf die in dem vorliegenden Antrag ebenfalls geforderte Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik scheint sich mein eingangs erwähnter Eindruck zu bestätigen, dass die Linken etwas
schwer von Begriff sind. Denn bereits vor knapp einem
Jahr hat die Bundesregierung auf Drucksache 17/10414
in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage, an der auch
die Fraktion Die Linke beteiligt war, erklärt, dass über
die Einführung einer bundeseinheitlichen Statistik über
die Zahl der Wohnungslosen Mitte der 90er-Jahre eine
Machbarkeitsstudie durchgeführt worden ist. Diese Studie kam zu dem Ergebnis, dass lediglich die Erfassung
der ordnungs- und sozialhilferechtlich untergebrachten
Haushalte sowie derjenigen, die wegen Mietrückständen räumungsbeklagt sind, in einer amtlichen Statistik
vertretbar und praktikabel ist. Bei den übrigen Gruppen
von Wohnungsnotfällen wurde dagegen die Durchführbarkeit einer genaueren Erfassung als problematisch
und kaum realisierbar eingestuft.
Die Bundesregierung hat vor diesem Hintergrund
festgestellt, dass es nur konsequent war, von der Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik
abzusehen. Dieser Einschätzung schließe ich mich an.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung mitgeteilt,
dass sich in den vergangenen Jahren die allgemeine
Versorgungslage mit Wohnraum insgesamt ständig
verbessert hat. Zugleich ist die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen 20 Jahren nicht zuletzt
aufgrund einer verbesserten Präventionsarbeit der
kommunalen Stellen und freien Träger deutlich zurückgegangen.
Wohnungslosigkeit beruht zudem nicht mehr in erster Linie auf einem Fehlbestand an Wohnungen, sondern hat in der Regel eine Reihe anderer sozialer und
zum Teil auch psychosozialer Ursachen. Hilfen bei
Problemlagen, die zur Wohnungslosigkeit führen können, können sinnvoll nur auf örtlicher Ebene geleistet
werden.
Die Zuständigkeit für die Vermeidung und Bekämpfung von Obdachlosigkeit liegt daher auch in erster
Linie bei den Kommunen.
Und damit schließt sich auch wieder der Kreis zu
dem, was ich den Kollegen von der Linken nun schon
häufiger erklärt habe: Sie sind mit Ihren Anliegen zu
sozialen Wohnraumfragen beim Bund an der falschen
Adresse. Das ist Ländersache. Insofern bleibt mir
nicht viel, als Ihre Anträge mit derselben Hartnäckigkeit, mit der sie vorgebracht werden, zurückzuweisen.
Im vorliegenden Antrag wird von der Fraktion Die
Linke die Einführung einer bundesweiten Statistik zur
Wohnungslosigkeit gefordert. Ganz gleich welcher
Fraktion man angehört: Ein Leben ohne feste Bleibe,
ohne den Schutz der Privatsphäre, einer Haustür, die
man einfach hinter sich schließen kann, das wünschen
wir alle niemandem. In dieser Frage setze ich Einigkeit voraus.
Uneinig sind wir uns jedoch in der Frage, ob eine
bundesweite Statistik zur Wohnungslosigkeit die Situation von Obdachlosen oder von Obdachlosigkeit bedrohten Menschen in Deutschland verbessern kann. Zu
den Rahmenbedingungen eines solchen Vorhabens ist
festzustellen, dass seit der Föderalismusreform die
Länder für die Soziale Wohnraumförderung zuständig
sind. Konkrete Hilfsmaßnahmen und Beratungsangebote für Obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen fallen in die Zuständigkeit der Kommunen. Die Frage ist daher, ob eine Statistik des
Bundes helfen kann, wenn die eigentliche Zuständigkeit für Maßnahmen, die bei den Betroffenen direkt ankommen, bei Ländern und Kommunen liegt.
Weder Bund noch Länder verfügen über flächendeckende Daten zur Obdachlosigkeit. Dennoch liegen
Zu Protokoll gegebene Reden
uns Zahlen vor. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe veröffentlicht in einem jährlichen Turnus Schätzungen zur Zahl der Wohnungslosen in
Deutschland. Laut aktuellen Angaben ist die Zahl der
Wohnungslosen auch in den letzten Jahren weiter gesunken. Im Jahr 2002 ging man von insgesamt
410 000 Wohnungslosen in Deutschland aus, immerhin 6,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Zum Vergleich:
Im Jahr 2010 waren es nur noch 248 000. Diese Zahlen lassen hoffen, dürfen unsere Aufmerksamkeit für
dieses gesellschaftliche Problem aber nicht schmälern.
Die CDU/CSU-Fraktion folgt einem christlichen
Menschenbild und unterstützt jede Anstrengung, um
Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland zu bekämpfen. Wenngleich in den letzten Jahren offensichtlich viel im Kampf gegen die Obdachlosigkeit erreicht
wurde, gilt es, für neue Wege zur Eindämmung der Obdachlosigkeit offen zu sein. Ob jedoch eine weitere Statistik für Betroffene wirklich hilfreich wäre, wage ich
zu bezweifeln. Wichtiger sind mir zielgruppengerechte
und konkrete Maßnahmen für Betroffene.
Unser Sozialstaat bietet bereits viel an. Wir alle
stimmen wohl darin überein, dass ein Dach über dem
Kopf zu einem menschenwürdigen Leben dazugehört.
Es ist der Sozialstaat, der Menschen in Not hilft. Darum halten wir finanzielle Mittel zur Bekämpfung der
Obdachlosigkeit im Sozialhaushalt bereit. Damit leisten wir konkrete Hilfe bei Betroffenen, etwa durch Zuwendungen an Wohneinrichtungen, die ein Ausweg aus
der Wohnungslosigkeit sein können. Das ist konkrete
Sozialpolitik, die ankommt.
Eine bloße Statistik ohne Aussagekraft hält die
CDU/CSU-Fraktion nicht für hilfreich. Das hängt
auch mit praktischen Problemen zusammen, die die
Erstellung und das Führen einer solchen Statistik mit
sich bringen würde. Dieser Punkt wurde durch meine
Fraktion bereits in den letzten Debatten zu diesem
Thema genannt. Es ist Fakt, dass Nichtsesshafte kaum
statistisch zu erfassen sind. Wie soll das geschehen?
Eine vom Bund in Auftrag gegebene Studie wäre folglich wenig aussagekräftig und darüber hinaus erst mit
einer erheblichen zeitlichen Verzögerung verfügbar.
Das ist das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie des
Statistischen Bundesamtes, die Ende der 1990er-Jahre
durchgeführt wurde. Das reicht nicht aus, weil die Bedürfnisse der Wohnungslosen sich dynamisch entwickeln.
Ganz gleich ob mit oder ohne Statistik, die CDU/
CSU steht für gute und pragmatische Sozialpolitik. Wir
helfen von Wohnungsnot Betroffenen, indem wir versuchen, sie in ihrer Notsituation aufzufangen, etwa durch
finanzielle Hilfen und karitative Einrichtungen. Eine
Statistik zur Zahl der in Deutschland Betroffenen
würde nach unserem Erkenntnisstand nicht über die
Aussagekraft einer Schätzung hinausgehen.
Vielleicht liegen inzwischen ja neue Ansätze vor, die
eine Bundesstatistik zur Wohnungslosigkeit in Deutschland sinnvoll erscheinen lassen. Ich bin gespannt auf
die Beratungen im Ausschuss.
Gerade heute Morgen wurde im Plenum die Wohnungsnot debattiert. In diesem Zusammenhang ist
auch die jetzige Debatte zur Wohnungslosigkeit unbedingt mit anzuschließen.
Wohnungslosigkeit gibt es in Deutschland leider
nicht so selten, wie oft angenommen wird. Eine konkrete Statistik über die Wohnungs- oder Obdachlosigkeit wird von der Bundesregierung nicht geführt.
Bisher gab es, trotz überfraktioneller Nachfragen der
Opposition, in der schwarz-gelben Bundesregierung
jedoch kein Einsehen für eine Notwendigkeit hierfür.
Es gibt aber eine Reihe von Erhebungen und Analysen
auf der Landes- oder kommunalen Ebene, wie etwa in
Nordrhein-Westfalen. Ebenso schätzt die BAG Wohnungslosenhilfe regelmäßig die Zahl der Wohnungslosen. Die Schätzungen beruhen auf Beobachtung der
Veränderungen des Wohnungs- und Arbeitsmarktes,
der Zuwanderung, der Sozialhilfebedürftigkeit sowie
der Auswertung regionaler Wohnungslosenstatistiken,
und es kommen noch eigene Umfragewerte hinzu.
Wohnungslos, das heißt kein Mietvertrag, Notunterkünfte, elende, unzumutbare, beengte Wohnverhältnisse oder kurz vor dem Verlust der eigenen vier
Wände - zumindest ist dies die definierende Beschreibung. Laut dem 4. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung waren die Fallzahlen von 2006 bis
2008 zunächst rückläufig. Dies waren wohlgemerkt die
Jahre von SPD-Regierungszeiten. Erst ab 2010 ist die
Zahl der Wohnungslosen wieder angestiegen. Insbesondere die Zahl der alleinstehenden Wohnungslosen
stieg nach Aussagen des Armuts- und Reichtumsberichts von geschätzten 132 000 Personen auf
152 000 Personen um 15 Prozent deutlich an. Dieser
Anstieg ist sicher auch ein deutlicher Indikator für die
schlechte Sozial- und Wohnungspolitik der derzeitigen
Bundesregierung.
Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig.
Oftmals geht die Wohnungslosigkeit einher mit familiären Problemen, Trennung vom Partner, Verlust von
Arbeit, Drogen- oder auch anderen Abhängigkeiten,
wie beispielsweise Spielsucht. Viele Betroffene sind
hoch verschuldet, haben auch Mietschulden und verlassen in den meisten Fällen freiwillig die Wohnungen.
Die Mehrzahl der Wohnungslosen ist männlich und
liegt im Alter zwischen 39 und 50 Jahren. Die meisten
werden theoretisch arbeitsfähig eingestuft, kommen
aber ohne Hilfe und Begleitung nicht mehr aus den oft
ausweglos erscheinenden Situationen heraus. Die
Schicksale, die sich hinter Wohnungslosigkeit verbergen, sind sehr unterschiedlich. Dennoch bedeutet der
Verlust der Wohnung nicht nur Armut, sondern auch
einen Ausschluss aus der Gesellschaft. Teilhabe ist
ohne ein Zuhause - eine Wohnung - nicht mehr möglich. Es bedeutet, keinen Zugang zu zentralen gesellZu Protokoll gegebene Reden
schaftlichen Bereichen wie Bildung, Arbeitsmarkt und
Gesundheit zu haben.
Gerade in Stadtteilen, die als soziale Brennpunkte
gelten, werden oft auch die Wurzeln hierfür gelegt. Geringere Bildungschancen, erhöhte Kriminalität,
schlechtere Gesundheitsvoraussetzungen können mit
geeigneten sozialen und wohnungspolitischen Maßnahmen, wie dem ursprünglich erfolgreichem Programm „Soziale Stadt“, abgefedert werden. Ebenso
kann die gesicherte Kompensationszahlung des Bundes für die Soziale Wohnraumförderung sehr gut zu einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt beitragen. Doch
hier folgt die Bundesregierung leider weder Vernunft
noch Verstand, sondern kürzte die Mittel für das ressortübergreifende Programm „Soziale Stadt“ um
60 Prozent und bleibt die Verlässlichkeit der Mittelbereitstellung bis 2019 für die Soziale Wohnraumförderung schuldig. Die Verschärfung des Mietrechts durch
die Bundesregierung hat auch den Kündigungsschutz
für Mieter aufgeweicht und trägt somit zur Verschärfung der Lage und zur schnelleren Wohnungslosigkeit
bei.
Ein weiterer besorgniserregender Aspekt der Wohnungslosigkeit sind die seit drei Jahren zunehmenden
Berichte vieler Projekte und Dienste der kommunalen
Notversorgung für wohnungslose Menschen über eine
steigende Anzahl wohnungs- und obdachloser Migranten insbesondere aus osteuropäischen Ländern der
Europäischen Union, EU. Berichtet wird besonders oft
über Menschen aus den EU-Staaten Polen, Rumänien,
Bulgarien, Lettland und Litauen. Die oft als
Arbeitsmigranten nach Deutschland Gekommenen
sind mit dem Scheitern dieses Anliegens teilweise obdachlos geworden. In niedrigschwelligen Projekten
der Wohnungslosenhilfe, wie Notschlafstellen, beträgt
der Anteil von EU-Osteuropäern teilweise mehr als
70 Prozent.
Folgen der Obdachlosigkeit sind Konflikte und Verelendung bis hin zu Kriminalität. Hilfen und Beratungen scheitern oft an Sprachbarrieren. Zwar liegt die
Zuständigkeit für die Gewährung von Sozialhilfe und
Notversorgungsangeboten bei den Kommunen; diese
sind jedoch weder finanziell noch personell ausreichend ausgestattet, um eine ausreichende Notversorgung mit Schlafangeboten, ein Angebot kostenloser
medizinischer Notbehandlung, Beratungsangebote mit
spezifischen Sprachkompetenzen sowie mehrsprachige
Informationsmaterialien für wohnungslose Personen
und letztendlich eine funktionierende Kooperation mit
Institutionen der Herkunftsländer leisten zu können.
Die Praxis der zuständigen Behörden vor Ort ist in
vielen Fällen von Unwissenheit, Hilflosigkeit und abweisender Verfahrenspraxis geprägt. Hier ist dringend
die besondere Verantwortung des Bundes und der EU
gefragt - ein weiterer Punkt, den die Bundesregierung
jedoch laut Antwort auf eine Kleine Anfrage der SPDBundestagsfraktion ignoriert.
Der Antrag der Partei Die Linke kommt mal wieder
zur rechten Zeit: im Wahlkampf. Dieses Hohe Haus hat
die Debatte über Wohnungslosigkeit und Forderungen
zur Einführung einer bundesweiten Wohnungslosenstatistik geführt. Dieses Hohe Haus debattierte heute
schon über Wohnungsbau und Mietpreisgestaltung.
Keiner der im Antrag formulierten Punkte ist neu oder
innovativ oder in Gefahr, vergessen zu werden. Aber
die Linke stellt wieder einen Antrag, um im Wahlkampf
- so darf ich vermuten - ihre vermeintliche Unverzichtbarkeit demonstrieren zu können.
Im Deutschen Bundestag, unter allen Parteien
herrscht Konsens: Jede Bürgerin und jeder Bürger
ohne eine Wohnung, ohne ein zuhause ist einer zu viel.
Der Staat setzt alles daran, denen zu helfen, die unverschuldet in Not geraten sind. Seit der Jahrtausendwende sind nach Schätzungen der Bundesgemeinschaft Wohnungslosenhilfe die Zahlen rückläufig:
Über 350 000 waren es noch vor 13 Jahren; heute
gehen wir von mehr als 100 000, etwa einem Drittel,
weniger aus. Auch wenn wir in letzter Zeit ({0}) einen leichten Anstieg zu verzeichnen haben, eine Trendwende hat damit nicht eingesetzt. Doch
selbst wenn die Wohnungslosigkeit im vergangenen
Jahrzehnt abgenommen hat, die gesellschaftliche Aufgabe bleibt bestehen. 250 000 Menschen ohne Obdach
sind 250 000 zu viel. Soweit zur Einigkeit auf sicherlich allen Seiten.
Sie aber, liebe Kolleginnen und Kollegen zur Linken, machen es sich zu einfach. Und ich spreche bewusst nicht von der Partei Die Linke, sondern vom
gesamten politischen Spektrum links der Mitte. Wahlkampfprogramme sind eine herzerwärmende Lektüre:
Da werden mit der Gießkanne Steuergelder verteilt für
jedermann. Auf 50 Milliarden Euro summieren sich die
Wahlkampfversprechen der SPD. Die Grünen legen da
noch die teure Reichensteuer oben drauf. Und die Linken schrauben den Mindestlohn im linken Überbietungswettstreit auf 9 Euro. Wohltätigkeit kann so
einfach sein, wenn man nicht in der Regierungsverantwortung steht. Doch selbst die Union verspricht inzwischen Wohltaten im Umfang von 30 Milliarden Euro.
Das Problem aber ist doch komplexer - es ist vor allem ernster. Wir Liberale sagen: Der Sozialstaat soll
niemanden alleinlassen, der in Not geraten ist. Es ist
unsere ethische Pflicht und moralische Verantwortung,
„Notanker“ zu sein für alle, die sich selbst nicht mehr
helfen können. Ja, wir tun das mit dem gesamten Spektrum des sozialstaatlichen Leistungspakets, mit konkreter öffentlicher Fürsorge. Nein, wir tun es nicht mit
einer zusätzlichen Statistik, die sie fordern. Ich glaube
nicht daran, dass uns ein Zahlenwerk hilft, mehr
Menschen Obdach zu geben. Im Gegenteil: Die Machbarkeitsstudie und der Praxistest in NRW haben gezeigt, dass erstens überhaupt nur eine „Teil-Erfassung“ der Wohnungslosen möglich ist. Zweitens sind
der bürokratische Aufwand dafür und die damit verbundenen Kosten schlicht zu hoch.
Zu Protokoll gegebene Reden
Petra Müller ({1})
Wir müssen das Problem nicht bürokratisch behandeln, sondern an der Wurzel packen. Erstens. Der Weg
aus der Wohnungslosigkeit führt über Chancengerechtigkeit: die Chance, selbst wieder auf die Füße zu kommen und in den Arbeitsmarkt.
Zweitens. Der Weg aus der Wohnungslosigkeit führt
über einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt und nicht
über Kürzungen beim sozialen Wohnungsbau, wie es
die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW demonstriert. Wenn die vom Bund für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellten Mittel - in diesem
Jahr immerhin 528 Millionen Euro - endlich auch für
diesen Zweck eingesetzt werden und nicht, wie zum
Beispiel in Berlin, zum Stopfen von Haushaltslöchern,
dann hilft das dem Wohnungsmarkt und auch den Wohnungslosen am meisten.
Drittens. Der Weg aus der Wohnungslosigkeit führt
über staatliche Unterstützung, zum Beispiel das Wohngeld. Das alles sind konkrete, realistische, wirksame
Maßnahmen der Hilfe und Problembeseitigung. Denn
was zählt am Ende: Ein Stapel Papier mit bunten Diagrammen oder vier Wände und ein Dach überm Kopf?
So konkret muss Politik sein, dann hilft sie. Um die
Wohnungslosigkeit in Deutschland weiter zu minimieren, müssen wir, muss die christlich-liberale Koalition
Menschen befähigen, ihr Leben selbst zu gestalten und
aus eigener Kraft Chancen zu nutzen, Ihr Antrag trägt
nichts dazu bei. Deshalb sagen wir Nein zu Ihrem Antrag.
Die BAG Wohnungslosenhilfe hat erst kürzlich festgestellt, dass sich das Problem der Wohnungs- und
Obdachlosigkeit in Deutschland weiter verschärft: So
schätzt die BAG für das Jahr 2010 248 000 Wohnungslose. Das bedeutet einen deutlichen Anstieg in
den letzten zehn Jahren. Bis 2015 prognostiziert die
BAG Wohnungslosenhilfe einen Anstieg um weitere
10 bis 15 Prozent. Als Hauptursachen gelten steigende
Mieten und wachsende Armut.
Es handelt sich bei den Zahlen aber nur um grobe
Schätzungen. Laut neuester Ausgabe des „MieterMagazins“ gibt es allein für Berlin diverse Schätzungen unterschiedlicher Institutionen, wie etwa dem
Arbeitskreis Wohnungsnot und der Landesarmutskonferenz. Im „MieterMagazin“ heißt es dazu weiter: Der
Berliner Senat operiert seit über zehn Jahren mit einer
Zahl von 2 000 bis 4 000 Obdachlosen in Berlin ohne sagen zu können, wie er auf diese Zahl kommt.
Es wäre aber durchaus möglich, regelmäßig verlässliche und belastbare Zahlen über das wahre Ausmaß der Wohnungs- und Obdachlosigkeit und über
Umfang und Entwicklung von Räumungsklagen in
Deutschland zu erhalten. Es sollte in einem modernen
Staat ein Grundkonsens sein: Verlässliche Zahlen sind
die Grundlage jeder sinnvollen Planung.
Eine solche Statistik ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass den Menschen gezielter geholfen werden kann, ihnen Wege aus der Wohnungslosigkeit heraus aufgezeigt werden, die Hilfsangebote in den
Städten und Gemeinden ausgebaut und bedarfsgerecht
angepasst werden und vor allem auch ein Bewusstsein
für das gesellschaftliche Problem der Wohnungslosigkeit in Deutschland geschaffen wird. Hinter den Wohnungslosen steht eben keine finanzstarke und öffentlichkeitswirksame Lobbyvertretung, die regelmäßig
Gespräche mit Politikern anbietet und mit ihrem
Thema in den Medien große Aufmerksamkeit erhält, so
wie es dem Ausmaß des Problems eigentlich zustehen
müsste.
Kann es sein, dass die Koalitionäre unseren Antrag
„Wohnungslosigkeit in Deutschland - Einführung einer Bundesstatistik“ -, den wir 2010 in den Bundestag
eingebracht haben, abgelehnt haben, weil sie das Problem lieber ausblenden? Wir dulden aber nicht, dass
die Koalition einfach die Augen vor diesem sozialpolitischen Missstand verschließt. Die Ablehnungsgründe
der anderen Fraktionen für den Antrag waren unter
anderem eine fehlende Einsicht in die Notwendigkeit
und Zweifel an der Machbarkeit. Das ist nicht nur
scheinheilig; es ist auch offensichtlich falsch bzw.
zeugt vor allem von mangelndem politischen Willen.
Ein Fachgespräch meiner Fraktion Die Linke im
vergangenen Jahr mit Statistikern, Wohnungsloseninitiativen und Kommunalvertretern führte zu einem eindeutigen Ergebnis: Eine solche Statistik ist machbar.
Ein Vertreter des Statistischen Bundesamtes stimmte
ausdrücklich zu und sah weder organisatorische noch
datenschutzrechliche Aspekte, die dagegensprechen. Zu
diesem Gespräch waren übrigens auch Abgeordnete
der Koalition eingeladen.
Das Ergebnis einer Machbarkeitsstudie des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 1998 gibt es dazu
auch schon. Die Statistik muss und kann auch Zahlen
über die jährliche Erfassung der unmittelbar von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen liefern. Selbstverständlich bleibt auch bei einer Wohnungslosenstatistik
eine gewisse Unschärfe und Ungenauigkeit, was aber
in jedem Fall die Aussagekraft insgesamt nicht infrage
stellt, wie Ihnen jeder Statistiker erklären kann. Wenn
man auf jede Statistik verzichtet, weil eine kleine Teilgruppe nicht erfasst wird, kann man zahlreiche Statistiken in Deutschland vergessen.
Das Statistische Jahrbuch des Statistischen Bundesamtes gibt über alle Lebensbereiche in Deutschland
detailliert Auskunft, nur nicht über die Menschen, die
in Deutschland unter würdelosen Bedingungen ohne
ein festes und sicheres Zuhause leben. Das ist ein
Skandal, den wir als Volksvertreter nicht weiter ignorieren dürfen. Dem Problem muss endlich mit der notwendigen Vehemenz begegnet werden.
Doch davon kann bei der Bundesregierung nicht die
Rede sein. In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage
mit dem Titel „Einführung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik“ kommt sie zu dem Schluss: „Aus
Sicht der Bundesregierung ist der erhebliche finanZu Protokoll gegebene Reden
zielle und bürokratische Aufwand für die Einführung
einer neuen Statistik auf Bundesebene mit sehr begrenzter Aussagekraft nicht zu rechtfertigen. Sie sieht
daher für die Einführung einer bundesweiten Wohnungsnotfallstatistik weder einen Bedarf noch hält sie
angesichts der Zuständigkeitsverteilung im Wohnungswesen eine solche für geeignet …“
Die Bundesregierung sieht sich also nicht in der
Verantwortung für das Problem der Wohnungs- und
Obdachlosigkeit. Stattdessen setzt sie sich für die Interessen der Vermieter ein. Mit dem Ende 2012 verabschiedeten Mietrechtsänderungsgesetz hat die Bundesregierung die Kündigung durch den Vermieter weiter
erleichtert. Das ist aus unserer Sicht das völlig falsche
Signal. Hier wird Klientelpolitik für die Vermieter gemacht und eine Schlechterstellung von Millionen
Mieterhaushalten in Kauf genommen. Räumungen auf
die Straße sind nun einfacher, was zweifelsohne auch
einen Anstieg der Zahl der Wohnungslosen zur Folge
hat.
Ich bin der festen Überzeugung, dass es eines modernen Sozialstaates unwürdig ist, dass Menschen von
Obdachlosigkeit und Zwangsumzügen bedroht sind,
wenn sie ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Kündigungen auf die Straße darf es daher nicht geben. Einen geschützten Rückzugsraum, eine Privatsphäre
sind unbedingte Voraussetzungen für ein Leben in
Würde.
Ursache für den Anstieg der Obdach- und Wohnungslosigkeit ist auch die völlig verfehlte Wohnungspolitik in den letzten Jahren. Die Situation auf dem
Wohnungsmarkt wird für einkommensschwache Mieterinnen und Mieter in den letzten Jahren immer
schwieriger. In vielen Regionen gibt es kaum noch
preisgebundene Sozialwohnungen, geschweige denn
preisgünstige Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt.
Für viele ALG-II-Bezieher sind die sogenannten angemessenen Kosten der Unterkunft ein Problem, wenn
in ihren Städten und Kommunen zu den vom Amt geforderten Mieten überhaupt keine Angebote vorhanden
sind. Die Folge sind Zuzahlungen aus dem Regelsatz
und Mietschulden, die am Ende zu einer Kündigung
führen können - eine fatale Abwärtsspirale, die von
der Bundesregierung hingenommen wird.
Sicher gibt es auch viele Fälle unter den Obdachlosen, die in erster Linie medizinische, sozialpsychologische Beratungsangebote benötigen. Bund, Länder und
Kommunen sind verpflichtet, hier auch ein Beratungsnetz und Anlaufstellen anzubieten. Aber auch hier gilt:
Damit ein solches Netz effektiv und bedarfsgerecht
aufgebaut werden kann, brauchen wir richtige und aktuelle Zahlen.
Selbstverständlich ist aber auch: Allein die Zahlen
taugen nichts, wenn mit ihnen nicht entsprechend gearbeitet wird, Maßnahmen und Programme entwickelt
werden, mit denen den Betroffenen geholfen werden
kann. Es geht nicht darum, das Problem zu verwalten,
sondern Problembewusstsein zu entwickeln und den
Ehrgeiz, es auch zu lösen. Die vielen Dienste und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in den Ländern
und Kommunen - seien es kirchliche oder gemeinnützige, medizinische oder städtische Träger - brauchen
beispielsweise mehr finanzielle Unterstützung von
Bund und Ländern. Hier liegen noch viel Überzeugungsarbeit und auch weitere Gespräche und eine
enge Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe e. V. vor uns.
Es wird höchste Zeit, jetzt gemeinsam mit den Ländern die Grundlage für eine bundesweite Wohnungslosenstatistik in Deutschland zu schaffen.
Zu meinem Bedauern war es nicht möglich, die
schwarz-gelbe Regierungsmehrheit von der Schaffung
einer Grundlage für eine bundesweite Wohnungsnotfallstatistik zu überzeugen. Gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen der SPD und Linken haben wir
intensiv darum geworben.
Mitte 2012 haben wir mit der SPD und der Linken
eine Kleine Anfrage gestellt, in deren Beantwortung
deutlich wurde, dass eine solche Statistik unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Sicherlich ist eine
statistische Erfassung von Wohnungs- und Obdachlosen äußerst schwierig. Allerdings zeigt NordrheinWestfalen einen möglichen und gangbaren Weg durchaus auf.
Dennoch dürfen wir nicht blauäugig sein; denn mit
einer bundesweiten Statistik werden längst nicht alle
Betroffenengruppen abgebildet. Dennoch kann sie uns
Wohnungspolitikerinnen und Wohnungspolitikern auf
Bundesebene zeigen, an welchen Stellen unsere Gestaltungsinstrumente verändert und weiterentwickelt
werden müssen.
Denn anders als die Bundesregierung meinen wir,
dass Wohnungspolitik nicht nur Ländersache ist. Das
Mietrecht liegt zum Beispiel in der Hand des Bundes,
und es bildet den Rahmen für die Mietpreise in
Deutschland. Genau hier können wir ansetzen, doch
dafür müssen wir alle die Augen für die Realitäten auf
unseren Wohnungsmärkten öffnen. Eine bundesweite
Wohnungsnotfallstatistik kann hierbei helfen.
Doch auch für andere Politikbereiche kann eine
bundesweite Statistik helfen, entsprechende Steuerungen vorzunehmen und vorzubeugen. So hätte eine Statistik mit der Erfassung der Nationalität den Städten
helfen können, sich besser auf die Wanderungsbewegung von Menschen aus Rumänien und Bulgarien vorzubereiten, was ganz sicher für alle Beteiligte von großem Vorteil gewesen wäre.
Deswegen unterstützen wir den Antrag der Linken.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einZu Protokoll gegebene Reden
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 54 g:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Brigitte Pothmer, Arfst Wagner
({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fortführung der arbeitsmarktlichen Unterstützung für Bleibeberechtigte und Flüchtlinge
in der nächsten Förderungsperiode des Europäischen Sozialfonds
- Drucksache 17/13718 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden gehen zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 11 sowie Tagesordnungspunkt 38 c auf:
ZP 11 Beratung des Berichts des Innenausschusses
({2}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung
- zu dem von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Aufnahme
von Kultur und Sport in das Grundgesetz
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Jan Korte, Agnes Alpers, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Kultur gut stärken - Staatsziel Kultur im
Grundgesetz verankern
- Drucksachen 17/10644, 17/10785 ({3}),
17/13750 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Wolfgang Bosbach
Dr. Dieter Wiefelspütz
Frank Tempel
Wolfgang Wieland
38 c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({4})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Dietmar Bartsch, Jan Korte, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Förderung des Sports ist Aufgabe des
Staates
1) Anlage 16
- zu dem Antrag der Abgeordneten Jens
Petermann, Katrin Kunert, Dr. Kirsten
Tackmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Sportförderung neu denken - Strukturen
verändern
- Drucksachen 17/6152, 17/11374, 17/13751 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Dr. Lutz Knopek
Jens Petermann
Die Reden gehen zu Protokoll.
Ich freue mich sehr, heute zu den sportpolitischen
Initiativen der Fraktion Die Linke Stellung nehmen zu
können. Beide Anträge enthalten eine Vielzahl an Fehlern und Widersprüchen und ignorieren zahlreiche
Grundsätze des Zuwendungsrechts im Allgemeinen
wie auch der Sportförderung im Speziellen.
Die Fraktion Die Linke verbindet mit der Forderung nach der Aufnahme des Sports in das Grundgesetz eine Reihe weiterer Verpflichtungen. Schaut
man sich diese einzelnen Forderungspunkte an, so
wird schnell ersichtlich, warum neue Staatszielbestimmungen in diesem Kontext nicht notwendig sind.
Denn: Die einzelnen anvisierten Aspekte gehören seit
langem zur ({0}) Förder- und Verwaltungspraxis der einzelnen Bundesministerien.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern haben wir
in Deutschland einen freien Zugang zu Sportstätten für
alle Bürgerinnen und Bürger. Die ungebrochen hohe
Nachfrage nach Sportangeboten - über die Generationsgrenzen hinweg - spiegelt sich in der lebendigen
Sportvereinslandschaft in Deutschland wider. In über
91 000 Sportvereinen finden Angebot und Nachfrage
nach diversen Sportaktivitäten erfolgreich zusammen.
Dass dies nicht in allen Ländern so selbstverständlich
ist wie hierzulande, musste man erneut bei der
5. UNESCO-Weltsportministerkonferenz im Mai 2013
in Berlin feststellen. Ein übergeordneter Themenkomplex hat sich bei der Weltsportministerkonferenz genau
mit diesem Aspekt beschäftigt. Aus Sicht der Sportförderung ist in Deutschland zu beachten, dass der Bund
für die Unterstützung des Leistungssports und die Bundesländer für die Unterstützung des Breitensports zuständig sind. Beide Ebenen setzen sich förderpolitisch
kraftvoll für den Sport ein, obwohl immer höhere Zuwendungen wünschenswert sind. Vor dem Hintergrund
der Haushaltskonsolidierung müssen diese Bestrebungen jedoch auch haushälterisch bewertet und verantwortet werden.
Auch bei der Betrachtung der Forderungen der
Fraktion Die Linke bezüglich des Behindertensports
zeigt sich: Seit langem wird der Behindertensport nach
den gleichen Kriterien gefördert wie der Sport von
Menschen ohne Einschränkung. Dies spiegelt sich
überdies in den finanziellen Zuwendungen des Bundes
im Bereich des Spitzensports von Menschen mit Behinderungen wider. In Relation zur Anzahl der Kaderathleten wird der Spitzensport von Menschen mit und
ohne Behinderung in gleicher Weise und Höhe gefördert. Erst in der gestrigen Sitzung des Sportausschusses haben wir darüber hinaus von den diversen Initiativen bezüglich weiterer Qualifizierungsmaßnahmen
für Trainer, Übungsleiter und Lehrkräfte erfahren.
Sicherlich ist man auch in Deutschland bei dem Thema
Inklusion noch nicht am Ziel, aber dennoch auf einem
sehr guten und ambitionierten Weg. Der Aktionsplan
der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sowie die Berichte des Bundesbeauftragten bestärken uns in unseren Bemühungen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke spricht weiterhin die Chancengleichheit und Repräsentation von
Frauen in der Selbstverwaltung des Sports an. Wenn
Sie sich die Zusammensetzung des Präsidiums oder
das Organigramm des DOSB einmal angeschaut hätten, wäre dieser Punkt vielleicht erst gar nicht in dem
Antrag genannt worden. Der Deutsche Olympische
Sportbund, DOSB, als Spitzenverband ist ein positives
Beispiel und Vorbild in dieser Sache. Seit langem setzt
sich der DOSB-Geschäftsbereich „Sportentwicklung“
mit dem Ressort „Chancengleichheit/Diversity“ sehr
erfolgreich für unterschiedlichste Themen in diesem
Feld ein.
Der Antrag nimmt ferner Bezug zur Förderung von
Sportstätten in Deutschland und beklagt den schlechten Zustand vieler Anlagen. Nicht zu vergessen ist
auch hier, dass der Bund für die Sportstätten des Spitzensports und die Bundesländer für die Sportstätten
des Breitensports zuständig ist. Vor dem Hintergrund
der Haushaltskonsolidierung muss individuell die
Situation bewertet sowie lokal nach soliden Finanzierungsmodellen und realistischen Sanierungsplänen
gesucht werden. Neben der rein ökonomischen Betrachtung wird uns im Kontext des demografischen
Wandels künftig noch viel stärker die Frage beschäftigen, welche veränderten Nutzungsanforderungen
überhaupt nötig sein werden. Welche Sportanlagen
und welche Funktionen werden zukünftig zum Beispiel
ältere Generationen benötigen? Überdies stellt sich
die Frage nach der Auslastung der lokalen Infrastruktur im Sport und nach dem ({1})Wandel ganzer
Regionen.
In einem anderen Punkt werden im Antrag der
Fraktion Die Linke die Förderung des Antidopingkampfes und der Gewaltprävention genannt und eine
Förderung durch Sportwetten und Werbeeinnahmen
gefordert. Auch hierfür haben sich die Koalitionsfraktionen bereits erfolgreich eingesetzt. Nach dem neuen
Glücksspielstaatsvertrag sind hierfür jedoch die Bundesländer verantwortlich. Bei der Novellierung des
Gesetzes haben wir uns im Sportausschuss dafür eingesetzt, dass die Bundesländer ihrerseits eine Absichtserklärung zur Förderung des Antidopingkampfes
mit aufnehmen. Hervorzuheben ist: Bei der Finanzierung des Antidopingkampfes hat der Bund bisher die
meisten Zuwendungen aufgebracht. Dies trifft auf das
Stiftungskapital der NADA wie auch auf die Zuwendungen bezüglich des Geschäftsbetriebes zu.
Bei der Gewaltprävention zeigt sich ein ähnliches
Bild. Auch hier bleibt kaum genügend Raum, um auf
alle positiven Maßnahmen und Initiativen der Bundesregierung und der Verbände und Institutionen im Sport
einzugehen. Das vor kurzem gefeierte 20-jährige Jubiläum der Koordinationsstelle Fanprojekte, KOS, steht
übergreifend für eine lange Erfolgsgeschichte. Gemeinsam mit den unzähligen Fanprojekten in den einzelnen Städten zeigt sich, wie man erfolgreich gegen
Gewalt im und um den Sport vorgehen kann und sozialpädagogisch wirksam wird. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Fraktion Die Linke: Hierfür braucht
man keine neuen Staatszielbestimmungen!
Der neue Bundesfreiwilligendienst und das Gesetz
zur Stärkung des Ehrenamtes stehen bereits jetzt für
ein Erfolgsmodell, das den im Sport engagierten Bürgerinnen und Bürger wesentlich zugutekommt. Beim
neuen Freiwilligendienst war nach der Bundeswehrreform und Ende des Zivildienstes überhaupt nicht klar,
wie hoch die Nachfrage sein wird. Heute stellen wir
mit Freude fest, dass alle 35 000 Stellen besetzt sind
und sogar die Nachfrage weiter anhält. Das Gesetz zur
Stärkung des Ehrenamtes steht hingegen für eine Entbürokratisierung des „Dritten Sektors“ mit unzähligen
gemeinwohlorientierten Organisationen und Stiftungen. Weiterhin wurde eine deutliche Anhebung der Ehrenamts- und Übungsleiterpauschale beschlossen, die
rückwirkend zum 1. Januar 2013 greift. Ferner wurden
die haftungsrechtlichen Risiken für freiwillig Engagierte deutlich minimiert.
Mit Blick auf die Gesundheitsförderung durch den
Sport wurde gerade das Präventionsgesetz beschlossen, in dem der Sport selbst direkt benannt wird. Jetzt
liegt es an den Bundesländern, dem Gesetz zuzustimmen, damit die Vorteile auch den Bürgerinnen und
Bürgern zugutekommen. Der Antrag der Fraktion Die
Linke scheint sich - mit vielen Forderungen, die gegen
die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern
verstoßen - gleichsam gegen die föderale Struktur in
Deutschland zu richten. Dies trifft im Besonderen auf
den Sport an Schulen und Hochschulen zu.
Zusammenfassend wird deutlich, dass die Forderungspunkte im Antrag der Fraktion Die Linke seit
langem umgesetzt werden und zur sportbezogenen
Förder- und Verwaltungspraxis der einzelnen Ressorts
gehören. Der Antrag „Die Förderung des Sports ist
Aufgabe des Staates“ ist schon bei der Einbringung im
Juni 2011 „ins Leere gelaufen“. Es verwundert schon
sehr, dass der Antrag nun - nach fast genau zwei Jahren - im Plenum beraten wird. Allein die zeitliche
Dimension offenbart, wie wichtig der Fraktion Die
Linke die Sportförderung tatsächlich ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der zweite Antrag der Fraktion Die Linke, „Sportförderung neu denken - Strukturen verändern“, ist im
November 2012 eingebracht worden, und auch hier
stellt sich - mit Blick auf die zeitliche Dimension - die
Frage nach der Ernsthaftigkeit der Initiative. Der Vorschlag, ein eigenständiges Sportsministerium einzurichten, ist seit langem überholt. Zudem besteht über
die Fraktionsgrenzen hinweg weitestgehend Einigkeit
darüber, dass mit der Auslagerung ein starker Bedeutungsverlust einhergeht.
Unabhängig von den strukturellen Aspekten hat sich
das Bundesministerium des Innern, BMI, seit den
Olympischen Spielen von London 2012 massiv dafür
eingesetzt, eine stärkere Transparenz bei der Mittelvergabe zu ermöglichen. Die zum Teil hitzig diskutierten „Zielvereinbarungen“ - als Vereinbarungen zwischen dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB,
und seinen Sportfachverbänden - werden als Evaluations- und Steuerungsinstrument künftig öffentlich dargelegt. Die datenschutzrechtlichen Anforderungen
werden künftig so gestaltet, dass hier keine Konflikte
entstehen können. Auf die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern im Bereich der Sportförderung, die Unterstützung des Behindertensports sowie
die Sportstätten will ich nicht erneut eingehen.
Die Sportförderung in Deutschland wird kontinuierlich weiterentwickelt, ohne dass hierfür neue Staatszielbestimmungen nötig sind. Die vielen Arbeitsbereiche und Ressorts, die an der Sportförderung in
Deutschland beteiligt sind, stehen für eine kraftvolle,
solide und verantwortungsvolle Unterstützung durch
die Bundesregierung. Lassen Sie uns gemeinsam im
Sportausschuss weiterhin für eine kontinuierliche Verbesserung der Spitzensportförderung eintreten.
Gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages behandeln wir den Stand der Beratungen im federführenden Innenausschuss zu dem Gesetzentwurf der SPD zur „Aufnahme von Kultur und
Sport in das Grundgesetz“ und dem Antrag der Linken
„Kultur gut stärken - Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankern“.
Wir haben beide Vorlagen am 28. September 2012
in erster Lesung debattiert und an den federführenden
Innenausschuss sowie den Rechtsausschuss, den Sportausschuss, den Ausschuss für Kultur und Medien und
den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen. Die Beratungen im Innenausschuss
wurden sowohl in der 107. Sitzung am 15. Mai 2013
als auch in der 109. Sitzung am 5. Juni 2013 vertagt.
Beide Vorlagen fordern eine Verfassungsänderung,
gegen die wir als Koalitionsfraktionen verfassungsrechtliche Bedenken haben. Eine mögliche Änderung
unseres Grundgesetzes ist von großer Bedeutung und
erfordert daher jedenfalls weitere Beratungen.
Sowohl der Gesetzentwurf der SPD als auch der Antrag der Linken haben zum Inhalt, Sport und Kultur ins
Grundgesetz aufzunehmen und damit als Staatsziele zu
verankern. Die SPD sieht vor, den Art. 20 a des Grundgesetzes um folgenden Satz zu erweitern: „Er [der
Staat] schützt und fördert ebenso die Kultur und den
Sport.“ Die Linke geht mit ihrem Antrag gedanklich
den gleichen Weg für die Kultur.
Niemand bestreitet die enorme Wichtigkeit, die
Sport und Kultur in Deutschland haben. Wir definieren
uns als Kulturnation, und Sport ist die größte Bürgerbewegung Deutschlands. Sport als Bewegungskultur
fördert Gesundheit und Gemeinsinn der Menschen.
Außerdem sind beide ein verbindendes und ein integratives Element unserer Gesellschaft. Der Anspruch,
dass Kultur und Sport geschützt und gefördert werden
sollen, klingt daher logisch und selbstverständlich.
Es stellen sich jedoch zwei Fragen: Erstens. Welchen verfassungsrechtlichen Status haben Kultur und
Sport derzeit? Zweitens. Was würde die Ergänzung des
Art. 20 a verfassungsrechtlich bedeuten?
In unserem Grundgesetz sind Rechte, Pflichten und
Ziele verzeichnet, die dem Staat und seinen Bürgern
am wichtigsten sind, als besonders schützenswert angesehen werden und das Fundament unserer Demokratie bilden. Sie können deshalb im Erfordernisfall
auch vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt werden.
Den ersten Teil unserer Verfassung bilden die
Grundrechte, also die wesentlichen Rechte, die den
Mitgliedern unserer Gesellschaft gegenüber dem Staat
als beständig, dauerhaft und einklagbar garantiert
werden. Der von der SPD und den Linken geforderte
„Schutz“ für Sport und Kultur ist hier bereits zu finden.
Art. 5 Abs. 3 unseres Grundgesetzes garantiert ein
Freiheitsrecht für alle in den Bereichen der Kunst und
Wissenschaft schöpferisch tätigen Personen, um vor
Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu schützen. Das
Bundesverfassungsgericht leitet aus dieser Grundsatzentscheidung die Aufgabe des Staates ab, ein freiheitliches Kunst- und Wissenschaftsleben zu erhalten und zu
fördern. Der Schutz und die Förderung der Kultur
werden so automatisch zu Staatszielen, da sich der moderne Staat als Kulturstaat versteht.
Auch für den Sport gilt: Alle sportliche Betätigung
findet ihren verfassungsrechtlichen Schutz im Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2
Abs. 1 GG. Darüber hinaus können sich Sportvereine
und Sportverbände wie auch die Sportlerinnen und
Sportler selbst auf die im Grundgesetz verbürgte Vereinigungsfreiheit, Art. 9 Abs. 1 GG, berufen. Der
Gestaltungsauftrag, den das Sozialstaatsprinzip mit
Art. 20 GG an den Gesetzgeber stellt, umfasst damit
auch den Bereich des Sports.
Als explizit unter Art. 20 a GG aufgenommene
Staatsziele würden dem Sport und der Kultur nicht
mehr Rechte zuwachsen, als ihnen das Grundgesetz
bereits jetzt verbürgt.
Zu Protokoll gegebene Reden
http://de.wikipedia.org/wiki/Subjektives_Recht
http://de.wikipedia.org/wiki/Subjektives_Recht
http://de.wikipedia.org/wiki/Subjektives_Recht
http://de.wikipedia.org/wiki/Gesellschaft_%28Staatsrecht%29
http://de.wikipedia.org/wiki/Staat
http://de.wikipedia.org/wiki/Staat
Wie sieht es mit der Förderung aus? Gemäß unserem Grundgesetz liegt die Kulturförderung generell im
Verantwortungsbereich der Bundesländer und der
Kommunen. Doch der Bund fördert insgesamt rund
70 Kultureinrichtungen und Projekte von nationaler
und internationaler Bedeutung. Vorrangig zu nennen
sind dabei die Gedenkstätten zur Erinnerung an die
Opfer der NS-Terrorherrschaft, Gedenkstätten und Institutionen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Er fördert aber ebenso Kultureinrichtungen, Museen und
Stiftungen, unterstützt den Deutschen Film und finanziert die Deutsche Welle als mediale Visitenkarte
Deutschlands im Ausland. Diese Liste ist nicht vollständig, sondern gibt nur einen begrenzten Überblick
über den Geschäftsbereich des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.
Beachtlich aber ist der Etat. Er beträgt zurzeit
1,2 Milliarden Euro. Zusätzlich dazu hat der Bundestag in den vergangenen Jahren in großem Umfang stets
weitere Mittel für Kultur bewilligt, um kulturelle Projekte und kulturhistorisches Erbe zu finanzieren. Wenn
man die Subventionen für die Länder und Kommunen
hinzurechnet, fließen jedes Jahr rund 9 Milliarden
Euro in den bezuschussten Bereich der Kultur.
Beim Sport gilt Folgendes: Die Förderung des Breitensports tragen grundsätzlich die Länder und Kommunen. Der Bund unterstützt den Spitzensport. Die
Schwerpunkte liegen dabei in der Förderung der Bundessportfachverbände und Bundesleistungszentren.
Bezuschusst werden der Bau und Unterhalt von Sportstätten, Lehrgänge, Trainings- und Wettkampfprogramme, die Ausrichtung von Welt- und Europameisterschaften in der Bundesrepublik Deutschland, der
Leistungssport von Menschen mit Behinderungen und
Maßnahmen zur Dopingbekämpfung, um einige Beispiele zu nennen. Das Bundesministerium des Innern
stellt dafür im Jahr 2013 circa 129 Millionen Euro zur
Verfügung. Hinzu kommen noch die mittelbaren Transferleistungen, die sich aus den gewährten Steuervorteilen ergeben.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Bund finanziert im Sinne der von der Verfassung vorgegebenen Zuständigkeitsverteilungen all jene kulturellen
und sportlichen Bereiche, die eine überregionale und
nationale Bedeutung haben.
In ihrem Gesetzentwurf argumentiert die SPD, dass
sowohl die Kultur als auch der Breitensport eine herausragende gesellschaftspolitische Bedeutung haben
und wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Miteinanders sind. Das ist richtig, und deshalb werden auch
beide Bereiche allen Teilen der Bevölkerung mithilfe
der kommunalen Daseinsvorsorge zur Verfügung gestellt, unterhalten und gefördert. Auch sozial schwächere Bevölkerungsgruppen sind davon nicht ausgeschlossen. Das ergibt sich aus Art. 20 Abs. 1 GG und
wird durch verschiedene Sozialleistungen des Bundes
finanziert. Aber eine Aufnahme einer Kultur- und
Sportförderung ins Grundgesetz, die auf eine rechtliche Verpflichtung des Staates zur Finanzierung einer
allgemeinen Teilhabe abzielte, würde den Rahmen unserer Verfassung sprengen.
Daher muss die Frage gestattet sein, ob wir unser
Grundgesetz immer weiter ausdehnen wollen, indem
wir stets neue Staatsziele definieren. Schlussendlich
käme dies einer Verwässerung unserer Verfassung
gleich. Wir von der Koalition sehen dies mit Skepsis.
Aus diesem Grund kann unser Votum zum Gesetzentwurf der SPD als auch zum Antrag der Linken nur eine
Kenntnisnahme sein. Deshalb sind weitere Beratungen
im Innenausschuss erforderlich.
Es ist schon ein Armutszeugnis, welches die
schwarz-gelbe Koalition hier abliefert. Da Sie selbst
keine eigene Haltung zu dem von uns unterbreiteten
Vorschlag, Kultur und Sport als Staatszielbestimmungen im Grundgesetz zu verankern, haben, vertagen Sie
die Entscheidung Woche um Woche. Dabei hat sich
doch mittlerweile eine Reihe von Abgeordneten aus
den Reihen der Koalition zumindest für ein Staatsziel
Kultur ausgesprochen. Zuletzt der Vorsitzende des
Rechtsausschusses, Siegfried Kauder. Aber auch
Staatsminister Bernd Neumann, die Vorsitzende des
Ausschusses Monika Grütters und der Sprecher für
Kultur und Medien, Wolfgang Börnsen, haben immer
wieder ihre Sympathie für dieses Anliegen deutlich gemacht. Die FDP hatte in der letzten Legislaturperiode
sogar einmal einen eigenen Gesetzentwurf zur Verankerung von Kultur als Staatsziel im Grundgesetz eingebracht. Und in der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ haben alle Fraktionen den Vorschlag
unterstützt, den Satz „Der Staat schützt und fördert die
Kultur“ im Grundgesetz zu verankern.
Ich erzähle Ihnen somit nichts Neues. Die Argumente, die für ein Staatsziel Kultur sprechen, habe ich
bereits in der Debatte zur ersten Lesung unseres Gesetzentwurfs ausführlich dargelegt. Vielmehr möchte
ich meiner ausdrücklichen Verwunderung Ausdruck
verleihen, warum sich die Abgeordneten der Koalitionsfraktion immer dann, wenn es gilt, darüber endlich auch abzustimmen, daran nicht mehr erinnern
können. Bei der Einbringung des Gesetzentwurfs
signalisierten alle Fraktionen noch Interesse, sich
darüber auszutauschen. Bei diesem Signal ist es aber
auch geblieben; passiert ist nichts.
Das wiederum verwundert mich überhaupt nicht,
entspricht es doch dem üblichen Muster der schwarzgelben Regierungskoalition. Wohlfeile und vollmundige Versprechen und Ankündigungen nach allen Seiten - wenn es aber darauf ankommt, passiert genau
nichts. Wir haben gestern im Ausschuss für Kultur und
Medien einen fast schon skandalösen Vorgang beobachtet. Nicht nur, dass CDU/CSU und FDP die Beratung über den Gesetzentwurf zum Staatsziel Kultur
und Sport erneut vertagt hätten, sie haben sich auch in
zwei weiteren wichtigen kulturpolitischen Fragen absolut kulturfeindlich verhalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem Beschluss, die ursprünglich im Entwurf
eines Gesetzes zur Neuorganisation der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Änderung anderer Gesetze,
BUK-Neuorganisationsgesetz - BUK-NOG, - Bundestagsdrucksache 17/12297 - vorgesehene turnusmäßige
Überprüfung der Künstlersozialabgabepflicht von Unternehmen durch die Träger der Rentenversicherung
aus dem Gesetz zu streichen, bringt Schwarz-Gelb die
Künstlersozialkasse, KSK, in große Not. Weil diese
Überprüfung nun nicht mehr verbindlich geregelt ist,
besteht die Gefahr, dass der Abgabesatz in den kommenden Jahren deutlich steigen könnte. Damit gerät
die Stabilität der KSK insgesamt in Gefahr. Zudem
werden gerade die ehrlichen Unternehmen, die ihrer
Abgabepflicht nachkommen, bestraft, indem die dringend notwendige Verbesserung der Kontrolle vor allem der säumigen Unternehmen nicht erfolgt. Das widerspricht der Beitragsgerechtigkeit. Am Ende sind
viele Kultur- und Kreativschaffende betroffen. Das für
sie wichtigste Instrument für eine angemessene soziale
Absicherung wird ohne Not gefährdet.
Zudem haben sich CDU/CSU und FDP einer gemeinsamen Erklärung des Ausschusses für Kultur und Medien
verweigert, die audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen aus den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, Transatlantic
Trade and Investment Partnership - TTIP, auszunehmen.
Das ist dringend notwendig, weil nach vielfacher Expertenmeinung zu befürchten ist, dass wichtige Instrumente der Kulturförderung in Deutschland gefährdet
sind, sollte der Bereich der Kultur- und der audiovisuellen Medien nicht von Anfang an und grundsätzlich
aus dem Freihandelsabkommen ausgenommen werden.
Damit wären beispielsweise die Filmförderung, das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem, die Buchpreisbindung und die Förderung von kleinen Kultur- und
Medienunternehmen bedroht. Schwarz-Gelb handelt
damit absolut gegen die Interessen der für uns so wichtigen Kultur- und Kreativwirtschaft.
Es wäre also wünschenswert, wenn die schwarzgelbe Koalition wenigstens einmal ihre Argumente für
oder gegen ein Staatsziel Kultur benennen würde. Das
Thema einfach auszusitzen und der sogenannten Diskontinuität anheimfallen zu lassen, ist die komplette
Verweigerung jeder inhaltlichen Debatte, beschreibt
aber die Haltung dieser Koalition sehr treffend.
Wir hätten gern heute über unseren Gesetzentwurf
abgestimmt. Jedoch hat gestern die Koalition im federführenden Innenausschuss bereits zum zweiten Mal
hintereinander gegen die Stimmen der Opposition unseren Gesetzentwurf vertagt, ohne Angabe von Gründen.
Aber ich kann Ihnen den Grund nennen: Der FDPFraktion fehlt es als Koalitionspartner der CDU/CSU
an Courage. Denn die FDP setzte sich noch vor der
Bundestagswahl 2009 lautstark für die Aufnahme des
Sports ins Grundgesetz ein, brachte mit dieser Forderung auch einen Antrag in der vergangenen Legislaturperiode ein. Auf einem Wahlkampfhearing des
Deutschen Olympischen Sportbundes tönte Herr
Westerwelle 2009 noch: „In einer Koalition würden
wir versuchen, Herrn Schäuble von seiner irrigen Meinung abzubringen“, und ergänzte, dass der Sport „auf
Augenhöhe mit anderen Rechtsgütern stehen“ müsse.
Alles Schnee von gestern? Mitnichten! Auf der Internetseite der FDP-Fraktion steht noch heute: „Wegen der hohen gesellschaftlichen Bedeutung des Sports
spricht sich die FDP im Deutschen Bundestag dafür
aus, den Schutz und die Förderung des Sports auch im
Grundgesetz zu verankern.“
Dann frage ich: Warum stimmt die FDP-Fraktion
unserem Gesetzentwurf nicht zu? Warum versucht die
FDP nicht, ihren Koalitionspartner von der „irrigen
Meinung abzubringen“? Dieses Verhalten ist absolut
unglaubwürdig.
Interessant ist, dass die Koalition zumindest in der
gestrigen Sportausschusssitzung nach all der Hinhaltetaktik wieder einmal ihr wahres Gesicht in der Sportpolitik gezeigt hat: Denn zumindest dort kam unser
Gesetzentwurf zur Abstimmung, und CDU/CSU und
FDP lehnten ihn ab. Dies ist eine verpasste Chance für
den Sport in Deutschland.
Der organisierte Sport stellt mit seinen 28 Millionen
Mitgliedschaften in 91 000 Vereinen die größte Bürgerbewegung des Landes dar und hat damit eine herausragende gesellschaftspolitische Bedeutung. Der
Sport leistet mit seinen Millionen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern einen wichtigen Beitrag für unser
Land, sei es in der Integrationsarbeit, der Wertevermittlung, der Identifikationsstiftung oder auch der Gesundheitsvorsorge.
Die Bedeutung des Sports für das Individuum und
die Gesellschaft unterstreichen in Deutschland inzwischen 15 von 16 Landesverfassungen mit der Normierung der Förder- und Schutzpflicht des Sports. In
Art. 165 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union wird die Bedeutung des Sports für
Europa ausdrücklich gewürdigt und die Förderung des
Sports als ein Ziel der Union hervorgehoben. Darüber
hinaus ist Sport auch Gegenstand anderer europäischer Verfassungen. Auch die 5. Weltsportministerkonferenz MINEPS V hat letzte Woche in ihrer abschließenden „Berliner Erklärung“ die besondere Rolle des
Sports betont und das fundamentale Recht auf Zugang
und Teilhabe am Sport eingefordert.
Eben dieser herausragenden gesellschaftspolitischen Bedeutung gilt es mit der Verankerung des
Sports als Staatsziel im Grundgesetz die entsprechende
Wertschätzung und Anerkennung auszusprechen. In
der Verfassung findet sich kein an den Staat gerichteter
Auftrag zur Förderung des Sports. Dies stellt eine
grundgesetzliche Regelungslücke dar, die es zu beseitigen gilt. Der Bund tritt mit circa 250 Millionen Euro
jährlich als Förderer des Spitzensports auf.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Bundesrechnungshof stellte dazu fest: „Der
Bund fördert den Sport trotz unklarer und fehlender
Aufgaben- und Finanzierungszuständigkeit seit Jahrzehnten … Der Bundesbeauftragte hält es für geboten,
dass sich der Bund in diesem Zusammenhang auf die
Spitzensportförderung beschränkt. Dies sollte im
Grundgesetz, in einem Ausführungsgesetz oder in einer Vereinbarung im Rahmen der Föderalismuskommission II klargestellt werden.“ Mit der Aufnahme des
Sports ins Grundgesetz bestünde somit eine wichtige
rechtliche Grundlage für eine transparente Ausgestaltung der Spitzensportförderung in Deutschland. Momentan wird die Sportförderung lediglich durch
Rechtsverweisung hergeleitet. Aber eine transparente
Sportförderung ist nach all den Geheimhaltungsaktionen um die Zielvereinbarungen durch Herrn Innenminister Dr. Friedrich ganz offensichtlich nicht im Interesse der Koalition.
Auch in anderen Bereichen würde das Staatsziel
Sport wichtige Wirkung entfalten: Beispielsweise
könnte die Stufensituation zwischen bestehenden
Staatszielen und dem Sport aufgelöst werden. Derzeit
erfährt der Sport hierbei eine eindeutige Benachteiligung bei gerichtlichen Auseinandersetzungen. Diese
und zahlreiche weitere Argumente haben wir Ihnen bereits in der ersten Lesung und in der Debatte im Sportausschuss genannt.
DOSB-Präsident Dr. Bach sagte zu unserem Gesetzentwurf: „Wir danken der SPD, dass sie diesen Antrag
eingebracht hat … Niemand verspricht sich davon einen Euro mehr für den Sport. Dadurch würde aber der
Sport in den Abwägungsprozessen mit anderen Bereichen der Gesellschaft gestärkt. Ich appelliere an die
Unionsfraktion, endlich ihre formaljuristisch begründete Verweigerungshaltung aufzugeben und dem Sport
den Wert zu geben, den jeder Politiker in jeder seinen
Sonntagsreden betont.“
Es ist bedauerlich, dass nach der ablehnenden Haltung der Fraktion der CDU/CSU nun die FDP-Fraktion trotz anderslautender Bekundungen umgefallen ist
und die Koalition dem Sport die Aufnahme in das
Grundgesetz verwehrt.
Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“
hat in der 15. und 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages einstimmig die Aufnahme des Staatsziels Kultur in das Grundgesetz empfohlen. Die FDP-Bundestagsfraktion ist ohne Wenn und Aber für die Aufnahme
des Staatsziels Kultur in das Grundgesetz. In der FDP
gibt es eine diesbezügliche Beschlusslage des Bundesparteitages aus dem Jahr 2007, die weiterhin Bestand
hat.
Bereits in der 16. Wahlperiode haben meine Kollegen Hans-Joachim Otto und Christoph Waitz für unsere Fraktion einen Grundgesetzänderungsantrag vorgelegt, um die Diskussion über die Aufnahme des
Staatsziels Kultur in das Grundgesetz mit allen im
Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen beginnen zu können. Zu unserem Erstaunen haben alle anderen Fraktionen unsere Initiative von damals abgeblockt und unseren Antrag auf Eis gelegt, um ihn dann
nach über drei Jahren im Verfahren des Deutschen
Bundestages mit fadenscheiniger Begründung abzulehnen. Eine echte Diskussion, die der Empfehlung der
Enquete-Kommission gerecht geworden wäre, haben
sie nicht mit uns führen wollen.
Nun, in der 17. Wahlperiode, kommen SPD und
Linke mit eigenen Anträgen zur Aufnahme des Staatsziels Kultur bzw. Kultur und Sport, ohne vorher mit uns
darüber ins Gespräch zu kommen. Schaut man sich
das Verfahren an, das die SPD gewählt hat, kann man
den Eindruck gewinnen, dass es Ihnen nur um einen
Schaufensterantrag geht, aber nicht um die Sache selber.
Andere Grundgesetzänderungen wie die des Wahlrechts haben gezeigt, wie man für erfolgreiche Grundgesetzänderungen agieren sollte. Stattdessen legen Sie
uns einen Antrag vor, der die Belange von Kultur und
Sport scheinbar belanglos verknüpft. Dabei gibt es für
beide Bereiche eigene Aspekte, die durch die beliebige
Verquickung keine ausreichende Würdigung finden.
Der Antrag der Fraktion Die Linke fokussiert zwar auf
die alleinige Aufnahme des Staatsziels Kultur in unser
Grundgesetz. Leider wird der Antrag dann aber mit
weiteren Forderungen überfrachtet, wie der Einbeziehung kommunaler Spitzenverbände, der Ausgestaltung
des kooperativen Kulturföderalismus oder Wünschen
nach Veränderungen in der Finanz- und Steuerpolitik.
Damit konterkarieren Sie unsere Anstrengungen,
die Kultur überhaupt als Staatsziel festschreiben zu
können. Das ist bedauerlich, wie ich es schon in der
ersten Lesung feststellen musste. Uns Liberalen geht
es darum, ein Ungleichgewicht in unserem Grundgesetz zu beseitigen. Neben den Schutz der natürlichen
Lebensgrundlagen muss ganz selbstverständlich auch
der Schutz der kulturellen Leistungen unseres Landes
treten. Doch anstatt über dieses Ungleichgewicht zu
reden und gemeinsam zu schauen, wie wir dieses entschärfen können, müssen wir uns mit Anträgen auseinandersetzen, die wieder einmal mehr wollen, als
der Sache dienlich ist. So kommen wir nicht zu einer
Änderung unseres Grundgesetzes im Sinne unserer
Kunst- und Kulturlandschaft.
Wir haben in den letzten Monaten vieles über die
neue Kräfteverteilung im Bundesrat gehört. SPD und
Grüne wollten von dort mitregieren und Bundespolitik
mitgestalten, so die vollmundige Ankündigung der
Parteispitzen. Ich vermisse aber bis zum heutigen Tag
die Einbindung der Bundesländer, ohne die wir diese
wichtige Grundgesetzänderung gar nicht abschließen
können. Auch daran erkennt man, wie unausgegoren
Ihre Initiative ist und wie viel man wirklich davon halten kann.
Wir alle müssen den Fakten in die Augen schauen.
Ohne die notwendige Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag wird eine Grundgesetzänderung im
Zu Protokoll gegebene Reden
Sinne eines Staatsziels Kultur niemals eine Chance haben. Ich wünsche mir für die nächste Legislaturperiode des Deutschen Bundestages, dass wir uns frühzeitig und interfraktionell zusammensetzen, um
gemeinsam mit allen, die daran ein Interesse haben,
einen neuen Anlauf für die Aufnahme des Staatsziels
Kultur zu unternehmen. Ich bin auch dafür, dass wir
dabei keine sachfremden Inhalte verquicken. Jedes
Staatsziel muss für sich allein werben und auch allein
zur Abstimmung gestellt werden. Ich bin gegen die Verabschiedung von großen Wohlfühlpaketen, in denen
wir vier oder fünf zum Teil sicherlich gut gemeinte
Staatszielwünsche bündeln. Staatsziele sind keine Inflationsware.
Ein Staatsziel verdient meiner Meinung nach die
Aufnahme in das Grundgesetz nur, wenn es zu den
wirklich essenziellen Grundlagen unserer Gesellschaft
gehört. Wer will diese Voraussetzung der Kultur absprechen? Die Sache jetzt in den letzten Wochen noch
übers Knie zu brechen, entbehrt jeder Würde und wird
dem Staatsziel Kultur nicht gerecht.
Für die FDP-Bundestagsfraktion erkläre ich hiermit, dass wir in der nächsten Legislaturperiode zu offenen, konstruktiven und ernst gemeinten Gesprächen,
die der Sache dienen, gerne zur Verfügung stehen.
Heute waren als TOP 38 unser Antrag „Kultur gut
stärken - Staatsziel Kultur im Grundgesetz verankern“
- Bundestagsdrucksache 17/10785 ({0}) - und der
Gesetzentwurf der SPD „Entwurf eines Gesetzes zur
Aufnahme von Kultur und Sport in das Grundgesetz“ Bundestagsdrucksache 17/10644 - auf der Tagesordnung vorgesehen - und wurden wieder abgesetzt.
Wegen der nicht mehr hinnehmbaren Verzögerungstaktik der Koalition hat die SPD, unterstützt von der
Linken, den nun vorliegenden Bericht des federführenden Innenausschusses zum Beratungsverlauf angefordert. Dieser listet den Gang des Gesetzentwurfes der
SPD und unseres Antrages durch die Ausschüsse Innen, Recht, Sport und Kultur und Medien auf und hält
fest, dass in drei Fällen noch kein Votum abgegeben
ist - ohne Angabe von Gründen. Der Bericht gibt nun
die Möglichkeit, sich hier im Parlament auch zu den
inhaltlichen Punkten der beiden abgesetzten Anträge
zu äußern.
Gerne hätte ich hier heute eine flammende Rede gehalten, etwa des Inhalts: Endlich hat das Parlament es
geschafft! Das Staatsziel Kultur wird im Grundgesetz
verankert - und der einfache Satz „Der Staat schützt
und fördert die Kultur“ gilt nun für uns alle.
Die Fraktion Die Linke ist während der Arbeit der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ für
dieses Staatsziel eingetreten. 2009 hat sie hier im
Hohen Haus mit der FDP für die Aufnahme ins Grundgesetz gestimmt, und rot-rot regierte Bundesländer haben sich für diese Aufgabe eingesetzt. Wir haben einen
Fraktionsbeschluss aus der letzten Legislatur, dass wir
uns sowohl für das Staatsziel Kultur als auch für das
Staatsziel Sport in jeweils gesonderten Initiativen einsetzen, ohne eine Vermengung beider Ziele in einem
Formulierungsvorschlag. Insofern war es konsequent,
dass wir jetzt zwei Anträge neben den Gesetzentwurf
der SPD gelegt haben.
In unserem Antrag „Kultur gut stärken - Staatsziel
Kultur im Grundgesetz verankern“ - Bundestagsdrucksache 17/10785 ({1}) - fordern wir eine Verankerung im Grundgesetz auf der Grundlage der Empfehlung der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ und stellen darüber hinaus dar, welche
weiteren Voraussetzungen nötig sind, um zu gewährleisten, dass dieses Staatsziel auch umgesetzt werden
kann.
Wie schön wäre es, wie gesagt, wenn das Ziel heute
endlich erreicht würde. Eine Kulturnation ist stolz auf
ihre kulturelle Vielfalt - und bekennt sich dazu in ihrer
Verfassung. So lautet im Kern auch unser heutiger Antrag.
Wie schön, wenn er heute eine Mehrheit finden
würde. Aber wieder wird es nichts werden mit dem
Staatsziel Kultur - und wir führen nur eine Art Schautanz hier auf. Um einen Kompromiss wird gerungen,
den unglückseligen Mix von Kultur und Sport. Dieser
wiederum hat keine Aussicht auf eine Mehrheit.
Ich persönlich begrüße das, denn ich halte diesen
Kompromiss für einen faulen Kompromiss. Die Mehrheit meiner Fraktion sieht das anders und begründet
das, mit Bezug auf den Sport, folgendermaßen: Aus
linker Sicht ist die Forderung, Sport und Kultur im
Grundgesetz zu verankern, alles andere als „Verfassungsakrobatik“, wie im Herbst 2012 die Süddeutsche
Zeitung titelte. Es geht vielmehr darum, Ziele im
Grundgesetz zu bestimmen und daraus Aufgaben abzuleiten. Weil wir die Bedeutung des Sports anerkennen,
müssen wir auch dementsprechend handeln. Dort, im
Grundrechtsteil vor allem, steht das, was für Bürger
und Staat wichtig ist. Rechte, Pflichten und Ziele, die
dort formuliert sind, haben außerordentliche Bedeutung und werden, wenn es sein muss, vor dem Verfassungsgericht durchgesetzt. Deshalb wollen wir den
Sport im Grundgesetz verankern.
Allerdings muss solch eine Verankerung aus Sicht
der Linken gut unterfüttert werden - alles andere wäre
ein bloßes Lippenbekenntnis: Deshalb haben wir zwei
Anträge zum Thema Sportförderung zur Debatte gestellt. Die Linke sagt: Es fehlt ein Sportfördergesetz
des Bundes, in dem der Sport als Ganzes gesehen und
behandelt wird. Und die Linke sagt auch: Die althergebrachte Sportförderung ist inzwischen überholt und
muss neu strukturiert werden.
In der ersten Lesung des Gesetzentwurfes der SPD
gab es den Vorwurf, unser Antrag zur Staatszielbestimmung wäre zu allgemein. Mit dem Antrag, den wir
anschließend ohne Debatte in die Beratung gegeben
haben, sind die Anliegen zu Änderungen in der SportZu Protokoll gegebene Reden
förderung genauer beschrieben. Deshalb hoffen wir
auf breite Zustimmung.
In der ersten Lesung äußerten zudem verschiedene
Rednerinnen und Redner Unmut darüber, dass die
SPD ihren Gesetzentwurf ohne vorherige Absprache
aus dem Hut gezaubert habe. Wir hatten jetzt mehr als
ein halbes Jahr Zeit, uns zu den Inhalten zu verständigen, an einem gemeinsamen Text zu arbeiten. Passiert
ist - zumindest im Sportausschuss - seither nicht viel.
Vorgestern nahm sich der Sportausschuss eine knappe
halbe Stunde Zeit.
Dabei ist diese Debatte dringend notwendig. Es
darf nicht sein, dass sich der Bund weiterhin der Verantwortung für den Breiten- und den Schulsport entzieht. Die Schwachstellen sind nicht zu übersehen und
lassen sich nicht mit dem Verweis auf Zuständigkeiten
beheben. Wie oft verwenden wir Zeit darauf, zu sagen,
wofür wir alles nicht zuständig sind? Wir sollten uns
endlich in die Pflicht nehmen lassen.
Da geht es zum einen darum, dass unzählige Sportstätten in alten und neuen Bundesländern unbedingt
saniert werden müssen. 66 Prozent dieser Anlagen
sind in kommunaler Hand. Nur haben viele Kommunen
kein Geld für solche Aufgaben, weil der Bund ihnen
immer mehr Pflichten zugeschoben hat, ohne eine entsprechende Mittelvergabe zu gewährleisten. Deshalb
kann oft genug auch die Barrierefreiheit nicht geboten
werden, die aber zwingend hergestellt werden muss,
damit auch Menschen mit Behinderung am Sport teilhaben können. Lassen Sie uns doch einfach einmal
über den Tellerrand schauen:
Warum kann die Politik in Österreich etwas und die
Politik in Berlin sagt einfach „geht nicht“? Im österreichischen Bundes-Sportförderungsgesetz steht unter
§ 1 Abs. 3 Punkt 5: „Maßnahmen zur Umsetzung eines
österreichweiten Sportstättenentwicklungsplanes unter den Gesichtspunkten der Schaffung von vielfältig
und nachhaltig nutzbaren Spiel-, Sport- und Bewegungsräumen“ sind besonders zu fördern. Unsere
Nachbarn gehen sogar noch einen Schritt weiter, wenn
sie in dem Gesetz ebenfalls unter § 3 in Abs. 4 festschreiben, dass die „Erhaltung von Sportstätten … neben der sportgerechten Instandhaltung der Anlage erforderlichenfalls die Beistellung von Sportlehrern und
Trainern sowie von Sportärzten“ umfasse.
In der Unterstützung des Breitensports haben wir in
Europa derzeit definitiv keine Spitzenposition. Also
lassen Sie uns eine Aufholjagd starten und guten Beispielen nacheifern.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für unsere Anträge ist
die Situation im Schulsport. Im Sportausschuss fordern
wir einmütig, den Beschluss der Kultusministerkonferenz endlich umzusetzen, der eine dritte Sportstunde
einführt. Aber was passiert? Nicht viel. Was spricht
denn dagegen, dass der Bund ein Programm auflegt,
das den Ländern ermöglicht, diese dritte Sportstunde
tatsächlich durchzuführen? Immer wieder belegen Studien, dass mehr Schulsport die Lernbereitschaft und
die Ausgeglichenheit der Kinder fördert. Nicht vergessen werden darf dabei der gesundheitliche Aspekt. Der
Bund muss jährlich Milliarden ausgeben, um für die
Folgen von Fettsucht und Bewegungsarmut aufzukommen. Lohnt sich das? Sollten wir diese Gelder nicht
lieber präventiv einsetzen? Auch da können wir übrigens von Österreich lernen. Schauen Sie sich einmal
die Kampagne „Kinder gesund bewegen“ des Sportministeriums an. Das funktioniert auch bei uns; da
können Sie sicher sein.
Dieses Programm hat noch einen entscheidenden
Vorteil: Nicht der Geldbeutel der Eltern entscheidet
über die Teilnahme der Kinder an Sportangeboten. In
Deutschland gilt diese finanzielle Hürde leider weiterhin für Bildung wie für den Sport. Daran hat bisher
auch das Bildungs- und Teilhabepaket wenig geändert.
In einem Sportfördergesetz möchte die Linke noch
weitere Richtschnüre festzurren, Grauzonen bei Übergängen von Zuständigkeiten beseitigen und vor allem
Planungssicherheit für den Sport schaffen. Der Vorwurf, dass wir das föderale Prinzip aushebeln wollten,
verfängt daher überhaupt nicht. Wir wollen, dass der
Sport in der Bundesrepublik von der einfachen Basisarbeit im Verein bis hin zur Spitzensportförderung
strukturiert wird. Deshalb haben wir den Antrag, den
Sport als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern und
ein Sportfördergesetz des Bundes aufzulegen, vorgelegt und unsere Vorschläge im Antrag „Sportförderung
neu denken“ noch einmal präzisiert.
Denn so, wie es jetzt ist, funktioniert die Sportförderung nicht mehr; das haben die Debatten im Rahmen
der Olympischen und Paralympischen Spiele in
London offenbart. Die Linke will deshalb neue Wege
gehen.
Trotzdem bitte ich vor allem um Zustimmung zu unserem Antrag „Kultur gut stärken - Staatsziel Kultur
im Grundgesetz verankern“.
Dem SPD-Antrag stimmt die Linksfraktion ebenfalls
mehrheitlich zu.
Heute liegt erneut ein Beleg dafür vor, dass die Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP am Ende
ist. Es ist ein Trauerspiel, wenn parlamentarische Initiativen der Opposition mit der Stimmenmehrheit der
Regierungskoalition von der Tagesordnung abgesetzt
werden. Diesmal hat es die Sportpolitik getroffen. Offensichtlich passen Vorschläge zur Aufnahme von Kultur und Sport ins Grundgesetz und zur Sportförderung
sowie zur Dopingopferrente nicht ins Machtkalkül der
Sportpolitiker der Koalition. Bei all diesen Themen hat
sich die Koalition einer Debatte in den Ausschüssen
verweigert.
Ich möchte einige inhaltliche Anmerkungen zur Aufnahme neuer Staatsziele in das Grundgesetz machen.
Die SPD möchte Kultur und Sport ins Grundgesetz
aufnehmen. Die Fraktion Die Linke plädiert für eine
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufnahme der Kultur als Staatsziel und wertet somit
schon innerhalb des Antrages den Sport ab. In der grünen Bundestagsfraktion wurden beide Anträge sehr
sorgfältig geprüft und beraten. Wir können jedoch beiden Initiativen zu diesem Thema keine Zustimmung geben. Denn es wurden vonseiten der antragstellenden
Fraktionen keine überzeugenden Argumente vorgelegt,
die eine Aufnahme in den Staatszielkatalog des Grundgesetzes rechtfertigen würden. Das waren zwei Anträge, die lediglich mit halber Kraft vertreten und mit
schwacher Stimme im parlamentarischen Verfahren
beworben wurden.
Meine Fraktion hat in dieser Legislaturperiode gute
Vorschläge in zahlreichen parlamentarischen Initiativen zur Kultur- und Sportpolitik vorgelegt. In der
Sportpolitik nenne ich unseren aktuellen Antrag zur
Nachhaltigkeit von Sportgroßveranstaltungen. Wir haben uns darüber hinaus dafür eigesetzt, die Ehrenamtspauschale auf 1 500 Euro zu erhöhen, um nicht
nur die Funktionsträger im Verein mit der Übungsleiterpauschale zu unterstützen, sondern das bürgerschaftliche Engagement breiter zu fassen und anzuerkennen. Wir sprechen uns gegen Korruption und
Missstände in Sportorganisationen aus. Wir unterstützen die immer zahlreicher werdenden Initiativen des
Sports im Umwelt- und Klimaschutz. Es liegen also außerhalb der heutigen Debatte gute Vorschläge meiner
Fraktion für eine moderne Sportpolitik vor, die belegen, dass es auch ohne ein Staatsziel Sport vorangehen
kann.
Ich komme zum Hauptberatungsgegenstand der
heutigen Debatte: die Sportförderung. Für uns steht
fest: Deutschland hat eine vielfältige und lebendige
Sportkultur. Unsere Sportvereine und Sportstätten sind
Orte der Begegnung zwischen Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters, unterschiedlicher Herkunft, sexueller Identität und Religion. Schon die
Kleinsten lernen beim Sport Teamgeist sowie einen fairen Umgang miteinander und erlangen soziale Kompetenzen wie den Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen. Aus unserer Sicht steht fest: Die Autonomie des
Sports gebietet es, dass Vereine und Verbände die Träger für Ideen und Innovationen im Sport sind. Die Hoheit über Personalentscheidungen und über die inhaltliche Ausrichtung sowie die Regelsetzung muss beim
Sport bleiben. Einen Staatssport nach dem Muster der
Fraktion Die Linke lehnen wir ab.
Wir fordern als grüne Bundestagsfraktion eine Art
„Zukunftsplan Sport“, in dem sich alle wichtigen Akteure für die Sportentwicklung in Deutschland, also
Sportorganisationen, Wissenschaft und staatliche Institutionen, über eine zukunftsfähige und moderne
Sportentwicklung abstimmen. Es muss ein verbindliches Maßnahmenbündel festgelegt und im Rahmen der
Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen auf der einen Seite und staatlichen Institutionen
und Sportorganisationen auf der anderen Seite umgesetzt werden.
Lassen Sie mich einige Ausführungen zur Sportstättensituation machen. Hier sehe ich in den Forderungen der Fraktion Die Linke einige gute Ansätze. Wir
brauchen endlich eine Sportstättenkonzeption, die sich
an den Kriterien der energetischen Sanierung, der Inklusion und des barrierefreien Zugangs sowie an der
sportfachlichen Zukunft der jeweiligen Sportart ausrichtet. Der demografische Wandel hat bisher kaum
Berücksichtigung in der Sportpolitik erhalten. Es wäre
daher sicher sehr sinnvoll, wenn wir das Thema Sportstätten gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiode gemeinsam angehen. Denn aus den Debatten, die wir im
Sportausschuss in der letzten Zeit geführt haben, leite
ich durchaus ab, dass fraktionsübergreifende Lösungsansätze eine wichtige Unterstützung für Sportvereine
und verbände in unserem Land sein würden. Ich
möchte an dieser Stelle nochmals besonders darauf
hinweisen, dass die Mitglieder des Sportausschusses
sich fraktionsübergreifend im letzten Jahr für eine
breitensportfreundliche Verwendung der Erlöse aus
dem modifizierten Glücksspielstaatsvertrag eingesetzt
haben. Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir im
nächsten Deutschen Bundestag einen guten Einstieg in
gemeinsame Gespräche finden wollen.
Tagesordnungspunkt 38 c: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Sportausschusses auf Drucksache 17/13751. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/6152 mit dem Titel „Die Förderung des Sports
ist Aufgabe des Staates“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen?
- Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11374 mit dem Titel „Sportförderung neu denken - Strukturen verändern“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 39:
Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Hacker, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Barrierefreier Zugang zu Großveranstaltungen und Reisen
- Drucksache 17/13550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Die Reden gehen zu Protokoll.
Man merkt an vielen Dingen, dass sich die Legislaturperiode dem Ende zuneigt. Die deutlichsten Indikatoren
sind wachsende Schattenkabinette und im Deutschen
Bundestag eine Antragsflut der Oppositionsparteien.
Viele Medienvertreter machen Bilanzen auf, in denen
die Arbeit von uns Abgeordneten daran gemessen
wird, wie viele Reden gehalten wurden oder wie viele
Anträge und Gesetzentwürfe mitformuliert wurden. Insofern auf diesem Weg ein Glückwunsch an die Kollegen der SPD, dass sie sich auch mit dem hier vorliegenden Antrag noch ein paar Fleißbienchen
verdienen.
Barrierefreies Reisen stand im Tourismusausschuss
in der nun zu Ende gehenden Legislatur immer wieder
im Mittelpunkt. 2012 haben wir eine Anhörung hierzu
gehabt, und ich kann mich entsinnen, dass bei nahezu
jeder anderen Anhörung immer auch ein Experte eingeladen war, der das jeweilige Thema unter dem Blick
des barrierefreien Tourismus beleuchtet hat. Ich finde,
das zeigt, dass das Thema wirklich in der Mitte unserer
inhaltlichen Auseinandersetzungen angekommen ist.
Zumindest für uns Parlamentarier möchte ich doch
über die Parteigrenzen hinweg sagen, dass Barrierefreiheit sich wie ein roter Faden durch unsere Diskussionen und auch Beschlüsse zieht.
Das ist angesichts der wachsenden Bedeutung des
Themas auch geboten. Denn seit der Studie des Bundeswirtschaftsministeriums aus dem Jahr 2003 zu den
ökonomischen Impulsen des barrierefreien Tourismus
wissen wir, dass es hier nicht allein um Hilfestellungen
oder Komfort geht, sondern dass - um es flapsig zu
formulieren - hier richtig Musik drin ist. Urlaube und
Kurzurlaube von Menschen mit Behinderung würden
nach den Ergebnissen von damals allein einen Nettoumsatz von circa 2,5 Milliarden Euro im Jahr generieren. Das Potenzial wurde jedoch sogar auf bis zu
4,5 Milliarden Euro geschätzt. Und hier reden wir
noch nicht von all den älteren Menschen, die aufgrund
des Alters bestimmte Einschränkungen haben, oder
von Familien, bei denen Barrierefreiheit bedeuten
würde, den Kinderwagen überall unproblematisch mitzunehmen.
Das Potenzial ist also sehr groß; der Bedarf ist da.
Die immer wieder zitierten Zahlen haben wir alle verinnerlicht: Für 10 Prozent der Bevölkerung ist Barrierefreiheit zwingend erforderlich, für 30 Prozent ist sie
hilfreich, aber für 100 Prozent ist sie komfortabel.
Über all dies gibt es hier im Haus keinen Dissens.
Einen Dissens gibt es, wenn wir darüber reden, was
alles bereits auf den Weg gebracht wurde, und wenn
wir darüber reden, in welchen Bereichen wir von hier
aus auch die Chance haben, gesetzgeberisch einzugreifen. Vor wenigen Wochen erschien der tourismuspolitische Bericht der Bundesregierung. Dort wird
deutlich, dass auch der barrierefreie Tourismus seinen
Platz hatte und hat. Denken wir an das Projekt des
BMWi „Entwicklung und Vermarktung barrierefreier
Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ mit
seinen Modulen. Ende der letzten Legislaturperiode
gab es mit der Studie „Barrierefreier Tourismus für
Alle in Deutschland“ ja bereits eine Aufstellung mit
Handlungsempfehlungen.
Bei all diesen Projekten und Studien haben wir letztlich immer die Herausforderung, dass wir die Situation beschreiben können, Potenziale darstellen können
und Handlungsempfehlungen gegeben werden können.
Damit ist aber auch die große Herausforderung beschrieben, die all diesen Dingen innewohnt. Wir stoßen bei der Umsetzung immer auch an die Grenzen der
Zuständigkeiten.
Der Tourismus ist eine klassische Querschnittsaufgabe. Das gilt für die unterschiedlichen Fachressorts;
das gilt aber eben auch für die unterschiedlichen politischen Ebenen. Grundsätzlich gilt aber, dass die Bundesländer hier am Zug sind. Ich will uns als Bundestag
gar nicht aus der Verantwortung entlassen. Dort, wo
es möglich und nötig ist, sind wir gefordert. Aber auch
Ihr vorliegender Antrag ist voll von Forderungen, der
Bund solle auf die Länder einwirken, bestimmte Dinge
einzuführen.
Da muss ich ehrlich sagen, dass mich so etwas in einem Antrag der SPD einfach ärgert. Die SPD ist an
14 von 16 Landesregierungen beteiligt. Ich wünschte,
es wäre anders, aber so sieht es im Moment nun einmal
aus. Unter diesen Umständen im Deutschen Bundestag
zu fordern, die Bundesregierung solle darauf hinwirken, dass die Länder dies und jenes tun sollten, ist
schon ganz schön dreist.
Ich möchte mal ein anderes Beispiel in diesem Zusammenhang ansprechen: In immer mehr Städten gibt
es immer strengere Umweltzonen. Seit einigen Jahren
weisen Union und FDP darauf hin, dass wir deutschlandweite einheitliche Ausnahmeregelungen brauchen. Gerade bei unserem Thema, dem Tourismus, haben Busunternehmen mit ihren Euro-3-Bussen riesige
Probleme. Seit mehreren Jahren ist dieses Thema in
der Bund-Länder-Arbeitsgruppe. Und die Vertreter des
Bundes, allen voran unser Staatssekretär Ernst
Burgbacher, versuchen hier immer wieder, eine Lösung hinzubekommen. Das Ergebnis ist aber ernüchternd. Die Länder stellen sich quer; jeder meint, mit
seinen Regelungen tue man bereits genug. Leider muss
ich feststellen, dass da manchmal die Landesgrenze für
einige Landesregierungen auch der Denk-Limes ist.
Leidtragende sind Touristen, vor allem aber die Unternehmen, die mit einem Dschungel von Regelungen
klarkommen müssen.
Nun habe ich nichts gegen Bund-Länder-Arbeitsgruppen. Aber wir müssen doch feststellen, dass die
besten Ideen und wohlsten Ansinnen des Bundes am
Ende nichts nützen, wenn die Länder es eben anders
sehen. Und in den Bereichen, in denen die Länder eben
Zu Protokoll gegebene Reden
die Hoheit haben, wie im Tourismus, ist es schwer, einen gemeinsamen Weg einzuschlagen. Deshalb halte
ich es für einen Schaufensterantrag, wenn Sie hier
Punkt um Punkt auflisten und neue Kataloge aufstellen, was dann zwischen Bund und Ländern besprochen
und verabredet werden sollte. Fürs Schaufenster reicht
das alles, aber politisch arbeiten lässt sich damit nicht
wirklich.
Sie sprechen in Ihrem Antrag davon, dass Barrierefreiheit in die Leistungsbeschreibung von Ausschreibungen und Konzessionsvergaben des Bundes aufgenommen werden solle. Sie fordern die Überprüfung
von öffentlichen Bauten auf Barrierefreiheit. Sie fordern barrierefreie Fahrgast- und Tarifinformationen.
Ich möchte einmal nur diese Punkte herausgreifen.
In den Förderkriterien für alle Programme der
Wirtschaftsförderung, insbesondere der Mittelstandsförderung, ist Barrierefreiheit ein Kriterium. Die Tourismuswirtschaft ist ein Adressat dieser Programme;
insofern findet das Thema seine Berücksichtigung. Ich
möchte aber auch hier ein konkretes Beispiel benennen. In meinem Wahlkreis steht die berühmte Wartburg; viele von Ihnen werden zu den Millionen Menschen gehören, die sie schon besucht haben. Als die
Burg im 12. Jahrhundert errichtet wurde, gab es noch
kein Baugesetzbuch, keine Flächennutzungspläne,
keine B-Pläne und auch keine Bauordnung. Deshalb
störte sich damals noch niemand daran, dass es sich
um eine Bebauung im Außenbereich handelte, und
auch nicht daran, dass die Burg nicht barrierefrei war.
Martin Luther hat das Neue Testament dort trotzdem
übersetzt; das Wartburgfest fand 1817 trotzdem statt.
Heute ist die Burg aber eben ein touristischer Ort; die
Burg ist aber nach wie vor nicht barrierefrei. Die
Wartburg-Stiftung als Burgherr bekommt übrigens
auch jedes Jahr Mittel des Bundes. Es gibt eine Reihe
von Überlegungen, wie man die Barrieren dort verringern kann. Der Aufstieg ist steil, steinig usw. - für
nicht wenige Besucher ein echtes Problem. Wenn aber
etwa über eine Art Lift nachgedacht wird, meldet die
UNESCO ihre Bedenken an und sagt, das sei nicht
mehr vereinbar mit dem historischen Bild und der Authentizität des Ortes und droht mit Aberkennung des
UNESCO-Titels. Luther und die heilige Elisabeth hatten eben keinen Lift.
Was ich damit sagen möchte, ist, dass wir gerade im
so wichtigen Bereich des Kulturtourismus und unserer
zahllosen Denkmale immer auch vor der Herausforderung stehen, dass wir nicht überall problemlos so
bauen und umbauen können, wie es unter Gesichtspunkten der Barrierefreiheit nötig wäre. Die Welt ist
also etwas komplexer als ein Spiegelstrich in Ihrem
Antrag.
Wenn wir nun nach Ihren Ansätzen gehen, dürfte die
Wartburg vielleicht gar kein Geld des Bundes mehr erhalten, weil sie eben nicht barrierefrei ist. Auch aus
dem Förderprogramm für die Luther-Dekade hat die
Burg aber naheliegenderweise Geld erhalten. Und ich
halte dies auch für richtig. Wir müssen bei allen Fragen und Themen einfach ehrlich sein und die jeweiligen Umstände ganz konkret bewerten. Ich bin im konkreten Fall der Wartburg natürlich sehr dafür, dass wir
einen barrierefreien Zugang hinbekommen. Denn natürlich soll so ein wichtiger Ort der Geschichte für alle
zugänglich sein. Es kommt derzeit sogar vor, dass
Menschen sich übernehmen und Herzinfarkte, auch
mit Todesfolge, zu beklagen sind. Insofern ist eine Lösung dringend angebracht. Aber ich muss hier auch
sagen: Was am wenigsten dazu beitragen kann, ist ein
allgemeiner Beschluss des Deutschen Bundestages, in
dem man beschreibt, wie man sich idealerweise die
Welt vorstellt, sondern hier sind alle Verantwortlichen
vor Ort gefordert.
Und was hier für die Wartburg gilt, das gilt auch für
viele andere Orte und Einrichtungen. Ich glaube, gerade als Bund gehen wir bei Bauten und Ausschreibungen ja mit sehr gutem Beispiel voran. Und auch vor
Ort ist Barrierefreiheit doch längst angekommen. Viele
von uns sind Mitglieder von Gemeinderäten oder
Kreistagen. Und wir alle sehen hier doch regelmäßig,
welche Bedeutung bei Baumaßnahmen dem Thema
beigemessen wird. Allein die Behindertenbeauftragten
oder die Seniorenbeauftragten, die Seniorenbeiräte,
die es oft gibt, und viele andere Gremien und Mitentscheider stellen sicher, dass Barrierefreiheit kein hohler Begriff ist, sondern mit Leben gefüllt wird. Und
ehrlich gesagt finde ich, dass dort, auf diesen unteren
Ebenen der Entscheidungen, dies auch gut aufgehoben
ist. Ich möchte unsere Bedeutung als Bundesparlament
ja nicht unnötig herunterspielen, aber wir werden
nicht jedes Thema und jedes Problem erschöpfend mit
Gesetzen, Initiativen und Verordnungen von Berlin aus
in alle Winkel der Republik abhandeln können. Und
wir sollten auch gar nicht den Anschein erwecken, als
könnten wir dies. Im Gegenteil: Ich möchte auch nicht
eine solche Republik, in der alles in Berlin vorgedacht
wird. Als Mitglied eines Gemeinderates einer 4 000-Einwohner-Gemeinde bin ich froh, dass wir auch eigene
Schwerpunkte setzen können.
Sie haben barrierefreie Fahrgast- und Tarifinformationen eingefordert. Auch hier muss ich sagen, dass
sich das zunächst gut anhört. Aber in der Praxis hieße
das, wir schreiben vor, dass jedes Busunternehmen
zum Beispiel auf seiner Internetseite eine barrierefreie
Darstellung benötigen würde. Sie müssten also auf die
Syntaxanalyse achten, auf „einfache Sprache“; sie
müssen bei Linksetzungen ganz besondere Kriterien
erfüllen usw. Wenn sie dann auch noch ein Buchungssystem, etwa für den Ticketkauf oder Reisekauf, integriert haben, wird es noch komplizierter. Was für einen
Großkonzern wie die Bahn oder die großen der Branche wie TUI vielleicht sogar noch zu stemmen wäre, ist
für den kleinen Busunternehmer aus Aachen oder Görlitz aber vielleicht doch etwas zu viel. Dieser hat schon
genug mit der Bürokratie um die Umweltzonen zu tun
und muss seine Euro-3-Busse nachrüsten, und da fehlt
dann eben der fünfstellige Betrag, um sein Internetangebot barrierefrei zu machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte dabei der SPD gar nicht darin widersprechen, dass barrierefreies Reisen ein riesiges Potenzial besitzt und es auch eine Frage der Teilhabegerechtigkeit ist, hier immer weitere Verbesserungen zu
erreichen. Aber im Gefühl, Gutes tun zu wollen, wird
hier ausgeblendet, unter welchen Rahmenbedingungen
am Ende der Einzelne all diese Forderungen umsetzen
soll. Gerade die Studie des BMWi über barrierefreien
Tourismus für Alle aus dem Jahr 2008 listet zahlreiche
Beispiele auf, wie einzelne Kommunen, Destinationen,
Länder mit dem Thema umgehen. Und ich finde diesen
Ansatz richtig. Auch bei den jüngsten Studien zum Gesundheitstourismus oder aktuell beim Tourismus in
ländlichen Räumen geht das Wirtschaftsministerium
wieder diesen Weg. Mit dem Herausstellen von Beispielen soll allen Akteuren gezeigt werden, was konkret vor Ort getan werden kann. Es ist eine Art Hilfe
zur Selbsthilfe. Die Sorgen und Hemmungen sollen
verringert werden; es soll eine Ermunterung sein aber auch ein positives öffentliches Lob für die Akteure, die vorbildhaft agieren.
Das Potenzial für barrierefreies Reisen ist immens;
Sie schreiben es in Ihrem Antrag ja auch selbst. Ich
glaube aber auch bei diesem Thema an die Kraft der
Marktwirtschaft. Denn wir sehen ja, dass die Destinationen und Anbieter, die vorangehen, damit auch gute
Erfolge erzielen. Auf der ITB hatten wir 2012 etwa einen eigenen Schwerpunkttag zum Thema und konnten
sehen, dass letztlich Geld zu verdienen ist mit barrierefreiem Reisen. All diejenigen, die sich das entgehen
lassen, dürfen am Ende eben nicht über den demografischen Wandel jammern. Aber nicht immer ist hier der
Bundestag gefragt, sondern eben auch der Einzelne.
Zum Schluss noch ein Wort zu Großveranstaltungen, die ja in dem vorliegenden Antrag hier besonders
hervorgehoben werden. Herr Hacker, man sieht, dass
Sie als Schweriner diesen Antrag offenbar maßgeblich
formuliert haben. Ob die BUGA 2009 nun so viel barrierefreier war als andere Großveranstaltungen, vermag ich nicht zu sagen. Aber so ein ganz leuchtendes
Beispiel war die BUGA vielleicht auch nicht, wie Sie
es hier schildern. Der Platz am Schweriner „Beutel“
wurde für viel Geld so hergerichtet, dass er auch hohen Belastungen standhält, etwa auch für Fahrgeschäfte von Jahrmärkten. Er ist aber seither nicht einmal genutzt worden - insofern gibt es auch bei BUGAs
noch andere Kriterien als die Barrierefreiheit. Aber
ich möchte die Erfolge, gerade auch für die Umgestaltung des Seeareals nicht kleinreden. Mir ist es aber
nicht genug, auf Bundesgartenschauen zu blicken und
daraus abzuleiten, wir müssten generell bei Großveranstaltungen hier von Berlin aus so tun, als ob wir alles regulieren könnten. Und ich frage mich dann auch:
Wann und wo beginnt und endet eine Großveranstaltung? Ein Fußballspiel mit 50 000 Zuschauern ist
wahrscheinlich ein Großereignis. Veranstalter ist aber
ein Verein, die DFL oder der DFB. Für welche Kategorie von Konzerten würden Ihre Ansätze gelten? Das ist
mir dann doch ein wenig zu schwammig.
Der Antrag der SPD ist ein gutes Beispiel dafür,
dass wir durchaus parteiübergreifend gemeinsame
Ziele haben. Aber in der Analyse, wie wir diese anpacken können, gibt es unterschiedliche Auffassungen.
Ich möchte jedenfalls nicht in Ihren Chor einstimmen,
der so tut, als sei Deutschland in Sachen Barrierefreiheit ein Brachland. Gerade in den letzten zehn Jahren
ist viel passiert. Der Boom im Deutschlandtourismus
ist auch gar nicht denkbar ohne eine immer weitere
Verbesserung der Angebote im Bereich der Barrierearmut und Barrierefreiheit. Ich denke, wenn wir die bisherigen Wege weiterverfolgen, kommen wir Stück für
Stück weiter voran. Dabei sollte niemand den Eindruck erwecken, er könne alles binnen kurzer Zeit mit
ein paar Forderungen hier aus dem Bundestag heraus
lösen. Wir brauchen Zeit, Geduld und natürlich auch
Geld. Das ist mitunter mühsam; ich verstehe auch jeden, der manchmal ungeduldig wird. Aber lassen Sie
uns die einzelnen Mosaiksteine immer weiter zusammenfügen und auch ein bisschen Vertrauen haben in
alle Akteure und alle Verantwortungsträger vor Ort.
Nur im Verbund können wir Schritt für Schritt vorankommen.
Weltweit können Millionen von Menschen mit Behinderungen wegen unzureichender Einrichtungen
nicht oder nur eingeschränkt an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen. Das betrifft nicht nur Menschen, die in ihrer Bewegung eingeschränkt sind, sondern auch Menschen, die nicht hören, sehen oder
sprechen können oder die in ihren kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt sind. In Europa sind das 80 Millionen und weltweit - so wird geschätzt - 600 Millionen bis 900 Millionen Menschen. Das sind weltweit
nahezu 10 Prozent der Bevölkerung.
Dabei ist Barrierefreiheit nicht nur für Menschen
mit Behinderungen Grundlage für einen stressfreien
Urlaub, sondern sie kommt allen Menschen zugute.
Besonders Eltern mit Kleinkindern, Unfallgeschädigte
oder Senioren profitieren von barrierefreien Angeboten.
Die Teilnahme an Großveranstaltungen, wie Messen, Ausstellungen oder Konzerten, ist für Menschen
mit Behinderungen wegen ihrer eingeschränkten motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten
häufig nicht realisierbar. Ein gelungenes Beispiel für
eine barrierefreie Großveranstaltung war die Bundesgartenschau 2009 in Schwerin. In Vorbereitung dieser
BUGA wurde eine Kooperationsvereinbarung zwischen der BUGA 2009 Schwerin GmbH und dem Haus
der Begegnung Schwerin e.V. mit dem Ziel abgeschlossen, die Veranstaltung umfassend barrierefrei zu
gestalten. Den Belangen von Menschen mit Behinderungen im umfassenden Sinne - Seh-, Hör-, Mobilitätsbehinderungen unter anderem - aber auch Senioren und Familien wurde Rechnung getragen und somit
den Besuchern ein entspannter und erlebnisreicher
BUGA-Besuch gewährleistet. Ein Beispiel dafür ist,
Zu Protokoll gegebene Reden
dass eine Assistenz für Menschen mit Behinderungen
angeboten wurde. Die Assistenten leisteten Hilfestellung bei der Anreise der Busse auf den Parkplatz, sie
begleiteten behinderte Menschen zum Infostand, sie
gaben eine Einweisung, und sie halfen bei der Ausgabe
der Hilfsmittel für Menschen mit Hör-, Seh- und Mobilitätsbehinderungen. Auch leisteten die Assistenten unterstützende Begleitung während der Gästeführungen
und dienten als sehende Begleitung.
Die BUGA Schwerin bot darüber hinaus blindengerechte Führungen und Tourguidesysteme für hörgeschädigte Menschen an. Für mobilitätseingeschränkte
Besucher wurden kostenlos Rollstühle und E-Scooter
zur Verfügung gestellt. Auch Führungen in Gebärdensprache wurden angeboten. Also eine breite Palette
von unterstützenden Maßnahmen für Menschen mit
Handicaps, die von den betroffenen BUGA-Besuchern
gerne in Anspruch genommen wurden. Diese guten Ergebnisse und Erfahrungen müssen wir verallgemeinern. Darauf zielt der Antrag meiner Fraktion ab.
Aufgrund der demografischen Entwicklung wird
sich das Nachfragepotenzial des barrierefreien Tourismus verbunden mit der zunehmenden Reisefreudigkeit
der Senioren in den nächsten Jahren und Jahrzehnten
beträchtlich erhöhen. Deshalb wird die Bedeutung der
barrierefreien Tourismusangebote deutlich steigen;
die Erwartungen an diese Angebote wachsen.
Eine gute Vorbereitung und Planung sind bei Großveranstaltungen der Schlüssel zum Erfolg. Denn mit einem
beschwerlichen Anfang für behinderte Besucherinnen
und Besucher oder Teilnehmerinnen und Teilnehmer
kann jede - ansonsten noch so gut organisierte - Veranstaltung zum Problemfall für behinderte Menschen
werden. Oft sind es nur Kleinigkeiten, die für die Betroffenen große Erschwernisse darstellen, jedoch mit
geringem Aufwand hätten vermieden werden können.
Veranstaltern fällt es nicht immer leicht, einen Veranstaltungsort aus der Perspektive eines Menschen mit
Behinderung zu betrachten und zu erkennen, dass unterschiedliche „Stolpersteine“ auf dem Weg zu einer
erfolgreichen Veranstaltung liegen können. Deshalb ist
es wichtig, dass bereits im Ausschreibungsverfahren für
die Organisation einer Großveranstaltung das Kriterium Barrierefreiheit enthalten ist. Barrierefreiheit bedeutet nicht nur, dass Menschen mit Einschränkungen
ihrer motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten ohne Probleme auf das Veranstaltungsgelände
gelangen, sondern sich dort auch frei bewegen können.
Im Sinne der in ihrer Mobilität eingeschränkten
Menschen und der Menschen mit Einschränkungen ihrer sensorischen oder kognitiven Fähigkeiten wäre es,
wenn alle Veranstalter von positiven Beispielen einer
barrierefreien Großveranstaltung profitieren könnten.
Dazu ist es notwendig, dass die Erfahrungen aus solchen Veranstaltungen in einer Studie zusammengetragen werden, um daraus in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden in den Ländern, den Kommunen
und den Akteuren einheitliche nationale Kriterien für
jeden Veranstaltungstyp entwickeln zu können.
Um eine barrierefreie Großveranstaltung genießen
zu können, ist natürlich auch die barrierefreie Anreise
ein wichtiger Punkt. Deshalb fordern wir die Bundesregierung unter Mitwirkung der Landesbehörden und
der Interessenvertretungen der Menschen mit Behinderungen auf, sich dafür einzusetzen, dass Fahrgast- und
Tarifinformationen barrierefrei für Menschen mit Sehund Hörbeeinträchtigungen gestaltet, in Leichter
Sprache formuliert und unter weitgehender Verwendung von Piktogrammen dargestellt werden. Die
Bundesregierung soll gemeinsam mit der Deutschen
Bahn AG und den Landesregierungen mittelfristig ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stellen,
damit alle Bahnhöfe bis 2020 barrierefrei umgebaut
werden können. Die im Personenbeförderungsgesetz
verankerte Barrierefreiheit im Fernlinienbusverkehr
ab 2016 für neue bzw. Ende 2019 für alle Busse muss
gewährleistet werden. Es muss ein Verschlechterungsverbot für die barrierefreie Gestaltung beim Bau von
Flugzeugen und die Ausstattungen von Bussen gelten.
Die Bundesregierung hat mit dem Projekt „Tourismus für Alle“ einen Kriterienkatalog vorgelegt, der
nun in der Praxis angewendet werden und der auch für
die Vergabe von öffentlichen Mitteln angewendet werden muss.
Wir benötigen eine Dokumentation über den Ostzustand von barrierefreien Veranstaltungen, damit jeder
Veranstalter von den Erfahrungen erfolgreich durchgeführter barrierefreier Großveranstaltungen profitieren kann.
Auf der ganzen Welt leben mehr als 7 Milliarden
Menschen, die alle unterschiedlich sind. Die einzige
Gemeinsamkeit: Jeder von ihnen hat irgendwelche Behinderungen: Einige können nicht tanzen, für einige ist
es schwer, Fremdsprachen zu beherrschen. Diese Behinderungen sind aber nicht sofort bemerkbar und machen das Leben nicht schwerer. Jedoch müssen circa
10 Millionen Menschen in Deutschland mit körperlichen oder mentalen Einschränkungen leben. Aufgrund
dieser Einschränkungen ist das Leben für sie mehr
oder weniger kompliziert.
Was ist unter dem Begriff der Barrierefreiheit zu
verstehen? Barrierefreiheit ist vielfältig und bezieht
sich auf Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen und auf unterschiedliche Lebensbereiche.
Das macht auch die UN-Behindertenrechtskonvention
deutlich, die den Aspekt der Barrierefreiheit im Art. 9
festschreibt und die Vertragsstaaten dazu verpflichtet,
geeignete Maßnahmen zur Beseitigung von Hindernissen und Zugangsbarrieren zu treffen.
Barrierefreiheit bedeutet, dass Gebäude und Orte,
Verkehrsmittel und Gebrauchsgegenstände, Veranstaltungen, Dienstleistungen und Freizeitangebote so gestaltet werden, dass der Zugang zu ihnen allen MenZu Protokoll gegebene Reden
schen zur Verfügung steht. Auch Menschen mit
Behinderung sollen sie also ohne besondere Erschwernis und möglichst ohne fremde Hilfe benutzen bzw. betreten können.
Es gibt wenige Menschen, die nicht gern reisen.
„Man reist ja nicht, um anzukommen, sondern um zu
reisen“, meinte schon Goethe. Für Menschen mit einem körperlichen oder geistigen Handicap ist es nicht
selbstverständlich und unproblematisch, zu verreisen.
Das zu verändern, ist eine der wichtigsten Aufgaben
der Tourismusindustrie.
Für uns steht die Berücksichtigung der Barrierefreiheit bei allen Projekten und Maßnahmen der Bundesregierung in der Tourismuspolitik im Vordergrund.
Dieses Thema ist der Bundesregierung wichtig. Sie
setzt sich dafür ein, dass barrierefreies Reisen im gesamten Spektrum der touristischen Leistungskette verankert wird.
Eine gute Vorbereitung und Planung ist in vielen
Fällen der Schlüssel zum Erfolg. Dieses gilt auch im
Bereich des Veranstaltungsmanagements. Veranstaltern fällt es nicht immer leicht, einen Veranstaltungsort aus der Perspektive eines Menschen mit Behinderung zu betrachten. Es fällt auch nicht immer leicht, zu
erkennen, dass vielerlei „Stolpersteine“ auf dem Weg
zu einer erfolgreichen Veranstaltung liegen können.
Eine bessere und einfachere Planung von barrierefreien Veranstaltungen zu ermöglichen, die von allen
selbstverständlich und ohne Hindernisse besucht werden können, ist eine erhebliche Herausforderung.
Es ist bereits deutlich geworden: Das Thema liegt
uns am Herzen, es ist wichtig. Gerade deswegen ist es
bedauerlich, dass der hier vorliegende Antrag der
SPD nicht nur positiv zu betrachten ist. So möchte die
SPD mit staatlichen Sanktionen und Zwang ihre Ziele
erreichen. Das kann und darf nicht unser Anspruch
sein. Wir als Liberale setzen auf die Eigenverantwortung der Menschen - auch in der Tourismuswirtschaft.
Jedem Veranstalter und Gastwirt ist doch klar, dass
er sich einen Wettbewerbsvorteil verschafft, wenn er
auf die stetig wachsende Bevölkerungsgruppe der Älteren und Behinderten eingeht. Gerade angesichts der
demografischen Entwicklung ist die Teilhabe aller
Menschen am Tourismus von zentraler Bedeutung. Wir
begrüßen deshalb jedwede Art von Initiativen und Projekten von Verbänden und Vereinen, um die Öffentlichkeit und die Tourismuswirtschaft weiter für das Thema
„barrierefreier Tourismus“ zu sensibilisieren.
Die Bundesregierung hat die zentrale Aufgabe, die
Rahmenbedingungen für barrierefreien Tourismus in
Deutschland zu verbessern. Aus diesem Grund hat das
Bundeswirtschaftsministerium mehrere Studien zum
Thema Barrierefreiheit gefördert. In diesen Studien
wurde nicht nur die ökonomische Bedeutung des
barrierefreien Tourismus in Deutschland untersucht,
sondern wurden durch Erfolgsfaktoren und Maßnahmen zu dessen Qualitätsverbesserung herausgearbeitet.
Die Bundesregierung begleitet die Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich Tourismus mit flankierenden Projekten. Sie fördert die Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Tourismusangebote und Dienstleistungen. Im November 2011
konnte der Startschuss für das Projekt „Tourismus für
alle: Entwicklung und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“ gegeben
werden. Am 31. Mai 2012 hat der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Ernst Burgbacher, das
Projekt in Berlin vorgestellt. Es läuft bis 2013 und
trägt zur Erfüllung des Nationalen Aktionsplanes der
Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bei. Träger des Projekts ist das Deutsche Seminar für Tourismus in Kooperation mit der
Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle,
NatKo. In die Durchführung eingebunden sind die
Tourismuswirtschaft, die Deutsche Zentrale für Tourismus, die Behindertenverbände, Verkehrsunternehmen,
Landesmarketingorganisationen sowie eine Reihe weiterer fachlicher Einrichtungen. Die Bundesregierung
unterstützt das Projekt mit knapp 500 000 Euro.
Ziel ist es, eine einheitliche Kennzeichnung zu entwickeln und damit die vielen verschiedenen Kennzeichnungen durch ein einheitliches System zu ersetzen. Damit fördern wir eine Transparenz der bestehenden
Angebote und Leistungen. Darüber hinaus sollen Führungspersonal und Mitarbeiter der Tourismusbranche
für das Thema sensibilisiert und geschult werden. Außerdem wird eine Internetplattform erarbeitet, auf der
sich Reisende über barrierefreie Angebote informieren
können.
Die Arbeitsgemeinschaft „Barrierfreie Reiseziele in
Deutschland“ hat von 2008 bis heute mehrere Modellregionen in sich vereint und engagiert sich für die Entwicklung von Angeboten für behinderte Gäste. In
Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft hat die
Deutsche Bahn Mobilitätspakete geschnürt, die sowohl die An- und Abreise mit möglicher Ein-, Um- und
Ausstiegshilfe, die Anschlussmobilität am Urlaubsort
und die Übernachtung als auch ein mögliches Ausflugs- und Kulturprogramm beinhalten. Solche positiven Nachrichten zeigen, dass die Branche auch hier
auf dem richtigen Weg ist.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es hohen Aufwand und hohe Kosten bedeutet, auf alle Bedürfnisse
gleichzeitig einzugehen. Dennoch, die Barrierefreiheit
bleibt das Ideal, was verwirklicht werden muss - zugunsten der Menschen mit Behinderung, aber auch mit
Blick auf Menschen ohne Behinderung: So ist ein Aufzug eine Erleichterung sowohl für Senioren als auch
für Eltern mit Kinderwagen. Texte in vereinfachter
Sprache sind nicht nur für Menschen mit - geistiger Behinderung geeignet. Sie können nämlich auch anderen helfen: Kindern, Menschen, die nicht oder kaum
lesen können, oder Leuten, die sich an einem bestimmten Ort nicht auskennen.
Für Menschen mit Behinderung bedeutet Barrierefreiheit viel mehr als nur Komfort. Das ist etwas ganz
Zu Protokoll gegebene Reden
Grundsätzliches: So können sie selbst am Leben der
Gesellschaft teilnehmen.
Deswegen meine ich, wir sind alle damit einverstanden, dass Barrierefreiheit zu den Markenzeichen des
deutschen Tourismus gehören muss und kann. Die Teilnahme aller Menschen am Tourismus muss ermöglicht
werden. Dieses Ziel ist nur zusammen, in Absprache
mit den Ländern, Regionen, Kommunen und den verantwortlichen Akteuren der Tourismuswirtschaft erreichbar.
Als ich diesen Antrag zum ersten Mal las, war ich
ratlos. So ein wichtiges Thema und dann so ein
schlechter Antrag. Und das zum Ende einer Wahlperiode, vier Jahre nach dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland.
Wozu dieser Antrag? Um zu zeigen, dass man weiß,
was man gelernt hat? Dann ist es einfach nur peinlich.
Als Wahlangebot und Ausblick? Dann ist er keine
Wahlempfehlung.
Lieber Kollege Hacker, Sie sind nun seit 1990 im
Bundestag, arbeiten seit mehreren Jahren an meiner
Seite im Tourismusausschuss und im Bau- und Verkehrsausschuss an der Seite von meiner Kollegin
Heidrun Bluhm. Sie hatte als Schweriner Baudezernentin maßgeblichen Anteil am Erfolg der Bundesgartenschau in der Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Anstatt ihr zuzuhören, anstatt mit mir und
anderen Experten aus der Behindertenbewegung auch aus der Bundesarbeitsgemeinschaft der SPD
„Selbst aktiv“ - zu reden, fassen Sie ziemlich wahllos
Richtiges, Halbwahres und Unnötiges in einem Antrag
zusammen. Großveranstaltungen und Reisen haben einige Schnittstellen. Sie haben auch etwas mit Tourismus und Tourismuspolitik zu tun. Sie sind aber nicht
dasselbe. Und in Ihrem Antrag steht nichts Neues. Alle
Punkte finden sich bereits in vorherigen Anträgen und
anderen parlamentarischen Initiativen der Linken,
aber auch bei der SPD und der Koalition wieder.
Zum Thema „Barrierefreier Tourismus“ gibt es
vielfältige Aktivitäten und auch gute parlamentarische
Initiativen. Stellvertretend verweise ich auf den Antrag
der Linken „Barrierefreier Tourismus für alle in
Deutschland“ ({0}). Sie verweisen in Ihrem Antrag unter den
Punkten 1 und 2 auf das Projekt „Tourismus für Alle“,
welches zurzeit vom Deutschen Seminar für Tourismus, DSFT, sowie der Nationalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, realisiert wird. Einen
Zwischenbericht erhielten wir vor einigen Wochen auf
meine Initiative hin im Tourismusausschuss. Spätestens seit diesem Zeitpunkt müssten Sie wissen, dass das
Projekt noch nicht abgeschlossen ist - Sie fordern aber
jetzt schon die Umsetzung der Ergebnisse -, und ich
frage mich, welche in dem Projekt entwickelten Kriterien auch „für die Vergabe öffentlicher Mittel anzuwenden“ sind.
Dann fordern Sie in Punkt 3, „den Istzustand von
barrierefreien Großveranstaltungen in Form einer Dokumentation darzustellen“. Welche meinen Sie? Es
gibt keine „barrierefreien Großveranstaltungen“. Es
gab Großveranstaltungen, wo Fragen der Barrierefreiheit insgesamt gut und umfassend berücksichtigt
wurden, und Großveranstaltungen, die diesbezüglich
eher eine Katastrophe waren. Einige Großveranstaltungen - ich denke hier an die Fußballweltmeisterschaften der Männer und der Frauen - waren auch
Beratungsgegenstand im Tourismus- sowie im Sportausschuss des Bundestages. Vielleicht erinnern Sie
sich noch an meine Fragen, Kritiken und Vorschläge
zur Barrierefreiheit bei den Veranstaltungen selbst, in
den Sportstadien, zur barrierefreien Erreichbarkeit
mit dem öffentlichen Nah- und Fernverkehr, zum Angebot an barrierefreien Hotelzimmern im Umfeld dieser
Großveranstaltungen und vieles andere mehr. Was
aber soll die von Ihnen geforderte Dokumentation?
Dann fordern Sie in Punkt 4, „die Vergabe öffentlicher Mittel stärker mit dem Thema Barrierefreiheit zu
verknüpfen“. Einmal davon abgesehen, dass dieser
Punkt nicht nur mit dem barrierefreien Zugang zu
Großveranstaltungen und Reisen verbunden ist, ist er
in seiner Formulierung typisch sozialdemokratisch,
also „windelweich“. Seit Jahren fordere ich, die Frage
der Barrierefreiheit zu einem zwingenden Kriterium
für die Vergabe öffentlicher Mittel zu machen. Bei dieser Forderung haben Sie mich bisher ziemlich allein
gelassen - davon zeugen die Antworten der Bau- und
Verkehrsminister von Eduard Oswald, CSU, über
Franz Müntefering, Reinhard Klimmt, Kurt Bodewig,
Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee, alle SPD, bis zu
Peter Ramsauer, CSU, auf meine diesbezüglichen Anfragen im Bundestag.
In weiteren Punkten stellen Sie Forderungen zur
Barrierefreiheit von öffentlich zugänglichen Bauten
des Bundes. Auch das ist ein wichtiges Thema. Aber ist
es angesichts der Tatsache, dass die Mehrheit dieser
Gebäude weder für touristische Aktivitäten noch für
Großveranstaltungen im engeren Sinne zur Verfügung
steht, hier an der richtigen Stelle? Und wenn schon,
dann reicht es nicht, nur diese Gebäude auf ihre Barrierefreiheit hin zu überprüfen. Nötig ist auch hier, mit
einem ambitionierten Konzept und finanziell untersetzt
die bestehenden Barrieren schrittweise abzubauen und
dafür zu sorgen, dass keine neuen Barrieren mehr entstehen können.
Ähnliche Anmerkungen könnte ich auch zu weiteren
Forderungen aus diesem Antrag machen, möchte aber
an dieser Stelle darauf verzichten.
Sehr geehrter Herr Hacker, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, mir ist das Thema zu wichtig,
als dass man es mit solch einem Antrag „abfrühstücken“ dürfte. Hier machen Sie es sich zu leicht, ebenso
wie viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen in ({1})Verantwortung, wenn es um die Umsetzung
geht. Das betrifft - um nur drei Beispiele zu nennen den Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit, der wisZu Protokoll gegebene Reden
sentlich zulässt, dass trotz millionenschwerer Investitionen der Berliner Fernsehturm, das Schloss in Friedrichsfelde und viele weitere kulturelle und touristische
Attraktionen nicht barrierefrei sind. Das betrifft den
DGB-Chef Michael Sommer, der seit Jahren zu seinem
Maifest auf den Berliner Fernsehturm einlädt und dabei in Kauf nimmt, dass Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen von dieser Veranstaltung ausgeschlossen sind. Und es betrifft unseren Kollegen
Wolfgang Thierse, der als Vizepräsident des Bundestages und Vorsitzender der Bau- und Raumkommission
trotz meines seit Monaten hartnäckigen Drängens
nicht dafür sorgt, dass dringende Fragen der Barrierefreiheit einschließlich der Sicherheit in Notsituationen
für Menschen mit Behinderungen in den Gebäuden des
Deutschen Bundestages auf die Tagesordnung gesetzt
werden.
Vielleicht verstehen Sie meine Ratlosigkeit im Umgang mit diesem Antrag. Ich kann nur hoffen, dass er
aufgrund der Diskontinuität infolge des nahenden Endes dieser Wahlperiode verfällt und wir in der kommenden Wahlperiode ernsthafter und zielorientierter
über diese Themen reden.
In Deutschland leben etwa 8,7 Millionen Menschen
mit einer Behinderung, Menschen, die wegen ihrer motorischen, sensorischen oder kognitiven Fähigkeit in
ihrer Lebensweise eingeschränkt sind. Menschen ohne
Behinderung können sich schwer vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten diese Menschen jeden Tag konfrontiert sind. Wo beispielsweise jede Stufe Probleme
bereitet, stellt eine Reise oder die Teilnahme an einer
Großveranstaltung eine enorme Herausforderung dar.
Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass aus der Freiheit,
zu reisen, auch für Menschen mit einer Behinderung
ein Recht auf Reisen wird.
Auch für Veranstaltungsorganisatoren ist es nicht
immer leicht, Bedürfnisse von behinderten Gästen zu
verstehen und mögliche Schwierigkeiten vorherzusehen. Hier brauchen wir insgesamt mehr Sensibilität.
Trotz all unserer Beteuerungen attestieren uns diverse
Studien in Sachen Barrierefreiheit einen Nachholbedarf. Wir begrüßen deshalb den Antrag der SPD.
Von Barrierefreiheit profitieren alle. Laut Angaben
des Statistischen Bundesamtes ist die Hälfte der Bevölkerung im Jahr 2050 älter als 48 Jahre. Jeder Dritte ist
über 60. Wir reden also nicht nur über einen kleinen
Teil der Bevölkerung. Denken wir nur noch einmal an
die für Dezember 2011 vom Deutschen Bundestag geplante Behindertenkonferenz, die dann wegen „zu vielen“ angemeldeten Rollstuhlfahrern abgesagt werden
musste. Es sollte zu unserem gesellschaftlichen Selbstverständnis gehören, dass auch Großveranstaltungen
für alle ohne Einschränkungen zugänglich werden.
Das muss Bestandteil jeglicher Planungen werden und
entspricht im Übrigen auch der ratifizierten UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Eine barrierefreie Großveranstaltung kann ein
großer Erfolg sein. Die Bundesgartenschau, BUGA,
2009 in Schwerin ermöglichte auch mobilitätseingeschränkten Besuchern einen weitgehend uneingeschränkten Zugang.
Barrierefreie Großveranstaltungen und auch barrierefreies Reisen sind möglich. Der Fachkongress
zum barrierefreien Tourismus auf der diesjährigen Internationalen Tourismus-Börse zeigte: Wir können und
müssen auf der internationalen Ebene noch viel voneinander lernen. Um bessere barrierefreie Reisemöglichkeiten zu schaffen, muss in Infrastrukturen, Hotels
und Räumlichkeiten für Großveranstaltungen investiert werden. Hier verbirgt sich auch ein großes wirtschaftliches Potenzial. Barrierefreies Reisen und auch
der barrierefreie Zugang zu Großveranstaltungen sind
eine große Chance für die nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit von touristischen Destinationen. An dieser
wichtigen Investition in die Zukunft sollten wir dringend arbeiten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13550 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 40:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria KleinSchmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zugang zu medizinischem Cannabis für alle
betroffenen Patientinnen und Patienten ermöglichen
- Drucksachen 17/6127, 17/13620 Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Maag
Die Reden gehen zu Protokoll.
Mit ihren Anträgen fordert die Opposition, künftig
kein betäubungsmittelrechtliches Strafverfahren mehr
einzuleiten, wenn Tatverdächtige Cannabis aufgrund
einer ärztlichen Empfehlung verwenden und eine Expertengruppe Off-Label-Use am Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte einzurichten, deren
Aufgabe es sein soll, Empfehlungen für die zulassungsüberschreitende Anwendung, Off-Label-Use, von Arzneimitteln auf der Basis von Cannabis zu erstellen.
Das Anliegen, bei schwerkranken Patientinnen und
Patienten die Versorgung mit cannabishaltigen Arzneimitteln zu verbessern, ist grundsätzlich richtig und
wird von mir geteilt. Wir unterscheiden uns allerdings
gravierend in den Lösungsvorschlägen.
Cannabis ist vor allem auch eine berauschende
Substanz, deren Konsum grundsätzlich gesundheitsgefährdend ist. Cannabis als Arzneimittel muss also auch
stets im Kontext der Verhinderung von Missbrauch gesehen werden.
Dieser Spagat, auf der einen Seite ausreichend
Möglichkeiten vorzuhalten, Schmerzen zu lindern und
trotzdem Missbrauch zu verhindern, gelingt meines
Erachtens am besten mit Fertigarzneimitteln, weshalb
ich es als es unsere gemeinsame Aufgabe ansehe, die
Versorgung mit cannabishaltigen Fertigarzneimitteln
zu verbessern und den schwerkranken Patientinnen
und Patienten Zugang zu diesen zu ermöglichen.
Fertigarzneimittel bieten die Sicherheit, dass diese
im Rahmen des Zulassungsverfahrens nach den Vorschriften des Arzneimittelrechts eine standardisierte
Qualität haben. Deren Wirksamkeit in einer Indikation
wurde über entsprechende klinische Studien nachgewiesen. Andere Anwendungsformen haben diese standardisierte Qualität nicht und sind aus unserer Sicht
folgerichtig abzulehnen.
Für den medizinischen Einsatz von cannabishaltigen Fertigarzneimitteln hat diese Koalition deshalb
mit der 25. Betäubungsmittelrechtsänderungsverordnung die betäubungsmittelrechtlichen Voraussetzungen für die Zulassungs- und Verschreibungsfähigkeit
geschaffen. Auf dieser Grundlage können weitere Arzneimittel entwickelt und für diese und andere Indikationen eine Zulassung beantragt werden.
Für die bei schwerkranken Patientinnen und Patienten erforderliche Therapie mit cannabishaltigen
Fertigarzneimitteln ist seit Juli 2011 mit Sativex ein
Arzneimittel auf dem Markt, dass bei der durch Multiple Sklerose induzierten Spastik durch den Arzt verordnet und erfolgreich eingesetzt werden kann .
Bezogen auf diese Indikation ist die Kostenübernahme durch die Krankenkasse dann auch gegeben.
Das Medikament wird aber auch im Off-Label-Use
verwendet.
Bereits seit 1998 sind überdies die Cannabisinhaltsstoffe Dronabinol und Nabilon nach der Anlage III
zum BtMG verkehrs- und verschreibungsfähige Betäubungsmittel.
Dronabinol ist ein teilsynthetisch hergestellter Stoff,
der in Deutschland verkehrs- und verschreibungsfähig
im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes ist. In Deutschland kann Dronabinol für die individuelle Therapie als
Rezepturarzneimittel verordnet werden.
Die Fertigarzneimittel Marinol und Nabilon können
im Wege des Einzelimportes nach § 73 Abs. 3 AMG von
den Apotheken nach Deutschland verbracht und auf
ärztliche Verschreibung hin abgegeben werden. Daneben kann das BfArM im Einzelfall die Ausnahmeerlaubnis zur Anwendung von Cannabis zu medizinischen Zwecken erteilen.
Demgegenüber hat auf die Frage nach dem Erfolg
einer Therapie mit ungeprüften Cannabiszubereitungen Professor Dr. Radbruch von der Arzneimittelkomission der deutschen Ärzteschaft eindeutig klar und
deutlich festgestellt: „Die Behandlung mit ungeprüften Substanzen birgt das Risiko, dass der Wirkstoffgehalt nicht sicher ist und sehr stark schwanken kann.
Darüber hinaus gibt es das Risiko der Kontamination.“
Jede weitere Form, eigene, sozusagen hausgemachte, Cannabiszubereitungen für die medizinische
Anwendung zu verwenden, lehnen wir deshalb vor allem auch aus Gründen der Patientensicherheit ab.
Das mit dem Antrag einhergehende Aussetzen eines
betäubungsmittelrechtlichen Strafverfahrens wegen
des Gebrauchs von Cannabis auf ärztliche Empfehlung lehnen wir damit folgerichtig ebenfalls ab. Aus
unserer Sicht bieten die vorhandenen gesetzlichen
Rahmenbedingungen noch ausreichend Spielraum, um
bei schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Erkrankungen cannabishaltige Arzneimittel zulasten der GKV zu
verordnen.
Dem Antrag ist zuzugeben, dass das Angebot an
Fertigarzneimitteln derzeit noch dünn ist und die Kosten für die Behandlung zum Beispiel mit Dronabinol
hoch sind. Allerdings sind weitere Fertigarzneimittel
vom Markt angekündigt.
Liebe Kollegen von den Oppositionsparteien, wir
haben heute den Herstellern die Wege im AMNOG bei
der Vergleichstherapie wirklich minimal erleichtert.
Auch Sativex ist davon betroffen. Gerade mit dem Argument der Sicherstellung von Versorgung heißt es,
hier den forschenden Unternehmen auch einen Spielraum für die Entwicklung neuer Medikamente, nicht
zuletzt im Bereich der Schmerzbehandlung, zu geben.
Hier geht es nicht, wie Sie uns stets vorwerfen, um
Pharmalobby, sondern um die Entwicklung sicherer
Medikamente. Dort sollten Sie unterstützen und nicht
den ungehinderten Zugang und damit auch die unkontrollierte Verbreitung von Cannabis fordern. Der ungefilterte, unkontrollierbare Zugang von Cannabis auf
dem Markt und die Gefahr der Weitergabe ist für mich,
jedenfalls bei den vorhandenen Möglichkeiten, keine
Alternative.
Der des Weiteren gestellte Antrag, eine Expertengruppe für die Anwendung von Arzneimitteln auf Basis
von Cannabis ins Leben zu rufen, läuft aus unserer
Sicht ebenfalls fehl. Für den Off-Label-Use haben wir
ebenfalls bereits mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz vom 22. Dezember 2011 in § 35 c SGB V die Voraussetzungen dafür geschaffen, eine „ständige Expertengruppe Off-Label-Use“ ins Leben zu rufen.
Für die Indikationsbereiche Onkologie, Infektiologie, Neurologie/Psychiatrie und Ophtalmologie sind
bereits Expertengruppen gebildet. Weitere Expertengruppen befinden sich in Vorbereitung.
Im Rahmen der bereits bestehenden Expertengruppen sowie der ständigen Expertengruppe können, aus
unserer Sicht, alle Fragen eines notwendigen und meZu Protokoll gegebene Reden
dizinisch sinnvollen Einsatzes von Arzneimitteln, die
Cannabis enthalten, bereits jetzt durch den G-BA in
Auftrag gegeben werden.
Darüber hinaus ist festzustellen, dass die für die Berufung einer neuen Gruppe im Antrag erhobenen Forderungen alleine nicht ausreichen. Voraussetzung ist
hier vielmehr, dass ein Bewertungsauftrag im Rahmen
der Regelversorgung vom G-BA zu erteilen ist. Ein solcher Bewertungsauftrag liegt zurzeit nicht vor.
Festzuhalten ist des Weiteren, dass der G-BA im
Auftrag der gemeinsamen Selbstverwaltung für die
Konkretisierung des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung im Bereich der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zuständig ist. Die
Beauftragung der Expertengruppe Off-Label zur Bewertung erfolgt nach dem Errichtungserlass des BMG
durch den G-BA.
Eine Beauftragung durch das BMG ist nur für besondere Situationen zulässig, wenn zum Beispiel wichtige Fragen zur Versorgung der Bevölkerung in Krisenzeiten zu klären sind.
Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der gesetzgeberische Weg für eine Medikation mit medizinischem Cannabis aufgezeigt ist. Eine weitere Öffnung
im Sinne des Antrages halte ich für nicht angezeigt.
Gehen Sie mit uns den sicheren Weg, und verunglimpfen Sie nicht weiter diejenigen, die sich für Forschung
und Versorgung einsetzen!
Seit dem Inkrafttreten der 25. Verordnung zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften im Mai
2011 ist die Herstellung und Zubereitung von Cannabisprodukten zu medizinischen Zwecken gestattet. Dadurch sind cannabishaltige Fertigarzneimittel verschreibungsfähig geworden. Ich freue mich, dass die
schwarz-gelbe Bundesregierung, die, was Betäubungsmittel betrifft, ja eher ideologisch konservativ einzuordnen ist, hier über ihren Schatten gesprungen ist und
die besagte Verordnung auf den Weg gebracht hat.
Der Zugang zu medizinischem Cannabis wurde und
wird von der SPD unterstützt.
Im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wird richtigerweise darauf hingewiesen, dass über die
bisherigen Regelungen zur therapeutischen Verwendung von Cannabis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, nur eine sehr kleine
Anzahl von Patienten eine Erlaubnis zum Bezug eines
Cannabisextraktes oder von Cannabisblüten bekommen hat. Nach Gesprächen und Briefkontakten mit onkologischen Schmerzpatienten und Spastikern, die uns
über die lindernde Wirkung von Cannabis bei ihrem
Krankheitsbild berichtet haben, sind wir der festen
Überzeugung, dass Cannabis einer größeren Patientengruppe als bisher festgestellt helfen könnte. Und
auch wenn wir weiter an der grundsätzlichen Strafbarkeit von Cannabis festhalten, wollen wir doch weniger
bürokratische Regelungen für die Verschreibbarkeit
von Cannabisextrakten zu medizinischen Zwecken.
Ich bin sicher: Wir werden in den nächsten Jahren
medizinische Innovationen erleben, und es werden
cannabishaltige Fertigarzneimittel zukünftig auch für
weitere Krankheitsbilder auf den Markt kommen. Und
die Kassen werden diese neuen Arzneimittel erstatten.
Wir müssen aber bei jedem Arzneimittel immer auf den
Zusatznutzen gegenüber dem bisher gebräuchlichen
Medikament schauen. Generell haben die Patientinnen
und Patienten einen Anspruch darauf, dass sie nur
Arzneimittel erhalten, die erwiesenermaßen wirksam
sind. Die Anhörung im Deutschen Bundestag am
9. Mai 2012 hat gezeigt, dass wir nicht generell und
pauschal bei jedem cannabishaltigen Arzneimittel vom
Nutzen ausgehen können. So wurde der Zusatznutzen
von Sativex als zugelassenem Arzneimittel für eine
Therapie bei Multiple-Sklerose-induzierter Spastik
vom Gemeinsamen Bundesausschuss als gering bewertet.
Eine Erstattung durch die gesetzliche Krankenversicherung bei Off-Label-Use ist nur ausnahmsweise
möglich, wenn keine andere Therapie verfügbar ist
und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht
auf einen Behandlungserfolg besteht. Den Betroffenen
sei in diesen Fällen dringend empfohlen, sich an die
Patientenvertreter im Gemeinsamen Bundesausschuss
zu wenden. Bei Arzneimitteln auf Basis von Cannabis
jedoch pauschal auf den Nachweis eines Nutzens
durch die entsprechenden Verfahren zu verzichten - so
wie es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen letztlich
fordert -, halte ich für problematisch. Da sollten wir
nicht das Kind mit dem Bad ausschütten und auch
keine Politisierung der Medizin betreiben. Ich sagte es
schon: Ich erwarte für die Zukunft mehr cannabishaltige Arzneimittel für mehr medizinische Indikationen,
die auch ihren Nutzen belegen können.
Besondere Probleme haben wir mit der Forderung
des Antrags nach der faktischen Legalisierung der
Selbstmedikation mit Cannabis. Selbstmedikation ist
generell oft problematisch, und auch bei Cannabis ist
sie aus ärztlicher und wissenschaftlicher Sicht keineswegs wünschenswert. Dies hat die Sachverständigenanhörung deutlich gemacht. So hat zum Beispiel die
Bundesärztekammer vor einer Legalisierung von Therapien, die auf im Eigenanbau erzeugtem Cannabis
beruhen, gewarnt. Diese könnten „Patienten ernsthaft
gefährden“.
Auch die Forderung, auf Strafverfahren generell zu
verzichten, wenn jemand Cannabis auf der Basis einer
ärztlichen Empfehlung besitzt, anbaut oder sich verschafft, halten wir nicht für zielführend. Der Antrag
der Grünen hinterlässt in diesem Punkt den Eindruck,
dass es nicht wirklich um eine sachgerechte medizinische Versorgung geht, sondern um einen Umweg zugunsten der generellen Legalisierung von Cannabis.
So ist in Ihrem Antrag auch nicht von einer Obergrenze
für den Cannabisanbau die Rede, sodass theoretisch
eine ganze Plantage straffrei betrieben werden könnte,
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
wenn der Anbauer nur eine ärztliche Empfehlung hat.
Das geht so nicht und würde mehr Probleme schaffen
als lösen.
Ich fasse zusammen: Wir haben kein Problem mit
Cannabis als Medizin; wir haben allerdings ein Problem mit einer totalen oder Hintertür-Legalisierung
von Cannabis. Laut Drogen- und Suchtbericht der
Bundesregierung weisen 525 000 bis 750 000 Menschen in Deutschland einen problematischen Cannabiskonsum auf, und etwa 220 000 Menschen sind hierzulande cannabisabhängig. Cannabiskonsum kann
schwere psychische und physische Schäden verursachen, insbesondere bei jungen Konsumenten.
Wir werden in den nächsten Jahren eine Reihe
neuer cannabishaltiger Fertigarzneimittel erhalten,
die entwickelt werden. Wenn diese ihren Nutzen - und
zwar so wie alle anderen Arzneimittel auch - wissenschaftlich solide nachweisen, besteht kein Hindernis
für deren Verschreibungsfähigkeit. Und auch die Erstattungsfähigkeit durch die Krankenkasse darf dann
nicht in Zweifel gezogen werden. Entscheidend ist für
die SPD der nachgewiesene und tatsächliche Nutzen
für die Patientinnen und Patienten mit dem Ziel der
objektiv bestmöglichen Versorgung.
Wir haben lange geschwankt, ob wir den Antrag wegen einer Reihe von kritischen Punkten ablehnen sollen oder ob wir uns wegen der grundsätzlichen Zustimmung zu cannabishaltigen Medikamenten vielleicht
doch enthalten sollen. Wir haben uns für die Enthaltung entschieden. Wir wollen in Zukunft die Entwicklung von Cannabis als Medizin und die Forschung in
diesem Bereich weiter voranbringen. Wir stehen hier
noch am Anfang, und mit entsprechenden parlamentarischen Mehrheiten werden wir hier sicher in der
nächsten Legislaturperiode auch zu gemeinsamen Verbesserungen kommen.
Der Zugang zu medizinischem Cannabis ist für viele
Patientinnen und Patienten sehr wichtig. Gerade im
Hinblick auf die immer besseren Erkenntnisse zur
Wirksamkeit cannabishaltiger Arzneimittel ist es von
zentraler Bedeutung, schwerkranken Patientinnen und
Patienten Zugang zu cannabishaltigen Fertigarzneimitteln zu ermöglichen.
Fertigarzneimittel haben gegenüber anderen Anwendungsformen von Cannabis große Vorteile. Denn
sie müssen im Rahmen des Zulassungsverfahrens nach
den Vorschriften des Arzneimittelrechts eine standardisierte Qualität und eine relative Unbedenklichkeit
nachweisen. Und auch die Wirksamkeit in einer Indikation muss über klinische Studien belegt sein.
Seit Juli 2011 ist mit Sativex ein cannabishaltiges
Fertigarzneimittel zur Behandlung der durch Multiple
Sklerose induzierten Spastik verfügbar. In dieser Indikation ist eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen gegeben.
Mit der 25. Betäubungsmittelrechts-Änderungsverordnung wurden die Voraussetzungen für den medizinischen Einsatz von zugelassenen Fertigarzneimitteln
auf Cannabisbasis geschaffen. Auf dieser Grundlage
können weitere Arzneimittel entwickelt und für diese
und andere Indikationen eine Zulassung beantragt
werden.
Nach Aussagen von Sachverständigen ist auch der
als Rezepturarzneimittel verwendete Cannabiswirkstoff Dronabinol in bestimmten Fällen zur Therapie
geeignet. Ähnlich ist es mit unter kontrollierten qualitätssichernden Bedingungen angebautem Medizinalhanf.
Aus Gründen der Patientensicherheit erachten wir
illegale Cannabiszubereitungen für die medizinische
Anwendung als ungeeignet. Aus diesem Grund lehnen
wir auch die im Antrag geforderte Regelung ab, dass
ein betäubungsmittelrechtliches Strafverfahren wegen
des Gebrauchs von Cannabis auf ärztliche Empfehlung auszuschließen ist.
Hinsichtlich der Fragestellung des Off-Label-Use
ist festzuhalten, dass mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz die Voraussetzungen geschaffen wurden für
eine neue, ständige Expertengruppe Off-Label-Use,
die fachgebietsbezogen ergänzt werden kann. Die jetzigen rechtlichen Rahmenbedingungen reichen vollkommen aus, sich mit sämtlichen Fragestellungen des
medizinischen Gebrauchs von Cannabis anzunehmen.
Was die Konkretisierung des Leistungskataloges der
gesetzlichen Krankenversicherung angeht, ist diese
grundsätzlich im Aufgabenbereich der gemeinsamen
Selbstverwaltung zu finden. Für Fragen rund um die
Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln ist der Gemeinsame Bundesausschuss zuständig. Die geltenden
gesetzlichen Rahmenbedingungen bieten ausreichenden Spielraum, eine Kostenübernahme von Arzneimitteln auf Cannabisbasis durch die gesetzliche Krankenkasse in besonderen Einzelfällen zu gewähren.
Insbesondere dann, wenn für die Behandlung einer lebensbedrohlichen bzw. schwerwiegenden Erkrankung
keine andere Therapie zur Verfügung steht. Ob im jeweiligen Einzelfall diese Voraussetzung vorliegt, beurteilen Experten des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse.
Aber die fehlende Kostenübernahme kann kein Argument dafür sein, dass auf Eigenanbau oder die Beschaffung von Cannabis ausgewichen wird. Denn
Qualität, eine relative Unbedenklichkeit und auch die
Wirksamkeit eines Medikaments sind im Sinne der Patientensicherheit unverzichtbar.
Wir behandeln heute den Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen auf erleichterten
Zugang zu Cannabis zur medizinischen Verwendung.
Cannabis kann bereits heute in Deutschland zur medizinischen Verwendung genutzt werden. Bei einer
Vielzahl von chronischen Erkrankungen bewirkt die
Zu Protokoll gegebene Reden
Einnahme von Cannabis eine Linderung von Begleiterscheinungen oder Symptomen der Grunderkrankung, unter anderem Multiple Sklerose, Glaukom,
HIV/Aids, Krebs, Hepatitis C. Gerade die medizinische
Verwendung von Cannabis genießt in der Bevölkerung
immer größere Unterstützung. Es ist zu beobachten,
dass auch die allgemeine Presse über diesen Gegenstand vermehrt sachlich und am Thema orientiert
berichtet. Das war bisher leider nicht immer so und ist
in vielen anderen Bereichen der Drogenpolitik leider
auch noch immer nicht der Fall.
Durch die Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfG, vom 20. Januar 2000 sowie
eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
vom 19. Mai 2005 wurde die Möglichkeit zur Erteilung
einer Ausnahmegenehmigung eröffnet. Leider neigt
das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, zu einer restriktiven Auslegung der
eingehenden Anträge. So sind die Hürden des Antragsverfahren für die Konsumentinnen und Konsumenten
viel zu hoch angesetzt, und das jeweilige Verfahren
dauert im Allgemeinen viel zu lange.
Bisher wurden beim BfArM seit 2005 von 156 Patientinnen und Patienten ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmeerlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG gestellt.
Es erhielten nur 54 Patientinnen und Patienten eine
entsprechende Erlaubnis, wobei derzeit noch 42 von
ihnen über diese verfügen. 12 Patientinnen und Patienten sind mittlerweile verstorben oder haben ihre
Erlaubnis an das BfArM zurückgegeben - Stand:
18. November 2010; „Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke „Legalisierung von Cannabis-Medikamenten zur Therapie
von schweren Erkrankungen“, Drucksache 17/ 3810.
Die monatlichen Therapiekosten sind enorm: Wie
im Antrag richtig festgestellt, liegen diese bei bis zu
1 500 Euro im Monat. Diese werden von den Krankenkassen bis heute nicht übernommen. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf unsere obengenannte
Kleine Anfrage selbst zugegeben, dass „bei der Abgabe einer Zubereitung aus einem Stoff oder mehreren
Stoffen ein Festzuschlag von 90 Prozent auf den Apothekeneinkaufspreis ohne Umsatzsteuer für Stoffe und
erforderliche Verpackung, ein nach Art der Darreichungsform festgelegter Rezepturvorschlag sowie die
Umsatzsteuer zu erheben“ ist. Bis heute hat sich die
Bundesregierung aber nicht dafür eingesetzt, dass für
die betroffenen Patientinnen und Patienten ein Anspruch auf Kostenübernahme bei ihren Krankenkassen
besteht.
Die anderen Patientinnen und Patienten sowie
Konsumierende, welche die hohen Antragshürden
scheuen oder für die langwierige Antragsdauer keine
Kraft mehr aufbringen können, sind weiterhin auf den
unregulierten Cannabisschwarzmarkt - ohne existierenden Verbraucherschutz - angewiesen. Völlig unbeachtet blieb bisher auch die Problematik des Auslandsaufenthaltes für Patientinnen und Patienten. So hat es
das BfArM bis heute nicht geschafft, ein Formular zu
entwickeln, das es den Betroffenen erlaubt, ihre Medizin mit ins Ausland zu nehmen. Für viele ist der Verzicht auf das Medikament mit Schmerzen verbunden,
was wiederum Grund dafür ist, dass viele Patientinnen
und Patienten nicht mehr ins Ausland fahren können.
Auch in der öffentlichen Anhörung des Gesundheitsausschusses am 9. Mai 2012 wurde in zahlreichen
Stellungnahmen deutlich Kritik am bisherigen Gesetzeszustand formuliert.
So schreibt die Bundesärztekammer in ihrer Stellungnahme (Ausschussdrucksache 17({0})0265({1})) ich zitiere:
„Zurzeit ist die Kostenerstattung durch die Kostenträger weiterhin häufig schwierig und vom Arzneimittel und der Indikation abhängig. Die Patienten, bei denen Cannabis indiziert ist, sind in der Regel nicht in
der Lage, die Medikation selbst zu bezahlen, da sie an
einer unheilbaren Erkrankung im fortgeschrittenen
Stadium leiden oder im Rahmen einer Schmerzerkrankung nicht nur körperlich, sondern auch sozial und
wirtschaftlich stark eingeschränkt sind. In einer Reihe
von Einzelfällen wurde THC erfolgreich in einer spezialisierten Einrichtung, Schmerzklinik oder Palliativstation, initiiert und nach Entlassung des Patienten in
die hausärztliche Weiterbetreuung nicht mehr verabreicht, weil die Kosten nicht übernommen wurden. Wir
sind der Auffassung, dass eine Ablehnung der Kostenübernahme durch die Kostenträger nicht durch den
Verweis auf eine unzureichende wissenschaftliche Beweislage erfolgen darf, wenn in einem individuellen
Heilversuch für den Patienten bestätigt worden ist,
dass die Medikation mit dem cannabinoidhaltigen
Arzneimittel effektiv und verträglich ist. Bei den Patienten, bei denen eine Therapie mit cannabinoidhaltigen Arzneimitteln indiziert ist, muss daher eine vollständige Kostenübernahme für den gesamten Zeitraum
der Medikation über die Kostenträger sichergestellt
werden.“
Die Deutsche Gesellschaft für Suchtmedizin e. V.
hat sich dieser Stellungnahme der Bundesärztekammer
angeschlossen.
Die Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin e. V.
führte in ihrer Stellungnahme zahlreiche Länder auf,
in denen Cannabis zu medizinischen Zwecken mittlerweile flächendeckend ohne hohe Hürden angeboten
und von den Betroffenen genutzt wird. Warum ist das
nicht in Deutschland möglich? USA: 330 000 registrierte Patientinnen und Patienten, Kanada: 12 116
registrierte Patientinnen und Patienten, Israel: 6 000
registrierte Patientinnen und Patienten, Deutschland:
65 registrierte Patientinnen und Patienten.
Im Anhang der Stellungnahme Ausschussdrucksache 17({2})0265({3})). befanden sich zudem insgesamt
110 Literaturhinweise für bereits durchgeführte kontrollierte Studien mit Cannabis und Cannabinoiden bei
wichtigen Indikationen. In ihrer Antwort auf unsere
obengenannte Kleine Anfrage gab die Bundesregierung zu, keine Forschungsvorhaben auf dem Gebiet
Zu Protokoll gegebene Reden
der medizinischen Verwendung von Cannabis zu unterstützen. Dabei schätzt sie die Datenlage zur Wirksamkeit
und Sicherheit von Cannabinoiden folgendermaßen ein:
„Zur Wirksamkeit und Sicherheit von Cannabinoiden
in der Therapie von chronischen neuropathischen
Schmerzen und Schmerzen von Krebspatientinnen und
-patienten liegen soweit ersichtlich nur wenige Daten
aus kontrollierten klinischen Studien vor.“ ({4}).
Der Antrag der Grünen geht daher in die richtige
Richtung. Die Bundesregierung sollte die hohen
Hürden abbauen und den Zugang zur medizinischen
Verwendung von Cannabis vereinfachen. Die Bundestagsfraktion Die Linke hatte einen entsprechenden
Antrag bereits 2008 in den Bundestag eingebracht
({5}). Dieser wurde damals gegen die Stimmen der Linken und Grünen abgelehnt.
Gleichwohl muss festgehalten werden, dass eine
Legalisierung des Anbaus von Cannabis für den Eigenbedarf, wie es Die Linke in dieser Legislaturperiode gefordert hat ({6}), jeder Patientin und jedem
Patienten ermöglichen würde, Cannabis auch ohne
ärztliche Verschreibung zu nutzen. Leider wurde dieser
Antrag ebenso gegen die Stimmen der Linken und Grünen abgelehnt. Der Antrag der Grünen ist daher ein
kleiner, aber dennoch richtiger Schritt in die richtige
Richtung. Konsequenterweise müsste der Antrag zusätzlich einfordern, die betäubungsmittelrechtlichen
Hindernisse für eine Erforschung von Cannabispräparaten zu beseitigen. Er beinhaltet aber die weitere
Entkriminalisierung des Cannabiskonsums. Die Linke
wird diesem Antrag daher zustimmen.
Union und FDP haben im Gesundheitsausschuss
gegen diesen Antrag gestimmt. Sie haben das damit
begründet, dass inzwischen ja bereits ein cannabishaltiges Fertigarzneimittel zugelassen sei und der Bedarf
der Patientinnen und Patienten damit gedeckt sei. Außerdem könnten die Kosten eines nicht zugelassenen
Arzneimittels in lebensbedrohlichen Fällen auch von
den Kassen übernommen werden. Da muss ich Sie
gleich mehrfach korrigieren:
Erstens gibt es derzeit kein Medikament auf dem
Markt. Man kann darüber streiten, warum das Verfahren beim Gemeinsamen Bundesausschuss so ausgegangen ist, wie es ausgegangen ist; aber derzeit gibt es
kein Medikament, für das die Kassen regulär die Kosten übernehmen.
Zweitens würde dieses Medikament nur einem kleinen Teil von Patienten helfen; denn es ist nur für die
Linderung der Spastik bei Multipler Sklerose zugelassen. Patienten, die etwa wegen einer Krebserkrankung
an Appetitlosigkeit oder an schweren Schmerzen leiden, gehen leer aus.
Drittens kann die von Ihnen lediglich ins Gesetz geschriebene sogenannte Nikolaus-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts nur denjenigen helfen, die
an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leiden. Patienten, die an einer schweren chronischen, aber nicht
zum Tode führenden Erkrankung leiden, nützt dieses
Urteil und Ihre neue Regelung im Sozialgesetzbuch V
nichts. Es bleibt im Übrigen eine Einzelfallentscheidung, bei der die Patienten vom Gutdünken eines
Sachbearbeiters abhängig sind.
Von Dichtem besehen ist also die Begründung, warum sie unseren Antrag abgelehnt haben, nicht stichhaltig.
In Wahrheit hat Ihre Ablehnung ideologische
Gründe. Man kann das sehr schön nachvollziehen anhand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens um die
von einem Patienten beantragte Ausnahmegenehmigung zum medizinischen Anbau von Cannabis. Das
Bundesgesundheitsministerium hat mit allen juristischen Mitteln versucht, diese Genehmigung zu verhindern. Selbst das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte war am Ende dafür, den
Antrag zu bewilligen. Aber das hat diese Regierung
nicht daran gehindert, vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster in die nächste juristische Runde zu gehen. Eine schwere Schlappe blieb Ihnen im konkreten
Fall nur deswegen erspart, weil sich urplötzlich doch
noch eine Krankenkasse fand, die die Kosten einer Behandlung mit einer Cannabismedizin übernehmen
wollte.
Dennoch hilft ein Blick in das Urteil. Denn das Gericht hat auch dieses ganz klar gesagt: Die vom FDPgeführten Bundesgesundheitsministerium zu verantwortende grundsätzliche Ablehnung von Anträgen zum
Eigenanbau ist rechtswidrig.
Die Gesundheitspolitik hat sich in dieser Frage insgesamt nicht mit Ruhm bekleckert. Das muss man klar
sagen. Denn jeden kleinen Fortschritt mussten sich die
Patienten vor Gericht erkämpfen. Schon die Möglichkeit, überhaupt Anträge für den Bezug eines Cannabisextraktes oder von Pflanzenbestandteilen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu
stellen, geht auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes von 2005 zurück. Und jetzt war schon wieder
ein Gerichtsurteil nötig, damit sich wenigstens etwas
verbessert.
Dieses Antragsverfahren ist im Übrigen ein hochgradig bürokratisches, fast unmenschliches Verfahren.
Damit werden in der Regel schwerkranke Patienten zu
Bittstellern degradiert. Und wenn das Bundesinstitut
für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM, den Antrag dann am Ende bewilligt, müssen die Patientinnen
und Patienten die Kosten des Cannabismedikaments
selbst tragen. Diese monatlichen Therapiekosten können bis zu 1 500 Euro betragen. Bei den Betroffenen
handelt es sich aber in der Regel nicht um Einkommensmillionäre, sondern um schwerkranke, häufig
auch erwerbsunfähige Menschen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist daher verständlich, dass zahlreiche Patientinnen und Patienten daran denken, Cannabis illegal anzubauen oder sich auf dem Schwarzmarkt zu besorgen.
Die derzeitige Rechtslage zwingt Betroffene, zur Linderung ihrer Erkrankung eine Straftat zu begehen. Gegen etliche Menschen laufen Ermittlungsverfahren, sie
stehen vor Gericht, manche bekommen sogar Haftstrafen.
Dies ist der Hintergrund, vor dem wir unseren Antrag gestellt haben und insbesondere vorschlagen, Patienten, die ein ärztliches Attest haben, den straffreien
Anbau, Besitz und Erwerb von medizinischem Cannabis zu ermöglichen.
Wir hatten diese Debatte ja bereits im Jahre 2008.
Ich will Ihnen, also von der Koalition wie auch der
SPD, zugestehen, dass Sie sich an der Stelle zumindest
argumentativ etwas bewegt haben. Damals behaupteten Sie noch, Cannabis sei gar nicht wirksam oder
Cannabis sei keine Spaßdroge und mache abhängig
und dürfe daher nicht an schwerkranke Patienten abgegeben werden.
Heute verwenden Sie andere Argumente. Im Kern
hat sich aber an Ihrer rein ideologisch motivierten
Haltung nichts verändert. Im Gesundheitsausschuss
wurde aus meiner Sicht kein einziges Argument genannt, das substanziell gegen unseren Antrag spricht.
Die FDP behauptet zum Beispiel, die Entkriminalisierung würde zur Selbstmedikation führen, und damit
würde die Patientensicherheit gefährdet. Abgesehen
davon, dass diese Behauptung nirgends belegt ist,
müssten Sie damit auch die derzeit bestehende Möglichkeit eines Antrags beim BfArM ablehnen. Denn
auch die über die Apotheke zu beziehenden Extrakte
oder Cannabisblüten sind keine Fertigarzneimittel.
Fraglich ist auch, warum aus Ihrer Sicht die Patientensicherheit durch den Status quo gestärkt wird. Statt
es sich zu Hause straffrei anbauen zu können, wie von
uns vorgeschlagen, müssen sich die Patienten Cannabis auf dem Schwarzmarkt besorgen. Die besonderen
gesundheitlichen Risiken von auf dem Schwarzmarkt
gehandelten Substanzen waren ja hier oft genug
Thema; das müsste Ihnen also noch geläufig sein.
Und auch Ihnen von der SPD kann ich den Vorwurf
nicht ersparen, dass Sie sich mal wieder wegducken.
Zwar werden Sie sich bei der Abstimmung enthalten.
Allerdings halte ich das für wenig glaubwürdig, wenn
Sie uns vorwerfen, wir wollten uns mit unserem Vorschlag eine Hintertür zur Legalisierung des Eigenanbaus offenhalten. Ihr Vorwurf belegt sehr gut, dass es
hier nicht um Patienten, sondern vor allem um eine
prohibitive drogenpolitische Ideologie geht. Sie machen die Betroffenen zu reinen Objekten dieser Ideologie.
Insofern muss ich meine Aufforderung von 2008
auch für die jetzige Bundesregierung und die SPD aufrechterhalten: Kommen Sie endlich raus aus Ihrem
weltfremden, drogenpolitischen Elfenbeinturm und
helfen Sie den Patientinnen und Patienten!
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/13620, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6127 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und der
Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 41 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Willi Brase, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausbildungssituation im Hotel- und Gaststättengewerbe verbessern
- Drucksache 17/13549 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Die Reden gehen zu Protokoll.
Die Hotels und Gaststätten in Deutschland stehen
für eine hohe Qualität, exzellenten Service und Gastfreundschaft. Dass dies so ist, ist vor allem der Arbeit
der engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Hotel- und Gaststättengewerbe zu verdanken. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hotel- und Gaststättengewerbe arbeiten fleißig und engagiert - und das
auch am Wochenende und an Feiertagen. Diese Einsatzbereitschaft verdient Anerkennung und Respekt.
Von 2002 bis 2012 hat sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Hotel- und
Gaststättengewerbe um 13,3 Prozent erhöht. Rund
8 Prozent aller Ausbildungsverträge werden im Gastgewerbe abgeschlossen. Trotz dieser positiven Entwicklung steht die Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe vor den Herausforderungen des
demografischen Wandels. Das Erwerbspersonenpotenzial wird in Deutschland voraussichtlich von heute
55 Millionen auf 44 Millionen Menschen im Jahr 2050
zurückgehen. Im Jahr 2030 werden bereits mehr als
5 Millionen Arbeitskräfte fehlen.
Im September 2013 beginnt das neue Ausbildungsjahr. Für die Hotels und Gaststätten vor Ort wird es
immer schwieriger, Lehrlinge zu finden und offene
Stellen zu besetzen. Schon heute werden in vielen
Regionen angehende Köche, Hotel- und Restaurantfachleute, Hotelkaufleute und Fachleute für Systemgastronomie sowie Fachkräfte im Gastgewerbe händeHeike Brehmer
ringend gesucht. Die Bundesagentur für Arbeit
verzeichnete im August 2012 ein Minus von bei
6,3 Prozent bei der Bewerbernachfrage im Bereich
Hotellerie. In der Gastronomie lag das Minus der Bewerbernachfrage bei 12,7 Prozent. Wir müssen uns die
Frage stellen, weshalb sich gerade im Gastgewerbe
immer mehr junge Menschen gegen eine mögliche
Ausbildung entscheiden. In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen wir, dass das Gastgewerbe ein
wichtiger Jobmotor bleibt. Deshalb ist die Sicherung
des Fachkräftebedarfs eine wichtige Aufgabe unserer
zukünftigen Arbeitsmarktpolitik.
In ihrem Antrag geht die Fraktion der SPD auf die
mangelnde Attraktivität eines Berufes im Gastgewerbe
ein. Sie fordert - ich zitiere -: „Die Politik muss Akteure zusammenbringen und Vorschläge entwickeln.“
Junge und motivierte Menschen für eine Ausbildung
im Gastgewerbe zu begeistern, ist eine Aufgabe, der
sich alle verantwortlichen Akteure am Ausbildungsmarkt gleichermaßen stellen müssen.
Mit dem Konzept zur Fachkräftesicherung geht unsere christlich-liberale Bundesregierung auf politischer Ebene einen wichtigen Schritt voran. In diesem
Konzept werden Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt untersucht, um geeignete Maßnahmen gegen den Fachkräftemangel in den einzelnen Branchen
zu entwickeln. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie und der Bundesagentur für
Arbeit die Fachkräfteoffensive ins Leben gerufen. In
enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Netzwerken
bietet die Fachkräfteoffensive Experten, Unternehmen
und Arbeitnehmern eine Chance, sich über das regionale Fachkräftepotenzial zu informieren.
In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch mit
dem Thema Bildung auseinandersetzen. Die Fraktion
der SPD fordert in ihrem Antrag - ich zitiere - „zusammen mit den Ländern darauf hinzuwirken, gemeinsame Standards für Leistung und Qualität von Schule
und Ausbildung sicherzustellen“. Die SPD geht hier
nicht mit gutem Beispiel voran, wie man derzeit in Niedersachsen beobachten kann, wo die SPD in der Regierungsverantwortung ist und das Sitzenbleiben in
der Schule abschaffen will.
Die Qualität der Bildung, welche in der Zuständigkeit der Länder liegt, hat in Deutschland eine sehr
hohe Priorität. Bildung ist und bleibt die Grundvoraussetzung für den Einstieg ins Berufsleben. Wir in der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen, dass alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Schulabschluss erreichen. Deswegen wollen wir in der
christlich-liberalen Koalition Deutschland zur „Bildungsrepublik“ machen. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und sie ist Aufgabe der Bundesländer und Kommunen. Jugendliche müssen auf
ihre spätere Berufswahl durch ihre Eltern, durch die
Schule und durch eine qualifizierte Berufsberatung
vorbereitet werden.
Um eine mögliche Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe für junge Menschen attraktiv zu machen, hat der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband
e. V., DEHOGA, einen Zehnpunkteplan zur Fach- und
Arbeitskräftesicherung erarbeitet. Darin ruft der
DEHOGA Betriebe und Unternehmen auf, die Möglichkeit der Selbstdarstellung durch Schnupperpraktika, Tage der offenen Tür und Kooperation mit Schulen aktiv zu nutzen. Klar ist, kaum eine Branche hat so
gute Möglichkeiten, Jugendliche und junge Erwachsene neugierig auf einen Beruf zu machen wie das
Hotel- und Gaststättengewerbe. Die DEHOGA-Landesverbände bauen ein flächendeckendes Ausbildungsnetzwerk auf, welches Betrieben, Berufsschulen,
IHKs und Arbeitsagenturen die Möglichkeit bietet,
sich über offene Stellen zu informieren und gemeinsam
in Kontakt zu treten.
In ihrem Antrag formuliert die SPD - ich zitiere -:
„Die Qualität und die Rahmenbedingungen für die
Ausbildung im Hotel- und Gastgewerbe müssen dringend verbessert werden.“ Die genannten Praxisbeispiele zeigen deutlich, dass es hier großes Engagement
der Betriebe und Unternehmen gibt, das Thema Ausbildung aktiv mitzugestalten. Dabei spielt insbesondere die Qualität der Ausbildung eine wichtige Rolle
für die Unternehmen. Das hat sich in meinen persönlichen Gesprächen mit den Ausbildungsbetrieben in
meinem Wahlkreis Harz sowie mit dem DEHOGALandes- und Bundesverband bestätigt.
Der DEHOGA-Bundesverband hat zur Unterstützung der Hotel- und Gaststättenbetriebe vor Ort einen
innovativen Wegweiser für Ausbilder ins Leben gerufen. Dieser hervorragende Wegweiser wurde bundesweit verbreitet und unterstützt die Betriebe dabei, die
Qualität ihrer Ausbildung zu verbessern und junge
Frauen und Männer in ihren Ausbildungsberufen zu
fördern. So erläutert der Wegweiser für Ausbilder praxisnahe Themen wie die Strukturierung der Ausbildung oder die Kommunikation mit dem Azubi. Darin
heißt es: „So wie ein gutes Gericht ein Rezept benötigt,
so benötigt gute Ausbildung strategische und strukturelle Planung sowie Fachwissen.“
Auch der nationale Azubiwettbewerb, welcher von
der DEHOGA ins Leben gerufen wurde und der uns jedes Jahr einen deutschen Jugendendmeister in der Hotellerie und Gastronomie kürt, zeigt einmal mehr das
Engagement unserer Unternehmen für die Ausbildung
junger Menschen. Bereits in drei großen Landesverbänden der DEHOGA, beispielsweise in Bayern,
wurde das Projekt der Ausbildungsbotschafter ins Leben gerufen. Dieses Projekt bietet Ausbildern die Möglichkeit, ihr Wissen weiterzugeben und mit den Unternehmen vor Ort ihre Erfahrungen auszutauschen bzw.
Hilfestellung zu leisten.
Dabei kommt unserem deutschen System der dualen
Ausbildung, das heißt der praxisorientierten Arbeit im
Betrieb verbunden mit einer Berufsschule, eine entscheidende Bedeutung zu. Es ist wichtig, dass sich
junge Menschen nach ihrem Schulabschluss neben der
Zu Protokoll gegebene Reden
Möglichkeit eines Studiums ebenso interessiert für eine
duale Ausbildung entscheiden. Nur so werden wir dauerhaft offene Lehrstellen besetzen und den Fachkräftebedarf der einzelnen Branchen sichern können. Unsere
duale Ausbildung in Deutschland steht als Vorbild für
viele andere europäische Länder. Das zeigt die von der
Europäischen Kommission ins Leben gerufene Ausbildungsallianz. Dazu haben Deutschland, Spanien,
Griechenland, Portugal, Italien, die Slowakei und
Lettland ein Memorandum zur Bildungskooperation
unterzeichnet, welches Maßnahmen zur Einführung
der beruflichen Bildung nach deutschem Vorbild vorsieht.
Am 3. Juni 2013 hat unsere Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel verschiedene europäische Staatsund Regierungschefs sowie die Arbeitsminister der
EU-Staaten zu einer Konferenz geladen, um die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in der EU zu diskutieren. Unsere Bundesrepublik hat heute die zweitniedrigste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Dies ist
der nachhaltigen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik unserer unionsgeführten Bundesregierung zu verdanken.
Wir verfügen über ein umfangreiches Know-how bei
der Ausbildung junger Menschen. Das gilt auch für die
Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Wir in der CDU/CSU wollen, dass wir dieses Knowhow in Zukunft verstärkt nutzen und die weltweit anerkannte duale Ausbildung im eigenen Land vorantreiben. In Zukunft wird die nachhaltige Investition in die
Qualität der Ausbildung immer bedeutender werden,
um im nationalen und internationalen Wettbewerb zu
bestehen. Bei einer innovativen Branche wie dem
Gastgewerbe kommt es darauf an, stets für den Gast
interessant zu bleiben, neue gesellschaftliche Entwicklungen aufzugreifen und Traditionen zu pflegen und
weiterzuentwickeln. Wir müssen uns stets vor Augen
führen, um wen es bei der Frage der Ausbildung geht.
Es geht um Jugendliche und junge Erwachsene, denen
eine Ausbildung den Weg ins Berufsleben ebnet. Insbesondere im Gastgewerbe sind der Arbeitsschutz und
die Arbeitszeiten wichtige Kriterien für diesen Start ins
Berufsleben.
In Ihrem Antrag fordert die Fraktion der SPD die
Bundesregierung auf - ich zitiere - „einen Gesetzentwurf vorzulegen, um die Kontrolle der Regelungen gemäß Jugendarbeitsschutzgesetz, insbesondere in Bezug auf Arbeits- und Urlaubszeiten sowie den
Freizeitanspruch, wirksam durchzusetzen und Missstände aufzudecken und zu sanktionieren“. Um das
aus dem Jahr 1976 stammende Jugendarbeitsschutzgesetz auf die Bedürfnisse unserer heutigen Zeit hin zu
prüfen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Fachebene eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt. Im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe heißt es zum Thema Arbeitszeiten und
Arbeitsschutz: „Sowohl die Ergebnisse der Forschungsprojekte als auch die Expertengespräche legen
den Schluss nahe, dass es in der Praxis Defizite in der
Umsetzung des Jugendarbeitsschutzgesetzes gibt, etwa
in Bezug auf die Vorschriften zur Dauer der Arbeitszeit
und zur Nachtruhe. Daher empfiehlt die Arbeitsgruppe, dass sich die für den Vollzug des Jugendarbeitsschutzgesetzes zuständigen Länder mit dieser
Thematik weiter befassen.“
An dieser Stelle möchte ich an die Länder appellieren, im Rahmen der Umsetzung des Jugendarbeitsschutzgesetzes dafür zu sorgen, dass Jugendliche in ihren Ausbildungsberufen den ihnen zustehenden
Jugendschutz genießen. Neben den Aufsichtsbehörden
der Länder sind aber vor allem die Ausbildungsbetriebe vor Ort gefordert, ihrer Verantwortung für die
Lehrlinge und Auszubildenden gerecht zu werden. Wir
in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wollen, dass alle
verantwortlichen Akteure gemeinsam Anstrengungen
unternehmen, um mögliche Ausbildungshemmnisse bei
den Unternehmern und den Auszubildenden abzubauen. Klar ist, die Auszubildenden von heute sind die
Fachkräfte von morgen. Eine Ausbildung stellt die entscheidenden Weichen für die spätere Selbstständigkeit
und Verantwortung im Beruf. Eine praxisnahe und
fachlich fundierte Ausbildung bildet die Basis dafür,
dass unser deutsches Hotel- und Gaststättengewerbe
auch in Zukunft über geeignetes Fachpersonal verfügt
und wettbewerbsfähig bleibt.
Das ist nur möglich, wenn Politik und Wirtschaft
gemeinsam mit den Berufsbildungseinrichtungen an
einem Strang ziehen. Nur so können wir in Zukunft
dauerhaft junge Leute dazu motivieren, sich für eine
Ausbildung in einem Hotel oder einer Gaststätte zu bewerben. Dies kann jedoch nur im konstruktiven Miteinander aller Beteiligten geschehen und darf nicht, wie
im Antrag der SPD gefordert, allein vom Staat gesteuert werden. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt
den Antrag der Fraktion der SPD ab.
Ich möchte mich abschließend dem Zitat unserer
Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, anschließen, welche im April 2013 auf dem Kongress der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion „Fit für die Zukunft durch
gute betriebliche Qualifikationen“ sagte: „Alle wollen
mehr Wohlstand, alle arbeiten daran. Ich glaube, wir
können es schaffen, mitzuhalten, aber wir dürfen nicht
einfach hocken bleiben, sondern wir müssen neugierig
in die Zukunft schauen.“
In diesen Tagen hören wir bei den Arbeitsmarktzahlen wieder sehr oft: Der Tourismus belebt den Arbeitsmarkt. Besonders in Küstenregionen - aber nicht nur stützt sich der Aufschwung am Arbeitsmarkt auf den
Tourismus.
Aber nicht nur, wenn gerade einmal wieder neue Arbeitsmarktzahlen veröffentlicht werden, zeigt sich: Der
Tourismus in Deutschland ist ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor.
Für das Jahr 2010 gab es in diesem Bereich eine
Bruttowertschöpfung in Höhe von rund 100 Milliarden
Zu Protokoll gegebene Reden
Euro. Das entspricht 4,4 Prozent der Bruttowertschöpfung der deutschen Volkswirtschaft.
Und das sind nur die direkten Effekte. Nehmen wir
auch alle anderen Effekte hinzu, kommen wir auf eine
Bruttowertschöpfung von 214 Milliarden Euro. Das
entspricht rund 10 Prozent der gesamten bundesdeutschen Bruttowertschöpfung.
Diese Zahlen müssen auch der Bundesregierung bekannt sein. Sie stammen nämlich aus der Studie „Wirtschaftsfaktor Tourismus“. Herausgeber ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie.
Die Tourismusbranche ist für Deutschland demnach
sehr wichtig. Darin sind wir uns mit der Studie aus
dem Wirtschaftsministerium einig. Zu kurz kommt dabei aber: Wer hält diesen wichtigen Wirtschaftszweig
eigentlich am Laufen?
Allein im Hotel- und Gaststättengewerbe arbeiteten
im Jahr 2010 über 1,7 Millionen Menschen, sozusagen
direkt am Gast. Das sind 59 Prozent der im Tourismus
beschäftigten Menschen.
Deswegen ist es selbstverständlich, dass man für
diese Branche auch gute Bedingungen schafft, um
Nachwuchs zu begeistern. Und gerade hier gibt es eine
Riesenbaustelle.
Das Hotel- und Gaststättengewerbe steht personell
vor seiner vielleicht größten Herausforderung. Zum einen führt der demografische Wandel dazu, dass immer
weniger junge Menschen da sind, die ins Berufsleben
starten. Mit diesem Aspekt bezüglich des drohenden
Fachkräftemangels haben fast alle Branchen zu kämpfen - keine Frage.
Aber im Hotel- und Gaststättengewerbe haben wir
zum anderen deutlich verschärfte Bedingungen: Eine
Ausbildung in dieser Branche ist zurzeit leider wenig
attraktiv, und das, obwohl Deutschland immer häufiger als Reiseland entdeckt wird, übrigens auch von den
Deutschen selbst. Rund 27 Prozent der Deutschen machen Urlaub im eigenen Land. Und gerade bei diesen
Urlauben scheint „das Geld locker zu sitzen“. Zumindest ist eine sehr hohe Ausgabebereitschaft im Urlaub
in Deutschland zu verzeichnen.
Aber diesen Entwicklungen müssen gut ausgebildete Fachkräfte im Hotel- und Gaststättenbereich gegenüberstehen. Und genau hier steuern wir in den
kommenden Jahren auf deutliche Probleme zu.
Schauen wir uns die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge an. Sechs gastgewerbliche Ausbildungsberufe haben wir vom Koch über Restaurantoder Hotelfachmann bzw. -frau bis zur Hotelkauffrau
bzw. Hotelkaufmann.
Für das Jahr 2012 haben wir bei diesen sechs Ausbildungsberufen einen Rückgang bei den geschlossenen Ausbildungsverträgen von 10,3 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen. Vergleicht man alle
IHK-Ausbildungsberufe, beträgt der Rückgang hier
vergleichsweise niedrige 2,8 Prozent.
Im Jahr 2007 war es noch ganz gut um neue Auszubildende im Hotel- und Gaststättengewerbe bestellt.
Im Vergleich dazu haben wir bei den geschlossenen
Verträgen ein Minus von 36 Prozent. Bei allen anderen
Ausbildungsberufen sind es im Schnitt rund 10 Prozent.
Allein die IHK-Statistiken zeigen bereits, dass bei
einer Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe
etwas nicht stimmt. Die Dramatik verdeutlicht sich,
wenn wir schauen, wie viele Ausbildungen vorzeitig
enden.
Der Berufsbildungsbericht 2013 spricht eine deutliche und verheerende Sprache: 51 Prozent brachen ihre
Ausbildung zum Restaurantfachmann bzw. zur -fachfrau ab. Bei der Ausbildung zur Köchin oder zum Koch
waren es 49,9 Prozent. Angehende Fachkräfte im
Gastgewerbe warfen zu 44 Prozent vorzeitig das
Handtuch.
Hier muss man die Frage stellen: Warum kommt es
zu diesen Situationen?
Wie würden Sie reagieren, wenn Ihre Tochter oder
Ihr Sohn sagt, dass sie oder er in der Gastronomie
oder Hotellerie arbeiten möchte? Würden Sie zuraten?
Zuraten, in einer Branche zu arbeiten, in der niedrige
Löhne und Ausbildungsvergütungen bezahlt werden?
Hinzu kommt, dass die Tarifbindungen in der Branche
insgesamt eher schwach sind.
Würden Sie zuraten, in einer Branche zu arbeiten,
in der man befürchten muss, trotz Arbeit arm und auf
zusätzliche Sozialleistungen angewiesen zu sein? Viele
Arbeitsplätze sind befristet - oftmals saisonal. Leiharbeit und Teilzeitarbeit sind weit verbreitet, ebenso die
Minijobs: Etwa jeder Dritte in der Branche wird geringfügig bezahlt. Ob er ({0}) auch geringfügig arbeitet, ist mehr als fraglich.
Das sind mit Sicherheit die Hauptkriterien, warum
die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge sinkt.
Trotzdem gibt es Auszubildende, die aus Idealismus
oder Leidenschaft im Tourismus arbeiten wollen. Aber
auch bei ihnen stellt sich dann oft der Frust ein: Frust
über häufige Wochenendarbeit und Überstunden, die
nicht mit Freizeit ausgeglichen werden. Frust über die
ungenügende Vermittlung von Ausbildungsinhalten.
Frust auch bedingt dadurch, dass der Jugendarbeitsschutz zu schlecht kontrolliert und durchgesetzt wird.
Und genau an diesen Punkten setzt unser Antrag an.
Die Bundesregierung muss hier aktiv werden. In vielen Fällen nicht nur sie allein, aber sie muss
koordinieren - Bund, Länder, Industrie- und Handelskammern, DEHOGA und Gewerkschaften müssen endlich an einen Tisch gebracht werden und an einem
Strang ziehen, damit der Fachkräftemangel nicht so
groß wird und einer ganzen Branche das Wasser abgräbt.
Wir müssen gemeinsam ran an die niedrigen Ausbildungsvergütungen. Dazu brauchen wir nationale AusZu Protokoll gegebene Reden
bildungsstandards, die eine Mindestausbildungsvergütung nicht unterhalb der BAföG-Höchstsätze vorsieht.
Wir brauchen gesetzliche Regelungen, die bessere
Kontrollen und Regelungen zulassen, damit Missstände bei Arbeits- und Urlaubszeiten und beim Freizeitanspruch aus Überstunden nicht mehr vorkommen.
Genauso müssen Auszubildende vor Prüfungen
rechtzeitig freigestellt werden. Auch hier gibt es immer
wieder Missstände und zu knappe Fristen - auch für
eine angemessene Vorbereitungszeit der Prüflinge.
Die Ausbildungsberatung muss besser und transparenter werden. Auszubildende brauchen niedrigschwellige Angebote und zentrale Ansprechpartner
vor Ort. Auch so können wir - neben effektiveren Kontrollen - Auszubildende vor schlechten oder ungenügenden Arbeitsbedingungen besser schützen.
Die Minijobs haben ihr Ziel weitgehend verfehlt auch im Hotel- und Gaststättengewerbe. Sie müssen
sehr stark eingedämmt werden.
Die Ausbildung, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, muss noch mehr junge Menschen ansprechen. Dafür gilt es Hemmnisse abzubauen. Das
gilt für vorgeschaltete Qualifizierungsmaßnahmen wie
für Barrierefreiheit in Berufsschule und am Ausbildungsort gleichermaßen. Integrationsbetrieben kommt
eine besondere Bedeutung dabei zu. Sie gilt es zu fördern.
Und auch wer seine Ausbildung abbricht, darf nicht
auf die Straße gesetzt werden. Auch hier muss qualifiziert werden, damit Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Chance - manchmal auch eine zweite - bekommen können. Wir hatten dazu schon einmal für
begleitende Hilfen 200 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt gefordert. Mit unserem Antrag unterstreichen wir diese Forderung noch einmal.
Zusammen mit den Ländern muss der Bund gemeinsame Standards für Leistung und Qualität von Schule
und Ausbildung sicherstellen. Darüber hinaus brauchen wir endlich einen Gesetzentwurf, der das völlig
unsinnige Kooperationsverbot in Bildungsfragen zwischen Bund und Ländern aufhebt.
Außerdem müssen Ausbildung und Forschung besser voneinander profitieren. Auch hier sind Bund und
Länder gleichsam gefordert. Wissenschaftlichen Einrichtungen zur Ausbildung von touristischen Fachkräften fällt eine besondere Position zu. Sie gilt es aus
unserer Sicht strukturell und finanziell zu fördern. Unser Ziel ist dabei, die Ausbildung und die Ausbildungsinhalte passgenauer an die aktuellen und sich abzeichnenden Bedürfnisse anzupassen.
Der Tourismus ist eine starke Branche. Sie kann
aber nur stark bleiben, wenn wir gut ausgebildete und
motivierte junge Fachkräfte jedes Jahr neu hinzubekommen.
Mit unseren Vorschlägen wollen wir das zu oft
schlechte Erscheinungsbild stoppen. Unser Ziel ist es,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn in ein paar Jahren Ihre Tochter oder Ihr Sohn sagt, dass sie oder er
eine Ausbildung im Tourismusbereich machen möchte,
dass Sie dann aus vollen Stücken zuraten können. Unser Antrag bietet dafür heute die Grundlage.
Die Ausbildungssituation im Hotel- und Gaststättengewerbe ist derzeit eines der Sorgenkinder in der
beruflichen Bildung. Um es gleich vorweg zu sagen:
Es geht nicht darum, ein ganze Branche zu verunglimpfen, aber leider steht es mit der Ausbildungssituation nicht zum Besten. Das ist sehr bedauerlich, da
besonders dieser Bereich den jungen Menschen grundsätzlich gute Aufstiegschancen und Perspektiven eröffnen kann. Kaum ein anderer Bereich bietet eigentlich
derart gute Voraussetzungen, um international zu arbeiten und die Welt kennenzulernen.
Dagegen wird der HoGa-Bereich mit ausbildungsfremden Tätigkeiten, schlechter Entlohnung, nicht bezahlten Überstunden und nicht eingehaltenem Jugendschutz in Verbindung gebracht. Das bedeutet: Die
Qualität der Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe lässt sehr zu wünschen übrig. Einer der Gradmesser sind die Lösequoten bei den Ausbildungsverträgen. Meine Kollegin Gabi Hiller-Ohm hat Ihnen
bereits die aktuellen - erschreckend hohen - Zahlen
genannt. Es lässt sich nicht leugnen: Der Hotel- und
Gaststättenbereich trägt die rote Laterne. Wir müssen
an das Thema ran.
Der SPD-Antrag zeigt dazu den richtigen Weg.
Denn am Ende geht es um zwei Dinge: Wir müssen den
jungen Menschen, die sich für diesen Bereich interessieren, eine qualifizierte Ausbildung mit vernünftigen
Perspektiven bieten. Gleichzeitig müssen wir vor dem
Hintergrund der demografischen Entwicklung dazu
beitragen, dass der Fachkräftebedarf für diese Branche gesichert wird.
Wir haben in Deutschland das Problem, dass der
Ausbildungsmarkt stark von regionalen Disparitäten
geprägt ist. Das macht sich auch im Hotel- und Gaststättengewerbe bemerkbar. Das Verhältnis zwischen
Angebot und Nachfrage sowie das sogenannte Matching zwischen potenziellem Azubi und Unternehmen
ist nicht ausgewogen. Das geht so weit, dass in einigen
Teilen des Landes freie Ausbildungsplätze nicht besetzt
werden können.
Diese Tatsache ist umso erstaunlicher, als dass es
circa 80 000 Markbenachteiligte gibt, die alle Voraussetzungen für den Start in eine Ausbildung erfüllen.
Weiterhin sind 280 000 Jugendliche im Übergangsbereich zwischen Schule und Beruf, von denen allerdings
der Großteil über mindestens einen Hauptschulabschluss verfügt. Trotzdem werden diese Jugendlichen
als nicht ausbildungsreif diskriminiert. Wenn ich mir
allerdings die Ausbildungsqualität in einigen Betrieben anschaue, frage ich mich, ob die Betriebe ausreichend ausbildungsreif sind.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die SPD will nicht nur gute Arbeit, sie will auch
gute Ausbildung als Einstieg in das Berufsleben. Neben vielen anderen Aspekten haben wir 2005 während
der rot-grünen Regierungszeit das Thema bei der Reform des Berufsbildungsgesetzes verankert. Durch die
Gesetzesnovellierung ist es den Berufsausbildungsausschüssen bei den zuständigen Stellen übertragen worden, die Qualität der dualen Ausbildung zu gewährleisten und zu verbessern. Diese müssen ihre Aufgabe
kontinuierlich wahrnehmen. Außerdem wollen wir von
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden getragene
branchenbezogene Ausbildungsfonds etablieren. Sie
tragen nicht nur zur Sicherung eines ausreichenden
Angebots von Ausbildungsplätzen bei, sondern garantieren auch ein hohes Maß an Qualität.
Ein Beispiel zur Qualitätssicherung ist die Initiative
der IHK Siegen und des DGB Südwestfalen aus meiner
Heimat. Dort sind die Probleme im Hotel- und Gaststättenbereich selbstverständlich auch bekannt. Gemeinsam wurden Bausteine zur Verbesserung des gastgewerblichen Ausbildungsniveaus erarbeitet. Es ist ein
weiterer Beweis dafür, dass Ausbildungsmärkte regionale Märkte sind.
Die IHK stellt für alle Ausbildungsbetriebe die auf
NRW-Ebene erarbeiteten inhaltlichen Mindestanforderungen zu den einzelnen gastgewerblichen Ausbildungsberufen ins Internet. In diesem Zusammenhang
wird noch einmal besonders auf die Bedeutung einer
ordnungsgemäßen Dokumentation hingewiesen. Das
Berichtsheft ist kein Buch der sieben Siegel, sondern
ein Tätigkeitsnachweis, der vom Betrieb kontrolliert
werden muss. Laut DGB-Ausbildungsreport gaben
35,5 Prozent der Auszubildenden an, dass sie ihr Berichtsheft trotz eindeutiger Regelungen nie während
der Arbeitszeit führen konnten.
Die Initiative hat noch weitere Bausteine verabredet. Vierteljährlich führen Ausbilder und Auszubildende Feed-back-Gespräche. In einer Liste mit den
Mindestanforderungen werden dabei die vermittelten
Kenntnisse und Fertigkeiten von beiden Vertragspartnern abgezeichnet. Gut finde ich auch, dass weitere
Bereiche ins Visier genommen werden. So prüft die
IHK, inwieweit dem gestiegenen Beratungsbedarf der
Unternehmen aus dem HoGa-Bereich in der Erstausbildung durch eine Verstärkung der eigenen Beratungskapazitäten entsprochen werden kann. Des
Weiteren werden mit den Mitgliedern der Prüfungsausschüsse Workshops für die Ausbildungsbetriebe angeboten.
Alles in allem zeigt sich, dass durch Kooperation
vor Ort und gutem Willen einiges im Sinne der jungen
Leute auf den Weg gebracht werden kann.
Ich teile mit der SPD die Freude darüber, dass die
Tourismusbranche in Deutschland erheblich wächst
und immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ein Anteil an
der gesamten Bruttowertschöpfung in Höhe von
4,4 Prozent und 407,4 Millionen Übernachtungen aus
dem In- und Ausland 2012 sind stolze Werte. Ebenfalls
teile ich mit der SPD die Sorge über den bevorstehenden oder teilweise bereits vorhandenen Fachkräftemangel in der Hotel- und Gaststättenbranche. Die
Zahl der Arbeitsplätze im Tourismus ist in den letzten
Jahren aufgrund des Booms der Branche natürlich gestiegen. Der Anstieg betrug von 2007 auf 20012 ganze
17 Prozent. Das Interesse an einer Ausbildung im Tourismusbereich sinkt hingegen. 2011/12 haben sich
4 Prozent weniger Jugendliche bei der Bundesagentur
für Arbeit für eine Ausbildung in Tourismus-, Hotelund Gaststättenberufen interessiert. Konkret bleiben
mit 14 Prozent überdurchschnittlich viele Stellen unbesetzt.
Bei so viel Übereinstimmung mit der SPD hat es ja
fast den Anschein, als ob ich mit dem Gedanken spielen würde, eine sozialliberale Koalition aufleben zu
lassen. Aber freuen Sie sich nicht zu früh, denn da
muss ich Sie leider enttäuschen. Die vermeintliche
Harmonie trügt! Ich stimme mit der SPD absolut nicht
in der Analyse der Lage überein. Ich denke vielmehr,
dass die SPD hier eine Entwicklung, auf die die Politik
wenig Einfluss hat, für Stimmungsmache instrumentalisiert.
Zunächst einmal gehören übrigens nicht nur die
klassischen Berufe im Hotel- und Gaststättengewerbe
zur Tourismusbranche, sondern auch Tätigkeiten wie
die des/der Reiseverkehrskaufmanns/-frau, Veranstaltungskaufmanns/-frau etc. Der Antrag der SPD befasst
sich aber ausschließlich mit der Hotel- und Gaststättenbranche. Betrachtet man nämlich die ganze Bandbreite der Jobs, die die Tourismuswirtschaft in
Deutschland trägt, ergibt sich ein differenziertes Bild:
So steigt zum Beispiel das Interesse an Berufen im Bereich Tourismus und Sport - 2011/12: plus 3 Prozent und im Veranstaltungsservice und -management;
2011/12: plus 7 Prozent. Man muss also das gesamte
Bild betrachten, und das lässt erkennen, dass an Ausbildungen in der Tourismusbranche teilweise auch
viel Interesse besteht. Das heißt, dass die Branche eigentlich gute Perspektiven haben könnte.
Nehmen wir aber einfach auch mal den eingeschränkten Blickwinkel der SPD ein und beschränken
uns nur auf die Ausbildungsberufe im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Das fehlende Interesse an einer Ausbildung im Hotel- und Gaststättengewerbe ist ein allseits bekanntes
Problem. Ein ausschlaggebender Grund für den fehlenden Nachwuchs ist der demografische Wandel. Die
schwindende Anzahl an jungen Menschen ist verbunden mit der Tatsache, dass sich immer mehr für ein
Studium entscheiden statt für einen Ausbildungsberuf.
Dazu kommt, dass sich die Branchen im Industriebereich in den Jahren zuvor zurückgehalten haben mit
dem Werben von Auszubildenden. Dies hat sich geändert, der Industriebereich ist wieder oben auf und
wirbt verstärkt um Auszubildende. Das hat den Wettbewerb um die Jugendlichen verstärkt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dienstleistungsberufen im Hotel- und Gaststättengewerbe haftet ein schlechtes Image an: schwierige
Arbeitszeiten, harte Arbeit, relativ niedrige Gehälter
und oftmals raue Umgangsformen. Da ist es keine
Überraschung, dass sich die jungen Leute heute, wo
sie dank der tollen Wirtschaftslage eine breit gefächerte Auswahl an attraktiven Berufen haben, eher gegen den Weg in das Hotel und Gaststättengewerbe entscheiden. Hier ist es aber vornehmlich an der Branche
selbst, attraktiv für den Nachwuchs zu sein. Den wachsenden Tourismus in Deutschland lässt die Branche
wachsen. Die gute Wirtschaftslage führt zu einem höheren Angebot an Arbeitsplätzen. Ich sehe hier das
Hotel- und Gastgewerbe im Zugzwang, aktiv zu werden und sich im Wettbewerb mit anderen Ausbildungsstätten als gute Alternative zu behaupten und seinen
Nachwuchs zu sichern. Der DEHOGA hat sich dieser
Aufgabe hier auch bereits in seinem Zehn-PunkteMaßnahmenplan von 2011 gewidmet. So will er darin
unter anderem die Ausbildungsqualität verbessern,
bessere Perspektiven für die Auszubildenden entwickeln, Weichen in den Tarifverträgen stellen, die Gestaltung der Information über die Ausbildungen und
den Zugang dazu optimieren, Fortbildungsmöglichkeiten verbessern. Das ist schon einmal ein Anfang, aber
sicherlich noch nicht ausreichend.
So viel Kritik gegenüber der Branche sei erlaubt:
Die Werbung um die jüngeren Menschen muss erfolgreicher werden. Es gibt doch viele Positivbeispiele:
Betriebe, die viel verlangen von ihren Nachwuchskräften, diesen aber auch ein großes Entwicklungspotenzial zutrauen. Ohne gute Auszubildende fehlen die
Fachkräfte von morgen.
Dieser Impuls muss aus der Branche selbst kommen. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für Übernachtungen war gerade auch als Impuls gedacht. Investitionen wurden getätigt, vielleicht aber teilweise
noch zu wenig in die Mitarbeiter.
Dass die Politik das von oben verhindern kann, ist
ein frommer Wunsch, erfolgreich sein wird er nicht.
Deshalb geht der Antrag der SPD im Ergebnis leider
am Problem vorbei.
Als Wahlgeschenk wurde 2009 die Mehrwertsteuer
im Hotelbereich gesenkt. Mit diesem Milliardengeschenk wollte das Hotel- und Gaststättengewerbe auch
die Situation in der Ausbildung verbessern.
Ich wollte 2010 wissen: Was genau hat sich getan?
In meinem Bundesland Bremen habe ich die Qualität
und Zufriedenheit in Ausbildungen des Hotel- und
Gaststättengewerbes unter die Lupe genommen. Auszubildende wurden befragt, aber auch die Sichtweisen
der Gewerkschaft NGG, des Deutschen Hotel- und
Gaststättenverbandes und der Handelskammer Bremen aufgenommen. Heraus kam eine Broschüre mit
folgenden Ergebnissen:
Für den hohen Arbeitsaufwand empfanden 60 Prozent der Auszubildenden die Ausbildungsvergütung als
zu gering. Mehr als 60 Prozent der Auszubildenden
mussten regelmäßig Überstunden leisten. Mehr als
zwei Drittel mussten nach der Schule und an den Wochenenden, vor einem Blockunterricht in der Schule,
arbeiten. Mehr als ein Drittel verübten ausbildungsfremde Tätigkeiten. Über 40 Prozent gaben an, dass
die Vorgaben aus dem Ausbildungsrahmenplan nicht
eingehalten wurden. Ich könnte diese Liste fortführen.
Fakt ist: Aufgrund der Bedingungen würden 57 Prozent der Befragten den Beruf nicht noch einmal ergreifen.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP,
ich sage Ihnen: Statt milliardenschwere Wahlgeschenke zu verteilen, hätten Sie sich längst für die Verbesserung der Ausbildungsqualität in der Hotel- und
Gaststättenbranche einsetzen müssen.
Die Branche klagt, dass sie ihre Ausbildungsstellen
nicht besetzen kann. Auch der Berufsbildungsbericht
2013 bestätigt das: Platz eins bei den unbesetzten Ausbildungsstellen: Restaurantfachfrau/-mann, Platz
zwei: Fachfrau/-mann für Systemgastronomie. Es folgen die Fachkraft im Gastgewerbe, Hotelkauffrau/mann und Koch/Köchin.
Wer durch geringe Qualität und prekäre Arbeit nach
der Ausbildung glänzt, muss sich nicht darüber wundern, dass die Stellen nicht besetzt werden. Und Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
FDP, hören Sie endlich auf, diese unbesetzten Stellen
zu instrumentalisieren, um ständig einen allgemeinen
Fachkräftemangel heraufzubeschwören!
Ich sage es deutlich: Das sind in dieser Branche
keine Einzelfälle. Es wird Ihnen Jahr für Jahr im Berufsbildungsbericht und im Ausbildungsreport des
DGB bestätigt: Die Berufe des Hotel- und Gastgewerbes gehören zu den Berufen mit den höchsten Vertragsauflösungen und Ausbildungsabbrüchen. Deshalb
müssen wir endlich umschalten: Gut ausbilden, statt
auszubeuten, und Zukunft im Beruf sichern, statt prekäre Arbeit auszuweiten.
Als Linke fordern wir:
Erstens. Der Jugendarbeitsschutz und das Arbeitszeitgesetz müssen eingehalten und ausgebaut werden.
Viele Auszubildende sind über 18 Jahre alt; deshalb
muss für alle Auszubildenden gelten: keine Überstunden, denn Lehrzeit ist Lernzeit. Nach der Schule und
an Wochenenden vor dem Blockunterricht wird nicht
im Betrieb gearbeitet. Junge Menschen brauchen Zeit,
um sich in Ruhe auf die Schule vorzubereiten und um
Familie und Freunde zu sehen.
Zweitens. Die Ausbildungsvergütung muss hoch genug sein, um den Schritt in ein selbstständiges Leben
zu gestalten. Hier begrüße ich ganz ausdrücklich die
Forderung der SPD nach einer Mindestausbildungsvergütung.
Zu Protokoll gegebene Reden
Drittens. Die Qualität der Ausbildung muss gesichert werden. Zeit zum Lernen, die hohe fachliche
Qualität der Ausbilderinnen und Ausbilder, die Einhaltung der Ausbildungsrahmenpläne, aber auch eine
gute Ausstattung der Berufsschulen sind die Grundlage, um allen eine gute Ausbildung mit Perspektiven
zu sichern.
Viertens. Nach der Ausbildung muss die Übernahme
in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit guten Tarifen gesichert sein. Es muss Schluss damit sein,
dass nur 14 Prozent der Auszubildenden im Gastgewerbe übernommen wurden. Das veröffentlichte 2011
der Deutsche Industrie- und Handelskammertag. Und
es muss endlich Schluss sein mit Minijobs und anderen
prekären Arbeitsverhältnissen.
Prinzipiell gilt: Menschen mit Behinderung dürfen
nicht von Ausbildung ausgegrenzt werden. Das darf
sich eine inklusive Gesellschaft nicht leisten.
Ich habe 16 Jahre im Berufsbildungswerk Bremen
gearbeitet, wo Menschen mit Behinderungen ausgebildet werden, auch in Berufen des Hotel- und Gaststättengewerbes. Sie benötigen individuelle Unterstützung
in der Schule, eine hohe Qualität in der Praxis und die
gleichwertige Chance, eine Ausbildung und danach
eine gute Arbeit zu erhalten. Deshalb sollte nicht nur
der Zugang zu Hotels und Restaurants barrierefrei
sein, sondern wir müssen auch die Barrieren und Ausgrenzungen in den Köpfen abbauen. Konkret heißt das:
Wir müssen das Recht auf Ausbildung umsetzen, und
zwar für alle.
Die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in der
Tourismuswirtschaft sind eindeutig verbesserungswürdig. Zuletzt haben wir gestern im Tourismusausschuss
mit Bundesagentur-für-Arbeit-Vorstand Raimund
Becker darüber diskutiert, und dabei sind erneut Zahlen genannt worden, die meine Skepsis über die Bedingungen in großen Teilen der Branche bestätigt haben.
Alleine die Tatsache, dass von den rund 1,9 Millionen
Beschäftigten in der engeren Tourismusbranche nur
rund die Hälfte sozialversicherungspflichtig sind,
sollte uns mehr als nachdenklich machen.
Im Gesamtranking der 25 meistgewählten Ausbildungsberufe im DGB-Ausbildungsreport belegen die
Ausbildungen „Hotelfachmann/-frau“ und „Restaurantfachmann/-frau“ die letzten beiden Plätze. Als
Gründe hierfür werden unter anderem harte Arbeit,
viele Überstunden ohne Lohn- oder Freizeitausgleich
und ein enormer Druck von Ausbildern und Kunden
ohne ausreichende fachliche Anleitung genannt.
Wir haben als Grüne das Thema schon vor mehr als
einem Jahr, im März 2012, auf die Agenda genommen
und in einem Fachgespräch mit Auszubildenden und
Praktikern debattiert, was man tun kann, um diese
Problematik konstruktiv anzugehen. Das ist nicht nur
im Interesse der Beschäftigten, sondern auch und vor
allem im Interesse der Unternehmen in diesem Wirtschaftszweig. Vor dem Hintergrund sich verändernder
Arbeitsmärkte ist es doch oberstes Gebot, gut ausgebildetes Fachpersonal zu halten, neues auszubilden
und damit ein hohes qualitatives Niveau in der touristischen Angebotskette zu garantieren. Durch Veränderungen auch der demografischen Strukturen werden
wir in den kommenden Jahren einen Arbeitsmarkt bekommen, der die Bedürfnisse des Arbeitnehmers stärker in den Mittelpunkt rücken muss.
Deshalb müssen wir die Nachwuchsgewinnung verbessern. Die Realität spricht aber eine andere Sprache: Die neu begonnenen Ausbildungsverhältnisse in
der Tourismuswirtschaft sind im Jahr 2009 gegenüber
2008 um insgesamt 9,1 Prozent zurückgegangen, und
die Vertragslösungsquoten durch Auszubildende liegen deutlich über dem Durchschnitt. Bisher hat die
Bundesregierung noch keine erkennbaren Schritte unternommen, um diese Situation zu verbessern. Im Gegenteil: Im Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, dass
Sie Ausbildungshemmnisse durch ein flexibleres Jugendarbeitsschutzgesetz abbauen wollen.
Wir wollen, dass die Arbeitsbedingungen in der
Tourismusbranche wieder attraktiver werden, ohne
dass der Arbeitsschutz für Jugendliche abgebaut wird.
Angesichts eines permanent steigenden Fachkräftemangels ist dies auch aus ökonomischer Sicht notwendig.
Deshalb muss sich die Qualität der Ausbildungen „Hotelfachmann/-frau“ und „Restaurantfachmann/-frau“
verbessern.
Im Gesamtranking der 25 meistgewählten Ausbildungsberufe im DGB-Ausbildungsreport belegen die
Ausbildungen „Hotelfachmann/-frau“ und „Restaurantfachmann/-frau“ die letzten beiden Plätze. Das
spiegelt sich auch in den einzelnen Bewertungen im
Ausbildungsreport wider. Gründe: Harte Arbeit, permanent viele Überstunden, ein oftmals rauer Ton und
der Eindruck, ausgenutzt zu werden, hinterlassen bei
vielen Auszubildenden in dieser Branche ein Gefühl
der Enttäuschung. Die in aller Regel noch jugendlichen Auszubildenden sind dem enormen Druck von
Ausbildern und Kunden teilweise rücksichtslos ausgesetzt. Wenige Lehrinhalte, dafür aber eine hohe Arbeitsintensität führen dabei bei so manchen zu körperlichen und geistigen Erschöpfungszuständen, wie der
DGB-Ausbildungsreport bescheinigt.
Ein weiteres Problem und auch Symptom der
schwierigen Arbeits- und Ausbildungsbedingungen ist
die außerordentlich hohe Vertragslösungsquote in
diesem Bereich. Die Berufe des Hotel- und Gaststättengewerbes wiesen zum Beispiel im Jahr 2008 vergleichsweise höhere Vertragslösungsquoten durch die
Auszubildenden auf.
Der DGB-Ausbildungsreport 2010 hat bestätigt,
dass die hohen Abbrecherquoten bei den gastronomischen Ausbildungsberufen insbesondere auf die
schlechten Ausbildungsbedingungen zurückzuführen
Zu Protokoll gegebene Reden
sind. Nach den Ergebnissen des IAB-Betriebspanels
2009 liegt die Übernahmequote der jugendlichen und
erwachsenen Ausbildungsabsolventen durch den Ausbildungsbetrieb im bundesweiten Durchschnitt aller
Branchen bei 57 Prozent. Im Gastgewerbe werden weniger als die Hälfte der Ausbildungsabsolventen übernommen ({0}). Das bedeutet, dass wir die
Abbrecherquote deutlich reduzieren und die Übernahmequote erhöhen müssen.
Um das zu erreichen, müssen wir uns doch zunächst
einmal für faire Arbeitsbedingungen und gegen den
Abbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen einsetzen. 50 Prozent der Beschäftigten einer Branche in Minijobs, das ist kein Aushängeschild, wenn es darum geht, Menschen für die Arbeit
in dieser Branche zu begeistern. Da ist die Altersarmut
doch vorprogrammiert. Wir brauchen Begeisterungsfähigkeit für die Arbeit mit unseren Gästen und keine
prekären Arbeitsverhältnisse.
Und genau aus diesem Grund müssen wir auch
verhindern, dass der Jugendarbeitsschutz sukzessive
aufgeweicht wird, wie es die Koalitionsfraktionen in
ihrem Koalitionsvertrag ja als sogenannte Flexibilisierung des Jugendarbeitsschutzes im Bereich der Ausbildungen im Hotel- und Gaststättengewerbe angekündigt haben.
Schon heute nehmen viele Arbeitsgeber es nicht so
genau damit. Studien deuten darauf hin, dass es in der
Ausbildungs- und Arbeitspraxis zu zahlreichen Verstößen gegen das geltende Jugendarbeitsschutzgesetz
kommt. Im Hotel- und Gaststättengewerbe leisten etwa
zwei Drittel der Auszubildenden Überstunden. Deshalb müssen Gewerbeaufsichtsämter und Kammern
ihre Kontrollfunktion endlich stärker wahrnehmen und
muss die Bundesregierung die Finger lassen von einer
Novellierung des Jugendarbeitsschutzes, die einer
weiteren Ausbeutung Tür und Tor öffnet.
Und zum guten Schluss: Auch in der Tourismusbranche gilt, was in allen anderen Wirtschaftszweigen
gilt: Wer hart arbeitet, muss auch gut entlohnt werden!
Das Versprechen der Branche, den zusätzlichen Verteilungsspielraum durch die Reduzierung der Mehrwertsteuer zu einem erheblichen Teil dazu zu nutzen, das
Entgeltniveau deutlich anzuheben und zusätzliche
Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu schaffen, wurde laut
NGG Branchenreport nicht eingehalten. Das Thema
Mindestlohn ist deshalb auch hier ein drängendes, das
wir nach der Bundestagswahl mit Nachdruck angehen
werden.
Insgesamt kann man festhalten: Die Tourismusindustrie ist in Deutschland von so großer Wichtigkeit,
dass uns die absehbaren Schwierigkeiten bei der Gewinnung von qualifiziertem Fachpersonal nicht kaltlassen können, von der sozialen Situation vieler Beschäftigter ganz zu schweigen. Die Bundesregierung
hat auch hier wieder eine Wahlperiode verschlafen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13549 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Meeresforschung stärken - Potentiale ausschöpfen und Innovationen fördern
- Drucksachen 17/9745, 17/13699 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Philipp Murmann
Dr. Martin Neumann ({1})
Krista Sager
Die Reden gehen zu Protokoll.
Der Antrag der SPD-Fraktion beschreibt über mehrere Seiten durchaus präzise die Rolle und Bedeutung
der Meeresforschung in und für Deutschland. Dabei
stellt die SPD zu Recht fest, dass Deutschland im Bereich der Meeresforschung gut aufgestellt ist. Angesichts dieser sehr gut getroffenen Zustandsbeschreibung der Meeresforschung in Deutschland wird
deutlich, warum der vorliegende Antrag nur mit weichen Forderungen aufwartet. Die SPD fordert von der
Bundesregierung etwa eine Roadmap zur Stärkung der
Meeresforschung, ein Konzept zur internationalen
Sichtbarkeit, mehr Profilschärfung und Vernetzung,
eine Landkarte und mehr Forschung zu sozialethischen Fragen der Meeresforschung. Um es gleich vorwegzunehmen: Dies alles ist bereits in Arbeit oder in
Planung. Die Koalition wird die von der SPD gesucht
wirkenden Forderungen deshalb in Gänze ablehnen.
Ich will Ihnen natürlich nicht vorenthalten, warum
wir dies tun. Die Forderungen der SPD nach einer
Roadmap und einer stärkeren Vernetzung zwischen
Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Wirtschaft sind durch das BMBF-Rahmenprogramm „Forschung für nachhaltige Entwicklungen“, FONA, umgesetzt bzw. durch das Nachfolgerahmenprogramm ab
2015 in Planung. Neben FONA bildet die HightechStrategie mit dem Bedarfsfeld Klima/Energie den gemeinsamen programmatischen Rahmen für die Aktivitäten des BMBF im Bereich der Meeresforschung.
Auch an der geforderten Konzeption zur Stärkung
der internationalen Sichtbarkeit, der Forschungskooperationen und der Forschungsinfrastruktur wird
bereits gearbeitet. So erarbeitet das BMBF in ZusamEckhardt Rehberg
menarbeit mit dem Konsortium Deutsche Meeresforschung, KDM, und den Ländern derzeit eine Forschungsprogrammatik für die nächste Dekade im
Rahmen eines Agendaprozesses „Nationale Plattform
Küste“ mit dem Ziel, eine übergeordnete Klammer
zwischen Meeresforschung, Küsteningenieurwesen
und relevanten landbezogenen Forschungsarbeiten
unter Berücksichtigung internationaler Aktivitäten
darzustellen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die
zwischen Bund und dem Land Schleswig-Holstein zu
Beginn der Legislaturperiode vereinbarte Überleitung
des IFM-GEOMAR in die Helmholtz-Gemeinschaft
zum 1. Januar 2012 eine deutliche Stärkung der Meeresforschung in Deutschland bedeutet. Künftig wird
dem Bund hierdurch ermöglicht, die Meeresforschung
finanziell und strategisch zu stärken. So können Infrastrukturen synergetisch genutzt, vorhandene Kompetenzen gebündelt und Kooperationen zwischen dem
GEOMAR und den am Forschungsbereich „Erde und
Umwelt“ beteiligten HGF-Einrichtungen, WGL-Instituten sowie weiteren nationalen und internationalen
Partnern intensiviert werden.
Auch die Verstärkung von Transferprojekten zwischen Meeresforschung und Wirtschaft, als Beitrag zur
Lösung großer Zukunftsherausforderungen, wurde
durch die Bundesregierung längst angepackt. Mit dem
Nationalen Masterplan Maritime Technologien,
NMMT, hat die Bundesregierung ein strategisches Instrument für eine zielgerichtete, abstimmte und zusammenhängende Meerestechnik entwickelt. Ziel des
NMMT ist es, einen Prozess anzustoßen, der die nationalen Kräfte in den maritimen Technologien bündelt,
Forschung und Wirtschaft noch enger zusammenbringt und die Wahrnehmung der Meerestechnik als
Branche mit großem Zukunftspotenzial in der Öffentlichkeit stärkt. Denn von der Rohstoffversorgung bis
zur Ernährung der Menschheit ist das Meer auch zukünftig eine wichtige Quelle, deren Nutzbarmachung
ein breites Spektrum an Meerestechnik und maritimen
Technologien notwendig macht. Das BMWi stellt im
aktuellen Haushalt rund 32,3 Millionen Euro im Titel
„Maritime Technologien“ zur Verfügung. Für die
Meerestechnik stehen davon 13,2 Millionen zur Verfügung. In dieser Legislaturperiode hat die Bundesregierung für die maritimen Technologien insgesamt rund
120 Millionen Euro verausgabt. Gegenüber dem Jahr
2009 wurden die Mittel um über 25 Prozent gesteigert.
Im letzten rot-grünen Haushalt 2005 wurden die maritimen Technologien lediglich mit 17 Millionen Euro
gefördert, darunter die Meerestechnik mit spärlichen
3,8 Millionen Euro. Die Fakten sprechen eine deutliche Sprache: Die meerestechnische Industrie wurde
seit Regierungsbeteiligung der Union kontinuierlich
gestärkt und wird auch weiterhin eine angemessene
Unterstützung erfahren. Schaufensteranträge der SPD
wirken vor diesem Hintergrund geradezu grotesk, da
hier einmal mehr die Lücke zwischen Anspruch und
Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik offenbart
wird.
Die Forderung nach neuen Fördermaßnahmen insbesondere zur Entwicklung von neuen Technologien
zum Einsatz in extremen Umweltbedingungen wird
durch die Fortschreibung des NMMT abgedeckt. So
wurden bei der diesjährigen Achten Maritimen Konferenz innerhalb des Workshops „Versorgungssicherheit
durch maritime Technologien - Energie, Rohstoffe und
Nahrungsmittel aus dem Meer“ Handlungsempfehlungen zu der strategischen Ausrichtung des NMMT, der
Stärkung der Förderinstrumente oder auch der Intensivierung einzelner Anwendungsfelder erarbeitet. An
diesem Workshop haben im Übrigen auch Vertreter des
BMBF teilgenommen.
Eine besondere Stärkung hat die deutsche Meeresforschung in dieser Legislaturperiode durch den Beschluss des Haushaltsausschusses zu einer Gesamtschiffsstrategie im Mai 2012 erfahren, durch den für
die Erneuerung und den Ausbau der deutschen Forschungsflotte in den nächsten Jahren ein finanzielles
Volumen von 845 Millionen Euro vorgesehen worden
ist. Für diese Gesamtschiffsstrategie dienten die Gesamtempfehlungen des Wissenschaftsrates als Grundlage. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen hervorgehoben hat,
dass Deutschland eines der führenden Länder in der
Erforschung der globalen Ozeane und ihrer Randgebiete ist. Die Erneuerung der Flotte mit Nachfolgebauten betrifft in dieser Dekade vier der derzeit acht hochseetauglichen Forschungsschiffe. Der erste in Auftrag
gegebene Nachfolgebau, die FS „Sonne“ - die die
44 Jahre alte Vorgängerin ablösen soll - wurde
im April dieses Jahres auf Kiel gelegt. Das Schiff soll
Anfang 2015 an die Wissenschaft übergeben werden.
Mit Einsatz im Indischen und Pazifischen Ozean soll
die FS „Sonne“ dazu beitragen, relevante Forschungsfragen hinsichtlich des Klimawandels, der
Versorgung mit Rohstoffen aus dem Meer und der Folgen des Eingreifens in die Ökosysteme zu beantworten.
Bis zum Ende dieser Dekade wird das BMBF die weiteren Forschungsschiffsbauten „Polarstern“, „Poseidon“ und „Meteor“ beauftragen. Damit deckt die
Palette der Forschungsschiffsneubauten alle Forschungsbereiche ab, in denen Deutschland eine Führungsrolle innehat.
Im Zusammenhang mit dem Neubau der FS „Polarstern“ hatte der Wissenschaftsrat angesichts der sich
beschleunigenden Klimaveränderungen in den Polarregionen angeregt, die jetzige „Polarstern“ für drei
bis fünf Jahre parallel zum Nachfolgebau zu betreiben,
um an Arktis und Antarktis gleichzeitig zu forschen.
Aus Kosten und Kapazitätsgesichtspunkten ist dieser
Vorschlag nicht in die Gesamtschiffsstrategie der Bundesregierung aufgenommen worden, zumal sich eine
internationale Kostenbeteiligung derzeit nicht abzeichnet. Daher ist vorgesehen, den jetzigen Forschungseisbrecher „Polarstern“ möglichst zu verkaufen, wenn der Nachfolgebau der Wissenschaft
übergeben worden ist. Eine kleine Randnotiz: In der
Sitzung des Haushaltsausschusses am 9. Mai 2012 hat
der Kollege Hagemann an dieser Entscheidung der
Zu Protokoll gegebene Reden
Bundesregierung keinerlei Kritik geübt. Das spricht
Bände!
Zu den Forderungen von Herrn Röspel und seinen
Kollegen, den ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen einer verstärkten Nutzung der Meere und Küsten
in der Meeresforschung eine größere Rolle beizumessen und die Begleitforschung und Folgenabschätzungen zu unterstützen, möchte ich auf das internationale
Nagoya-Protokoll verweisen, welches auf einen völkerrechtlichen Rahmen für den Zugang zu biologischen Ressourcen und einen gerechten Vorteilsausgleich zugunsten der Ursprungsländer abzielt. Die
EU-Kommission hat kürzlich einen Entwurf zur Umsetzung des Nagoya-Protokolls vorgelegt, der zurzeit
mit den Mitgliedstaaten verhandelt wird. Die Federführung liegt hier beim BMU. Was die Begleitforschung der ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen
der Meeresforschung angeht, so bleibt festzustellen,
dass diese Aspekte in den modernen Lebenswissenschaften sowie in der Biotechnologie seit 1997 vom
BMBF gefördert und diese Förderbekanntmachungen
in der Vielzahl themenoffen ausgeschrieben werden.
Auch wenn Forschungsprojekte mit direktem Bezug
zur Meeresforschung bislang nicht im BMBF gefördert
wurden, so sind Projekte mit den beschriebenen Fragestellungen grundsätzlich förderfähig.
Nächster Griff der SPD in die Mottenkiste: Die
Bundesregierung soll die marine Biotechnologie als
innovatives Forschungsfeld stärken und sichtbarer
machen. Die marine Biotechnologie wurde vom BMBF
im Rahmen eines eigenen Förderschwerpunktes von
1998 bis 2008 mit 20 Millionen Euro unterstützt. Trotz
Einbindung der pharmazeutischen Industrie, die sich
mit erheblichem Eigenmitteleinsatz beteiligt hat, konnten keine neuen Wirkstoffe bis zur Marktreife geführt
werden. Die identifizierten Wirkstoffe unterschieden
sich in großen Teilen nicht wesentlich von bereits bekannten Verbindungen, sodass geschlussfolgert werden konnte, dass im Bereich der Naturstoffforschung
nicht in terrestrische und marine Biotechnologie unterschieden werden sollte.
Des Weiteren wird die Bundesregierung aufgefordert, mit den Bundesländern und der EU-Kommission
ein abgestimmtes Forschungsprogramm für die biologische Taxonomie des Lebens zu initiieren. Auch hier
rennen Sie offene Türen ein, meine Damen und Herren
von der SPD. Das BMBF unterstützt diese Taxonomie
bereits im Rahmen des Programms „Forschung für
nachhaltige Entwicklungen“. So wurden Bestandsaufnahmen bei Fahrten der deutschen Forschungsschiffe
durchgeführt und damit ein wichtiger Beitrag zum
„Census of marine Life“ geleistet. Daneben wurde die
Entwicklung moderner molekularbiologischer Verfahren zur Artbestimmung gefördert. Das AlfredWegener-Institut für Polar- und Meeresforschung,
AWI, in Bremerhaven, welches im Übrigen neben dem
IFM GEOMAR oder dem Marum an der Universität
Bremen eines der weltweit angesehensten Meeresforschungseinrichtungen ist, beteiligt sich aktiv an einer
europaweiten und von der EU unterstützten Initiative
zur Koordination mariner Infrastrukturen zur Aus- und
Weiterbildung von Wissenschaftlern und Studenten im
Bereich mariner Biodiversität. Im Rahmen der europäischen Joint-Programming-Initiative „Healthy and
Productive Seas and Oceans“ werden der Erhalt der
Biodiversität und die Entwicklung der für die Umweltüberwachung erforderlichen Infrastrukturen ({0}) thematisiert.
Auch im Hinblick auf das EU-Forschungsprogramm „Horizont 2020“ hat die Bundesregierung mit
der BMBF-Fachstrategie „Umwelt und Nachhaltigkeit“ eine strategische Orientierung für die aus deutscher Sicht gewünschte Zusammenarbeit in der Meeresforschung auf europäischer Ebene.
Zusammenfassend können wir also festhalten, dass
die deutsche Meeresforschung heute und für die Zukunft gut aufgestellt ist und bereits hervorragend international vernetzt ist. Die Forderungen der SPD-Fraktion sind insbesondere durch die Programme im
BMBF und BMWi umgesetzt oder befinden sich aktuell
in Planung. Daher werden wir den Antrag der SPD ablehnen.
Sie wissen sicherlich alle, dass circa 70 Prozent der
Erde von Wasser bedeckt sind. Aber ist Ihnen auch bekannt, dass man davon ausgeht, dass der größte Teil
der dort lebenden Organismen bisher noch nicht entdeckt, beschrieben oder katalogisiert worden ist? Und
wer, glauben Sie, hat eine der wichtigsten Forschungsflotten der Welt? Ja, genau, Deutschland. Denn trotz
unserer eher überschaubaren Küste sind wir eine
wahre Forschungs-Seefahrernation. Unsere Forschungsschiffe finden sich auf allen Meeren zwischen
Arktis und Antarktis, und ihre Arbeit ist weltweit hoch
angesehen.
Fast alle von uns haben sicherlich schon einmal
vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven oder dem
IfM-Geomar in Kiel gehört. Aber auch an vielen weiteren deutschen außeruniversitären Forschungseinrichtungen, wie zum Beispiel dem Max-Planck-Institut für
Meteorologie in Hamburg oder dem Leibniz-Institut
für Ostseeforschung in Warnemünde, bzw. an vielen
Universitäten wie der Jacobs University Bremen oder
der Universität Oldenburg leisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler großartige Meeresforschung.
Unter Meeresforschung summieren sich verschiedenste Fachbereiche, die Meeresbiologie genauso wie
sozialwissenschaftliche oder ingenieurwissenschaftliche Fächer. Denn beim Thema Meer geht es eben nicht
allein um das „nasse Element“ und seine Bewohner,
sondern auch um das Leben der Küstenbevölkerung,
neue ökologischere Schiffstechnologien, völkerrechtliche Fragen oder die Rolle des Meeres für unser Klima.
Oft sind die Ergebnisse nicht nur für die Bewohnerinnen und Bewohner der Küstengebiete wichtig, sondern
für alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig davon,
wie weit vom Meer entfernt sie leben. Denn immer
Zu Protokoll gegebene Reden
mehr gesellschaftliche Herausforderungen hängen mit
Lösungsnotwendigkeiten aus den Meereswissenschaften zusammen. Ich denke da nur an die Energiefrage
und den Bau von Windparks auf dem offenen Meer
oder maritime Strömungsdaten zum besseren Verständnis unseres Klimas. In einem kurzen Video habe
ich übrigens einmal versucht zu erklären, warum das
Forschungsschiff Polarstern auch für die Menschen in
meinem doch etwas weiter vom Meer entfernten Wahlkreis Hagen/Ennepe-Ruhr-Kreis wichtig ist. Wen es interessiert: Das Video findet sich auf Youtube.
Aufgrund der enormen Bedeutung für unsere Gesellschaft und der großen Vielfalt der Meeresforschung
ist es wichtig, in regelmäßigen Abständen innezuhalten
und Prioritäten für die nächsten Jahre zu setzen. Für
andere Forschungsbereiche, zum Beispiel der Nanotechnologie, erarbeitet die Bundesregierung deshalb
Roadmaps oder Strategien. Als Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten glauben wir, dass zur nachhaltigen Stärkung der Meeresforschung ebenfalls eine solche Strategie vonnöten ist. Wir sind davon überzeugt,
dass der Wissenschaftsrat deshalb beauftragt werden
sollte, eine Stellungnahme zur Schwerpunktsetzung in
der Meeresforschung zu erarbeiten. Ebenso setzen wir
uns dafür ein, dass die Gelder für die Meeresforschung
erhöht und die Transferprojekte von Wissenschaft und
Wirtschaft mit einem eigenen Forschungsprogramm
unterstützt werden. All dies fordern wir in dem aktuell
vorliegenden Antrag.
CDU/CSU und FDP haben unseren Antrag im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ohne Begründung abgelehnt. Ein eigenes
Konzept haben sie nicht vorgelegt. Scheinbar sieht die
Bundesregierung also keinen Bedarf für eine stärkere
Unterstützung der Meeresforschung. Das ist in Anbetracht der von mir skizierten gesellschaftlichen Herausforderungen nicht nachvollziehbar.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen, WBGU, spricht in
seinem neuesten Gutachten zu Recht von einem
„Menschheitserbe Meer“. Deutschland hat hier eine
große Verantwortung. Diese müssen wir wahrnehmen.
Aus diesem Grund werbe ich an dieser Stelle noch einmal für eine Zustimmung zu unserem Antrag.
Die grundsätzliche Bedeutung der Meeresforschung
haben wir in unserem Antrag in der Beschreibung und
Analyse hinreichend deutlich gemacht. Auch der Forderungskatalog macht die Agenda deutlich, nach der
sich die Meeresforschung entwickeln muss, um alle
Potenziale auszuschöpfen und die notwendigen Innovationen zu fördern. Es ist für uns bedauerlich, dass es
hierzu bisher weder im Plenum noch im Ausschuss
eine diskursive Aussprache gegeben hat und Sie von
den Regierungsfraktionen dennoch diesen Antrag abgelehnt haben. Allerdings bestärkt uns dieses Verhalten vonseiten der Regierungsfraktionen darin, dass es
auch in der Forschungspolitik zu einem neuen Regierungsverhalten mit mehr Transparenz, mehr politischer Prioritätensetzung und Zuspitzung und mehr
Nachhaltigkeit kommen muss. Dass dies auch für die
Meeresforschung gilt, hat sich für uns in der SPDFraktion auch in einem Workshop zur Meeresforschung gezeigt, den wir in der Begleitung zu unserem
Antrag durchgeführt haben und der uns in vielen
Punkten sehr intensiv seitens der Experten bestätigt
hat in den Forderungen, die in unserem Antrag niedergelegt sind.
Als Abgeordneter für den Kreis Pinneberg, zu dessen Wahlgebiet die einzige deutsche Hochseeinsel Helgoland gehört, 70 Kilometer von jeder Küste entfernt
in der Nordsee gelegen, möchte ich für meine Darlegung einen anderen Zugang, jenseits der im Antrag
hinreichend ausgeführten politischen Konzeption,
wählen. Mir sind fünf Aspekte zum Anliegen der Meeresforschung wichtig, die ich auch aus der konkreten
Begleitung und Mitwirkung an den Anliegen der biologischen Anstalt auf Helgoland, mit einer über 150-jährigen Geschichte eine der traditionsreichsten deutschen Meeresforschungseinrichtungen überhaupt, in
den letzten Jahren entwickeln konnte.
Erstens. Die Biologische Anstalt Helgoland ist Teil
des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für
Polar- und Meeresforschung mit Sitz in Bremerhaven.
Dieses Zentrum aus dem Bundesland Bremen hat zwei
Außenstellen in Schleswig-Holstein, nämlich Helgoland und List. Gleichwohl funktioniert die Arbeit mit
den Behörden und im Kontakt zu den jeweiligen Wissenschaftsministerien in den Ländern sehr gut, weil
dahinter die gewachsene Wahrnehmung und Erfahrung steht, dass es in den Fragen von Meeres-, Polarund Küstenforschung keine Ländergrenzen im Norden
geben darf, sondern die Nordländer hier zusammenzustehen, zusammenzuarbeiten und sich auch zusammen
zu profilieren haben. Was in der Tradition eines gewissen Freibeutertums an der Küste bei Schiffsbau, Häfen
und Fähren noch immer nicht ganz überwunden ist,
darf für die Meeresforschung nicht gelten: Nur wenn
alle wissenschaftlichen Potenziale hier unabhängig
von ihrem jeweiligen Sitzland und Standort zusammenarbeiten, kommt von der Sache her das beste Ergebnis
zustande, was eben auch mit dem gemeinsamen Gegenstand der Forschung, den Meeren und ihrem Umfeld, zu tun hat. Denn der Zustand unserer Meere ist
nicht an deutsche Länder- und internationale Staatengrenzen gebunden, sondern ähnlich wie bei der Luft
handelt es sich hier um sprichwörtlich grenzüberschreitende natürliche Güter, die es zu schützen, zu
pflegen, sorgsam zu nutzen und vor allen Dingen zu
analysieren und damit noch besser zu verstehen gilt.
Die Stärke der deutschen Meeresforschung lebt jedenfalls auch von der Stärke der Zusammenarbeit der
norddeutschen Meeresforschungsländer, um das ganze
Gewicht dieser fünf Bundesländer dann auch in den
Forschungsschwerpunkten, der Forschungsinfrastruktur und den Forschungsperspektiven abzubilden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zweitens. Die Biologische Anstalt Helgoland ist Teil
des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung, das zur Helmholtz-Gemeinschaft gehört. In
der Biologischen Anstalt Helgoland wird tatsächlich
keine Polarforschung, sondern Meeresforschung in einem bestimmten Bereich betrieben. Konkret geht es im
Wesentlichen um die komplexen Ökosysteme in Flachmeeren, wie sie beispielhaft durch die Nordsee abgebildet werden, die Wechselwirkungen zwischen den
großen Flussläufen rund um dieses Flachmeer sowie
die Wirkung von Einträgen von Schad- und Nährstoffen einerseits und die Auswirkungen von Fischerei,
Schifffahrt und Klimaveränderung andererseits.
Gleichzeitig wird ein Schwerpunkt auf die Analyse und
Bewertung von marinen Naturstoffen in Bezug auf
mögliche Nutzung gesetzt. Dass die Küstenforschung
in vielfacher Hinsicht ein besonders relevantes Teilgebiet von Meeresforschung ist, wird nicht breit erklärt
werden müssen. Ein überwiegender Teil der Menschheit lebt in Küstenregionen. Die Küstenregionen sind
besonders intensiven Belastungen ausgesetzt, und
zwar vom Land wie vom Meer aus. In den Küstenregionen ist zugleich ein besonders intensives wie auch gefährdetes Potenzial an Meeresorganismen und marinen Grundstoffen vorhanden. Die Küstenregionen sind
auch vielfach wichtig für die Regeneration von Fischbeständen und deren Fortpflanzungspotenzialen. Dies
alles zusammengenommen muss die Aufforderung
auch an die Bundespolitik sein, dies - neben den starken Leuchttürmen für die Polarforschung, wie sie das
AWI in Bremerhaven bildet, und die Meeresforschung,
wie sie durch das IfM-GEOMAR in Kiel gebildet werden - in gleicher Weise auch für die Küstenforschung
zu profilieren. Nicht umsonst haben wir deshalb von
der Sozialdemokratie aus die Aufforderung zu einer institutionellen Stärkung der Küstenforschung und entsprechenden Wissenschafts- und Forschungsstrategien
in den Antrag aufgenommen.
Drittens. Die Meere sind international und die Meeresforschung entsprechend auch. Um auf mein Wahlkreisinstitut in Helgoland zurückzukommen, hat dieses
relativ kleine Institut auf der noch kleineren einzigen
deutschen Hochseeinsel Helgoland jährlich deutlich
mehr als 100 Gastforscher und 700 Kursteilnehmer zu
verzeichnen, die die Angebote der Biologischen Anstalt nutzen. Sie kommen aus dem In- und Ausland und
stehen in Verbund mit der ganzen Welt der Meeresforschung. Diese Internationalität ist ein Pfund, mit dem
die deutsche Meeresforschung insgesamt noch mehr
wuchern kann und muss. Denn was für das kleine Helgoland gilt, ist genauso beim AWI in Bremerhaven
oder beim IfM-GEOMAR in Kiel oder an anderen
Meeresforschungseinrichtungen entlang der deutschen Küsten oder auch im wissenschaftlichen Hinterland zu beobachten.
Hierin liegen große Chancen. Internationalität, wie
sie auch im Einsatz auf den Forschungsschiffen und an
den Forschungsprojekten praktiziert wird, lässt eine
internationale Community zum Schutz der Meere entstehen, die am Ende allen zugutekommt, und das
Know-how eines so entwickelten Landes wie Deutschland als Teil der Europäischen Union kann und muss
in seiner Wirkung auch für andere Länder und Kontinente fruchtbar gemacht werden; denn hier verschränken sich das nationale Eigeninteresse und die internationalen anderen Interessen im besten Fall zu einem
verantwortungsvollen Umgang mit der Natur der
Meere und deren Ressourcen insgesamt. Gerade wenn
Zeiten vor uns liegen, in denen die wirtschaftliche Nutzung der Meere und Küsten in der Meeresforschung
eine immer größere Bedeutung bekommen wird, sind
gleichzeitig, wie in unserem Antrag gefordert, die ethischen, rechtlichen und sozialen Fragen umso intensiver zu diskutieren. Dies tun wir dann aber am besten
von vorneherein in internationalen Netzwerken mit internationaler Reputation, wie sie auch durch eine noch
weitere Internationalisierung unserer Meeresforschungseinrichtungen wie -programme mit vorbereitet
und vernetzt werden kann.
Viertens. Nicht ohne Grund ist der ganze Stolz der
1959 auf der vollkommen zerstörten Insel wieder aufgebauten Biologischen Anstalt Helgoland die seit diesen Jahren Tag für Tag durchgeführte Langfristmessung zu den wichtigsten Parametern des Wassers in
der Deutschen Bucht vor Helgoland. Eine solche
Langfristmessreihe ist in der Meeresforschung noch
weniger verzichtbar als in anderen Bereichen der Geowissenschaft und in dieser Form, wie sie auf Helgoland vorliegt, eine wahre Fundgrube für die ganze Internationale der Meereskundler. Ein vergleichbarer
wissenschaftlicher Schatz wird neben dem traditionellen Messsystem über die Wasserentnahme per Schiff
und an entsprechenden Entnahmestellen jetzt eingeleitet über ein neu aufgebautes elektronisch vollkommen
vernetztes Unterwassermessfeld, das aus einem künstlich angelegten Tetrapodenareal in der Nordsee vor
Helgoland Zugriff auf dortige Beobachtungsdaten von
Wissenschaftlern aus und in der ganzen Welt in Echtzeit zulässt. Beides wird als Beispiel dafür herangezogen werden können, wie wichtig Langfristigkeit in der
Meeresforschung ist und wie sehr die Qualität von
Meeresforschungsprogrammen sich auch an der Nachhaltigkeit solcher Arbeiten festmacht. Dies muss auch
Kriterium für die Meeresforschung insgesamt sein. Um
hier eine kleine politische Spitze einzubringen: Dass
der damalige, längst vergessene CDU-Zukunftsminister Rüttgers, der auch für Bildung und Forschung zuständig war, der Meeresforschung beinahe den Garaus
gemacht hätte, wird jetzt niemand mehr wahrhaben
wollen, weil doch in Zeiten von Klimawandel und damit einhergehenden Zusammenhängen zur Meeresforschung und in Zeiten der Suche nach marinen Grundstoffen bis hin zu marinen Bodenschätzen und bei
wachsender Einsicht in die Bedeutung von mariner Ernährung und des Schutzes von Aquakulturen im weitesten Sinne sich niemand mehr ernsthaft trauen würde,
die Meeresforschung und darin eingeschlossen die Polar- und die Küstenforschung in Deutschland zu marginalisieren. Dass wir in Rüttgers Zeiten hieran aber
beinahe gescheitert wären, ist jetzt zum Glück nur
Zu Protokoll gegebene Reden
noch Historie. Das Kriterium von Nachhaltigkeit und
Langfristigkeit bleibt für die Zukunft jedenfalls umso
wichtiger. Dies muss dann auch Messlatte sein, an der
zukünftige Forschungshaushalte und auch die Mittel
zur Meeresforschung mit gemessen werden.
Fünftens. Wissenschaft braucht Verständnis. Wissenschaft braucht Neugierde. Und Wissenschaft
braucht Menschen, die sich auch als Laien mit den Anliegen ihrer Umwelt und deren wissenschaftlicher Erkundung und Bearbeitung auseinandersetzen mögen
und können. Wo Wissenschaft sich viel zu lange im Elfenbeinturm bewegt und bewegt hat, hat es jetzt zum
Glück eine Wende gegeben, nach der Wissenschaft
auch die Schaufenster und die Begegnungsräume für
die Teilhabe von interessierten Menschen an Wissenschaft mit organisiert. Für die Biologische Anstalt
Helgoland heißt dies zum Beispiel, über das immer
schon vorhandene und jetzt notwendig zu modernisierende Aquarium hinaus jetzt auch ein sogenanntes
Blue-Haus mit aufbauen zu wollen, was in einer modernen und attraktiven Form den zahlreichen Besuchern der Insel gleichzeitig auch die Insel als Ort von
Meeresforschung und die Meeresforschung in der Biologischen Anstalt als Zukunftsforschung im besten
Sinne des Wortes nahebringt. Die Biologische Anstalt
in Helgoland will damit etwas umsetzen, was auch die
übrigen Helmholtz-Institute und Forschungsinstitute
anderer Forschungsgemeinschaften bis hin zu den
Universitäten zunehmend praktizieren. Ich spreche
dies deshalb hier an, weil auch dafür, nämlich die Vermittlung und Zugänglichkeit von Forschung für die
wissenschaftlich interessierten Laien, eine strukturelle
und finanzielle Perspektive über Wissenschaftsparks
und Darstellung in Museen hinaus gefunden werden
muss. Dort wo sich Wissenschaft abspielt, müssen Bürgerinnen und Bürger Wissenschaft erleben können.
Auch dies ist ein Aspekt, den ich als Wahlkreisabgeordneter für Helgoland gerne in die Debatte um die Meeresforschung, ihre Potenziale und ihre Innovationen
einbringen möchte.
Wie die Fraktion der SPD in ihrem Antrag „Meeresforschung stärken - Potentiale ausschöpfen und Innovationen fördern“ richtig bemerkt, braucht es heute
und auch zukünftig eine leistungsfähige Meeresforschung und Forschungsschiffflotte. Denn die Meere
und Ozeane sind nicht nur Wirtschafts- und Lebensraum, sondern auch ein wichtiges gesellschaftliches
Gut. Die Auswirkungen menschlichen Handelns auf
dieses Ökosystem sind gerade in den letzten Dekaden
enorm gestiegen. Ebenso wirken die Klima- und
Ozeanschwankungen in unterschiedlichen Effekten
nach Regionen und Ausmaß. So drängen beispielsweise zahlreiche Fragen über die Auswirkungen des
Klimawandels, Fragen zur Förderung von Ressourcen
und Rohstoffen unterm Meeresboden, zur Artenvielfalt
in den Meeren oder zur Offshorewindkraft und dem
Meeresboden in Küstennähe. Der Förderung und Weiterentwicklung der Meeresforschung kommt deshalb
eine große Bedeutung zu, damit zukünftig Antworten
auf die sich stellenden Fragen gegeben werden können.
Hinter dem Schlagwort Meeresforschung verbirgt
sich ein sehr differenzierter Forschungsbereich. So
grenzt sich die Forschung zu Küsten- und Schelfmeeren von dem Bereich der Ozeanforschung oder der
Meeresbodenforschung ab. Ebenso differenziert man
die Tiefseeforschung und die Polarforschung. Der Antrag der SPD und deren Forderungen machen diese
Unterscheidungen nicht, sondern greifen einzelne
Forschungsfragen und Schwerpunkte auf, die in den
Mittelpunkt gerückt werden. Die christlich-liberale
Koalition hat sich demgegenüber jedoch den wissenschaftlichen Herausforderungen der Meeresforschung
gestellt und bereits weitreichende Maßnahmen und
Entscheidungen getroffen.
Die christlich-liberale Koalition hat die Forschungsinfrastruktur in den Blick genommen, denn
eine exzellente Forschung benötigt eine hervorragende Forschungsinfrastruktur. Wissenschaftler und
Forschungseinrichtungen brauchen eine leistungsfähige Forschungsschiffflotte. Diese leistungsfähige und
hervorragende Forschungsinfrastruktur haben wir bereits in Deutschland. Der Wissenschaftsrat attestiert
2010 in seinen „Empfehlungen zur zukünftigen Entwicklung der deutschen marinen Forschungsflotte“,
dass „Deutschland eines der führenden Länder in der
Erforschung der Rolle, Beschaffenheit und Prozesse
der globalen Ozeane“ ist. Weiterhin wird Deutschland
durch den Wissenschaftsrat eine gute wissenschaftliche Schwerpunktsetzung und internationale Sichtbarkeit in der Meeresforschung bescheinigt. Um die Leistungsfähigkeit der deutschen Meeresforschung zu
erhalten, wird aktuell die Forschungsschiffflotte modernisiert. In dieser Phase wurde selbstverständlich
geprüft, ob ein Parallelbetrieb der Forschungsschiffe
Polarstern I und II für kurze Zeit möglich ist, um sowohl Arktis als auch Antarktis gleichzeitig durch Forschungsprojekte zu erforschen. Dieser Forderung vom
Wissenschaftsrat, die die SPD in ihrem Antrag aufgreift, kann aufgrund der hohen Betriebskosten und
geringen Kapazitäten leider nicht gefolgt werden. Aus
Sicht der FDP muss sichergestellt werden, dass im
Falle eines Parallelbetriebes die in der Diskussion stehende internationale Finanzierung folgt. Diese internationale Finanzierung, so die Information der Bundesregierung, ist jedoch nicht absehbar.
Zudem existiert mit dem aktuellen Rahmenprogramm Forschung für nachhaltige Entwicklungen,
FONA, bereits eine sehr gute Förderung zur Stärkung
der Meeresforschung in Deutschland. Mit dem geplanten Nachfolgerahmenprogramm, welches ab 2015
neue Akzente aufgreift, werden nach Information des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung,
BMBF, auch eine engere Vernetzung von Hochschulen,
Forschungseinrichtungen und Wirtschaft zur Stärkung
der marinen Forschung gefördert. Darüber hinaus erarbeitet das BMBF aktuell mit dem Konsortium DeutZu Protokoll gegebene Reden
Dr. Martin Neumann ({0})
sche Meeresforschung, KDM, und den Bundesländern
eine Forschungsprogrammatik zur Meeresforschung.
Im Rahmen des geplanten Agendaprozesses „Nationale Plattform Küste“ sollen Fragestellungen identifiziert werden, die auch auf eine Zusammenarbeit zwischen Meeresforschung und Wirtschaft abzielen.
Insofern sind die Forderungen der SPD in diesen
Punkten bereits obsolet. Als christlich-liberale Koalition haben wir im Bereich Meeresforschung und Forschungsschiffflotte bereits zu Strategien gefunden, die
weiter sind als die Opposition mit ihrem Antrag.
Der Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltveränderungen, WBGU, der Bundesregierung hat am
gestrigen Tag sein neues Gutachten zur Zukunft der
Meere übergeben und darin vorgeschlagen, dass alle
Meereszonen mit Ausnahme der Küstenmeere zum gemeinsamen Erbe der Menschheit erklärt werden sollten. Damit würden die Meere einerseits zu einem
schützenswerten Gut erklärt, aber zugleich auch in einer Art Allmende überführt. Die Erhaltung der Meere
sollte, so der Beirat, ein Leitprojekt einer „großen
Transformation“ zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft sein. Wir finden diesen Vorschlag richtig und freuen uns, dass auch die Bundesregierung ihn unterstützt.
Die Meere sind ein zuverlässiger Indikator für
Klima- und Umweltprobleme. So thematisiert der
WBGU die steigenden Meeresspiegel, die Erwärmung,
aber auch die Überfischung und Vermüllung maritimer
Gebiete. Nicht zuletzt droht den Meeren die Ausbeutung der im Meeresboden versteckten Bodenschätze,
die im Fall einer Havarie mit katastrophalen Folgen
für die Umwelt verbunden sein kann.
Forschung und Innovation können zur Lösung wie
auch zur Verschärfung dieser Prozesse beitragen. Wir
brauchen Wissen, um die Zusammenhänge und Prozesse etwa des Klimawandels im komplexen maritimen
Ökosystem zu verstehen. Zugleich können Großtechnologien wie Tiefseebohrungen, aber auch Geo-Engineering dieses Ökosystem zerstören. Das Experiment
Lohafex zur Eisendüngung im Südatlantik haben wir
hier in Erinnerung. Es hat eine breite und gewinnbringende Debatte über Wissenschaftsfreiheit und Biodiversität, über die Bedeutung der Meeresforschung,
aber auch die Grenzen der Anwendbarkeit von Zukunftsvisionen hervorgerufen.
Die SPD springt hier für die Meeresforschung in die
Bresche, obwohl sie dieser eigentlich einen sehr guten
Stand attestiert. Die maritime Forschung scheint aus
Sicht der Kolleginnen und Kollegen eher so etwas wie
einen neuen Schub und in begrenztem Maß mehr Geld
zu benötigen. Die Forschungsbedarfe, die im Antrag
aufgezählt werden, stehen jedoch nur wenig im Zusammenhang mit den finanziellen und strukturellen Forderungen an die Bundesregierung.
Diese Zwiespältigkeit haben wir auch bei den Forderungen zur maritimen Biotechnologie beobachtet:
Erst rät die SPD im Feststellungsteil den Firmen, statt
auf transgene Pflanzen und Tiere auf weniger umstrittene Züchtungsmethoden zu setzen. Dann fordert sie
aber ein deutlich stärkeres Engagement in der Biotechnologie für die „internationale Sichtbarkeit“. Offenbar ist man noch unentschieden, ob man die Meere
jetzt eher schützen oder durch Innovationen noch besser wirtschaftlich nutzen will.
Zwei Aspekte vernachlässigt der Antrag aus unserer
Sicht:
Dem Schutz der Meere vor Umweltverschmutzung
und Vermüllung wird nur eine sehr untergeordnete Bedeutung beigemessen. Er taucht zwar als Forschungsthema auf, aber es fehlt an Vorschlägen für ganz praktische Konsequenzen und Vorhaben. Angesichts der
Müllstrudel oder der Umweltkatastrophen etwa bei
Tiefseebohrungen nach Öl ist es unverständlich, wie
hier eine weitere Exploration von Rohstoffen oder die
industrielle Nutzung so unkritisch gefordert werden
kann.
Auch die Biodiversität kommt zu kurz: Zwar soll die
Taxonomie als Forschungsgebiet gefördert werden;
die Erfassung des Artenschwunds ist aber noch kein
Konzept dagegen. Die Überfischung der Meere, aber
auch ihre Verschmutzung und Erwärmung tragen zum
dramatischen Rückgang der Artenvielfalt bei. An dieser Stelle sollten praktische Innovationsallianzen
- etwa mit Umweltschutzverbänden - ansetzen.
Wir begrüßen die Initiative der SPD-Kolleginnen
und -Kollegen, die Meeresforschung abermals auf die
Tagesordnung des Bundestages zu setzen. Deutschland
ist ein wichtiger und renommierter Akteur in der internationalen Meeresforschung und muss dies auch bleiben. Die Meeresforschung ist von herausragender Bedeutung, und das nicht nur, weil die Meere und das
Leben in den Meeren zu einem großen Teil noch unerforscht sind. Der Meeresforschung kommt auch eine
zentrale Rolle zu, wenn es darum geht, die Meere und
die Biodiversität der Meere gerade auch in sensiblen
Bereichen wie den Polarregionen zu schützen. Wir teilen deshalb die Forderung, dass die Nutzung der Ressourcen der Meere und Küstenregionen von einer verstärkten Begleitforschung flankiert wird. Wir haben
uns aber doch sehr gewundert, dass die SPD in ihrem
Antrag nur den Ausbau einer ethischen, rechtlichen
und sozialen Begleitforschung fordert. Denn wir brauchen doch gerade auch eine Stärkung der umweltorientierten Meeresforschung. Dieser Aspekt kommt im
vorliegenden Antrag leider deutlich zu kurz.
Das gilt sowohl für die Forschung zum Schutz besonders sensibler Bereiche wie der Arktis als auch für
die Forschung zur Beseitigung von Schäden und Abfällen wie radioaktiven Abfällen in der Nordsee und
Kampfstoffen in der Ostsee. Meine Fraktion, Bündnis 90/Die Grünen, hat in dieser Legislaturperiode bereits mit einem Antrag auf das zunehmende und bislang ungelöste Problem der Vermüllung der Meere
Zu Protokoll gegebene Reden
hingewiesen. So gehört etwa die Nordsee mit circa
600 000 Kubikmetern Müll im Wasser und auf dem
Meeresboden zu den Meeren mit dem höchsten Verschmutzungsaufkommen.
Ein besonders Problem in diesem Zusammenhang
ist der erdölbasierte Kunststoffmüll. Dieser stellt mit
rund 70 Prozent am Gesamtaufkommen den größten
Teil der Abfälle in den Meeren. Erdölbasierter Kunststoffmüll wird im Meer in kleinste Partikel zerlegt und
ist besonders schwer zu entfernen. Seine Abbauzeit
wird auf bis zu 450 Jahre geschätzt. Um zum Beispiel
solche Probleme zu lösen, brauchen wir eine Meeresforschung, die sich solcher ökologischen Fragen annimmt. Technologische Innovationen, wie die SPD sie
in ihrem Antrag fordert, könnten auch zur Lösung der
Verschmutzungsproblematik einen wichtigen Beitrag
leisten. Technologische Innovationen sollten nicht nur
mit Blick auf die Ausbeutung von marinen Rohstoffen
diskutiert werden.
Die Meeresforschung braucht Planungssicherheit
sowie eine leistungsstarke Forschungsinfrastruktur;
dies gilt insbesondere für die Forschungsschiffe. Eine
deutliche Stärkung der Infrastruktur in diesem Bereich
wäre die zeitweise parallele Nutzung zweier eisbrechender Forschungsschiffe. Hierin stimmen wir mit
der SPD überein und fordern daher auch von der Bundesregierung, dass die neue und die alte „Polarstern“
eine Zeit lang parallel eingesetzt werden sollten. So
könnten mehr exzellente, positiv bewertete Forschungsvorhaben durchgeführt werden und müssten
nicht jahrelang auf Wartelisten verbannt werden.
Zur Planungssicherheit bei den Forschungsschiffen
gehört, dass Versuche des Finanzministeriums, die
Schiffsneubauten zeitlich zu strecken, auch in Zukunft
abgewehrt werden. Die Entscheidungen über die Zuordnung der deutschen Forschungsschiffe zu den jeweiligen wissenschaftlichen Einrichtungen sollten in
einem streng wissenschaftsgeleiteten Verfahren getroffen werden und nicht durch Bund-Länder-Deals, die
nicht wissenschaftsadäquat sind.
Die aktuelle Umsatzsteuerproblematik bei der
Helmholtz-Gemeinschaft gefährdet die Planungssicherheit verschiedener Helmholtz-Einrichtungen auch
im Bereich der Meeresforschung, wie etwa die des
Alfred-Wegener-Instituts in Bremerhaven und des
GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung in
Kiel. Diese Einrichtungen brauchen eine Zusage, dass
die Lösung des Umsatzsteuerproblems in keinem Fall
auf Kosten ihrer Forschungsmöglichkeiten gehen
wird. Innovative Projekte wie die öffentliche und freie
Zurverfügungstellung von Forschungsdaten durch das
Alfred-Wegener-Institut in Form der Datenbank
PANGAEA sind von großem Wert für die internationale
Forschungscommunity. Die Weiterentwicklung dieser
Datenbank sollte durch die Bundesregierung unterstützt werden.
Wenn wir über die Bedeutung der Meeresforschung
sprechen, darf nicht unerwähnt bleiben, dass noch immer ein internationales Abkommen zum Schutz der
Arktis fehlt. Meine Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
hat auch hierzu in dieser Legislaturperiode bereits einen Antrag vorgelegt, in dem wir fordern, die internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Arktis zu intensivieren. In einem Arktis-Vertrag in Anlehnung an
den Antarktis-Vertrag aus dem Jahre 1959 könnte ein
geeigneter Weg bestehen, um Schutzmechanismen gegen eine zerstörerische Ressourcenausbeutung in der
hochsensiblen Arktis zu etablieren.
Die große Bedeutung der Meeresforschung für den
Schutz des marinen Ökosystems kann nicht genug betont werden. Die Meere sind wichtige Seismographen
des Klimawandels und der Biodiversität. Dieser
Aspekt liegt meiner Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
besonders am Herzen. Im vorliegenden SPD-Antrag
wurde dies leider aus unserer Sicht zu wenig gewürdigt. Deshalb werden wir uns trotz vieler Gemeinsamkeiten enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13699, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/9745 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei
Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 12 und 13 auf:
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Jürgen Trittin, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
zu der Empfehlung für einen Beschluss des
Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme
von Verhandlungen über ein umfassendes
Handels- und Investitionsabkommen, transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen
Union und den Vereinigten Staaten von Amerika
KOM ({0})136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäische Union
Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft nur mit starker Parlamentsbeteiligung
- Drucksache 17/13733 31014
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
ZP 13 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
zu der Empfehlung für einen Beschluss des
Rates über die Ermächtigung zur Aufnahme
von Verhandlungen über ein umfassendes
Handels- und Investitionsabkommen, transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft genannt, zwischen der Europäischen
Union und den Vereinigten Staaten von Amerika
KOM ({1})136 endg.; Ratsdok. 7396/13
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages gegenüber der Bundesregierung gemäß
Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m.
§ 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäische Union
Vereinbarung über die Herausnahme von audiovisuellen und kulturellen Dienstleistungen
von den Verhandlungen der EU mit den USA
zu einem transatlantischen Handels- und Investitionsabkommen ({2}) erzielen
- Drucksache 17/13732 -
Die Reden gehen zu Protokoll.1)
Zusatzpunkt 12. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/13733. Wer stimmt für diesen Antrag? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPDFraktion bei Zustimmung der Linken und der Grünen abgelehnt.
Zusatzpunkt 13. Wir kommen zur Abstimmung über
den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
17/13732. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 43 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({3})
zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Lars Klingbeil, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Freier Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen
- Drucksachen 17/12300, 17/13701 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Philipp Murmann
Dr. Martin Neumann ({4})
Nicole Gohlke
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.
1) Anlage 18
Das Internet hat sich in den letzten Jahren und
Jahrzehnten rasant entwickelt. Wo vormals 54KB-Modems den Ton angaben, sind heute Breitbandverbindungen mit mehreren hundert Megabit pro Sekunde
Standard. Neben dem Internetzugang im Haushalt sind
immer mehr Menschen mit dem Handy oder Tablet mobil erreichbar. Die CDU/CSU-Fraktion ist überzeugt,
dass das Internet unsere Kommunikationsweise wie
auch den Informationsaustausch in den letzten Jahren
drastisch, aber auch auf positive Weise verändert hat.
Der vereinfachte Informationsaustausch hat zu großen
wissenschaftlichen Fortschritten beigetragen und ist
ein Grundbaustein für unseren wirtschaftlichen Erfolg.
Wir schreiten in ein Zeitalter, in dem man dauerhaft
erreichbar ist und jederzeit Zugang zu dem Wissen der
Menschheit hat. Es obliegt der Politik, konstruktiv an
diesem fortlaufenden Prozess mitzuwirken, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, aber auch Schaden für
die Gesellschaft abzuwenden. Eine blauäugige Herangehensweise, die eine vollständige Entblößung und
willkürliche Veröffentlichungswelle nach sich ziehen
würde, kann niemand von uns wollen. Das derzeitige
Urheberrecht hat sich bewährt, und die CDU/CSUFraktion hat bereits auf die Digitalisierung reagiert
und richtige Justierungen vorgenommen. Wir werden
dies auch weiterhin tun und den Trend zum „Open Access“, zu fortschreitendem Wandel, mit positiven Anreizen und Förderaktivitäten begleiten.
Dem Antrag der SPD kann man den positiven Aspekt abgewinnen, dass sie das Thema „Open Access“
ebenfalls beschäftigt. Die CDU/CSU-Fraktion erachtet den Zugang zu öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen als anzustrebendes Ziel. Jedoch bedarf es
hierbei einiger Vorgaben und Einschränkungen. Der
von der Opposition präsentierte Antrag lässt viele
Fragen, bezüglich bekannter Problemstellungen offen,
die von einem ungeregelten „Open Access“ ausgehen.
Dies sind vor allem Fragen zum Eigentumsrecht und
zur Publikation von Forschungsergebnissen, die mit
sensiblen Bereichen verbunden sind. Im Vergleich zur
Opposition steht die CDU/CSU-Fraktion nicht für den
bedingungslosen „Open Access“, sondern sie unterstützt den Trend zur sogenannten Qualified Openness.
Es muss uns klar sein, dass ein Zweitverwertungsrecht und verbindliche Vorgaben in den Förderbedingungen in gewissen Bereichen möglich und machbar
sind. Dies haben wir uns ebenfalls auf die Agenda gesetzt. Die SPD lässt aber gerade hier einen wichtigen
Aspekt aus. Nicht jeder öffentlich finanzierte Forschungsbereich sollte für die Öffentlichkeit zugänglich
sein. Dies trifft besonders auf solche zu, die im Falle
einer Veröffentlichung eine Gefahr für die Gesellschaft
darstellen könnten. Ich will hier nur die Themen Sicherheitsforschung oder auch biologisch-chemische
Forschung erwähnen.
Am kommenden Montag befassen wir uns bei der
Anhörung mit dem Thema und werden konstruktive
Gespräche führen. Diesem Termin sollte nicht voreilig
mit dem Antrag der Opposition vorgegriffen werden.
Das Thema ist zu wichtig und weitgreifend. Wir müssen gemeinsam einen Weg finden, um geistiges Eigentum in Einklang mit öffentlichem Interesse zu bringen.
Wir debattieren heute einen Antrag der SPD-Fraktion zur freien Zugänglichmachung öffentlich finanzierter Forschungsergebnisse. Drei Kernforderungen
werden formuliert. Erstens sollen Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung nach einer Embargofrist
von maximal zwölf Monaten frei zugänglich gemacht
werden müssen. Dies soll vom Gesetzgeber über eine
Festschreibung in den Zuwendungsbedingungen erzwungen werden. Zweitens soll ein verbindliches
Zweitverwertungsrecht für Ergebnisse aus überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierter Lehr- und
Forschungstätigkeit eingeführt werden. Drittens soll
ein Diskussionsprozess mit Interessengruppen und der
interessierten Öffentlichkeit zur Open-Access-Politik
in Gang gesetzt werden.
Lassen Sie mich auf diese drei Punkte eingehen und
erläutern, warum wir den vorgelegten Antrag für überflüssig halten.
Erstens. Bei der Forderung nach verbindlichen Vorgaben zur freien Zugänglichmachung von mit öffentlichen Mitteln finanzierten Forschungsergebnissen
muss ein Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Wissenschaftler und der interessierten Öffentlichkeit hergestellt werden. Dabei sind die Grundsätze
unserer Rechtsordnung zum geistigen Eigentum zu beachten. Zudem möchte ich daran erinnern, dass Forschungsergebnisse nur durch das Zusammenwirken
von wissenschaftlicher Leistung und der Bereitstellung
staatlicher Fördermittel zustande kommen. Diese kognitive Eigenleistung des Wissenschaftlers blendet der
SPD-Antrag aus.
Ferner gibt es Forschungsbereiche - insbesondere
bei Ressortforschungseinrichtungen; denken Sie nur
an die wehrtechnische Forschung - mit sensiblen Daten und Geschäftsgeheimnissen, die unbedingt gewahrt bleiben müssen und nicht veröffentlicht werden
können. Hinzu kommt, dass es bereits viele Instrumente zur Partizipation der Bevölkerung am Forschungsprozess gibt. So gibt es bereits die Datenbank
Gepris der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder
aber auch den Förderkatalog der Bundesregierung.
Die Freiheit der Wissenschaft ist für uns ein hohes Gut.
Administrative Belastungen für die Wissenschaft müssen abgebaut und nicht neu aufgebaut werden. In diesem Geist haben wir vor wenigen Monaten das Wissenschaftsfreiheitsgesetz verabschiedet. Zusätzliche
Vorschriften und neue Pflichten wie im SPD-Antrag
gefordert sind mit dieser politischen Grundausrichtung unvereinbar. Aus diesen Gründen ist der erste
Forderungspunkt des SPD-Antrags abzulehnen.
Zweitens. Nun zum unabdingbaren Zweitverwertungsrecht: Wir haben in der Arbeitsgruppe „Bildung
und Forschung“ der Enquete-Kommission „Internet
und Digitale Gesellschaft“ intensiv über dieses Thema
diskutiert. In den abschließenden Handlungsempfehlungen ist fraktionsübergreifend festgehalten: „Die
Kommission empfiehlt … ein verbindliches Zweitveröffentlichungsrecht für alle wissenschaftlichen Beiträge in Periodika und Sammelbänden anzustreben,
die aus überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierter Lehr- und Forschungstätigkeit entstanden sind
...“ Mit dieser Forderung tragen wir unter anderem
dem Umstand Rechnung, dass der Markt wissenschaftlicher Publikationen aufgrund der hohen Marktmacht
einzelner Anbieter zwischen den wissenschaftlichen
Autoren und den Verlagen oft asymmetrisch ist. Gegenwärtig räumen die Autoren wissenschaftlicher Beiträge daher den Wissenschaftsverlagen vielfach ausschließliche Rechte zur kommerziellen Verwendung
ihrer Beiträge ein. Sowohl das BMBF als auch die
Forschungspolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werben mit Nachdruck für die Einführung eines
verbindlichen Zweitverwertungsrechts. Wie fraktionsübergreifend in der Enquete-Kommission verabredet,
halten wir weitere Beratungen im Deutschen Bundestag für notwendig, um das Vorhaben zu einem guten
Abschluss zu führen.
Neben dem Zweitverwertungsrecht plant das BMBF
zudem, in seinen Förderbestimmungen eine Open-Access-Klausel als Sollbestimmung aufzunehmen. Auch
die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat in ihren
Verwendungsrichtlinien die Erwartung formuliert, etwaige Publikationen auch über Open Access zugänglich zu machen. Bevor - wie von der Europäischen
Kommission in Horizont 2020 entschieden - eine
Open-Access-Pflicht eingeführt wird, sollte zunächst
die Auswirkung der geplanten Sollbestimmung abgewartet werden. Aufgrund der geschilderten Absicht zur
Verabschiedung eines verbindlichen Zweitverwertungsrechts und der Einführung von Open-AccessKlauseln als Sollbestimmung in die Fördervorgaben
des BMBF ist der zweite Forderungspunkt des SPDAntrags weitgehend gegenstandslos.
Drittens fordert die SPD, einen Diskussionsprozess
mit Interessengruppen und der interessierten Öffentlichkeit einzuleiten. Hierzu kann ich nur feststellen,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion diesen Diskussionsprozess bereits seit langer Zeit und sehr intensiv
führt. So stehen wir in regelmäßigem Kontakt mit dem
Deutschen Bibliotheksverband, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie beispielsweise der Max-Planck-Gesellschaft. Wichtige
Ergebnisse dieser Gespräche haben wir im Diskussionspapier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum
Urheberrecht in der digitalen Gesellschaft zusammengefasst, das bereits vor einem Jahr, am 12. Juni 2012,
veröffentlicht wurde. Darin machen wir konkrete Vorschläge, zum Beispiel zu den Themen Rechtsdurchsetzung im Internet, Digitalisierung des kulturellen Erbes, Leistungsschutzrecht für Presseverlage und
selbstverständlich auch zum wissenschaftsfreundlichen Urheberrecht.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zusammenfassend möchte ich also festhalten: Die
öffentliche Zugänglichmachung von mit öffentlichen
Geldern finanzierten Forschungsergebnissen ist wissenschaftspolitisch wichtig und richtig. Jedoch gilt es,
hier einen sinnvollen Ausgleich zwischen Wissenschaftlern und Öffentlichkeit zu finden. Mit Blick auf
das verbindliche Zweitverwertungsrecht haben wir
fraktionsübergreifend einen Konsens in der EnqueteKommission gefunden, den wir vereinbarungsgemäß
in der nächsten Legislaturperiode gesetzlich kodifizieren wollen.
Der heute zur Debatte stehende Antrag der SPDBundestagsfraktion mit dem Titel „Freier Zugang zu
öffentlich finanzierten Forschungsergebnissen“ greift
sowohl Impulse der Europäischen Kommission als
auch der Enquete-Kommission „Internet und digitale
Gesellschaft“ zum Thema Open Access auf. Die Diskussion um das Thema haben wir bereits einige Male
sowohl im Ausschuss als auch im Plenum geführt. So
habe ich selbst zuletzt am 29. September 2011 anlässlich des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
zum Thema meine Auffassung und Standpunkte zum
Themenkomplex Open Access zu Protokoll gegeben.
Folglich verzichte ich an dieser Stelle darauf, nochmals in aller Ausführlichkeit den Open-Access-Ansatz
zu erklären.
Die SPD-Bundestagsfraktion tritt seit Jahren für
dieses für viele Menschen, aber auch für die Wissenschaft wichtige Thema ein, während die Merkel-Regierung diese Fragen genauso lange ignoriert bzw. blockiert. So haben die Koalitionsfraktionen nicht nur
unserem Gesetzentwurf vom Herbst des letzten Jahres,
in dem wir ein Zweitveröffentlichungsrecht für überwiegend mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschung festschreiben wollten, ihre Zustimmung im
Ausschuss verweigert. Auch unser erneuter Vorstoß in
Form des vorliegenden Antrags wird erneut abgeblockt. Einen triftigen Grund hierfür nennen die beiden Koalitionsfraktionen nicht. Die Gründe für dieses
Verharren in Untätigkeit scheinen anderswo zu liegen.
Wie bereits in der Debatte hinsichtlich der Entfristung der in § 52 a Urheberrecht kodifizierten Wissenschaftsschranke deutlich wurde, hat diese Regierung
ihren gesetzgeberischen Gestaltungsanspruch in Fragen des Urheberrechts in Wissenschaftsfragen längst
aufgegeben. Offenbar aus der Furcht, sich verbindlich
festlegen zu müssen, ist auch in allen Fragen rund um
das Thema Open Access seitens der Regierungsfraktionen keine verbindliche Initiative zu spüren. Es
scheint, als sei insbesondere in den Reihen der
Unionsfraktion der Disput zwischen Wissenschaftspolitikern, die dem Thema Open Access offen gegenüberstehen, und den Rechtspolitikern der Unionsfraktion,
die in rechtspositivistischen Dogmen verhaftet bleiben,
noch nicht beigelegt. Ohne die Spekulation über Interna der Unionsfraktion zu weit zu treiben, ist klar,
dass unter diesem fraktionsinternen Streit der Union
der Wissenschaftsstandort Deutschland leidet. Denn
der Versuch, lediglich mit Sollbestimmungen dem Problem beizukommen, die zudem nur Anwendung auf einen kleinen Teil der Wissenschaftslandschaft Anwendung finden sollen, wird den Bedarfen der
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unserem
Land nicht gerecht.
Die Wissenschaft - nicht nur in Deutschland - hat
seit über einem Jahrzehnt die Forderung an die Politik, die rechtlichen Rahmenbedingungen für Open Access endlich zu schaffen. Denn gute Wissenschaft lebt
vom offenen und ungehinderten Austausch von Informationen und Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung. Eine rechtliche Verankerung von Open Access
im nationalen Urheberrecht stellt somit eine wichtige
Rahmenbedingung für forschende Wissenschaftler in
Deutschland dar. Insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung ist eine schnelle und ungehinderte Wissenskommunikation eine unabdingbare Voraussetzung für
Innovation und Fortschritt. Ein zeitgemäßes und an
den Bedarfen der Wissenschaft ausgerichtetes Urheberrecht ist demnach ein wichtiger Standortfaktor für
Wissenschaft und Forschung. Dies hat - im Gegensatz
zur Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen auch die Europäische Kommission erkannt. Folgerichtig hat sie sich dazu entschieden, im künftigen 8. Forschungsrahmenprogramm „Horizon 2020“ die OpenAccess-Publikation zum Regelfall zu erklären. Paradoxerweise unterstützt Deutschland bereits heute indirekt Open-Access-Publikationen über den European
Research Council; denn Forschungsergebnisse, die
mit Mitteln des ERC ermöglicht worden sind, müssen
binnen sechs Monaten frei zugänglich gemacht werden. Warum nach Auffassung dieser Regierung national nicht das möglich sein sollte, was international bereits Standard ist, bleibt nicht nur mir verschlossen.
Die zögerliche Haltung der Koalitionsfraktionen
bei diesem Thema ist umso verwunderlicher, als im
Ausschuss die zuständigen Berichterstatter im Namen
der Koalitionsfraktionen die Bedeutung der Open-Acces-Publikation betonen. Umso bedauerlicher ist es,
dass trotz der Einsicht der beteiligten Berichterstatter
sowohl der vorliegende Antrag als auch unser Gesetzentwurf vom letzten Herbst mit dem Hinweis abgelehnt
wurden, dass seitens des BMBF künftig sogenannte
Sollbestimmungen in den Förderrichtlinien aufgenommen werden sollen. Eine solche Argumentation bzw.
Regelung kann nur als Placebo-Gesetzgebung bezeichnet werden, die den blinden Aktionismus dieser
Bundesregierung beim Thema Urheberrecht entlarvt.
Denn das Zugestehen einer Open-Access-Option an einen Fördermittelempfänger ist alles andere als die
Schaffung von Rechtssicherheit mit den Mitteln der
Gesetzgebung. Eine Politik dieser Art stärkt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland jedenfalls nicht den Rücken. Zudem sei an dieser
Stelle der Hinweis gestattet, dass eine Implementierung von Regelungen zu Open Access über die Förderrichtlinien des BMBF alles andere als eine saubere
Form der Rechtssetzung darstellt; insbesondere vor
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Hintergrund, dass auf Nachfrage im Ausschuss
eine Veröffentlichung der besagten Passage aus dem
Förderhandbuch abgelehnt wurde.
Wie dem auch sei: Bei dem Elan und der Arbeitsweise, den diese Bundesregierung in Fragen des Urheberrechts im Wissenschaftsbereich an den Tag legt, ist
nicht mehr mit einem vernünftigen Ergebnis in dieser
Legislatur zu rechnen. Dies ist bedauerlich! Doch die
Aussicht auf eine neue Bundesregierung im Herbst, die
sich aus fähigeren Koalitionsparteien konstituiert,
lässt Hoffnung aufkommen.
Um es vorweg zu sagen: Für uns Liberale ist in der
Wissenschaftspolitik die Freiheit der Wissenschaft und
des einzelnen Wissenschaftlers das kostbarste Gut.
Deshalb setzen wir Liberale uns für den Schutz der
Wissenschaftsfreiheit und die Selbstbestimmung des
Wissenschaftlers ein.
Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der Fraktion der SPD „Freier Zugang zu öffentlich finanzierten
Forschungsergebnissen“ entschieden ab. Denn die
Forderungen der SPD zielen darauf, den Wissenschaftler zu entmündigen, ihm sein Urheberrecht abzusprechen. So soll nach dem Willen der SPD eine neue Förderpolitik festgeschrieben werden. Danach sollen alle
öffentlich finanzierten Forschungsergebnisse nach einer sogenannten Embargofrist von längstens zwölf
Monaten frei zugänglich gemacht werden müssen.
Ebenso sollen die Forschungsergebnisse aus den Einrichtungen mit Ressortforschungsaufgaben nach einer
Embargofrist von zwölf Monaten frei zugänglich gemacht werden. Die Finanzierung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen soll nach dem Willen der
SPD davon abhängig gemacht werden, ob diese entsprechende Veröffentlichungen nach zwölf Monaten
machen oder nicht.
Das ist aus Sicht der FDP Diebstahl bzw. Enteignung geistigen Eigentums. Die SPD erpresst Geld gegen frei zugängliche Forschungsergebnisse. Dabei
missachten sie aufs Gröbste das Urheberrecht und die
Freiheit der Wissenschaftler, über ihre Forschungsergebnisse frei zu entscheiden.
Wir Liberale nehmen hingegen den Wissenschaftler
ernst. Transparenz und eine frei zugängliche Veröffentlichung muss von den Wissenschaftlern und der Wissenschaft gewollt sein und aus sich selbst heraus vorangetrieben werden. Der Staat kann dies begleiten und
durch Anreize fördern, jedoch nicht durch einen
Zwang vorzeichnen.
Anders als die SPD haben wir Liberale uns mit dem
Thema Urheberrecht, Zweitveröffentlichungsrecht und
Open Access in den letzten Monaten ernsthaft auseinandergesetzt. So wird von uns Liberalen ein gesetzlich geregelter, kostenloser Zugang aller Nutzer und
im Speziellen aller Wissenschaftler zu allen wissenschaftlichen Veröffentlichungen abgelehnt. Denn für
uns Liberale bleibt es grundsätzlich in der Entscheidungsgewalt des Urhebers, sprich eines jeden Wissenschaftlers, ob er sein geistiges Eigentum frei zugänglich machen will oder ob er die Verwertung über einen
Verlag oder andere Wege sucht. Das gilt ebenso für die
öffentlich geförderten Forschungsprojekte, bei denen
die Förderrichtlinien eine Veröffentlichungspflicht
vorsehen sollten. Denn Forschung und Lehre sind, solange die SPD nicht regiert, frei, und ein vom jeweiligen Forscher geschaffenes Werk ist direkt und unmittelbar das Produkt seiner Urheberschaft - egal in
welchem Maße finanziert.
In diesem Zusammenhang setzen wir Liberale uns
dafür ein, dass das geltende Urheberrecht Bestand hat.
Das von der SPD geforderte gesetzlich verankerte
Zweitverwertungsrecht lehnen wir ab. Denn nach Auslegung des Urheberrechts hat ein Autor etwa ein Jahr
nach Veröffentlichung seines Werks ein Zweitverwertungsrecht. Deshalb setzen wir Liberale uns dafür ein,
dass den Verlagen gesetzlich untersagt wird, in den
Vertragsverhandlungen die Zweitverwertung auszuschließen. Damit erhielte der Urheber die Möglichkeit,
seine Forschungsergebnisse bereits nach einem Jahr
nochmals zu veröffentlichen und so den gewünschten
vereinfachten Zugang, beispielsweise via Open Access, zu seinem wissenschaftlichen Werk zu ermöglichen.
Der Antrag der SPD ist als direkter Angriff auf die
Wissenschaftsfreiheit und die Entscheidungsgewalt
des Urhebers zu verstehen. Es ist der Versuch, den
Wissenschaftler zu enteignen. Wir Liberale lehnen den
Antrag, wie eingangs erwähnt, entschieden ab, denn
wir schützen das geistige Eigentum.
Um es kurz zu sagen: Der vorliegende Antrag der
SPD-Fraktion geht aus unserer Sicht in die richtige
Richtung. Meine Fraktion hat bereits 2011 mit einem
Antrag weitergehende Vorschläge eingebracht.
Open Access ist keine Randerscheinung mehr, sondern wird zum Megatrend in der Wissenschaft. Weil die
Vorteile auf der Hand liegen: Öffentlich finanziertes
Wissen sollte ein Gemeingut sein. Dazu muss es unkompliziert zugänglich gemacht werden. Digitale Publikationsformen sind dafür ideal: Sie vereinfachen
Vernetzung, Austausch, Auffindbarkeit, Zitierfähigkeit.
Diese Vorteile sprechen sich auch unter den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herum. Die Nachteile herkömmlicher Publikationsformen auch. Der
Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Horst
Hippler, hat die Sicht der Universitäten noch einmal
klar und deutlich auf den Punkt gebracht: In acht Jahren stiegen die Erwerbsausgaben der Bibliotheken um
38 Prozent, die für elektronische Publikationen um
325 Prozent. Diese Preissteigerungen setzten, so
Hippler, allein die drei größten Verlage in Umsatzrenditen von heute 38 Prozent um. Er macht dafür die
„zum Teil marktbeherrschende Stellung“ der großen
Verlage verantwortlich.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist aber niemandem zu vermitteln, warum eine
Verlagsleistung, die gerade in den Natur- und Technikwissenschaften zumeist vor allem auf dem Marketing
besteht, in derartiger Höhe vergütet werden soll. Zudem geben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
im herkömmlichen Publikationsmodell in der Regel die
Rechte an ihren Texten an die Verlage ab.
Es ist an der Zeit, den wissenschaftlichen Autorinnen und Autoren die Verfügungsmacht über ihr Schaffen und die Möglichkeit ihrer professionellen Informationsbeschaffung wieder in die eigenen Hände zu
legen. Die Rolle der Verlage ändert sich und wird stärker eine Dienstleistungsfunktion ausfüllen. Verschwinden werden die Verlage trotz allen Gejammers dadurch
nicht. Sie leben bereits jetzt gut von Open-Access-Publikationen.
Es gibt keinen Grund, mit der Umsetzung einer konsistenten Open-Access-Strategie zu warten. Deutschland hinkt dabei ohnehin anderen Wissenschaftsnationen hinterher, die längst viel weiter sind. In den USA
ist eine Open-Access-Publikation Teil der Förderbedingungen der großen staatlichen Drittmittelgeber.
Und auch die Europäische Union wird eine freie Publikation zum Bestandteil des kommenden Forschungsrahmenprogrammes „Horizont 2020“ machen. Unsere
Fraktion hat diese Dynamik wie jetzt auch die Kolleginnen und Kollegen der SPD zum Vorbild genommen,
auch für die deutsche Forschungsförderung eine
Open-Access-Publikation Schritt für Schritt verbindlich zu gestalten. Dabei ist auch der Grüne Weg möglich, also die freie Zweitveröffentlichung. Voraussetzung dafür ist die Schaffung eines unabdingbaren
Zweitverwertungsrechts im Urheberrechtsgesetz. Dieses gibt den Autorinnen und Autoren die Möglichkeit,
über ihr Werk auch nach einer Übertragung der Nutzungsrechte an einen Verlag frei zu verfügen. Die Koalition hat nun kurz vor Ende der Wahlperiode einen
aus unserer Sicht unzureichenden Vorschlag vorgelegt.
Die Vorschläge der Opposition scheinen uns und auch
den Wissenschafts- und Gedächtnisorganisationen
hier deutlich tauglicher.
Natürlich gibt es auch Unterschiede: Die Linke hält
eine Embargofrist, die den Verlagen die Exklusivität
der Publikation sichert, von sechs Monaten statt zwölf
- wie bei der SPD - für ausreichend. Zudem wollen
wir eine formatgleiche Zweitveröffentlichung ermöglichen.
Dem Antrag fehlt auch die notwendige Unterstützung beim Aufbau der IT-Infrastrukturen, die für eine
breite Durchsetzung von Open Access notwendig sind.
Die Linke hat hier ein eigenes Förderprogramm des
Bundes vorgeschlagen, das etwa bei einer Fortführung
der derzeitigen Entflechtungsmittel geschaffen werden
könnte.
Durch den vorliegenden SPD-Antrag haben wir
eine gute Gelegenheit, vor Ende der Legislatur einen
Blick darauf zu werfen, wie weit die Regierung eigentlich bei der Unterstützung von Open Access und wissenschaftsadäquaten Regelungen im Urheberrecht gekommen ist. Das ist nämlich ein ziemlich trauriges
Kapitel.
Lassen Sie mich vorausschicken, dass die Förderung von Open-Access-Publikationen im Wissenschaftsbereich für uns ein sehr wichtiges Thema ist.
Wir haben dazu bereits 2011 einen sehr umfassenden
Antrag in den Bundestag eingebracht, der die verschiedenen Aspekte der Open-Access-Diskussion aufgreift. Wir waren maßgeblich daran beteiligt, dass das
Thema Open Access auch im Rahmen der InternetEnquete intensiv bearbeitet wurde. Die Empfehlungen
dazu wurden von allen Abgeordneten und Experten
einvernehmlich beschlossen und sollten vom Deutschen Bundestag in der nächsten Legislatur zügig aufgegriffen werden. Dies ist schon notwendig, um nicht
den Anschluss an internationale Entwicklungen in der
Scientific Community zu verlieren. Die große Bedeutung des freien Zugangs zu publizierten Ergebnissen
aus öffentlich geförderter Forschung ist inzwischen
unbestritten und muss hier nicht noch einmal erläutert
werden. Die Kernforderungen des SPD-Antrages stimmen mit den Enquete-Empfehlungen und den Vorschlägen aus unserem grünen Antrag weitgehend überein,
was erfreulich ist - auch wenn ich mir zu den
Embargofristen bei der gesetzlichen Regelung eines
unabdingbaren Zweitveröffentlichungsrechts klarere
Aussagen gewünscht hätte.
Werfen wir aber jetzt mal einen Blick auf die traurige Gestaltungsbrache auf der Seite der Regierung:
Wenn es nach dem schwarz-gelben Koalitionsvertrag
ginge, müsste der Bundestag in diesem Monat eigentlich endlich das „Dritte Gesetz zur Regelung des
Urheberrechts in der Informationsgesellschaft“ verabschieden. Das war nämlich für diese Legislatur angekündigt. Doch aus diesem „dritten Korb“ mit
Schrankenregelungen zugunsten von Bildung und Wissenschaft ist bekanntlich leider nichts geworden, weil
die Koalitionäre sich nicht einigen konnten.
Als einzige kleine Notmaßnahme hat es jetzt nur zu
einem Gesetzentwurf für ein unabdingbares Zweitveröffentlichungsrecht für wissenschaftliche Autorinnen
und Autoren gereicht. Ohne eine entsprechende Regelung würde das deutsche nationale Recht dem OpenAccess-Publizieren entgegenstehen. Das wäre schon
ziemlich peinlich, wenn man bedenkt, dass die Bundesregierung gerade nach Brüssel rapportiert hat, dass
sie dem freien Zugang zu wissenschaftlichen Informationen eine hohe Bedeutung beimisst und die EUKommission plant, Open Access zu einer ihrer Förderbedingungen im neuen Programm Horizont 2020 zu
machen. Aber leider springt die Bundesregierung
selbst bei diesem kleinen überfälligen Schritt zu kurz:
Statt der geforderten Rechtssicherheit will die Bundesregierung nun zweierlei Recht beim wissenschaftlichen
Publizieren schaffen. Wer nicht aus einer außeruniversitären Forschungseinrichtung oder einer ProjektforZu Protokoll gegebene Reden
schungsförderung heraus publiziert, sondern aus seiner normalen Arbeit an der Universität, soll vom
Zweitveröffentlichungsrecht explizit ausgeschlossen
werden. Das ist natürlich Unsinn und wird von der
Allianz der Wissenschaftsorganisationen zu Recht kritisiert, genauso wie die vorgesehenen Embargofristen,
die fehlende Regelung zur Formatgleichheit und zur
Einbeziehung von Sammlungen.
Liebe Kollegen von der Koalition, da waren wir in
der Internet-Enquete doch schon gemeinsam weiter.
Auch mit dem Regelungsvorschlag des Bundesrates
gibt es doch eine brauchbare Vorlage. Geben Sie sich
bitte nicht mit dieser Open-Access-Alibivorlage der
Regierung zufrieden! Und lassen Sie um Gottes Willen
nicht zu, dass Ihre Rechtspolitiker noch weitere wissenschaftsfremde Verschlimmbesserungen hinzufügen!
Ich würde mich gerne am kommenden Mittwoch im
Wissenschaftsausschuss einmal positiv von den Koalitionsvertreterinnen und -vertretern überraschen lassen. Dann würde ich Sie vielleicht doch noch in guter
Erinnerung behalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13701 die Ablehnung des Antrags der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/12300. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 44 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Silvia Schmidt ({1}), Dr. Ernst
Dieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Teilhabe ermöglichen - Forschung und Entwicklung von Technologien und Design für
Alle intensivieren
- Drucksachen 17/13085, 17/13702 Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg ({2})
Dr. Martin Neumann ({3})
Kai Gehring
Die Reden gehen zu Protokoll.
Heute debattieren wir über das „Design für Alle“
und die Chancen, die es allen Menschen bietet, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wir sind uns darin
einig, dass wir eine inklusive Gesellschaft sein wollen,
dass wir diese fördern wollen. Alle Menschen, ob mit
oder ohne Behinderung, sind wichtig. Unser Ziel ist es,
eine barrierefreie Gesellschaft in allen Lebensbereichen zu gestalten. Es soll jedem möglich sein, ein
selbstbestimmtes und eigenständiges Leben zu führen.
Das „Design für Alle“ ist ein wichtiger Baustein dieser Freiheit. Das „Design für Alle“ vereinfacht das
Leben aller Menschen, indem es Barrieren für Menschen mit Behinderung vermeidet, aber auch die Bedürfnisse verschiedener Altersgruppen und Kulturkreise berücksichtigt.
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Wir haben uns damit dazu verpflichtet,
geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit Menschen
mit Behinderungen umfassend an der Gesellschaft teilhaben können. Zur Umsetzung der Konvention wurde
vor zwei Jahren der nationale Aktionsplan beschlossen. Dieser beinhaltet zwölf Handlungsfelder und sieben Querschnittsthemen für einen Zeitraum von zehn
Jahren. Er dient dazu, die Konvention Schritt für
Schritt umzusetzen. Unter dem Begriff der Barrierefreiheit hat das Thema „Design für Alle“ Berücksichtigung gefunden. Die Kollegen der SPD lassen im vorliegenden Antrag und auch in jeder Diskussion zu
diesem Thema unerwähnt, dass dieser Aktionsplan
existiert, dessen zentraler Aspekt das „Design für
Alle“ ist.
Auch der Koalitionsvertrag beschäftigt sich mit dieser Frage. Wir haben gezeigt, dass uns dieses Anliegen
besonders wichtig ist. Die christlich-liberale Koalition
hat sich zur Förderung der Barrierefreiheit und des
Designs für alle bekannt. Wir haben daher zu Beginn
der Legislatur vereinbart, Vorhaben in den Bereichen
Bildung, Ausbildung und Beruf, Verkehr und Tourismus, Medien und Kommunikationstechnik bis hin zum
Städtebau zu befördern: „Wir treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am
gesellschaftlichen Leben ein. Unser Ziel ist, die Rahmenbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen positiv zu gestalten. Voraussetzung hierfür ist
unter anderem die Barrierefreiheit in allen Bereichen
von Schule über Ausbildung bis zum Beruf sowie von
Verkehr über Medien und Kommunikationstechnik bis
hin zum Städtebau. Politische Entscheidungen, die
Menschen mit Behinderungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich an den Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen
messen lassen. Deshalb werden wir einen Aktionsplan
zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte
von Menschen mit Behinderungen entwickeln.“ Der
Bund betont also erkennbar die Bedeutung behinderungskompensierender Technologien und der Umsetzung des universellen Designs in die Lebenswelt.
Die Oppositionskollegen fordern nun eine nationale
Strategie zur Forschung und Entwicklung von Technologien und des „Designs für Alle“. Dafür ist zunächst
eine Bestimmung des Begriffs entscheidend. „Design
für Alle“ ist vor allem etwas, das nicht erklärt, nicht
definiert, nicht gemessen und nicht standardisiert werden kann. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich,
Marcus Weinberg ({0})
ein fertiges Endprodukt zu präsentieren; denn das universelle Design charakterisiert einen facettenreichen
Prozess, der durch spezifische Ausgangsvoraussetzungen gekennzeichnet ist.
Der nicht eng begrenzte Begriff des „Designs für
Alle“ führt deshalb dazu, dass laufende Prozesse nicht
ohne Weiteres in bestimmte Regularien gepresst werden können, da es äußerst schwierig ist, Forschungsund Entwicklungsaufgaben eindeutig abzugrenzen.
Dies müsste jedoch einer, wie von der SPD in ihrem
Antrag gefordert, nationalen Strategie zur Forschung
und Entwicklung zugrunde liegen. Auch die geforderte
Einrichtung einer neuen öffentlich geförderten Agentur, die bestehende Forschungsansätze bündelt, Initiativen bündelt und mit den bestehenden Akteuren weiterentwickelt, ist daher wenig sinnvoll.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB, interpretiert das universelle
Design als singuläre Forschungsanstrengungen, die
dezentral in der Industrie, in Forschungseinrichtungen
und an Hochschulen durchgeführt werden, an Orten,
an denen die Kompetenzen vorhanden sind. Diese Interpretation überzeugt angesichts der Definition und
der bereits dargestellten Prinzipien des „Designs für
Alle“. Die Förderanstrengungen, die bisher existierten, erfüllen also diese Interpretation und werden damit dem Facettenreichtum und der Bedeutung als des
„Designs für Alle“ als Querschnittsaufgabe gerecht.
Die Forderung der SPD, Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu verstärken, ist nicht haltbar.
Behinderungskompensierende Technologien begrüße
ich, und ich kann auch die Forderung nach einem Konzept des universellen Designs nachvollziehen, jedoch
ist der Bund bei den Forschungsvorhaben und Projekten in allen Ressorts bereits engagiert und aktiv tätig.
So fördert er beispielsweise Modellvorhaben und Projekte wie das INCOBS, Informationsportal Computerhilfsmittel für Blinde und Sehbehinderte, oder die
Datenbank REHADAT, die zum Ziel haben, den Hilfsmittelmarkt transparent darzustellen. Diese Hilfswerkzeuge sind nützlich, um schwerbehinderte Menschen
ins Arbeitsleben zu integrieren.
In den Rahmenprogrammen „IKT 2020“ und „Gesundheitsforschung“ sind beim BMBF mehrere Förderschwerpunkte angelegt, mit denen derzeit in
Projekte investiert wird, die Technologien und Forschungsvorhaben aufgreifen, die zur Kompensation
von Behinderungen geeignet sind. Darüber hinaus dienen diese als Grundlage, um behinderungskompensierende Technologien zu entwickeln. Zu diesen Rahmenprogrammen zählen 130 Teilprojekte mit dem Bezug zu
behinderungskompensierenden Technologien.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat darüber hinaus im Jahr 2011 eine Studie mit dem Thema „Impulse für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung
durch Orientierung von Unternehmen und Wirtschaftspolitik am Konzept für Design für Alle“ veröffentlicht,
die die wirtschaftlichen Vorteile für Unternehmen
deutlich macht, die sich am Konzept des universellen
Designs orientieren. Regelmäßig finden Konferenzen
statt, die die Ergebnisse der Studie verbreiten und Entscheidungsträger in der Wirtschaft für dieses Thema
sensibilisiert.
Diese Beispiele zeigen - ich hoffe, ich konnte das
veranschaulichen -, dass der Bund nicht untätig ist.
Was heute noch einmal deutlich wird: Das Thema
geht uns alle an; es ist uns wichtig und lässt niemanden unberührt. - Der Antrag der SPD stellt allerdings
bei der Frage der Umsetzung des „Designs für Alle“
keine konstruktive Erörterungsgrundlage dar. Wir
streben weiterhin gemeinsam die inklusive Gesellschaft an und setzen uns zunehmend für das immer
wichtiger werdende Ziel ein, die Lebensumwelt barrierefrei zu gestalten. Der hier zu beratende Antrag ist
nicht ausschließlich geeignet, dieses Vorhaben in die
Tat umzusetzen. Es ist wahrscheinlich noch ein nicht
einfacher Weg zu einer universell designten Lebenswelt; dennoch werden wir diesen weiterhin konsequent
begleiten.
Barrieren prägen unseren Alltag. Für die meisten
Menschen ist es kein Problem, diese zu umgehen. Für
Menschen mit Behinderung, aber auch für alte oder
psychisch kranke Menschen stellen Barrieren oft unüberwindbare Hindernisse dar. Sie schließen diese
Menschen vom Alltag und damit von Teilhabe aus. Die
einzige Chance für sie, eigenständig teilhaben zu können, besteht oft darin, sie mit technischen Hilfsmitteln
auszustatten, die ihre Einschränkung kompensieren,
oder Produkte, Bauten und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie barrierefrei nutzbar sind. Genau an
diesen Punkten setzt „Technologien und Design für
Alle“ an.
Behinderungskompensierende Technologien besitzen im Rahmen der Inklusionsdebatte einen wichtigen
Stellenwert. Hinter diesem sperrigen Begriff verbergen
sich alle Technologien, durch die individuelle Fähigkeiten unterstützt werden, damit für Menschen mit
Behinderung möglichst geringe Barrieren für ihre
Teilhabe entstehen.
Das Büro für Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages hat vor vier Jahren einen Bericht
zu den Chancen des Einsatzes dieser Technologien
vorgelegt. Dabei stand im Mittelpunkt die Frage, wie
diese Technologien entwickelt werden können und
warum die Forschung zu diesen Technologien in
Deutschland geringer ausgeprägt ist als in anderen
Ländern. Dabei sind sicher historische Entwicklungen
in Deutschland zu berücksichtigen. Das darf aber
nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass in anderen Ländern die Entwicklung von behinderungskompensierenden Technologien durch zahlreiche positive
Rahmenbedingungen gefördert wird. Der TAB-Bericht
ist seinerzeit zu dem Schluss gekommen, dass strukturierte Forschung und Forschungsförderung in
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland nicht in dem Ausmaß vorhanden sind wie
in anderen Nationen.
Ein Erfahrungsaustausch, wie Technologien für
Menschen mit Behinderung entwickelt und weiterentwickelt werden könnten, ist nicht gewährleistet. Dabei
ist dieses Thema nicht nur im Rahmen der Inklusionsdebatte von herausragender Bedeutung. Infolge des
demografischen Wandels haben immer mehr ältere
Menschen in Deutschland einen immer größer werdenden Bedarf an Technologien und Dienstleistungen, die
ihnen ermöglichen, ihren Alltag barrierefrei zu bewältigen.
Unser Antrag zielt darauf ab, den Bereich der behinderungskompensierenden Technologien mit dem
Konzept des Designs für alle zu verbinden. Design für
alle ist die Gestaltung von Produkten, Umfeldern, Programmen und Dienstleistungen in der Weise, dass sie
von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine
Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden
können. Sie ermöglichen einen unkomplizierteren Einsatz von behinderungskompensierenden Technologien
auf dieser Grundlage. „Technologien und Design für
Alle“ sollen nach unserer Auffassung dabei Leitprinzipien einer Strategie für Forschung und Entwicklung
entsprechender Produkte, Bauten und Dienstleistungen sein. Wir wollen, dass bei der Konstruktion schon
mitgedacht wird, dass die Produkte den Prinzipien von
„Technologien und Design für Alle“ entspricht, also
barrierefrei nutzbar sind.
Drei Aspekte der Positionierung der SPD möchte
ich dabei besonders beleuchten:
Erstens geht es in unserem Antrag um den Bereich
der Forschungsförderung. Es ist unbestritten, dass es
seit Jahren etliche im Haushalt finanzierte Förderungsvorhaben gibt. Noch nicht ausreichend gewährleistet ist, wie diese bestehenden Ansätze zusammengeführt und akzentuiert werden könnten, um ihnen einen
höheren Stellenwert und damit auch eine größere
Verbreitung zu geben. Aus diesem Grund fordern wir
die Entwicklung einer nationalen Strategie für „Technologien und Design für Alle“, an der alle relevanten
Akteure aus Forschung und Entwicklung sowie der
Behindertenverbände beteiligt werden. Diese Strategie
könnte Teil eines neuen, klarer und zielorientierteren
Nationalen Aktionsplans zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention werden. Die Forschungsförderung wollen wir durch eine öffentlich geförderte
Agentur koordinieren. Das entspricht auch den Überlegungen vieler Forscherinnen und Forscher in diesem
Bereich, die wir in den letzten Monaten dazu sprechen
konnten.
Zweitens ist es natürlich notwendig, Vorgaben und
Leitlinien für die Produktion und Konstruktion zu entwickeln, die sowohl von Forschungseinrichtungen wie
auch der privaten Wirtschaft angewendet werden können. Hier geht es wiederum um einen breiten Erfahrungsaustausch. Auch vonseiten der Wirtschaft gibt es
hieran ein großes Interesse, um eigene und öffentliche
Forschungsergebnisse zu bündeln und zu strukturieren.
Drittens sollte „Technologien und Design für Alle“
fester Bestandteil bei entsprechenden Ausbildungscurricula werden. Nur wenn Ingenieure, Techniker, Konstrukteure, Informatiker usw. Kenntnis davon haben,
welchen Leitprinzipien „Technologien und Design für
Alle“ folgt, können sie sie auch in der Entwicklung und
Konstruktion anwenden. Deshalb ist die Aus- und
Weiterbildung der entsprechenden Berufsgruppen eine
zentrale Größe für behinderungskompensierende
Technologien. Beispielsweise sind für die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz die Informations- und Kommunikationstechnologien von zentraler Bedeutung. Zurzeit
behandeln in Deutschland angehende Informatikerinnen und Informatiker das Thema Barrierefreiheit jedoch in der Regel während ihres gesamten Studiums
nicht und schon gar nicht verpflichtend. Ähnliche Beispiele lassen sich für viele andere Disziplinen finden.
Umfassende Barrierefreiheit und „Technologien
und Design für Alle“ bedingen einander. Wir wollen
mit unserem Antrag einen Anstoß liefern, diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit verleihen und es ermöglichen, über Inklusion nicht immer wieder nur zu reden, sondern endlich konkret zu handeln. Von diesem
Anspruch scheint die noch amtierende Bundesregierung nur leider immer noch weit entfernt zu sein.
Unsere Gesellschaft besteht aus lauter verschiedenen Menschen, manche mit leicht erkennbarer Behinderung, andere mit Beeinträchtigungen, die nicht auf
den ersten Blick zu sehen sind; alle mit den unterschiedlichsten Eigenschaften, die ihnen das Leben
leichter oder schwerer machen. Unsere Aufgabe als
Politiker ist es, dafür zu sorgen, dass alle Menschen
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
In dem Bericht zu „Chancen und Perspektiven
behinderungskompensierender Technologien am Arbeitsplatz“ beschreibt das Büro für Technikfolgenabschätzung, welche gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe hier vor uns liegt im Hinblick auf die
Beteiligung am Arbeitsprozess und im Arbeitsleben.
Im täglichen Leben hat sich in den letzten Jahren
viel verändert. Das Stichwort heißt „Barrierefreiheit“,
man könnte das vielleicht als den Vorläufer unseres
heutigen Themas „Design für Alle“ bezeichnen. Rampen und schiefe Ebenen sorgen dafür, dass Menschen
mit Gehhilfen oder mit Rollstuhl Gebäude betreten und
verlassen können. Das Vermeiden von Schwellen,
Stufen und Absätzen dient demselben Zweck. Sich
selbst öffnende Türen und Fahrstühle mit erreichbaren
Bedienfeldern, mit großer Schrift, mit für Blinde lesbaren Schriftzügen und akustischen Signalen sind weitere
Beispiele. Es ist also möglich, vielfältige mögliche Beeinträchtigungen im täglichen Leben zu berücksichtigen. Viele Produkte und Dienstleistungen können so
gestaltet werden, dass sie weitestgehend von jederZu Protokoll gegebene Reden
mann benutzt werden können. Die Notwendigkeit für
ein spezielles Design sehe ich eher nicht.
Wenn das Konzept „Design für Alle“ eine Weiterentwicklung des Prinzips der Barrierefreiheit darstellt,
dann ist es Teil eines Gestaltungsprozesses mit dem
Ziel, die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit möglichst für
alle Menschen zu gewährleisten. Das bedeutet, dass
die gebaute Umwelt, Produkte und Dienstleistungen
immer konsequenter so gestaltet sein sollen, dass sie
sicher, gesund, funktional, leicht verständlich, ästhetisch anspruchsvoll und auch nachhaltig sind. Sie sollen die menschliche Vielfalt berücksichtigen und sich
nicht diskriminierend auswirken. Daraus ergibt sich
nach und nach ein Paradigmenwechsels weg vom Fürsorgeprinzip, hin zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe auch der Menschen mit Einschränkungen, Beeinträchtigungen oder Behinderungen.
Eine wichtige Voraussetzung für mehr Selbstbestimmung ist die möglichst dauerhafte Teilhabe am
Arbeitsleben. Das bedeutet auch für Menschen mit
Behinderung weit mehr als nur finanzielle Unabhängigkeit. In diesem Bereich ist noch viel zu tun; hier gibt
es zwischen Menschen mit und ohne Behinderung noch
erhebliche Unterschiede.
Eine inklusive Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen, muss sich daher auch der Aufgabe stellen, Technologien zu entwickeln und einzusetzen, die bestimmte
Behinderungen kompensieren können. Es geht um die
Frage: Wie geht ein Mensch mit einer oder mehreren
Behinderungen mit dem von mir entwickelten Produkt
um, und ist es für „multiple use“ geeignet? Das ist
wichtig, aber das erreichen wir nicht mit mehr Bürokratie, sondern auf dem Weg, den wir längst beschritten haben.
„Design für Alle“ soll überall als Thema präsent
sein. Es soll als Führungsaufgabe in allen Bundesministerien verankert werden. Es soll auch in allen
Forschungs- und Entwicklungsstrukturen berücksichtigt werden. Es soll auf allen Ebenen ins Bewusstsein
dringen und üblich werden.
Eine eigene Förderlinie, über die bestehenden Instrumente hinaus, halten wir demgegenüber eher für
kontraproduktiv.
Die Linke wird dem Antrag zustimmen, denn er geht
in die gleiche Richtung wie viele parlamentarische Initiativen meiner Fraktion. Und er ist nötig und hilfreich: vier Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention als innerstattliches Recht in
Deutschland und vier Jahre nach Vorlage des Berichts
„Chancen und Perspektiven behinderungskompensierender Technologien am Arbeitsplatz“, Bundestagsdrucksache 16/13860, vom Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, TAB.
Vergangen sind vier Jahre, in denen zwar viel über die
UN-Behindertenrechtskonvention geredet wurde, aber
sich kaum etwas im wirklichen Leben von Menschen
mit Behinderungen zum Positiven veränderte. Vier
Jahre brauchte es, um das Unwort „Inklusion“ - immerhin gibt es dieses Wort in der „amtlichen“ deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention nicht - zu einem Modewort zu entwickeln.
Heutzutage vergeht kaum ein Tag, an dem nicht wichtige oder sich wichtig nehmende Politikerinnen und
Politiker über „Inklusion“ reden, ohne zu wissen oder
zu begreifen, was damit gemeint ist, geschweige denn,
sich ernsthaft für eine inklusive Gesellschaft einzusetzen. Denn: Hätten sie es verstanden, wären wir bei der
Entwicklung und Herstellung von Produkten und
Dienstleistungen, die dem Konzept des universellen
Designs entsprächen, schon viel weiter.
Deswegen ärgern mich - in der Beschlussempfehlung auf Bundestagsdrucksache 17/13702 für alle
nachlesbar - die Ablehnung des Antrags durch CDU/
CSU und FDP und die dafür herangezogenen Begründungen ebenso wie die Stimmenthaltung der Grünen.
Hilfreicher wäre gewesen, mit Änderungsvorschlägen
den Antrag zu verbessern. Dafür schien aber Wille und
Geist zu fehlen.
Der Antrag fordert dazu auf, im Rahmen einer nationalen Strategie Leitlinien festzulegen und Barrierefreiheit zum festen Bestandteil auch von Berufsausbildung und Hochschulstudium zu machen. Dies hält die
Fraktion Die Linke für sehr wichtig. Ergänzen möchte
ich: Es sollte auch zum Grundlagenstudium für jede
Politikerin und für jeden Politiker gehören. Notwendig
ist auch, Menschen mit Behinderungen und ihren Organisationen wesentlich mehr Mitsprache bei Technologieförderungen einzuräumen. Sie sind die Experten
in eigener Sache und sie haben auch nach der UN-Behindertenrechtskonvention, Art. 4, einen Anspruch darauf. Natürlich geht es nicht nur um ein „paar Behinderte“; es geht um Ältere, um Schwangere, um Kranke,
um Menschen mit kleinen Kindern etc., um alle, die im
Alltag oftmals auf ganz einfache Probleme stoßen.
Und es schafft mehr Komfort für alle.
Zu den inhaltlichen Aspekten des Antrags möchte
ich mich hier nicht noch einmal ausführlich äußern,
sondern ich möchte auf meine Rede in der ersten Lesung am 18. April 2013 verweisen. Diese und vieles
Weitere dazu finden Sie auf meiner Homepage
www.ilja-seifert.de.
Barrierefreiheit und „Design für Alle“ sind kein
neues Thema. Bereits am 15. August 1991 hatte ich
mich dazu in einer für mich eigenen Art, nämlich mit
einem Gedicht geäußert, welches ich Ihnen hiermit
zum Abschluss mit auf den Weg geben möchte:
Die Alpen sind
Nicht für mich gefaltet. Berge
Verweigern
Dem Rollstuhl
Den Weg. Aufwärts
Nicht anders
Als abwärts. - Trotzdem
War ich da.
Zu Protokoll gegebene Reden
http://www.ilja-seifert.de
Venedig ist
Nicht für mich gebaut. Kanäle
Tragen
Den Rollstuhl
Nicht. Und viele Brücken
Sind stufig. - Dennoch
War ich da.
Freunde
Traf ich und
Weniger
Erfreute. Die Welt ist
Nicht eingestellt
Auf mich, auf
Meine Lebensweise. - Aber
Ich
bin
da!
Damit das für die Entwicklung unserer Gesellschaft
zentrale Ziel der Inklusion auch durch technischen
Fortschritt befördert wird, bedarf es einer bewussten
forschungs- und wissenschaftspolitischen Schwerpunktsetzung in diesem Bereich. Im Zuge dessen müssen Forschung, Entwicklung und Wissenstransfer bei
behinderungskompensierenden Technologien verstärkt
werden.
Technik kann und muss dazu beitragen, behindernde Faktoren zu beseitigen oder zumindest abzumildern. Technologien und Prozesse müssen so verändert werden, dass sie unterschiedlichen Fähigkeiten
Rechnung tragen und allen Menschen zugänglich sind.
Inklusion ist in diesem Sinne ein wichtiger Anwendungsbereich innovativer Forschung und Entwicklung. Ihre Forschungsergebnisse und daraus resultierende Innovationen können das Leben vieler
Menschen erleichtern und Teilhabe besser ermöglichen. Ein praktisches Beispiel sind spezielle Smartphone-Funktionen, die es stark kommunikationseingeschränkten Menschen ermöglichen, intensiver und
zielgerichteter mit personellen Assistenzen zu kommunizieren. Auch die Sicherheit der betroffenen Menschen kann durch neue Notruffunktionen verbessert
werden. Durch vernetzte und interdisziplinäre Forschungsansätze gilt es, gerade auch die Forschung
über die Zusammenarbeit mit personellen Assistenzen
zu verstärken und bei der weiteren technologischen
Entwicklung von Anfang an mitzudenken. Forschung
und Entwicklung in diesem Bereich nützen der gesamten Gesellschaft. Von ihr profitieren neben Menschen
mit Behinderungen auch eine wachsende Zahl von
Hochbetagten.
Ich begrüße am vorliegenden Antrag der SPD, dass
er sich auf den von unserer Fraktion in der letzten Legislatur initiierten Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung „Chancen und Perspektiven behinderungskompensierender Technologien am Arbeitsplatz“
bezieht und einige darin enthaltene Aspekte aufgreift.
Der Bericht hat einen Beitrag zum Perspektivwechsel
von der Behindertenfürsorge zur echten Inklusion geleistet. Allerdings betrachtet die SPD das Thema leider
nicht in der auch im Bericht dargestellten Bandbreite.
Umfassende Teilhabe setzt aus unserer Sicht einen integrativen technologiepolitischen Ansatz voraus: Neben den in dem Antrag genannten Konzepten von
„Technologie und Design für alle“, die sich auf die Beseitigung von Beschränkungen in Umwelt und Umgebung beziehen, müssen auch die bereits erwähnten assistiven Technologien einbezogen und integriert
betrachtet werden.
Der Antrag fordert die Bundesregierung unter anderem auf, eine nationale Strategie zu entwickeln, Forschung zu intensivieren, das Thema als Querschnittsaufgabe voranzutreiben sowie es in der Ausbildung zu
verankern. Diese Forderungen gehen in die richtige
Richtung. Nicht benannt wird jedoch, welche Fragestellungen konkret angegangen werden sollen. So fehlt
zum Beispiel eine Forderung nach empirischer Bedarfserhebung, damit die Forschung nicht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigeht. Notwendig sind
vermehrte Bedarfsforschung und Anwendungsanalysen verbunden mit einer besseren Einbeziehung der
Anwenderinnen und Anwender.
Die Bundesregierung hat mit der Antwort auf unsere Kleine Anfrage „Forschung an behinderungskompensierenden Technologien am Arbeitsplatz“ gezeigt, dass sie ihrer Verantwortung für eine solche
koordinierte Bedarfserhebung nicht nachkommen will.
Die Identifikation von Implikationslücken wurde von
der Regierung zwar bereits 2011 angekündigt - ebenso
wie die Erarbeitung von Maßnahmen -, um den Transfer von der Modellphase in die Regelversorgung zu beschleunigen. Die Umsetzung dieser Ankündigungen ist
die Bundesregierung leider weitgehend schuldig geblieben. Auch die Situation von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt ist nicht hinreichend
empirisch erfasst. Deshalb ist eine Markt- und Potenzialanalyse kaum möglich. Wir halten es insofern für
sinnvoll, einen mehrdimensionalen Ansatz im Bereich
behinderungskompensierender Technologien zu verfolgen und das Thema nicht auf „Technologien und
Design für alle“ einzuengen.
Bei der Beratung des Themas im Bildungsausschuss
wurde kontrovers diskutiert, ob eine eigene Förderlinie für diesen Bereich tatsächlich der richtige Weg ist.
Denkbar und möglicherweise zielführender wäre es,
das Thema „behinderungskompensierende Technologien“ stärker in andere Förderlinien mit anwendungsorientierten Forschungsvorhaben zu integrieren. Eine
zu starke Einengung der Forschungsförderung würde
nämlich die Breite der Thematik verkennen, die von
der Zugänglichkeit im Bereich E-Learning bis hin zur
Berücksichtigung des „Designs für alle“ bei der Stadtplanung und im Bauordnungsrecht reicht.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland verpflichtet, die volle
Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen zu geZu Protokoll gegebene Reden
währleisten und eine umfassende Teilhabe zu ermöglichen. Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft
kommt es darauf an, die möglichst umfassende Teilhabe aller Menschen auch technologisch zu ermöglichen. Unser Ziel ist es deshalb, die Ansätze behinderungskompensierender Technologien zu integrieren
und bei Forschung, Entwicklung und Umsetzung umfassend mitzudenken.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13702, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/13085 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 14 und 15 auf:
ZP 14 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
Renate Künast, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine moderne und nachhaltige Verbraucherpolitik
- Drucksachen 17/12694, 17/13761 Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Dr. Erik Schweickert
Caren Lay
Nicole Maisch
ZP 15 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Willi Brase, Petra Crone, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Lage der Verbraucherinnen und Verbraucher
verbessern
- Drucksachen 17/12689, 17/13274 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Heil
Dr. Erik Schweickert
Caren Lay
Nicole Maisch
Die Reden gehen zu Protokoll.1)
1) Anlage 19
Wir kommen zur Abstimmung.
Zunächst Zusatzpunkt 14. Der Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/13761,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12694 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Linken und der Grünen bei Enthaltung der SPD.
Zusatzpunkt 15. Der Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/13274, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/12689
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken.
Tagesordnungspunkt 45 sowie Zusatzpunkt 16:
45 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wildtierhandel und -haltung in Deutschland
einschränken und so den Tier- und Arten-
schutz stärken
- Drucksache 17/13712 -
ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Stüber, Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Tier- und Artenschutz durch Beschränkung
des Wildtierhandels stärken
- Drucksache 17/13713 -
Die Reden gehen zu Protokoll.2)
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13712
sowie zu dem Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/13713. Die Fraktionen der SPD und des Bünd-
nisses 90/Die Grünen sowie die Fraktion Die Linke
wünschen jeweils Abstimmung in der Sache. Die Frak-
tionen der CDU/CSU und der FDP wünschen jeweils
Überweisung, und zwar federführend an den Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie
mitberatend an den Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz.
Wir stimmen nach ständiger Übung über die Anträge
auf Ausschussüberweisung zuerst ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Überweisungen sind
damit so beschlossen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktio-
nen. Deswegen stimmen wir heute noch nicht in der Sa-
che ab. Das ergibt sich ja automatisch.
2) Anlage 14
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Tagesordnungspunkt 46:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Gabriele Fograscher, Rainer Arnold,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck ({2}),
Cornelia Behm, Claudia Roth ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anerkennung der an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen als nationalsozialistisches Unrecht und
Gewährung eines symbolischen finanziellen
Anerkennungsbetrages für diese Opfergruppe
- Drucksache 17/13710 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({4})
Innenausschuss ({5})
Petitionsausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Federführung strittig
Die Reden gehen zu Protokoll.
Nach allgemeinem Völkerrecht wird ein Ausgleich
für Kriegsgefangenschaft ausschließlich durch Reparationsvereinbarungen auf der Ebene der beteiligten
Staaten geregelt. Nach umfangreichen Reparationsentnahmen aus der sowjetischen Besatzungszone hat
die ehemalige Sowjetunion durch eine Regierungserklärung vom 22. August 1953 gegenüber Deutschland
ausdrücklich auf weitere Reparationen verzichtet.
Nach Völkerrecht gilt dieser Verzicht auch für die Russische Föderation, die die ehemalige Sowjetunion fortsetzt, sowie die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und alle Staatsangehörigen dieser Staaten.
Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September
1990 zwischen beiden deutschen Staaten und den vier
Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, dem die der
KSZE angehörenden Staaten in der Charta von Paris
am 21. November 1990 zugestimmt haben, fanden die
äußeren Aspekte des deutschen Einigungsprozesses
ihre endgültige Erledigung. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag hatte abschließenden Charakter. Den Vertragspartnern sowie den zustimmenden KSZE-Staaten war
bewusst, dass es weitere ({0})vertragliche Regelungen über rechtliche Fragen im Zusammenhang mit
dem Zweiten Weltkrieg einschließlich der Reparationsfrage nicht geben werde.
Im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung wurden im Jahre 1993 Vereinbarungen zugunsten von NS-Opfern mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Republik Weißrussland, der Russischen
Föderation und der Ukraine, geschlossen. Die Bundesrepublik Deutschland stellte dabei Mittel in Höhe
von 1 Milliarde D-Mark den Stiftungen in Minsk, Moskau und Kiew zur Verfügung. Die Mittel waren für ehemals sowjetische Bürger bestimmt, die durch das nationalsozialistische Regime verfolgt wurden, dadurch
schwere Gesundheitsschäden erlitten und sich in einer
wirtschaftlichen Notlage befinden. Die Leistungsvoraussetzungen im Einzelnen wurden von den jeweiligen
Stiftungen bzw. den Regierungen festgelegt, einschließlich der Schwere des zugefügten Gesundheitsschadens und der gegenwärtigen Notlage.
Die Bundesrepublik Deutschland hatte auf die Mittelvergabe keinen Einfluss, die Verteilung geschah eigenverantwortlich seitens der Empfängerstaaten.
Bei den internationalen Verhandlungen im Jahr
2000, die der Errichtung der Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“, EVZ, unter Beteiligung
auch der Nachfolgestaaten der Sowjetunion vorausgingen, bestand Einigkeit, vormalige Kriegsgefangene
von den Leistungen der Stiftung ausdrücklich auszunehmen. Dem ist der deutsche Gesetzgeber in § 11
Abs. 3 des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, EVZStiftG, gefolgt.
Alle übrigen Zwangsarbeiter, die nicht den Status
von Kriegsgefangenen hatten, konnten unter den im
Gesetz genannten Bedingungen Leistungen aus den
Mitteln der Stiftung EVZ erhalten. Nach dem Willen
des Gesetzgebers sollen die Zahlungen für diesen Personenkreis abschließenden Charakter haben.
Nach Beendigung des Auszahlungsprogramms der
Stiftung EVZ wurden durch einen Beschluss des Kuratoriums und der Rechtsaufsicht Restmittel in Höhe von
40 Millionen Euro für humanitäre Maßnahmen zugunsten von NS-Opfern bereitgestellt. Die Programme
beinhalteten Kuraufenthalte, Augenoperationen und
andere medizinische Hilfen. Diese Programme standen auch ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen
offen. Diese Möglichkeit haben die genannten drei
Partnerorganisationen in Belarus, der Ukraine und
Russland in unterschiedlichem Umfang genutzt. Im
Rahmen weiterer Programme der Stiftung aus Mitteln
des Fonds „Erinnerung und Zukunft“ wurden einzelne
Projekte bewilligt, die eine Würdigung des Schicksals
der sowjetischen Kriegsgefangenen zum Gegenstand
hatten. Dies waren Begegnungsprogramme junger
Menschen mit Zeitzeugen oder bestimmte medizinische
Hilfsprojekte.
Die jetzt von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beabsichtigte Anerkennungsleistung ließ sich aus Gleichbehandlungsgründen nicht auf sowjetische Kriegsgefangene beschränken. Auch die Kriegsgefangenen
anderer Länder, zum Beispiel aus Polen, wurden äußerst schlecht behandelt und weisen eine hohe Sterblichkeitsrate auf. Umgekehrt war zudem nicht zuletzt
zu berücksichtigen, dass unrechtmäßig zugefügte Leiden auch deutschen Kriegsgefangenen widerfahren
sind und einseitige Regelungen nicht infrage kommen
sollten. Gerade die Sowjetunion hat im Übrigen in den
von ihr im Rahmen des Hitler-Stalin-Paktes 1939
überfallenen Gebieten Ostpolen, Finnland und im Baltikum Kriegsverbrechen begangen, zum Beispiel Ka31026
tyn, und dies bis zum Ende geleugnet, geschweige denn
Anerkennungen irgendwelcher Art geleistet.
Meine Fraktion lehnt deshalb den Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen ab, da, wenn überhaupt,
diese Frage nur einmal in einem internationalen Rahmen einer befriedigenden Lösung zugeführt werden
kann.
Fünfeinhalb Jahre ist es nun her. Seitdem beschäftigt
sich der Deutsche Bundestag mit dem Anliegen: Wie
können wir die an den ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen begangenen Verbrechen anerkennen? Und
ich möchte klar deutlich machen: Ich bedaure diese
lange Zeitspanne sehr. Denn diese Zeitspanne und die
Handlungsverweigerung der Koalitionsfraktionen haben enorme Auswirkungen auf die überlebenden Opfer
nationalsozialistischer Kriegsgefangenschaft. Denn
das Vergeuden der Zeit führt dazu, dass wir bald niemanden mehr haben, den wir entschädigen können.
Als der Verein Kontakte-Kontakty vor über fünf Jahren, also noch in der vergangenen Legislaturperiode,
seine Petition einreichte, war das Ziel, über 10 000
ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen eine symbolische finanzielle Anerkennung zu gewähren. Heute
leben nur noch circa 4 000 betroffene Opfer. Daher
müssen wir jetzt handeln; denn eines ist klar: Wir haben keine Zeit mehr. Ich fordere die Regierungsfraktionen auf, sich uns anzuschließen, damit wir den verbliebenen Opfern schnell helfen können.
Doch leider bleibt es mir verwehrt, nochmals direkt
im Plenum auf die Koalition einzuwirken. Unser Antrag wurde als fast letzter Punkt auf die Tagesordnung
gesetzt. Es zeichnet sich ein Muster ab. Denn wir als
SPD-Fraktion haben einiges unternommen, um mit der
Koalition ins Gespräch zu kommen. Diverse Berichterstattergespräche fanden statt. Bis auf die Union
zeigten alle Fraktionen Interesse an dem Thema. Die
Union war teils nicht einmal vertreten. Es fehlte uns
gänzlich die Möglichkeit, in einen fairen Diskussionsdialog einzusteigen. Sogar die FDP zeigte Verständnis
für das Anliegen, nur möchte man es sich nicht mit dem
Regierungspartner verscherzen, jedenfalls nicht bei
diesem Thema.
Dabei liegen die Fakten auf dem Tisch. Im Rahmen
des Petitionsverfahrens haben wir den Wissenschaftlichen Dienst mit verschiedenen Ausarbeitungen beauftragt. Die Ergebnisse sind klar. An den sowjetischen
Kriegsgefangenen wurde Völkermord begangen.
Es ist dokumentiert, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen unter dem NS-Regime ein Schicksal zu
erleiden hatten, das sie von allen anderen von
Deutschland im Zweiten Weltkrieg inhaftierten Kriegsgefangenen unterschied. Etwa 5 Millionen sowjetische
Militärangehörige wurden gefangen genommen,
3,2 Millionen von ihnen völkerrechtswidrig ermordet
oder durch die grausamen Bedingungen in den Gefangenenlagern getötet.
630 000 sowjetische Kriegsgefangene wurden zur
Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Nach
der jüdischen Opfergruppe sind die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen die zweitgrößte Opfergruppe des Nationalsozialismus. Unter KZ-ähnlichen
Bedingungen wurden sie millionenfach „durch Arbeit
vernichtet“ oder man hat sie verhungern lassen. Im
Gegensatz zu anderen alliierten Kriegsgefangenen gab
es bei sowjetischen Kriegsgefangenen einen klaren
Vernichtungswillen.
Sie waren rechtlos der rassistischen Ideologie des
NS-Regimes ausgesetzt. Sie galten - wie die zivilen
sowjetischen Zwangsarbeiter - dem NS-Regime als
„Untermenschen“. Der Schutzstatus des Kriegsgefangenen nach der Genfer Konvention, der ihnen ein Minimum an menschlichen Bedingungen garantiert hätte,
wurde den sowjetischen Kriegsgefangenen - im Gegensatz zu den Kriegsgefangenen aus den westalliierten Streitkräften - vom NS-Regime bewusst verwehrt.
Die Überlebenden sahen sich bei ihrer Rückkehr in
die Sowjetunion mit Vorwürfen der Kollaboration konfrontiert; viele erlebten erneute Verfolgung und Repression. Die Kriegsgefangenen, die die Verfolgung
und den unmenschlichen Einsatz überlebt haben, leiden bis heute unter den gesundheitlichen, sozialen und
moralischen Auswirkungen der genannten Verfolgung.
Dazu gehört auch, dass ihnen ein Status als Verfolgte
des NS-Regimes und eine Berücksichtigung in dem
System der Entschädigung von NS-Unrecht durch
Deutschland verwehrt blieb.
Bei der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und
Zukunft“ zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter gab es circa 20 000 Anträge auf Entschädigung, die alle abgelehnt werden mussten unter Hinweis auf § 11 Abs. 3 StiftG: „Kriegsgefangenschaft
begründet keine Leistungsberechtigung.“ Kriegsgefangene erhalten nach der Praxis der Bundesregierung
und der Bundesstiftung nur Leistungen, wenn sie in einem Konzentrationslager inhaftiert wurden. Die überlebt haben, wurden nach der Rückkehr in die Sowjetunion der Kollaboration verdächtigt. 13 Prozent
kamen in Lagerhaft; viele kamen in „Arbeitsbataillone“, wurden gesellschaftlich diskriminiert und erst
1995 vollständig rehabilitiert. Bis heute ist ihr Leben
von den Erfahrungen dieser Jahre überschattet.
Doch diese Informationsdichte, die wir nun haben,
war nicht die einzige Möglichkeit, sich über dieses
Thema zu informieren. An dieser Stelle möchte ich
mich ausdrücklich für die Arbeit des Vereins KontakteKontakty bedanken. Nicht nur, dass sie uns ihr Anliegen geäußert haben, nein, sie standen uns jahrelang
als Gesprächspartner zur Verfügung und brachten uns
dem Thema äußerst nah. Nicht zu vergessen ist auch
die Ausstellung „Russenlager“ - Erinnerungen sowjetischer Kriegsgefangener. Gerne hätte ich diese Ausstellung hier im Bundestag gesehen. Vielleicht hätte
eine anschauliche Darstellung der Einzelschicksale
geholfen, den Verweigerern die Augen zu öffnen.
Schaut man sich die Ausstellung an und liest die Briefe
Zu Protokoll gegebene Reden
der Betroffenen, kommt man nicht umher, die erlittenen
Schicksale zu würdigen.
Zudem möchte ich hier das enorme Engagement des
Vereins würdigen. Der Verein schafft es von Jahr zu
Jahr, Spenden zu sammeln, um dieses Geld den vergessenen sowjetischen Opfern des Nationalsozialismus
zukommen zu lassen. Dies ist nicht nur ein außerordentlicher Akt der Nächstenliebe. Der Verein leistet einen außerordentlichen Beitrag für die Völkerverständigung zwischen Deutschland und Russland und
ehemaligen Ländern der Sowjetunion. Nicht umsonst
erhielt er 2002 die Carl-von-Ossietzky-Medaille für
die Ost-West-Völkerverständigung.
Ich bewundere diesen Einsatz; denn dadurch erhalten die Opfer zumindest eine kleine Entschädigung und
sehen Deutschland aus einem anderen Blickwinkel eine Aufgabe, die eigentlich vom Deutschen Bundestag
übernommen werden müsste.
Ich erinnere auch an die vereinbarte Debatte am
30. Juni 2011 zum 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion. Dort sagte Wolfgang
Gerhart: „Wir müssen täglich ein Stück menschliches
Zusammenleben organisieren.“ Dazu ist nun Gelegenheit.
Ich bitte Sie noch einmal, Ihre Haltung zu überdenken. Nächste Woche werden wir in den Ausschüssen
darüber sprechen. Die Zeit drängt!
Das im Zweiten Weltkrieg verübte Unrecht sprengt
unsere Vorstellungkraft. Die menschenunwürdige Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener war nur eine
von vielen Menschenrechtsverletzungen, die sich die
Kriegsgegner gegenseitig antaten, und bis heute bedauern wir all ihre Opfer. Im Bewusstsein ihrer Verantwortung für das von Deutschen verursachte Unrecht
haben alle Bundesregierungen daher nach Kräften auf
Wiedergutmachung und Versöhnung hingewirkt. Die
Bundesregierung hat sich dabei stets bemüht, keine
einseitigen Lösungen zu finden, sondern stets mit den
Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zusammenzuarbeiten.
Ein Ausgleich für Kriegsgefangenschaft wird nach
allgemeinem Völkerrecht ausschließlich durch Reparationsvereinbarungen auf Ebene der beteiligten Staaten
geregelt. Am 22. August 1953 hat die ehemalige Sowjetunion in einer Regierungserklärung ausdrücklich auf
weitere Reparationszahlungen gegenüber Deutschland verzichtet, nachdem umfangreiche Reparationsentnahmen aus der sowjetischen Besatzungszone vollzogen wurden. Als völkerrechtlicher Rechtsnachfolger
gilt dies auch für die Russische Föderation sowie die
weiteren Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Keiner dieser Staaten hat bis heute weitere Ansprüche an die Bundesrepublik Deutschland geltend
gemacht.
Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. September 1990
wurde dieser abschließende Charakter noch einmal
bestätigt. Sämtliche Vertragspartner haben zugestimmt, dass es weitere vertragliche Regelungen über
rechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem Zweiten
Weltkrieg einschließlich der Reparationsfrage nicht
geben werde.
Um sämtliche Restzweifel aus dem Weg zu räumen
und möglicherweise nichtbeachtete Opfer auch entschädigen zu können, wurden im Jahre 1993 im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung und in Kooperation mit der Republik Weißrussland, der Russischen
Föderation und der Ukraine Stiftungen in Minsk,
Moskau und Kiew gegründet. Diesen wurde 1 Milliarde D-Mark zur Verfügung gestellt, um ehemalige
sowjetische Bürger entschädigen zu können, welche
durch die Verfolgung durch das nationalsozialistische
Regime schwere Gesundheitsschäden erlitten hatten
und sich in einer schweren wirtschaftlichen Lage befinden. Die Verteilung der Gelder unterlag hierbei
ausschließlich den Stiftungen bzw. den Regierungen
der Empfängerstaaten.
Am 2. August 2000 wurde zudem die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ von der damals
rot-grünen Bundesregierung und der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft ins Leben gerufen und
mit 10 Milliarden D-Mark ausgestattet, um ehemalige
Zwangsarbeiter des NS-Regimes zu entschädigen. Das
bisherige Rechtsverständnis wurde hierbei bestätigt,
und es war Konsens zwischen allen beteiligten Staaten,
Rechtsfolgen aus der Kriegsgefangenschaft angesichts
der Reparationsthematik grundsätzlich auszuschließen. Die einzige Ausnahme bildeten Kriegsgefangene,
welche sich in Konzentrationslagern befanden. Diese
Position entspricht dem Gegenteil dessen, was die
heutigen Antragsteller im Jahr 2000 umgesetzt haben.
Es wurden also sämtliche völkerrechtliche Vorgaben eingehalten und über viele Jahrzehnte zahlreiche
Zahlungen getätigt. In den meisten Fällen hat es dabei
den Staaten der betroffenen ehemaligen Gefangenen
selbst oblegen, diese Zahlungen angemessen zu verteilen. Diese bis ins Letzte zu rekonstruieren, ist für uns
heute nicht mehr möglich.
Die Linke fordert schon seit Jahren, den überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen Entschädigung zu
gewähren. Denn die Behandlung gefangener Rotarmisten gehört zu den größten Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
Rund 3 Millionen Angehörige der Roten Armee kamen in deutschen Lagern ums Leben. Sie sind erfroren,
verhungert, an Entkräftung gestorben. Wir wissen
schon längst, dass das nicht an fehlenden Transportkapazitäten lag. Die Wehrmacht hätte durchaus Nahrung, Unterkunft, Heizmaterial und Kleidung liefern
können, aber sie wollte nicht. Sie wollte die Gefangenen sterben lassen.
So sehr Die Linke eine Entschädigung befürwortet,
so sehr sind wir auch über den Zeitpunkt dieses AntraZu Protokoll gegebene Reden
ges von SPD und Grünen verwundert, unmittelbar vor
dem Ende der Legislaturperiode. Ich bin auch deswegen verwundert, weil die SPD noch vor wenigen Jahren, als sie in der Regierung war, eine Entschädigung
explizit abgelehnt hat.
Ich zitiere aus der Antwort der Bundesregierung auf
eine Kleine Anfrage der Linken aus dem Jahr 2006:
„Eine Entschädigung sowjetischer Kriegsgefangener
durch die Bundesrepublik Deutschland hat es ebensowenig gegeben wie eine Entschädigung deutscher
Kriegsgefangener durch die Sowjetunion oder deren
Nachfolgestaaten.“ ({0}). Die Rotarmisten sollten keine Entschädigung erhalten, weil
auch deutsche Kriegsgefangene „unrechtmäßig zugefügte Leiden“ erlitten hätten.
Verfasst wurde diese Begründung vom Finanzministerium, das damals in der Hand der SPD war, geführt
von Herrn Steinbrück. Was der damals hat aufschreiben lassen, strotzt von Zynismus, Gleichsetzung und
Verharmlosung von NS-Verbrechen. Er hat völlig ausgeblendet, dass es die Nazis waren, die entschieden
hatten, einen räuberischen Vernichtungskrieg zu führen und millionenfache Morde zu begehen.
Man kann nicht allen Ernstes die Leiden der deutschen Kriegsgefangenen, die es natürlich gegeben hat,
mit dem Schicksal der sowjetischen Gefangenen
gleichsetzen. Die 3 Millionen Rotarmisten starben
nicht aufgrund von vereinzeltem willkürlichen Verhalten ihres Aufsichtspersonals, auch nicht an logistischen Problemen, sondern ihr Tod war Ausdruck der
Absicht, das vermeintliche Untermenschenvolk systematisch zu dezimieren.
Schon 1984 hat der Historiker Rolf-Dieter Müller
festgehalten: Dass mit der Hungerpolitik gegenüber
der sowjetischen Zivilbevölkerung und den Kriegsgefangenen eine konkrete Vernichtungsabsicht verbunden gewesen ist, lässt sich zumindest für die politische
Führungsspitze des Dritten Reiches eindeutig feststellen.
Vielleicht haben die Kollegen von der SPD seit 2006
dazugelernt. Vielleicht legen sie es auch nur darauf an,
kurz vor Schluss der Legislaturperiode noch rasch einen Schauantrag einzubringen, den sie schnellstmöglich abhaken wollen. Dennoch: Für Die Linke ist klar,
dass wir jeden Ansatz mittragen, das Unrecht an NSOpfern so gut wie möglich zu entschädigen.
Allerdings ist der Antrag von SPD und Grünen von
Zögerlichkeit und Halbherzigkeit geprägt. Zum einen,
weil er die Vernichtungsabsicht, also die gewollte Ermordung von Millionen Gefangenen durch die Wehrmacht, verharmlosend auf ein „billigend in Kauf genommen“ reduziert. Zum anderen, weil der Antrag in
sich inkonsequent ist. Denn wenn man die Behandlung
der sowjetischen Kriegsgefangenen ausdrücklich als
NS-Unrecht anerkennt, dann muss man ihnen wenigstens die gleiche Entschädigung zugestehen wie den
zivilen Zwangsarbeitern, also 7 500 Euro. SPD und
Grüne wollen ihnen nur ein Drittel davon zugestehen,
und sie wollen ausdrücklich den Rechtsweg ausschließen, was wiederum der Willkür in der Entschädigungsbürokratie Tür und Tor öffnet.
Bei der NS-Opfer-Entschädigung sind lange genug
halbe Sachen gemacht worden. Notwendig ist es, das
Bundesentschädigungsgesetz wieder zu öffnen, um den
Überlebenden einen regulären Entschädigungsanspruch zuzugestehen.
Die Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee haben den größten Beitrag zur Niederwerfung des Faschismus in Europa geleistet. Sie verdienen auch aus
diesem Grund eine würdevolle Behandlung, und sie
haben ein Recht darauf, endlich Entschädigung für die
Verbrechen zu erhalten, die die Nazis an ihnen begangen haben. Ich schlage im Übrigen vor, auch die Angehörigen der Partisanenverbände und die Opfer der
sogenannten Bandenbekämpfung in eine Entschädigungsregelung einzubeziehen.
Der ab Juni 1941 begonnene Angriffskrieg gegen
die Sowjetunion war nach den eigenen Zielsetzungen
des NS-Regimes ein rassistisch begründeter Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen ein aus Sicht der
Nationalsozialisten „rassisch minderwertiges“ Volk
bzw. Völker. Die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen im Verlauf dieses Krieges folgte dieser Logik, indem man diese millionenfach verhungern ließ,
deportierte und beispielsweise auch zur Zwangsarbeit
einsetzte. Sowjetische Kriegsgefangene wurden meist
in sogenannten Russenlagern untergebracht. In diesen
lag eine besondere, durch die nationalsozialistische
Ideologie geprägte Verfolgung vor, die den Kriegsgefangenenstatus völlig in den Hintergrund treten ließ.
Die wissenschaftliche Forschung belegt, dass die Bedingungen für die Betroffenen, was Todesraten, Ernährung, gesundheitliche Versorgung etc. anbelangt,
ausdrücklich mit jenen in Konzentrationslagern vergleichbar sind. Die Verfolgungshandlung des NS-Regimes gründete sich klar auf eine rassistische Motivation, die sowjetische Kriegsgefangene in ihrer
Ideologie als sogenannte Untermenschen sah und sie
unmenschlich behandelte. Während westeuropäische
Kriegsgefangene grundsätzlich nach den Regeln der
Genfer Konvention behandelt wurden, galt dieser
Schutzstatus für sowjetische Kriegsgefangene ausdrücklich nicht, beispielsweise durch den historisch
nachgewiesenen Einsatz als Zwangsarbeiter, auch auf
„Bestellung“ der deutschen Industrie.
Von den schätzungsweise 4,5 bis 6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen starben bis 1945 etwa
60 Prozent. Unter Josef Stalin setzte sich für viele
überlebende Kriegsgefangene das Leid und Sterben
fort, da er diese nach der Befreiung unter dem Vorwurf
des Vaterlandsverrats oder der Spionage ins Arbeitslager schickte.
Erst 1995 ließ Boris Jelzin diese als Opfer des Stalinismus vollständig rehabilitieren. Schätzungsweise
Zu Protokoll gegebene Reden
Volker Beck ({0})
leben heute noch 4 000 ehemalige sowjetische Kriegsgefangene. Überwiegend leben diese bis heute ausgegrenzt und benachteiligt im Vergleich zu anderen
Kriegsveteranen, beispielsweise auch bei der Auszahlung von Renten.
Bis heute gelten sowjetische Kriegsgefangene, die
nach Deutschland deportiert und zur Zwangsarbeit
eingesetzt wurden, nicht als anerkannte Verfolgte des
NS-Regimes. Zudem gab es für diese Opfergruppe nie
einen gesetzlichen oder außergesetzlichen Anspruch
auf eine materielle Entschädigung, auch nicht in symbolischer Form. Auch in der deutschen Erinnerungskultur haben sie keinen ihrem Schicksal angemessenen
Platz. Das Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen ist
ein blinder Fleck in der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Von den Deutschen geschunden, von
Stalin diskriminiert, hatten sie nie eine kraftvolle
Lobby für ihre Rehabilitierung und Entschädigung.
Dem rassistisch motivierten Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion fielen mehrere Millionen sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. Dahinter stand ein
klarer Vernichtungswille der Deutschen, der gegenüber
den anderen Kriegsgefangenen nicht bestand. Deshalb
ist es die historische Verantwortung der Bundesrepublik, dieses Verbrechen anzuerkennen und den noch wenigen Überlebenden eine einmalige Entschädigung zuzugestehen. Diese Verantwortung vor unserer
Geschichte sollte auch die Union und die FDP bewegen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP
wünschen die Federführung beim Finanzausschuss. Die
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Federführung beim Innenausschuss.
Lassen Sie uns zuerst abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, also Federführung beim Innenausschuss.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen abgelehnt.
Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, Federführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen.
Zusatzpunkt 17:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank
Hofmann ({0}), Michael Hartmann ({1}), Christine Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
System der Kriminal- und Rechtspflegestatistiken in Deutschland optimieren und auf eine
solide rechtliche Grundlage stellen
- Drucksache 17/13715 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Auch hier gehen die Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13715 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 50 a und 50 c:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
10 Euro Mindestlohn jetzt
- Drucksache 17/13551 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Kerstin Andreae, Beate Müller-Gem-
meke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit einem einheitlichen, gesetzlichen Mindest-
lohn Lohndumping bekämpfen und fairen
Wettbewerb schaffen
- Drucksache 17/13719 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, teile ich Ihnen das
von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte
Ergebnis der namentlichen Abstimmung zum Gesetz-
entwurf zur Änderung arzneimittelrechtlicher und ande-
rer Vorschriften mit: abgegebene Stimmen 476. Mit Ja
haben gestimmt 278, mit Nein haben gestimmt 144, Ent-
haltungen 54. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
1) Anlage 20
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 475;
davon
ja: 277
nein: 144
enthalten: 54
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
({3})
Manfred Behrens ({4})
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Dr. Ralf Brauksiepe
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({5})
Dirk Fischer ({6})
Axel E. Fischer ({7})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Michael Glos
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Hermann Gröhe
Markus Grübel
Manfred Grund
Olav Gutting
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ernst Hinsken
Robert Hochbaum
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung ({8})
Dr. Egon Jüttner
Hans-Werner Kammer
Alois Karl
Siegfried Kauder ({9})
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
({10})
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Hans-Georg von der Marwitz
Stephan Mayer ({11})
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller ({12})
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann ({13})
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Katherina Reiche ({14})
Lothar Riebsamen
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht ({15})
Anita Schäfer ({16})
Dr. Annette Schavan
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt ({17})
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({18})
Dr. Kristina Schröder
({19})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Armin Schuster ({20})
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Stephan Stracke
Thomas Strobl ({21})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel ({22})
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Marcus Weinberg ({23})
Peter Weiß ({24})
Sabine Weiss ({25})
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar G. Wöhrl
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
FDP
Christine AschenbergDugnus
Daniel Bahr ({26})
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Gerhard Drexler
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Ulrike Flach
Otto Fricke
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Pascal Kober
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Patrick Kurth ({27})
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner ({28})
Michael Link ({29})
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller ({30})
Burkhardt Müller-Sönksen
({31})
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Björn Sänger
Christoph Schnurr
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Judith Skudelny
Joachim Spatz
Torsten Staffeldt
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
({32})
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({33})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Nein
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Lothar Binding ({34})
Klaus Brandner
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Graf ({35})
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
({36})
Hubertus Heil ({37})
Wolfgang Hellmich
Dr. Barbara Hendricks
Petra Hinz ({38})
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Dr. h.c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Hans-Ulrich Klose
Astrid Klug
Daniela Kolbe ({39})
Fritz Rudolf Körper
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange ({40})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Katja Mast
Petra Merkel ({41})
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Marlene Rupprecht
({42})
Annette Sawade
Axel Schäfer ({43})
Marianne Schieder
({44})
Ulla Schmidt ({45})
Carsten Schneider ({46})
Swen Schulz ({47})
Dr. Martin Schwanholz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h.c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Uta Zapf
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Klaus Ernst
Diana Golze
Heike Hänsel
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Jan Korte
Caren Lay
Stefan Liebich
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Thomas Nord
Jens Petermann
Paul Schäfer ({48})
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Jörn Wunderlich
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({49})
Volker Beck ({50})
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Kai Gehring
Priska Hinz ({51})
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kieckbusch
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth ({52})
Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Kerstin Müller ({53})
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Claudia Roth ({54})
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner ({55})
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Jetzt eröffne ich die Aussprache und erteile als erster
Rednerin der Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({56})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
über Mindestlohn sprechen, reden wir über das Schicksal und die Würde von Tausenden Menschen in diesem
Land. Ich möchte Ihnen diesbezüglich zunächst ein Beispiel aus meiner Region berichten. Es ist typisch für die
derzeitige Situation.
Eine Freundin von mir, qualifizierte Facharbeiterin,
hat unverschuldet ihre Arbeit verloren. Zuvor war sie
30 Jahre beschäftigt und das sehr gut bezahlt. Um ihre
gute Qualifikation den neuen Entwicklungen anzupassen, macht sie eine Anschlussqualifizierung über die
Agentur für Arbeit. Danach bewirbt sie sich und bekommt ein Jahr lang nur Angebote aus dem Bereich
Leiharbeit.
In Niedersachsen kommen über 30 Prozent der Angebote für Erwerbslose aus dem Bereich Leiharbeit. Nach
einem Jahr Arbeitslosengeldbezug ist sie bereit, den Beruf zu wechseln.
({0})
Sie versucht sich jetzt als ungelernte und über 50-jährige
Arbeitnehmerin im Einzelhandel: Unterwäsche verkaufen in einem Hamelner Einkaufszentrum. Man hätte sie
gerne genommen - zu einem Stundenlohn von 7 Euro.
Das ist das Allerletzte, dass so etwas in Deutschland im
Jahre 2013 überhaupt möglich ist.
({1})
Der Laden gehört einem holländischen Unternehmen.
Wenn meine Freundin in Holland arbeiten würde, hätte
sie einen Anspruch auf einen Mindestlohn von
9,01 Euro.
1,5 Milliarden Euro, also 1 500 Millionen Euro, gibt
der deutsche Staat jährlich aus, um die niedrigen Löhne
im Einzelhandel mit Hartz IV aufzustocken. Ohne diese
Zuschüsse hätten die Beschäftigten nicht genug zum Leben. Das hat eine Anfrage meiner Fraktion ergeben.
Wenn wir einen Mindestlohn in Deutschland hätten,
wäre es einfach nicht möglich, dass so etwas passiert.
({2})
- Stimmt natürlich. Sie können gleich reden und mir das
Gegenteil erzählen.
Wenn der Tarifvertrag Einzelhandel allgemeinverbindlich wäre, wäre so etwas nicht möglich. Diesem unglaublichen Lohndumping muss ein Riegel vorgeschoben werden.
({3})
Mein zweites Beispiel: Ein Werkvertragsarbeitnehmer, der über einen Industriedienstleister bei VW im Logistikbereich im Dreischichtbetrieb mit Zulagen als Gabelstaplerfahrer arbeitet, erhält einen Bruttomonatslohn
in Höhe von 1 404 Euro. Netto sind das 1 072 Euro. Der
Grundlohn orientiert sich an dem Mindestlohn in der
Zeitarbeit in Höhe von 8,19 Euro. Der Mindestlohn gilt
für einen Werkvertragsarbeitnehmer aber nicht. Der Arbeitgeber wendet ihn nur an. Der Kollege von VW, der
die gleiche Arbeit verrichtet, bekommt im Vergleich
zum Werkvertragsnehmer im selben Betrieb mehr als
das Doppelte.
Das ist Deutschland zehn Jahre nach der Agenda
2010, zehn Jahre unter einem Kanzler Schröder und einer Kanzlerin Merkel. Wegen solcher und anderer Beispiele brauchen wir einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, und zwar schnell.
({4})
Alle, die das nicht sehen, nicht sehen wollen oder es bewusst in Kauf nehmen, halten im Grunde Tausende Beschäftigte arm.
({5})
Deutschland wird in Europa mehr und mehr zu einem
Problem für andere Länder. Belgien hat sich beschwert
und wirft Deutschland offiziell Lohndumping vor. Die
ILO hat angemahnt, dass die große Anzahl an Niedriglohnjobs die soziale Ungleichheit vergrößert. Diese Bundesregierung sitzt auch dieses Problem kontinuierlich
aus. Dabei ist der Mindestlohn nicht der einzig mögliche
Weg, damit umzugehen: Man könnte die bestehenden
Lohnbremsen der Agenda 2010 wieder aus dem Gesetz
streichen; das wäre eine andere Variante. Man könnte alternativ auch die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen abschaffen,
({6})
die Leiharbeit verbieten, die Werkverträge strikt regulieren oder die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Tarifverträgen erweitern.
({7})
Bis dahin brauchen wir, damit nicht noch mehr Menschen in den Niedriglohnbereich gezwungen werden, einen Mindestlohn von mindestens 10 Euro pro Stunde.
Wer behauptet, das vernichte Arbeitsplätze, hat keine
Beweise dafür.
({8})
Ich behaupte: Das schafft Arbeitsplätze. Das schafft zusätzliche Kaufkraft.
({9})
Es verhindert Altersarmut, und es gibt Menschen, wenn
sie von ihrer Arbeit wieder leben können, die Würde zurück.
({10})
Verkaufen Sie die Menschen nicht länger für dumm.
Handeln Sie endlich und hören Sie auf mit diesen taktischen Spielchen. Der Mindestlohn muss jetzt kommen,
nicht erst in fünf Jahren!
({11})
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Dr. Matthias
Zimmer das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren über die Einführung eines Mindestlohns von
8,50 Euro oder von 10 Euro; das ist die Antragslage, über
die wir heute diskutieren. Wenn mich jemand fragen
würde, ob ich etwas dagegen hätte, einen Mindestlohn
von 8,50 Euro oder von 10 Euro einzuführen, würde ich
sagen: Nein, natürlich habe ich nichts dagegen. Wir haben
nämlich selbst festgestellt - das ist Beschlusslage -: Wir
wollen eine unabhängige Kommission einrichten. Wenn
diese unabhängige Kommission in der Frage des Mindestlohns zu einem Ergebnis kommt, setzen wir es um.
Wenn das Ergebnis ein Mindestlohn von 10 Euro ist, setzen wir es auch um.
({0})
Insofern kann ich nur sagen, wir streiten uns heute nicht
über die Frage: „Mindestlohn, ja oder nein?“, sondern
über die Frage: Wie kommen wir auf einem vernünftigen, verantwortbaren Weg da hin, einen Mindestlohn
festsetzen zu können?
({1})
Unser Modell zeichnet sich dadurch aus, meine Damen und Herren, dass wir einen nachgeordneten, subsidiären Mindestlohn für solche Bereiche, in denen es
keine branchenspezifischen Mindestlöhne gibt, fordern.
Lassen Sie mich, um das ein bisschen zu verdeutlichen,
kurz die beiden Alternativen darstellen, die wir haben:
Die erste Alternative ist, einen Mindestlohn lediglich
durch den Markt darstellen zu lassen. Hans-Werner Sinn
hat einmal gesagt: Man muss den Lohn nur so weit fallen lassen, dass er niedrig genug ist, damit alle Menschen eine Arbeit finden.
({2})
Nun kann ich sagen, Frau Krellmann: Wenn ein hochbezahlter C-4-Professor einen solchen inhumanen Unsinn
schreibt,
({3})
dann müsste man ihn eigentlich zwingen, hundertmal
auf die Tafel zu schreiben: Die Wirtschaft ist für den
Menschen da, und nicht der Mensch für die Wirtschaft.
({4})
Ich glaube, meine Damen und Herren, dass Heiner
Geißler recht hat, der diese Form der Auslieferung des
Menschen an den Markt einmal als einen ökonomischen
Absolutismus bezeichnet hat.
({5})
Diese Form des ökonomischen Absolutismus lehnen wir
ab, weil wir schon der Meinung sind, dass das Marktgeschehen etwas mit den Menschen zu tun hat und es eine
moralische Dimension hat.
Mit unserer Meinung stehen wir übrigens nicht alleine da. Schon Adam Smith, der Erfinder des Kapitalismus, hat gesagt: Wir brauchen einen gerechten Lohn.
Diesen gerechten Lohn hat er definiert als Lohn, der es
einem Arbeitnehmer und seiner Familie gestattet, vernünftig über die Runden zu kommen. Die katholische
Kirche hat das dann später aufgenommen. Das sind Zeiten gewesen, in denen die Ökonomie noch etwas mit
Moral zu tun hatte. Im ökonomischen Absolutismus hat
sie das nicht mehr.
Wir möchten aber auch keinen politischen Absolutismus haben. Wie der aussieht, kann man sich anhand eines Gesetzentwurfs verdeutlichen, den die SPD vor über
einem Jahr eingebracht hat. Bezüglich der Frage: „Wie
kommt so ein Mindestlohn überhaupt zustande?“, haben
die Kolleginnen und Kollegen von der SPD folgenden
Vorschlag gemacht: Wir richten eine Kommission ein,
und wenn sich diese Kommission nicht einig ist, dann
entscheidet das Ministerium über den Mindestlohn. Das kann man machen. Außerdem haben die Kolleginnen und Kollegen von den Sozialdemokraten gesagt:
Wenn dieser Mindestlohn dem Ministerium nicht gefällt,
dann wird der Vorschlag in die Tonne getreten und es
setzt selber einen Mindestlohn fest.
({6})
Vor meinem geistigen Auge sehe ich schon, wie das abläuft: Im SPD-Parteivorstand wird darüber beraten, wie
hoch der Mindestlohn sein soll.
({7})
Das ist ein politischer Mindestlohn; das bezeichne ich
als eine Art politischen Absolutismus in der Lohnfeststellung. Den will ich an dieser Stelle letztendlich auch
nicht haben.
({8})
Meine Damen und Herren, wir haben demgegenüber
einen subsidiären, einen nachgelagerten Mindestlohn
vorgeschlagen, das heißt, eine Kommission bestimmt,
und wir setzen das dann als eine Mindestlohnforderung
um. Ich glaube schon, dass das die Stärke des christlichsozialen und des christlich-demokratischen Denkens
kennzeichnet; denn Subsidiarität ist das Kennzeichen einer freien Gesellschaft.
Herr Kollege Zimmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Aber natürlich.
({0})
Herr Zimmer, mir haben Ihre Ausführungen zu Herrn
Sinn gut gefallen. Ich habe allerdings eine Frage zum
politischen Absolutismus beim Mindestlohn. Sind Sie
nicht mit mir der Auffassung, dass es bei der hier vorgetragenen Forderung nicht darum geht, die Löhne in der
Bundesrepublik Deutschland in Gänze staatlich festzusetzen, sondern eine Grenze nach unten festzulegen?
Was spricht eigentlich dagegen, mittels politischer Vorgaben festzulegen, wie gering ein Lohn sein darf?
Die Linke fordert einen Mindestlohn von 10 Euro;
denn sie geht davon aus: Wenn jemand sein ganzes Leben zu diesem Mindestlohn arbeiten muss, dann bekommt er eine Rente, die gerade über dem Grundsicherungsniveau liegt, sodass er seine Rente nicht staatlich
bezuschussen lassen muss. Es wäre doch sozusagen der
Auftrag des Gesetzgebers, zu sagen: Die Menschen müssen einen Lohn beziehen, von dem sie leben können und
auf dessen Basis sie hinterher eine Rente bekommen, die
einigermaßen zum Leben reicht. Das ist das Ziel. Ist es
nicht geradezu geboten, diese Ziele auch politisch durchzusetzen, um genau das zu ermöglichen, und zwar, ohne
die Löhne in Gänze festzulegen? Dagegen wäre ich natürlich auch.
Lieber Herr Kollege Ernst, ich bewundere Ihren
Scharfsinn, mit dem Sie immer knallhart neben dem
Thema liegen. In diesem Fall haben Sie das auch wieder
geschafft.
({0})
Ich will Ihnen erklären, warum. Ich selbst habe vor zwei
Jahren in diesem Haus auch einmal den Vorschlag gemacht, indem ich gesagt habe: Es könnte ein vernünftiges Modell sein, dass wir eine Indexierung des Mindestlohns an der Rentenhöhe vornehmen, also schauen, wie
hoch der Mindestlohn sein müsste, damit jemand, der
45 Jahre gearbeitet hat, am Ende seines Arbeitslebens
eine Rente bezieht, die über der Grundsicherung liegt.
Das ist eine spannende Frage; denn aus unserer Sicht
muss sich Arbeit auch lohnen, gerade denjenigen gegenüber, die nicht arbeiten.
Das darf allerdings nicht der einzige Gesichtspunkt
bei der Festlegung eines Mindestlohnes sein, sondern es
müssen auch andere Aspekte - Sie sind ja Gewerkschafter - in diese Frage hineinfakturiert werden. Ich nenne
beispielhaft die Fragen: Wie sieht es mit der Produktivität aus? Ab wann gehen Arbeitsplätze verloren? In welchen Branchen haben wir welche Situation?
Nur einen Faktor herauszugreifen und zu sagen: „Das
ist der Faktor, der letztlich den Mindestlohn bestimmt“,
({1})
das ist der falsche Weg. Ich glaube, dass wir an dieser
Stelle den Versuchungen des Politischen widerstehen
und es tatsächlich den Gewerkschaften und Arbeitgebern
überlassen müssen, den Mindestlohn festzulegen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass wir mit
unserer Vorstellung von einem subsidiären Mindestlohn,
den Gewerkschaften und Arbeitgeber im Konsens vorgeben und der dann auch umgesetzt wird, einen Weg gehen, der in der Lohnfindung die Extreme zwischen einem politischen Absolutismus und einem ökonomischen
Absolutismus vermeidet. Ich glaube, das ist insgesamt
der richtige Weg einer freiheitlichen Gesellschaft, um
moralische Anliegen auch in der Ökonomie durchzusetzen.
({3})
Statt des angekündigten Redners Klaus Barthel erteile
ich jetzt das Wort der Kollegin Gabriele LösekrugMöller, die ihre und die Redezeit von Herrn Barthel zusammen nutzen kann.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, vielen, die heute zuhören, geht es wie mir. Sie
fragen sich: Wann kommt endlich das, was nicht nur Sie,
Herr Zimmer, sondern viele aus Ihrer Fraktion ankündigen? Wann kommt endlich ein Gesetzentwurf, der Ihren
hohen Maßstäben gerecht wird und über den wir dann
diskutieren und auch entscheiden können? - Wir warten
schon so lange, und mit uns Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich sagen: Es kann doch
nicht sein, dass wir in diesem Land noch immer keine
absolut verbindliche Lohnuntergrenze haben.
({0})
Das will ich gerne voranstellen. Denn über dieses Problem reden wir heute.
Ich habe nicht mitgezählt, wie oft wir an dieser Stelle
schon über die Frage eines Mindestlohns, der gesetzlich
geregelt ist, diskutiert haben. Ich glaube, die Zahl wäre
bald dreistellig. Ich fürchte - das muss ich annehmen -,
auch heute wird es nicht das letzte Mal sein. Wir alle
wissen, Die unendliche Geschichte ist eigentlich ein
wunderhübscher Roman. Aber an dieser Stelle ist eine
unendliche Geschichte ein Faustschlag ins Gesicht von
Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
Deutschland,
({1})
die ihre Hoffnung darauf gesetzt haben, dass das Parlament eine Lösung bietet. Bis heute steht sie aus.
Dabei ist der Niedriglohnsektor in Deutschland groß
und damit die Zahl der abhängig Beschäftigten, die für
einen Niedriglohn arbeiten, konstant hoch. Aus Auswertungen des Statistischen Bundesamtes wissen wir: Jeder
oder jede fünfte Beschäftigte erhält trotz Vollzeitarbeit
einen Niedriglohn. Wir haben ohne jeden Zweifel einen
sich verstetigenden Niedriglohnsektor. Das hat zur
Folge, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter
auseinandergeht, trotz Arbeit, Fleiß und Anstrengung.
Es gibt einen schleichenden Abgrenzungsprozess
zwischen denen, die gut verdienen - das ist ihr gutes
Recht -, und denen, die genauso gut arbeiten, aber nicht
über die Armutsschwelle kommen. Wir alle wissen:
Fängt das im Arbeitsleben an, setzen sich die Armutsbedrohung und die faktische Armut im Alter fort. Wer
daran Zweifel hat, dem empfehle ich die Lektüre des
Vierten Armuts- und Reichtumsberichtes. Er ist zwar
von der Regierung ein bisschen schönkorrigiert worden,
({2})
aber dennoch sprechen die Fakten Bände, dass es dringend Zeit ist, etwas vorzulegen, Herr Kollege Zimmer.
Das fehlt bisher.
({3})
Ich habe ein paar Argumente genutzt. Sie finden sich
in der Problembeschreibung des Gesetzentwurfs des
Bundesrates, der dankenswerterweise den Deutschen
Bundestag erreicht hat. Wir haben am Mittwoch im Ausschuss eine Debatte dazu geführt, aber FDP, CDU und
CSU hat leider der Mut gefehlt, sich dazu zu positionieren. Ich finde, das war ein Tiefpunkt parlamentarischer
Arbeit.
({4})
Was ich am Mittwoch erlebt habe, ging wirklich zu weit.
Da gibt es diesen Entwurf des Bundesrates. Ich glaube,
er datiert vom Februar oder März; es war also hinreichend Zeit, sich damit zu befassen. Er ist klar. Er ist eindeutig. Er ist in seiner Begründung sozusagen absolut sicher. Was passiert aber? FDP, CDU und CSU haben
nicht einmal den Mut, zu sagen: Nein, das ist nicht unser
Weg. - Herr Zimmer, das ist die Wirklichkeit, über die
wir reden. Heute stellen alle, die in die Tagesordnung
schauen, fest: Die Beratung des Entwurfs ist für heute
abgesetzt. Sie haben dabei nicht einmal den Mut, zu sagen: Nein, das wollen wir hier im Parlament nicht. Da
nutzen Parteitags- und sonstige Beschlüsse auch nichts.
Der Entwurf ist definitiv nicht zur Abstimmung gestellt
worden, obwohl Sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich
dazu zu verhalten. Ich finde, das ist wirklich feige. Das
muss ich Ihnen sagen.
({5})
Was müssen wir eigentlich daraus schließen? Offenbar
gibt es - trotz aller philosophischen Erörterungen - nicht
hinreichend Bereitschaft, die Dimension des Problems zu
erkennen. Es gibt eben nicht den Mut, bestehendem
Lohndumping, und zwar in allen Branchen und für alle
Beschäftigten, wirklich etwas entgegenzusetzen. Es ist ja
nicht so, dass Sie gar nichts tun. Ich möchte nicht, dass
später gegen mich der Vorwurf erhoben wird, dass ich
diese Sichtweise hätte. Nein, ich attestiere deutlich: Sie
haben etwas getan. Das werden Sie ja bei den folgenden
Reden auch noch abfeiern. Nur zu reden, reicht eben nicht
aus; denn da, wo Sie mit den bestehenden Regelungen
nicht hinkommen, gibt es immer noch schlechte Arbeitsbedingungen und viel zu niedrige Löhne. Deshalb - da
bin ich mir ziemlich sicher - brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn.
Herr Kollege Zimmer, ich weiß nicht, ob Sie nur einem potenziell SPD-geführten Ministerium so misstrauen. Ich höre daraus eher, dass Sie dem jetzigen
Ministerium mit der Frau Ministerin an der Spitze eigentlich auch nicht trauen.
({6})
Insofern finde ich, dass die Debatte, die Sie da aufgemacht haben, ein bisschen neben der Spur ist.
({7})
Worauf kommt es der SPD in diesem Zusammenhang
an? Uns kommt es auf ein ganzes Bündel von Maßnahmen an, denn wir sagen: Für Recht und Ordnung auf
dem Arbeitsmarkt brauchen wir den gesetzlichen Mindestlohn, zugleich brauchen wir aber noch mehr. Das haben wir in einer Fülle von Anträgen deutlich gemacht.
Sie können das auch in unserem Regierungsprogramm
nachlesen. Vielleicht besteht der Unterschied darin, dass
man in Bezug auf die SPD sehr präzise sagen kann: Aha,
das möchten die machen, damit Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer in einem solchen Wohlstandsland wie
Deutschland sicher sein können, dass der Wettbewerb
nicht über Lohndumping auf ihrem Rücken ausgetragen
wird. Das ist der Punkt, um den es uns geht. Deshalb sagen wir: Da muss etwas passieren.
({8})
Wir sind der festen Überzeugung, dass man für gleiche bzw. gleichwertige Arbeit auch gleichen Lohn bekommen muss. Das hat übrigens noch eine ganz andere
Dimension, nämlich die der Geschlechter. Wir wissen,
dass wir auch da noch jede Menge zu tun haben. Die
Lohndifferenz beträgt 22 Prozent. Auch wissen wir, dass
das Verhältnis beim Lohngefüge zwischen Ost und West
noch lange nicht in Ordnung ist; denn in dem Augenblick, wo wir über „Gefälle“ reden, reden wir über Ungleichheit. Deshalb sagen wir zum Beispiel: Beim gesetzlichen Mindestlohn - da sind wir uns mit den
Grünen und den Linken einig - gibt es logischerweise
überhaupt keinen Unterschied zwischen Ost und West.
({9})
Das ist auch ein Schritt, von dem ich denke, dass er unbedingt getan werden muss.
Ich will noch einen weiteren Punkt anführen, denn in
dieser Debatte - ich nehme an, das wird gleich kommen - wird sicher noch das Hohelied auf die Tarifvertragsparteien und die Tariffreiheit gesungen. Ich kann Ihnen nur sagen: Die SPD ist volle Lotte dafür. Genau das
sind wir!
({10})
- Ja, Herr Straubinger, wir freuen uns, dass die Gewerkschaften alle unsere Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn ausnahmslos ausdrücklich unterstützen. Sie haben dann nämlich die Chance, „on top“ zu
verhandeln. Das ist es, was ich gerne haben möchte und
was sozusagen Konsens ist. Wenn die Idee aufkommt,
sich auf eine Gewerkschaft zu berufen, die diese Forderung nicht unterstützt, dann schauen Sie erst einmal,
welche das ist. Dann wissen Sie auch, wo Sie die einzuordnen haben.
Insofern steht, wie ich finde, die Stärkung der Tarifvertragsparteien auf der Tagesordnung. Das müssen wir
uns alle ins Stammbuch schreiben. Jeder in der Gesellschaft muss das machen. Ich hoffe, Arbeitgeber und
Arbeitnehmer sind gleichermaßen daran interessiert;
denn überall, wo es eine hohe Tarifbindung gibt, gibt es
auch solide Bedingungen für Arbeit. Das ist gut für die
Unternehmen, aber genauso gut für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({11})
Wenn ich mir das Kapitel Lohndumping noch einmal
vor Augen führe, dann will ich Ihnen sagen: Wir haben
hier überhaupt kein Manko an Erkenntnis. Wir haben
eine Datenlage, die überhaupt keinen Zweifel daran
lässt, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Deshalb
will ich noch einmal sagen: Auch die SPD tritt für eine
Kommission ein. Herr Zimmer hat ja versucht, das, wie
ich finde, zu parodieren. Wir sagen: Wir wollen eine
Low Pay Commission, ähnlich wie Großbritannien sie
hat. Da sind wir im Übrigen ähnlich aufgestellt wie die
Linken und die Grünen, die das ebenfalls fordern. Ich
denke, über die Frage, wer am Ende bei Nichteinigung
entscheidet, kann man in diesem Haus sehr wohl noch
einmal debattieren. Da lasse ich mich nicht hinter eine
Fichte führen, die für mich sowieso viel zu schmal wäre.
Damit kommen wir nicht weiter.
Wir sagen eben: Ein gesetzlicher Mindestlohn muss
eingeführt werden. Wir wollen nicht noch jahrelang warten, bis CDU, CSU und FDP vielleicht eine Idee haben,
mit welchem Gremium wie genau man herausfinden
könnte, wie man einsteigt. Nein, das dauert uns zu lange.
({12})
Deshalb sagen wir: 8,50 Euro sind ein fairer Einstieg.
Auch wir wissen, dass ein Lohn von 8,50 Euro in der
Stunde auf Dauer nicht zu einer auskömmlichen Rente
führt. Wir gehen aber davon aus, dass es im Verlauf des
Berufslebens zu höheren Löhnen kommt. Wir können im
Übrigen auch davon ausgehen - das zeigen die Vergleiche mit anderen europäischen Ländern -, dass es in der
Regel nicht bei diesem Mindestlohnniveau bleibt. Auch
das ist eine Erkenntnis.
Deshalb will ich Ihnen sagen: Wir wollen diesen
Überbietungswettbewerb der Linken nicht mitmachen.
Wir sagen ganz deutlich: Wir wollen diesen Einstieg.
Wir sind sehr beim Antrag der Grünen, über den wir in
unserem Fachausschuss beraten werden. Aber ich will
auch sagen: Viele Menschen in diesem Land verstehen
überhaupt nicht mehr, warum wir immer noch diskutieren und immer noch reden und immer noch suchen, wo
doch die Lösung so offenkundig da ist. Ich glaube, es
wird Zeit, dass das Ringen um den gesetzlichen Mindestlohn ein Ende hat und seine Einführung kommt. Offenkundig brauchen wir dafür einen Regierungswechsel.
Er wird kommen und mit ihm ein gesetzlicher Mindestlohn.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb für
die FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Kollegin Lösekrug-Möller, ich nehme Ihnen ja ab, dass der Mindestlohn für Sie ein Herzensanliegen ist. Aber Sie scheinen die Einzige, jedenfalls eine
von wenigen in der SPD-Fraktion zu sein.
({0})
Nachdem Sie Platz genommen haben, hat sich die Zahl
der Zuhörer bei der SPD immerhin verdoppelt. Das ist
erfreulich. Aber dafür, dass von Montag bis Freitagmorgen die SPD und ihr Parteivorsitzender durch die Lande
ziehen und den Eindruck erwecken, es gäbe kein wichtigeres Thema für die SPD als einen gesetzlichen Mindestlohn, ist es wirklich blamabel, wie die SPD-Fraktion
heute Nachmittag hier vertreten ist. Das muss man einmal sehr deutlich sagen.
({1})
Ich will genauso deutlich sagen, Frau Kollegin
Lösekrug-Möller: Für unsere Fraktion ist klar: Wir brauchen und wir wollen keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.
({2})
Wir haben - und das ist auch gut so - eine ganze Reihe
von branchenbezogenen, tarifbasierten Mindestlöhnen.
Für fast 4 Millionen Menschen in Deutschland gelten
solche tarifbezogenen Lohnuntergrenzen. Diese LohnDr. Heinrich L. Kolb
untergrenzen wurden übrigens für fast 3,8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter einer schwarzgelben Bundesregierung eingeführt. Auch das muss man
hier einmal sehr deutlich sagen.
({3})
- Die Kollegin Krellmann möchte etwas fragen.
Ich sehe, Sie erlauben die Zwischenfrage der Kollegin
Krellmann.
Ja. Bitte eine kurze Frage, damit ich lange antworten
kann.
({0})
Bitte schön, Frau Krellmann.
Die von Ihnen angesprochenen Löhne sind oftmals
grottenschlecht und unterschiedlich zwischen Ost und
West, zum Beispiel in der Leiharbeit.
Sie erzählen uns: Wir müssen ganz vorsichtig sein;
vielleicht vernichtet das Arbeitsplätze. - Wir haben jetzt
schon Erfahrung mit Mindestlöhnen. Ich möchte gerne
von Ihnen wissen: Wurden irgendwo Arbeitsplätze vernichtet? Wir haben positive Erfahrungen in bestimmten
Bereichen gemacht. Wieso dauert das bei Ihnen so
lange? Wieso muss man stundenlang, tagelang, jahrelang Untersuchungen machen, bis man politisch endlich
einen Schritt in die Richtung macht, dass wir Mindestlöhne bekommen, und zwar überall?
({0})
Frau Kollegin Krellmann, diese Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag zweierlei vereinbart, was hier einschlägig ist. Wir haben erstens klipp und klar gesagt: Einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn lehnen
wir ab. Zweitens haben wir gesagt: Wir wollen eine
Evaluation bestehender Mindestlöhne. - Dies ist auch
geschehen. Jetzt muss man aufpassen, dass man nicht
Äpfel mit Birnen vergleicht.
Sie wollen auf den gesetzlichen Mindestlohn hinaus,
und Sie wollen jetzt eine Unschädlichkeit des gesetzlichen Mindestlohns mit Verweis auf Erfahrungen bei tarifbasierten Mindestlöhnen suggerieren. Sie haben es in
Ihrer Frage auch selbst angesprochen. Die Bandbreite
der tarifbezogenen Mindestlöhne geht von 7 Euro bei
den Wäschereidienstleistungen in den neuen Bundesländern bis hin zu fast 14 Euro am Bau im Westen, in den
alten Bundesländern. Der obere Wert ist das Doppelte
des unteren. Das zeigt, dass von den Tarifpartnern sehr
wohl Differenzierungen vorgenommen wurden. Die sind
auch notwendig, um auf die Produktivität und die Möglichkeiten der jeweiligen Branche angemessen reagieren
zu können.
Um Ihre Frage kurz zu beantworten - ich könnte das
auch länger tun, aber die Kollegen wollen heute Nachmittag auch noch nach Hause -: Ich halte es nicht für
zulässig, dass man die Evaluation von Branchenmindestlöhnen heranzieht, um die Wirkungen eines gesetzlichen
flächendeckenden Mindestlohns, der undifferenziert in
allen Teilen unseres Landes gelten würde, zu beschreiben.
({0})
Oft wird hier angeführt, Mindestlöhne stünden nur
auf dem Papier, es werde nicht kontrolliert. Man muss ja
auch einmal einen neuen Aspekt in die Debatte einbringen: Ich habe mir angeguckt, wie die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit in einzelnen Branchen tätig wird. Ich
kann nur sagen: Es findet ein dichtes Prüfungsgeschehen
statt, mit dem nachgehalten wird, dass das, was der
Verordnungsgeber bei der Allgemeinverbindlichkeitserklärung zum Ausdruck gebracht hat, auch tatsächlich
eingehalten wird. Es gibt Abweichungen, Verstöße in
einzelnen Branchen, aber das liegt im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Es gibt immer schwarze Schafe
- das ist vollkommen klar -, aber die Mehrzahl der Unternehmen in den Branchen mit tarifbasierten Mindestlöhnen hält sich genau an das, was der Verordnungsgeber wollte; das will ich an dieser Stelle und in dieser
Debatte festhalten.
Heute steht nicht der Vorschlag des Bundesrates auf
der Tagesordnung. Damit muss man sich noch sehr intensiv befassen; denn der wirft mehr Fragen auf, als er
Antworten gibt. Ich will nur so viel sagen: Ich finde, es
ist schon ein dreistes Stück der SPD-Mehrheit im Bundesrat, auf der einen Seite zu sagen: „Wir wollen keine
politische Lohnfindung“ und auf der anderen Seite in
diesem Entwurf eines Mindestlohngesetzes sozusagen
einen Mindestmindestlohn vorzugeben. Die Mindestlohnkommission darf tagen, sie darf auch zu einem Ergebnis kommen, aber wenn das Ergebnis unter dem Wert
von 8,50 Euro ist, wird das nicht akzeptiert. - Das ist
politische Lohnsetzung; das ist ein vollkommen klarer
Fall.
({1})
So, Frau Kollegin Lösekrug-Möller, geht es auf keinen
Fall.
({2})
Jetzt gucken wir einmal weiter. Nach dem Gesetzentwurf ergibt sich auch Folgendes: Wenn das Verfahren
gestartet wurde und die Kommission in den nächsten
Jahren irgendwann Mindestlohnvorschläge macht, die
dem BMAS nicht gefallen, dann soll das Votum der
Kommission belanglos sein und - so steht es in diesem
Entwurf - soll das Ministerium allein einen Mindest31038
lohn, der flächendeckend in ganz Deutschland gelten
soll, festsetzen. Auch das ist für mich nichts anderes als
eine politische Lohnfindung. Ich weiß nicht, wie Sie das
nennen. Für mich ist das eine politische Lohnfindung. So
geht es nicht.
({3})
Auch dann, wenn die Kommission bis zu dem vorgesehenen Datum im Jahr - ich glaube, das ist der 31. August - noch nicht so weit ist, würde das BMAS in die
Bresche springen. Das kann man von der einen und der
anderen Seite natürlich auch taktisch handhaben. Ein gutes, ein geordnetes Verfahren sieht anders aus.
Unser Vorschlag ist ein anderer. Wir wollen - ich will
das am Schluss noch kurz sagen - auf dem Weg, der sich
in den letzten Jahren ganz offensichtlich, auch nach den
Evaluationen, bewährt hat, vorangehen. Wir glauben,
dass die tarifbasierten Branchenmindestlöhne ein Weg
sind. In Übereinstimmung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wird ein Antrag gestellt, der Tarifausschuss votiert, und der Mindestlohn wird dann in Kraft gesetzt.
Das hat sich bewährt.
Wir wollen den Katalog im Arbeitnehmer-Entsendegesetz, der heute abschließend ist, öffnen, erweitern. Das
ist der eine Weg.
({4})
Da, wo die Tarifbindung in der Branche unterdurchschnittlich oder kritisch ist, glauben wir, wird es darauf
ankommen, das Mindestarbeitsbedingungengesetz zu
überprüfen und mit seiner Hilfe einen Weg gangbar zu
machen. Da, wo heute soziale Verwerfungen sind, die
operativ schwer handhabbar sind, muss man gucken,
was man an die Stelle dessen setzen kann. Vielleicht
werden wir schon bald die Möglichkeit haben, etwa im
Bereich Schlachthöfe zu zeigen, dass man, wenn auf allen Seiten ein guter Wille vorhanden ist, den Weg über
das Mindestarbeitsbedingungengesetz nutzen kann, um
in einzelnen Wirtschaftsbereichen zu geltenden Lohnuntergrenzen zu kommen. Das ist ein guter, gangbarer
Weg.
Das, was die Linke vorschlägt, geht unseres Erachtens gar nicht. Dazu habe ich jetzt nichts gesagt, Frau
Kollegin Krellmann. Das tut mir leid.
({5})
Das, was der Bundesrat will, geht meines Erachtens
auch nicht. Ich glaube, unsere Fraktion hat einen guten
und gangbaren Weg vorgeschlagen. Die Praxis hat gezeigt, dass dieser Weg erfolgreich sein kann. Diesen Weg
wollen wir mit Ihnen gemeinsam gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin
Brigitte Pothmer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Zimmer und Herr Kolb, Sie wissen, dass ich Ihr Mindestlohnkonzept für falsch halte. Ich fände es aber redlich - das wäre ein angemessenes Verhalten einer Regierungsfraktion -, wenn Sie Ihr Konzept hier einmal zur
Diskussion stellen und einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen würden.
({0})
Dann würde nämlich einiges deutlich werden. Aber die
Strategie dieser Koalition lautet: verhindern, verschleppen, verschleiern.
({1})
Diese Strategie haben Sie gewählt, weil Sie verschleiern
wollen, dass das, was Sie hier Mindestlohn und Lohnuntergrenze nennen, eine Mogelpackung ist und kein Mindestlohn.
({2})
Nehmen wir einmal das Beispiel FDP. Sie haben sich
mit der Frage ja tatsächlich beschäftigt. Kurz vor Ende
dieser Wahlperiode fällt Guido Westerwelle ein, dass ein
Stundenlohn von 3 Euro möglicherweise doch nicht
ganz fair ist. Ich frage Sie: Was heißt das eigentlich?
Sind 4 Euro gerecht? Sind 5 Euro gerecht? Oder verstehen Sie das als gerecht, was Ihr Fraktionsvize Martin
Lindner nach Ihrem Lohnuntergrenzenbeschluss in einem Radiointerview gesagt hat? Er hat gesagt, dass er es
ganz und gar nicht für unwürdig hält, wenn zum Beispiel
ein Rentner für 4,50 Euro und ein Bierchen obendrauf in
der Pförtnerloge sitzt oder ein Rentner für Bier und Buletten abends in der Kneipe Gläser spült.
({3})
Bedeutet das Mindestlohnkonzept der FDP Naturalien
für Rentner und ein paar Euro zusätzlich für die übrigen
Beschäftigten?
Nehmen wir das Beispiel CDU.
({4})
Ich frage Sie: Was bedeutet es eigentlich konkret, wenn
Ihre Kanzlerin bei der CDA sagt - ich zitiere -:
Wir sehen auch, dass die Beschäftigungsvielfalt so
groß ist, dass es nicht … ausreicht, branchenspezifisch zu arbeiten.
({5})
Dieser Satz ist ein echter Merkel.
({6})
Es gibt viel Interpretationsspielraum. Ich frage Sie:
Heißt das, dass Sie verbindliche Lohnuntergrenzen nur
für die Branchen wollen, in denen es keine Tarifverträge
gibt? Dann frage ich Sie: Was bedeutet das für die mehr
als 1 Million Beschäftigten, die in Branchen arbeiten,
die zwar Tarifverträge haben, nach denen aber die Lohnuntergrenze bei unter 8,50 Euro liegt?
({7})
Heißt das für diese Menschen: einmal Hungerlohn - immer Hungerlohn?
({8})
Oder ist vielleicht die Interpretation von Herrn Laumann
aus NRW richtig? Er war neulich gemeinsam mit mir auf
einer Tagung des DGB zum Thema „Neue Ordnung der
Arbeit“. Vor über 200 Millionen Teilnehmerinnen und
Teilnehmern,
({9})
vor über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hat er
gesagt: Ich trete für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein. - Bei dieser Aussage hat er sich
ausdrücklich auf das Konzept und den Beschluss der
CDU bezogen. Was ist eigentlich richtig? Wie ist das
Vorgehen von Frau Kramp-Karrenbauer, Ministerpräsidentin des Saarlands, zu verstehen? Sie hat die Bundesratsinitiative, die Sie hier heute so kritisieren und in der
8,50 Euro festgeschrieben sind, mitunterzeichnet,
({10})
also genau das Konzept, das Sie hier seit Jahren mit
Schaum vor dem Mund bekämpfen.
({11})
Die Wahrheit ist: Sie lassen diese Kakofonie in dieser
Frage sehr bewusst zu, weil Sie den Menschen Sand in
die Augen streuen wollen. Sie haben in Ihrer Fraktion
keine Mehrheit für den Kampf gegen Lohndumping. Das
wollen Sie den Wählerinnen und Wählern nicht sagen;
das wollen Sie verschleiern.
({12})
In anderen Lebensbereichen würde das, was Sie hier
als Regierungsfraktionen machen, als Arbeitsverweigerung gewertet werden,
({13})
und zwar mit entsprechenden Konsequenzen. Ich bin
ziemlich zuversichtlich, dass die Wählerinnen und Wähler am 22. September genau diese Konsequenzen ziehen
werden. Sie werden Ihnen die fristlose Kündigung auf
den Tisch legen. Ich bin ja sonst sehr für Kündigungsschutz, Sie aber haben ihn nicht verdient.
({14})
Nach dem 22. September ist der Kampf um den Mindestlohn erledigt. Dann wird es nicht nur eine gesellschaftliche Mehrheit für den Mindestlohn geben, sondern endlich auch eine parlamentarische Mehrheit. Der
Mindestlohn wird kommen. Sie stehen in dieser Debatte
auf der falschen Seite der Geschichte. Nichts ist so
mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Das
merken Sie doch auch selber. Bei Ihrem Mitmachprogramm, bei dem Mitmachprogramm der CDU, haben
Ihre Mitglieder die Durchsetzung des Mindestlohns an
die erste Stelle als ihre Herzensangelegenheit gewählt.
Bei der Delegiertenkonferenz der CDA haben Ihre Mitglieder der Kanzlerin „Mindestlohn jetzt“-Schilder entgegengestreckt. Das ist doch für einen Laden wie Ihren
schon so was wie eine Kulturrevolution.
({15})
Ich frage mich: Was denken Sie sich? Wenn 80 Prozent
der Bevölkerung für einen Mindestlohn sind, dann
müssen darunter doch auch einige CDU-Wählerinnen
und -Wähler sein.
Die Menschen sind längst weiter als diese Bundesregierung. Für die Menschen ist der Mindestlohn das
zentrale Gerechtigkeitskonzept. Es steht nicht nur symbolisch für Wert und Würde der Arbeit.
({16})
Aber Gerechtigkeit hatte in den letzten vier Jahren und
in Ihrer Regierungszeit insgesamt keine Konjunktur. Ich
verspreche Ihnen: Das werden wir ändern.
({17})
Für die CDU/CSU hat jetzt das Wort der Kollege
Dr. Johann Wadephul.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Pothmer, wir sind ja engagierte Reden von
Ihnen hier gewohnt, aber angesichts dieser Thematik
und der Vergleiche, die Sie gezogen haben, kann ich nur
fragen: Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner?
Das wäre angesichts der Thematik etwas treffender gewesen.
({0})
Wir diskutieren hier in diesem Hohen Hause zum
wiederholten Male über diese Frage, Frau Krellmann,
und das vor dem Hintergrund, dass wir in Deutschland
die höchste Beschäftigungsquote seit der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes haben.
({1})
- Entschuldigung, es ist immer noch besser, Arbeit zu
haben, als arbeitslos zu sein. Sozial ist, was Arbeit
schafft.
({2})
Frau Krellmann, das ist der ganz entscheidende Punkt.
Auch die Zahlen im Bereich der Jugendarbeitslosigkeit sind gut.
Ich darf gleich vorweg sagen, dass ich meine Gedanken ganz kurz vortragen möchte, um es allen Kollegen
zu ermöglichen, relativ bald nach Hause zu ihren Familien und in die Wahlkreise zu fahren.
Also keine Zwischenfragen.
Wir haben Arbeitslosenzahlen, die ermutigend und
rückläufig sind, insbesondere bei jungen Menschen; das
ist eine der wichtigsten Fragen für die Zukunft. Wenn
Sie sich angucken, warum wir, etwa im mediterranen
Raum, das Problem haben, dass gerade junge Menschen
nicht in den Arbeitsmarkt hineinkommen, stellen Sie
fest: Das liegt daran, dass es dort an Flexibilität fehlt.
Man hilft natürlich der Bevölkerung insgesamt und gerade jungen Menschen nicht, wenn man sich sozusagen
nur um die Bestandsarbeitskräfte kümmert. Wenn man
für die alles abriegelt, dann kann die Wirtschaft nicht atmen, und dann werden Sie nicht die Voraussetzungen
dafür schaffen können, dass auch junge Menschen eine
Chance bekommen. Deswegen sage ich Rot-Grün, auch
wenn die Zuhörerschaft bei den Sozialdemokraten klein
ist: Es war richtig, dass die Hartz-IV-Reformen durchgeführt und dieser gesamte Bereich angepackt wurde. Das
ist Ihr Verdienst. Sie haben den Niedriglohnsektor geöffnet.
({0})
Sie haben dafür gesorgt, dass Menschen in diesem Bereich Arbeit bekommen haben. Es ist im Grunde verkehrte Welt: Sie wollen das alles nicht mehr wahrhaben,
({1})
und wir haben Anlass, Ihnen dafür wirklich Dank auszusprechen. Stellen Sie Ihre eigene Arbeit von vor zehn
Jahren hier doch nicht infrage! Herr Schröder würde sich
wahnsinnig ärgern, wenn er Ihre Rede gehört hätte, Frau
Lösekrug-Möller.
({2})
Es ist nämlich so, dass auch gering bezahlte Arbeit für
ganz viele Menschen eine Option schafft, zu einem besser bezahlten Job zu kommen und mehr zu verdienen.
({3})
Das wünschen wir jedem. Dafür muss man die entsprechenden Voraussetzungen schaffen.
Nun stellt sich in der Tat die Frage - ich bin sicher,
Frau Pothmer, der nächste Deutsche Bundestag wird sich
mit dieser Frage auseinandersetzen, und wir werden
auch zu einer Regelung kommen -, wie ein tariflicher
Mindestlohn nach unseren Vorstellungen aussehen
sollte. Das wollen wir gemeinsam, lieber Heinrich Kolb,
mit den Freien Demokraten vereinbaren; die Chancen
stehen übrigens ganz gut, dass wir diese Koalition fortsetzen können.
({4})
Wir werden das in angemessener Weise machen; denn
man bewegt sich in diesem Bereich zwischen verschiedenen Polen. Auf der einen Seite geht es um die Gerechtigkeitsfrage. Natürlich müssen wir uns um die betroffenen Menschen kümmern, und natürlich wissen wir, dass
es etliche Menschen gibt, die zu wenig verdienen; das ist
klar.
({5})
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, dass ein zu
hoch angesetzter Mindestlohn die Gefahr birgt, dass es
Schwarzarbeit gibt, dass Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden und dass Scheinselbstständigkeit entsteht
oder Werkverträge abgeschlossen werden;
({6})
all das beklagen ja auch Sie. Deswegen kommt es gerade
darauf an, dass man die Höhe des Mindestlohns klug bestimmt.
({7})
Es spricht vieles dafür - darauf hat der Kollege Kolb
hingewiesen -, dass man in einzelnen Branchen differenzierte Regelungen treffen sollte.
({8})
Die Lohnfindung liegt in Deutschland in den erfolgreichen Händen der Sozialpartner.
({9})
- Ja, wenn Sie sich mittlerweile für Ihre eigene Gewerkschaftsarbeit schämen, dann tun Sie mir leid. Die
Gewerkschaften haben erfolgreich Arbeitnehmerrechte
verteidigt und dafür gesorgt, dass Arbeitnehmer Arbeitsplätze bekommen haben und regelmäßig gut beschäftigt
worden sind, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({10})
Dass man das jetzt gegen Sie hier verteidigen muss, Herr
Ernst, das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein!
({11})
Das ist ja unglaublich! Das empört mich geradezu.
({12})
- Ja, es gab doch gerade neue Abschlüsse. Schauen Sie
sich an, was die IG Metall in Bayern ausgehandelt hat.
({13})
Es wurden Lohnzuwächse für die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer vereinbart. Das ist doch eine gute Sache. Wir wollen starke Gewerkschaften. Es muss sich
lohnen, in eine Gewerkschaft einzutreten.
({14})
Mensch, dass ich die Gewerkschaften und deren Rechte
hier gegen Sie verteidigen muss, das ist heute Nachmittag ja wirklich verkehrte Welt!
({15})
Aber das machen wir. Wir stehen zu unseren Gewerkschaften.
({16})
Sie sollen die maßgebliche Rolle spielen, wenn es darum
geht, die richtige Lohnhöhe zu finden. Gerade deswegen
sieht unser Modell vor, dass diese Entscheidung dann
bindend sein soll.
Eines will ich den Grünen an dieser Stelle in aller
Ernsthaftigkeit sagen: Für Sie hat das, was die Kommission vorschlägt, nur Empfehlungscharakter, die Entscheidung wollen Sie hinterher aber doch politisch treffen.
({17})
Nein, das, was von einer solchen Kommission vorgeschlagen wird, muss dann bindend sein. Das müssen wir
durchsetzen. Deswegen ist diese Entscheidung gerade
bei den Sozialpartnern in guten Händen.
Abschließend möchte ich Ihnen sagen: Es wird auch
danach noch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die den Mindestlohn, der dann tariflich festgelegt
ist, erhalten und trotzdem, Herr Ernst, keinen eigenständigen Rentenanspruch, der über dem Grundsicherungsniveau liegt, haben. Das liegt daran - das können Sie nie
ausschließen -, dass eine ganze Reihe von Arbeitnehmern nur Teilzeit arbeitet - einige wollen nur Teilzeit arbeiten, andere können nur Teilzeit arbeiten - und dass es
unterbrochene Erwerbsbiografien gibt. Das wird es immer geben. Deswegen werden Sie das Problem auf diese
Art und Weise nicht lösen können. Wir werden uns in
der Rentengesetzgebung auch um diese Fälle noch kümmern müssen.
({18})
Diese Menschen werden staatliche Leistungen wie die
Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich
möchte die linke Seite dieses Hauses abschließend auffordern: Diskreditieren Sie nicht den Empfang staatlicher Sozialleistungen als Empfang von Almosen! Das
sind gesetzliche Ansprüche; die stehen den Menschen
zu, und die Menschen sollen diese Leistungen in Anspruch nehmen; denn dafür sind sie da.
({19})
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({20})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Klaus Ernst.
Lieber Herr Wadephul, Sie haben sich hier als Vorreiter der Gewerkschaften präsentiert. Sie wollen Mindestlöhne verhindern. Ihr Argument in diesem Zusammenhang ist die Stärkung der Tarifautonomie. Zur Stärkung
der Tarifautonomie gehört doch aber, dass man es vereinfacht, dass Tarifverträge in diesem Land für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das wiederum
lehnen Sie - übrigens in trauter Einigkeit mit der FDP ab. Gleichzeitig verwenden Sie das Argument von der
Stärkung der Tarifautonomie.
Zweitens. Zu einer Stärkung der Tarifautonomie
würde auch gehören, dass Gewerkschaften ein eigenes
Klagerecht bekämen, wenn es darum geht, die Geltung
von Tarifverträgen durchzusetzen. Genau das lehnt Ihre
Fraktion zusammen mit der FDP ab. Sie werden mir verzeihen, dass ich Ihnen kein Wort glaube, wenn Sie behaupten, Sie wollten die Tarifautonomie verteidigen.
Wenn Sie sich um die Qualität von Tarifverträgen sorgen, dann ist das so, als ob sich ein Vegetarier um die
Qualität von Schweinefleisch sorgt, Herr Wadephul.
({0})
Zu dem Argument: Weil die Gewerkschaften Löhne
von 3,50 Euro vereinbart haben - und das haben sie -, ist
der Tarifvertrag schon gut. - Ich weiß, wie man Tarifverträge schließt; ich habe selber welche geschlossen, übrigens mit höheren Löhnen. Wenn ich Tarifverträge mit
höheren Löhnen durchsetzen konnte, dann hatte ich entsprechend viele kampfbereite Mitglieder. In vielen Bereichen - das wissen Sie alle, die Sie da sitzen - ist diese
Voraussetzung nicht gegeben. Wie soll man Friseure organisieren?
({1})
Wie soll man Steuerberatergehilfen organisieren? Wie
soll man Leute organisieren, die im Blumenbereich arbeiten,
({2})
Floristinnen und Floristen? Dass dort laut Tarifvertrag so
niedrige Löhne gezahlt werden, liegt schlichtweg daran,
dass die Arbeitgeber die Tarife diktieren können. Weil
das so ist, reicht es nicht aus, zu sagen: Das sollen mal
die Gewerkschaften regeln!
({3})
Union und FDP wollen erstens schwache Gewerkschaften und zweitens keine Mindestlöhne, um für die
Arbeitgeber möglichst niedrige Löhne durchsetzen zu
können. Was Ihre eigene Klientel angeht, haben Sie
nichts gegen staatlich aufgestockte Löhne. Das haben
die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land inzwischen
erkannt. Die Menschen in diesem Land - quer durch alle
Wählerschichten, auch Ihre eigenen Wähler - sind längst
für einen Mindestlohn. Ich hoffe - das würde ich mir
sehr wünschen -, dass sie endlich merken, dass Sie hier
im Bundestag gegen die Interessen Ihrer eigenen Wähler
handeln.
({4})
Zur Erwiderung Kollege Wadephul.
Herr Kollege Ernst, das Gegenteil von dem, was Sie
gerade behauptet haben, ist wahr. Ich will Sie einmal darauf hinweisen, dass mittlerweile in 15 Branchen tarifliche Mindestlöhne nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
gelten.
Die Anzahl der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge ist gewachsen: Nach einem Tiefstand von
446 Tarifverträgen im Jahre 2006 sind es 2012 bereits
wieder 502 Tarifverträge gewesen. Das heißt, die Allgemeinverbindlichkeitserklärung - das ist unter dieser
Bundesregierung, unter dieser Koalition geschehen - hat
Konjunktur. Wir praktizieren branchenangemessene Lösungen, und - das muss man eindeutig sagen - diese Lösungen funktionieren, Herr Kollege Ernst.
({0})
Zweitens. Herr Kollege Ernst, Sie sind schon etwas
länger aus der gewerkschaftlichen Arbeit heraus. In der
Friseurbranche ist jetzt eine Einigung gelungen. Die Verhältnisse in dieser Branche sind immer wieder beklagt
worden. Gerade in dieser Branche hat man sich jetzt auf
eine stufenweise Erhöhung der Löhne geeinigt: In der
ersten Stufe sind es 6,50 Euro in Ostdeutschland und
7,50 Euro in Westdeutschland;
({1})
in der dritten Stufe - im August 2015 - werden es
8,50 Euro in ganz Deutschland sein. Das haben Gewerkschaften erstritten.
({2})
Wenn Sie davon nichts wissen, dann ist das in der Tat
traurig.
({3})
Aber ich sage Ihnen: Diejenigen, die sich in Gewerkschaften engagieren, wissen, warum sie das machen,
wissen, welchen Nutzen sie haben. Reden Sie die Tarifautonomie, die wir in unserem Land haben, nicht
schlecht! Sie funktioniert, und sie ist ein Teil des Erfolgsmodells Bundesrepublik Deutschland.
Vielen Dank.
({4})
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Johannes Vogel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe dem flammenden Plädoyer des Kollegen Wadephul
für die Tarifautonomie nichts hinzuzufügen. Ich schließe
mich dem vollinhaltlich an.
({0})
- Lieber Herr Ernst, wer hier Ahnung davon hat, das,
glaube ich, haben Sie eben mit entlarvender Klarheit
deutlich gemacht.
({1})
Wer hier im Deutschen Bundestag als Ex-Gewerkschafter sagt: „Wie soll man Friseurinnen organisieren?“,
wenn für die Friseurbranche gerade ein tariflicher Mindestlohn beschlossen wurde, der entlarvt sich und seine
Glaubwürdigkeit bei diesem Thema selber, Herr Ernst.
({2})
Apropos „entlarven“. Wir reden heute auch über einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Frau Kollegin
Pothmer, auch Sie haben ein großes Rad gedreht und uns
zum Beispiel eine Mogelpackung vorgeworfen.
({3})
Wer das tut, der muss natürlich selber bei den Fakten sicher sein. Ich habe mir Ihren Antrag durchgelesen. Auch
wenn wir die Diskussion über den Mindestlohn hier
nicht zum ersten Mal führen, lesen wir jedes Mal wieder,
was Sie uns als Antrag vorlegen. Als Verweis auf einen
angeblich katastrophal hohen Niedriglohnsektor in
Deutschland führen Sie das Jahr 2010 an. Ich habe mich
gefragt, warum.
({4})
Vielleicht deshalb, weil seit 2010 der Anteil des Niedriglohnsektors in Deutschland zurückgegangen ist, vielleicht also, weil unter dieser Koalition der Niedriglohnsektor geschrumpft ist. Wollten Sie das außen vor lassen,
oder warum stellen Sie hier falsche Fakten dar?
({5})
Aktuelle Fakten sind es jedenfalls nicht.
Festzuhalten bleibt: Seitdem diese Koalition regiert,
ist nicht nur die Arbeitslosigkeit auf Rekordniveau gesunken. Auch der Niedriglohnsektor ist geschrumpft,
und das ist gut. Deshalb waren das vier gute Jahre für
Deutschland. Das wollen wir fortsetzen, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
({6})
Ein zweiter Punkt, der in meinen Augen belegt, dass
Sie bei den Fakten bestimmte Dinge außen vor lassen:
Sie schreiben in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, die Bundeskanzlerin habe zu
Unrecht gesagt, es gebe einen Zusammenhang zwischen
Mindestlöhnen und Arbeitslosigkeit. Man muss einfach
einmal den Bericht der OECD lesen, die uns noch Anfang 2012 wieder bescheinigt hat, dass es gerade bei der
hohen Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern Europas
einen Zusammenhang mit den bestehenden zu hohen
Einheitsmindestlöhnen gibt. Liebe Frau Kollegin
Pothmer, wollen Sie das auch für Deutschland? Wir wollen den französischen Weg mit extremer Jugendarbeitslosigkeit nicht gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen.
({7})
Ist deshalb nichts zu tun? Doch, es ist etwas zu tun.
Natürlich gibt es Branchen, bei denen wir für eine faire
Entlohnung sorgen müssen, weil dort Löhne gezahlt
werden, die niemand akzeptieren will. Deshalb ist es
auch richtig, wie der Kollege Wadephul und der Kollege
Kolb schon ausgeführt haben, dass diese Koalition in unzähligen neuen Branchen tarifliche Lohnuntergrenzen
eingeführt hat. Das ist in den letzten Jahren dieser Regierungskoalition aktuell allein für mehr als 2 Millionen
Menschen geschehen.
({8})
Weil diese Löhne von konkret betroffenen Tarifpartnern,
von Arbeitgebern und Gewerkschaften, branchendifferenziert festgelegt werden, wird auf der einen Seite für
faire Entlohnung gesorgt; die Löhne sind aber auf der
anderen Seite nicht so hoch angesetzt, dass sie Einstiegschancen verhindern und zur Arbeitslosigkeit beitragen.
Das ist genau die Balance, die wir in Deutschland am
Arbeitsmarkt brauchen. Deswegen ist es richtig, dass wir
diesen Weg gegangen sind, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Kollege Vogel, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung der Kollegin Krellmann?
({0})
Eine Frage der Kollegin Krellmann lasse ich zu.
Das ist sehr nett von Ihnen. - Wir sind alle noch bei
der Arbeit. Auch ich möchte gerne nach Hause. Aber ich
möchte, dass wir diesen Punkt der Tagesordnung so
lange diskutieren, wie dies notwendig ist.
({0})
Am Mittwoch hat mein Kollege Klaus Ernst sehr genau erklärt, wie das in Österreich und Frankreich mit der
Jugendarbeitslosigkeit ist. Er hat deutlich gemacht, dass
das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hat.
Wenn Sie zugehört hätten, hätten Sie das mitbekommen.
Welche Aufgaben billigen Sie denn den Gewerkschaften in dieser Gesellschaft zu? Sie setzen doch politisch die Rahmenbedingungen für Gewerkschaften. Das
bedeutet auch, dass Sie für Gewerkschaften einen Mindestlohn setzen. Gewerkschaften müssen darauf aufsetzen und nicht schaffen, was Sie bisher nicht geschafft
haben. Sie müssen auch nicht den Trümmerhaufen von
Niedriglöhnen wegräumen, den es in diesem Land gibt.
({1})
Liebe Frau Kollegin Krellmann, ich finde es interessant, dass Sie sich hier als Vertreterin der Linken für ausführliche Beratungen und langes Tagen des Deutschen
Bundestages aussprechen. Gestern Abend haben wir das
Gegenteil erlebt, beantragt durch Sie.
({0})
Sie haben die Feststellung der Beschlussfähigkeit beantragt und waren selber nur mit 11 von 75 Abgeordneten
anwesend. Gestern hätten wir noch lange tagen können.
({1})
- Frau Kollegin Krellmann, haben Sie Interesse an der
Antwort? Dann würde ich sie gerne geben.
Österreich ist ein gutes Beispiel. Sie gehen übrigens,
wie auch unsere skandinavischen Nachbarn, nicht den
Weg eines Einheitsmindestlohnes, sondern haben branchendifferenzierte Lohnuntergrenzen eingeführt.
({2})
- Lieber Herr Ernst, Sie greifen sich Österreich heraus
und sagen: Wir setzen diesen Lohn in Deutschland gesetzgeberisch fest. Das ist keine gute Politik. Erstens
würden Sie mit Ihrer Forderung von 10 Euro bei vielen
Branchen, die Löhne auf einem Niveau von knapp unter
10 Euro vereinbart haben, als Zensor der Tarifpartner
auftreten.
({3})
Die Tarifpartner werden Gründe für ihren Abschluss gehabt haben, zum Beispiel, weil sonst die Arbeitslosigkeit
steigen würde.
Zweitens zeigt doch Ihre Bemerkung am Mittwoch
im Ausschuss, die ich genau verfolgt habe, Herr Ernst,
dass Sie den Kern der Sache nicht verstanden haben. Der
Unterschied ist: Die Tarifpartner legen Branche für
Branche die konkrete Lohnhöhe fest. Wenn Sie daraus
ableiten, das gesetzlich festzulegen, ist das das genaue
Gegenteil. Wenn Politiker die Löhne bestellen, dann
zahlen die Menschen die Rechnung dafür, Herr Ernst, indem sie keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt haben.
({4})
Das wollen wir nicht. Wir gehen den Weg tariflicher
Lohnuntergrenzen Branche für Branche schon in dieser
Legislaturperiode. Wir wollen das in der kommenden
Legislaturperiode fortsetzen. Wir wollen die Gesetze so
reformieren, dass überall dort, wo es ein Problem gibt,
eine Lohnuntergrenze möglich ist, aber eben im Einklang mit der Tarifautonomie und der sozialen Marktwirtschaft. Dann haben wir auf der einen Seite faire
Löhne für alle Menschen und auf der anderen Seite weiterhin gute Einstiegschancen und eine niedrige Arbeitslosigkeit. Das ist der bessere Weg für Deutschland.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Max Straubinger hat nun für die Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die Anträge sind nicht neu; wir diskutieren das Thema
zum x-ten Male. Es geht um die Frage: Soll es einen gesetzlichen Mindestlohn geben oder nicht? Ich glaube, die
Antworten sind sowohl jetzt als auch in den vergangenen
Debatten deutlich geworden. Dass es letztendlich um einen politischen Lohn geht, belegen ja die beiden Anträge. Die Linken fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro, und die Grünen verlangen 8,50 Euro,
wie die SPD in der Regel auch. Das zeigt sehr deutlich,
dass hier eine politische Lohnfestsetzung stattfinden
soll.
({0})
Das ist mit unserem System der Tarifautonomie meines
Erachtens in keiner Weise zu verbinden und wäre auch
schädlich für den Wirtschaftsstandort Deutschland und
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir sehen, dass in anderen europäischen Ländern, in
denen es zu hohe Mindestlöhne gibt, die Jugendarbeitslosigkeit enorm gestiegen und darüber hinaus grundsätzlich eine weit höhere Arbeitslosigkeit als bei uns zu verzeichnen ist.
({1})
In Frankreich zum Beispiel, Frau Kollegin Pothmer, einem der größten Länder in Europa, ist die Jugendarbeitslosigkeit wesentlich höher als bei uns. Das ist traurig für
die Jugendlichen dort. Der Mindestlohn nützt dort nieMax Straubinger
mandem; denn wenn jemand auf Mindestlohnbasis eingestellt wird, zahlt der französische Staat 26 Prozent des
Sozialversicherungsbeitrages und zusätzlich noch Unterstützungsleistungen. Das bedeutet nach Berechnungen
von wissenschaftlichen Instituten, dass jeder dieser Arbeitsplätze mit 70 000 Euro subventioniert wird. Das
kann letztendlich keine zielführende Politik sein und
zeigt sehr deutlich, dass wir gut daran tun, weiterhin an
der bewährten Tarifautonomie, nämlich der Festsetzung
der Löhne durch die Tarifpartner, festzuhalten. Sie sind
letztendlich die Grundlage für ein gutes und wettbewerbliches System.
({2})
- Das wollen Sie nicht.
({3})
- Nein.
Sie widersprechen sich ja auch in Ihrem Antrag. Sie
fordern zum Beispiel, „eine Mindestlohnkommission
nach britischem Vorbild aus Vertretern der Gewerkschaften, der Arbeitgeber und der Wissenschaft“ einzurichten.
So weit, so gut. Aber mir ist nicht bekannt, dass in Großbritannien von politischer Seite eine Vorgabe gemacht
wird und dass diese Kommission nur einen Mindestlohn
vereinbaren darf, der oberhalb einer von der Politik gezogenen Grenze liegt. Dann könnten Sie sich diese
Kommission sparen, liebe Frau Kollegin Pothmer. Ich
möchte das lieber den Tarifpartnern überlassen.
({4})
Sie zitieren immer die Umfrage - das hat auch der
Kollege Klaus Ernst getan -, wonach 80 Prozent der
Menschen in unserem Land für Mindestlöhne seien. Ich
bin dafür, dass die Menschen höhere Löhne bekommen.
Nach meinen Umfrageergebnissen sind die Menschen
auch für höhere Löhne, aber nicht für Mindestlöhne,
Herr Kollege Ernst.
({5})
Das ist doch das Entscheidende: Es geht nicht um den
Kampf für einen Mindestlohn, sondern um eine bessere
Bezahlung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Dafür stehen die Union, die FDP und diese Regierungskoalition.
({6})
Wir stehen auch dafür, dass es Arbeit gibt in unserem
Land. Das sind die Erfolge dieser Bundesregierung und
der sie tragenden Fraktionen.
Seit dem Ende der rot-grünen Regierungszeit haben
wir 2 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen, weil wir wettbewerbsfähiger geworden sind.
({7})
Wir wären nicht wettbewerbsfähig geworden, wenn wir
den Arbeitsmarkt stranguliert hätten. Wir sind nur wettbewerbsfähig geworden, weil wir manche Regelung gelockert und flexiblere Beschäftigungsformen ermöglicht
haben. Das war in der Vergangenheit ein Erfolg; aber das
wird auch in der Zukunft ein Erfolg sein. Das wissen die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
Deshalb werden sie am 22. September wieder großes
Vertrauen in die CDU und in die CSU setzen.
In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Der Kollege Karl Schiewerling hat ebenfalls für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ursprünglich sollte die Kollegin Connemann sprechen. Sie
ist heiser geworden; aber als sie dann noch die Rede der
Frau Pothmer gehört hat, hat es ihr die Stimme verschlagen.
({0})
Deswegen stehe ich hier.
Bei all dem, was wir hier diskutiert haben, will ich Ihnen sagen, dass Frau Pothmer in einem Punkt völlig
recht hat: Der Mindestlohn wird kommen, aber nicht der
gesetzliche, sondern der tarifliche,
({1})
nicht der Mindestlohn, den der Deutsche Bundestag festgesetzt hat, sondern der, den die Tarifpartner festgesetzt
haben, nicht ein Mindestlohn, der in Verhandlungen in
diesem Hause entstanden ist, sondern ein Mindestlohn,
der von einer Kommission entwickelt wurde, paritätisch
besetzt mit Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaftern.
Damit das gar nicht erst missverstanden wird: Wir
nehmen die Rolle der Tarifpartner so ernst, dass wir
keine Zahl vorgeben. Wir sagen lediglich: Ihr habt eine
Lösung zu finden, und zwar überall da, wo Tarifverträge
nicht greifen oder nicht vorhanden sind.
({2})
Wir schreiben den Tarifpartnern nicht vor, möglichst
viele Mindestlöhne für viele kleine Branchen in vielen
kleinen Regionen zu schaffen. Wir sind für einen möglichst einheitlichen Mindestlohn. Aber letztendlich
entscheiden sie, ob das sinnvoll ist oder ob man einen
anderen Weg gehen sollte. Diese Freiheit hat die Kommission; das ist unser erklärtes Ziel. Das hat etwas mit
Tarifautonomie zu tun und übrigens auch mit wirtschaftlichem Sachverstand, der sich in der Bundesrepublik
Deutschland in dieser Konstellation über 65 Jahre bewährt hat.
({3})
Herr Kollege Ernst, ich will Ihnen deutlich sagen: Es
ist nicht so, dass wir hier ständig über den Mindestlohn
reden, aber nichts passiere. Wir werden wahrscheinlich,
so vermute ich, in den nächsten verbleibenden zwei Sitzungswochen noch heftig darüber diskutieren. In der
Zeit, in der wir hier diskutieren, passiert aber eine ganze
Menge. Die von Ihnen oft zitierte Friseurin mit einem
Stundenlohn von 3,52 Euro hat mittlerweile einen Tarifvertrag. Wir haben für Branchen Lösungen gefunden.
Wenn Sie behaupten, diese Koalition handle nicht, will
ich Ihnen deutlich sagen: Diese Koalition hat in einer
zentralen Branche, nämlich im Bereich der Zeitarbeit,
für Regulierungen und Strukturen gesorgt; Sie hingegen
hatten hier dereguliert. Wir haben über diesen Weg wieder für mehr Gerechtigkeit gesorgt. Das lassen wir uns
weder von Ihnen noch von jemand anderem kaputtreden.
({4})
Wir haben vielfältige Instrumente, um zu Lohnuntergrenzen oder zu tariflichen Mindestlöhnen zu kommen.
Da gibt es das Mindestarbeitsbedingungengesetz und die
Allgemeinverbindlicherklärung. So hat zum Beispiel der
ehemalige nordrhein-westfälische Arbeitsminister KarlJosef Laumann Allgemeinverbindlicherklärungen für
verschiedene Branchen erreicht. Zudem gilt das Arbeitnehmer-Entsendegesetz mit all seinen Gestaltungsmöglichkeiten.
Wer so tut, als würde das Heil der Welt ausschließlich
von einem Mindestlohn von 8,50 oder 10 Euro abhängen, weil dann alle Fragen geklärt wären, der erzählt den
Menschen dummes Zeug.
({5})
Die Probleme der Alterssicherung werden wir mit einem
Mindestlohn nicht lösen können. Zudem richtet sich ein
tariflicher Mindestlohn - genauso wie ein Tarifvertrag in der Regel nicht danach, wie groß die Familie ist, die
zu ernähren ist. Wir werden immer wieder - auch in Zukunft - Familien unterstützen müssen, damit sie auskömmlich leben und ihren Aufgaben nachgehen können.
({6})
Hier ist ein Mindestlohn keine Lösung.
({7})
Die Unionsfraktion hat ein Konzept entwickelt. Wir
werden dieses nach dem 22. September im Koalitionsvertrag festschreiben. Wir werden für mehr Gerechtigkeit in diesem Land sorgen. Ich bin sicher, dass den
Menschen mehr gedient ist, wenn diejenigen, die den nötigen Sachverstand haben, einen tariflichen Mindestlohn
festlegen, als wenn andere Vorgaben machen.
Alles andere haben die Vorredner aus meiner Fraktion
präzise, gut und ordentlich dargelegt. Das brauche ich
nicht mehr zu ergänzen.
Ich danke Ihnen herzlich.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/13551 sowie zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/13719.
Die Fraktion Die Linke sowie die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünschen jeweils Abstimmung in der Sache. Die Fraktion der CDU/CSU und die Fraktion der
FDP wünschen jeweils Überweisung federführend an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales und mitberatend
an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie.
Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über die
Anträge auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb: Wer stimmt für die beantragten Überweisungen? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen. Wir stimmen heute
nicht in der Sache ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz in Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 17/13661 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido Westerwelle.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Vor gut einem Monat, am 19. April, unterzeichneten der serbische Premierminister und sein kosovariBundesminister Dr. Guido Westerwelle
scher Amtskollege eine Erste Vereinbarung von Prinzipien zur Regelung der Normalisierung der Beziehungen.
Hinter diesem sperrigen Titel verbirgt sich eine ganz bedeutende politische Entwicklung, die wir würdigen wollen; denn die Normalisierung der Beziehungen ist die
Voraussetzung dafür, dass das, was vor anderthalb Jahrzehnten als Krieg und Unglück über die gesamte Region
und Europa gekommen ist, durch Stabilität und Ausgleich überwunden werden kann.
Natürlich ist eine solche Vereinbarung nur ein erster
Schritt. Der Implementierungsplan, der vor wenigen Tagen in Brüssel unterzeichnet worden ist - übrigens unter
sehr konstruktiver Beteiligung von Cathy Ashton und des
Europäischen Auswärtigen Dienstes -, ist der zweite.
Jetzt geht es darum, dass mit konkreten, nachprüfbaren
Umsetzungsschritten der Implementierung dieser Normalisierung nachgegangen wird.
Der Plan ist ambitioniert, aber er hat eine positive Dynamik erzeugt. Beide Seiten zeigen den politischen Willen zur Normalisierung und zur Umsetzung der eingegangenen Verpflichtungen. Wenn ich die Beschlüsse des
Deutschen Bundestages, dieses Hohen Hauses, der letzten Jahre richtig bewerte, werden wir über die Fraktionsund Parteigrenzen hinweg diese Entwicklung der Normalisierung gemeinsam begrüßen.
({0})
Ich habe auch persönlich den Eindruck gewonnen,
dass Belgrad und Pristina die Einigung wollen. Trotz aller gebotenen Vorsicht kann man sagen, dass die politische Führung in Belgrad eine strategische Entscheidung
getroffen hat: Sie will die Beziehungen zu Kosovo normalisieren. In dieser entscheidenden Weichenstellung
wollen wir sie bestärken. Deshalb war und ist es richtig,
die Frage der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
zwischen der Europäischen Union und Serbien mit der
Frage der Normalisierung des serbisch-kosovarischen
Verhältnisses zu verknüpfen. Unsere Botschaft ist ganz
klar: Die territoriale Integrität von Staaten auf dem westlichen Balkan darf nicht infrage gestellt werden.
Wir konnten erste Etappenerfolge erzielen. Das liegt
nicht zuletzt auch an dem Stabilisierungseinsatz, an dem
sich Deutschland seit nunmehr 14 Jahren beteiligt. Die
NATO-geführte Operation KFOR hat Entscheidendes
geleistet. Das militärische Engagement der Bundeswehr
hat sich bewährt und eine politische Lösung des Ausgleichs und der Annäherung ermöglicht. Letzten Endes
wird es eine langfristige Perspektive für Frieden und Stabilität auf dem westlichen Balkan nur durch eine entsprechende politische Entwicklung geben; aber unsere
Frauen und Männer der Bundeswehr, das internationale
Engagement im Rahmen der Operation KFOR, haben
Entscheidendes geleistet. Dies ist ein Beispiel dafür,
dass wir mit der richtigen Balance von politischen Ansätzen und militärischer Unterstützung gemeinsam Großes bewirken können.
Über viele und oft sehr unruhige Jahre hinweg war
KFOR das Rückgrat der Sicherheitspräsenz in Kosovo.
Inzwischen ist die Lage in Kosovo insgesamt grundsätzlich ruhig und stabil. Im Norden musste KFOR allerdings auch im vergangenen Jahr mehrfach aktiv werden.
Ich will ausdrücklich sagen: Zwischenfälle bleiben weiter möglich; denn wir wissen, dass es sich dort zum Teil
auch um organisierte Kriminalität handelt. Es gibt eine
Form von Radikalität, der wir gewahr sein müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir weiter wachsam bleiben.
Ermutigend ist neben den politischen Vereinbarungen
zwischen Belgrad und Pristina auch der Aufbau einer
kosovarischen Polizei und von kosovarischen Sicherheitskräften, die rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen.
Dem Ziel multiethnisch organisierter und professionell
geführter Einheiten ist Kosovo schon viel näher gekommen.
Viele Kolleginnen und Kollegen in diesem Saal kennen die Entwicklungen in diesem Bereich seit 15 Jahren
und erinnern sich sicher auch noch an die Debatten, die
wir im alten Plenarsaal des Deutschen Bundestages in
Bonn geführt haben. Viele sind selbst in der Region gewesen und werden auch die Truppen besucht haben. Ich
finde, es ist Anlass, gerade dann, wenn sich ein Erfolg
abzeichnet, in Dankbarkeit auf diejenigen zu schauen,
die diesen Erfolg in eineinhalb Jahrzehnten ermöglicht
haben, indem sie dort ganz persönlich mit ihrer Gesundheit, mit Leib und Leben, geradegestanden haben.
({1})
Wir wollen diesen erfolgreichen Stabilisierungseinsatz fortführen. Der Bundesverteidigungsminister und
ich empfehlen Ihnen - das beantragen wir auch -, dass
Personalobergrenze, Auftrag und Einsatzgebiet unverändert bleiben. Unverändert bleiben auch unsere Ziele,
nämlich Kosovo stabil zu halten und den Frieden in der
Region zu sichern. Dafür arbeitet KFOR. Im Namen der
Bundesregierung bitten wir deshalb um die Zustimmung
zu diesem Mandat.
Danke schön.
({2})
Der Kollege Gernot Erler hat nun für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Weil KFOR zur Absicherung von Frieden und Stabilität
im Kosovo immer noch gebraucht wird, wird die SPDBundestagsfraktion der Verlängerung des Einsatzes
deutscher Soldaten im Rahmen der Kosovo Force zustimmen.
Wir sind uns als eine von 30 Nationen, die sich an
KFOR beteiligt, unserer Verantwortung bewusst. Mit
830 tatsächlich eingesetzten Soldaten stellen wir das
größte Kontingent, gemessen am Gesamtumfang von
5 500 Soldatinnen und Soldaten. Seit fast vier Jahren tragen wir vor Ort die Führungsverantwortung. Wir halten
es auch für richtig, bei der bisherigen Obergrenze von
850 Kräften zu bleiben. Schließlich haben wir im letzten
Jahr erlebt, dass die operative Reserve eingesetzt werden
musste und dabei der deutsche Anteil vorübergehend sogar auf 1 250 eingesetzte Kräfte anstieg. Solche Fälle
kann man leider für die Zukunft nicht völlig ausschließen.
KFOR wird aber auch gebraucht, um die größte zivile
Mission der EU, die Rechtsstaatsmission EULEX, in die
Lage zu versetzen, ihren unverzichtbaren Beitrag zum
Aufbau von Polizei, Gerichtswesen und Zoll im Kosovo
zu erbringen. Schließlich hilft die Anwesenheit von
KFOR-Kräften auch beim Aufbau der KSF, der kosovarischen Sicherheitskräfte, die gute Fortschritte machen,
die immer mehr Aufgaben übernehmen und zukünftig
die Verantwortung für die Sicherheit im Kosovo tragen
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere heutige Entscheidung erinnert uns daran, wie oft wir das KFORMandat schon verlängert haben - seit 1999 immerhin
13-mal. Über 100 000 deutsche Soldaten sind schon im
Kosovo eingesetzt worden. Man kann sagen: Heute steht
es zum ersten Mal gut für die Perspektive, dass wir vielleicht bald auf diese Mission verzichten können. Sie,
Herr Minister, haben das eben angesprochen. Der Grund
liegt darin, dass zuletzt die Weichen in Richtung einer
Normalisierung des Verhältnisses von Serbien und Kosovo gestellt werden konnten.
Die SPD-Bundestagsfraktion schließt sich ausdrücklich der Bewertung an, dass dieses Erste Abkommen
über die Prinzipien über die Normalisierung der Beziehungen - so heißt es wörtlich - zwischen Belgrad und
Pristina als politischer Durchbruch zu werten ist. Wir
gratulieren Baroness Ashton zu ihrem Erfolg vom
19. April dieses Jahres, zu dem zehn schwierige Verhandlungsrunden geführt haben. Wir wissen natürlich,
dass es die europäische Perspektive war, die bei beiden
Partnern, bei Serbien wie beim Kosovo, zu der nötigen
Kompromissbereitschaft geführt hat.
Wir sind fest davon überzeugt, dass diesmal kein
Spiel betrieben wird, was wir leider in der Vergangenheit
gelegentlich erlebt haben. Dafür spricht, dass von beiden
Seiten schon am 22. Mai ein verbindlicher Implementierungsplan vorgelegt und bis zum 26. Mai angenommen
wurde. Dieser Implementierungsplan scheint sehr ambitioniert zu sein. Bis Mitte Juni - das ist nicht lange hin sollen wichtige Fragen behandelt sein, nämlich die
Beendigung der Parallelstrukturen im Norden, die Beendigung der Paralleljustiz, die Transparenz serbischer
Geldzahlungen, die Vorbereitung der Gründung des Gemeindeverbandes, die Vorbereitung der Kommunalwahlen, bestimmte Gesetzesänderungen - ich nenne das
kosovarische Amnestiegesetz - sowie Vereinbarungen
zu den bisher offengebliebenen Themen Energie und Telekommunikation. Auch die weitere Roadmap für diese
Implementierung ist mit konkreten Zieldaten verknüpft.
Ich sage noch einmal: Nicht das erste Abkommen zur
Normalisierung, aber seine offensichtlich engagiert angegangene Implementierung kann sehr bald dazu führen,
dass wir hier im Deutschen Bundestag über eine Verkleinerung oder gar ein Auslaufen von KFOR sprechen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist im deutschen
Interesse, die Motivation zur Umsetzung des ersten Abkommens aufrechtzuerhalten. Die Frage ist: Tut dies die
Bundesregierung im Moment? Diese Frage ist verbunden mit Serbiens Interesse an einer raschen Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen mit der EU.
Die EU-Kommission hat sich in ihrem letzten Fortschrittsbericht zu Serbien vom 22. April dieses Jahres
eindeutig für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
ausgesprochen und dies aus unserer Sicht überzeugend
begründet. Das Auswärtige Amt teilt ganz offensichtlich
diese Position. Jedenfalls war das noch am 27. Mai der
Fall, als Staatsminister Link im Rahmen der sogenannten Einvernehmensherstellung zwischen Bundesregierung und Bundestag an den Bundesratspräsidenten
schrieb und dabei engagiert für die Verhandlungsaufnahme warb. Wörtlich heißt es in dem Schreiben:
Eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen unter
den genannten Maßgaben würde nach Auffassung
der Bundesregierung auch dazu beitragen, die Fortsetzung des Normalisierungsprozesses zwischen
Serbien und Kosovo sicherzustellen und einen
wichtigen Beitrag zur weiteren Stabilisierung der
Region leisten.
Da können wir nur zustimmen. Aber leider sehen das
nicht alle so. Inzwischen hat offensichtlich das Kanzleramt interveniert und Sie, Herr Westerwelle, auf Linie gebracht. Das ist auch der Grund, warum Sie jetzt zu einem
Punkt nicht Stellung bezogen haben: ob Sie dafür sind,
dass der Europäische Rat am Ende dieses Monats den
Weg für die Verhandlungen frei macht oder nicht.
Die Koalition wird ganz offensichtlich ihre Mehrheit
dazu nutzen, ein Einvernehmen zwischen der Bundestagsmehrheit und der Bundesregierung dergestalt herzustellen, dass es beim Europäischen Rat am 27./28. Juni
2013 entweder gar keinen oder einen abschlägigen Beschluss in Sachen Verhandlungsaufnahme mit Serbien
geben wird. Ausdrücklich wird gesagt, das soll dann
nicht vor 2014 erfolgen.
Die Bundeskanzlerin, in der Durchdrückung ihrer
Meinung gegen andere europäische Staaten geübt, wird
kein Problem haben, diese Blockadehaltung durchzusetzen, weil eine Verhandlungsaufnahme in der EU
einstimmig beschlossen werden muss. Den positiven
Beitrag zur Fortsetzung des Normalisierungsprozesses
zwischen Serbien und Kosovo, wie es das Auswärtige
Amt angekündigt hat, wird es also nicht geben. Für alle
sichtbar wird es stattdessen Deutschland sein, das die
Tür aus wahlpopulistischen Gründen jetzt zuknallt, und
das mitten in einer entscheidenden Phase der Lösung der
uns schon so lange beschäftigenden Kosovo-Probleme.
Schade, Herr Minister Westerwelle, dass Sie hier nach
dem Motto „Hier stehe ich, ich kann auch anders“
schlicht umgefallen sind.
({0})
Sie von der Regierungskoalition - um das einmal
ganz deutlich klarzustellen - tragen hierfür die volle Verantwortung, auch für alle politischen Folgen, die das hat,
bis hin zur weiteren Verlängerung des Einsatzes der
Bundeswehr im Namen von KFOR.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister der Verteidigung,
Dr. Thomas de Maizière.
({0})
Frau Präsidentin, gestatten Sie mir eine ganz kurze
Vorbemerkung. Ich war eben in Sachsen-Anhalt und
habe die Soldaten besucht, die gegen die Fluten kämpfen. Das sind im Moment 11 500. Das sind mehr als im
Jahre 2002. Die Hilfeleistung funktioniert also auch
ohne Wehrpflicht. Die Stimmung ist sehr gut, und es gibt
ein unglaubliches Miteinander von Bevölkerung und
Bundeswehr. Das wollte ich Ihnen mitteilen, verbunden
mit einem lauten Dankeschön.
({0})
Herr Kollege Westerwelle hat darauf hingewiesen,
dass die politischen Bemühungen um eine Befriedung
des Balkans Früchte zeigen. Dieser Erfolg zeigt: Unser
Engagement lohnt sich. Er zeigt auch, dass unser Vorgehen richtig war und ist. Wir stimmen uns eng mit unseren internationalen Partnern ab. Wir verfolgen hier insbesondere mit dem Konzept der vernetzten Sicherheit
den richtigen Ansatz zur dauerhaften Stabilisierung der
Region. Wir zeigen politische Ausdauer und stehen zu
unseren Zusagen.
Zum Konzept der vernetzten Sicherheit gehört viel, in
diesem Fall auch die Präsenz und der Einsatz von Soldaten. Der Kosovo braucht, wie der Balkan insgesamt,
eine politische Lösung. Darin sind sich Regierung und
Opposition einig. Die NATO-Mission spielt eine eigene,
wichtige Rolle in diesem Friedensprozess; ich begrüße,
dass hier Übereinstimmung besteht.
Die Lage in der Republik Kosovo ist zwar grundsätzlich ruhig und stabil; allerdings ist das Eskalationspotenzial nach wie vor erheblich, besonders im Norden. Die
jüngsten Meldungen zeigen - Sie haben es gehört -:
Längst nicht alle Kosovo-Serben im Norden sind davon
überzeugt, dass die von Belgrad und Pristina beabsichtigte Normalisierung auch ihnen neue Perspektiven bietet. Wir müssen daher weiterhin auf Unruhen vorbereitet
sein. Wir haben zwar die operative Reserve, wie Sie wissen, im Dezember 2012 zurückziehen können; aber während die Bewegungsfreiheit der KFOR wiederhergestellt
ist, gilt dies für die Polizei- und Rechtsstaatsmission
EULEX nicht uneingeschränkt.
Deshalb ist die Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte im Rahmen der NATO an dieser internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo unverändert notwendig. Die deutschen Kräfte werden gebraucht. Die
internationale Truppenpräsenz KFOR ist so lange erforderlich, bis die Sicherheitsorgane Kosovos, unterstützt
durch EULEX, die Sicherheit aller Bevölkerungsgruppen in ganz Kosovo gewährleisten können. Die Entwicklung dieser Sicherheitskräfte hat Fortschritte gemacht.
Das gilt für die Polizei ebenso wie für die Kosovo Security
Force. Ein Beispiel für die Polizei - das hat hier in früheren Jahren eine große Rolle gespielt -: Sieben der neun
besonders schützenswerten serbischen Denkmäler und
serbisch-orthodoxen Klöster im Kosovo werden inzwischen durch die kosovarische Polizei gut geschützt. Bei
einem achten Kulturgut, einem Kloster, steht die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Polizei unmittelbar bevor.
Die Kosovo Security Force ist ein wichtiges, stabilisierendes Element in diesem Land, weil sie multiethnisch zusammengesetzt ist, sich auch so versteht und
deswegen eine Klammer in diesem komplizierten Gebilde des Kosovo bildet. Die Einsatzbereitschaft ist in
einzelnen Aufgabengebieten bereits gegeben. Wir werden ihre weitere Ausbildung und Entwicklung in Form
von Verbindungs- und Beratungsteams begleiten.
Es ist schon gesagt worden: Die Personalobergrenze
von 1 850 Soldatinnen und Soldaten bleibt erhalten. Darin ist gedanklich eine Reserve enthalten; im Moment
sind im Durchschnitt 750 Soldatinnen und Soldaten dort.
Wir wollen dort nicht mehr Personal als nötig haben,
aber der Puffer nach oben ist nötig. Wir haben in der
Vergangenheit gezeigt, dass wir damit verantwortungsvoll umgehen. So können wir auf Lageänderungen entsprechend reagieren. Die Obergrenze hat, selbst wenn
sie nicht ausgeschöpft ist, eine stabilisierende Wirkung.
Die Zusagen der NATO und der EU gelten. Kosovo
und Serben sind angehalten, weiter aufeinander zuzugehen und ihre Vereinbarungen rasch, sicher und nachhaltig in die Tat umzusetzen. Wir bitten um eine Verlängerung des Mandats, diesmal in unveränderter Weise. Wir
hoffen, dass wir beim Personal, was den Sicherheitsbereich angeht, über kurz oder lang zu Verringerungen
kommen, aber erst und immer im Einklang mit der politischen Lage.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Inge Höger für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Teile
und herrsche“ war stets die Maxime deutscher Politik
auf dem Balkan; das zieht sich wie ein roter Faden durch
die letzten 100 Jahre. Das wurde beim Zerfall Jugoslawiens und der frühen Anerkennung Kroatiens durch die
BRD 1991 deutlich. Mit der Bombardierung Belgrads
und anderer Orte hat diese Geschichte 1999 einen traurigen Höhepunkt erreicht. Diese gescheiterte Politik füh31050
ren Sie nun Jahr für Jahr mit der Verlängerung des
KFOR-Mandats fort. Die Linke akzeptiert das nicht.
({0})
Ich war im April erneut in der Region und habe mit
Friedensgruppen, Frauengruppen, Gewerkschaftern,
Wissenschaftlern, Regierungs- und Oppositionsvertretern gesprochen. Viele kritisieren den Ausverkauf der
Region. Sie kritisieren die EU-Politik der Privatisierung.
Von 2 Millionen Einwohnern des Kosovo sind 1 Million
erwerbslos. Viele haben gesagt, dass die Einmischung
der EU und der USA einen nachhaltigen Frieden zwischen den verfeindeten ethnischen Gruppen im Kosovo
eher behindert.
Aktuell ist zu hoffen, dass das unter dem Druck der
EU zustande gekommene Abkommen zwischen Albanern und Serben für Entspannung sorgen wird. Allerdings habe ich da meine Zweifel. Nach meinem Eindruck werden die Menschen im Nordkosovo auf
absehbare Zeit nicht mit der Idee einverstanden sein, zu
Pristina statt zu Belgrad zu gehören; Herr de Maizière
wies eben auch darauf hin.
Die für diese Woche geplante Gründung eines autonomen Parlaments Nordkosovo bezeugt das. Aber auch nationalistische Kräfte unter den Kosovo-Albanern lehnen
das Abkommen ab, weil es ihnen gegenüber den Serben
zu mild ist. Nach den Erfahrungen, die ethnische Minderheiten im Kosovo seit 1999 machen mussten, sind die
Ängste der Kosovo-Serben vor der Vertreibung nicht
ganz unbegründet.
Der ethnische Nationalismus ist eines der Grundübel
auf dem Balkan. Die Mehrheit im Bundestag hat dieses
durch ihre Politik befördert. Rot-Grün hat 1999 die albanisch-nationalistische UCK mit NATO-Bombern unterstützt. Die Geister, die Sie damals riefen, sollen nun
jedes Jahr aufs Neue durch die neokolonialen Überwachungsmissionen KFOR und EULEX unter Kontrolle
gehalten werden.
({1})
Allerdings ist bislang nicht ersichtlich, dass diese Missionen die Konflikte entschärft hätten.
({2})
Ein anderes Thema ist mir besonders wichtig: die
schlimmen Folgen des Einsatzes von Uranmunition im
Kosovo. Die Linke hat dazu einen Antrag vorgelegt, der
die umfassende Ächtung dieser Waffe fordert. Die USA
und Großbritannien haben beim NATO-Krieg 1999 auf
dem Gebiet von Serbien und Kosovo massiv Munition
mit abgereichertem Uran eingesetzt. Vor allem im Kosovo ist die Munition bis heute nicht geräumt worden.
Die Krebsraten steigen. Vor Ort wurde mir gesagt, dass
KFOR den Behörden im Pristina davon abgeraten hat,
sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Die KFOR-Soldaten trinken das lokale, wahrscheinlich uranverseuchte
Wasser nicht. Sie importieren ihr Wasser.
Kollegin Höger, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Otte?
Es wurde eben schon gewünscht, dass wir die heutige
Debatte zügig führen, von daher möchte ich fortfahren.
({0})
Gleichzeitig bestreitet die Bundesregierung den Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Uranmunition
und Krebserkrankungen. Dabei liegen beängstigende
Studien über steigende Krebsraten in den betroffenen
Gebieten vor. Über 100 italienische KFOR-Soldaten
sind bereits an Krebs gestorben. Italienische Behörden
erkennen als Grund dafür die Uranverseuchung im Kosovo an. Die Bundeswehr hält sich in dieser Frage sehr
bedeckt, aber es gibt Hinweise darauf, dass auch deutsche Soldaten betroffen sind. Die Linke fordert Sie auf,
die Umstände zu klären und Maßnahmen zum Schutz
der Soldaten und der Zivilbevölkerung einzuleiten.
({1})
Am Beispiel Uranmunition wird besonders deutlich,
dass Krieg auch eine krasse Form der Umweltzerstörung
ist. Die Linke lehnt Krieg und Umweltzerstörung ab.
Wir fordern den Abzug aller Soldatinnen und Soldaten
und eine friedliche Politik auf dem gesamten Balkan.
Die Linke wird niemals ihre Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr geben.
({2})
Das Wort hat der Kollege Omid Nouripour für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
Die EU trägt seit Jahren die Hauptlast für die Befriedung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Weil
die Militärinterventionen, die seinerzeit unter der
Führung der USA erfolgten, Hard Power mit massivem Engagement für den zivilen Wiederaufbau
verknüpften und die Attraktivität der EU als Soft
Power nutzten, ist der Balkan nicht mehr das
sprichwörtliche Pulverfass Europas - insofern kann
man von Interventionen mit glücklichem Ausgang
sprechen. Dieser Erfolg hat mit spezifischen Bedingungen dieser Region zu tun und lässt sich kaum
verallgemeinern. Gleichwohl widerlegte er die verbreitete Behauptung, humanitäre Interventionen
seien per se zum Scheitern verurteilt.
Frau Kollegin Höger, das ist aus der Stellungnahme des
diesjährigen Friedensgutachten. Wenn Sie das nicht gelesen haben und hier am Ende sagen, es gehe um eine
neokoloniale Überwachungsmission, dann ist das ein
schlichtes Ignorieren der Realität.
({0})
Die Soft Power, die hier beschrieben wird, sind die
politischen Spielräume, die durch die militärische Präsenz geschaffen werden konnten. Es ging und geht im
Kosovo auf und ab, aber es ist auch einiges gelungen.
Ich kann denjenigen, die im militärischen und zivilen
Bereich dafür gearbeitet haben, und ihren Familien nur
danken.
Man darf aber an dieser Stelle eines nicht vergessen,
Herr Kollege: Über 20 Jahre nachdem der Krieg in Jugoslawien begonnen hat
({1})
und 14 Jahre nachdem der Krieg im Kosovo begonnen
hat, ist es nicht selbstverständlich, dass heute nicht geschossen wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass der
Kosovo befriedet ist. Es ist nicht selbstverständlich, dass
Kroatien demnächst Mitglied der Europäischen Union
wird. Es ist nicht selbstverständlich, dass mit Serbien
Aufnahmegespräche geführt werden. Es ist auch nicht
selbstverständlich, dass, kaum ein Jahr nachdem es an
der Grenze zwischen Kosovo und Serbien noch Schießereien gegeben hat, diese beiden Länder dieses historische Abkommen miteinander geschlossen haben. Das
sollten Sie zumindest zur Kenntnis nehmen und vielleicht auch einmal hier erwähnen.
({2})
Diese Errungenschaften sind in erster Linie natürlich
ein Erfolg und ein Verdienst derjenigen, die das vor Ort
miteinander ausgehandelt haben. Aber es ist auch ein
Beitrag der Europäischen Union. Warum, habe ich Ihnen
gerade aus dem Friedensgutachten vorgelesen.
Aber es gab auch Versäumnisse.
({3})
Natürlich muss man endlich dazu kommen, dass die Europäische Union auch in zentralen Fragen wie der Anerkennung geschlossen reagiert. Natürlich müssen wir
dahin kommen, dass die Rechtsstaatsmission EULEX
auch handlungsfähig wird. Natürlich müssen wir dahin
kommen, dass nach dem Abkommen, das jetzt abgeschlossen worden ist, auch im Norden des Landes ein
anderer Fokus gelegt wird - auch von der Pristina-Regierung -, dass die ökonomische Entwicklung dort besser vorankommt.
Es wäre auch von großer Bedeutung, genauer hinzuschauen, wie es den Minderheiten in dem Land geht. Es
ist wirklich nicht hilfreich - im Gegenteil, es ist gerade
für die Leute vor Ort, die Roma und andere Minderheiten, eine ziemliche Katastrophe -, wenn unser Bundesinnenminister permanent davon spricht, dass sie nur deshalb das Land verlassen, weil sie Armutsflüchtlinge,
Armutsmigranten sind. Die Leute haben dort massive
Diskriminierungen zu ertragen, und das einfach nur auf
ihre ökonomische Situation zu schieben, wird ihrem Leiden nicht gerecht. Im Gegenteil, das gibt denjenigen, die
sie diskriminieren, sogar noch mehr Ausreden, dies weiter zu tun.
Es wäre hilfreich, Herr Außenminister, wenn Sie mit
Ihrem Innenminister ein Gespräch darüber führen würden, was er im Kosovo mit den unsäglichen Einlassungen, die er von sich gibt, eigentlich anstellt.
({4})
Das wichtigste Ziel von KFOR ist wie bei allen Militärmissionen, dass sie am Ende überflüssig ist. Wir sind
auf einem guten Wege. Es ist aber nicht in erster Linie
Aufgabe des Militärs, diese Mission zu beenden und die
Rahmenbedingungen zu schaffen, sondern der Politik.
Deshalb sollten wir an dieser Stelle nicht nachlassen.
Das, was jetzt geleistet worden ist, sollten wir zur
Kenntnis nehmen und begrüßen. Aber es ist Aufgabe der
Politik, am Ende dazu beizutragen und zu helfen, dass
diese beiden Länder sich hoffentlich eines Tages nicht
nur gegenseitig anerkennen, sondern auch in dauerhaftem Frieden und guter Koexistenz miteinander leben
können.
({5})
- In der Europäischen Union.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich zum Verhalten der Linksfraktion etwas anmerken. Nachdem der
Minister richtigerweise auf die übermenschlichen Anstrengungen der Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten
in den Gebieten der Flutkatastrophe hingewiesen hat und
Sie nicht applaudiert haben, sondern demonstrativ durch
Verweigerung des Applauses und damit der Anerkennung der großartigen Leistung unserer Soldatinnen und
Soldaten im Katastrophengebiet deutlich gemacht haben, dass Sie nicht nur das Militär grundsätzlich ablehnen, sondern auch die deutsche Bundeswehr, ziehe ich
daraus den einzig möglichen Schluss, dass Sie den Einsatz der Bundeswehr in den Flutgebieten ablehnen.
({0})
Ich kann Ihnen als regionale Ostpartei nur sagen: Schreiben Sie das auf die Plakate im Bundestagswahlkampf!
Dann werden Sie in Ostdeutschland in den nächsten Wochen aber ziemlich viel Ärger bekommen.
({1})
Kollege Mißfelder, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schäfer?
Selbstverständlich. Dann kann er das gleich richtigstellen und sich entschuldigen.
({0})
Lieber Kollege Mißfelder, gut, dass ich die Gelegenheit habe, dazu Stellung zu nehmen. Ich mache das auch
gerne öffentlich. Ich habe mich gestern als verteidigungspolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke bei
Radio Andernach - der Name dürfte Ihnen bekannt
sein -, dem Sender für die Bundeswehr, ausdrücklich für
die Leistungen der Soldaten bei der Bekämpfung des
Hochwassers bedankt und habe meinen Respekt für
diese Leistung bekundet.
({0})
- Ich bitte, das doch einfach einmal zur Kenntnis zu nehmen. - Deshalb ist all das, was hier gesagt wurde, falsch.
Wir diskutieren über KFOR. Der Minister hat das genutzt, an dieser Stelle sehr plakativ etwas zu sagen. Das
hat uns wahrscheinlich gestört, und es hatte für uns einen
schalen Beigeschmack. Deshalb haben wir nicht applaudiert.
({1})
- Bitte, Sie können da krakeelen, wie Sie wollen. - Mit
der Sache hatte es nichts zu tun. Wir haben an dieser
Stelle eine eindeutige Position. Das habe ich für die
Fraktion Die Linke erklärt. Die Öffentlichkeit wird das
auch entsprechend zur Kenntnis nehmen.
Vielen Dank.
({2})
Dem Kollegen Wellmann antworte ich auch gerne.
Moment, der Kollege Wellmann will eine Frage stellen oder eine Bemerkung machen? Darf ich das jetzt erst
einmal erfahren?
({0})
- Aha! Und der Kollege Mißfelder lässt eine Frage des
Kollegen Wellmann zu. Damit hat der Kollege
Wellmann das Wort.
Der Kollege Wellmann ist mein Stellvertreter, der
kann mich jederzeit alles fragen.
Ich mache vorsorglich darauf aufmerksam, dass wir
eine Verabredung haben, es bei so kurzen Redezeiten mit
zwei Fragen oder Bemerkungen bewenden zu lassen.
({0})
- Ich habe ja „vorsorglich“ gesagt. Bitte.
Ich möchte den Kollegen Mißfelder fragen, ob er die
Bemerkung des Kollegen Gehrcke mitbekommen hat,
der, als der Minister den Einsatz der Bundeswehr lobte,
gesagt hat, der Minister solle sich schämen.
({0})
Nein, das habe ich nicht mitbekommen. Ich werde es
im Protokoll nachher noch einmal nachlesen. Herr
Gehrcke, dazu muss ich Ihnen sagen: Stellen Sie sich
einmal vor, der Verteidigungsminister hätte dazu nichts
gesagt. Was wäre dann los gewesen? Dann hätten Ihre
Leute direkt gefragt: Warum sagt er denn den Soldaten
keinen Dank? Und so weiter und so fort.
({0})
Ich finde es richtig, dass der Minister bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Soldatinnen und Soldaten - ob
im Inland oder im Ausland - dankt. - Vielen Dank, Herr
Kollege Wellmann, für den Hinweis.
Zum Mandat selber. Ich möchte an das anschließen,
was der Kollege Nouripour richtigerweise sagte, als
seine Redezeit schon vorbei war und Frau Kollegin Beck
ihn dann noch einmal durch einen Zwischenruf animierte, dazu etwas zu sagen. Wenn wir einen Beitrag zur
dauerhaften politischen Stabilisierung des Balkans leisten wollen, muss die Perspektive im Hinblick auf einen
EU-Beitritt für alle Länder offenbleiben, gar keine
Frage.
({1})
Wir wissen, dass das - gerade auch aufgrund der schwierigen Entscheidungen der beiden letzten Mitglieder, die
der Europäischen Union beigetreten sind, nämlich Rumänien und Bulgarien - im Einzelnen nicht einfacher,
sondern schwieriger geworden ist. Wir sehen die Herausforderungen in Bezug auf den Integrationsprozess
innerhalb der Europäischen Union. Gerade im Hinblick
darauf, was Menschenhandel, Prostitution und organisierte Kriminalität angeht, bringt der Balkan sehr große
innenpolitische Herausforderungen mit sich.
Ich bin der Bundesregierung außerordentlich dankbar,
dass sie die Integration des Westbalkans in die Europäische Union betreibt. Den entsprechenden politischen
Prozess betreiben die Außen- bzw. Europapolitiker bei
uns ja mit großer Intensität. Das wird vom Innenministerium mit sehr viel Aufwand betrieben. Es wird versucht,
dem organisierten Verbrechen Herr zu werden.
Es wurde vorhin schon gefragt: Was macht unser Innenminister? Er leistet dort dahin gehend sehr gute Arbeit. Wir können diesen Ländern keine ernsthafte Perspektive auf einen Beitritt zur Europäischen Union
bieten, wenn wir die Probleme der organisierten Kriminalität in dieser Region nicht massiv bekämpfen. Das
machen, wie ich finde, das Bundesinnenministerium und
die Sicherheitsbehörden in vorzüglicher Weise.
Zur außenpolitischen Situation gehört: Wenn wir den
politischen Prozess der Integration des Westbalkans verfolgen wollen, müssen wir auch zur Kenntnis nehmen,
dass das leider ohne diese militärische Komponente
nicht möglich ist. Wir würden uns natürlich wünschen,
das Mandat auslaufen zu lassen, so wie wir uns bei jedem Mandat wünschen würden, dass es nicht notwendig
wäre. Es ist aber in diesem Rahmen notwendig, egal
welche Verschwörungstheorien vonseiten der Linksfraktion hier vorhin aufgestellt worden sind. Frau Höger, ich
möchte darauf gar nicht mehr im Einzelnen eingehen.
Die Rückkoppelung zur Zivilbevölkerung im Kosovo
({2})
zeigt doch schon, wie notwendig dieses Mandat ist. Das
hat nichts mit Neokolonialismus oder mit der Aufteilung
des Balkans in irgendeiner Form zu tun. Wie kann man
die Geschichte dieses Mandats so verfälschen?
Im Gegenteil ist es gerade so: Wenn wir zu Beginn
des Jugoslawien-Krieges genauso entschlossen gewesen
wären, wie wir es heute in der politischen Begleitung eines Aussöhnungsprozesses im Balkan sind, und wenn
wir nicht so lange auf die Amerikaner gewartet hätten,
dann wären nicht so viele Menschen gestorben. Das gehört mehr zur historischen Wahrheit dazu als das, was
Sie gesagt haben.
({3})
Insofern ist es richtig, dass wir dieses Mandat heute hier
verlängern, selbst wenn wir uns, wie bei den meisten
Mandatsverlängerungen, wie gesagt, wünschen, dass
dies eigentlich nicht nötig wäre.
Ich finde richtig, was Herr Minister Westerwelle zur
politischen Situation gesagt hat. Wir haben in den Gesprächen mit Serbien ganz klare Bedingungen gestellt,
was wir von Serbien erwarten. Es gibt immer wieder
Ausreißer, mit denen klargemacht wird, welche Anschlussbestrebungen vom Nordkosovo ausgehen könnten. Das ist etwas, was wir politisch so nicht akzeptieren
und dem wir massiv widersprechen. Jedem Gesprächspartner in Belgrad und jedem serbischen Besucher hier
bei uns machen wir ganz klar, auf welcher Seite wir stehen, dass wir die Unabhängigkeit des Kosovo vorantreiben wollen und dass wir die Implementierung vernünftiger Regierungsstrukturen und einer nachhaltigen
Regierungsführung dort überhaupt möglich machen wollen. Das geht natürlich nicht, wenn Hass gesät wird. Das
geht nicht, wenn Konflikte wieder aufgerissen werden.
Insofern verurteile ich für meine Fraktion Äußerungen
Einzelner, die von autonomen Provinzen sprechen oder
den Anschluss an Serbien fordern. Das ist etwas, was wir
ablehnen.
Wir müssen uns politisch immer gewiss sein, dass der
Konflikt leider immer noch nicht beigelegt ist, sondern
dass er nach wie vor vorhanden ist, dass nach wie vor
große Probleme in der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit vorhanden sind, dass nach wie vor militärische
Auseinandersetzungen, gewaltsame Auseinandersetzungen drohen könnten. Deshalb ist eine militärische Präsenz unsererseits notwendig.
Wir unterstützen dieses Mandat. Wir unterstützen die
Bundesregierung bei ihren politischen Bemühungen, die
weit umfangreicher sind als dieses Mandat allein. Herzlichen Dank an die Fraktionen, die dieses Mandat zum
größten Teil unterstützen!
Danke schön.
({4})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Wolfgang
Gehrcke das Wort.
({0})
Ich will nur deswegen etwas sagen, weil Kollege
Wellmann und Kollege Mißfelder mich persönlich angesprochen haben.
Ich finde, der Bundestag hat jegliche Veranlassung,
sich bei allen Menschen in der Katastrophenregion, die
helfen - Feuerwehrleuten, Nachbarn, die ihren Nachbarn
helfen, Schülern, die im Einsatz sind -, zu bedanken
({0})
- hören Sie doch einmal zu! -, einschließlich der eingesetzten Bundeswehrsoldaten. Ich sage noch einmal:
Feuerwehrleuten, Nachbarn, Schülern, Helfern, Technischem Hilfswerk und Bundeswehrsoldaten; damit das
klar ist.
Ich finde allerdings - das können Sie geschmäcklerisch finden oder nicht -, oftmals machen die allzu plakativen Danksagungen den Eindruck, dass man nicht
den eingesetzten Menschen, sondern sich selber Dank
sagt. Ich will das dem Minister nicht unterstellen. Ich
hoffe, dass mein Eindruck mich täuscht, aber das war
mein Eindruck.
Herr Minister der Verteidigung, Herr de Maizière, gerade nach dieser Woche hätten Sie etwas einfühlsamer
mehr Menschen gedankt, wenn Sie Ihrer Rede diesen
Dank vorangestellt hätten. Das wäre für Sie gut, und das
wäre für die Gesellschaft gut.
Das war Gegenstand meiner Empörung. Der habe ich
Ausdruck gegeben. Damit müssen Sie leben. Man ist
auch manchmal emotional.
Danke.
({1})
Kollege Wellmann, mögen Sie antworten? - Das ist
nicht der Fall.
Dann schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/13661 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 52 a und 52 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ulrich Schneider, Volker Beck ({0}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1})
- Drucksache 17/13238 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Ulrich Schneider, Volker Beck ({3}),
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Einführung des aktiven
Wahlrechts ab 16 Jahren im Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz
- Drucksache 17/13257 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.1) Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/13238 und 17/13257 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 20 auf:
ZP 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Sibylle Pfeiffer, Hartwig
Fischer ({5}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Helga
Daub, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Zerstörung des kongolesischen Naturerbes
verhindern
- Drucksache 17/13711 -
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden.2) - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/13711. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der SPD-Fraktion angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. Juni 2013, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich danke Ihnen für die
Zusammenarbeit auf diesem letzten Stück und wünsche
Ihnen gute Erholung am Wochenende.