Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bevor ich Tagesordnungspunkt 3 aufrufe, teile ich Ihnen mit, dass es die interfraktionelle Vereinbarung gibt,
die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Schweigen der Bundeskanzlerin zur Sozialpolitik der Bundesregierung
({0})
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gehaltsexzesse nicht länger auf Kosten der
Allgemeinheit
- Drucksache 17/794 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({2}),
Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornographischen Inhalten in
Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 17/772 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Undine Kurth ({4}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kulturelle Infrastruktur sichern - Substanzerhaltungsprogramm Kultur auflegen
- Drucksache 17/789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des EuGH-Urteils ({6}) - Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter
25-Jährigen
- Drucksache 17/775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf
Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts
- Drucksache 17/773 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({8})
Rechtsausschuss
ZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({9})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung
jetzt - Süd-Süd-Kooperation stärken
- Drucksache 17/774 Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({10})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haiti entschulden und langfristig beim Wiederaufbau unterstützen
- Drucksache 17/791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({11})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({12}), Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen - Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
- Drucksache 17/792 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({13})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren
- Drucksache 17/798 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({14})
Rechtsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Der Tagesordnungspunkt 10 c soll abgesetzt werden.
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({15}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur
Änderung steuerlicher Vorschriften
- Drucksache 17/506 überwiesen:
Finanzausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Darf ich dafür jeweils Ihr Einvernehmen feststellen? Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland
- Drucksache 16/13325 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({17})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Bundesminister Dr. Peter Ramsauer.
({18})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
bin dem Parlament ausgesprochen dankbar dafür, dass
dieser Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland an so prominenter Stelle auf die
Tagesordnung gesetzt worden ist, nämlich zu Beginn der
Kernzeit unserer parlamentarischen Beratungen. Das ist
sozusagen beste Sendezeit des Parlaments.
Ich betone dies vor allen Dingen aus einem Grunde.
({0})
- Das vielleicht auch. Endlich einmal ein vernünftiger
Zuruf von den Linken; auch das kommt einmal vor!
({1})
Nein, ich betone dies aus folgendem Grunde: Bei der öffentlichen Darstellung durch die Medien werden die Inhalte meines Ministeriums in der Regel, aus welchen
Gründen auch immer, auf das Thema Verkehr verkürzt,
was bisweilen dazu geführt hat, dass in Kommentierungen der Medien ein- oder zweimal geschrieben worden
ist, bei Ramsauer komme der Bau unter die Räder.
({2})
Erst wird also nur über das Thema Verkehr geschrieben,
und dann wird von denselben Leuten beklagt, dass der
Bau unter die Räder komme.
Heute setzen wir ein Zeichen dafür, dass dies nicht
der Fall ist, dass vielmehr die Bau- und Immobilienwirtschaft eine ganz herausragende, bedeutende Rolle in unserer Volkswirtschaft spielt, und zwar etwa in der Größenordnung des gesamten Gesundheitswesens. Mit einer
Bruttowertschöpfung von 250 Milliarden Euro und rund
3,8 Millionen Beschäftigten ist sie eine der tragenden
Säulen unserer Volkswirtschaft.
Etwas Besonderes wohnt dieser Immobilien- und
Bauwirtschaft inne: Sie ist, wie wenige andere Wirtschaftszweige, ausgesprochen mittelständisch geprägt
und erweist sich in ihrem moderaten und stetigen
Wachstum gerade vor dem Hintergrund der Wirtschaftsund Finanzkrise als sehr stabilisierendes Element. In
Deutschland gibt es keine spekulationsgetriebene Immobilienblase, wie sie anderswo ganze Volkswirtschaften
ins Wanken bringt. Darauf sollten wir stolz sein. Dies ist
nicht zuletzt das Ergebnis unserer Stabilitätskultur in
Deutschland, die es auch künftig gegen vielfältige Vorstöße und Anfeindungen zu sichern gilt.
({3})
Das Wohneigentum wurde gerade in den letzten fünf,
zehn Jahren von vermeintlich cleveren Finanzjongleuren
über viele Jahre hinweg als renditeschwach und konservativ belächelt. Ich bin froh, nunmehr feststellen zu können, dass sich gerade die Wohnimmobilie heute zu Recht
als Gewinner der Finanzkrise bezeichnen kann. Dafür
gibt es Gründe. Einer der Gründe ist der stabile Rechtsrahmen, den wir mit den risikoarmen Festzinshypotheken sowie den bewährten Bausparverträgen haben. Das
setzt auf Solidität anstatt auf Spekulation. Die Immobilie
mit ihrer nachhaltigen Wertbeständigkeit gilt mit Fug
und Recht als Inbegriff konservativen Wirtschaftens.
Das hat sich bewährt. Das können wir auch vor dem
Hintergrund der Finanzkrise in aller Deutlichkeit und
mit Stolz feststellen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema
Wohnen geht es jedoch um sehr viel mehr als um Wirtschaftskraft und Anlagevermögen. Wohnen ist ein individuelles und soziales Grundbedürfnis aller Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Schließlich ist
Wohnen auch ein wichtiger Teil dessen, was wir alle als
Heimat empfinden und als solche bezeichnen. Die viel
zitierten eigenen vier Wände sind sozusagen der privateste Raum jedes Bürgers und jeder Bürgerin. Das eigene, vertraute Umfeld gerade auch im hohen Alter gilt
es unbedingt zu erhalten. Wir sollten daher vor dem Hintergrund des demografischen Wandels unser Bestmögliches tun, durch altersgerechtes Bauen und Förderung des
altersgerechten Umbaus den älteren Menschen den Verbleib in ihren eigenen vier Wänden zu ermöglichen, solange dies irgend möglich ist.
({5})
Wohneigentum bedeutet für die Bürgerinnen und Bürger nicht nur einfach Besitz; Eigentum hat vielmehr auch
eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Ich habe hier an
dieser Stelle oft schon darüber gesprochen: Wohneigentum gibt ein Stück individuelle Freiheit und erfordert
natürlich ebenso Eigenverantwortung. In diesem Zusammenhang von Eigentum, Freiheit und Eigenverantwortung ist der Staat nicht gefragt. Dies gibt ein Stück Freiheit vom Staat und ist gelebte freiheitliche Gesellschaft
und freiheitliche Bürgerkultur.
({6})
Wir sollten deshalb alles daran setzen, dass wir die
Wohneigentumsquote, die derzeit bei etwa 43 Prozent
liegt, weiter erhöhen. Deshalb war es auch ein wichtiger
Schritt, dass noch in der letzten Legislaturperiode das
selbstgenutzte Wohneigentum besser in die private
Altersvorsorge einbezogen worden ist. Bis Ende letzten
Jahres sind etwa 200 000 Verträge nach dem Eigenheimrentengesetz abgeschlossen worden. Ich meine, das ist
eine gute Zahl, aber wir sollten alles daran setzen, dass
sich dies noch weiter verbessert. In den Beratungen, in
die der Bericht jetzt geht, sollte im Hinblick darauf
Kreativität entwickelt werden.
Meine Damen und Herren, zum Thema Wohnen und
Bauen gehört untrennbar das Stichwort Klimaschutz und
Energieeinsparung. Wir wissen, dass etwa 40 Prozent
des gesamten Primärenergiebedarfs in Deutschland im
Bereich der Gebäude zum Heizen von Luft und Wasser
verbraucht wird. Dementsprechend haben wir hier ein
hohes Einsparpotenzial. Mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm haben wir einen wirklich großartigen
Renner in unserem Land, und wir beraten derzeit - so
gestern wieder im Verkehrs- und Bauausschuss und am
Nachmittag zum gleichen Thema im Haushaltsausschuss -,
wie wir dieses CO2-Gebäudesanierungsprogramm verlängern und verstetigen können.
Bisher sind insgesamt 1,5 Millionen Wohnungen gefördert worden. Das entspricht einem Einsparvolumen
von etwa 4 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß. Nun kann
man sagen, dass das in Anbetracht der Dimensionen etwas wenig ist. Ich will Ihnen eine andere Zahl nennen:
Bei der Verteilung der CO2-Emissionszertifikate gingen
wir von einem Volumen von etwa 500 Millionen Tonnen
CO2 aus. Im Vergleich dazu scheinen 4 Millionen Tonnen CO2 nicht viel zu sein. Aber wir müssen an allen
Ecken und Enden, wo es uns möglich ist, sinnvoll ansetzen, gerade auch im Baubereich, um CO2-Einsparungen
zu erzielen.
({7})
Im Übrigen wissen wir alle aus den vielen Zuschriften
zur Verstetigung dieses Programms, die wir gerade in
diesen Tagen bekommen, in welcher Größenordnung wir
im Bereich der Bauwirtschaft und des Handwerks Arbeitsplätze sichern. Die Rede ist von bis zu 300 000 Arbeitsplätzen.
Wir wollen hier nicht nur weitermachen, sondern wir
wollen die Effizienz dieses Programms weiter verbessern. Wir müssen uns vor allen Dingen um den Wohnungs- und Gebäudebestand kümmern. Natürlich bietet
der Neubau tolle Perspektiven. Was sich im Bereich des
Energie-Plus-Hauses an Möglichkeiten abzeichnet, ist
sensationell. Es ist nicht nur ein Haus, das unter dem
Strich keine Energie verbraucht, sondern auch ein Haus,
das sein eigenes Kraftwerk ist. Vor zwei Tagen habe ich
mir Konzepte vorlegen lassen.
({8})
Das hätte man sich vor zehn Jahren nicht träumen lassen:
Ein Wohnhaus, das Energie produziert und damit seinen
gesamten Energiebedarf für Heizung und heißes Wasser
abdeckt. Darüber hinaus erzeugt es einen Überschuss,
mit dem man beispielsweise das eigene Elektroauto beladen kann. Insgesamt kann ein Haushalt, was seine
Grundbedürfnisse inklusive Mobilität angeht, seinen gesamten Energiebedarf decken. Das sind großartige Visionen. Von denen müssen wir uns leiten lassen.
({9})
Zu diesem Bericht gehört auch das Thema Mietrecht.
Auch das steht auf der Tagesordnung. Wir werden - das
steht im Koalitionsvertrag - das Mietrecht überprüfen.
Die Federführung liegt beim Justizressort. Von mir als
Wohnungsbauminister wird aber zu Recht ein klares
Wort erwartet. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass
das Mietrecht für uns eine enorme soziale Bedeutung
hat. Wir werden aus tiefem Verantwortungsbewusstsein
heraus die soziale Balance nicht aus den Augen verlieren.
Ich möchte aber ein aktuelles Problem benennen
- wie wir es lösen werden, wird zu beraten sein -: Wir
dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn Mieter den Vermieter vorsätzlich und bewusst schädigen.
({10})
Gerade wenn es um die sogenannten Mietnomaden geht
- ein Phänomen, das ich mir in diesem Ausmaß noch vor
wenigen Jahren nicht hätte vorstellen können -, dürfen
rechtstreue Kleinvermieter und die Immobilienwirtschaft nicht alleingelassen werden.
({11})
Herr Minister.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich höre aus den Reihen der Sozialdemokraten einen
tiefen Seufzer. Diesen Seufzer möchte ich nicht unkommentiert lassen. Es kann nicht sein, dass Mietnomaden
Wohnungen verwüsten und unvermietbar hinterlassen
und der Vermieter auch noch monatelang auf Mietausfällen sitzen bleibt.
({0})
Ich wünsche den beteiligten Ausschüssen gute Beratungen.
Herzlichen Dank.
({1})
Den von der CDU/CSU-Fraktion benannten Rednern
will ich die fröhliche Zwischenbotschaft übermitteln,
dass Redezeit übrig geblieben ist.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Sören Bartol
für die SPD-Fraktion.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Deutschland, den die letzte Bundesregierung in Auftrag gegeben hat, spricht eine klare
Sprache. Dank eines seit Jahrzehnten hohen Investitionsniveaus in den Bereichen Neubau und Bestand ist die
Wohnungsversorgung in Deutschland insgesamt gut.
Klimaschutz und demografischer Wandel heißen die
zentralen Herausforderungen, denen sich Wohnungswirtschaft und Politik stellen müssen. Noch etwas betont
der Bericht: Wohnen ist ein soziales Gut, Herr Minister.
Die soziale Sicherung des Wohnens war, ist und muss
auch in Zukunft ein zentrales Anliegen der Politik sein.
Einen wichtigen Schritt haben wir mit der von uns in der
Großen Koalition durchgesetzten Wohngeldreform getan.
({0})
Zurück zum Anfang. Warum ist die Wohnungsversorgung gut? Auch das erwähnt der Bericht: Ordnungsrechtliche Rahmenbedingungen, gezielte förderpolitische Impulse und wirksame soziale Sicherungsinstrumente
bilden die Grundlage. Nicht zu vergessen sind - auch
das hebt der Bericht hervor - Miet- und Steuerrecht. Sie
- ich zitiere - „gewährleisten gleichermaßen die Wirtschaftlichkeit der Wohnungsvermietung wie den Schutz
der Mieterinnen und Mieter.“ Um die Spannung gleich
vorwegzunehmen: Entweder hat Herr Ramsauer den Bericht nicht oder nur marginal gelesen, oder er beschloss,
ihn einfach zu ignorieren; denn die neue Bundesregierung setzt vieles von dem, was der Bericht positiv festhält oder unmissverständlich empfiehlt, aufs Spiel.
Punkt eins ist das Mietrecht, eine der wesentlichen
Bedingungen für einen funktionsfähigen Wohnungsmarkt. Hier hatte sich im Koalitionsvertrag bereits angedeutet - im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen -,
wohin die Reise gehen soll. Mit der Forderung nach gleichen Kündigungsfristen für Mieter und Vermieter droht
Millionen Mieterinnen und Mietern eine Verschlechterung. Die Ausgewogenheit zwischen Mieter- und Vermieterinteressen wird aufgehoben. Die Mieter haben das
Nachsehen. Für die geplanten Änderungen gibt es überhaupt keinen Grund. Das Mietrecht hat sich bewährt.
({1})
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Koalition hier
agitiert, andere Bereiche mit dringendem Handlungsbedarf dagegen völlig außen vor lässt.
Stichwort Neubauaktivität: Hier ist, wie der Bericht
vorsichtig formuliert, bundesweit die Untergrenze des
Bedarfs erreicht. Zwar stagnieren die Einwohnerzahlen
oder gehen insgesamt zurück, aber dennoch steigt die
Zahl der Haushalte aufgrund der zunehmenden „Versingelung“ unserer Gesellschaft weiter an. Auf
400 000 Wohnungen wird der Bedarf beziffert. Gebaut
wurden im letzten Jahr gerade einmal 175 000. Insbesondere in Ballungszentren ist der Bedarf groß. Darauf
müssen wir eine sinnvolle Antwort finden.
Genauso ist es beim sozialen Wohnungsbau, der
2006 im Zuge der Föderalismusreform wegen der regionalen Differenzierung der Wohnungsmärkte den Ländern übertragen wurde. Zu konstatieren bleibt jedoch
eine Leerstelle. Fakt ist, dass der soziale Wohnungsbau
in einigen Ländern zum Erliegen gekommen ist. Hier
muss man sich schon einmal die Frage stellen, was die
Länder eigentlich mit unserem Geld machen. Es gibt
viele Fragen.
Wir fordern von der Regierungskoalition, dass sie einer sozialen, ökologisch nachhaltigen und an demografischen Veränderungen orientierten Wohn-, Bau- und
Stadtentwicklungspolitik einen größeren Stellenwert
einräumt. Die energetische Anpassung des Gebäudebestands und der altersgerechte Umbau von Wohnungen
und Stadtquartieren verlangen weitere Maßnahmen. Sich
auf dem Erreichten der Vorgängerregierungen auszuruhen, reicht nicht, lieber Herr Minister.
({2})
Wir wollen eine Weiterentwicklung und Evaluierung
des von dem sozialdemokratisch geführten Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung entwickelten CO2-Gebäudesanierungsprogramms. Schön
ist immerhin, dass die Bundesregierung nun doch die
Notwendigkeit der von uns geforderten Fortführung des
Programms auf bisherigem Niveau erkannt hat. Die Erfolgsgeschichte des Programms muss weitergehen. Über
7 Millionen Tonnen CO2 konnten seit seiner Einführung
eingespart werden. Ich sage nur: lernendes Programm,
lernende Regierung.
Inakzeptabel ist jedoch, dass die Bundesregierung
dies durch die verlängerten Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke finanzieren will. Unsere Meinung: Klimaschutz ja, Risiko Atomkraft nein. Deshalb lehnen wir
den Finanzierungsvorschlag der Regierung ab. Wie es
auch ohne gehen kann, zeigt unser Antrag: in eine nachhaltige Verkehrs-, Bau- und Stadtentwicklungspolitik investieren und für die Zukunft Transparenz und Klarheit
in der Finanzierung schaffen.
({3})
Wir fordern außerdem Lösungsvorschläge zur Altschuldenproblematik ostdeutscher Wohnungsunternehmen, Überlegungen dazu, wie man den auf deutschen
Wohnungsmärkten verstärkt agierenden internationalen
Investoren begegnen kann, und die Fortentwicklung der
nationalen Stadtentwicklungspolitik. Hier tappt man,
was die Pläne der Bundesregierung angeht, nach wie vor
im Dunkeln.
Nach dem Koalitionsvertrag ist vor dem Koalitionsvertrag. Das heißt nicht zuletzt, seiner sozialen Verantwortung gerecht zu werden. Dort zu sparen, wo das Geld
am nötigsten gebraucht wird, heißt es nun gerade nicht.
Genau das aber tut die Bundesregierung, wenn sie die
Mittel für ein bewährtes und von Sozialverbänden, Städteplanern und Wohnungswirtschaft gleichermaßen geschätztes Programm wie die „Soziale Stadt“ gegenüber
ihrem eigenen Haushaltsentwurf noch einmal um
20 Millionen Euro kürzt.
Gerade die Menschen in Problemquartieren brauchen
die Unterstützung, und zwar nicht nur bei baulichen Verbesserungen, sondern auch bei sozialen Projekten in
Schulen, bei der Gesundheitsversorgung und bei der Integration von Zuwanderern. Seit über zehn Jahren leistet
die „Soziale Stadt“ einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung sozialer Brennpunkte. Die Kürzungen der Mittel
für das Programm konterkarieren die Ziele nationaler
Stadtentwicklungspolitik, und sie zeigen die soziale
Schieflage dieser Regierung.
({4})
Das sind schlechte Nachrichten für die durch die
Steuergeschenke der Regierung an Hoteliers ohnehin gebeutelten Kommunen, für Quartiersmanager, die in
520 Quartieren in fast 330 Städten und Gemeinden das
Programm umsetzen, und vor allem für die Menschen,
die in sozialen Brennpunkten leben. Wohn-, Bau- und
Stadtentwicklungspolitik ist ein weites Feld, das es zu
bestellen gilt, in ländlichen - da haben Sie recht -, aber
eben auch in städtischen Räumen. Es ist ein wichtiges
Feld, das Herr Minister Ramsauer nicht wirklich bestellt.
({5})
Es bleiben die sich so vordringlich stellenden Fragen
hinsichtlich des Klimaschutzes im Gebäudebereich, der
Städteplanung vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft und auch hinsichtlich der gewiss nicht weniger
werdenden sozialen Spannungen in unseren Städten. Es
sind Fragen, die Antworten verlangen. Diese Antworten
konnte jedenfalls ich in der Rede des Ministers wieder
einmal nicht erkennen.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion erhält jetzt die Kollegin Petra
Müller das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! 2009 wurde
erstmals der Bericht zur Lage und Entwicklung der
Wohnungs- und Immobilienwirtschaft vorgelegt. Dieser
Bericht zeigt auf, wie wichtig die Herausforderungen
sind, vor denen wir stehen. Schrumpfende Städte sind zu
stabilisieren, Stadtzentren sind zu stärken, Wohnen und
Arbeiten in der Stadt müssen attraktiver gemacht werden, um nur einige Punkte zu nennen.
Der Bericht macht aber auch deutlich, wie groß die
Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft für
unsere Volkswirtschaft ist. Da gebe ich Ihnen vollkommen recht, Herr Minister.
({0})
Mit rund einer halben Million Erwerbstätigen besitzt sie
darüber hinaus eine enorme soziale Bedeutung. Deutschland ist ein Mieterland. Sechs von zehn Deutschen leben
zur Miete. Eine so hohe Quote finden Sie in keinem anderen europäischen Land. Ziel muss es jedoch sein - das
war immer unser Anliegen, das Anliegen der FDP -, die
Wohneigentumsquote zu erhöhen.
({1})
Der vorgelegte Bericht bestätigt, dass die Nachfrage
nach Wohneigentum im Bestand stagniert. In den letzten
15 Jahren hat sich die Nachfragequote um nur 3 Prozent
erhöht. Das ist ein Zustand, mit dem wir nicht zufrieden
sein können und der den Handlungsbedarf klar aufzeigt.
Wir Liberale wollen das ändern.
({2})
Im Koalitionsvertrag haben wir die Bedeutung des
Wohneigentums gemeinsam betont. Es stärkt die regionale Verbundenheit und ist Altersvorsorge zugleich.
Dem Wegfall der Eigenheimzulage hat die FDP nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die Altersvorsorge
eingebunden wird. Das Ergebnis ist das Eigenheimrentengesetz. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung;
aber es ist viel zu bürokratisch, unflexibel und kompliziert. Deshalb werden wir es vereinfachen.
({3})
Die Bevölkerung räumt dem mietfreien Wohnen im
Alter einen sehr hohen Stellenwert ein. 70 Prozent der
Menschen unseres Landes streben nach Wohneigentum,
können es sich aber nicht leisten, weil am Ende des Monats nicht genug Netto vom Brutto übrig bleibt. Die
Steuerbelastung ist zu hoch. Wir Liberale stehen weiterhin zu unserem Versprechen, die Bürgerinnen und Bürger durch Steuersenkungen zu entlasten und ihnen so
mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten.
({4})
Nur wenn wir die Steuern senken, schaffen wir finanziellen Spielraum und ermöglichen den Menschen, in ihr
eigenes Heim und in ihre Altersvorsorge zu investieren.
Unsere Politik wird damit den wirtschaftlichen und den
sozialen Anforderungen der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft gerecht.
Die Bauwirtschaft ist eine Schlüsselbranche des Mittelstandes. Wie alle anderen Wirtschaftszweige leidet sie
unter der aktuellen Krise. Das im Koalitionsvertrag
niedergelegte Sofortprogramm setzt auf Wachstumsimpulse, um den Mittelstand zu entlasten. Auch im aktuellen Neun-Punkte-Programm des Bundeswirtschaftsministeriums stehen mittelständische Unternehmen im
Zentrum liberaler Politik.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie ich am
Anfang bereits sagte, ist es unsere Herausforderung, die
Städte und Gemeinden für die Zukunft fit zu machen. Es
geht aber auch darum, die regionale und örtliche Wirtschaft mit unseren Stadtentwicklungsprogrammen zu
fördern und zu stärken. Auf einige Programme möchte
ich an dieser Stelle eingehen; der Minister hat es im Vorfeld schon getan.
Wohnen im Alter ist eine zentrale Herausforderung.
Der demografische Wandel erfordert eine zügige Anpassung des Wohnungsbestandes an das grundlegende Bedürfnis der Menschen, barrierefrei leben zu können. Das
KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“
unterstützt die Wohnungswirtschaft, aber auch die Privateigentümer dabei. Viele Menschen haben den
Wunsch, lange in ihrer vertrauten Umgebung zu wohnen. Das müssen wir unterstützen. Dies ist volkswirtschaftlich wichtig. Vor allem ist es aber eines: Es ist human und sozial. Außerdem ist es - auch wenn uns einige
unterstellen, es sei nicht so - zutiefst liberale Politik.
({5})
Damit noch mehr ältere Menschen dieses Programm
nutzen können, sieht der Haushalt 2010 eine neue Zuschusskomponente für selbst nutzende Eigentümer vor.
Dafür nehmen wir 20 Millionen Euro in die Hand. Ich
werde mich aber auch dafür einsetzen, dass durch die geplante Reform der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie
keine unbilligen Härten für private Hauseigentümer entstehen, wenn es um den barrierefreien Umbau geht.
({6})
Nun komme ich zum Programm „Soziale Stadt“. Wir
haben große regionale Unterschiede: wachsende und
schrumpfende Regionen, sozial starke und sozial schwache Stadtteile. Das sind Tatsachen. Das Städtebauförderprogramm „Soziale Stadt“ hat zum Ziel, diese Abwärtsspirale in den benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten
und die Lebensqualität dauerhaft zu steigern. Das Programm muss jedoch stärker ressortübergreifend umgesetzt werden. Das Hauptaugenmerk der FDP liegt darauf, dass die Mittel aus diesem Programm vorrangig für
investive Maßnahmen genutzt werden.
({7})
Petra Müller ({8})
Das neue Förderprogramm „Kleinere Städte und Gemeinden“ folgt genau diesem Ansatz. Hier zeigt die
christlich-liberale Koalition, wie es geht. 20 Millionen
Euro werden zur öffentlichen Daseinsvorsorge in dünn
besiedelten Räumen ausgegeben. Im Mittelpunkt steht
dabei der innovative Ansatz, über Gemeindegrenzen
hinweg zu kooperieren, und zwar überall dort, wo die
städtebauliche Infrastruktur - Ärztehäuser, soziale Einrichtungen, Sportanlagen - leidet, weil die Bevölkerung
ausdünnt. Mit diesem Programm werden wir die Funktionstüchtigkeit der Kommunen als wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zentren erhalten.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Programme Stadtumbau Ost und West sind eine Erfolgsgeschichte. Der Schrumpfungsprozess der Städte geht
meist mit hoher Arbeitslosigkeit sowie geringen Steuereinnahmen und geringer Kaufkraft einher. Deshalb stehen im Mittelpunkt dieser beiden Programme bedarfsgerechter Umbau, Aufwertung der Quartiere und
Wohnungsrückbau. Allein der Rückbau schafft aber
keine Aufwertung der Innenstädte. Das Verhältnis der
Mittel für die Aufwertung gegenüber den Mitteln für den
Rückbau soll in Absprache mit den Ländern zugunsten
der Aufwertung verändert werden. Das fördert die Lebensqualität.
Das Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“
unterstützt den Erhalt und die Erneuerung historischer
Innenstädte. Als Architektin aus Aachen weiß ich: In jeder Baugrube finden wir karolingische Wasserleitungen
oder römische Fundamente. In Aachen besteht auch immer noch die Vermutung, es gebe irgendwo Kaiser Karls
Badewanne.
({10})
Entscheidend ist aber etwas anderes: Sanierungsmaßnahmen vor Ort stärken den örtlichen Mittelstand und
das Handwerk. Das ist der wichtige Punkt.
Nun noch etwas zum CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Es ist in dreifacher Hinsicht ein Erfolg: Klimaschutzziele werden erreicht, Wohnen ist bezahlbar,
Wachstum und Arbeit werden geschaffen. Es wird weiter
ausgebaut. Aber Investitionshürden müssen beseitigt
werden.
Wir haben erreicht, dass in diesem Jahr 400 Millionen
Euro zusätzlich in dieses Programm fließen. Allerdings
- das möchte ich wirklich betonen -: Die Haushaltskonsolidierung wurde nicht vernachlässigt.
({11})
Es geht nicht um Mehrausgaben, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
({12})
Als Abgeordnete aus Aachen habe ich meine Vorstellungen zur dynamisch-energetischen Stadtentwicklung in das Landeswahlprogramm NRW eingebracht. Es
liegt mir besonders am Herzen, weil ich fest daran
glaube, dass man diese Pläne auch auf den Bund übertragen kann.
Die energetische Gebäudesanierung führt über die
energetische Quartierssanierung in der Konsequenz zur
dynamisch-energetischen Stadtentwicklung. Dazu gehört, auf die infolge des demografischen Wandels veränderten Ansprüche an den Wohnungsstandard zu reagieren. Dazu gehört der Erhalt historischer Bausubstanz
und der Stadtstrukturen. Dazu gehört auch die Wiederund Umnutzung von Brachflächen. Dazu gehört allerdings ganz besonders eine gut vernetzte und leistungsfähige Verkehrs- und Energieinfrastruktur. Dieses
staatliche Maßnahmenpaket hängt erheblich von der
Umsetzung auf kommunaler Ebene ab. Es muss aber
noch weit darüber hinausgehen. Deshalb müssen wir im
Bund Innovations- und Impulsgeber sein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschließend möchte ich sagen: Wohnen ist nicht nur ein Grundbedürfnis des Menschen. Wohnen prägt unsere Kultur,
bietet Schutz, gestaltet unsere Umwelt nachhaltig. Wir
werden die Städtebauförderprogramme und die KfWFörderprogramme weiterführen, spezifizieren und flexibilisieren,
({13})
um diesem Grundbedürfnis einen umfassenden Rahmen
zu geben.
Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen und
danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
({14})
Frau Kollegin Müller, das war Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratuliere, verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Das gilt auch für die nächsten Rednerinnen. Es wäre
schön, wenn wir zwischen der Gratulationscour und der
nächsten Jungfernrede einen - ({1})
- Ich behalte jetzt für mich, was mir dazu spontan einfällt.
({2})
Jedenfalls ist die nächste Rednerin die Kollegin
Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke.
({3})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vorab ein kurzes Wort zum Kollegen Ramsauer: Ich bin
nicht der Meinung, dass Wohnen ein soziales Grundbe2034
dürfnis ist. Ich bin der Meinung, Wohnen ist ein soziales
Grundrecht.
({0})
Im Bericht der Bundesregierung wird zu Recht festgestellt, dass regional große Unterschiede in der Qualität
der Wohnraumversorgung bestehen. In Boomregionen
wie München, Hamburg oder Stuttgart sind die Mieten
für Normalverdiener kaum noch zu bezahlen. In anderen
Gegenden dagegen herrscht hoher Leerstand.
In meinem Bundesland, Nordrhein-Westfalen, wurden im Sommer 2008 gegen den öffentlichen Widerstand die 93 000 ehemals landeseigenen Wohnungen
der LEG an eine Heuschrecke verkauft. Der Käufer, ein
Immobilienfonds der international tätigen Bank Goldman Sachs, kaufte allerdings nur 82,7 Prozent statt
100 Prozent der Anteile. Mit diesem Trick ersparte sich
die Bank nicht nur die Grunderwerbsteuer, sondern sie
vermied auf diesem Weg auch noch eventuelle Strafzahlungen bei einer möglichen Verletzung der Sozialcharta
zum Schutz der Mieter.
({1})
Damit wurde NRW auf einen Schlag nicht nur um den
Großteil seines Wohnbestandes, sondern gleichzeitig
auch um größere Steuereinnahmen erleichtert.
Dass Goldman Sachs die kreative Buchführung beherrscht, zeigt auch das aktuelle Beispiel Griechenlands.
Erst mithilfe dieser Bank konnte die verheerende Verschuldung des Landes jahrelang vor den EU-Behörden
verschleiert werden. Dass sich Goldman Sachs darüber
hinaus mit der Finanzierung von US-Immobilien kräftig
verspekuliert hat, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Das
hindert die deutschen Regierungsbehörden aber offensichtlich nicht daran, weiterhin öffentliches Wohneigentum an solche Spekulanten zu verkaufen.
({2})
Zu Recht wird in dem Bericht der Bundesregierung
dazu festgestellt - ich zitiere -:
Die Immobilien- und Wohnungswirtschaft gerät zunehmend unter den Einfluss der internationalen Kapitalmärkte und wird zum Gegenstand globaler Anlagestrategien.
Dies ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, vor allem
wenn man bedenkt, dass erst im Jahr 2007 die Große
Koalition die gesetzliche Grundlage für die Gründung
von börsennotierten Immobilienaktiengesellschaften
gelegt hat. Diese sogenannten Real Estate Investment
Trusts bieten vor allem institutionellen Anlegern Renditemöglichkeiten. So heißt es in dem Bericht weiter:
Deutsche Mietwohnungsbestände sind für diese
Akteure sehr attraktiv, da sie eine eigene AssetKlasse
- also eine Wertanlage mit vergleichsweise geringen Risiken darstellen.
Das Ziel dieser Anlageform, egal ob riskant oder sicher, besteht also in erster Linie darin, hohe Renditen zu
erwirtschaften, und darin, dass der Investor Steuern
spart. Für die Mieter der Wohnungen hingegen bedeutet
es, dass wegen der Gewinnorientierung dringend benötigte Instandhaltungsmaßnahmen nicht durchgeführt
werden. Die Modernisierungen erfolgen erst nach dem
Auslaufen der jeweiligen Sozialklausel, aber dann mit
erheblichen Mietsteigerungen in der Folge. Dies schadet
nicht nur den Mietern, sondern auch den öffentlichen
Haushalten.
({3})
Bei der daraus entstehenden allgemeinen Mietsteigerung
werden die Mieter oft abgehängt. Gleichzeitig steigen
für die öffentlichen Kassen die Kosten der Unterkunft;
das Wohngeld muss erhöht werden. Mit dem Verkauf
von öffentlichem Wohneigentum berauben sich Länder
und Kommunen jeglicher Gestaltungsmöglichkeiten bei
der Stadtentwicklung, und sie berauben sich ihrer Planungshoheit im Hinblick auf die Versorgung der Bürger
mit Wohnraum.
({4})
In dem Bericht wird hierzu festgestellt:
Die neuen Investoren sind nur selektiv an stadtentwicklungspolitischen und quartiersbezogenen Maßnahmen interessiert.
Ich füge kurz ein: Sie profitieren immens davon, dass
alle anderen kräftig dafür zahlen. Weiter heißt es:
Somit wird infolge von Transaktionen oft die langjährige Zusammenarbeit zwischen Kommunen und
örtlichen Wohnungsunternehmen unterbrochen. Hieraus ergeben sich für die Kommunen Risiken in Bezug auf Stadtentwicklung und -umbau.
Ich finde, dies ist deutlich.
Wenn unsere Städte verhindern wollen, dass mehr benachteiligte Viertel entstehen, dass die Gettoisierung zunimmt und Stadtentwicklungskonzepte nicht mehr umgesetzt werden können, dann müssen sie die Kontrolle
über ihren Immobilienbestand behalten.
({5})
Nur so kann auf ausgewogene Mieterstrukturen und sozial notwendige Umbaumaßnahmen Einfluss genommen
werden. Nur so können die Kommunen weiterhin ihrer
Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge gerecht werden.
In dem Bericht wird allerdings auch festgestellt, dass
der Verkauf von öffentlichem Wohnungsbestand an Genossenschaften, direkt an die Mieter oder auch die Übertragung von Beständen vom Land an die Kommunen
echte Alternativen zur Privatisierung sind. Mithilfe
dieser Alternativen, hier vor allem der des öffentlichen
Wohnungsbestandes, kann nicht nur sichergestellt werden, dass bezahlbarer Wohnraum bereitgestellt wird,
sondern auch, dass die lokale Wirtschaft mit angemessenen Gewerbemieten rechnen kann.
({6})
Zusätzlich bieten sie Gestaltungsspielräume für die Anpassung des Wohnungsangebots an die Erfordernisse behindertengerechten Wohnens und der alternden Bevölkerung. Sie bieten damit auch mehr Sicherheit für die von
Altersarmut bedrohten Rentnerinnen und Rentner der
Zukunft.
Ausdrücklich begrüßt die Linke, dass im Rahmen des
Integrierten Energie- und Klimaprogramms notwendige Sanierungen im Hinblick auf Energieeffizienz und
Instandhaltung gefördert werden. Dabei ist aber darauf
zu achten, dass dies nicht zur Verdrängung von finanzschwachen Mietern führt. Auch hier ist öffentliches Eigentum oder die Form der Genossenschaft das beste Mittel gegen zu hohe Mieten.
({7})
In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass weite
Teile des Wohnungsmarktes entspannt sind. Verschwiegen wird aber, dass es großen Bedarf an preisgünstigem
Wohnraum gibt. Dies gilt vor allem für Universitätsstädte und Boomregionen. Familien mit niedrigem Einkommen, Bezieher von BAföG oder Hartz IV tun sich in
vielen Städten schwer damit, bezahlbare Wohnungen zu
finden. Diese Wohnungsknappheit ist eine direkte
Folge davon, dass die Bautätigkeit in den letzten Jahren
gesunken ist. Die deutsche Bauwirtschaft, der Deutsche
Mieterbund und der nordrhein-westfälische Bauminister Lutz Lienenkämper schlagen daher eine Erhöhung
der Abschreibungssätze für Wohnungsneubauten
vor. Auch das RWI stellt in seiner Studie für NordrheinWestfalen fest, dass sich aus dieser Maßnahme stabile
positive gesamtwirtschaftliche Effekte ergeben würden.
Die Investitionen in den Neubau wirken laut der Studie
positiv auf das Bruttoinlandsprodukt, auf die Einkommen und auf den Konsum und schaffen neue Arbeitsplätze.
Mit dieser so entstandenen positiven Wirkungskette
werden laut RWI letztlich sogar die Steuermindereinnahmen mehr als ausgeglichen. Das heißt, durch die Förderung der Bauwirtschaft werden die Mieten gesenkt, wird
die Konjunktur gefördert und dem Staat zu Mehreinnahmen verholfen. Die Linke wird diesen Vorschlag prüfen.
({8})
Allerdings weisen wir darauf hin, dass auch die steuerliche Förderung unternehmerischer Neubautätigkeit
die öffentliche Hand nicht von ihrer Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge entbindet. Die existenziellen
Finanzlöcher der öffentlichen Haushalte - und hier insbesondere die Finanznöte der Kommunen - sind nicht
zuletzt eine Folge der geplatzten US-Immobilienblase.
Durch diese Finanznöte wird allerdings der Grundstein
für immer neue spekulative Attacken auf das öffentliche
Eigentum gelegt, und sie führen im Endeffekt zu immer
neuen Krisen.
Die Bundesregierung sollte endlich aus diesen Erfahrungen lernen, das heißt: keine weitere Privatisierung öffentlichen Eigentums. Stattdessen fordert die Linke die
Ausweitung öffentlicher Investitionen.
({9})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich sage es noch
einmal: Wohnen ist ein soziales Grundrecht. Für das Leben der Bürgerinnen und Bürger ist es elementar und
existenziell, und ich bin nicht der Meinung, dass dieses
soziale Grundrecht durch Markt und Wettbewerb gewährleistet werden kann. Es ist mit Rendite nicht vereinbar.
Vielen Dank.
({10})
Auch Ihnen, Frau Kollegin Remmers, herzlichen
Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Daniela Wagner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen ist
parlamentarisch betrachtet nicht unbedingt ein Aufregerthema. Für viele Menschen ist es das privat allerdings
jeden Tag.
Die Bundesregierung geht in ihrem Bericht davon
aus, dass es insgesamt - jedenfalls rein quantitativ betrachtet - genug Wohnraum gibt, man mithin also von
einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt sprechen kann.
Das ist als Feststellung bezogen auf die Bundesrepublik
insgesamt auch durchaus richtig. Das Kernproblem liegt
darin, dass der Wohnraum zu einem Gutteil nicht dort
ist, wo er nachgefragt wird.
({0})
Diese Markteigenheit wird im Bericht der Bundesregierung leider weitgehend ausgeblendet.
({1})
Im Bericht der Bundesregierung wird von einem entspannten und stabilen Wohnungsmarkt gesprochen. Ich
muss sagen: Ganz so euphorisch und positiv sehe ich das
nicht. Ich sehe sogar eher das Gegenteil. So befindet sich
der Mietwohnungsneubau mit gerade einmal 24 000
Mietwohnungen im Jahre 2008 auf einem vorläufigen
historischen Tiefstand, und man kann mittlerweile sogar
mit Fug und Recht von regionalem Wohnungsnotstand
reden.
({2})
Im krassen Gegensatz dazu steht der Neubau von Eigenheimen, der nahezu 80 Prozent der in 2008 gebauten
Neubauten umfasst. Uns liegen beide am Herzen: die
Mietwohnungsbewohner und -bewohnerinnen, aber
auch die Eigenheimerinnen und Eigenheimer. Aber das
nur am Rande. Wir als Grüne konzentrieren uns wohnungspolitisch ohnehin eher auf den Bestand und dessen
Sanierung und Modernisierung.
({3})
Bei der aktuellen Sanierungsgeschwindigkeit - wobei
mit dem Begriff „Geschwindigkeit“ in die Irre geführt
wird - wird der Gesamtbestand an Wohnungen erst in
180 Jahren energetisch und altersgerecht saniert sein. Ich
meine, Herr Minister: Das ist eindeutig zu lang. Das
werden wir alle und viele unserer Nachfahren nicht mehr
erleben.
({4})
Sie sagten vorhin ja selber, dass 40 Prozent des Primärenergiebedarfs allein auf das Wohnen entfallen. Ich
glaube, hieran müssen wir dringend etwas ändern.
({5})
Definitiv fest steht auch, dass der Wohnraum über
weite Teile nicht den heutigen Anforderungen und Bedürfnissen entspricht. Das betrifft übrigens besonders die
Baualtersklassen der Jahre 1949 bis 1979. Diese machen
etwa 10 Prozent des gesamten heutigen Wohnungsbestandes aus. Davon sind wiederum 40 Prozent definitiv
abgängig. Dieser Teil hat erhebliche Mängel und entspricht nicht mehr den heutigen Standards bei Grundriss,
Energieeffizienz und Schalldämmung.
In diesem Zusammenhang wird in dem Bericht leider
Gottes auch das sogenannte Investor-Nutzer-Dilemma
im Bereich energetische Sanierung nicht berücksichtigt
und kein Lösungsansatz aufgezeigt. Dabei wären deutlich höhere KfW-Fördermittel ein Weg, der warmmietenneutralen Sanierung näherzukommen. Eine andere
Möglichkeit wäre zum Beispiel ein ökologischer Mietspiegel, der die wärmetechnische Beschaffenheit des Gebäudes zum Mietpreiskriterium macht.
({6})
Zur energetischen Sanierung im Altbestand selbstnutzender Eigenheimbesitzer bekommen diese übrigens,
wie die Frau Kollegin zu Recht festgestellt hat, einen
Zuschuss von 2 000 Euro. Das sind 500 Euro weniger
als die Abwrackprämie, die Sie bekommen haben, wenn
Sie Ihr intaktes Fahrzeug in die Schrottpresse gefahren
haben. Ich kann das kaum fassen.
({7})
Angesichts der Energieeinsparpotenziale und der Langlebigkeit von Gebäuden ist das ein krasses Missverhältnis und wirtschaftlich absoluter Nonsens.
({8})
Obwohl Sie das Energieeffizienzprogramm mit
KfW-Fördermitteln für den Wohnungsbau als unglaublich wichtig bezeichnen und es über den grünen Klee loben, haben Sie tatsächlich in diesem Jahr nur
1,1 Milliarden Euro für dieses Programm etatisiert. Im
letzten Jahr haben Sie dafür noch 2,2 Milliarden Euro
ausgegeben. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich das
Sanierungstempo sogar noch verringern wird.
({9})
Wir als Grüne fordern, die Mittel mindestens wieder auf
den Stand des letzten Jahres zu bringen und die Förderung des ökologischen Bauens und Sanierens sowie die
Nutzung nachwachsender Baustoffe in die KfW-Förderprogramme zu integrieren.
({10})
Hinzu kommen im Wohnungsbestand unabänderliche
Schwächen zum Beispiel hinsichtlich der Lage, Architektur oder Erschließung eines Wohngebiets. Sie alle
kennen sicherlich aus Ihrer eigenen Stadt die großen
Quartiere in monotoner Bauweise, häufig in den 60eroder 70er-Jahren im ersten Förderweg errichtet. Sie werden selbst dann nicht mehr zu vermieten sein, wenn
Wohnungsämter vermitteln. Heute sind das übrigens oft
Standorte des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.
Gerade hier weist der Bericht der Bundesregierung Mängel und Lücken auf. Denn er enthält keinerlei umfassende Betrachtungen zum sozialen Wohnungsbau auch
und gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden Anzahl von Haushalten, die an der Armutsgrenze leben.
Das ist nicht hinnehmbar.
An dieser Stelle sei gesagt: Es nützt nichts, wenn man
sich mit diesen Menschen nur dahin gehend befasst, dass
man sie zum Schneeschippen vor den Haustüren derjenigen reichen Berliner Hausbesitzer schicken sollte, die
selber keine Lust dazu haben, das morgens zu tun.
({11})
Allein in Darmstadt zum Beispiel stehen beim kommunalen Wohnungsamt 2 000 Wohnungssuchende auf
der Warteliste, die sozialen Wohnraum nachfragen.
Dieses Problem wird verschärft - auch das ist bekannt -,
weil gegenwärtig wesentlich mehr Wohnungen aus der
Mietpreis- und Belegungsbindung fallen als durch Neubau und Sanierung in die Belegungsbindung hineinkommen.
Man muss von Glück reden, dass jetzt mit dem
EFRE-Programm gegengesteuert wird und sich die Europäische Union an Sanierung und Neubau städtischer
Quartiere beteiligen will, um so gegen Ausgrenzung anzugehen. Ich hoffe, dass die Länder und Kommunen in
der Bundesrepublik kräftig Gebrauch von diesem neuen
Angebot aus Brüssel machen.
({12})
Wenn die Regierungskoalition 20 Millionen Euro für
die Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf streichen will, dann verstärkt sie auch
hier die Politik der sozialen Kälte weiter und fördert
massiv die sozialräumliche Segregation und Spaltung in
der Gesellschaft. Diese Bewohnerinnen und Bewohner
müssen mitgenommen werden. Einfach nur Prachtbauten hinzusetzen, reicht nicht. Deswegen ist auch die
Überlegung, das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“
als reines Investitionsprogramm zu gestalten, falsch. Wir
brauchen dort auch weiterhin Stadtteilmanagement.
({13})
Ein bisschen zu kurz kommt in dem Bericht die Rolle
der Wohnungswirtschaft und ihre Möglichkeiten beim
Einwirken auf Gentrification, soziale Segregation und
andere Prozesse in den Wohnquartieren. Ich finde, hier
ist die Demokratisierung von Wohnen und Wohnungswirtschaft ein guter Ansatz. Es gibt immer mehr Menschen, die selber mitgestalten und mitbestimmen wollen,
was und wie gebaut wird. Es gibt immer mehr Genossenschaftsmodelle, Baumodelle für Alt und Jung und
Ähnliches mehr. Es gibt landauf, landab innovative
Wohnprojekte. Diese müssen wir stützen; denn die Menschen in diesen Projekten übernehmen nachher im
Wohnquartier Verantwortung und sind deswegen in ihrer
stabilisierenden Wirkung nicht zu unterschätzen.
({14})
Mit diesen Menschen müssen wir zusammenarbeiten.
Sie bedeuten ein Mehr an demokratischer Teilhabe und
Verantwortung im Quartier.
Nur durch massive städtebauliche Veränderungen werden wir Leerstandsproblematiken und anderes mehr in
den Griff bekommen.
Frau Kollegin, gucken Sie gelegentlich auf die Uhr?
Ja, selbstverständlich.
({0})
- Bei der nächsten Rede gucke ich besser auf die Uhr, da
haben Sie recht, Herr Kollege.
Ich wünsche mir jedenfalls von der Bundesregierung,
dass sie in Zukunft drei Dinge ganz massiv in Augenschein nimmt: das Erste sind innovative Wohnprojekte,
das Zweite ist die energetische und altersgerechte Sanierung, und das Dritte ist, die Quartiere mit besonderem
Entwicklungsbedarf weiter zu fördern und sie nicht abkippen zu lassen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Frau Kollegin Wagner, das war natürlich nicht Ihre
erste parlamentarische Rede, aber Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag, zu der ich deswegen ganz herzlich gratuliere.
({0})
Sie haben natürlich den gleichen Sympathiebonus in Gestalt von zusätzlicher Redezeit erhalten, den wir in vergleichbaren Fällen, aber nicht für eine gesamte Legislaturperiode, gerne gewähren.
Nun hat das Wort der Kollege Peter Götz,
({1})
der mit einem solchen Bonus nicht mehr rechnen kann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht,
den wir heute debattieren, unterstreicht die große ökonomische Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung in
unserem Land. Wir haben in Deutschland, wenn auch
sehr differenziert, insgesamt einen intakten Immobilienmarkt.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern um uns herum gehen von der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft gerade in der Finanzkrise stabilisierende Einflüsse
aus. Der Grund liegt in den in der Regel sehr soliden Finanzierungen von Immobilieninvestitionen. Das ist alles keine Selbstverständlichkeit. Ein Blick nach Amerika, wo es möglich war, den Kauf eines Hauses ohne
Eigenkapital zu bis zu 120 Prozent fremdzufinanzieren,
zeigt sehr deutlich den Unterschied der verschiedenen
Systeme.
Der Anteil der Immobilienwirtschaft an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung in Deutschland
beträgt mehr als das Doppelte von Maschinen- und Fahrzeugbau zusammen. Insofern ist es richtig und war es
nur konsequent, dass auf Initiative der CDU/CSU in der
vergangenen Legislaturperiode der erste Bericht der
Bundesregierung über die Wohnungs- und Immobilienwirtschaft auf den Weg gebracht wurde.
Angesichts der Tatsache, dass Immobilien mit rund
86 Prozent den herausragenden Anteil am deutschen
Anlagevermögen ausmachen, muss eine nachhaltig positive Entwicklung der Branche unser gemeinsames Interesse sein; ein Interesse, das weit über die Ressortverantwortung der Wohnungs- und Baupolitik hinausgeht.
Neben der Wirtschaftspolitik beeinflussen Aspekte aus
den Bereichen der Finanz-, der Rechts-, der Umwelt-,
der Sozial- sowie der Kommunal- und Stadtentwicklungspolitik die Immobilienmärkte.
Wanderungsbewegungen quer durch Deutschland und
die demografische Entwicklung sind zusätzliche Herausforderungen, denen regional differenziert Rechnung getragen werden muss. Deshalb brauchen wir kein Europäisches Parlament, das uns von Brüssel aus sagt, wie
wir den sozialen Wohnungsbau in Deutschland zu gestalten haben.
({0})
Wachsende Regionen mit einer steigenden Zahl von
Neuvermietungen stehen schrumpfenden Regionen, die
sich mit Wohnungsleerständen und mit den daraus resultierenden einschneidenden Auswirkungen auf die kommunale Infrastruktur auseinanderzusetzen haben, gegenüber.
Noch etwas zum Thema „Soziale Stadt“. Das wurde
hier wiederholt kritisch angesprochen. Das Programm
Soziale Stadt wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Es
wird nicht gekürzt. Die Länder haben allerdings - dem
stimme ich zu, weil wir diese Flexibilität von den Ländern erwartet haben - umgeschichtet. Aber eine Umschichtung ist nicht mit einer Kürzung gleichzusetzen.
Das ist ein großer Unterschied.
({1})
Wir haben Präferenzverschiebungen der Haushalte
durch qualitative Anforderungen an die Wohnungsbestände wie höhere Wohnflächen, aber auch veränderte
Zuschnitte der Wohnungen, vor allem im Bereich der Barrierefreiheit von Wohnungen, die eine zunehmend wichtigere Rolle spielen wird. Durch eine regionale Nachfrageverschiebung entsteht trotz rückläufiger Bevölkerungsund stagnierender Haushaltszahlen vielerorts - das ist unbestritten - eine zusätzliche Wohnungsnachfrage. Das gilt
vor allen Dingen für die Ballungsräume und die Studentenstädte. Die regionale Differenziertheit ist ein Gut in
Deutschland; deshalb haben wir im Rahmen der Föderalismusreform dazu beigetragen, dass der soziale Wohnungsbau nicht mehr in einer zentralen Stelle des Bundes
angesiedelt ist, sondern in die Zuständigkeit der Länder
übertragen worden ist. Es wäre irrsinnig, nachdem wir in
Deutschland den sozialen Wohnungsbau auf die Länder
übertragen haben, jetzt die Forderung zu erheben, die Europäische Kommission solle dies in Zukunft beeinflussen.
Das wäre der falsche Weg.
({2})
- Die Länder müssen es tun. Es gibt Länder, die es tun,
es gibt aber auch andere, die es nicht tun. Das ist entsprechend dem Bedarf auch richtig. - Bei Eigentümerhaushalten steigt die Wohnflächennachfrage seit Jahren
kontinuierlich. Hinzu kommen die klimapolitischen Herausforderungen an die Wohnungswirtschaft. Die größten Energieeinsparpotenziale finden wir unbestritten
im Gebäudebestand. Sie gilt es intelligent durch Anreize
zu aktivieren. Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie, Herr
Minister Ramsauer, es geschafft haben, die Akteure der
Immobilienwirtschaft an einen Tisch zu holen, und dass
Sie den immobilienwirtschaftlichen Dialog persönlich
führen.
({3})
Eine weitere wichtige Aufgabe ist und bleibt die Stärkung des selbstgenutzten Wohneigentums. Deshalb
wollen wir die Eigenheimrente einfacher machen. Es war
ein Fehler der damals sozialdemokratisch geführten Bundesregierung, das selbstgenutzte Wohneigentum nicht
von Anfang an gleichwertig in die geförderte Altersvorsorge einzubeziehen.
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt ansprechen, von dem auch vorhin gesprochen wurde. Mit dem
Wohngeld und dem Mietrecht haben wir zwei gut entwickelte Instrumente zur Verfügung. Das befreit aber nicht
davon, auch diese Instrumente bei neuen Entwicklungen
auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Um die Investitionsbereitschaft der Hauseigentümer bei der energetischen
Sanierung und der altersgerechten Anpassung des Wohnungsbestandes zu erhöhen, müssen wir das Mietrecht
unvoreingenommen prüfen. Das hilft dem Klima und der
Wirtschaft, das schafft Arbeitsplätze, senkt die Heizkosten der Mieter, hebt den Wohnungsstandard und damit
den Wert der Immobilie, und gleichzeitig kostet es den
Staatshaushalt kein Geld. Das heißt, wir brauchen partnerschaftliche Lösungen im Interesse der Vermieter und
der Mieter.
Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:
Immobilien prägen das Bild einer Gesellschaft. Wir haben in Deutschland auch dank einer aktiven Städtebauförderungspolitik attraktive und lebenswerte Städte
und Gemeinden mit einer ausgeprägten, guten Baukultur. Um dies zu erhalten und positiv weiterzuentwickeln,
bedarf es einer integrierten Stadtentwicklungspolitik.
Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass die gute Lebensqualität in Deutschland auch weiterhin durch einen
hohen Wohnungsstandard gekennzeichnet ist. Die Immobilienwirtschaft mit über 700 000 Unternehmen und
mit ihren nahezu 4 Millionen Beschäftigten leistet dazu
einen wichtigen Beitrag. Wir nehmen dies dankbar zur
Kenntnis.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Groß für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Auf die besondere Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft ist bereits eingegangen worden. Die Generierung
und Sicherung von Arbeitsplätzen und das CO2-Gebäudesanierungsprogramm sind hervorgehoben worden.
Deswegen möchte ich auf einige andere Aspekte eingehen.
Laut Bericht steigen gerade in den Ballungsgebieten
die Mieten und Eigentumspreise. Im Durchschnitt bleiben die Ausgaben für das Wohnen der größte Einzelposten der Konsumausgaben. Zum Vergleich: 1991
betrugen die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Familieneinkommens. 2007 waren es schon 25 Prozent. Die
Wohngeldreform mit zusätzlich 520 Millionen Euro auf
Initiative der SPD war deshalb die richtige Antwort.
({0})
Hiermit konnte die Lage der finanziell schwachen Haushalte erheblich verbessert werden. 800 000 Haushalte
profitierten davon.
Auf dem Immobilienmarkt finden jedoch große strukturelle Veränderungen statt, wie im Bericht festgestellt
wird. Zunehmende Internationalisierung und eine stärkere Orientierung an den internationalen Kapitalmärkten
stellen die Branche vor neue Herausforderungen und fordern die Bundespolitik.
So sind die Auswirkungen für Mieter bislang wenig
betrachtet worden. Welche Auswirkung hat die Orientierung am Markt für den einzelnen Mieter? Gibt es noch
den Gesprächspartner vor Ort? Gibt es ein Callcenter,
bei dem man ständig in Warteschleifen gerät? Wer regelt
die kleinen Probleme vor Ort - die Tür, die im Winter
nicht schließt, die Treppenhausbeleuchtung, die ausfällt?
Bei einer Umfrage zu Erreichbarkeit und Problemlösung
waren 50 Prozent der Mieter mit ihrer Situation unzufrieden.
Aber auch im Größeren darf es nicht nur um reine Gewinnmaximierung gehen. Die Stadtteilentwicklung und
das Quartiersmanagement sind keine Sache von internationalen Investoren. Wie werden Sie das unter einen Hut
bringen? Die städtischen Wohnungsgesellschaften und
Genossenschaften müssen unter anderem auch deshalb
als Korrektiv erhalten bleiben.
({1})
In Regionen mit sinkenden Bevölkerungszahlen, wie
zum Beispiel im nördlichen Ruhrgebiet und in den neuen
Ländern, ist die öffentliche Wohnraumversorgung zu
verstärken. Hier bestehen Leerstände und Wohnungsüberangebote. Menschen mit einem geringen Einkommen müssen Wohnungen in Anspruch nehmen, die sich
in einem schlechten Umfeld befinden und nicht mehr
zeitgemäß sind. Dies führt zur Bildung von benachteiligten Stadtteilen. An diesen Orten wird die kulturelle und
soziale Teilhabe von Familien und insbesondere von
Kindern eingeschränkt.
({2})
Insoweit erscheint es dringend notwendig, nicht mehr
zeitgemäße Gebäudekomplexe vom Markt zu nehmen
und durch den Wohnbedürfnissen gerecht werdende
Neubauten zu ersetzen.
Insgesamt sollte man überdenken, ob die Förderung
von demografisch bedingtem Neubau und Bestandsersatz nicht doch eine sinnvolle Alternative zur Sanierung
ist. Gerade für Häuser aus den 50er- und 70er-Jahren,
deren Sanierungskosten zu hoch sind, gilt es, dies zu
überdenken.
({3})
Bestandsersatz wird bislang nicht eigenständig gefördert, und es wäre eine Überlegung wert, dies eventuell in
die KfW-Programme aufzunehmen.
Die Bundesregierung strebt an, die Kündigungsfrist
auch für den Vermieter unabhängig von der bisherigen
Mietzeit auf drei Monate zu verkürzen. Die FDP schwört
geradezu darauf, dass die Kündigungsfristen von Vermietern und Mietern vereinheitlicht werden.
Für Familien und Einzelpersonen hängen Kindergärten, Schulen, Nachbarn und Freundschaften an ihrem
Wohnort, an ihrem Wohnumfeld. Sie haben sich an diesem Ort Netzwerke zur Unterstützung geschaffen. Wohnen ist eben mehr als nur ein Dach über dem Kopf.
({4})
Je vertrauter dem Mieter sein Wohnumfeld ist, um so
schutzwürdiger ist sein Interesse, in der Wohnung zu
verbleiben oder genügend Zeit zu haben, sich in seinem
vertrauten Umfeld eine neue Wohnung zu suchen.
Sie haben mit dieser Forderung, sehr geehrte Damen
und Herren von der Koalition, nicht einmal mehr - so
meine Information - die Ministerin an Ihrer Seite, die für
den Verbraucherschutz zuständig ist.
Die Quartiere mit sozialer Schieflage, Brennpunkte
der Stadt, werden zum Beispiel mit dem Programm „Soziale Stadt“ nicht nur baulich verbessert, sondern auch
die Menschen werden mitgenommen, werden aktiv, egal
ob über Projekte an Schulen, bei der Integration von Zuwanderern oder der Gesundheitsvorsorge. Mit diesem
Programm wird nicht nur die Wohnsituation verbessert,
sondern es gibt den Menschen dort auch die Chance, ihr
Leben selbst positiv zu gestalten und aktiv mitzuwirken.
({5})
Fragt man Praktiker und Akteure vor Ort, so hört
man, dass der Bund in den letzten Jahren gute Programme gestartet hat: „Stadtumbau West“ und die „Soziale Stadt“. Allerdings ist die Situation zurzeit zynisch,
insbesondere in meinem Wahlkreis. Die gesamten Programme müssen durch Eigenmittel der Kommunen mitfinanziert werden. Immer mehr Städte sind aber in einer
schwierigen finanziellen Situation. Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz bzw. das Städtebelastungsgesetz
der Bundesregierung sorgt dafür, dass den Städten regelrecht die Luft ausgeht.
({6})
Das ist nicht genug: Sie haben weitere Steuerentlastungen für Unternehmen angekündigt, und zwar zulasten
der Kommunen und der Bürger. In meinem Wahlkreis
werden seit Jahren Schwimmbäder geschlossen, Beratungen ausgedünnt, soziale Arbeit gekürzt, weitere wichtige präventive Angebote zurückgefahren. 2011 sind die
ersten Kommunen überschuldet, andere Städte im Kreis
Recklinghausen sind es etwas später, obwohl seit über
20 Jahren an allen Ecken gespart wird, obwohl bereits
seit 1993 600 000 Millionen Euro konsolidiert worden
sind.
Doch die die Bundesregierung stellenden Parteien
FDP und Union sind nicht die Einzigen, die die Städte
ausbluten lassen. Das beste Bundesprogramm hilft
nichts, wenn die schwarz-gelbe Landesregierung seit
2005 3 Milliarden Euro zulasten der Kommunen kürzt,
Förderprogramme abbaut und den Städten Bundesmittel
vorenthält.
({7})
Das Land NRW hat sich von der Förderung der Betriebs- und Investitionskosten von Kindergärten - es
handelt sich um Kosten in Höhe von 87,5 Millionen
Euro - zurückgezogen. Es hält Bundesmittel für Betriebskosten der Kitas in Höhe von 17 Millionen Euro
zurück, und es verdoppelt den kommunalen Anteil an
Krankenhausinvestitionen in Höhe von 440 Millionen
Euro. Ich könnte diese Liste weiterführen.
Entscheiden sich die Kommunen trotz dieser Umstände für die beiden Programme des Bundes, können
andere sinnvolle Förderprogramme in der Jugendhilfe,
in der Weiterbildung, in der Arbeitsmarktpolitik nicht
mehr in Anspruch genommen werden, ganz schlicht und
ergreifend deshalb, weil man das nicht vorhandene Geld
nur einmal ausgeben kann.
Wenn Banken systemrelevant sind, sind es die Kommunen schon lange. Sie verschärfen mit Ihrer Politik die
soziale Schieflage bis zur Senkrechten.
({8})
Sie betreiben Klientelpolitik für diejenigen, die sich einen Ministerpräsidenten mieten können.
Danke schön.
({9})
Auch Ihnen, Herr Kollege Groß, herzlichen Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganzer Tagesordnungspunkt zur Hälfte von Erstrednern bestritten wird,
nimmt im Laufe der Legislaturperiode übrigens auf natürliche Weise immer mehr ab.
({1})
Insofern sollten Sie die heutige Debatte in besonders intensiver Erinnerung behalten.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Wohnungsmarkt hält international - ich denke, darin
sind wir uns alle einig - jedem Vergleich stand. Alle Akteure, die daran beteiligt sind, verdienen dafür Dank.
So etwas funktioniert natürlich nicht im Selbstlauf.
Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit der Bundesregierung dafür sorgen, dass
Wohneigentum und vor allen Dingen Altersvorsorge in
diesem Bereich gestärkt werden, dass altersgerechtes
und auch bezahlbares Wohnen gesichert werden, dass
Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Bauen gestärkt werden und dass auch die kleinen Städte und die Kommunen
dabei nicht zu kurz kommen.
Die Eigentumsstrukturen auf dem deutschen Wohnungsmarkt haben sich bewährt. Kommunale Unternehmen, Genossenschaften und auch das weite Feld des privaten Wohneigentums werden von uns gleichberechtigt
gefördert. Wir sind nicht für Gleichmacherei, wohl aber
für Gleichbehandlung aller Akteure.
({0})
Wohnungswirtschaft und Wohnungspolitik stehen vor
zwei großen Herausforderungen: Das ist zum einen die
Strukturanpassung, vor allen Dingen durch den demografischen Wandel. Das ist zum anderen die Energieeinsparung, damit Nebenkosten bezahlbar bleiben und Umwelt und Klima geschützt werden.
Statistisch gesehen haben wir in Deutschland einen
ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Regional betrachtet
sieht das natürlich ganz anders aus. Deshalb wird das
Programm Stadtumbau Ost nach den speziellen Erfordernissen der ostdeutschen Bundesländer bis 2016 fortgeschrieben. Wir werden dieses Programm 2015 evaluieren, das heißt, wir werden überprüfen, in welcher Art
und Weise es fortzusetzen ist. Neben dem Abriss wird in
den nächsten Jahren vor allen Dingen die Aufwertung
der verbleibenden Innenstadtquartiere mehr an Bedeutung gewinnen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Ich gehe auch davon aus, dass das Programm in Zukunft
nicht mehr Stadtumbau Ost oder Stadtumbau West heißen wird, sondern es wird nach und nach immer mehr zu
einem Strukturanpassungsprogramm umgestaltet werden.
Wie im Koalitionsvertrag vereinbart - auch das spielt
dabei eine große Rolle -, werden wir noch in diesem
Jahr eine Regelung für die Altschulden finden. Es wird
dazu ein Gutachten geben. Wir werden überprüfen, in
welcher Art und Weise geholfen werden kann. Entscheidend dabei ist natürlich, den Unternehmen zu helfen, die
ohne eigenes Verschulden in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit zunehmender
Tendenz wird der Energieverbrauch eine wesentliche
Rolle bei der Kauf- oder Mietentscheidung spielen. Das
CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat sich bewährt:
klimapolitisch für die Umwelt, konjunkturpolitisch für
Handwerk und Industrie und wohnungspolitisch für den
Modernisierungsgrad des Bestandes. Deshalb werden
wir für Planungssicherheit im Ordnungsrecht sorgen.
Die Realisierung der ehrgeizigen Anforderungen der
EnEV 2009 auf breiter Basis mit vielen Beteiligten
bringt aus meiner Sicht für den Klimaschutz mehr als
noch höhere Standards, die niemand bezahlen kann.
({1})
Augenmaß, Wirtschaftlichkeit und Technologieoffenheit muss die Devise sein beim Fordern. Einfach und
verlässlich muss die Förderung sein. Dafür werden auch
in diesem Jahr - das haben wir erreicht - zusätzlich
400 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung gestellt.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Worte,
und zwar zu einem anderen Bereich, der hier eine wichtige Rolle spielt, sagen.
Das kann jetzt aber kein neuer Redeteil werden, sondern zwei abschließende kurze Bemerkungen.
Nein, Herr Präsident, ein Satz. - Wir müssen mehr als
bisher auch die Frage der Nachhaltigkeit beim Bauen in
den Fokus rücken. Wir müssen stärker die Art der Herstellung, der Herkunft und die Wieder- und Weiterverwendungsmöglichkeiten von Baustoffen sowie die Bautechnologien in unsere klimapolitischen Betrachtungen
einbeziehen, um unsere Ziele zu erreichen.
Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Abschluss noch
einen Satz zur Nachhaltigkeit.
({0})
Schauen wir uns einmal die Gründerzeithäuser in unserer Heimat an, die zwei Kriege und Inflationen überstanden haben, die 40 Jahre Kommunismus abgeschüttelt haben und jetzt im neuen Glanz dastehen.
({1})
Vor diesem Hintergrund sage ich: Nachhaltigkeit heißt,
wenn auch in 100 Jahren über die Neubauten von heute
noch gut gesprochen wird.
Vielen Dank.
({2})
Ich registriere immer wieder mit einer Mischung aus
Bewunderung und Neid, zu welcher Großzügigkeit
heute amtierende Präsidenten bei der Bemessung von
Redezeiten in der Lage sind, während mir Ähnliches früher mit einer geradezu brutalen Konsequenz verweigert
wurde.
({0})
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.
Ich schlage Ihnen vor, der interfraktionellen Empfeh-
lung zu folgen, die Vorlage auf Drucksache 16/13325 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Das ist offenkundig unstreitig. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang StrengmannKuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und
Erwachsene jetzt ermöglichen
- Drucksache 17/675 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Weg mit Hartz IV - Für gute Arbeit und eine
sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsicherung
- Drucksache 17/659 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar ein bemerkenswertes Urteil gesprochen. Es stellt in bemerkenswerter
Klarheit die Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums in einen direkten Zusammenhang
mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, der da lautet:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Das Bundesverfassungsgericht stellt weiterhin klar, dass
das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine eigenständige Bedeutung
hat und dem Grunde nach unverfügbar ist.
Alle, die sich an der Debatte über die Regelsätze zum
Arbeitslosengeld II beteiligen, sollten diese Leitsätze des
Bundesverfassungsgerichtes zum Ausgangspunkt ihrer
Überlegungen nehmen, wenn sie den Grundsatz der
Menschenwürde nicht verächtlich machen und das Sozialstaatsprinzip nicht infrage stellen wollen.
({0})
Wer wie der FDP-Vizekanzler das menschenwürdige
Existenzminimum als leistungsloses Einkommen zu diskreditieren versucht, zeigt, dass er das Bundesverfassungsgericht und sein Urteil weder ernst noch wirklich
zur Kenntnis nimmt.
({1})
Wer diejenigen, die sich seit Jahren hier im Parlament
sachlich und sehr sorgfältig mit der Bestimmung der Regelsätze auseinandersetzen, der Einladung zu spätrömischer Dekadenz bezichtigt, der verunglimpft nicht nur
die Erwerbslosen, sondern offenbart auch ein gerüttelt
Maß an Unverständnis für demokratisch-parlamentarische Prozesse.
({2})
Wer sich wie der FDP-Generalsekretär Lindner nicht zuerst - von der Menschenwürde ausgehend - die Frage
stellt, ob 251 Euro monatlich einem zehnjährigen Kind
zu einer menschenwürdigen Existenz verhelfen, sondern
stattdessen pauschal unterstellt, arme Mütter könnten
vielleicht zum Zweck des Geldverdienens gebären, der
beweist sein völliges Desinteresse an den Lebensbedingungen von armen Kindern in diesem Land.
({3})
Mir ist es wichtig, das zu Beginn dieser Debatte zu
betonen, weil ich der Auffassung bin, dass es sich um
mehr handelt als um einen Fehlgriff in der Wortwahl
oder um eine falsche Tonlage. Hier offenbart sich ein
grundlegend gestörtes Verhältnis zu den Grundlagen
unseres Gemeinwesens und des Grundgesetzes.
({4})
Es tut also not, die durch die Verbalinjurien von Herrn
Westerwelle entglittene Debatte über das menschenwürdige Existenzminimum wieder mit der Ernsthaftigkeit zu
führen, mit der auch das Bundesverfassungsgericht sein
Urteil gesprochen und begründet hat. Deshalb hat
Bündnis 90/Die Grünen die heutige Debatte beantragt
und einen Antrag vorgelegt, der den Grundsatz der Unantastbarkeit der Würde des Menschen den weiteren Erwägungen voranstellt. Gerade weil das Grundrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde
nach nicht verfügbar ist, halten wir es für zwingend, dass
der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum wohlüberlegt nutzt. An einer plausiblen Begründung und nachvollziehbaren Herleitung der aktuellen Regelsätze mangelt es. Ich gebe unumwunden zu, dass wir 2004 den
Fehler gemacht haben, unsere bereits damals bestehenden Einwände nicht hartnäckig genug vertreten zu haben. Allerdings kann sich keine Fraktion, die in den vergangenen Jahren Regierungsverantwortung getragen hat,
von einer Mitverantwortung freisprechen,
({5})
da die Regelsatzverordnung nicht nur von der damaligen Bundesregierung, sondern auch vom Bundesrat verabschiedet wurde. Als damals Beteiligter kann ich mich
sehr gut erinnern, dass keine Landesregierung besondere
Anstrengungen an den Tag gelegt hat, um das Verfahren
zu verändern.
Umso wichtiger sollte es nun nicht nur für meine
Fraktion sein, beim jetzt fälligen Blick nach vorn die
Konsequenzen zu ziehen. Hierzu gehört erstens, die Bedarfsermittlung den Realitäten anzupassen. Wer glaubt,
dass 15 Euro für ein Monatsticket ausreichen, der ist
schon lange nicht mehr mit dem öffentlichen Nahverkehr gefahren.
({6})
Kinder dürfen bei der Bedarfsermittlung nicht mehr wie
kleine Erwachsene behandelt werden. Es kann doch
nicht wahr sein, dass der Bedarf eines alleinstehenden,
armen Rentners als Maßstab für das herhalten muss, was
arme Kinder in diesem Land als Existenzminimum haben.
Zweitens brauchen wir faire und gerechte Öffnungsklauseln für besondere Lagen und atypische Bedarfe. Es
gibt auch 15-Jährige, die 1,90 Meter groß sind. Ich selbst
habe mit Eltern gesprochen, die mir ihre Notlagen etwa
bei Übergrößen für Kleidung geschildert haben. Nun
machen Sie aber eine engherzige und kleinmütige Regelung, mit der Sie erst einmal festlegen, was alles nicht
geht. Das kann nicht die Antwort sein. Vielmehr muss
eine gerechte Öffnungsklausel bei Beibehaltung des
grundsätzlichen Prinzips der Pauschalierung geschaffen
werden.
({7})
Drittens ist nach Auffassung von Bündnis 90/Die
Grünen sofortiges Handeln erforderlich. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren sehr plausibel
dargelegt, dass ein Regelsatz von 420 Euro unter Verzicht auf bestimmte Dinge angemessen wäre. In den
letzten Jahren ist der ohnehin unzulängliche Regelsatz
zudem weit hinter der Preisentwicklung zurückgeblieben. Aus diesem Grunde fordern wir die Anhebung des
Erwachsenenregelsatzes auf zunächst 420 Euro und der
Kinderregelsätze je nach Alter auf zwischen 280 und
360 Euro im Monat.
({8})
Wenn es jetzt um die Umsetzung der Anforderungen
des Bundesverfassungsgerichtes geht, warne ich die
Bundesregierung vor Tricksereien. Es gibt leider zahlreiche Anzeichen, dass Union und FDP versuchen, die Forderungen des Bundesverfassungsgerichtes zu umgehen.
Sie sagen erstens, das Bundesverfassungsgericht habe
gesagt, dass die Regelsätze nicht evident unzureichend
seien. Es hat aber keineswegs festgestellt, dass sie zureichend sind. Es hat Ihnen gerade einmal zehn Monate gegeben, um die Regelsatzverordnung zu überarbeiten, und
es hat die Regelsätze für so unzureichend gehalten, dass
unabweisbare Bedarfe ab sofort, ab Urteilsverkündung,
beantragt werden können und berücksichtigt werden
müssen.
({9})
Zweitens sagen Sie, man könne für die Kinder Sachleistungen statt Geldleistungen erbringen. Ich bin der
Letzte, der infrage stellen würde - und das gilt auch für
meine Fraktion -, dass gute Bildungsinfrastruktur, verbunden mit vernünftigen Sachleistungen, eine wirkungsvolle und wichtige Armutsprävention wäre. Aber man
darf Sachleistungen nicht gegen Geldleistungen ausspielen. Musische Bildung ersetzt keinen Wintermantel.
({10})
Ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf, bei der
Betonung von Sachleistungen endlich auf das Argument
zu verzichten, dass die Eltern das Geld ihrer Kinder versaufen würden. Stellen Sie nicht die Eltern von
1,8 Millionen Kindern in Hartz-IV-Bezug unter den Generalverdacht, ihre Kinder als Schnapslieferanten zu
missbrauchen!
({11})
Drittens zum berühmten Lohnabstand: Wer arbeitet,
soll mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Was für
eine Banalität! Es gibt, glaube ich, niemanden in diesem
Hause, der das nicht ebenso empfindet.
({12})
Bleiben Sie bei der Wahrheit! Wenn Sie öffentlich Lohnabstandsrechnungen anstellen, dann unterschlagen Sie
regelmäßig die vorgelagerten Sozialleistungen. Sie unterschlagen das Kindergeld, das Wohngeld und den Kinderzuschlag,
({13})
kommen so zu niedrigen Berechnungen und hetzen
Niedrigverdiener gegen die Bezieher von
Arbeitslosengeld II, die nichts lieber als einen Job hätten, auf.
({14})
Ich erinnere Sie gerne daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Vorrang des menschenwürdigen Existenzminimums definiert hat. Es hat nicht gesagt, das
Lohnabstandsgebot sei unantastbar; vielmehr kommt zuerst das Existenzminimum, und dann können wir uns natürlich Gedanken über Anreizsysteme für eine Arbeitsaufnahme machen.
({15})
Wir halten einen Mindestlohn in Verbindung mit einer
Entlastung der Sozialversicherungsabgaben im unteren
Einkommensbereich für richtig, um bessere Anreize zu
schaffen. Sie hingegen wollen die Regelleistung absenken. Ich frage Sie, ob Sie nicht zur Kenntnis genommen
haben, dass die Löhne im Niedriglohnbereich selbst
während der Aufschwungjahre gesunken sind. Das
Lohnabstandsgebot alter Prägung kann auch deswegen
nicht mehr greifen, weil die Löhne im unteren Einkommensbereich sich wegen eines fehlenden Mindestlohnes
von oben den Regelsätzen annähern. Wir drohen in eine
Negativspirale zu geraten.
({16})
Wenn wir jetzt in die weiteren Beratungen eintreten,
sollten wir tatsächlich die Menschenwürde zum Kern
und zum Ausgangspunkt nehmen. Im Grundgesetz steht
nicht, der Niedriglohnsektor ist unantastbar; außerdem
ist der Mensch kein Nutztier. Ersparen Sie uns und vor
allem den Betroffenen eine Propaganda der Ungleichheit
und nehmen Sie die Personen in ihrer Würde ernst!
Vielen Dank.
({17})
Der Kollege Karl Schiewerling ist der nächste Redner
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Urteilen dem Gesetzgeber Aufträge erteilt, die noch in diesem Jahr umzusetzen sind. Die Botschaft in beiden Urteilen ist eindeutig: Hartz IV steht auf
dem Boden der Verfassung, die Organisation muss auf
neue Füße gestellt werden, und die Bedarfssätze sind
stringent, transparent und nachvollziehbar zu gestalten,
({0})
und zwar so, dass das physische Existenzminimum und
die Teilhabe am kulturellen Leben gesichert werden.
Die Urteile und die aufgewühlte Diskussion der letzten Tage geben Anlass, sich an die Wurzeln des in den
Jahren 2004 und 2005 - hier gebe ich dem Kollegen
Kurth recht - entstandenen gemeinsamen Gesetzes von
Bundestag und Bundesrat zu erinnern. Die Wurzeln waren: Wir wollten sicherstellen, dass kein Mensch in Armut fällt und dass wir eine Grundsicherung für diejenigen bekommen, die langzeitarbeitslos sind, und ebenso
für diejenigen, die von der Sozialhilfe leben. Deswegen
wurde beides zusammengeführt. Aber der Sicherheit,
dass niemand durch den Rost fällt, wird auf der anderen
Seite die Verantwortung gegenübergestellt, dass auch jeder das tut, was er kann, um seine Familie und sich wieder mit selbsterworbenem Geld zu finanzieren und zu
tragen.
({1})
Der Staat und wir alle haben die Verpflichtung und
die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Brücken gebaut
werden, dass dies nach und nach wieder möglich wird
und dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen.
Das ist der eigentliche Kern der gesamten Diskussion.
Die Kernfrage lautet: Was ist zu tun, damit Menschen
wieder in Beschäftigung kommen?
Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, ich kenne aus den letzten vier Jahren - so lange
begleite ich diese Diskussion auf parlamentarischer
Ebene - nicht einen einzigen Antrag von Ihnen, nicht
einen einzigen, in dem Sie deutlich machen, wie Sie
Menschen wieder in Beschäftigung bringen wollen.
({2})
Es gibt keinen einzigen Antrag von Ihnen, der beschreibt, wie Sie das organisieren wollen.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht um dieses Urteil
des Bundesverfassungsgerichts, um nichts mehr und um
nichts weniger. Ich empfehle allen Beteiligten, dieses
Urteil tatsächlich auf dieser Grundlage zu lesen. Wenn
wir jetzt ohne Kenntnis der Einkommens- und Verbraucherstichprobe 2008, deren Ergebnis erst im
Herbst 2010 vorliegen wird, anfangen, darüber zu fabulieren, ob Sätze anzuheben oder abzusenken sind,
({4})
dann missachten wir die Urteile des Bundesverfassungsgerichts.
({5})
Unsere Aufgabe besteht darin, jetzt zu prüfen, wie die
Zusammenhänge der Einkommens- und Verbraucherstichprobe aussehen.
Herr Kollege Schiewerling, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zu?
Ja.
Herr Schiewerling, Sie haben soeben behauptet, dass
Sie in den letzten Jahren keinen einzigen Antrag von uns
zur Kenntnis genommen haben, in dem wir Vorschläge
unterbreitet hätten, wie man Menschen in Arbeit bringen
kann.
({0})
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob Sie bereit sind,
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir sehr viele Anträge
eingebracht haben, zum Beispiel zum Thema öffentliche
Beschäftigung.
({1})
Aber wir wollen gar nicht in der Vergangenheit kramen
und an Ihr schlechtes Gedächtnis erinnern.
Sind Sie bereit, unseren Antrag, den wir jetzt in diesem Tagesordnungspunkt behandeln und in dem wir
ganz konkrete Maßnahmen unterbreiten, wie Menschen
in Beschäftigung kommen, wenigstens einmal durchzulesen? Wir sagen zum Beispiel, wir wollen, dass gute
Arbeit gefördert wird, und wir wollen ein öffentliches
Zukunftsprogramm, das 2 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen könnte.
({2})
Warum ignorieren Sie den hier vorliegenden Antrag?
({3})
Frau Kollegin Kipping, ich ignoriere den Antrag
nicht. Ich habe auch die übrigen Anträge nicht ignoriert.
({0})
Ich sprach davon, dass wir zu mehr sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auf dem ersten
Arbeitsmarkt kommen müssen. Da schwebt mir schlicht
und einfach und an erster Stelle die deutsche Wirtschaft
vor und nicht der Ausbau des öffentlichen Sektors.
({1})
Auf die Frage, wie wir es erreichen können, dass
Betriebe Beschäftigung schaffen, geben Sie keine Antwort.
({2})
Das ist mein Kritikpunkt, und bei dem bleibe ich.
({3})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
auf die Dringlichkeit hingewiesen - das halte ich für einen der wesentlichen Bestandteile dieses Urteils -, sich
mit der Situation der Kinder und deren Bildungsbedarfe
zu beschäftigen. Das ist eine große Herausforderung für
uns alle, für den Deutschen Bundestag, für den Bundesrat und für das Gesetzgebungsverfahren, das jetzt auf
den Weg gebracht wird.
Es ist eine große Chance; denn es gibt viele Kinder,
deren Familien bereits in der zweiten oder dritten Generation von Sozialhilfe leben, deren Eltern, Großeltern
und Urgroßeltern davon leben. Wenn wir ihnen nicht
konsequent helfen, werden sie denselben Weg gehen.
Wir dürfen kein Kind verloren gehen lassen. Es ist unsere Verantwortung, ihnen Perspektiven zu schaffen,
weil in jedem Kind Hoffnung, Begabung und Fähigkeiten stecken.
({4})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns darauf aufmerksam gemacht. Wir haben nun die Rahmenbedingungen
zu setzen.
({5})
Wir werden in der christlich-liberalen Koalition das Urteil konsequent umsetzen. Wir haben mit dem ersten Teil
angefangen, dessen Umsetzung keinen Aufschub erlaubt. Ich glaube, dass wir das Vorhaben gut miteinander
gestalten werden.
Es geht letztendlich darum, dass wir genau schauen
müssen, in welchen Lebenssituationen sich die einzelnen
Menschen befinden. Wenn eine Botschaft aus diesem
Urteil zentral ist, dann ist es die Botschaft, dass wir berücksichtigen müssen, in welcher Lebenssituation sich
die 6,5 Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen
Kinder, die von den Regelleistungen des SGB II leben,
befinden. So vielfältig unsere Gesellschaft ist, so vielfältig ist die Lebenssituation der Menschen, die sich in diesem System befinden. Deswegen müssen wir differenziert antworten und differenziert helfen.
Aber es bleibt dabei: Im Mittelpunkt steht die Aufgabe, dass wir die Menschen wieder in Beschäftigung
bringen müssen. Die Perspektiven dafür sind nicht
schlecht. Wer die Arbeitslosenzahlen von heute mitbekommen hat, weiß, dass der Einbruch auf dem Arbeitsmarkt trotz des Winters zu unserer allergrößten Freude
nicht stattgefunden hat.
({6})
Es ist fast ein Jobwunder in Deutschland, dass die Arbeitslosenzahl trotz des strengen Winters nur um 26 000
gestiegen ist. Das ist die saisonbereinigte Zahl, und das
ist der Konjunktur geschuldet. Wir alle haben mit viel
schlimmeren Zahlen gerechnet. Wir wollen miteinander
hoffen, dass dieser Trend anhält. Dafür wollen wir alles
tun.
Ich möchte einige wesentliche Stichworte aufgreifen,
um darzustellen, um was es grundsätzlich geht. Wir
brauchen eine verfassungskonforme Lösung für die Organisation des SGB II. Hierbei geht es um die Frage der
Verantwortung. Verantwortung - das ist das große
Stichwort. Es geht in der gesamten Grundsicherungsdebatte um Verantwortung: um die Verantwortung des
Staates, dass alle Menschen ein soziales und soziokulturelles Existenzminimum haben, außerdem um die Verantwortung, dass wir den Menschen helfen und sie wieder in die Lage versetzen, mit ihrer eigenen Hände
Arbeit und ihres eigenen Kopfes Arbeit ihren Lebensunterhalt für sich und ihre Familie zu verdienen, aber auch
um die Verantwortung jedes Einzelnen: Jeder muss das
tun, was er kann und was seinen Fähigkeiten entspricht,
um seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten.
Weiterhin gilt das Prinzip des Forderns und Förderns.
Wir garantieren ein Existenzminimum. Wir erwarten,
dass jeder tut, was er kann, um immer weniger von staatlichen Transferleistungen abhängig zu sein.
Herr Kollege.
Die Organisation und die Neugestaltung des SGB II
haben sich an diesem Maßstab auszurichten. Das Verfassungsgerichtsurteil gibt uns die nötigen Rahmenbedingungen an die Hand. Es ist wichtig, dass wir im Jahr
2010 die Grundsicherung für Arbeitsuchende wieder
vom Kopf auf die Füße stellen. Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken!
({0})
Das Wort erhält die Kollegin Anette Kramme für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sie alle kennen die klassischen Vorstellungen
von der Hölle: brodelnde Kochtöpfe und einen den Dreizack schwingenden Teufel. Seit Kafka wissen wir allerdings, dass die Hölle auch eine monströse und seelenlose
Bürokratie sein kann.
Aktuell ist ein FDP-Außenminister oder - besser gesagt - ein Sozial-außen-vor-Minister ein angsteinflößendes Sinnbild ewiger Folter.
({0})
Die Folter, die er uns bereitet, besteht nicht nur im
schrillen, hysterischen Ton, der Glas zersprengt und den
sozialen Zusammenhalt gleich mit.
({1})
Die Folter, die er uns bereitet, besteht auch nicht nur im
Duktus oder im Ton. Die Folter besteht im Inhalt des Gesagten. Es geht um Daumenschrauben, die angezogen
werden sollen. Es geht um das Öffentliche-an-den-Pranger-Stellen. Es geht um die Geißel, die geschwungen
wird.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beiträge von
Herrn Westerwelle zeigen, dass wir uns nicht im Zustand
spätrömischer Dekadenz befinden, sondern eher im Zeitalter spätmittelalterlicher Hexenjagd. Da werden die Armen gegen die Armen in Stellung gebracht,
({3})
da werden Heerscharen von Schmarotzern und Betrügern herbeizitiert, die heuschreckenartig über den Sozialstaat herfallen und ihn kahlfressen.
Meine Damen und Herren, Florida-Rolf ist die Ausnahme, nicht die Regel.
({4})
Auch die vom hessischen FDP-Justizminister jüngst für
seine Argumentation herangezogenen Leute, die in Talkshows sagen, dass sie nicht arbeiten wollen, sind die
Ausnahme. Es ist bezeichnend, wenn sich eine Partei
von RTL über die soziale Realität von Hartz-IV-Empfängern informieren lässt. Gehen Sie doch einmal zu den
Tafeln!
({5})
Gehen Sie doch einmal zu einer Schuldnerberatungsstelle in Ihren Wahlkreisen! Verbringen Sie doch einmal
einen Tag in den Jobcentern! Reden Sie mit den Menschen statt über sie!
Dann, meine Damen und Herren von der FDP, werden
Sie sehen, dass das Kernproblem nicht in der massenhaften Verweigerung der angebotenen Arbeitsplätze besteht, wie es immer wieder suggeriert wird. Die Regel
sind Menschen, die fast alles dafür tun würden, dem
Trott der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Die ganz
große Menge der Hilfeempfänger sucht nichts sehnlicher
als gute Arbeit.
({6})
Letztlich geht es doch um mehr als die reine Höhe
von Hartz IV. Eine ernst gemeinte Debatte sollte sich darum drehen, wie man den Sozialfall vermeidet, statt darum, wie man die Betroffenen möglichst intensiv malträtiert. Das IAB wird in den nächsten Wochen eine Studie
veröffentlichen, die belegt, dass die individuelle Betreuung bei der Arbeitsvermittlung das Wichtigste ist, dass
sie dazu führt, dass Menschen wieder in Arbeit kommen.
Arbeitslosigkeit ist für Menschen eine existenzielle Bedrohung. Die Menschen können verlangen, dass sie gut
und umfassend beraten werden, aber auch, dass sie aufgefangen werden durch die Arbeitsverwaltung. Stattdessen sperren Sie, meine Damen und Herren von SchwarzGelb, Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit.
({7})
Ich sage auch: Das Einkommen der Kellnerin ist wie
das Einkommen Millionen anderer Erwerbstätiger in der
Bundesrepublik zu niedrig. Es ist zu niedrig, um eine angemessene Entlohnung für geleistete Arbeit darzustellen, und es ist zu niedrig, um die Binnennachfrage in der
Bundesrepublik zu stützen.
({8})
Ginge es dieser Kellnerin aber besser, wenn die Lohnersatzleistungen niedriger wären, wie Sie, Herr
Westerwelle, sich das offensichtlich vorstellen? Das Gegenteil ist doch der Fall: Jeder Arbeitsmarktökonom
weiß, dass sinkende Lohnersatzleistungen das gesamte
Tarifgefüge nach unten ziehen. Die Beschäftigten hätten
dann weniger Netto vom Brutto.
Nun stellt man sich vielleicht die Frage, warum Herr
Westerwelle solch einen Unsinn erzählt. Die Antwort ist
einfach: Indem er auf die einschlägt, die von Regelsätzen leben müssen, lenkt er von der banalen Tatsache ab,
dass die Löhne und Gehälter viel zu niedrig sind. Kein
Wunder: Wenn er sich dafür einsetzen würde, dass alle
Kellnerinnen einen Mindestlohn bekommen, dann gäbe
es vielleicht keine Spenden mehr von der Firma Mövenpick.
({9})
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Herr
Schiewerling, an diesem Punkt hören wir nichts von Ihnen. Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung liegt
deutlich über dem der europäischen Nachbarländer und
reicht an das Niveau in den USA heran. Wir brauchen
eine Bekämpfung des Missbrauchs bei der Leiharbeit.
Leider konnte man sich in den letzten vier Jahren nicht
entscheiden, da etwas zu tun.
({10})
Wir wollen auch, dass Menschen nicht mehr jede Tätigkeit unabhängig von ihrer Bezahlung annehmen müssen.
Eine Arbeit soll nach unserer Auffassung nur noch dann
zumutbar sein, wenn sie dem Tariflohn oder dem ortsüblichen Lohn entspricht. Auf jeden Fall darf niemand gezwungen werden, eine Tätigkeit unterhalb eines gesetzlichen Mindestlohns anzunehmen.
({11})
Das Parlament wird die Regelsätze neu berechnen
müssen. Wir brauchen aber auch und vor allen Dingen
eine Strategie, die die Ursachen der Armut und der Arbeitslosigkeit bekämpft.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann den bisherigen Verlauf der Debatte - ich meine den
Beitrag des Kollegen Kurth, aber auch den Beitrag der
Kollegin Kramme - wirklich nur als unterirdisch bezeichnen. Es ist unglaublich, was Sie hier heute Morgen
abziehen.
({0})
Mit Ihren Angriffen auf den Vizekanzler versuchen Sie,
davon abzulenken, dass Sie eine erhebliche Schuld an
dem Desaster in Karlsruhe tragen.
({1})
Denn es ist Ihr Gesetz, das in Karlsruhe gescheitert ist.
Das muss man hier sehr deutlich sagen.
({2})
Der Gedächtnisverlust - auch der Gesichtsverlust der heutigen Opposition, der in Ihren Beiträgen und auch
in Ihrem Antrag, Herr Kollege Kurth, zum Ausdruck
kommt, ist erschreckend. Wenn Sie sagen, das geltende
Recht, das in Karlsruhe kritisiert wurde, sei engherzig
und kleinmütig, Herr Kurth, dann geht das doch an Ihre
Adresse, und Sie können doch nicht nach dem Motto
„Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken“ hier so
tun, als ob Sie frei von jeder Schuld wären.
({3})
Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes waren auch
schon 2004 und 2005 in Kraft, Herr Kurth. Die Menschenwürde, über die Sie heute hier so ausgiebig referiert haben, war damals die gleiche wie heute.
({4})
Nur, Sie haben damals andere Gestaltungsentscheidungen getroffen. Die müssen Sie sich heute vorhalten lassen. Wir lassen nicht zu, Frau Kollegin Ferner und Frau
Kollegin Kramme, dass Sie sich hier aus der Verantwortung stehlen.
({5})
Kollege Schaaf möchte eine Zwischenfrage stellen,
Herr Präsident.
Wenn das zu einer gewissen Beruhigung der Aufregung führt, ist das besonders willkommen. Kollege
Schaaf hat jetzt Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Kollege Kolb, ich habe den Eindruck, Sie haben
die ersten beiden Reden in dieser Debatte in der Tat nicht
nachvollzogen. Hier hat sich niemand aus der Verantwortung gestohlen. Wir nehmen - im Gegensatz zu Ihnen - das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr
ernst. Wir versuchen nicht, eine Debatte aufzumachen,
wie es Ihr Vorsitzender tut,
({0})
der die Menschen spaltet, die in Armut leben. Das ist der
entscheidende Unterschied.
({1})
Bei dem Vorschlag des Kollegen Kurth, die Sätze auf
420 Euro zu erhöhen - ich teile das nicht so uneingeschränkt -, hat eben Kollege Lindner dazwischengebrüllt: „Das kostet 20 Milliarden Euro!“ - Würden Sie
mir recht geben, dass das in etwa deckungsgleich ist mit
den Steuersenkungsversprechungen in Höhe von 19 Milliarden Euro für das nächste Jahr, die Sie gemacht haben?
({2})
Herr Kollege Schaaf, Ihre Frage gibt mir zuerst einmal Gelegenheit, etwas klarzustellen, was Kollege Kurth
vorhin fälschlicherweise gesagt hat. Er hat den Generalsekretär der FDP, Christian Lindner, mit dem Fraktionskollegen Martin Lindner verwechselt.
({0})
Ich will hier zunächst einmal ohne jeden Zweifel festhalten, Herr Kollege Schaaf: Die FDP tritt nicht für Kürzungen der Regelsätze ein.
({1})
Das steht nicht zur Debatte.
({2})
Aber wir werben dafür, dass die Leistungen, die wir denen gewähren, die unverschuldet in Not geraten und bedürftig sind, in dem Bewusstsein in Anspruch genommen werden, dass man so schnell wie möglich wieder
aus dem Transferbezug herauskommen muss. Das ist der
Kern der Debatte.
({3})
Ich bin wirklich der Meinung - ich will Ihre Frage
noch weiter beantworten, Herr Kollege Schaaf -, dass
wir dort auch sehr genau hinsehen müssen. Sie haben
mir vorgeworfen, bei der Kollegin Kramme nicht hingehört zu haben. Ich habe hingehört. Sie hat gesagt, wir
hätten in den letzten vier Jahren das Problem bei der
Zeitarbeit schleifen lassen und nichts getan. Wo sind wir
eigentlich? Wer hat denn bis zum Oktober letzten Jahres
regiert? Wer hat denn bewusst die Entscheidung getroffen, die Zeitarbeit nicht in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufzunehmen? Das waren doch Sie.
({4})
Sie haben in dieser Zeit den federführenden Minister gestellt. Olaf Scholz hatte die Verantwortung. Und Sie haben es nicht geschafft.
({5})
Es ist wirklich pervers, wenn Sie heute hier erklären, wir
von der FDP seien diejenigen, die daran schuld sind,
dass die Zeitarbeit ungeregelt geblieben ist. Es war Ihr
Versagen. Das geht auch an anderer Stelle weiter.
({6})
Wir nehmen das Urteil aus Karlsruhe sehr ernst. Der
Auftrag des Gerichtes lautet, den Bedarf eines Empfängers von Arbeitslosengeld II nicht pauschal durch prozentuale Berücksichtigung von verschiedenen Bedarfsgruppen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu
ermitteln, wie Sie es getan haben, sondern Wertungsentscheidungen zu treffen. Das ist das Entscheidende. Wir
müssen als Gesetzgeber, nicht als Verordnungsgeber,
Fall für Fall, Ausgabe für Ausgabe entscheiden: Das
dient der Deckung des sozialen Existenzminimums und
der gesellschaftlichen Teilhabe und gehört daher dazu.
Darüber hinaus - ({7})
- Herr Schaaf, ich versuche, Ihre Frage zu beantworten.
Nein, Herr Kollege Kolb. Ich bin auch nicht zum ersten Mal hier. In einem gewissen Verhältnis sollte die
Dauer der Antwort nicht nur zur Dauer der Frage, sondern auch zur übrigen Redezeit stehen. Das habe ich
jetzt durch Einfädelung in die normale Redezeit sichergestellt.
({0})
Dann will ich meine normale Redezeit gerne darauf
verwenden, Ihnen das noch einmal zu erklären. Wir
müssen diese Wertungsentscheidungen treffen. Was gehört zum physischen Existenzminimum? Das muss sowieso gewährt werden. Und was gehört darüber hinaus
zum gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Existenzminimum, also zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben?
({0})
Da haben Sie damals, wahrscheinlich aus Angst vor der
Realität, gekniffen. Sie haben es mit prozentualen Abschlägen gemacht. Jetzt müssen wir das Fall für Fall entscheiden. Das werden wir tun. Wir nehmen diese Herausforderung an. Es ist keine bequeme Situation, wenn
man sagen muss, dass eine bestimmte Leistung dann
eben nicht mehr dazugehört. Das werden wir aber leisten.
({1})
Ich will zum Schluss meiner Redezeit noch auf den
auch hier immer wieder erhobenen Einwand zu sprechen
kommen, Hartz IV, Niedriglöhne und Mindestlöhne gehörten zusammen; das müsse man in einem Zusammenhang diskutieren. Die Entscheidung, einen Niedriglohnsektor in Deutschland einzuführen, hat die rot-grüne
Bundesregierung seinerzeit bewusst getroffen.
({2})
Heute wollen Sie mit dieser Entscheidung nichts
mehr zu tun haben, Frau Ferner. Trotzdem bleibt das Ihre
Verantwortung. Sie wollten es damals so. Zwar war
Gerhard Schröder in Ihren Reihen nie sehr gelitten, am
Ende sind Sie ihm aber gefolgt. Gerhard Schröder hat
angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen gesagt: Wir
müssen auch für diejenigen, die nicht in der Lage sind,
einen Stundenlohn von 8 oder 9 Euro - die Linken plädieren jetzt für 10 Euro - zu verdienen, Arbeitsangebote
schaffen.
({3})
Ich halte es auch für richtig, dass jeder das beiträgt,
was er leisten kann, und der Staat dann auf ein Mindesteinkommen aufstockt, das den Bedarf vollständig
abdeckt.
({4})
Mindestlöhne sind in dieser Situation absolut ungeeignet. Die Alleinerziehende, die 15 Stunden in der Woche
arbeiten kann, kann sich mit einem Stundenlohn von
7 oder 8 Euro nicht aus dem Transferbezug lösen.
({5})
In gleicher Weise gilt das für den Verheirateten mit zwei
oder drei Kindern. Er wird sich auch mit einem Stundenlohn von 10 Euro nicht aus dem Transferbezug lösen
können. Dann muss die Gesellschaft zu Recht ergänzend
dazutreten und die Lücke auffüllen. Dies ist die Systematik. Das hielten Sie damals für richtig. Wir halten es
heute weiterhin für richtig. So wird ein Schuh daraus.
({6})
Sie dürfen sich nicht wundern, dass die Löhne auch
tatsächlich gesunken sind, wenn Sie an eine Volkswirtschaft einen Niedriglohnsektor anflanschen. In Ihren
Beiträgen wird immer der Eindruck erweckt, die Unternehmerschaft in Deutschland hätte flächendeckend
nichts anderes zu tun, als die Löhne ihrer Beschäftigten
zu drücken. Das entspricht wirklich nicht der Realität.
Damit wird man auch nicht den Unternehmen und Unternehmern gerecht, die in der schwierigsten Wirtschaftskrise unseres Landes große Anstrengungen unternehmen, um die Beschäftigung in ihren Betrieben zu
erhalten.
({7})
Nachdem ich doch einen Teil meiner Redezeit für die
Beantwortung der Frage des Kollegen Schaaf einsetzen
musste, Herr Präsident - der Präsident hat gewechselt -,
bin ich nun auch am Ende meiner Ausführungen angekommen.
({8})
Ich glaube, dass uns diese Debatte noch weiter beschäftigen wird, und zwar aus guten Gründen; denn die
vom Vizekanzler und Vorsitzenden der FDP in die Mitte
der Gesellschaft gerückte Frage der Balance zwischen
den Leistungen, die wir gewähren, und den Belastungen
derjenigen, die diese Leistungen finanzieren, wird in diesem Hause sicherlich noch öfter zur Sprache kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das Grundproblem der Hartz-Gesetze liegt darin, dass sie von Annahmen ausgehen, die nicht haltbar
sind.
({0})
Die erste Annahme der Hartz-Gesetze war und ist, dass
die Menschen nicht arbeiten wollen. Dem entspricht
auch die eine oder andere Einlassung des Außenministers, von dem man nicht mehr weiß, ob er Arbeits- und
Sozialminister werden will. Ich sage Ihnen: Alle Praxis
zeigt, dass sich die Menschen bemühen, oft über das erträgliche Maß hinaus, einen Job zu finden. Sie jetzt zu
verunglimpfen, indem man sagt, sie wollten gar nicht arbeiten und man müsse sie zur Arbeit zwingen, das ist ein
Skandal.
({1})
Die zweite Grundannahme der Hartz-Gesetze ist, dass
die Löhne zu hoch sind. Ein Ziel der Hartz-Gesetze besteht deshalb darin, die Löhne zu senken; das war und ist
der Sinn von Hartz. Das ist Ihnen leider auch gelungen;
schauen Sie sich die Lohnquote in diesem Land an. Herr
Kolb, ob die Unternehmerschaft dies bewusst oder unbewusst macht, möchte ich außen vor lassen. Fakt ist, dass
die Löhne in diesem Land, insbesondere die Niedriglöhne, gesunken sind, auch im Aufschwung. Das ist
ein Skandal.
({2})
Meine Damen und Herren, alle Hartz-Parteien - da
möchte ich keine ausnehmen - haben vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Ohrfeige gekriegt, die
man bis nach Berlin gehört hat.
({3})
Hinterher - ich habe ja gedacht, mich tritt ein Pferd stellten sich Vertreter aller Parteien hin und sagten: Das
Urteil ist klasse, wir begrüßen es. - Ich frage mich: Ist
das eine Form von kollektivem Masochismus?
({4})
In diesem Urteil wurde Ihnen bescheinigt, dass Sie
ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet haben,
und dabei geht es nicht um Randnotizen. Der eine oder
andere, der sich jetzt aus der Verantwortung stehlen will,
war übrigens im Vermittlungsausschuss dabei. Fakt ist,
dass der Kern dieses Gesetzes, nämlich die Antwort auf
die Frage: „Wie viel Geld gibt es?“, verfassungswidrig
ist, nicht eine Randnotiz. Das müssen wir ändern.
({5})
- Doch,
({6})
der Kern des Gesetzes ist die Antwort auf die Frage: Wie
viel Geld wird gezahlt? Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, dass die Sätze falsch berechnet sind, dann
haben wir den Punkt erreicht, dass das soziokulturelle
Existenzminimum nicht gewährt wird.
({7})
Wenn Sie das Urteil genau lesen, stellen Sie fest, dass
Sie einige Dinge sofort zu ändern haben. Sie regieren
nämlich gerade.
({8})
Sie haben jetzt die Möglichkeit, tatsächlich Korrekturen vorzunehmen; dazu haben wir einen Antrag vorgelegt. Stattdessen höre ich aber etwas ganz anderes. Ich
höre, dass der Außenminister dieses Landes dieses Urteil
offensichtlich ignorieren will. Statt die Hausaufgaben zu
machen, wird auf Arbeitslose und Niedriglöhner mehr
oder weniger eingeprügelt, und sie werden gegeneinander aufgehetzt. Herr Westerwelle, vielleicht habe ich an
dieser Stelle in der Schule nicht gut aufgepasst,
({9})
aber ich sage Ihnen: Im alten Rom waren es nicht die
Sklaven, nicht die Unfreien und auch nicht die unteren
Schichten der Gesellschaft, die in Dekadenz gelebt haben, sondern es war die politische und wirtschaftliche
Führung.
({10})
Ich habe den Eindruck, heute ist es wieder so.
Herr Westerwelle, Leistungsverweigerer leben in
Deutschland nicht von Hartz IV. Die Kontrolle des Kontostands und die Entscheidung, wie viel Geld ins Ausland transferiert wird, ist keine besondere Leistung.
({11})
Deshalb sage ich Ihnen: Die Leistungsverweigerer in
diesem Land sind die Steuerhinterzieher und die Spekulanten
({12})
und nicht Leute, die im Hartz-Bezug sind.
({13})
Weil ich gehört habe, dass überlegt wird, ob man in
Zukunft Gutscheine an Hartz-IV-Bezieher ausgibt, rate
ich Ihnen, Herr Westerwelle, künftig die Boni von Bankern in Gutscheinen auszugeben.
({14})
Dann würde das Geld wenigstens wieder in den Wirtschaftskreislauf fließen und würde nicht verspekuliert
werden.
({15})
Meine Damen und Herren, statt Hartz wollen wir eine
wirklich repressionsfreie und bedarfsorientierte Grundsicherung.
Da momentan auch darüber diskutiert wird, ob
„Hartz“ der richtige Name für diese Gesetze ist, sage ich
Ihnen: Ja, selbstverständlich ist „Hartz“ der richtige
Name. Hartz hat sich nicht an die Gesetze gehalten, und
die Hartz-Gesetze sind grundgesetzwidrig. Das ist doch
eine schöne Parallele, oder nicht?
({16})
Meine Damen und Herren, die Menschen haben ein
Problem, nämlich dass sie keinen Job finden. Dieses
Problem nimmt angesichts der Krise noch zu. Leider
höre ich von Ihnen keine Vorschläge, wie man das ändern
kann. Wir wollen - das ist der erste wichtige Punkt -, dass
ein Zukunftsprogramm für Arbeitsplätze aufgelegt wird.
Zweitens wollen wir, dass endlich ein Mindestlohn eingeführt wird.
In der Welt vom 12. Februar 2010 liest man von Herrn
Westerwelle die Aussage, zunehmend seien die, die Arbeit haben, die „Deppen der Nation“, weil es sich auch
ohne Arbeit gut leben lasse. Herr Westerwelle, Sie machen die Arbeitnehmer zu Deppen der Nation. Ihre Partei ist es nämlich, die den Arbeitnehmern den Mindestlohn verweigert. Das ist der eigentliche Skandal in dieser
Gesellschaft.
({17})
Wir wollen, dass das Arbeitslosengeld I länger gezahlt wird. Wir wollen eine Mindestsicherung, das heißt
500 Euro Regelleistung plus Kosten der Unterkunft.
Dann sind wir auch im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf der sicheren Seite. Und wir
wollen, dass das Ganze sanktionsfrei abläuft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über
alle, die sich von dem, was sie gemacht haben, distanzieren; ich freue mich, wenn sich die Einsicht weiter verbreitet. Sie haben heute die Möglichkeit, diesen Fehler
ein Stück weit zu korrigieren. Wir brauchen eine Mindestsicherung, die verfassungskonform ist und die den
Menschen die Angst vor der Arbeitslosigkeit nimmt. Ein
Ziel der geltenden Gesetzgebung ist es nämlich, den
Menschen so viel Angst vor Arbeitslosigkeit zu machen,
dass sie Arbeit annehmen, egal wie diese bezahlt wird.
Das müssen wir verhindern, alle miteinander.
({18})
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich bin gerade von meinen Fraktionskollegen gebeten worden, nicht so laut zu schreien wie
mein Vorredner. Das werde ich auch nicht tun.
Ich bin betrübt über den Gang dieser Diskussion. Die
Probleme der Betroffenen rechtfertigen, dass wir gemeinsam versuchen, uns zusammenzuraufen und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts konstruktiv zu bewerten.
Was höre ich von der Opposition? Nur Polemik. Lieber Kollege Ernst, Sie haben das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht gelesen, oder Sie haben es gelesen, es aber nicht verstanden. Sie proklamieren hier ein
bedingungsloses Grundeinkommen bzw. einen Mindestsatz von 500 Euro. „500 Euro“ steht nirgendwo im Gesetz. Sie würden mit dem, was Sie in Ihrem Antrag fordern, genau denselben Fehler machen, den das
Bundesverfassungsgericht moniert hat: dass die Sätze
pauschal, ohne detaillierte Berechnung festgelegt wurden.
({0})
Lieber Kollege Ernst, es ist nicht schlimm, wenn man
Fehler macht; aber wenn man Fehler, die man als solche
erkannt hat, wiederholt, dann ist das bedenklich. Herr
Ernst, Sie kommen aus Schweinfurt; das ist nicht weit
weg von Würzburg. Wir können uns gerne einmal unterhalten; vielleicht kann ich Ihr Wissen in dieser Richtung
dann etwas mehren.
Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung,
dass Hartz IV von der falschen Voraussetzung ausgehe,
dass die Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollten,
stimmt nicht. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wurde dargestellt - ich darf mit geneigter Erlaubnis des Präsidenten zitieren -:
Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1
GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Erwerbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfebedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenen
Existenz zu verhelfen. Ein Pauschbetrag fördere
die Eigenverantwortung bei der Verwendung der
Sozialleistung.
Das heißt, in seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht etwas von Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben,
nicht aber davon, zu alimentieren und ein bedingungsloses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverantwortung zu fordern. Es ist doch völlig richtig: Hartz IV
zeichnet sich aus durch Fordern und Fördern. Genau dies
steht in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
({1})
Frau Kollegin Kramme, Sie sind heute erst nach etlichen Minuten zu Ihrem Lieblingsthema Mindestlohn gelangt. Dazu hat der Kollege Kolb schon Richtungsweisendes gesagt; ich möchte es nicht noch einmal
wiederholen. Auch bei einem Mindestlohn - egal ob
7,50 Euro, 8,50 Euro oder, das ist die aktuelle Höhe, die
die Linkspartei fordert, 10 Euro - wird eine teilzeitbeschäftigte Frau von ihrem Erwerbseinkommen nicht leben können; das gilt auch für eine Familie mit mehreren
Kindern. Man muss eins und eins zusammenzählen; die
Grundrechenarten sind mit den Sozialleistungen durchaus vereinbar.
Kollege Kurth, ich kenne Sie als seriösen, ernsthaften
Sozialpolitiker der Grünen. Umso enttäuschter war ich,
dass Sie sich nach dem Motto verhalten haben: Haltet
den Dieb! Hier ist Hartz IV; wir können nichts dafür! ({2})
Sie sind doch gemeinsam mit der SPD die Väter des
Hartz-IV-Gesetzes.
({3})
Wir haben als Pate mitgewirkt. Es bedarf aber keines Vaterschaftstestes, um zu wissen, wer die Autoren des
Hartz-IV-Gesetzes sind.
({4})
Darum wäre es gut, wenn man nicht nur sagen würde:
Dass für Kinder 60 Prozent des Hartz-IV-Satzes eines
Alleinstehenden bzw. Singles vorgesehen sind, ist ein
Skandal. - Lassen Sie uns konstruktiv daran arbeiten,
dass wir richtige und gerechte Kinderbedarfssätze erreichen!
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping?
Natürlich, liebe Kollegin, liebe Frau Ausschussvorsitzende.
Bitte, Frau Kipping.
Lieber Herr Lehrieder, Sie haben meinem Kollegen
Klaus Ernst vorgeworfen, dass er sich für das bedingungslose Grundeinkommen ausgesprochen hat. Ich
als bekennende und glühende Verfechterin der wunderbaren Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens
möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen haben, dass in unserer Partei sehr heftig über diese Idee gestritten wurde,
({0})
dass bisher ein Konsens über eine sanktionsfreie Mindestsicherung erzielt worden ist, dass sich der Kollege
Ernst zu meinem großen Bedauern - das muss ich hinzufügen - aber strikt gegen die Idee eines bedingungslosen
Grundeinkommens ausgesprochen hat.
({1})
Liebe Kollegin Kipping, das ehrt den Kollegen Ernst
sogar einmal.
In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 - ({0})
- Bleiben Sie stehen.
({1})
- Ich bin noch bei der Antwort. So kurz ist meine
Antwort selten, Frau Kollegin Kipping. - In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 - im Übrigen datiert auf den
10. Februar 2010; ich habe gedacht, Sie haben ihn schon
vor dem Urteil geschrieben - schreiben Sie:
Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsicherungsbezug ist auf 500 Euro pro Monat festzulegen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest in
dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskosten steigen.
Das habe ich gegenüber dem bedingungslosen Grundeinkommen eben ein Stück weit nicht sauber genug getrennt; das gebe ich zu. Es spricht für den Kollegen
Ernst, wenn er gegen das bedingungslose Grundeinkommen ist.
Wir diskutieren auch darüber - ich denke an den früheren thüringischen Ministerpräsidenten, Herrn
Althaus -, ob das der richtige Weg ist, ob wir das machen können oder ob das die Entwicklung von Motivation und Antrieb von erwerbsfähigen Personen verhindert. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind für eine
Diskussion hier und im Ausschuss durchaus aufgeschlossen.
Wir werden Hartz IV fortentwickeln. Hartz IV ist ein
lernendes System. - Ich bin mit meiner Antwort auf Ihre
Frage fertig. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich setzen. Das Bundesverfassungsgericht hat im selben Urteil ausgeführt:
Schließlich treffe den Gesetzgeber entsprechend
dem Gedanken eines „lernenden Systems“ eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.
Genau dieser Pflicht lassen Sie uns bitte schön gemeinsam nachkommen.
Wir haben in dieser Woche bereits damit begonnen.
Wir werden versuchen, das Sozialversicherungsstabilisierungsgesetz möglichst zeitnah auf den Weg zu bringen. Außergewöhnliche Sonderbedarfe werden ab sofort berücksichtigt. Sehr viele von der Grundsicherung
betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen schon
zuhauf Anträge, weil sie der Auffassung sind, dass sie
einen Anspruch darauf haben. Wir müssen regeln, was
unter Sonderbedarfe zu verstehen ist und was nicht; eine
Positivliste ist in Vorbereitung. Dies soll im Gesetzgebungsverfahren für das Sozialversicherungsstabilisierungsgesetz in den nächsten Wochen auf den Weg
gebracht werden, um die Forderung des Bundesverfassungsgerichts möglichst zeitnah umzusetzen.
Für die anderen Themen, insbesondere für die Berechnung der Kinderbedarfssätze, biete ich ausdrücklich
konstruktive Gespräche sowohl im Ausschuss als auch
in den Arbeitsgruppen an. Lieber Herr Kurth, das Thema
ist einfach zu ernst, als dass wir uns darüber klamaukartig auf die Köpfe hauen sollten. Wir sollten stattdessen
konstruktiv arbeiten, schauen, wie es weitergeht und was
wir an Hartz IV verbessern können. Wir sollten nicht nur
so handeln wie die Linkspartei, die schreibt: Hartz IV ist
nichts, es ist abzuschaffen.
Meine Damen und Herren, Hartz IV ist fortzuentwickeln; denn es ist durchaus geeignet - das wurde in den
letzten Jahren bewiesen -, Mitbürgerinnen und Mitbürger, die früher nicht vermittelt werden konnten, wieder
in Arbeit zu vermitteln.
Wir wissen nicht, wie lang die Krise noch dauert.
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schaaf?
Ja, bitte.
Bitte.
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben jetzt zum zweiten
Mal in Ihrer Rede gesagt, dass wir die Schärfe aus der
Debatte nehmen sollten. Ich gebe Ihnen ausdrücklich
recht, dass man das tun sollte. Man sollte das aber von
Anfang an machen. Der Bundesaußenminister und nicht
die Opposition in diesem Hause hat die Schärfe in die
Debatte hineingebracht. Das wollte ich einmal in aller
Deutlichkeit sagen.
({0})
Ich habe aber eine Frage. Ich kenne und schätze Sie
als engagierten Sozialpolitiker.
({1})
Sie sind stellvertretender Vorsitzender Ihrer örtlichen
CSA, der Arbeitnehmerbewegung innerhalb der Union.
Das ist auch gut so.
Heute Morgen habe ich eine Tickermeldung über die
KAB, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, auf den
Tisch bekommen, die sich mit der Debatte um Hartz IV
beschäftigt. Ich will Sie um Ihre Meinung dazu fragen.
In der Tickermeldung wird die KAB zitiert, noch immer
sei die FDP eine Lobbyistenpartei für Besserverdienende. Herr Westerwelle habe „Stammtischgeplappere“
betrieben. Wörtlich heißt es weiter:
Die KAB sprach von zum Teil unerträglichen Verunglimpfungen in der Diskussion um Bezieher von
Hartz IV. Sie appellierte an die Politik, diese Debatte zu beenden …
Stimmen Sie der KAB zu?
({2})
Lieber Kollege Schaaf, genau wie bei der SPD ist
auch bei der Union die Meinungsfreiheit ein hohes Gut,
das daher völlig zu Recht im Grundgesetz verankert ist.
Ich kenne meine KAB in Würzburg sehr gut und bin regelmäßig mit ihr im Gespräch.
({0})
Ich werde der KAB weder eine Meinung vorschreiben
noch eine Meinung der KAB hier öffentlich kritisieren.
({1})
Ich sage meinen Leuten, dass ich es anders sehe; das ist
okay.
Lassen Sie uns die Diskussion kollegial führen, wie
wir es auch sonst tun. Wenn Verbände den Vizekanzler
öffentlich kritisieren, dann ist das ihr gutes Recht.
({2})
Auch das gehört zur Demokratie. Das hält die Demokratie aus. Das hält auch Guido Westerwelle aus. Da brauchen Sie keine Angst zu haben. Ich brauche ihn nicht in
Schutz zu nehmen. Ich werde eine scharfe Rede des
Bundesaußenministers nicht mit der Heftigkeit abwürgen, wie Sie es versuchen. Lassen Sie ihn das sagen, was
er für richtig hält.
Lassen Sie uns auf der Ebene, auf der wir miteinander
reden, lieber Kollege Schaaf, die Schärfe herausnehmen.
({3})
Dann haben wir für die Betroffenen etwas Gutes getan.
In diese Richtung soll es weitergehen.
Das Wesentliche dazu ist gesagt. Es folgen noch einige Redner aus unserer Fraktion, die zu dem Thema ergänzend sprechen werden. Lassen Sie uns die nächsten
Wochen und Monate nutzen, liebe Kollegen von der OpPaul Lehrieder
position, etwas Gescheites daraus zu machen, um das etwas aus dem Ruder gelaufene „Kind“ SGB II bzw.
Hartz IV wieder auf die richtige Bahn zu bringen und für
die Betroffenen richtungsweisende, korrekte und gute
Entscheidungen für die nächsten Jahre zu treffen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm
von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schön,
dass die Regierungsbank heute nicht wieder gähnend
leer ist wie in der letzten Sitzungswoche bei diesem so
wichtigen Thema. Herr Minister Westerwelle hat die
Debatte um die Grundsicherung der Menschen in
Deutschland lieber außerhalb des Plenums geführt.
Deutschland hat keinen Vizekanzler verdient, der arbeitslosen Menschen spätrömische Dekadenz unterstellt.
({0})
Viele der langzeitarbeitslosen Menschen finden trotz
großer Anstrengungen keine Arbeit. Es sind vor allem
die 650 000 alleinerziehenden Frauen, die schlechte Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Betreuungsangebote für Kinder fehlen, und oft sind die Jobs nicht so
ausgerichtet, dass Beruf und Kinder miteinander vereinbar sind.
Die FDP will sich jetzt für eine Balance des Sozialstaates einsetzen, wie Fraktionschefin Birgit
Homburger erklärt hat. Diese Balance ist bei der FDP
mächtig ins Rutschen geraten. Warum müsste FDP-Chef
Westerwelle sonst so lautstark Hartz-IV-Empfänger zur
Schnee- und Eisbeseitigung anfordern?
({1})
So viele Hartz-IV-Empfänger gibt es in Deutschland gar
nicht, um die soziale Schieflage der FDP geradezuschippen.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregierung verdonnert, sehr schnell, nämlich bis zum 31. Dezember dieses Jahres, verfassungsfeste Regelsätze für
die Grundsicherung auf die Beine zu stellen. Darum geht
es heute, Herr Kolb. Außergewöhnliche Sonderbedarfe sollen langzeitarbeitslose Menschen und deren
Kinder sofort erhalten, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Was macht die Bundesregierung? Sie verfasst
mit den Agenturen ganz schnell eine Liste mit genehmigungsfähigen Sonderbedarfen für die Argen.
({3})
Leider ist diese Liste mit gerade mal vier Punkten ziemlich kurz geraten. Sie wird weder den Bedürfnissen der
betroffenen Menschen noch dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gerecht. Ein sinnvolles parlamentarisches Verfahren dazu gibt es nicht. Minister Rösler will
die verschreibungsfreien Arzneimittel jetzt wieder von
der Härtefallliste streichen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
FDP, es ist ein Skandal, dass Sie eine Selbstbefassung
mit diesem so wichtigen Thema gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales abgelehnt haben.
({4})
Es kann doch nicht sein, dass ausschließlich vom Ministerium definiert und festgelegt wird, was ein Härtefall ist
und was nicht. Warum, Frau Ministerin von der Leyen,
ziehen Sie nicht wenigstens den Sachverstand von Experten aus Wissenschaft sowie Sozial- und Wohlfahrtsverbänden heran? Diese können Ihnen genau sagen, was
alles auf die Härtefallliste gehört.
Externen Sachverstand sollten Sie sich auch bei der
Überarbeitung der Regelsätze einholen. Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen fordern hierfür die Einsetzung einer Kommission.
Wir unterstützen das und haben diese Forderung auch in
unseren Antrag aufgenommen, den wir in der nächsten
Sitzungswoche vorlegen werden.
({5})
Leider werden viele wichtige Aspekte der Grundsicherung im Antrag der Grünen gänzlich ausgeblendet.
Wenn man über Regelsätze spricht, muss man immer
auch Strategien zur Vermeidung von Armut diskutieren.
Dazu gehören gute Arbeit, faire Arbeitsbedingungen,
Mindestlohn, Bildung. Leider lesen wir dazu in Ihrem
Antrag nichts.
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken sind da
gründlicher. Sie haben in ihrem Antrag fast nichts ausgelassen, was sie für Bezieherinnen und Bezieher von
Grundsicherung alles verbessern wollen. Genau wie die
Grünen wollen auch sie die Regelsätze unabhängig von
einer grundlegenden Neuberechnung erst einmal kräftig
erhöhen. Ob das aber in Einklang mit dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes zu bringen ist, wage ich zu
bezweifeln; denn gerade das Ins-Blaue-Hinein, das Pimal-Daumen-Prinzip ist es doch, was von den obersten
Richtern bemängelt wurde.
({6})
Natürlich müssen die Regelsätze angehoben werden, besonders die für Kinder, aber auf verfassungsfester
Grundlage.
({7})
Auch die Grundsicherung für Asylbewerberinnen
und Asylbewerber muss reformiert werden, und zwar
dringend. Diese Menschen erhalten weniger als zwei
Drittel des Sozialhilfeniveaus. Seit 1993, also seit
17 Jahren, wurden die Leistungen nicht angehoben.
Selbst eine geringe Anhebung, die die rot-grüne Bundesregierung 2001 umsetzen wollte, ist am Widerstand der
schwarz-gelb regierten Bundesländer gescheitert. Im
Zuge der Reform der Regelsatzbemessung muss auch
das Asylbewerberleistungsgesetz angepackt werden. Ich
hoffe, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im
Rücken kommen wir auch hier endlich ein Stück voran.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Guido
Westerwelle.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Ich möchte mit ein paar kurzen Bemerkungen etwas zur
Debatte beitragen, da ich mehrfach angesprochen worden bin.
Erstens. Als das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, habe ich mitnichten das Bundesverfassungsgericht und seine Entscheidung und vor allen Dingen auch
nicht diejenigen kritisiert, die ein schweres Schicksal haben.
({1})
Was ich kritisiert habe, sind die Debattenbeiträge, die am
Tag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erfolgt sind.
({2})
Die Tinte unter der Urteilsverkündung war noch nicht
getrocknet, da haben Sie aus den Oppositionsfraktionen
erklärt,
({3})
jetzt habe sich das Thema der Entlastung der Bezieher
kleinerer und mittlerer Einkommen erledigt.
({4})
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass das aus unserer Sicht ein Fehler ist, weil man alles, was man verteilen möchte, erst einmal erwirtschaften muss. Dabei
bleibe ich auch.
({5})
Ich bleibe auch dabei: Wenn man nach einem solchen
Urteil nur noch über die Verteilungsgerechtigkeit spricht
und nicht mehr über die Leistungsgerechtigkeit, dann
macht man einen Fehler in der Debatte.
({6})
Leistung muss sich lohnen, und wer arbeitet, muss mehr
als derjenige haben, der nicht arbeitet. Das werde ich
heute sagen und auch morgen noch.
({7})
Zweitens. Auf die Frage, was praktisch in der Politik
folgt, antworte ich:
({8})
Wir haben in der Koalition längst etwas vereinbart, was
in der alten Koalition aufgrund des anhaltenden Widerstands der Sozialdemokratie nicht möglich gewesen ist,
nämlich dass beispielsweise die Hinzuverdienstmöglichkeiten ausgebaut werden, damit es Brücken zurück
in die Arbeitswelt geben kann.
({9})
Wir haben im Sinne der Leistungsgerechtigkeit in dieser
Koalition auch vereinbart und auf den Weg gebracht,
dass das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, das
von Ihnen auf 250 Euro pro Lebensjahr festgesetzt worden ist, verdreifacht wird,
({10})
weil wir der Überzeugung sind, dass zur Leistungsgerechtigkeit auch zählt, dass derjenige, der ein Leben lang
vorgesorgt hat und dann einen Schicksalsschlag erleidet,
nicht alles abgeben muss.
({11})
So viel soziale Sensibilität haben Sie in den gesamten elf
Jahren nicht gezeigt wie wir in den ersten Monaten unserer neuen Regierung.
({12})
Drittens. Die Arbeitsministerin Frau von der Leyen
hat die volle Unterstützung der Koalition;
({13})
denn genau das, was ich hier gesagt habe, steht auch im
Koalitionsvertrag. Wir fordern Sie auf, der Erhöhung des
Schonvermögens zuzustimmen; denn eines wollen wir,
um der geschichtlichen Wahrheit die Ehre zu geben, unterstreichen: Diese Gesetze wurden von der SPD und
den Grünen verabschiedet. Sie haben verfassungswidDr. Guido Westerwelle
rige Gesetze beschlossen. Wir haben heute mit den Problemen fertigzuwerden, die Sie uns hinterlassen haben.
({14})
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ernst?
Bitte sehr, Herr Kollege.
Bitte schön, Herr Ernst.
Herr Kollege Ernst.
- Ihren Gedanken, dass sich Leistung lohnen muss,
teilen wir vollkommen. Sind Sie der Auffassung, dass
sich die Leistung einer Floristin in Sachsen-Anhalt, die
für eine Vollzeitbeschäftigung 4,50 Euro in der Stunde
bekommt und von diesem Lohn leben soll, lohnt? Sind
Sie der Auffassung, dass sich die Leistung der Menschen, die zum Beispiel im Kraftfahrzeughandwerk in
Schleswig-Holstein arbeiten, wo in der untersten Lohngruppe um die 7 Euro verdient werden, lohnt? Sind Sie
mit mir der Auffassung, dass wir, wenn sich die Leistung
der Menschen lohnen soll, durch einen gesetzlichen
Mindestlohn Vorsorge dafür treffen müssen, dass sich
die Leistung nicht mehr nur für die Couponschneider
lohnt, sondern auch für diejenigen, die richtige Arbeit
leisten?
({0})
Wenn Sie, Herr Kollege Ernst, das, was ich zu diesem
Thema gesagt und geschrieben habe, in vollem Umfange
wahrgenommen hätten, und nicht nur das gehört hätten,
was Sie hören wollten, um daraus einen parteipolitischen
Vorteil zu ziehen, dann hätten Sie drei Punkte meinen
Veröffentlichungen entnehmen können.
({0})
Erstens. Die OECD hat uns gerade vor wenigen Tagen bescheinigt, dass sich in Deutschland die Aufnahme
von Arbeit oft genug deshalb nicht lohnt, weil der
Steuer- und Abgabenstaat zu früh und zu kräftig zulangt.
({1})
- Herr Kollege, Sie haben mir eine Frage gestellt. Bevor
Sie eine Attacke bekommen und umfallen,
({2})
hören Sie doch einen Augenblick zu! - Wir in der Koalition haben deshalb vereinbart, dass die Familien gleich
am Anfang entlastet werden. Wir haben die Kinderfreibeträge erhöht, und wir haben das Kindergeld erhöht.
Das ist ein wichtiger Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit,
von dieser Koalition beschlossen.
({3})
Zweitens. Was die Frage der Mindestlöhne angeht:
Herr Kollege, die Koalition hat bereits im Dezember
vereinbart, dass branchenspezifische Mindestlöhne,
wenn sie einvernehmlich im Tarifausschuss beantragt
werden,
({4})
selbstverständlich genehmigt und eingeführt werden
können. Wogegen wir uns wehren, ist, dass wir für die
gesamte Republik einen einheitlichen Mindestlohn festsetzen, unter Verkennung der völlig unterschiedlichen
Lebensverhältnisse. Es geht nicht um die Frage, ob es in
bestimmten Branchen einen Mindestlohn geben kann;
das haben wir längst in der Koalition vereinbart. Es geht
um Folgendes: Es ist ein Fehler, die Arbeitslosigkeit, gerade die Jugendarbeitslosigkeit, hochzutreiben,
({5})
indem man für ganz Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn festsetzt. Eine Steuer- und Abgabensenkung ist aus unserer Sicht der richtige Weg.
({6})
Schließlich geht es natürlich um die Frage, was daraus für die Steuerpolitik folgt.
({7})
Es geht um den Mittelstandsbauch. Aus unserer Sicht ist
es absolut notwendig, dass wir die Aufnahme von Arbeit
erleichtern, indem vor allen Dingen die Bezieher kleiner
und mittlerer Einkommen bei Steuern und Abgaben entlastet werden.
({8})
Wer das vergisst, der sorgt dafür, dass in Deutschland die
Leistungsungerechtigkeit wächst. Wenn sich Leistungs2056
ungerechtigkeit in Deutschland breitmacht, dann werden
wir das Fundament unseres Sozialstaates verlieren. Wer
Leistungsgerechtigkeit vergisst, wird als Erstes die soziale Gerechtigkeit verlieren.
({9})
Frau Kollegin Kramme und andere, Sie haben hier bemerkenswerte Beispiele erwähnt. Von Folter und Hexenjagd war die Rede. Ich lese, das sei ein Ausflug in eine
rechte Politik. Ich möchte Ihnen als ein Liberaler
({10})
in aller Offenheit und mit aller Klarheit zurückgeben:
Wenn man in Deutschland Leistungsgerechtigkeit als
rechtsradikal ansieht, dann zeigt das nur, welch linkes
Gedankengut man mittlerweile im Kopf hat.
({11})
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine weitere
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Fritz Kuhn?
Bitte sehr.
Herr Kuhn, bitte schön.
Herr Westerwelle, ich möchte auf den Punkt „Arbeit
soll sich lohnen“ und darauf, ob Arbeitslose Arbeit aufnehmen wollen oder nicht, zurückkommen. In Ihrer
Rede haben Sie zweimal, auch im Zusammenhang mit
dem sogenannten Mittelstandsbauch, gesagt: Steuern
und Abgaben müssen gesenkt werden, damit dies leichter fällt.
Meine Frage an Sie ist: Ist Ihnen eigentlich klar, dass
im Niedriglohnbereich, in dem Millionen von Leuten
bereits arbeiten oder Arbeit aufnehmen könnten, die
Senkung der Steuern überhaupt keine Rolle spielt?
({0})
Ein Ehepaar, das 1 800 Euro brutto verdient, zahlt keine
Steuern, sondern Sozialabgaben.
({1})
- So etwas kann man doch ruhig klären. Die FDP sollte
vielleicht einmal etwas für ihre Gemütsverfassung tun.
Meine Frage lautet, Herr Westerwelle: Wäre es nicht
klüger - wenn es Ihnen ein ernstes Ansinnen ist -, uns
daranzumachen, im Niedriglohnbereich die Lohnzusatzkosten, also die Abgaben, zu senken, weil eine Steuersenkung diese Leute gar nicht erreichen kann? Wer zielgenau helfen will, müsste doch ein Progressivmodell in
der Form einführen, dass die Sozialabgaben im unteren
Einkommensbereich niedriger sind und erst ab einer bestimmten Größenordnung, vielleicht bei einem Einkommen von 2 000 Euro, die 40 Prozent erreichen, die wir
heute haben.
({2})
Ich glaube, Herr Kollege, dass Sie einen wichtigen
Punkt ansprechen. Deswegen habe ich hier übrigens immer von der Senkung der Steuern und der Abgaben gesprochen.
({0})
Beides ist Teil unserer Koalitionsvereinbarung. Beides
wollen wir als christlich-liberale Koalition durchsetzen.
Aber leider ist es nicht so, dass das Thema Steuern nicht
mehr zu besprechen wäre. Wir haben beispielsweise bei
den Kinderfreibeträgen etwas geschafft, was aus unserer
Sicht gerade für diejenigen wichtig ist, die Familien gegründet haben und dies oft genug als Armutsrisiko erleben mussten.
({1})
- Warten Sie doch bitte einen Augenblick! - Es ist aus
unserer Sicht nicht akzeptabel, dass nach unserem deutschen Steuerrecht für Kinder ein niedrigerer Freibetrag
als für Erwachsene gilt. Wir wollen, dass Kinder endlich
gleich und fair behandelt werden, dass sie wie Erwachsene behandelt werden. Das ist ein wichtiger Punkt.
({2})
Sie haben recht bezüglich der Abgaben. Eine Änderung ist Teil der Koalitionsvereinbarung und selbstverständlich auch unseres Regierungsprogramms. In diesem
Punkt stimmen wir sogar ausdrücklich überein. Was die
Analyse dessen, was zu tun ist, angeht, werden wir noch
reden müssen.
Herr Kollege Kuhn, Sie haben in dieser Debatte als
ein wichtiger Vertreter der Grünen gesprochen. Erlauben
Sie mir daher folgende Bemerkung: Was mir nicht gefällt - auch Sie haben diese Debatte beantragt -,
({3})
ist, wie schnell Sie vergessen haben, was Sie damals in
einer Sozialstaatsdebatte selbst gesagt haben. Ich zitiere
einmal, was Frau Künast am 21. August 2004 gesagt hat,
als die Gesetze beschlossen worden sind, die jetzt in
Karlsruhe kassiert wurden: Mit 1- oder 2-Euro-Jobs
könnten Arbeitslose Grünflächen pflegen oder ältere
Menschen betreuen.
({4})
Das sagte Renate Künast. Was nehmen Sie sich heraus,
dass Sie mir meine Kritik vorwerfen, liebe Frau Kollegin?
({5})
Zum Schluss möchte ich auf folgenden Punkt eingehen: Ich hoffe, dass wir diese Debatte erweitern, und
zwar um den wichtigsten Punkt der Sozialpolitik überhaupt, um die Bildungspolitik. Die damit verbundene
Entwicklung muss als soziale Herausforderung ernst genommen werden. Hier in Berlin - da regieren SPD und
Linkspartei - ist man wieder so weit, dass Gymnasiumsplätze nicht mehr nach Begabung vergeben, sondern im
Mangelfalle sogar verlost werden - „Lotterieglück für
Aufstiegschancen“. Wir haben uns da etwas anderes vorgestellt.
({6})
Deswegen muss diese Debatte geführt werden.
Endlich ist das erreicht worden, was erreicht werden
sollte. In den Mittelpunkt unserer Politik gehören nicht
einige Millionäre.
({7})
In den Mittelpunkt unserer Politik gehören vor allen
Dingen der Mittelstand und die Mittelschicht. Sie tragen
das Land; sie ziehen den Karren.
({8})
Das ist es, worauf die Bürger einen Anspruch haben:
dass Leistung sich lohnt. Diese Bürger erwirtschaften
nämlich, was Sie verteilen wollen, und deren Last darf
nicht immer schwerer gemacht werden.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Elke Ferner von der SPD-Fraktion.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben Ihren Redebeitrag damit begonnen, darauf hinzuweisen, dass es Sie gestört hat, dass diejenigen, die in der letzten Sitzungswoche hier gesprochen haben - sie waren teilweise bei der
Urteilsverkündung in Karlsruhe dabei -, sich auch die
Frage gestellt haben, wie dieses Urteil umgesetzt wird,
wenn sich die in Art. 1 Grundgesetz verankerte Maxime
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in den Regelsätzen, in einer Grundsicherung widerspiegeln soll.
Das geht nach Einschätzung aller, auch der Sozialverbände, nicht, indem das finanzielle Volumen gleich
bleibt. Das Ganze wird teurer werden, es sei denn, man
rechnet sich die Welt wieder schön.
Ihre größte Sorge, Herr Westerwelle, ist, dass das
Geld, das für Ihre Steuerreform ohnehin nicht zur Verfügung steht - über 20 Milliarden Euro -, dann erst recht
nicht mehr da ist. Allein das zeigt schon, wes Geistes
Kind Sie sind. Sie machen eben doch Politik für die
Oberen, für die Gut- und für die Bestverdienenden, und
nicht für die Menschen, die in der Existenzsicherung
hängen, die gerne arbeiten würden, aber aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können, unter anderem deshalb, weil die Wirtschaft nicht genug Arbeitsplätze zur
Verfügung stellt.
({0})
Sie haben eben den Kinderfreibetrag hervorgehoben. Der Kinderfreibetrag wirkt erst ab einem Einkommen von über 60 000 Euro. So hoch ist aber noch nicht
einmal das Durchschnittseinkommen in dieser Republik.
({1})
Alle, die weniger verdienen, bekommen für ihre Kinder
weniger Geld vom Staat. Es ist nicht die Frage, ob ich
für Kinder den gleichen Freibetrag habe wie für Erwachsene, sondern es ist die Frage, ob dem Staat jedes Kind
gleich viel wert ist, und zwar unabhängig davon, welches Einkommen seine Eltern haben.
({2})
Sie haben zum Schluss Ihrer Rede gesagt, wir müssten mehr in Bildung investieren. Ja, das ist richtig; das
ist völlig richtig. Aber wenn Sie mehr in Bildung investieren wollen, dann dürfen Sie den Ländern und den
Kommunen nicht die finanziellen Mittel dafür mit einer
Steuerreform, mit Geschenken an Hotelketten und anderen Dingen entziehen. So ist mehr Bildung nicht finanzierbar.
({3})
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen:
Leistung muss sich lohnen. Wer wollte dem widersprechen? Aber das, was Sie als FDP, und das, was Sie als
schwarz-gelbe Koalition vorhaben, nämlich die Ausweitung des Kombilohns ohne gleichzeitige Einführung eines Mindestlohns, ist staatlich subventionierte Lohndrückerei.
({4})
Sie bringen die Betriebe in Wettbewerbsschwierigkeiten,
in denen die Tarifpartner gute, auskömmliche Einkommen für die Beschäftigten ausgehandelt haben, also in
denen die Beschäftigten gute Arbeit leisten und dafür gut
bezahlt werden. Je mehr Sie die Löhne staatlich subventionieren, umso stärker wird sich die Lohnspirale nach
unten drehen. Das hat nichts mit Leistungsgerechtigkeit
zu tun; das hat etwas damit zu tun, dass Sie Dumpinglöhnen das Wort reden und nicht wollen, dass die
Leistung der Menschen auch adäquat bezahlt wird.
Frau Kollegin Ferner, bitte.
Wir brauchen ein Lohnanstandsgebot, das sich an einem menschenwürdigen Existenzminimum bemisst.
({0})
Auf diese Weise haben diejenigen - das ist nur recht und
billig -, die arbeiten, mehr Geld durch ihre Arbeit als
diejenigen, die von Grundsicherung leben.
Frau Kollegin Ferner, Ihre Redezeit ist weit überzogen.
Darum geht es, und nicht um Sozialabbau, wie Sie ihn
wollen.
({0})
Kollege Westerwelle zur Erwiderung.
Frau Kollegin Ferner,
({0})
Sie haben ja in Ihrem Beitrag durchaus wichtige Punkte
angesprochen. Ich habe vorab erst einmal eine Sache
hinzuzufügen: Sie kritisieren Zustände - Spitzensteuersatz, Kombilohn -, die Sie selber in Ihrer Regierungszeit
herbeigeführt haben.
({1})
Ich verstehe das nicht. Ist das nun eine Abrechnung mit
der Politik Ihrer Partei, oder was haben Sie hier gerade
veranstaltet?
Auf einen weiteren Punkt muss aufmerksam gemacht
werden: Kindergeld und Freibeträge. Ich habe übrigens, als ich gesprochen habe, beides auch genannt. Sie
haben völlig recht: Der Kinderfreibetrag greift erst ab einem bestimmten Einkommensniveau. Da sind wir uns
völlig einig. Deswegen hat diese Koalition zweierlei getan: Wir haben die Kinderfreibeträge erhöht, und wir haben gleichzeitig das Kindergeld erhöht.
({2})
Damit Sie einmal wissen, wie viel wofür ausgegeben
wird: 4,2 Milliarden Euro für die Erhöhung des Kindergeldes, 400 Millionen Euro für die Erhöhung der Freibeträge. Sie sehen, wie sozial ausgewogen das ist, was
diese Koalition beschlossen hat.
({3})
Schließlich sagten Sie, wir machten eine Steuerpolitik
für einige wenige. Ich glaube, es gibt Bereiche, über die
wir ruhig streiten sollten.
({4})
- Darüber können wir gerne streiten. - Aber über eine
Frage bitte ich Sie doch wirklich einmal einen Augenblick nachzudenken: Kennen Sie wirklich irgendeinen
Reichen in Deutschland, der der Erhöhung des Kindergeldes entgegengefiebert hätte? Wir haben hier eine
Politik für die Bezieher von kleinen und mittleren Einkommen gemacht. Diese müssen in Deutschland gestärkt und unterstützt werden. Das ist der entscheidende
Unterschied.
({5})
Nun zur Frage der Bildungspolitik und des Losglücks: Frau Ferner, ich selbst habe erst eine Realschule
besucht. Ich habe sehr von den Bemühungen der sozialliberalen Koalition, Bildung als Bürgerrecht zu verankern, profitiert; denn die Durchlässigkeit des Bildungssystems ist in den 70er-Jahren hart errungen worden.
({6})
Als jemand, der erst auf einer Realschule war, der
dann auf das Gymnasium wechseln durfte, kann ich Ihnen nur ganz persönlich sagen: Niemand soll sich herausreden, wenn er wie Ihre Partei in Berlin Gymnasialplätze per Losentscheid vergeben will.
({7})
Die Zukunftschancen von jungen Menschen von Lotterieglück abhängig zu machen, das gibt es nirgendwo in
Deutschland,
({8})
nur im rot-rot regierten Berlin. Das ist unerträglich,
meine sehr geehrten Damen und Herren.
({9})
Niemand soll sich herausreden. Diese Katastrophe, diesen Skandal verantworten Sie von Rot-Rot.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
Wortwahl „spätrömische Dekadenz“ war Herr
Westerwelle möglicherweise selbstkritischer, als ihm
selber bewusst ist.
({0})
Denn im späten Rom ging die Dekadenz von den Herrschenden aus. Welche Dekadenz erleben wir heute? Minister wie Westerwelle bekommen für Vorträge bei Banken 7 000 Euro.
({1})
Ministerpräsidenten wie Rüttgers bekommen von Firmen für ein Kurzgespräch, quasi für einen Gesprächsquickie, mehrere Tausend Euro. Kurzum: Führende Politiker in diesem Land werden zu Herren für gewisse
Minuten,
({2})
wobei ihr Minutensatz deutlich über dem Stundensatz
von Edelprostituierten liegt.
({3})
Das ist die Dekadenz, über die wir reden müssen. Wenn
Sie hier über Leistungsgerechtigkeit reden, dann denken Sie daran: 7 000 Euro für einen Kurzvortrag!
Vor kurzem kam ein Mann in mein Wahlkreisbüro,
der halbtags für eine Hilfsorganisation arbeitet. Er ist
viel ehrenamtlich tätig und engagiert sich für die Katastrophenhilfe für Haiti. Dieser Mann geht mit 1 000 Euro
im Monat nach Hause. Für 7 000 Euro muss er sieben
Monate arbeiten. Glaubt hier jemand ernsthaft, dass das
etwas mit Leistung zu tun hätte? Glauben Sie denn ernsthaft, dass ein Vortrag von Westerwelle dieselbe Leistung
ist wie sieben Monate Arbeit für eine Katastrophenhilfe?
({4})
Wer davon überzeugt ist, der möge jetzt bitte vortreten
und das der geneigten Öffentlichkeit kundtun und vertreten.
({5})
Ich glaube, es geht hier nicht um Leistungsgerechtigkeit,
sondern um ein ganz altes Prinzip der Ungerechtigkeit:
Wer hat, dem wird gegeben, wer wenig hat, dem wird
auch noch das wenige genommen.
({6})
Wie ungeheuerlich die Hetze ist, die Sie vonseiten der
FDP losgetreten haben, wird vor folgendem Hintergrund
deutlich: Es gibt die Studie „Deutsche Zustände“ von
Professor Heitmeyer, der die Einstellung zu bestimmten
Menschengruppen untersucht. Er kommt zu einem erschreckenden Ergebnis: Die Ablehnung gegenüber Menschen, die als vermeintlich nutzlos eingestuft werden,
also gegenüber Langzeiterwerbslosen und Obdachlosen,
steigt extrem. Herr Heitmeyer sagt, das habe inzwischen
einen Grad an Menschenfeindlichkeit angenommen. Ich
meine sogar: Was sich hier entwickelt, ist ein neuer Rassismus, ein Nützlichkeitsrassismus. Das Gefährliche
daran ist: Wenn ein solcher Rassismus erst einmal eine
gewisse Intensität erreicht hat, dann sinkt die Hemmschwelle für gewaltsame Übergriffe. Wir beobachten,
dass die Zahl der gewaltsamen Übergriffe brauner Schlägertrupps gegenüber Obdachlosen deutlich zugenommen
hat. Vor diesem Hintergrund müssten sich alle, die nur
einen Funken Verantwortung im Leib haben, diesen Ressentiments entgegenstellen. Wir alle müssen uns als Politiker und Politikerinnen dem Nützlichkeitsrassismus
entgegenstellen. Doch was passiert? Sie schüren munter
weiter und spielen mit dem Feuer. Das ist hochgefährlich.
({7})
Nun gibt es immer wieder Einwände gegen die Forderungen der Linken. Ein Einwand lautet, dass der von uns
geforderte Regelsatz in Höhe von 500 Euro nicht durch
ein Bundesverfassungsgerichtsurteil gedeckt sei. Ich
weise in diesem Zusammenhang darauf hin: Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gesagt, der Gesetzgeber muss nachweisen, dass das menschenwürdige Existenzminimum nicht unterschritten ist. Es hat nicht das
Überschreiten verboten. Das Bundesverfassungsgericht
sagt ganz klar: Der Gesetzgeber hat einen politischen
Gestaltungsspielraum. - Dieser endet aber dort, wo das
Existenzminimum unterschritten wird. Wir berufen uns
auf Berechnungen, die von vollwertiger Ernährung und
politischer Teilhabe ausgehen.
({8})
Ein weiterer Einwand lautet, Sanktionen müssten unbedingt bestehen und seien für die Arbeitsvermittlung
notwendig. Ich habe mich vor kurzem mit Mittelstandsvertretern unterhalten und dabei den Eindruck gewonnen, dass es gerade aus Sicht kleiner Unternehmen total
kontraproduktiv ist, wenn man bei der Arbeitsvermittlung vor allen Dingen versucht, Erwerbslosen nachzuweisen, dass sie gar nicht arbeitswillig sind, und sie verdonnert, sich überall zu bewerben, unabhängig davon,
ob die Stelle zu dem betreffenden Bewerber passt. Für
eine nachhaltige Vermittlung ist notwendig, dass die Anforderungen der Stelle sowie die Fähigkeiten und die
Vorstellung des Arbeitsuchenden gut zusammenpassen.
Wenn nun aber die Bundesagentur für Arbeit Erwerbslose unter der Androhung von Sanktionen verdonnert,
sich immer wieder zu bewerben, dann bedeutet das gerade für kleine Unternehmen jede Menge Arbeit bei den
Bewerbungen. Das stellt eine zusätzliche Belastung für
sie dar. Deswegen sagen wir: Im Sinne einer nachhaltigen Arbeitsvermittlung gehören die Sanktionen abgeschafft.
({9})
Die tatsächliche Dekadenz, damals wie heute, ist die
Dekadenz der Herrschenden. Doch anstatt diese Probleme zu benennen, schüren Sie Sozialneid zwischen
den Armen und den ganz Armen. Das ist ein übles Ablenkungsmanöver.
Die Linke sagt: Wir wollen etwas komplett anderes.
Auch wir wollen, dass mehr Geld in die Bildung gesteckt wird. Aber was ich sehr eigenartig finde, wenn Sie
hier das Hohelied der Bildung singen, Herr Westerwelle:
In dem Haushalt, den Sie mit zu verantworten haben,
werden gerade einmal 350 Millionen Euro für Bildung
eingestellt. Die Steuerentlastung aber, die Sie vorangetrieben haben, kostet uns ab 2011 jedes Jahr 24 Milliarden Euro. Das sind die wahren Schwerpunktsetzungen,
die Sie vornehmen.
({10})
Wir als Linke hingegen wollen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht. Wir
wollen, dass keiner unter das Existenzminimum fällt.
Wir wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung, einen
Mindestlohn von 10 Euro, gute Arbeit und eine Verteilung der vorhandenen Erwerbsarbeit durch Arbeitszeitverkürzung. Kurzum: Wir wollen ein Bündnis für sozialen Fortschritt.
Besten Dank.
({11})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Zimmer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in
Deutschland eine Debatte, die manchmal seltsame Züge
annimmt. Gestern haben wir im Bundestag bereits über
einen Aspekt dieser Debatte eine Aktuelle Stunde gehabt, heute setzen wir die Debatte fort. Manchmal habe
ich den Eindruck, die Schärfe der Debatte kommt eher
daher, dass sich einige in diesem Haus ein anderes Urteil
erhofft hätten.
({0})
Darauf hat der FDP-Vorsitzende ja auch richtigerweise
hingewiesen.
Deshalb gilt es als Erstes festzuhalten: Hartz IV ist
nicht verfassungswidrig.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Die
Höhe der Sätze ist nicht evident unzureichend. Aber die
Regelsätze für Kinder müssen neu berechnet werden,
und das werden wir tun.
Das Urteil ist in erster Linie eine Niederlage für die
SPD. Weder der damalige Arbeitsminister Müntefering
noch Olaf Scholz haben auf Bedenken bezüglich der
Ausgestaltung der Regelsätze reagiert. Psychologisch
gesehen kann ich das verstehen. Sie wollten die Büchse
der Pandora nicht öffnen; denn diese Reform Ihren eigenen Leuten zu verkaufen, war schwierig genug. Jede
kleine Änderung hätte sofort an die Grundbefindlichkeit
der SPD gerührt. Dann - das war Ihre Haltung - lassen
wir uns lieber von Karlsruhe sagen, was zu tun ist. Das,
meine Damen und Herren, spricht nicht für den Willen
zu politischer Gestaltung, sondern eher für die Suche
nach einem Notausgang für Helden. Das Gericht soll die
Hausaufgaben machen, die Sie haben liegenlassen. Ein
wenig Autoritätsgläubigkeit spielt da auch mit. Karlsruhe locuta, causa finita.
({2})
Zu den Grünen fällt mir wenig ein. Sie standen mit an
der Wiege von Hartz IV und tun heute so, als ob Sie das
damals gar nicht so gemeint hätten. Dann werden Nebenkriegsschauplätze eröffnet: Kritik an der Kanzlerin,
am FDP-Vorsitzenden, alles seltsam unsubstanziiert,
aber mit bemerkenswerter Verve vorgetragen. Lieber
Herr Kurth, Sie haben mit ebensolcher Verve die Würde
des Menschen ins Feld geführt. Ich frage mich: Haben
Sie 2004 vergessen, das anzumerken,
({3})
oder haben Sie es lediglich aus Angst vor dem BastaKanzler unterlassen?
({4})
Nun zu den Linken. Gestern im Ausschuss haben Sie
erklärt, Sie lehnen Sanktionsregime für nicht Arbeitswillige ab. Für mich ist das nichts anderes als die permanente Kapitulation vor dem inneren Schweinehund anderer, eine Extremposition, wie sie für die Linken ja nicht
untypisch ist. Ich will nur an eine andere Extremposition
erinnern, die Ihre Vorgänger als Gesetz gefasst haben,
nämlich den alten § 249 des Strafgesetzbuches der DDR.
Dort ging es um asoziales Verhalten. Danach wurde derjenige, der „das gesellschaftliche Zusammenleben der
Bürger oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten
Arbeit entzieht“, mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei
Jahren belegt,
({5})
im Wiederholungsfall drohten bis zu fünf Jahre.
({6})
Dies ist ebenso eine Extremposition und ebenso falsch.
Wir haben funktionierende Sanktionsregimes; sie müssen nur angewendet werden. Aber wir wollen die Menschen nicht kriminalisieren.
Den Kolleginnen und Kollegen von der Linken will
ich ein anderes Wort ins Stammbuch schreiben, dass
nämlich nur das verbraucht werden kann, was auch erarbeitet wird. So weit war jedenfalls die SED bereits in
den 70er-Jahren, als man die Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik propagiert hat. Diese Einheit hat sich
allerdings nur in einem verwirklicht, nämlich darin, dass
Ihre Ahnen sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozialpolitik gegen die Wand gefahren haben. Die 40-jährige
Wanderschaft in der Wüste des Sozialismus hat Folgekosten hinterlassen, die wir noch heute bezahlen. Damit
scheiden Sie von den Linken aus meiner Sicht als Ratgeber für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen aus.
({7})
Für mich ist eines klar: Wenn sich die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik jemals verwirklicht hat, dann
in unserer Idee der sozialen Marktwirtschaft.
Nun will die Linke den Regelsatz auf 500 Euro erhöhen. Begründung: Fehlanzeige. Zudem wollen Sie Ihren
ausgabenintensiven Amoklauf auch an anderer Stelle
fortsetzen, mit 2 Millionen Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst mit 50 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich,
und mit jeweils 25 Milliarden Euro in den nächsten vier
Jahren soll das produzierende Gewerbe auf innovative
Verfahren und Produkte umgestellt werden.
Ihre Idee, Produktionsverfahren und Produkte umzustellen, kann ich in diesem Zusammenhang nur als Drohung auffassen. Die Bundesrepublik ist bereits in vielen
Feldern Technologieführer. Mir fällt dazu der alte Slogan der SED ein: „Überholen ohne einzuholen“. Eingeholt hat Sie 1989 Ihre Unfähigkeit, Ausgaben auf verfügbare Mittel zu beziehen, und überholt sind Ihre Art
des planwirtschaftlichen Denkens und Ihre Annahme,
das Geld wachse auf Bäumen und müsse nur ausgegeben
werden. Damals wie heute fehlen Ihnen Maß und Mitte.
({8})
Die Debatte, die wir um Hartz IV führen, ist aus meiner Sicht in großen Teilen eine Debatte mit verdeckten
Kontexten. Der SPD geht es darum, befreit von der Regierungsverantwortung wieder Zutritt in das folgenfreie
Paradies der reinen Lehre zu erlangen, wo die sozialdemokratische Welt noch in Ordnung ist. Hier ist der Einfluss des Wünschens auf das Denken besonders stark.
Den Grünen geht es darum, sich aus der Mitverantwortung für das einstmals Beschlossene zu stehlen. Hier
nimmt die Bewältigung der Vergangenheit das Denken
in Beschlag.
Bei der Linken geht es um Systemkritik, um eine
grundsätzliche Ablehnung von Hartz IV, die man mit
völlig überzogenen Vorschlägen ad absurdum führen
will. Eine Alternative ist nicht in Sicht. Darin sind Sie
übrigens Ihrem Stammvater Marx gleich, der auch nur
kritisieren konnte, aber niemals auch nur einen einzigen
konstruktiven Vorschlag gemacht hat.
({9})
Meine Damen und Herren, die Debatte um Hartz IV
eignet sich meines Erachtens nicht, solche mitschwingenden Befindlichkeiten therapeutisch auszuleben. Dafür ist das Thema dann doch zu ernst. Wir wollen den
Menschen in der Not helfen, und wir werden bei der Berechnung der Sätze jene Transparenz herstellen, die das
Verfassungsgericht angemahnt hat. Das ist unsere Aufgabe als Parlament, und wir von der Union werden uns
dieser Aufgabe stellen.
Vielen Dank.
({10})
Herr Kollege Zimmer, ich gratuliere Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
von der SPD-Fraktion.
({1})
Vielen Dank, Herr Präsident! - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der bisherige Verlauf unserer Debatte hat
doch deutlich gezeigt, dass einige von uns über dieses
Urteil heftig überrascht sind, einige sogar so sehr, dass
sie völlig orientierungslos geworden sind, hier mit irrwitzigen Forderungen antreten, seit zwei Wochen durch
die Lande ziehen und heute durch den Bundesaußenminister auch wieder einen Ausschnitt aus diesem Schauspiel aufführen. Andere haben gleich Lösungen parat,
wieder andere tischen alte Kamellen auf.
Dabei sollten wir es uns nicht so einfachen machen.
Das Urteil hat uns ein Paket von Aufträgen auferlegt.
Auftrag Nummer eins lautet, Rechtsklarheit und Transparenz bei der Berechnung der Regelsätze herzustellen.
Auftrag Nummer zwei besteht darin, einen eigenständigen, bedarfsgerechten Regelsatz für Kinder zu schaffen.
Beim Auftrag Nummer drei geht es darum, eine Härtefallregelung für laufende, unabweisbare atypische Bedarfe zu schaffen, und das ab sofort.
({0})
Auch wenn keine Vorgaben zur Höhe der Regelsätze gemacht worden sind, so bin ich mir sicher, dass es für
viele Familien Verbesserungen geben wird, sowohl
durch den Regelsatz für Kinder als auch durch die Umsetzung der Sonderbedarfe. Ich warne davor - besonders
angesichts dieser Debatte -, Regelungen nach Kassenlage zu treffen.
({1})
In der gestrigen Ausschusssitzung hat uns das ziemlich restriktive Vorgehen bei der Härtefallregelung
überrascht. Da kann das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.
({2})
Ich habe den Verdacht, dass dem Bundesverfassungsgericht das Wort im Munde umgedreht werden soll.
Sehr geehrte Frau Ministerin, sorgen Sie dafür, dass
wir eine offene, transparente Diskussion über die Neuregelungen führen, dass wir nachvollziehbare Entscheidungen bekommen und dass die Jobcenter bundeseinheitliche und möglichst unbürokratische Sachentscheidungen
treffen können. Die Situation in den Jobcentern ist durch
das Vorgehen Ihrer Regierung ohnehin schon sehr angespannt.
Dieses Urteil hat uns aber nicht nur den Auftrag zur
Veränderung der Regelsätze gegeben. Es steht noch viel
mehr dahinter: Uns sollte klar sein, dass uns damit der
Auftrag für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns erteilt wurde.
({3})
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
das steht hinter dieser Regelung,
({4})
denn das ist Realität. Nur ein Narr kann jetzt noch einen
niedrigeren Regelsatz fordern und auch noch ernsthaft
daran glauben. Es ist wohl eher zu erwarten, dass die
Regelleistungen steigen werden. Damit fällt das Lohnabstandsgebot. Um das wiederherzustellen und ein vernünftiges „Lohnanstandsgebot“, so wie es meine Vorrednerin gesagt hat, zu schaffen, brauchen wir den
gesetzlichen Mindestlohn und keine niedrigeren Bedarfssätze.
({5})
- Herr Kolb, das ist meine Antwort auf Ihre Neuinterpretation des Satzes: Arbeit muss sich wieder lohnen.
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehe ich vor
allen Dingen den Auftrag und die Chance, Schwachpunkte im SGB II zu verbessern. Uns liegen heute zwei
Anträge vor, über die wir in den nächsten Wochen reden
werden, die ich sehr unterschiedlich bewerte.
Der Antrag der Grünen greift zweifellos den Auftrag
des Bundesverfassungsgerichts auf. Er enthält gute Ansätze. Ich glaube, dass wir auf dieser Grundlage um Verbesserungen ringen können. Die Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion nutzen das Urteil, um ihre
populistische Forderung „Weg mit Hartz IV“ zu erneuern. Sie präsentieren einen Strauß von Maßnahmen. Um
bei dem Bild „Strauß“ zu bleiben: Es sind ohne Frage ein
paar schöne Blumen dabei, es sind aber auch ein paar
Kunstblumen dabei. Der Antrag liest sich wie ein
Wunschzettel, der den Betroffenen eine heile Welt vorspielt. Finanzpolitisch steht er auf sehr wackligen Beinen, aber das ist nicht neu. So kommen wir nicht weiter.
Meine Fraktion wird in Auswertung des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts einen eigenen umfassenden
Antrag einbringen. Ich bin mir sicher, dass es uns dann
gelingt, eine Versachlichung der Debatte herbeizuführen.
Es geht nicht an, dass sich einige auf Kosten der Schwachen in unserer Gesellschaft profilieren, wie es der amtierende Bundesaußenminister heute wieder getan hat.
Der Ruf nach strengeren Regeln und schärferen Strafen
stigmatisiert die Hilfeempfänger als Arbeitsverweigerer
und Sozialschmarotzer. Ich sage Ihnen: Hören Sie auf,
Menschen in unserer Gesellschaft so gegeneinander auszuspielen! Die Mehrheit der Hilfeempfänger möchte arbeiten, und zwar zu anständigen Löhnen und zu guten
Arbeitsbedingungen. Darauf sollten wir den Fokus richten.
({6})
Das Bundesverfassungsgericht hat uns die Möglichkeit gegeben, unser System der sozialen Grundsicherung
zu überprüfen und zu verbessern. Ausgangspunkt kann
dabei nur der Hilfebedürftige und sein Anspruch auf
Sicherung des Existenzminimums, auf ein menschenwürdiges Leben und auf gesellschaftliche Teilhabe sein.
Dazu gehören alle Angebote und jegliche Unterstützung
zur Überwindung und Vermeidung von Hilfebedürftigkeit.
Das gilt umso mehr für die Kinder. Ein eigenständiger
Regelsatz ist ein guter Lösungsansatz, aber es gehört
noch viel mehr dazu: eine moderne Familien- und Bildungspolitik, um allen Kindern gute Bildungschancen zu
geben. Kinderarmut ist vermeidbar. Packen wir es an.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Krüger-Leißner, Sie haben eine angebliche Verwirrung in der Debatte, die der Vizekanzler angestoßen hat,
angesprochen. Ich glaube, die Verwirrung lag eher bei
Ihnen.
Ich will allen den Ausgangspunkt der Debatte noch
einmal zu Gemüte führen: Vorletzte Woche, am
9. Februar 2010 um 10.06 Uhr, ergriff Herr Papier in
Karlsruhe das Wort und begann mit der Verkündung des
Urteils. Um 10.49 Uhr, gerade einmal eine gute halbe
Stunde später, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Person von Herrn Oppermann
schon erklärt, erstens sei es völlig klar, es müsse jetzt
mehr Geld geben, und zweitens sei die Steuerentlastung
für kleine und mittlere Einkommen obsolet. Ich glaube,
es ist zynisch, wenn Sie erst ein Willkürregime bei den
Hartz-IV-Regelsätzen, gerade für Kinder, einführen, Ihnen das vom Gericht in der Luft zerrissen wird und Sie
das dann auch noch als Legitimation für Ihr eigenes Parteiprogramm nutzen.
({0})
Johannes Vogel ({1})
Diese Reflexe hat der Vizekanzler kritisiert, und das ist
völlig richtig. Etwas für die Schwächsten zu tun, ihnen
aus der Hilfsbedürftigkeit herauszuhelfen und gleichzeitig kleine und mittlere Einkommen in unserem Land zu
entlasten, das ist kein Widerspruch, sondern das sind
zwei Seiten derselben Medaille.
({2})
Werfen wir jetzt doch einmal einen ganz kurzen Blick
darauf, was wir als neue Regierung im Bereich des
Sozialstaates genau vorhaben. Wir wollen ihn an drei
Punkten fairer machen:
Erstens brauchen wir Regelsätze, die nicht willkürlich
berechnet sind, sondern anhand des realen Bedarfs. Ich
kann nur erkennen, dass das Urteil anscheinend noch
nicht vollständig verstanden wurde, da jetzt wieder politisch gesetzte Zahlen in die Debatte eingebracht werden
- 420 Euro, 500 Euro -, anstatt die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe abzuwarten, dann in Ruhe Wertentscheidungen zu treffen und abzuleiten, wie viel Geld
wir für die Regelsätze brauchen.
Zweitens wollen wir die Betreuung vor Ort verbessern.
({3})
Wenn man ehrlich ist und in die Details geht, dann stellt
man fest, dass das das Problem ist. Sie wissen so gut wie
ich, dass es vor Ort Licht und Schatten gibt, sowohl bei
der Förderung als auch bei der Verhängung von manchmal nötigen Sanktionen.
Drittens wollen wir vor allem die Anreize verbessern
- die OECD ist schon angesprochen worden -, dass man
aus der Hilfsbedürftigkeit wieder in Beschäftigung
kommt. Das ist doch das Problem.
({4})
Wir können nicht immer nur darüber reden, was mit denen ist, die Hilfe brauchen. Da müssen wir solidarisch
sein. Aber wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie sie da wieder herauskommen. Da hat die
OECD der Bundesrepublik Deutschland in der Tat ein
Armutszeugnis ausgestellt, weil es zu wenig positive
Anreize gibt, sich wieder hervorzuarbeiten. Deshalb ist
es richtig, dass wir durch eine Senkung der Steuer- und
Abgabenlast die Lohnnebenkosten in den Blick nehmen wollen. Ein kurzer Gruß an die Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen: Wenn Sie die Abgabenlast
kritisieren, wäre es schön, wenn Sie sich auch an der Debatte beteiligen würden, wie wir die Beiträge zu den Sozialversicherungen niedrig halten können. Zur Gesundheitsreform zum Beispiel, die wir vorhaben, höre ich
keine sachdienlichen Beiträge.
({5})
Außerdem ist es richtig, die Hinzuverdienstmechanismen zu verbessern. Gerade in diesem Bereich, durch den
die Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt kommen wollen, werden den Menschen heute Steine in den
Weg gelegt, anstatt ihnen die Hand zu reichen. Wir müssen die positiven Anreize durch bessere Zuverdienstmechanismen verbessern. Genau das haben wir vor, weil
wir einen Sozialstaat im Blick haben, der die Menschen
aktiviert und sie nicht narkotisiert und ruhigstellt.
Insofern kann ich das, was Sie hier machen, nur als
Geschrei empfinden. Ich hoffe, dass Sie sich konstruktiv
an unseren Vorschlägen zu einem faireren Sozialstaat beteiligen werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte für die Bundesregierung zunächst einmal drei
Dinge klarstellen, die vielleicht eine Selbstverständlichkeit sind. Mir liegt aber daran, sie noch einmal zu betonen.
Die Bundesregierung steht erstens selbstverständlich
für den verlässlichen Sozialstaat, und zwar für einen lebendigen Sozialstaat. Es ist ein Gütesiegel der sozialen
Marktwirtschaft, dass wir Menschen nicht aufgeben,
sondern gerade denjenigen, die in eine Notlage gekommen sind, wieder Aufstiegsperspektiven geben. Wir wollen ihnen die Hilfe geben, die notwendig ist, damit sie
ihr Leben eigenständig in die Hand nehmen können. Wir
wollen sie nicht alle über einen Kamm scheren. Das sehen wir ohne jeden Zweifel als unsere Aufgabe. Arbeitslosigkeit hat auch ihre Ursachen: oft kein Arbeitsangebot, oft kein Berufsabschluss, keine Kinderbetreuung,
manchmal auch keine Lust. Das heißt, dass wir in der
konkreten Arbeitsvermittlung konsequenter und zügiger
werden müssen. Das ist die Debatte, die wir in diesem
Hohen Hause führen sollten.
({0})
Zweitens. Genauso wie es Steuerhinterziehung gibt,
gibt es Missbrauch bei Hartz IV. Aber deshalb sind noch
lange nicht alle Steuerzahler unter Generalverdacht, und
deshalb sind selbstverständlich noch lange nicht alle
Langzeitarbeitslosen unter Generalverdacht.
({1})
Es gibt diesen harten Kern; aber ich werde nicht zulassen, dass er unsere Debatte bestimmt. Das wird der großen Zahl der Langzeitarbeitslosen, die aus der Arbeitslosigkeit heraus wollen, nicht gerecht.
({2})
Drittens möchte ich etwas klarstellen. Natürlich müssen wir bei dieser Debatte immer diejenigen im Blick behalten, die arbeiten. Das Arbeitslosengeld II ist eine Gemeinschaftsleistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit;
aber es muss offensichtlich noch einmal erwähnt werden. Wir müssen deshalb das richtige Maß für diejenigen
finden, die mit Arbeitslosengeld II menschenwürdig leben müssen, und für diejenigen, die es erarbeiten und
verdienen müssen.
({3})
Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wir sollten sie
nicht gegeneinander ausspielen, sondern immer im Konsens miteinander darüber diskutieren.
({4})
Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts - es ist Anlass dieser Debatte - eingehen. Es ist meines Erachtens ein weises Urteil.
({5})
Es hat Grundsätze markiert. Es hat auch den politischen
Gestaltungsspielraum vollständig klargestellt. Die Pauschalierung ist bestätigt worden. Das heißt, die Gängelei
der Einzelleistungen ist nicht wieder heraufbeschworen
worden. Es ist richtig, die Regelsätze an den Ausgaben
der unteren 20 Prozent der Einkommen zu bemessen.
Denn das ist die Lebenswirklichkeit der Menschen mit
den kleinen Einkommen.
Entscheidend ist der Gestaltungsspielraum, den uns
das Bundesverfassungsgericht noch einmal deutlich ins
Stammbuch geschrieben hat.
({6})
Es hat dargelegt, dass die Regelsätze menschenwürdige
Lebensverhältnisse garantieren müssen, aber dass die
Leistungen nicht nur Geldleistungen in Euro und Cent
sein müssen. Es geht um die Möglichkeit der Teilhabe,
der sozialen Perspektive und vor allem der sozialen Beziehungen. Da können und da wollen wir neue Wege gehen.
Das beziehe ich insbesondere auf das Thema der bedürftigen Kinder, der Kinder, die von Sozialgeld leben.
Da haben wir jetzt eine große Chance, tatsächlich neue
Wege zu gehen. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen.“ Das ist ein Zitat des Gerichtes. Das sollten wir
hochhalten. Grundvoraussetzung in der Kindheit sind
- das sind Selbstverständlichkeiten, aber man muss sie
noch einmal thematisieren - Zuwendung, frühe Förderung und Perspektiven. Ohne diese Grundlagen haben
Kinder, anders als Erwachsene, keine Chance, ihre Talente, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit so zu entwickeln, wie es ihr Recht ist. Hier müssen wir die Konsequenzen aus dem Urteil ziehen. Hier müssen wir die
Akzente setzen. Hier müssen wir nach vorne denken.
({7})
Ja, ich weiß, dass die Länder für die Schulen zuständig sind - das Gericht hat sehr stark auf die schulpflichtigen Kinder Bezug genommen -, aber es geht darum,
dass bedürftige Kinder, Kinder, die von Sozialgeld leben, überhaupt mithalten können beim Zugang zu Bildung in der Schule. Dafür ist der Bund zuständig. Das
ist ein großes Wort gelassen ausgesprochen, aber wir alle
hier im Parlament sind dafür zuständig. Das ist unsere
gemeinsame Chance. Das Bundesverfassungsgericht hat
dem Parlament hier - das ist neu - eine maßgebliche
Rolle bei der Festlegung und der laufenden Anpassung
der Regelsätze zugeschrieben. Es geht eben nicht nur um
die Geldleistung. Aber wenn der Bund gerade in dieser
angespannten Haushaltssituation Mittel in die Hand
nimmt, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass die eingesetzten Mittel tatsächlich bei der Förderung der bedürftigen Kinder wirksam werden. Hier geht es um die
Sachleistung und die Dienstleistung - von Mensch zu
Mensch. Das ist der Auftrag der Zukunft.
({8})
Wenn ein Kind in der 8. Klasse in Mathematik nicht
mehr mitkommt, kann seine Versetzung nicht davon abhängen, ob seine Eltern das Geld haben, Nachhilfe einzukaufen.
({9})
Diesem Kind muss unabhängig von der Einkommenssituation seiner Eltern geholfen werden. Das ist unsere
Gestaltungschance. Wenn es von Sozialgeld lebt, hat der
Bund die Verpflichtung, für diese Chance zu sorgen und
konkret vor Ort die Dienstleistung von Mensch zu
Mensch sicherzustellen.
Mehr noch: Wenn wir Kinderleben ernst nehmen, gehört auch das Mitmachen in Sport, Musik und sozialen
Beziehungen dazu. Wenn Kinder diese Chance nicht haben, verkümmern sie.
Es gibt Fälle, in denen sich die Freizeit eines Kindes
in der Bahnhofsvorhalle abspielt statt im Schwimmverein oder im Fußballverein. Das darf nicht von einer Gebühr abhängen, die die Eltern nicht aufbringen.
({10})
Auch das Schulessen darf in dieser Diskussion kein Tabu
sein.
({11})
Frau von der Leyen, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte zuerst diesen Gedanken zu Ende führen;
danach gerne. - Ich weiß, dass das im Moment vielleicht
noch unerhört klingt. Es ist in diesem Land aber längst
überfällig. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam diese
Chance ergreifen, meine Damen und Herren.
({0})
Frau von der Leyen, erlauben Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Golze von den Linken?
Ja.
Bitte schön, Frau Golze.
Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie meine Zwischenfrage zulassen, auch wenn Sie mich wahrscheinlich gar nicht sehen können, weil Sie von der Sonne geblendet werden. - Mir geht es ganz konkret um das
Gegeneinanderausspielen von Transferleistungen, nämlich Barleistungen auf der einen Seite sowie Investitionen in Dienstleistungen und Sachleistungen auf der anderen Seite. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zu Recht
darauf hingewiesen, dass wir keine Pauschalverurteilung
bestimmter Gruppen von Menschen vornehmen wollen.
Dieser Aussage schließe ich mich voll an. Warum aber
kann der Regelsatz für Kinder nicht so umfassend ausgelegt werden, dass aus diesem Regelsatz auch Kosten
für den Zugang zu Bildung, für den Zugang zu Sportvereinen und für den Zugang zur Musikschule bestritten
werden können? Warum wird dort in der auch von Ihnen
angeschobenen Gutscheindebatte schon wieder in die
Richtung argumentiert, dass die Eltern oder die Kinder
mit diesem Geld nicht umgehen könnten und dass es
falsch verwendet werden würde? Warum wird hier wieder mit einem solchen Pauschalurteil gearbeitet, statt den
Regelsatz wirklich am Bedarf der Kinder auszurichten,
sodass er dann auch die von Ihnen genannten Leistungen
umfasst?
({0})
Wir spielen nicht die Sach- und Dienstleistung gegen
die Geldleistung aus. Wir möchten aber, dass dann, wenn
wir mehr Geld einsetzen - es wird mehr Geld kosten;
das sage ich an dieser Stelle auch ganz deutlich -,
({0})
dieses Geld auch zielgerichtet in der Förderung der Kinder ankommt. Wir würden doch niemals den Eltern in
Deutschland Geld in die Hand geben und ihnen sagen,
sie sollten sich einmal Lehrer suchen, die dann ihre Kinder unterrichten. Aus gutem Grund ist Schule organisiert. Damit stellen wir sicher, dass die Bildung bei den
Kindern richtig ankommt.
Meine Damen und Herren, deshalb ist es auch wichtig, noch einmal die große Linie der Chance darzustellen, die dieses Land jetzt hat. - Frau Golze, Sie können
sich setzen, weil ich jetzt in meiner Rede weitermache.
({1})
Ich sage deutlich: Wenn wir diese neuen Wege gehen
und der Bund sich seiner Verantwortung für die bedürftigen Kinder stellt, wie ich es eben skizziert habe, müssen
wir allen anderen verantwortlichen Akteuren in diesem
Land aber auch die Frage stellen, was mit den übrigen
Kindern ist. Das ist nämlich die Mitte, meine Damen
und Herren. Die Kinder der Geringverdiener dürfen
wir bei diesen Berechnungen nicht aus dem Blick lassen.
({2})
Hier ist nicht nur der Bund gefordert. An dieser Stelle
sind alle anderen Akteure mit gefordert. Nur wenn wir in
diesem Punkt zusammenarbeiten und alle an einem
Strang ziehen, kann der große Wurf gelingen.
Ich weiß, dass das Geld kostet. Wir müssen uns aber
auch fragen, wo wir Prioritäten setzen. Diese Rechnung
ist nämlich die beste Rechnung, die dieses Land aufmachen kann.
({3})
Es stimmt, dass alles, was verteilt wird, erst erarbeitet
werden muss. Weil das richtig ist, muss die nächste Generation aber ebenfalls eine Chance dazu bekommen.
({4})
Das sind doch diejenigen, die uns alle in diesem Land in
30 Jahren tragen müssen.
({5})
Deshalb, meine Damen und Herren, sollten wir die Situation nutzen, den Kindern heute eine reelle Chance zu
geben.
({6})
Frau Kollegin von der Leyen, möchten Sie noch eine
Zwischenfrage zulassen, diesmal von Frau Enkelmann?
Nein, jetzt möchte ich weiterreden.
Sie wollen keine mehr zulassen? - Gut.
Ich möchte eines deutlich machen - diese Rechnung
ist sehr einfach; man muss sie aber auch umsetzen, und
das ist die Chance dieser Legislatur -: Ein Kind, das das
Schuljahr schafft und sich nicht schämen muss, weil es
schon wieder das Frühstücksbrot schnorren musste, das,
wenn es ein junger Erwachsener ist, den Abschluss, die
Lehre oder den Beruf schafft, ist später ein Erwachsener
weniger, der Jahre oder Jahrzehnte von Sozialleistungen
lebt.
({0})
Das ist ein Erwachsener mehr, der Verantwortung für das
Ganze übernehmen kann. Für die Kinder ist das eine
Frage der Lebenschancen. Aber für unser Land entscheidet sich hier der gesellschaftliche Zusammenhalt. Deshalb bitte ich auch dieses Hohe Haus, in dieser Legislatur die Kraft aufzubringen, die Prioritäten richtig zu
setzen, damit wir diesen großen Schritt nach vorne tatsächlich tun und uns nicht durch Streitigkeiten verstolpern.
Vielen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Dagmar Enkelmann von der Fraktion Die
Linke.
Frau Ministerin, ich hätte gerne eine Nachfrage gestellt, weil bei uns eine Irritation entstanden ist. Sie haben in Ihrer Rede gerade gesagt, dass es notwendig ist,
Kindern gleiche Chancen zu geben, insbesondere dort,
wo ihnen etwas schwerer fällt, zum Beispiel im Unterricht, und auch Nachhilfe zu finanzieren. Die Förderung
von Nachhilfe ist im Katalog der Bundesagentur enthalten, aber nur unter ganz besonderen Bedingungen, nämlich bei langfristiger Erkrankung oder einem Todesfall in
der Familie. In der gestrigen Fragestunde habe ich dazu
eine Frage gestellt, und Staatssekretär Fuchtel hat mir
bestätigt: Das ist nur in besonderen Situationen möglich.
Ich frage Sie: Was wollen wir denn? Wollen wir tatsächlich Chancengleichheit für Kinder? Das würde nämlich bedeuten, dass Nachhilfe in jedem Fall finanziert
werden muss, gerade für Kinder aus Familien, die benachteiligt sind, die zum Beispiel im Hartz-IV-Bezug
sind. Ich fordere Sie auf, hier für eine Klarstellung zu
sorgen. Für uns heißt das, dass Sie ganz deutlich sagen
sollten: Ja, Nachhilfe muss finanziert werden. Sie gehört
zum Sonderbedarf.
({0})
Frau Ministerin, zur Erwiderung. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Das, was Sie gerade angesprochen haben, ist die Härtefallregelung. „Härtefall“ heißt: wiederkehrend außergewöhnlicher Bedarf. In diesem Fall, bei
der Nachhilfe, gilt diese Regelung dann, wenn ein Elternteil verstorben ist oder wenn es schwere Krankheiten
in der Familie gibt.
Die Härtefallregelung, die kurzfristig ausgerichtet ist,
werden wir an das Sozialversicherungsstabilisierungsgesetz anhängen. Das wird schnell und sauber erfolgen,
weil dies im Rahmen der Sozialhilfe bereits geregelt ist
und es dazu eine umfangreiche Rechtsprechung gibt. Die
Härtefallregelung ist, wie gesagt, kurzfristig ausgerichtet.
Worüber ich gesprochen habe, ist ein größerer Schritt.
In diesem Jahr müssen wir nämlich eine noch größere
Frage beantworten: Wie kann allen Kindern ermöglicht
werden, in der Schule mitzukommen? Die Antwort auf
diese Frage fließt in die Regelsatzberechnung ein. Hier
kann man unterschiedlich vorgehen: Wenn Bildung als
spezifischer Bestandteil in den Kinderregelsatz aufgenommen wird, was bisher nicht der Fall ist, kann man
entweder eine höhere Geldleistung vorsehen - ich halte
das für nicht richtig; ich habe eben geschildert, warum -,
oder man sagt: Lasst uns dieses Mehr in kluge Netze der
Hilfe, in Dienstleistungen von Mensch zu Mensch für
die Kinder vor Ort, ganz konkret für die, die Nachhilfe
brauchen, investieren. Ich weiß, das ist neu. Ich weiß, da
ist ein großes Rad zu drehen. Aber ich glaube, wir werden die Kraft haben, das umzusetzen.
({0})
Während der Rede des Kollegen Westerwelle hat sich
der Kollege Alexander Ulrich zu einem Zwischenruf
hinreißen lassen, der unserem Sprachgebrauch und unserem Umgang untereinander nicht angemessen ist.
({0})
Er hat ihn „Volksverhetzer“ genannt. Ich rüge diesen
Zwischenruf.
({1})
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Rossmann
von der SPD-Fraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Bundesverfassungsgericht hat ein wirklich bedeutsames
Urteil gesprochen. Wir sind heute hier im Parlament in
der besonderen Situation, dass vonseiten der Regierung
zwei Minister sprechen, und man sich fragt: Für welche
Regierung? Sprechen sie zusammen?
({0})
Ihnen, Frau von der Leyen, zolle ich durchaus Anerkennung. Wir hoffen, dass Sie für die ganze Regierung gesprochen haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Bedarf, mit der Menschenwürde und mit der Anerkennung
von Menschen in Armut, insbesondere aber von Kindern
in Armut auseinandergesetzt. Eine Rückmeldung an
Herrn Westerwelle: Der Unterschied zwischen Frau von
der Leyen und Ihnen ist - das merken nicht nur die Menschen, das merken auch wir im Parlament -: Wenn Sie
hier sprechen, tauchen diese 6 Millionen Menschen bzw.
diese 1,6 Millionen Kinder überhaupt nicht auf.
({1})
Sie können sich nicht hineinfühlen in das, was diese
Menschen, gestützt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, von uns, aber auch von der Regierung erwarten können. Sie sprechen immer über andere, und das
belastet die Debatte. Frau von der Leyen hat daher vorweg gesagt: Man führt diese Debatte besser mit Engagement, aber nicht mit Schaum vor dem Mund. Sie haben
am Ende immer Schaum vor dem Mund.
({2})
Es ist gut, dass Sie, Frau von der Leyen, einen anderen Duktus, einen Duktus der Einfühlung, des Sichauseinandersetzens mit den Lebenslagen dieser Menschen, einen Duktus der Kooperation in die Debatte gebracht
haben.
Für die SPD-Fraktion darf ich Ihnen sagen: Dann
muss man, wo es um eine konkrete Kooperationsaufgabe geht, die in einem Zusammenhang steht mit der Situation von Menschen in Armut, die Arbeit brauchen,
zeigen, dass man wirklich kooperationsfähig ist. Wir haben das Angebot gemacht, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Besten der Arbeitsuchenden, der Eltern und der Kinder in Richtung einer gemeinsamen
Aufgabenverantwortung umzusetzen. Dann müssen Sie
aber auch kommen und das mit uns zusammen umsetzen
dürfen.
({3})
Herr Kauder ist jetzt gegangen, Herr Röttgen war gar
nicht hier. Sie haben da etwas wiedergutzumachen.
({4})
Sie haben hier die Möglichkeit, darüber zu sprechen,
dass die Menschen schnell in Arbeit vermittelt werden
müssen und dass wir Arbeitsfördermaßnahmen im Bildungsbereich brauchen. Das müssen Sie aber auch garantieren. Können Sie da für die ganze Regierung sprechen? Dies ist Ihre Bewährungsprobe: Sie müssen im
Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ernsthaftigkeit zeigen. Sie dürfen nicht nur reden, sondern müssen zu Ergebnissen kommen.
({5})
Frau von der Leyen, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass es um die Kinder geht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil in der Tat herausgestellt, dass es um Würde, Chancengerechtigkeit und
Gleichheit geht. Es geht aber nicht nur um die persönliche Verantwortung der Eltern, sondern auch um gemeinschaftliche Verantwortung, um die Verantwortung der
Gesellschaft, des Staates, all diesen Kindern eine Perspektive zu eröffnen. Dazu braucht es Kooperation.
Wir gehen davon aus, dass der Bedarf der Kinder sicherlich höher anzusetzen ist. Gerade wenn es um Bildungschancen geht, ist ein Gutschein nicht die erste
Wahl. Die erste Wahl muss sein - das ist in dem Urteil
des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gekommen -, dass alle die Chance bekommen, kostenlos einen
guten Kindergarten zu besuchen, kostenlos eine gute
Ganztagsschule zu besuchen,
({6})
kostenlos teilzuhaben: zu lesen, zum Beispiel in Bibliotheken, Sport zu treiben, Musik zu machen.
({7})
Dies bietet vielleicht eine Brücke für eine leidige Debatte, die immer wieder aufkommt und leider auch in
dieser Runde mitschwingt: Was ist eigentlich, wenn die
einen durch Gutscheine unterstützt werden, andere aber
keine Gutscheine bekommen? Wenn wir starke Schulen,
starke Kindertagesstätten, starke Bildungseinrichtungen
für alle haben, dann beantwortet sich diese Frage jenseits
jeder Diskriminierung. Wenn alle eine gute Schule besuchen, wenn alle eine gute Kindertagesstätte besuchen,
stellt sich diese Frage nämlich nicht mehr. Wir werben
dafür, dass Sie sich dem Kooperationsgedanken verpflichtet fühlen und gute Bildungsinfrastruktur - im
Geist des Bundesverfassungsgerichts: gebunden an die
Würde des Menschen, gebunden an die Würde des Kindes und im Sinne seiner Entwicklungsmöglichkeiten langfristig mit aufbauen.
Es besteht gewaltiger Zeitdruck. Ein wichtiges Datum
ist der nächste Bildungsgipfel. Dieser Bildungsgipfel
darf kein Finanztransfergipfel werden, er muss ein Bildungsgipfel werden, bei dem der Bund die Länder, aber
auch die Kommunen einbezieht und alle gemeinsam
Standards verabreden, die von Pasewalk bis Berchtesgaden garantiert werden. Die Kinderrechte sind schließlich
unteilbar, sie müssen in ganz Deutschland geachtet werden. Wir müssen garantieren, dass nicht nur die Bildungsstandards in Deutschland gleich sind, sondern
auch ihre Umsetzung. Wir müssen schrittweise zu einem
kostenlosen guten Angebot kommen. Das Bundesverfassungsgericht würde das anerkennen. Es würde sagen:
Wenn die Standards umgesetzt sind, dann sieht die Frage
der Bedarfssätze ganz anders aus; denn der Bildungsbedarf wäre bei allen abgedeckt. Wir wollen Ihnen dies
gerne als Kooperationsangebot unterbreiten. Wir wissen,
dass Sie dafür die Kooperation von Bund, Ländern und
Kommunen brauchen. Nutzen Sie die Chance des Bildungsgipfels.
Noch einmal: Nutzen Sie auch die Chance, dass es
sich diese Regierung nicht selber schwerer macht, als es
ja offensichtlich ist. Man muss nur in das Rund gucken
und weiß nicht, wie Herr Westerwelle in dieser Debatte
eigentlich mit sich umgeht. Aber auch die CDU/CSU ist
keineswegs begeistert gewesen. Es ist auch anzumerken,
welcher Rollenwechsel dabei stattfand. Ich will nicht polemisch fragen, ob Sie Herrn Westerwelle eigentlich am
liebsten nicht auf der Regierungsbank sehen würden.
Dies kann nicht das sein, was mit diesem ernsthaften
Verfassungsgerichtsurteil von uns allen im Interesse der
Kinder erwartet wird.
Herr Westerwelle, denken Sie an die Kinder und die
betroffenen Menschen.
({8})
Wenn Sie diese Stärke ausdrücken könnten, dann wäre
das ein guter Beitrag dafür, die Solidarität und den Zusammenhalt in Deutschland zu sichern. Leider schaffen
Sie es bisher nur, zu spalten. Das ist zu wenig.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Peter Wichtel von der CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor 16 Tagen hat das Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe das Urteil zum SGB II gesprochen. Wenn ich
mir die Debatte von gestern und seit dem damaligen Tag
in Erinnerung rufe, dann kann ich mir nicht vorstellen,
dass sie bei der Bedeutung, die diese Thematik für die
Betroffenen hat, für sie in einer angemessenen sachlichen Art und Weise geführt worden ist.
Nicht zuletzt durch die beiden vorliegenden Anträge
wird stattdessen verdeutlicht, dass bis heute unnötige
und unrealistische Versprechungen und ein verzerrtes
Bild der Sachlage übermittelt werden.
({0})
Dabei ist das Urteil zu den SGB-II-Regelsätzen eindeutig ausgefallen, und es lässt nur wenig Spielraum für
Interpretationen zu. Lassen Sie mich daher die entscheidenden Aussagen des Urteils an dieser Stelle noch einmal hervorheben und unterstreichen.
Sowohl die Höhe der Regelsätze als auch deren Berechnungsmethode sind im Grundsatz bestätigt worden.
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier,
hat verdeutlicht, dass die Beträge zur Sicherstellung des
Existenzminimums nicht als evident unzureichend erkannt werden können.
({1})
Auch für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro
kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt
werden.
Was ist nun festgestellt worden? Der entscheidende
Auftrag des Bundesverfassungsgerichts ist es auf der einen Seite, für eine bessere und einfacher nachvollziehbare Begründung der Regelsätze zu sorgen. Auf der anderen Seite geht es darum, eine transparente und
nachvollziehbare Berechnungsgrundlage vorzulegen und
umzusetzen.
({2})
Dieser Aufgabe wird sich die Koalition annehmen, und
wir werden dies ganz besonders nachvollziehen - und
das in aller Konsequenz.
Doch für die Wahrnehmung dieser Verantwortung - dies
hat lebensbestimmende Bedeutung für die Betroffenen;
wir haben heute schon mehrfach die Zahlen gehört, wie
viele Menschen in unserem Land das sind - ist es wenig
hilfreich, hier vollkommen unrealistische Dinge vorzutragen und Erwartungen zu schüren. Das sind in meinen
Augen ganz eindeutig rot-grüner Klamauk und rot-grüne
Stimmungsmache an der falschen Stelle.
({3})
Gott sei Dank haben die Bundesministerin für Arbeit und einige der Redner, die heute am Ende der Debatte gesprochen haben, tatsächlich zu dem Thema und
zu den Kindern, die das ja hauptsächlich betrifft, gesprochen. Ich darf deswegen nochmals dazu aufrufen, dass
wir gemeinsam bei der weiteren Bearbeitung, wie von
der Bundesministerin vorgetragen und von der christlich-liberalen Koalition beabsichtigt, den Blick auf das
Thema Kinder richten und dieses Thema anpacken.
Wichtig ist, dazu beizutragen, dass bereits bestehende
Möglichkeiten, die zum Beispiel der vorliegende Kriterienkatalog schon jetzt für die Härtefälle vorsieht, genutzt werden können, und bei Transferempfängern und
besonders bei den Kindern, die unser Lebensmittelpunkt
und unsere Zukunft sind, darauf zu achten, dass das, was
zusätzlich benötigt wird, als Sonderbedarf geltend gemacht werden kann und vorgehalten wird.
Als Hintergrund ist aus meiner Sicht für die Zukunft
Folgendes notwendig: Erstens müssen die Belange der
Kinder entsprechend berücksichtigt werden. Zweitens
muss der Regelsatz überprüft werden. Er muss nachvollziehbar sein und darf keiner Pauschalierung unterliegen.
Drittens müssen wir unbedingt die Bildungsmöglichkeiten verbessern, und wir müssen darauf hinwirken, dass
die Kinder, die von uns zu Recht Unterstützung bekommen, nicht später ebenfalls Hartz-IV-Empfänger bzw.
SGB-II-Empfänger - der Begriff „Hartz IV“ gefällt mir
nicht besonders - werden. Ich denke, wir müssen darauf
achten, dass da geholfen wird, wo die Lebenslage es erfordert.
Dies bedeutet aus meiner Sicht unter anderem auch,
dass darüber nachgedacht wird, wie wir helfen können.
Dabei darf das Thema Sach- und Dienstleistungen nicht
ausgespart werden. Das heißt für mich, dass wir auch die
Teilhabe an außerschulischem Sport und musischen Fächern sowie Nachhilfe ermöglichen müssen. Das ZurVerfügung-Stellen von Schulmaterial, Theaterbesuche
und andere Dinge gehören auch zur Teilhabe am Alltagsleben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
bei der Realisierung der Nachhaltigkeit Bildungsmöglichkeiten für Kinder in Familien zu schaffen. Das ist ein
Beleg dafür, dass die christlich-liberale Koalition ihrer
Verantwortung gerecht werden wird.
Lassen Sie mich zu der Thematik, die der eine oder
andere gerade von denjenigen angesprochen hat, die als
Gesetzgeber und Mehrheitsfraktion Hartz IV eingeführt
haben, ganz deutlich sagen: Den, der heute von der Menschenwürde redet - ich fasse mich bewusst kurz, weil
mir sonst die Zeit wegläuft -, frage ich, wo er sein Gewissen hatte, als er das Gesetz beschlossen hat.
({4})
Das sind dieselben Redner, die heute so getan haben, als
hätten sie mit dem Gesetz nichts zu tun
({5})
- das ist Rot-Grün -, und nach dem Motto „Haltet den
Dieb! Da ist der Verbrecher!“ auf die jetzige Regierung
zeigen.
({6})
Sie hatten genügend Zeit, das zu ändern. Das haben Sie
an keiner Stelle getan.
({7})
Lassen Sie mich zusammenfassend zum Schluss
kommen. Wir, die christlich-liberale Koalition, werden
uns mit den Themen, die uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt hat, befassen. Wir werden uns die Kinderregelsätze ansehen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns
unserer Aufgabe bewusst. Wir werden zuverlässig und
richtig handeln. Dazu laden wir auch Sie ein.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Herr Kollege Wichtel, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/675 und 17/659 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowie
Zusatzpunkte 7 a bis 7 d auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Abkommens vom 15. Dezember 1950
über die Gründung eines Rates für die Zusam-
menarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens
- Drucksache 17/759 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
- Drucksache 17/719 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Cornelia Behm, Undine Kurth ({2}),
Nicole Maisch, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
der Privatisierung von bundeseigenen oberirdischen Gewässern
- Drucksache 17/653 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgitt
Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Benachteiligung von privat versicherten Bezieherinnen und Beziehern von
Arbeitslosengeld II
- Drucksache 17/548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({4})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Private Kranken- und Pflegeversicherung Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebedürftige
- Drucksache 17/780 2070
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gesetzliche Krankenversicherung für SoloSelbstständige bezahlbar gestalten
- Drucksache 17/777 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({6})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung
jetzt - Süd-Süd-Kooperation stärken
- Drucksache 17/774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Haiti entschulden und langfristig beim Wiederaufbau unterstützen
- Drucksache 17/791 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({9}), Cornelia Behm, Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethischem Tierschutz Rechnung tragen - Stellungnahme des Deutschen Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3 Grundgesetz
- Drucksache 17/792 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({10})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorständen reformieren
- Drucksache 17/798 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({11})
Rechtsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis
24 m. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 24 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
Nr. 187 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 15. Juni 2006 über den Förderungsrahmen für den Arbeitsschutz
- Drucksache 17/428 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({12})
- Drucksache 17/579 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({13})
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/579,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/428 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({14})
Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 17/811 Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte
ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15})
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht - 2 BvF 1/09
- Drucksache 17/812 Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Berichterstattung:
Abgeordneter Siegfried Kauder ({16})
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, in dem Verfahren eine Stellungnahme abzugeben und den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor
Dr. Pünder als Bevollmächtigten zu bestellen. Wer dafür
stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Erneute Überweisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden
- Drucksache 17/790 Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
- Drucksache 17/665 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 31 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
- Drucksache 17/666 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 32 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 33 zu Petitionen
- Drucksache 17/667 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 33 ist wiederum einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
- Drucksache 17/668 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 34 ist gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
- Drucksache 17/669 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 35 ist gegen die Stimmen der
SPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 36 zu Petitionen
- Drucksache 17/670 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 36 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen
von der Fraktion Die Linke und dem Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 37 zu Petitionen
- Drucksache 17/671 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 37 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und den Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 38 zu Petitionen
- Drucksache 17/672 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 38 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 39 zu Petitionen
- Drucksache 17/673 -
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Sammelübersicht 39 ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions-
fraktionen angenommen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 a
und 5 b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes
zur Verordnung ({26}) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom
16. September 2009 über Ratingagenturen
({27})
- Drucksache 17/716 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({28})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({29})
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates
zur Übertragung besonderer Aufgaben im
Zusammenhang mit der Funktionsweise des
Europäischen Ausschusses für Systemrisiken auf die Europäische Zentralbank ({30})
KOM ({31}) 500 endg.; Ratsdok. 13645/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die
gemeinschaftliche Finanzaufsicht auf Makroebene und zur Einsetzung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken ({32})
KOM ({33}) 499 endg.; Ratsdok. 13648/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Bankaufsichtsbehörde ({34})
KOM ({35}) 501 endg.; Ratsdok. 13652/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die
betriebliche Altersversorgung ({36})
KOM ({37}) 502 endg.; Ratsdok. 13653/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ({38})
KOM ({39}) 503 endg.; Ratsdok. 13654/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen - Zusammenfassung der Folgenabschätzung ({40})
SEK ({41}) 1235 endg.; Ratsdok. 13658/09
- zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/
EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG,
2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/
48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hinblick auf die Befugnisse der Europäischen
Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen
Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung
und der Europäischen Wertpapieraufsichtsbehörde ({42})
KOM ({43}) 576 endg.; Ratsdok. 15093/09
- Drucksachen 17/136 Nr. A.35, 17/136 Nr. A.36,
17/136 Nr. A.37, 17/136 Nr. A.38, 17/136
Nr. A.39, 17/136 Nr. A.40, 17/178 Nr. A.10,
17/5091) Berichterstattung:
Abgeordnete Ralph Brinkhaus
Frank Schäffler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk
für die Bundesregierung das Wort.
({44})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Ratingagenturen spielen eine wichtige Rolle für das
Funktionieren von Finanzmärkten. Wir mussten feststel-
len, dass die Ratingagenturen im Zusammenhang mit der
1) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wurde von der Drucklegung der Ratsdokumente ({0}) abgesehen.
Finanzmarktkrise, deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft wir überwinden müssen, ihrer Verantwortung
nicht gerecht geworden sind. Im Gegenteil: Ratingagenturen müssen als Mitverursacher und -auslöser der Krise
angesehen werden. Die Agenturen haben die verschlechterte Marktlage ihrer Ratings nicht früh genug zum Ausdruck gebracht. Es ist aber auch nicht gelungen, Ratings
rechtzeitig anzupassen, als sich die Krisensituation zugespitzt hatte. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der
Agenturen im Bereich der sogenannten strukturierten
Produkte.
Als ein Grund für die Fehlbewertung der Ratingagenturen müssen zweifellos die zum Zeitpunkt der Krise bestehenden Marktstrukturen angesehen werden. Agenturen berieten Emittenten zur Strukturierung von Produkten
und berechneten dafür Gebühren; im Anschluss bewerteten dieselben Agenturen die Produkte, die sie selber mit
konzipiert hatten. Das Bestehen eines Interessenkonfliktes bei Agenturen in einer solchen Konstellation ist offensichtlich.
Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Ratingagenturen einer effizienten Regulierung und Beaufsichtigung zu unterstellen. Sowohl auf nationaler als auch auf
europäischer und internationaler Ebene wurden Defizite
erkannt und entsprechende Konsequenzen gezogen. Die
G 20 haben sich bereits im April des vergangenen Jahres
auf eine effektive Beaufsichtigung der Ratingagenturen
verständigt. Zudem wurde der Baseler Ausschuss aufgefordert, die Rolle der externen Ratings für regulatorische
Zwecke auf mögliche Fehlanreize hin zu überprüfen.
Der Baseler Ausschuss hat dann in seinem Konsultationspapier vom Dezember des vergangenen Jahres
Überlegungen vorgestellt. Insbesondere soll die Transparenz der externen Ratings erhöht werden, und die Kreditinstitute sollen angehalten werden, ihre Kreditrisiken
unabhängig von externen Ratings selbstständig zu analysieren. Zudem wird der Financial Stability Board im
März ein Diskussionspapier zu möglichen Risiken für
Finanzstabilität durch Verwendung externer Ratings für
regulatorische Zwecke vorlegen.
In der Europäischen Union hat der Europäische Rat
bereits im März 2008, also sehr frühzeitig, Schlussfolgerungen formuliert, um den größten Schwächen des Finanzsystems entgegenzuwirken. Zur Regulierung der
Ratingagenturen wurde die EU-Ratingverordnung verhandelt, die letztlich dann am 7. Dezember 2009 in Kraft
trat und Grund für das Ihnen heute vorliegende Ausführungsgesetz ist. Die wesentlichen Inhalte der Regulierung und operativen Aufsicht über die Agenturen sind
Gegenstand dieser Verordnung. Wir sind froh, dass mit
der Verordnung auf europäischer Ebene auch im internationalen Vergleich Maßstäbe gesetzt wurden, was Anforderungen an Agenturen angeht; denn Ratingagenturen,
die künftig in der EU tätig werden sollen, müssen sich
registrieren lassen und strenge Vorgaben einhalten.
({1})
Zu diesen Vorgaben gehört es, dass die Agenturen
ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transparenter
machen müssen. Sie müssen angewandte Methoden und
Modelle, historische Ausfallquoten von Ratingkategorien oder eine Liste ihrer größten Kunden in Zukunft regelmäßig veröffentlichen.
({2})
Die Verordnung enthält detaillierte Regelungen für den
zukünftigen Umgang der Agenturen mit Interessenkonflikten. Beratungsleistungen für bewertete Unternehmen
dürfen beispielsweise nicht mehr erbracht werden.
Nun handelt es sich bei der EU-Ratingverordnung
zwar grundsätzlich um eine unmittelbar anwendbare europäische Verordnung. Jedoch gibt diese Verordnung
den Mitgliedstaaten auf, selbst gewisse Vorkehrungen zu
treffen, um die Voraussetzungen für die operative Aufsicht über die Agenturen herzustellen. Die Zeitvorgaben
der Verordnung sind dabei anspruchsvoll. Schon ab
7. Juni 2010 sollen die Agenturen ihre Registrierungsanträge stellen können.
Mit dem heute vorgelegten Entwurf eines Ausführungsgesetzes hat die Bundesregierung schnell auf diese
europäischen Vorgaben reagiert. Die Bundesanstalt für
Finanzdienstleistungsaufsicht wird als zuständige Behörde für die Beaufsichtigung der Ratingagenturen benannt.
Daneben wird ein Katalog von Bußgeldtatbeständen
in das Wertpapierhandelsgesetz eingefügt. Dies ist erforderlich, um Verstöße gegen die EU-Ratingverordnung
auch ahnden zu können. Bei besonders gravierenden
Verstößen, etwa wenn eine Agentur bei demselben Unternehmen berät und bewertet, sollen Bußgelder bis zu
1 Million Euro verhängt werden können. Solch potenziell hohe Bußgelder sind aus Sicht der Bundesregierung
angesichts der Bedeutung der Agenturen für das Vertrauen in die Finanzmärkte voll gerechtfertigt und verhältnismäßig.
({3})
Schließlich wird eine Erstattung der Kosten, die der
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bei Prüfungen von Ratingagenturen entstehen, durch die betroffenen Ratingagenturen vorgesehen. Dies entspricht den
Finanzierungsregelungen der Bundesanstalt.
Wir bitten um eine schnelle, konstruktive Beratung
dieses Gesetzentwurfes. Wie Sie sicher wissen, sind auf
europäischer Ebene - auch darüber berichten wir vonseiten der Bundesregierung - Planungen in vollem Gang,
die Ratingagenturen auch auf europäischer Ebene beaufsichtigen zu lassen. Wenn die entsprechenden europäischen Regelungen in Kraft sind, werden wir zu dem
heute zu diskutierenden und zu beratenden Ausführungsgesetz schnell die erforderlichen Anpassungen vornehmen müssen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
entscheidende Frage, die wir im Zusammenhang mit der
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise beantworten müssen, lautet: Was waren die Ursachen dieser Finanzkrise,
und was müssen wir ändern, um sicherzustellen, dass
sich dieses Desaster nicht wiederholt? Es gibt unbestreitbar ein Ursachenbündel. Ein wichtiger Aspekt war die
Tätigkeit der Ratingagenturen.
({0})
Die Frage lautet: Welche Rolle spielten die Ratingagenturen bei der Entstehung der Finanzkrise?
Schauen wir uns das einmal an: In Deutschland sind
mit Standard & Poor’s, Moody’s, Fitch und Dominion
Bond Rating Service insgesamt vier große Ratingagenturen von der Bundesbank und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht aufsichtsrechtlich anerkannt.
Der Markt für Ratingagenturen ist hoch konzentriert. Basis ihrer Arbeit war bisher ein Verhaltenskodex der Wertpapieraufsehervereinigung IOSCO. Er sollte die Qualität
und Seriosität des Ratingprozesses sicherstellen und Interessenkonflikte vermeiden.
Die Finanzkrise hat in aller Schärfe deutlich gemacht:
Diese Art der Selbstverpflichtung und Regulierung hat
vollständig versagt. Der Präsident der BaFin, Jochen Sanio, hat es in der von ihm gewohnt klaren Art so beschrieben
({1})
- ja, genau -: Viele Käufer dieser verbrieften, also in
Wertpapiere umgewandelten Kredite haben diese nicht
nur „erworben, ohne die geringste Ahnung von den Risiken zu haben“. Sie haben dabei auch „blind den guten
Ratings der Ratingagenturen vertraut“.
Es waren relativ neue Formen von Wertpapieren, die
diese Ratingagenturen geratet haben. Die Ratingagenturen wurden als vertrauenswürdige Experten angesehen.
Etliche Investoren und viele Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zahlen nun horrendes Lehrgeld für diese Fehleinschätzung.
Ein gravierendes Beispiel dafür waren die US-Immobilienkredite, sogenannte Subprime-Hypotheken, besicherte, sehr komplexe Anleihen. Sie stehen im Zentrum
der Kreditkrise. Sie waren hochgeratet und wurden dann
binnen weniger Tage von den gleichen Ratingagenturen
zu Schrottpapieren deklariert; aber dann war es bereits
zu spät. Da kann man besser gleich zu den Damen gehen, die auf dem Jahrmarkt vor einer Kristallkugel sitzen
und eine schwarze Katze auf der Schulter haben. Ich
glaube, deren Rating ist auch noch erheblich preiswerter.
({2})
Damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt:
Wer verdient woran? Herr Staatssekretär hat es angedeutet: Die Neuemissionen wurden von verschiedenen Ratingagenturen geprüft. Geld bekam aber nur diejenige
Agentur, die auch den Auftrag bekam. Das heißt im
Klartext: Es gab einen massiven finanziellen Anreiz für
die Agenturen, eine möglichst gute Bewertung zu vergeben, um den Auftrag des Emittenten zu erhalten. Ratingagenturen sind nicht die Caritas; sie sind gewinnorientierte Unternehmen. Sie waren teilweise in beratender
Funktion für Finanzinstitute zuständig, deren Produkte
von ihnen anschließend bewertet wurden, Produkte, die
sie teilweise sogar selbst mitentwickelt haben. Das ist
ungefähr so, als wenn ein Profischiedsrichter bei einem
Fußballspiel nur dann Geld bekommt, wenn eine bestimmte Mannschaft gewinnt.
({3})
- Ja, wir haben darüber in der Vergangenheit schon einiges gehört.
Wir haben es hier mit einem System zu tun, in das Interessenkonflikte inhärent eingebaut sind. Es ist ein System, das marktwirtschaftlichen Grundsätzen hohnspricht. Es gibt keine Haftung für Schlechtleistung,
keine Sanktionen für wirtschaftliches Versagen. Das
konnte nicht gut gehen. Mir ist es ein Rätsel, warum man
dies nicht früher kritisiert und verändert hat.
({4})
- Das ist im Übrigen Ihre einzige Erklärung. Das ist ein
bisschen wenig.
({5})
Nun kann man Ratingagenturen aber nicht einfach abschaffen. Ratingagenturen sind dringend notwendig.
Selbst die BaFin ist darauf angewiesen. Mit rund
1 700 Mitarbeitern beaufsichtigt die BaFin 2 100 Banken und über 600 Versicherungen. Sie muss die Risikosituation dieser Institute analysieren und ist dabei auf die
Arbeit der Ratingagenturen angewiesen. Sie kann die
Arbeit dieser Agenturen nicht auch noch selbst übernehmen.
({6})
Die Schlussfolgerung daraus: Wir sind auf ein gut
funktionierendes Ratingwesen angewiesen und müssen
daher die richtigen regulatorischen Konsequenzen ziehen. Die EU-Kommission hat im April 2009 einen europäischen Regulierungsrahmen für Ratingagenturen vorgelegt. Ziel dieses Rahmens ist es, einen gemeinsamen
Ansatz einzuführen, um die Integrität, die Transparenz
sowie die Verlässlichkeit von Ratingtätigkeiten zu
fördern und die Qualität der Arbeit insgesamt zu verbessern. Die Verordnung enthält unter anderem Bedingungen zur Abgabe von Ratings sowie weitere Organisations- und Verhaltensregeln für Ratingagenturen. Sie
sollen deren Unabhängigkeit fördern und InteressenkonManfred Zöllmer
flikte vermeiden. Die Umsetzung in deutsches Recht erfolgt nun mit der Vorlage des Gesetzentwurfs der Bundesregierung im Wertpapierhandelsgesetz, und das
macht Sinn.
In Deutschland wird nach diesem Gesetzentwurf die
BaFin als nationale Aufsichtsbehörde tätig werden. Dies
wird sicherlich dazu beitragen, die Transparenz des Ratings zu erhöhen. Aber sie wird natürlich nicht den kompletten Prozess beaufsichtigen können. Wir dürfen deshalb die Banken nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Es darf nicht sein, dass überforderte Vorstände alles akzeptieren, was Ratingagenturen vorgelegt haben, da sie
die zugrunde liegenden Sachverhalte häufig nicht nachvollziehen konnten. Es muss die Aufgabe der Banken
sein und bleiben, auch beim Vorliegen externer Ratings
eine eigenständige Beurteilung des Kreditrisikos durchzuführen.
({7})
- Nur haben sie es nicht getan, wie die Krise gezeigt
hat. - Der Basler Ausschuss hat in seinen Vorschlägen
zu Recht gefordert, dass Banken in Zukunft keine Bonitätseinschätzungen externer Ratingagenturen mehr ungeprüft übernehmen dürfen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung ist ein erster Schritt in
die richtige Richtung, er reicht aus unserer Sicht aber
nicht aus; denn es werden die notwendigen Konsequenzen aus dem Versagen der Ratingagenturen nicht in der
Form gezogen, dass Wiederholungen der Fehler ausgeschlossen sind.
Dringend notwendig ist eine enge Zusammenarbeit
mit den USA. Die relevantesten Agenturen sind US-Unternehmen. Sie dominieren den Markt. Wir brauchen
aber auch eine Stärkung des Wettbewerbs auf dem Ratingmarkt. Er ist zu stark konzentriert. Wir brauchen so
schnell wie möglich eine europäische Ratingagentur.
Wir brauchen darüber hinaus Mechanismen, die das Geschäftsmodell des Beratens und Bewertens so verändern,
dass Interessenkonflikte tatsächlich vermieden werden.
Schließlich müssen Investoren zu mehr Eigenverantwortung bei der Bewertung von Risiken gezwungen werden.
Deshalb ist aus unserer Sicht die Bundesregierung gefordert, weitere Vorschläge zu machen, damit diese Ziele
auch erreicht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heute
aber auch über die Vorschläge für eine neue Struktur der
europäischen Finanzaufsicht. Die Finanzkrise hat auch
hier unbarmherzig deutlich gemacht, wo die Schwachstellen liegen. In Zukunft soll es zum einen Institutionen
geben, die sich auf makroökonomischer Ebene mit Systemrisiken beschäftigen, so eine Art systemischer
Watchdog; zum anderen sollen sich verschiedene Institutionen auf der Mikroebene mit Banken, Börsen und Versicherungen beschäftigen. Das europäische Finanzaufsichtssystem soll eine Art Verbund nationaler und
europäischer Aufsichtsbehörden mit geteilten und sich
gegenseitig verschränkenden Zuständigkeiten sein.
Konkret soll ein europäischer Ausschuss für Systemrisiken eingerichtet werden. Er soll die makroökonomische, systemische Aufsichtskomponente abdecken. Auf
der Ebene darunter soll es eine europäische Bankenaufsichtsbehörde, eine europäische Aufsichtsbehörde für
das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung sowie eine europäische Wertpapieraufsichtsbehörde geben. Die neuen EU-Behörden sollen schwerpunktmäßig die Harmonisierung des Aufsichtsrechts
sowie verbindliche Leitlinien, zum Beispiel für die Zulassung und Überwachung von Finanzinstituten, erlassen. Ebenso sollen sie die Entwicklung verbindlicher
technischer Standards, zum Beispiel von Risikobewertungsmodellen, übernehmen. Die tatsächliche Aufsicht
vor Ort soll den nationalen Aufsichtsbehörden überlassen werden. So weit eine kurze Beschreibung der neuen
Strukturen.
Die Neuordnung und -gestaltung der EU-Finanzaufsicht ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Wir
müssen uns aber fragen, ob dieses Modell einer sehr
stark national geprägten Finanzmarktaufsicht in der EU
angesichts der engen internationalen Verflechtungen den
vorhandenen Risiken im globalen Finanzmarkt wirklich
gerecht wird. Ich habe da Zweifel. Wenn man sich einmal anschaut, welche Rolle die Bundesregierung in dieser Frage gespielt hat, dann komme ich zu dem Schluss:
keine so gute. Unisono hieß es in der Wirtschaftspresse:
Großbritannien und Deutschland waren die Bremser bei
dem Prozess, in dem es darum ging, eine wirklich
schlagkräftige und handlungsfähige Aufsichtsstruktur zu
implementieren.
Das Ziel, zu verhindern, dass global agierende Player
sich durch eine weiterhin national zersplitterte Zuständigkeit einer wirksamen Aufsicht entziehen können, ist nicht
erreicht worden. EZB-
Das ist sicherlich nicht die allerbeste Lösung. Dieser Mann weiß, wie man diplomatisch Ohrfeigen verteilt.
Es ist eine neue, sehr komplexe Struktur entwickelt
worden. Aber jeder kennt das von seinem Computer daheim: Im laufenden Betrieb fragmentiert die Festplatte.
Wenn alles fragmentiert ist, läuft der Computer langsamer oder stürzt irgendwann ab. Eine fragmentierte Aufsicht so vieler Nationalstaaten ist unserer Meinung nach
nicht mehr die passende Antwort auf global agierende
Finanzinstitute. Es muss mehr zusammengefasst und gebündelt werden. Die Aufsicht braucht Zähne. Sie muss
auch zubeißen können. Die neuen EU-Aufsichtsbehörden haben selbst im Krisenfall keine Weisungsbefugnisse gegenüber einzelnen Finanzinstituten. Solche Befugnisse waren im ursprünglichen Entwurf der
Kommission noch vorgesehen. Die Finanzminister haben es dann wieder hinausgekegelt.
Genau dann, wenn es ernst wird, sollen weiterhin
die nationalen Aufsichtsbehörden entscheiden. Das
ist genau das Gegenteil von dem, was notwendig
ist, wenn wir Instabilitäten künftig vermeiden wollen.
Das ist ein wörtliches Zitat von Markus Ferber, seines
Zeichens Vorsitzender der CSU-Gruppe im Europaparla2076
ment. Im Europaparlament wird es dagegen harten Widerstand geben; das hat er angekündigt. Das Europaparlament hat bereits fraktionsübergreifend deutlich
gemacht, dass es der geplanten EU-Finanzaufsicht deutlich mehr Kompetenzen geben will als bisher vorgesehen. Ich halte das für richtig. Wir müssen deswegen das
Vorgeschlagene noch einmal ganz genau überprüfen.
Das Beispiel Finanzkrise und auch das neue Beispiel
Griechenland zeigen doch eines ganz deutlich: Wir müssen uns von dem Gedanken lösen, dass wir die Probleme
des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten Welt und auf
einem europäischen Binnenmarkt mit einheitlicher Währung mit dem nationalstaatlichen Denken des 19. Jahrhunderts lösen können. Wir brauchen eine europäische
Antwort auf die Krise. Wir brauchen mehr Kompetenzen
in und für Europa in Wirtschaftsfragen. Wir brauchen
auch hier ein neues Denken. Ich biete Ihnen dabei unsere
Unterstützung an. Ein bloßes „Weiter-so“ darf es nicht
geben.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die sehr zügige Vorlage dieses Gesetzentwurfs
zeigt, dass die Bundesregierung in einer der elementarsten Fragen der aktuellen Politik, nämlich der Finanzund Wirtschaftskrise, nicht nur handlungsfähig, sondern
auch handlungswillig ist. Ich denke, das muss man an
dieser Stelle deutlich sagen.
({0})
- Richtig, handlungswillig und handlungsfähig. Innerhalb kürzester Zeit wurde dieser Gesetzentwurf vorgelegt.
Es handelt sich um eine Vorlage, die auf EU-Ebene
erarbeitet wurde. Das ist vollkommen richtig, weil man
die Probleme der Ratingagenturen, die global sind, nicht
nur national betrachten kann. Finanzmärkte sind global.
Die Produkte sind international. Also muss auch die Regelung auf dieser Ebene ansetzen.
({1})
Richtig ist auch, ein neues Instrumentarium zu schaffen, um die Anbieter auf europäischer Ebene zu beaufsichtigen. Das findet unsere Zustimmung, ebenso wie
der Vorschlag, die BaFin so lange, bis die neuen Instrumente auf EU-Ebene ihre Wirkung entfalten, damit zu
betrauen.
Die Regelungen, die auf EU-Ebene ausgehandelt
wurden, sind geeignet, Vertrauen zu schaffen. Das betrifft die Stärkung der Unabhängigkeit und das Vermeiden von Interessenkonflikten. Es ist schade, dass man so
etwas gesetzlich regeln muss. Eigentlich wäre das eine
Selbstverständlichkeit. Man fasst sich an den Kopf,
wenn man sieht, dass ausdrücklich geregelt werden
muss, dass nicht gleichzeitig beraten und bewertet werden darf. Was ist denn da passiert? Das ist so, als ob eine
Autowerkstatt zugleich die TÜV-Abnahme vornähme.
Dabei kann im Prinzip nicht viel Richtiges herauskommen.
({2})
- Es ist auch gut, dass das geregelt wird. Es muss geregelt werden; denn es besteht Bedarf. Dementsprechend
begrüßen wir, dass wir hier so zügig vorankommen.
Das Gleiche betrifft die veränderten Methoden. Hier
sind vielfach noch Methoden im Einsatz gewesen, die
nun wirklich in die Mottenkiste gehören. Nach diesen
Methoden kann nicht mehr geratet werden; das muss angepasst werden.
Besonders interessant ist, dass offensichtlich trotz
fehlender Daten ein Rating durchgeführt wurde. Auch
hier wird nachgesteuert. Das ist wichtig.
Die vorgesehenen Bußgelder sind, so denke ich, in
der Lage, abschreckende Wirkung zu entfalten. Eigentlich sind das, wie gesagt, Selbstverständlichkeiten. Das
hätte der Markt regulieren müssen. Aber wir haben es
- das ist schon angesprochen worden - in diesem Markt
nicht mit Wettbewerb zu tun. Im Prinzip gibt es nur drei
Anbieter - das ist ein sehr enges Oligopol -, die noch
nicht einmal untereinander im Wettbewerb stehen; denn
häufig wird vorgeschrieben, dass zwei Ratings gemacht
werden sollen. Auch die Anbieter werden entsprechend
benannt. Deshalb können sich diese zurücklehnen und
brauchen sich nicht anzustrengen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Markt
mehr Wettbewerb schaffen.
({3})
Dazu gehört nicht nur der Versuch, eine europäische Ratingagentur aufzubauen. Vielmehr brauchen wir auch einen nationalen Markt. Es müssen mehr kleinere Unternehmen in den Markt hineinkommen können, die dann
wachsen und eine schlagfähige Konkurrenz darstellen.
Man muss sich den vorliegenden Entwurf noch einmal genau daraufhin anschauen, ob er in diesem Sinne
Wirkung entfaltet. Bei einigen darin enthaltenen Regelungen werden wir im Zeitablauf sehen müssen, ob dadurch Mindeststandards gesetzt werden können, was ja
grundsätzlich gut ist. Aber beispielsweise die geforderten zwei externen unabhängigen Aufsichtsräte mit Fachkenntnissen sind nicht so einfach zu finden, und sie sind
auch nicht ganz preiswert. Das ist für die eine oder
andere kleinere Agentur, die in den Markt eintreten will,
möglicherweise eine Hürde.
Umso wichtiger ist es, dass die BaFin dafür sorgt,
dass die Regeln sachgerecht so ausgelegt werden, dass
auf der einen Seite ein Schutz besteht, sachgerecht geratet wird und Vertrauen entstehen kann, dass sich aber auf
der anderen Seite Wettbewerb entwickeln kann, damit
das enge Oligopol aufgebrochen werden kann.
Wir werden diese Entwicklung beobachten müssen.
Da ist auch die Bundesregierung aufgefordert, auf europäischer Ebene gegebenenfalls nachzusteuern. Wir stehen hinter diesem Gesetzentwurf. Er ist ein erster Baustein zur Sicherung unserer Finanzmärkte. Der
Koalitionsvertrag ist hier eindeutig. Der erste Schritt ist
gemacht, und wir werden die weiteren Punkte abarbeiten.
Herzlichen Dank.
({4})
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst zu dem Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung. Hier stellen sich aus unserer Sicht zwei Fragen:
Erstens. Taugt die europäische Verordnung angesichts
des deutlich gewordenen Problems bei den Ratingagenturen? Zweitens. Setzt das Ausführungsgesetz diese Verordnung, sei sie nun mehr oder weniger geeignet, bestmöglich in deutsches Recht um?
Die Ratingagenturen hatten und haben bei vielen
Marktteilnehmern den Status des Orakels von Delphi, allerdings mit dem entscheidenden und wichtigen Unterschied, dass man dieses moderne Orakel kaufen kann
und kaufen muss. Man kann es kaufen, weil man sich
bisher von Ratingagenturen so lange für viel Geld beraten lässt, bis man das Rating bekommt, das man gerne
haben möchte. Man muss es kaufen, weil Basel II und
viele andere gesetzliche Regelungen es zur Auflage gemacht haben, dass jeder eine Weissagung des Orakels in
Form eines Ratings braucht, um auf dem Finanzmarkt
überhaupt mitspielen zu dürfen.
Laut Verordnung sollen Ratingagenturen ihre Kunden
nun in Zukunft nicht mehr beraten dürfen, wie sie ein
besseres Rating bekommen. Aber was bedeutet das praktisch? Wenn ich eine Ratingagentur wäre, würde ich kurzerhand mein Beratungs- und Bewertungsgeschäft in
zwei eigenständige Töchter aufteilen und anschließend
unter eine Holding hängen. Da das Gesetz gleichzeitig
fordert, dass die Ratingagenturen ihre Bewertungsmethoden offenlegen, weiß meine Beratungstochter dann
höchstoffiziell sehr genau, wie sie einen Kunden beraten
muss, damit dieser von meiner anderen Tochter ein optimales Rating bekommt. Wie wollen Sie das verhindern,
dass meine Töchter untereinander mauscheln und es am
Ende genauso weitergeht wie heute?
({0})
Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, mit technischen Verfahrensregeln die Funktionsweise des gesamten Ratingsystems zu verändern. Die EU-Ratingverordnung zielt darauf, die Urteile des Orakels technisch zu
verbessern. Ziel muss es aber sein, dieses Orakel zu entmachten und die von ihm ausgehende Massenhysterie
auf den Finanzmärkten zu beenden. Insofern geht die
EU-Ratingverordnung am Kern des Problems vorbei.
Das Beispiel Griechenland zeigt mehr als deutlich, zu
welch einem Machtfaktor Ratingagenturen geworden
sind.
Kommen wir nun zur Umsetzung, zum Ausführungsgesetz selbst. Hier zeigt sich: Die EU-Ratingverordnung,
die viel zu kurz gesprungen ist, wird zu allem Überfluss
auch noch sehr fragwürdig umgesetzt. Jeder vernünftige
Mensch würde erwarten, dass für die neu geplante Beaufsichtigung der Ratingagenturen durch die Finanzaufsichtsbehörden nun neue Abteilungen in den Aufsichtsbehörden mit ausreichend und kompetentem Fachpersonal gebildet würden. Aber Fehlanzeige! In Ihrem
Gesetzentwurf wird festgeschrieben, dass die jährlichen
Prüfungen von privaten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften übernommen werden sollen. Das sind dann dieselben
KPMGs und PricewaterhouseCoopers, die seit Jahren attestieren, dass die Banken ihre Wertpapiere solide bilanziert und ihre Risiken angemessen offengelegt haben,
dieselben Wirtschaftsprüfer, die bei der HRE und der
Commerzbank, bei der BayernLB und der IKB jahrelang
geschlafen oder sich sogar aktiv an der Verschleierung
der Bilanzrisiken beteiligt haben. Ist es das, was die
Bundeskanzlerin mit ihrer Aussage gemeint hat, in Zukunft würden kein Akteur und kein Produkt auf den Finanzmärkten mehr unkontrolliert bleiben?
Wenn wir eine wirkungsvolle Finanzaufsicht haben
wollen - egal, ob bei Ratingagenturen, bei Banken oder
bei Versicherungen -, und das wollen wir Linken, dann
brauchen wir auch kompetentes und ausschließlich dem
öffentlichen Auftrag verpflichtetes Personal in den Aufsichtsbehörden.
({1})
Zum zweiten Punkt, zum Aspekt der Europäisierung
der Finanzaufsicht. Wie eine Beaufsichtigung der Ratingagenturen ist selbstverständlich auch eine bessere europäische Vernetzung und Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden zu begrüßen. Aber das Problem steckt auch
hier im Detail.
Eine europäische Finanzaufsicht kann letztlich nie
besser sein als die vor Ort zusammengetragenen Erkenntnisse. Der Fall HRE hat aufs Traurigste gezeigt,
dass die Zusammenarbeit schon auf nationaler Ebene
nicht funktioniert, dass relevante Erkenntnisse viel zu
spät zwischen Bundesbank, BaFin und Finanzministerium ausgetauscht wurden und damit ungenutzt blieben.
({2})
Neben den Schwächen auf nationaler Ebene ist auch
sehr fraglich, ob die zu EU-Institutionen weiterentwickelten Ausschüsse für Banken-, Versicherungs- und
Wertpapieraufsicht überhaupt wirksam kontrollieren
können. In den Verhandlungen über die europäische Finanzaufsicht haben die alte, von der Großen Koalition
getragene Regierung und insbesondere der damalige
SPD-Finanzminister Steinbrück immer wieder für eine
Verwässerung der Eingriffsrechte dieser neuen Behörde
gesorgt. Die neue Bundesregierung hat diese Position
bislang nicht zurückgenommen. Noch laufen die Verhandlungen; jetzt wäre der Moment für die neue Bundesregierung, einen anderen Ton anzuschlagen.
Abschließend noch eine Bemerkung zum neuen Ausschuss für Systemrisiken bei der Europäischen Zentralbank: So wichtig eine Stärkung der Aufsicht über die
Stabilität des Gesamtsystems ist, so groß ist meine Befürchtung, dass dieser Ausschuss letztlich mit denselben
Expertinnen und Experten besetzt wird, die uns die letzten 15 Jahre die Segnungen deregulierter Finanzmärkte
gepredigt und uns genau dahin gebracht haben, wo wir
jetzt sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur
um Strukturen, sondern es geht auch um Inhalte. Ein derartiger Ausschuss braucht klare politische Leitlinien, die
bisher nicht vorgesehen sind. Das vielleicht wichtigste
Leitbild dafür müsste aus unserer Sicht sein: Lieber ein
paar Regulierungen zu viel und dafür ein paar Prozente
weniger bei den Bankrenditen als umgekehrt. Die neue
Losung muss deshalb heißen: In dubio contra Casino.
Danke schön.
({3})
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man könnte an den Vorschlag anknüpfen und tatsächlich
eine kritische Anhörung mit den Ratingagenturen durchführen und sie wie Angeklagte behandeln. Aber derzeit
sitzt jemand anderes auf der Bank. Es geht nämlich um
das Gesetz, das Sie vorlegen.
Zuerst hatte ich ein anderes Bild vor Augen. Wenn
man Unternehmen besucht, dann stellt sich bezüglich
des Endprodukts die Frage: Was haben sie für eine Fertigungstiefe? Es gibt Unternehmen, die weitgehend vorgefertigte Produkte einkaufen. Sie bringen dann noch zwei
Schrauben an, aber das Produkt sieht so aus, als hätten
sie sehr viel selbst gemacht. Andere Unternehmen haben
eine höhere Fertigungstiefe. Handelsunternehmen haben eine Fertigungstiefe von null, weil sie im Wesentlichen Produkte ein- und verkaufen und lediglich ein bisschen Werbung machen.
Der vorliegende Gesetzentwurf hat eine sehr geringe
Fertigungstiefe, sie liegt quasi bei null. Sie führen eine
große Debatte über eine Sache, zu deren Klärung Sie de
facto nichts Entscheidendes beigetragen haben. Vielmehr haben wir es mit einer EU-Verordnung zu tun, die
so umgesetzt werden muss, wie es auf europäischer
Ebene entschieden worden ist.
({0})
Es handelt sich hierbei um einen Zwischenschritt, mit
dem die Zeit überbrückt werden soll, bis eine europäische Aufsicht die eigentliche Aufgabe wahrnehmen
kann. Darüber gibt es jetzt eine große Debatte.
Man muss feststellen: Sie lenken davon ab, dass bei
vielen Fragen überhaupt nicht klar ist, wohin die Reise
gehen soll. Mit diesem Gesetzentwurf wird vollzogen,
was der europäische Gesetzgeber vorgegeben hat. Für
unsere Debatte wäre es wichtig, zu klären, welches die
nächsten Schritte sind. Darauf werde ich gleich noch
eingehen.
({1})
- Hören Sie erst einmal zu.
Die europäische Verordnung sieht wichtige Schritte
vor. Interessenkonflikte sollen in Zukunft vermieden
werden, zum einen durch den Ansatz der Transparenz
- das heißt, sie sollen offengelegt werden -, zum anderen dadurch, dass man Beratung und Rating voneinander
trennt. Das sind wichtige Lehren, die man aus der derzeitigen Krise - und auch schon aus früheren Krisen - gezogen hat.
Die Frage ist aber: Wie gehen wir an die drei Hauptprobleme dieses Marktes heran? Diese Frage stellt sich
auch in der Zukunft; denn die Umsetzung der vorliegenden Verordnung reicht zur Beantwortung nicht aus. In
dieser Debatte habe ich bisher von den Vertretern der
Koalition über die weiteren Schritte noch nichts gehört.
Darüber müssen wir aber diskutieren.
({2})
Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen. Der
erste Punkt ist die Ankündigung der Bundeskanzlerin
aus einer Berichterstattung vom Juni 2008: „Merkel fordert eigene Ratingagentur für Europa“. Herr Staatssekretär, es würde mich interessieren - auch wenn Sie gerade
mit Kollegen der FDP diskutieren müssen; ich weiß ja,
es gibt noch einige Dinge zu diskutieren, vielleicht hören
Sie trotzdem zu -: Wie weit ist man eigentlich gekommen? Die Bundesregierung hat es schon damals unter
der Leitung von Kanzlerin Merkel in den G-8-Gipfel
eingebracht. Zumindest ist es damals angekündigt worden. Haben wir entscheidende Entwicklungen zu verzeichnen? Wird das von der Bundesregierung vorangetrieben? Wir haben davon nichts gehört. Vielleicht
können Sie nachher etwas dazu sagen, Herr Flosbach.
Das zentrale Problem dieser Marktmacht ist, dass es
drei Akteure gibt, die zudem nicht im europäischen
Raum angesiedelt sind. Wir müssen überlegen, ob wir
dem etwas entgegensetzen können, etwa eine öffentlichrechtliche Agentur - wie die Grünen das vorschlagen -,
die einen anderen Modus hat. Der damalige Vorschlag
war gut. Ich möchte von dieser Bundesregierung aber
nicht nur Ankündigungen hören, sondern auch Ergebnisse sehen. Darüber haben Sie nichts gesagt. Da muss
es weitergehen.
({3})
Das zweite zentrale Problem ist, dass wir in diesem
Markt keine Möglichkeit haben, eine Haftung für falsche
Ratings durchzusetzen, sonst wären die Ratingagenturen
für den großen Schaden herangezogen worden, den sie
angerichtet haben. Das funktioniert aber nicht. Das
heißt, wir haben an dieser Stelle grundlegende Fragen zu
klären, die sich mit der jetzigen Verordnung nicht beantworten lassen. Eine Frage ist sehr wichtig - auch Herr
Koschyk hat diesen Punkt angesprochen -: Wie können
wir die Marktmacht der Ratingagenturen reduzieren? Ich
möchte auch wissen: Wie wollen Sie das erreichen?
({4})
- Entschuldigung, zu dem, was da stattfindet, haben Sie
bisher nichts vorgelegt.
({5})
Das ist aber das Entscheidende. Sie müssen jetzt
schauen, wie wir zu Veränderungen kommen können.
Was halten Sie davon, dass die Europäische Zentralbank immer noch die Ratings dieser Agenturen als Kriterium heranzieht,
({6})
wenn es darum geht, welche Wertpapiere von der Europäischen Zentralbank akzeptiert werden und welche
nicht? Genau das stärkt doch die Marktmacht, die Sie
beklagt haben. Also muss da an ein paar Stellen herangegangen werden. Wie machen wir das mit der Bankenregulierung? Wie können wir die Bedeutung der Ratingagenturen herunterfahren und ihre Marktmacht reduzieren? Das sind die entscheidenden Fragen. Über genau
diese Aufgaben müssen wir als Parlament jetzt diskutieren und unsere Debattenzeit nicht im Wesentlichen dafür
verwenden, über eine Verordnung zu reden, die wir umsetzen müssen und bei der der Spielraum des deutschen
Gesetzgebers relativ begrenzt ist.
({7})
- In den entscheidenden Debattenbeiträgen ging es genau darum. Herr Schäffler, Sie können Ihre Sicht nachher darlegen. Ich bin sehr gespannt darauf.
Zum Schluss möchte ich noch eine Sache ansprechen,
die jetzt gerade aktuell ist. Wir stehen vor den nächsten
Fragen der Regulierung. Jetzt gibt es eine interessante
Diskussion darüber, was wir mit den Credit Default
Swaps machen. Ich möchte das hier noch einmal ansprechen. Auf der einen Seite befinden sich wolkige Ankündigungen des Bundesfinanzministers in der Diskussion
- im Finanzausschuss konnten Sie mir nicht sagen, was
damit konkret gemeint ist -, auf der anderen Seite sagt
Herr Poß für die SPD-Fraktion, es sei höchste Zeit dafür,
man hätte das schon lange machen müssen, obwohl die
SPD noch vor wenigen Monaten den Finanzminister gestellt hat und etwas hätte tun können.
({8})
Ich möchte, dass wir eine seriöse Debatte über die Finanzmarktregulierung führen und hier konkrete Vorschläge auf den Tisch kommen. Ich möchte, dass die Debattenzeit künftig für die Fragen, die entscheidend sind,
verwendet wird und nicht für etwas, bei dem wir als nationaler Gesetzgeber wenig Spielraum haben.
({9})
Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jeder von uns weiß, dass es nicht das Allheilmittel gibt,
was die Finanzkrise betrifft.
({0})
Wir wissen, dass ein Bündel von Maßnahmen ergriffen
werden muss, nicht nur, um die jetzige Krise erst einmal
in den Griff zu bekommen, sondern vor allen Dingen,
um dafür zu sorgen - das ist unser politischer Auftrag -,
dass eine solche Krise nicht noch einmal passiert.
({1})
Es geht nicht nur um die Frage von mehr Kontrolle,
sondern vor allem um die Frage einer besseren Kontrolle.
({2})
Dazu gehört auch die vorliegende EU-Ratingverordnung, die der Parlamentarische Staatssekretär, Herr
Koschyk, gerade vorgestellt hat.
Wir alle wissen: Die Krise ist in den USA entstanden.
Es gab billiges Geld. Im Grunde konnte jeder ein Haus
bauen. Diese Kredite sind mit anderen Produkten zusammengepackt, verbrieft und weltweit gehandelt worden.
Das haben nicht nur private Banken, sondern vor allen
Dingen auch öffentlich-rechtliche Banken getan. Die
Folgen erleben wir bei den Landesbanken.
Die Frage, wer diese Papiere bewertet, ist schon angesprochen worden. Natürlich gibt es die Vorgabe, dass
Ratingagenturen sie bewerten müssen. Aber warum haben die deutschen Banken auf eine eigene Bewertung
verzichtet? Der Vorwurf an die deutschen Banken ist,
dass man Risiken eingegangen ist, die man selbst nicht
bewertet hat.
({3})
Die Frage ist, ob man sich allein auf Ratingagenturen
verlassen kann und verlassen darf. Die Ratingagenturen
- das haben einige Kollegen schon deutlich gemacht haben diese risikoreichen Kreditpakete und damit letztendlich die Finanzkrise um die ganze Welt getragen. Sie
haben diese Pakete viel zu lange zu gut bewertet, selbst
dann noch, als die Krise sich bereits zugespitzt hatte.
Deswegen wollen wir mit diesem Ausführungsgesetz
zur EU-Ratingverordnung jetzt Regeln fixieren. Wir
wollen Mindeststandards für die Risikobewertung. Wir
wollen Mindeststandards für die Vergabe von Bonitätsurteilen, und - auch das ist wichtig und bereits gesagt
worden - wir wollen Sanktionsmöglichkeiten, wenn
diese nicht eingehalten werden. Aber wir wollen nicht,
dass Ratingagenturen zugleich Finanzprodukte entwickeln, Finanzprodukte vertreiben und Finanzprodukte
bewerten. Wir müssen diese Interessenkonflikte beseitigen. Meines Erachtens ist es unsere Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass diese Interessenkonflikte erst gar nicht entstehen.
({4})
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht:
Wir wollen keinen Finanzmarkt, wir wollen keine Finanzmarktprodukte und wir wollen keine Finanzmarktakteure wie die Ratingagenturen, der bzw. die
nicht reguliert und nicht beaufsichtigt werden.
({5})
Es ist auch angesprochen worden, dass wir ein Oligopol bestehend aus drei großen Ratingagenturen haben.
Der Auftrag, hier für mehr Markt und mehr Wettbewerb
zu sorgen, richtet sich nicht nur an die Politik. Die soziale Marktwirtschaft funktioniert eben nur, wenn es
viele Ratingagenturen gibt, die im Wettbewerb miteinander stehen. Wir können nicht zulassen, dass im Grunde
drei angloamerikanische Ratingagenturen den Markt beherrschen.
Es geht aber nicht nur um die Ratingagenturen, sondern es geht auch um viele andere Einzelfragen, die mit
der Finanzkrise verbunden sind und die wir beantworten
müssen. Es geht um die Frage des Eigenkapitals bei
Banken. Es geht um Transparenz. Es geht um Vergütungssysteme. Es geht um Verantwortlichkeiten von Vorstand und Aufsichtsrat. Es geht auch um die Frage der
Beteiligung der Finanzinstitute an den Kosten der Krise.
Für uns heute geht es bei den Vorschlägen aus Europa
aber auch um die Frage: Wie gestalten wir die Aufsicht?
Es ist ein Phänomen in Deutschland: Je kleiner die
Finanzinstitute sind, desto besser werden sie beaufsichtigt. Unsere Gespräche gerade mit Volksbanken und
Sparkassen zeigen immer wieder, dass die kleinen Banken besonders intensiv beaufsichtigt werden. Die Krise
ist aber nicht bei den kleinen Banken entstanden, sondern eher bei den größeren und bei denjenigen, die sehr
stark miteinander verflochten sind. Es sind also die Verflechtungen untereinander, die zu großen Problemen geführt haben. Auch die Deutsche Industriebank, die IKB,
ist ja keiner der großen Spieler, es ist eher ein mittleres
Finanzinstitut, das durch seine starke Verflechtung systemrelevant wurde. Unser Schutzschirm wurde gebildet,
weil wir eben nicht die Banken in erster Linie absichern
wollten, sondern die Bürger und auch die Gläubiger.
Aufgrund dieser Notwendigkeit haben wir den Schutzschirm gebildet.
({6})
Die Aufgabe jetzt lautet, dass wir und auch die Aufsicht die gegenseitigen Abhängigkeiten erkennen. Es
kann nicht sein, dass die Finanzinstitute international
operieren, aber die Aufsichtsbehörden nur national
orientiert sind. Deshalb unterstützen wir seitens der
Union die Einrichtung eines Europäischen Finanzaufsichtssystems. Es geht einerseits um Aufsichten unmittelbar für Banken und für Versicherungen mit Blick auf
die betriebliche Altersvorsorge oder Wertpapiere. Es
geht andererseits - das ist meines Erachtens das wichtigere Thema - um den Europäischen Rat für Systemrisiken bei der Europäischen Zentralbank. Es besteht die
Aufgabe, die Stabilität des Finanzsystems laufend zu
analysieren.
Ich selbst kritisiere die Zusammensetzung dieses Gremiums. Es ist meines Erachtens zu stark bankenorientiert. Jeweils die Gouverneure der Zentralbanken und
einige weitere Banker sind darin. Die Versicherungsbranche ist in diesem Gremium unterrepräsentiert, obwohl ihre Bedeutung mit derjenigen der ganz großen
Finanzinstitute zu vergleichen ist. Auch die Verbindung
der Banken zu den Versicherungen ist sehr intensiv: über
das Eigenkapital, über Hybridkapital oder Tier-1, wie
wir es nennen, über das haftende Kapital bei den Banken. Deswegen sollten hier noch einige Änderungen erfolgen.
({7})
Wichtig ist in diesem Bereich, dass kooperiert wird.
Herr Zöllmer, Sie haben es angesprochen, Sie haben einen stärkeren Durchgriff der europäischen Behörde unmittelbar auf deutsche Finanzinstitute gefordert. Ich
halte das für sehr problematisch. Auch der Bundesrat hat
deutlich gemacht, dass er hier keine Rechtsgrundlage
sieht. Vor allen Dingen sehen wir Probleme, wenn ein
europäisches Institut ohne die nationale Aufsicht unmittelbar in die Institute hinein regiert. Davon können deutsche Interessen unmittelbar betroffen sein. Vor allen
Dingen können auch Haushaltsrisiken entstehen, die wir
als nationales Parlament so nicht akzeptieren können.
({8})
Deswegen werden wir selbstverständlich noch über dieses Thema diskutieren. Aber hier gibt es meines Erachtens eine große Einigkeit mit den Bundesländern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für ein funktionierendes Gemeinwesen ist die Stabilität des Finanzsystems
lebensnotwendig. Der Europäische Rat für SystemrisiKlaus-Peter Flosbach
ken ist ein weiterer Schritt. Wir brauchen aber noch zusätzliche Schritte, insbesondere in Richtung der G 20.
Eigentlich sind international gleiche Regeln notwendig.
Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen global orientierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen, der nicht
nur den Bedürfnissen der Wirtschaft, sondern vor allen
Dingen den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger
dieses Landes dient.
Ich danke Ihnen.
({9})
Jetzt hat der Kollege Frank Schäffler für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Schick, Sie machen es sich hier
in der Diskussion natürlich sehr einfach. Sie greifen sich
bei einem Tagesordnungspunkt, unter dem wir acht einzelne Punkte diskutieren, einen Punkt heraus und sagen,
wir würden nichts machen oder sprächen hier nur über
eine ganz kleine Nummer.
({0})
Mit ein bisschen Ehrlichkeit müssten Sie in der Diskussion auch einräumen, dass wir unter diesem Tagesordnungspunkt sehr grundsätzliche Dinge diskutieren,
nämlich über die Frage, wie wir ein europäisches Aufsichtsregime organisieren wollen.
({1})
Eine der zentralen Lehren aus der Finanzkrise ist,
dass wir es in der Vergangenheit nicht geschafft haben,
grenzüberschreitend tätige Institute einigermaßen vernünftig zu regulieren.
({2})
Dieser Ansatz steckt dahinter. Die Frage der Ratingagenturen ist nur eine von vielen Fragen.
Dass in einem oligopolistischen Markt noch stärker
reguliert werden muss, halte ich für absolut richtig. Über
die zentrale Frage, um die es hier geht, ist heute leider
noch nicht gesprochen worden. Diese Frage lautet nämlich: Wer bezahlt die Musik? Was passiert, wenn ein
grenzüberschreitend tätiges Institut in Schieflage gerät?
Wer trägt am Ende die in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten?
Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen
im Europäischen Ausschuss für Systemrisiken Mehrheitsentscheidungen getroffen werden. Dazu stelle ich
fest: Wer die Aufgabenverantwortung und die Kostenverantwortung trennt, wird der ganzen Sache nicht gerecht. Ich möchte nicht, dass eine Mehrheit in diesem
Gremium darüber entscheidet, was wir im Deutschen
Bundestag am Ende haushaltstechnisch verarbeiten müssen. Das entspricht nicht meiner Vorstellung unseres
Umgangs mit diesem Problem.
({3})
Lassen Sie mich das Ganze deswegen auch noch einmal in Zahlen kleiden. Im Rahmen des SoFFin haben
wir inzwischen, wie ich den Zeitungen entnommen habe,
Hilfen in Höhe von 28 Milliarden Euro direkt ausgekehrt. Hier geht es also nicht um kleine Zahlen, sondern
um ganz entscheidende Größenordnungen. Auf europäischer Ebene sind mittlerweile 212 Milliarden Euro an
Hilfen ausgezahlt worden. Es kommt schon sehr darauf
an, welches Mitgliedsland das am Ende bezahlen wird.
Deshalb ist es ein ganz entscheidender Punkt - da kann
ich die Bundesregierung nur unterstützen -, dass wir dabei mitreden wollen und dass hier keine Entscheidung in
irgendeinem Hinterzimmer getroffen wird.
({4})
Meines Erachtens ist das neben der Frage, wie wir die
Bankenaufsicht oder die Finanzaufsicht in Deutschland
organisieren, die zweite Seite derselben Medaille. Wir
müssen die Bankenaufsicht in Deutschland neu sortieren
und neu organisieren, weil sie in der Krise bewiesen hat,
dass sie nicht funktioniert hat. Keine einzige Schieflage
in Deutschland wurde durch die deutsche Bankenaufsicht festgestellt.
Deshalb müssen wir erstens zu einer einteiligen Bankenaufsicht zurückkommen. Was Rot-Grün mit der
Zweiteilung der Bankenaufsicht in Deutschland geschaffen hat, hat in der Krise eklatant versagt. Jetzt müssen
endlich die Konsequenzen gezogen und die Weichen
entsprechend gestellt werden.
({5})
Zweitens müssen wir klare Regeln aufstellen; denn
derjenige, der hier im Bundestag über Finanzhilfen zu
entscheiden hat, muss am Ende auch die Kostenverantwortung gegenüber dem Wähler übernehmen und seine
Entscheidung begründen. Deshalb finde ich es richtig,
der Bundesregierung mit auf den Weg zu geben, dass sie
auch die Interessen des deutschen Steuerzahlers in Brüssel vertreten soll.
Vielen Dank.
({6})
Jetzt hat der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen!
Eine bessere Beaufsichtigung der grenzübergreifenden Finanzmärkte ist aus ethischen wie ökonomischen Gründen unverzichtbar.
So hat es José Manuel Barroso bei der Vorlage des Entwurfs zur europäischen Finanzaufsicht im September
des vergangenen Jahres gesagt. Ich glaube, er hat recht.
Das ist eine wichtige Aufgabe unserer Zeit. Herr
Dr. Schick, es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir uns
auch im Deutschen Bundestag mit dem Thema der europäischen Finanzaufsicht befassen, weil dies eines der herausragenden Themen ist. Sie haben gerade allerdings
gesagt, mit Themen, bei denen man nicht viel mitreden
kann, sollte man sich im Bundestag nicht befassen. Ich
denke, dass das nicht richtig ist.
({0})
Die Vorschläge der Kommission beruhen auf dem
Larosière-Bericht und sollen dazu beitragen, in der Europäischen Union Vertrauen wiederherzustellen, künftigen Krisen vorzubeugen und Wachstum und Beschäftigung zu sichern. Barroso stellte fest:
Das … System wird der EU und ihren Mitgliedstaaten dabei helfen, sowohl Problemen bei grenzübergreifend tätigen Unternehmen als auch der Akkumulierung von Risiken im Finanzsystem insgesamt
entgegenzuwirken.
Die jetzige Organisation der Finanzaufsicht in der EU
zeigt ein Missverhältnis zwischen dem Niveau der Integration der europäischen Finanzmärkte und der nationalen Organisation der Aufsichtspflichten auf. Die aktuelle
Diskussion über Griechenland und die möglichen Auswirkungen auf die gesamte Eurozone sind ein Beispiel
für die starken Vernetzungen und Verflechtungen gerade
im Finanzbereich unserer globalen Welt.
Im Grunde haben wir zwei Möglichkeiten, wie
Jacques de Larosière aufzeigt: entweder jeder für sich im
Alleingang auf Kosten der anderen oder eine verstärkte,
pragmatische und vernünftige Zusammenarbeit in Europa zugunsten aller, um eine offene Weltwirtschaft zu
erhalten.
({1})
Er hat recht. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Man
kann sich über die Intensität der Durchgriffsrechte, die
Festlegung der technischen Standards oder die Betroffenheit der nationalen Haushalte bei Entscheidungen
streiten. Aber es muss klar sein, dass wir schnell eine europäische Finanzaufsichtsstruktur brauchen, um das zu
verhindern, was uns in den letzten beiden Jahren in eine
tiefe Krise gestürzt hat.
({2})
Die Kommission plädierte von Beginn an für ein Aufsichtssystem, bei dem die Kontrolle auf EU-Ebene verstärkt wird, die nationalen Aufsichtsbehörden aber ihre
Schlüsselstellung behalten sollten. Die Zweiteilung des
vorgeschlagenen Finanzaufsichtssystems beruht auf den
Erfahrungen aus der aktuellen Situation.
In Bezug auf die Aufsicht auf Mikroebene hat die EU
die Grenzen dessen erreicht, was sie mit den derzeit die
EU beratenden Ausschüssen der Aufsichtsbehörden erzielen kann. Der europäische Binnenmarkt braucht einen
Mechanismus, der gewährleistet, dass die nationalen
Aufsichtsbehörden die bestmöglichen Entscheidungen
für grenzübergreifend tätige Finanzgruppen treffen können.
Wie im Rahmen der G 20 und in den USA muss auch
in der EU eine Aufsicht auf Makroebene geschaffen
werden, welche für die Erkennung von Risiken für die
Finanzstabilität in Europa verantwortlich ist und die gegebenenfalls auch eingreifend tätig werden kann. Der
zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im
Ecofin gefundene Kompromiss stellt einen guten Weg
für eine ausgewogene und differenzierte europäische Finanzaufsicht dar.
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, kurz die
Punkte zu nennen, die von den Ecofin-Ministern inhaltlich geändert wurden und die aus meiner Sicht zu begrüßen sind: Die direkten Weisungsbefugnisse der EU-Aufsichtsbehörden gegenüber nationalen Finanzinstituten,
die sogenannten Durchgriffsrechte, wurden entschärft,
ebenso die Weisungsbefugnisse der EU-Behörden gegenüber den nationalen Aufsichtsbehörden, insbesondere das
Weisungsrecht in Krisenfällen. Außerdem wurde die
Ausgestaltung der sogenannten Schutzklausel zur Sicherung der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten - ein
ganz wesentlicher Punkt - modifiziert.
Es ist hervorzuheben, dass alle Mitgliedstaaten - die
ja insbesondere in einer Krisensituation ihre Situation
am besten einschätzen können - die Möglichkeit zum
Widerspruch erhalten. In einer vernetzten Europäischen
Union werden solche Krisen, denke ich, sicherlich anders bewältigt werden, als es bisher der Fall war.
({3})
Gerade einem Element unserer sozialen Marktwirtschaft, dem Subsidiaritätsprinzip - dass derjenige die
Dinge regelt, der sie am effektivsten regeln kann -, wird
durch den Kompromiss, der zwischen den europäischen
Staaten und der Europäischen Kommission ausgehandelt
wurde, Rechnung getragen.
({4})
Gerade Deutschland ist interessiert an einer starken
europäischen Finanzaufsicht. Deswegen steht im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition ein klares
Bekenntnis zu einer europäischen Finanzaufsicht:
Wir sind uns bewusst, dass es einer grundlegenden
Neuordnung des Finanzsystems bedarf, die insbesondere die Schaffung einer einheitlichen EU-weiten Bankenaufsicht umfasst.
Bei der heutigen Diskussion muss uns klar sein, dass wir
auch die nationale Bankenaufsicht modifizieren müssen.
Die Europaparlamentarier sprechen bei dem uns vorliegenden Kompromiss von einer Verwässerung des ursprünglichen Vorschlages der Kommission. Herr Troost,
ich glaube, Sie haben das vorhin auch so gesagt. Wir diskutieren heute über das in Europa Realisierbare; das ist
doch das Wichtige. Wir brauchen eine europäische Finanzaufsicht, und zwar schnell.
Sie haben recht in Ihrer Kritik hinsichtlich der Setzung technischer Standards; die Parlamente müssen hier
ein Mitspracherecht haben. Sie haben aber nicht recht,
wenn es um die Entscheidungsstrukturen zwischen der
Europäischen Union und den Mitgliedstaaten geht.
({5})
Bundesfinanzminister Schäuble sieht in der vorliegenden Ausgestaltung eine Struktur für eine leistungsfähige EU-Finanzaufsicht. Er hat recht.
Zum Schluss möchte ich Jacques de Larosière zitieren: Nicht die Vision, sondern Europas Realität muss die
Reform leiten - um sich auf diesem Weg der Vision anzupassen. Larosière hat recht: Wir müssen schnell eine
europäische Finanzaufsicht errichten. Wir brauchen eine
europäische Struktur des Finanzmarktes; denn es darf
nicht noch einmal zu einer Krise kommen wie der, die
wir erlebt haben. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/716 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 17/509 zu sieben Unterrichtungen durch die Bundesregierung über die Schaffung
eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken und
zur Schaffung eines europäischen Aufsichtsnetzes zur
Errichtung von drei EU-Aufsichtsbehörden für den Banken-, Versicherungs- und Wertpapierbereich.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchstaben a bis g seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur Kenntnis zu nehmen und die Bundesregierung
zu bitten, mit der Berichterstattung fortzufahren. Ich
gehe davon aus, dass wir über die Buchstaben a bis g der
Beschlussempfehlung gemeinsam abstimmen können. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so zu verfahren.
Wer stimmt der Beschlussempfehlung des Ausschusses zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit
ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung durch die CDU/CSU, die FDP, die SPD und die
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen gab es offensichtlich
nicht.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
sichern - Deutschland braucht eine moderne
Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinanzierung
- Drucksache 17/782 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem
Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das
Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir haben heute einen Antrag der sozialdemokratischen Fraktion zum Erhalt und zum Ausbau der
Verkehrsinfrastruktur zu debattieren, die wir, so ist jedenfalls unsere Haltung, durch eine auskömmliche Finanzierung durch den Haushalt der Bundesrepublik
Deutschland dringend sichern müssen.
Wir fordern die Bundesregierung mit diesem Antrag
heute auf, im Jahre 2010 eine Zukunftsstrategie zur Sicherung dieser Infrastrukturfinanzierung vorzulegen,
wobei der Fokus unserer Meinung nach insbesondere auf
die finanzielle Absicherung umweltfreundlicher Verkehrsträger - dazu zählen wir auch die Schiene - zu legen ist. Wir wollen den ansteigenden finanziellen Bedarf
beim Erhalt und bei der Instandhaltung der vorhandenen
Verkehrswege angemessen berücksichtigt wissen, und
wir fordern auch, dass Parameter entwickelt werden, mit
denen der Zustand der Straße klar und transparent wiedergegeben und damit letztendlich auch der Investitionsbedarf bemessen wird.
Wir legen Wert darauf, dass Prioritäten beim Ausbau
von Verkehrsknotenpunkten, bei den Hafenhinterlandanbindungen und bei den Hauptverkehrsachsen gelegt werden, wir legen Wert darauf, dass beachtet wird, dass die
Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger sozialverträglich und bezahlbar bleiben muss, und wir legen großen
Wert darauf, dass die Bürger vor den negativen Auswirkungen des Verkehrs - insbesondere vor dem Lärm - geschützt werden.
({0})
Wir werden die Debatte über diese Themen ungeachtet der verschiedenen Diskussionen in diesem Hause
wiederholt führen, weil bei uns das Gefühl entstanden
ist, dass aus diesem Ministerium in den letzten 110 Tagen nur wenig dazu gekommen ist.
({1})
Das Ministerium lebt eigentlich von der Substanz der
letzten Legislaturperiode und von einem auskömmlichen
Haushalt für 2010, es macht aber kaum erkennbare Anstrengungen, auch die Finanzierung für das Haushaltsjahr 2011 auf ähnlichem Niveau zu halten.
Unsere Befürchtung ist, dass hier - man kann das
heute auch lesen - letztendlich suboptimal finanziert
wird. Der Minister hat heute einer Pressenotiz zufolge
ausgeführt, dass er lediglich 10 Milliarden Euro fordern
will, obwohl im Grunde mindestens 11 Milliarden Euro
notwendig sind. Durch die Konjunkturprogramme liegen
wir zurzeit noch bei fast 12 Milliarden Euro.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten Wochen und Monaten sowohl vom Minister
als auch von den Staatssekretären wiederholt Äußerungen und Ankündigungen dazu gehört, was sie alles tun
wollen. Ich habe gestern im Verkehrsausschuss bei der
Debatte über die Verkehrspolitik teilweise mit Staunen
zur Kenntnis genommen, mit welcher Fröhlichkeit der
Minister über all diese Projekte redet und sagt: Das, was
da war, war nicht so gemeint, das haben irgendwelche
Journalisten hervorgezaubert; die haben herumfabuliert.
- Das hat mich geärgert.
({2})
Darum habe ich mich heute Morgen einmal hingesetzt, und überlegt, was die Ursache dafür ist, dass wir
immer wieder diese Ankündigungen und irritierenden
öffentlichen Äußerungen zu hören bekommen.
({3})
Unser erstes Lieblingsthema ist das sogenannte Aufbauprogramm West. Der Minister sagt: Das ist eine unausrottbare Mär. Das habe er so nicht gesagt.
({4})
Das stimmt: „Aufbauprogramm West“ hat er nicht gesagt. Aber er hat von einem Aufholprogramm West gesprochen, wodurch klar wird, dass damit genau dasselbe
wie mit dem Aufbauprogramm West gemeint ist.
Das alles können Sie nachlesen - das empfehle ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion -, und zwar unter www.bmvbs.de; Presse/
Reden & Interviews.
Seine Parlamentarischen Staatssekretäre bemühen
sich schon seit Wochen, das wieder einzufangen, indem
sie sagen, dass sie keine Investitionspolitik nach Himmelrichtungen machen, sondern nach Bedarf.
({5})
Das ist wunderbar. Der springende Punkt ist nur, dass
man so etwas nicht zu Beginn einer Amtsperiode ausplaudern darf.
Das zweite Lieblingsthema ist das Denkverbot bei der
Pkw-Maut. In den letzten Wochen und Monaten haben
wir einiges zu diesem Thema lesen müssen, weil es auch
dabei um Investitionen und um die Frage geht, wie wir
die Infrastrukturmaßnahmen in den nächsten Jahren finanzieren wollen. In der Passauer Neuen Presse war im
November zu lesen:
Die Diskussion ist noch am Anfang … Wir wollen,
dass alle Handlungsoptionen auf den Tisch kommen und geprüft werden. Dafür werden wir in
Kürze eine Expertenkommission einsetzen.
Er, der Minister, wisse, dass es in Bayern eine überwältigende Mehrheit für die Einführung einer Pkw-Maut gibt.
Dann beginnt das Zurückrudern von Ramsauer. Jetzt
gibt es ein neues Interview im Bonner Generalanzeiger
vom 10. Februar, das ebenfalls auf der genannten Internetseite des Ministeriums zu finden ist. Darin heißt es:
Es gibt keinen aktiven Umsetzungsauftrag für eine PkwMaut. Was heißt denn das? Gibt es einen passiven Umsetzungsauftrag? Auch das, was wir dort lesen, ist irritierend.
Dann sagt der Minister weiter, in seinem Ministerium
gebe es keine Denkverbote. Nachdenken ist geradezu erwünscht. Was heißt denn das? Was signalisiert das?
({6})
Ein paar Zeilen weiter heißt es in demselben Artikel,
dass die Damen und Herren der Grundsatzabteilung
mehr oder weniger aufgefordert werden, nach neuen
Einnahmequellen zu suchen. Sie werden auch nach den
neuen Finanzierungsquellen gefragt, Herr Minister. Die
Antwort darauf lautet - ich zitiere -:
Ich habe meine Fachleute beauftragt, neue Finanzierungsoptionen zu entwickeln.
({7})
Ein Beispiel: Mit unseren ersten öffentlich-privaten
Partnerschaften haben wir gute Erfahrungen gemacht. Es wird schneller gebaut, und die Straßen
werden wirtschaftlich betrieben und unterhalten.
Wir gehen deshalb jetzt eine zweite Tranche mit
acht Projekten an. Unser Ziel ist es, noch mehr privates Kapital zu mobilisieren.
Das ist die Finanzierungsoption. Die Verkehrspolitiker wissen, dass das keine Finanzierungsoption ist. Denn
alles, was bei privaten Unternehmen bestellt wird, muss
anschließend mit öffentlichen Mitteln bezahlt werden.
Das sind entweder Mauteinnahmen, die wir für die
nächsten 30 Jahre abtreten - dann fehlen sie direkt in unserer Kasse -, oder Haushaltsmittel, die zugeführt werden. Auch das ist keine Hilfe für das, was Sie glauben,
damit bewirken zu können. Auch hierauf haben Sie bis
zum heutigen Tage keine vernünftige Antwort gefunden.
Das dritte Lieblingsthema ist das Schienenausbauprogramm. Gestern haben Sie gesagt, ein solches Schienenausbauprogramm hätten irgendwelche Journalisten fabuliert. Ich habe mir ein Interview des Ministers in der
Süddeutschen Zeitung vom 24. Dezember 2009 aus derselben Quelle unter www.bmbvs.de herausgesucht. Darin heißt es:
Wer die Globalisierung will, braucht dafür auch die
Verkehrswege.
So weit Peter Ramsauer über den nötigen Ausbau des
Schienennetzes und die Chancen einer Pkw-Maut.
({8})
Deutschland braucht neue Schienentrassen, findet der
Bundesverkehrsminister. - Das ist richtig. - Denn nur so
ließen sich die riesigen Gütermengen transportieren, die
in den nächsten Jahrzehnten auf das Land zurollen. Doch
Bauvorhaben stießen oftmals auf Widerstände.
Auch hier wird suggeriert, dass wir ein neues Schienenausbauprogramm bekommen. In einem Interview in
Transaktuell vom 12. Februar dieses Jahres sagen Sie
über sich selbst, Sie seien ein „Überraschungsminister“.
Mit Ihrer 100-Tage-Bilanz seien Sie absolut zufrieden.
Das Problem ist nur, dass Sie als Überraschungsminister
tatsächlich für Überraschungen sorgen.
({9})
Sie kündigen gerne neue Projekte an. Wie sieht es mit
dem Schienenausbau aus? Was ist mit den Lärmschutzmaßnahmen? Was wird aus dem Schienenbonus? Alles
Fehlanzeige! Der Schienenausbau ist nicht finanziert.
Ich habe Sie im Ausschuss nach einem verkehrspolitischen Fahrplan gefragt. Auch hier Fehlanzeige.
({10})
Sie erklären die 500-Millionen-Euro-Rückzahlung
der Mautmittel zu einer Fußnotenproblematik für den
Haushalt des Bundesverkehrsministers. Im Gegensatz zu
uns haben Sie die Finanzierungskreisläufe für die Straße
akzeptiert. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben Sie uns
noch nicht erklären können, wie Sie die jeweilige
Deckungsquote von 30 Prozent für den Ausbau der
Schiene und von 12 Prozent für den Ausbau der Wasserstraßen aus den Mauteinnahmen finanzieren wollen.
({11})
All das zeigt: Dieses Ressort ist zum jetzigen Zeitpunkt absolut planungslos. Es hat keinen Kompass in der
Frage: Wie finanziere ich die Infrastruktur in Deutschland? Aus diesem Grunde ist es absolut notwendig, dass
Sie heute dem sozialdemokratischen Antrag hinsichtlich
einer Zukunftsstrategie für die Infrastrukturinvestitionen
zustimmen.
({12})
- Gnädige Frau, Sie selbst haben als Mitglied der Koalition im Verkehrsausschuss vor gar nicht allzu langer Zeit
bei den Haushaltsdebatten einen kleinen kurzen Antrag
mitbeschlossen, der danach ziemlich schnell wieder in
der Versenkung verschwand. Ich hoffe, dass Sie sich daran erinnern werden. Ich habe ihn bei mir. Sie werden
dazu noch Stellung nehmen können. Auch da zeigt sich
im Grunde bei der Koalition die Enttäuschung in ihren
eigenen Reihen, dass dieses Haus zurzeit nichts zustande
bekommt. Ich kann Sie nur bitten: Unterstützen Sie den
Minister bei der Frage einer deutlichen Verbesserung der
Finanzierung der Infrastruktur in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({13})
Jetzt hat das Wort der Kollege Reinhold Sendker für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um die Voraussetzungen für Wachstum und
Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu gewährleisten,
haben CDU/CSU und FDP im Verkehrsausschuss Anfang Februar im Rahmen der Etatberatung einen Antrag
vorgelegt, um eine bedarfsgerechte Ausstattung des Einzelplanes 12 im Bundeshaushalt, vor allem im Hinblick
auf zukünftige Haushalte, zu erreichen.
Der Substanzerhalt, ganz besonders nach diesem
strengen Winter, sowie auch Aus- und Neubau von Verkehrsinfrastruktur dürfen nicht hinter den bedarfsgerechten Erfordernissen zurückbleiben.
({0})
Mit diesem zielführenden Antrag wollen wir das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beauftragen, ein zukunftsweisendes, nachhaltiges Gesamtkonzept für eine auskömmliche Finanzierung zu erarbeiten. Dieser Antrag wurde so im Ausschuss Anfang
Februar mit Mehrheit beschlossen. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, haben Sie bei
all Ihren Gefühlen keine Sorge: Die von Ihnen geforderte Zukunftsstrategie ist bereits durch den Antrag der
Koalitionsfraktionen im Fachausschuss beschlossen. Ich
nenne das eine vorausschauende und verantwortliche
Politik. Genau dafür steht diese Koalition.
({1})
Sie haben unseren Antrag, Herr Beckmeyer, leider abgelehnt und legen nun einige Wochen später Ihre Vorschläge in einem Antrag mit fast gleicher Überschrift
vor. Ich sage nur: Diese hätten Sie schon während der
Ausschussberatungen zum Haushaltsplan im Ausschuss
vortragen können. Das haben Sie nicht getan. Ebenso
wäre es Ihnen in den zurückliegenden Jahren noch in der
Regierungsverantwortung - hören Sie genau zu - möglich gewesen, vieles von dem, was Sie hier heute vorschlagen und der Bundesregierung aufgeben wollen,
selbst auf den Weg zu bringen. Auch das haben Sie versäumt.
({2})
In all den Jahren kam von Ihnen noch viel weniger.
({3})
Deswegen, Herr Beckmeyer, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, machen wir das jetzt.
({4})
CDU/CSU und FDP handeln auf der Basis des im
Ausschuss beschlossenen Antrags zur Erarbeitung einer
Gesamtkonzeption, auch vor dem Hintergrund der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag. Diese hätten Sie lesen
können. Sie sind eindeutig und auch zukunftsweisend.
({5})
Gerade weil Deutschland ein Kernland in Europa ist,
werden wir dafür sorgen, dass Erhalt, Ausbau und Neubau der Verkehrswege gesichert werden. Dies ist und
bleibt für uns in der Verkehrspolitik das wichtigste Ziel.
({6})
Hierbei dürfen wir natürlich nicht übersehen - damit
kommen wir zur sachlichen Bewertung der Zahlen -,
dass nach Auslaufen der Konjunkturprogramme eine
Absenkung der Mittel nach 2010 erfolgt. Es geht also
darum, mittelfristig die Verkehrsinvestitionen auf hohem
Niveau zu verstetigen. So wollen wir in diesem Zusammenhang auch die Modelle für die Beteiligung Privater,
die eben angesprochen worden sind, im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften voranbringen. Der Minister
hat gestern im Verkehrsausschuss darauf hingewiesen,
dass wir mit den ersten Beispielen gute Erfahrungen gemacht haben. Herr Kollege Beckmeyer, wenn ich auf
Ihre Ausführungen zurückkommen darf: Wir haben in
den früheren Jahren von Ihnen dazu keine Vorschläge
gehört. Auch heute gab es keine weiteren Finanzierungsvorschläge und keine Alternative. Das ist ein schwaches
Bild.
({7})
In Ihrem Antrag fordern Sie Prioritäten im Rahmen
der Infrastrukturfinanzierung. Dann nennen Sie den Katalog, den Sie aufgeführt haben, nämlich den Ausbau
von bedeutenden Verkehrsknotenpunkten und von wichtigen Hafenhinterlandanbindungen sowie die Berücksichtigung der Mobilitätsbedürfnisse der Menschen in
Regionen mit geringer Bevölkerungszahl.
({8})
- Ich habe das vorgelesen, weil ich mich unwillkürlich
frage, was davon eigentlich nicht prioritär ist. - Eine
konsequente Priorisierung ist doch eigentlich unerlässlich in dieser Zeit.
({9})
Deshalb hätten Sie den Punkt wie vieles andere in Ihrem
Antrag schon etwas konkreter gestalten können. Wir haben das mit der Forderung der Weiterentwicklung der
Kriterien für die Priorisierung von Investitionsprojekten
getan. Unser Kriterium ist das der gesamtwirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit; denn genau diese Ausrichtung
unterstützt unser gemeinsames Ziel einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand. Eine Zukunftsstrategie, wie sie hier in Rede steht, muss vor allem
Verkehrsmengen und Verkehrszuwächse in Gegenwart
und Zukunft berücksichtigen. Hier und heute nur einen
Wunschkatalog mit der Bitte an die Bundesregierung um
Priorisierung anzuführen, ist wohl eindeutig zu wenig.
({10})
Ein weiteres Thema, das hier angesprochen werden
muss, ist die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, die VIFG. Sie wollen die Einnahmen aus der
Maut vollständig und auskömmlich für Investitionen in
die gesamte Verkehrsinfrastruktur vorsehen. Demgegenüber fordern wir die Herstellung eines Finanzkreislaufs
Straße
({11})
unter direkter Zuweisung der Einnahmen aus der LkwMaut an die VIFG und bitten das Ministerium, den Vorschlag zu prüfen. Unser Ziel ist und bleibt es, die entscheidenden Schwächen der vergangenen Jahre, nämlich
die kontinuierliche Unterfinanzierung, die schwankenden Haushaltslinien und die Transparenzdefizite bei Planung, Genehmigung, Bau und Betrieb, abzubauen.
Ich möchte herausstellen: Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, für Straße, Schiene und Wasserstraße,
wollen wir auf einem hohen Niveau sicherstellen. Dabei
hat sich die Verkehrsinfrastruktur an den Bedürfnissen
der Menschen und an den Erfordernissen der Volkswirtschaft zu orientieren. Das hat auch der Verkehrsminister
immer betont. Uns ist natürlich bewusst, dass Infrastrukturpolitik in Deutschland vor großen Herausforderungen
steht. Wahr ist aber auch: Nur leistungsfähige und optimal vernetzte Verkehrswege schaffen die Voraussetzung
für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Rekordinvestitionssumme von 12,6 Milliarden Euro für Verkehrsinvestitionen im Jahr 2010 ist dafür weiß Gott ein starkes Fundament. Ausgehend hiervon gilt es nun,
zukünftig den Erhalt und den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur in unserem Lande zu sichern. Diesem Ziel dient
der Antrag der Koalitionsfraktionen. Diesem Ziel dient
besonders die vom Ministerium zu erarbeitende Gesamtkonzeption. Der SPD-Antrag hingegen stößt auf unsere
Kritik, die wir, wenn Sie den Antrag nicht verändern
werden, in der Ausschussberatung erneuern werden.
Herzlichen Dank.
({12})
Herr Sendker, das war Ihre erste Rede hier im Haus.
Dazu gratulieren wir Ihnen alle sehr herzlich und wünschen Ihnen alles Gute für die Arbeit hier.
({0})
Thomas Lutze ist der nächste Redner für die Fraktion
Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich empfinde es als positiv, dass wir heute
relativ unaufgeregt über Grundsätzliches in der Verkehrspolitik reden können. Insofern ist der Antrag der
SPD-Fraktion sehr hilfreich. Er ist in einigen Punkten inhaltlich in Ordnung und führt durchaus in die richtige
Richtung.
Erlauben Sie mir dennoch, zu zwei, drei Punkten sehr
kritische Anmerkungen zu machen. Im vorliegenden
Antrag wird sehr viel über die Binnenschifffahrt gesprochen; darüber ist viel zu lesen. Ohne Zweifel gehört der
Güterverkehr auf Flüssen und Kanälen zu den umweltfreundlicheren Möglichkeiten, Güter von A nach B zu
transportieren. Allerdings warnen wir davor, dieses Netz
jetzt weiter ausbauen zu wollen. Durch diese Ausbaumaßnahmen würde die Umweltverträglichkeit in Mitleidenschaft gezogen. Hinzu kommt, dass die Stärken des
Verkehrsmittels Binnenschiff eher beim Schüttgut liegen
und dass hier größere Kapazitäten volkswirtschaftlich
kaum notwendig sind. Im Gegensatz zur Schiene und zur
Straße hat die Binnenschifffahrt zusätzlich das Handicap
eines möglichen Hochwassers oder Niedrigwassers, je
nach Witterung.
Richtig im Antrag der SPD ist, dass der Verkehrsbereich Schiene im Güterverkehr ausgebaut werden muss.
Ich darf allerdings auch erwähnen, dass gerade unter sozialdemokratischen Verkehrsministern - aber auch davor
- der Güterverkehr auf der Schiene sehr stiefmütterlich
behandelt wurde. Will man einen attraktiven Personennah- und -fernverkehr schaffen und einen deutlich höheren Anteil des Transportaufkommens an Gütern auf der
Schiene abwickeln, dann braucht man dafür die nötige
Infrastruktur. Diese ist so in Deutschland nicht mehr vorhanden. Wenn wir das, was die SPD vorschlägt, wollen,
dann müssen in den nächsten Jahren vergleichbare Investitionen getätigt werden, wie wir sie in den letzten
20 Jahren für das ICE-Netz ermöglicht haben. Auch als
Parlamentsneuling ist mir aufgefallen, dass die Mittel
hierfür eher bescheiden sind. Umverteilen wäre nach unserer Sicht angebracht. Also lassen Sie bitte die Finger
von Projekten wie Stuttgart 21! Dann haben Sie 5 Milliarden Euro mehr für sinnvollere Projekte und für den
Güterfernverkehr auf der Schiene.
({0})
Ein Punkt fehlt leider im Antrag der SPD: Das ist die
Verkehrsvermeidung. Müssen wir unbedingt Senf oder
Joghurt 600 Kilometer auf deutschen Autobahnen transportieren? Ist es volkswirtschaftlich wirklich schlau,
dass große Industrieunternehmen keine eigenen Lager
mehr haben und ihre Lieferungen in Lkws auf Autobahnen zwischenlagern lassen? Ist es wirklich sinnvoll, dass
jeder dritte Lkw leer unterwegs ist und dass praktisch die
Hälfte der Ladekapazität aus Luft besteht? Verkehrspolitisch muss der Schwerpunkt unserer Anstrengungen darauf gerichtet sein, den Lkw-Fernverkehr auf ein sinnvolles Maß zu begrenzen.
Wenn man die Beanspruchung der Infrastruktur betrachtet, so kommt man zu dem Ergebnis, dass ein Lkw
mit 40 Tonnen - es sind sogar Lkws mit bis zu 60 Tonnen geplant - eine Straße genauso belastet wie
60 000 Pkws. Vom Lärm und von den Abgasen, von den
Umweltgefahren und den Folgen war noch gar nicht die
Rede. Die Linke setzt sich dafür ein, dass der notwendige Güterfernverkehr zukünftig mehrheitlich über die
Schiene abgewickelt wird.
Wir sind daher sehr skeptisch, dass die notwendigen
Investitionen für den Bau und den Erhalt der Infrastruktur über private Partnerschaften abgewickelt werden
können. Soll ein mittelständisches Bauunternehmen jetzt
gleichzeitig den Auftrag abwickeln und ihn mitfinanzieren? Bekanntlich gibt es in unserer Fraktion Bedenken,
was die Arbeit von Banken gerade im Hinblick auf die
aktuelle Krise angeht. Dass nun aber kleine und mittelständische Unternehmen diesen Job übernehmen sollen,
halten wir für nicht gerade erstrebenswert. Verkehrsinfrastruktur ist - so unsere Meinung - ein öffentlicher
Sektor. Dieser sollte nach Auffassung der Linken auch
öffentlich bleiben.
Vielen Dank.
({1})
Herr Lutze, das war auch Ihre erste Rede hier im Hohen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles
Gute für Ihre Arbeit als Abgeordneter!
({0})
Patrick Döring hat das Wort für die FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem ich während der Rede des geschätzten Kollegen Beckmeyer fieberhaft viele Minuten auf die Begründung des Antrages gewartet hatte und nachdem viele Zitate aus Interviews des Bundesministers vorgetragen
worden waren, kam mir der Gedanke, dass ich mich
nicht daran erinnern kann, dass hier jemals auch nur ein
einziges Interview seines Vorgängers zitiert worden ist.
({0})
Insoweit kann ich nur sagen: Der aktuelle Verkehrsminister hat alles richtig gemacht. Sie wären doch froh,
wenn von Ihren früheren Verkehrsministern - Sie haben
sie von 1998 bis 2009 gestellt - in diesem Hause zumin2088
dest noch eine Spur wahrzunehmen wäre; aber das ist
ganz offensichtlich nicht der Fall.
({1})
Der Antrag ist eine gute Gelegenheit, drei oder vier
grundsätzliche verkehrspolitische Themen anzusprechen. Bei aller Wertschätzung der Ansätze, die vorgetragen worden sind und die sich im Antrag wiederfinden: In
Wahrheit werden durch diesen Antrag ein paar verkehrspolitische Irrtümer der vergangenen Zeit perpetuiert. Ich
verweise zunächst auf den alten Gedanken der notwendigen Verlagerung der Verkehre von der Straße auf die
Schiene; auch der Kollege Lutze hat ihn eben formuliert.
Es gibt die Notwendigkeit einer solchen Verlagerung
- das bestreitet auch keiner -; aber wer den Eindruck erweckt, dass die Verlagerung von Verkehren durch Politik
oder ausschließlich durch Investitionsmittel zu erreichen
wäre, der verkennt einfach, dass bestimmte Verkehre nie
verlagerbar sind und dass unsere Infrastruktur in ihrem
aktuellen Zustand ein bedeutendes Verkehrsmengenwachstum überhaupt nicht verkraften könnte. Deshalb
muss man an diesem Punkt ein Stück Realismus walten
lassen.
({2})
Die Schiene ist nicht leistungsfähig, und sie ist nicht
der richtige Verkehrsträger für kurze Verkehre; vielmehr
ist sie der richtige Verkehrsträger für mittlere und lange
Verkehre. Das weiß auch jeder Experte. Man muss sagen,
wie zusätzliche Güterverkehre auf dem vorhandenen
Netz - das Netz in Deutschland wird gemischt genutzt abgewickelt werden sollen, ohne den vielgelobten Schienenpersonennahverkehr oder den Schienenfernverkehr
einzuschränken. Auf diese Frage hatten Sie heute genauso wenig wie in den vergangenen elf Jahren eine Antwort.
({3})
Wenn behauptet wird, Straßengüterverkehr sei für eine
exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland weniger wichtig oder für die Verkehrspolitik weniger bedeutend, dann kann man nur entgegnen: Das ist eine Verzerrung der Wirklichkeit.
Bemerkenswert ist auch, dass das Bild gezeichnet
wird, sowohl in der rot-grünen als auch in der schwarzroten Regierungszeit sei unheimlich viel in die Verkehrsträger investiert worden. Wenn man die preisbereinigten
Investitionsansätze für die Straße von Rot-Grün und
auch die von Schwarz-Rot anschaut, dann ist festzustellen, dass in all diesen Jahren für den Verkehrsträger
Straße nicht mehr und nicht weniger investiert worden
ist als in den Jahren 1990 bis 1998, also zu Zeiten der
Kabinette Kohl III und Kohl IV. Auch das gehört zur
Wahrheit. Was allerdings gestiegen ist, das ist die Belastung des deutschen Autofahrers und des Gewerbes mit
Steuern und Abgaben. Ich verweise auf zusätzliche Steuern wie die Ökosteuer und auf zusätzliche Abgaben wie
die Lkw-Maut. Preisbereinigt betrachtet sind die Investitionen in die Straße also nicht gestiegen. Das ist die
Wahrheit, die die Menschen draußen wahrnehmen. Das
ist das Ergebnis von Regierungen, an denen die SPD beteiligt war.
({4})
Ich will mich dem Antrag zuwenden. Noch bemerkenswerter finde ich, was Sie als Zukunftsstrategie zur
Sicherung der Infrastrukturfinanzierung beschreiben.
Man könnte auf die Idee kommen - auch Herr Sendker
hat dies gesagt -, dass man, wenn man elf Jahre lang regiert hat, eine solche Strategie politisch bereits umgesetzt hat. Sie kennen die Ursache dafür, dass es keine
mittelfristige Finanzplanung gibt: Diese Regierung
plant, einen soliden Haushalt vorzulegen. Wir wollen
nicht alles fortsetzen, was Sie fälschlicherweise in Ihre
Haushalte eingestellt haben; daher wollen wir in Ruhe
alle Ausgabepositionen prüfen. Dann werden wir das sicherstellen, was Sie hier von uns verlangen. Aber ein
Zukunftsprogramm von uns einzufordern, nachdem man
selbst elf Jahre die Hausleitung gestellt hat, das ist nun
wirklich das Einfachste, was einer Opposition einfallen
kann.
({5})
In Wahrheit bleibt es dabei - das ist ja auch den Zwischenrufen zu entnehmen -: Sie wollen dieser Koalition
das Etikett anheften, wir seien schienenfeindlich und
straßenfreundlich, während Ihnen alle Verkehrsträger
gleich wichtig gewesen seien.
Ich halte fest: Für uns ist leistungsfähiger Schienenverkehr ein wichtiges Element der Verkehrspolitik. Wir
sind aber im Gegensatz zu Ihnen bereit, anzuerkennen,
dass der Verkehrsträger, auf dem die meisten Tonnen an
Gütern transportiert werden und auf dem die meisten
Menschen jeden Tag fahren, nämlich die Straße, aufgrund seiner Bedeutung ebenso klar und deutlich finanziert werden muss und wir hier vor großen, zum Teil sogar größeren Herausforderungen als beim Verkehrsträger
Eisenbahn stehen.
({6})
Wes Geistes Sie in Wahrheit sind, zeigt sich doch daran, dass Sie mit Ihrem Haushaltsantrag im Ausschuss
versucht haben, einen Teil der Mittel zur Finanzierung
von Bundesstraßen und Bundesautobahnen wegzunehmen
({7})
und zur Erhöhung der Mittel für das CO2-Gebäudesanierungsprogramm zu verwenden. Wer auf diese Weise Klimapolitik machen will, wird am Ende scheitern, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({8})
Deshalb ist dieser Antrag zu Recht abgelehnt worden.
Wir werden die Straße nicht gegen die Schiene ausspielen, genauso wenig wie Verkehrsinvestitionen gegen
notwendige Investitionen für den Klimaschutz im Gebäudebereich.
({9})
Das wäre nämlich unverantwortlich angesichts der
wahnsinnigen Herausforderungen, vor denen wir stehen:
der Beseitigung der Winterschäden auf den Bundesstraßen und Bundesautobahnen, aber auch auf kommunalen
und Landesstraßen.
Deshalb gilt für die Beratung des vorliegenden Antrages das, was der Kollege Sendker richtigerweise gesagt
hat: Wir haben mit unserem Haushaltsbegleitantrag die
Grundlinien des Koalitionsvertrages deutlich gemacht.
Anhand dieser Grundlinien wird das Haus und werden
wir als handlungsfähige Koalition die nächsten Jahre tätig werden.
Wollen Sie die Zwischenfrage des Kollegen Beckmeyer
zulassen?
Ja, bitte. Gerne.
({0})
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Sozialdemokraten einen Haushaltsantrag gestellt haben, in
dem - im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten - vorgesehen war, Mittel, die das Ressort normalerweise wieder
bei Herrn Schäuble abgeben muss, eben zur Förderung
genau des Projektes, das Sie kritisieren, zu verwenden?
Wir haben also die Absicht gehabt - Sie haben dem leider nicht zustimmen wollen -, Mittel, die im Haushalt
vorgesehen waren, nicht wieder zurückzugeben, sondern
sinnvoll für Verkehrsprojekte einzusetzen.
Zweite Frage, wenn ich das darf, liebe Frau Präsidentin: Wir unterscheiden uns nicht in den Perspektiven, die
wir für den Verkehrsträger Straße sehen. Der entscheidende Unterschied zwischen uns ist, dass Sie die integrierte Verkehrspolitik nicht mehr als Kernpunkt der
Verkehrspolitik der neuen Koalition ansehen. Das ist der
gravierende Fehler Ihrer aktuellen Politik.
Herzlichen Dank.
({0})
Lieber geschätzter Kollege Beckmeyer, ich bedanke
mich ganz herzlich für die beiden Fragen.
Zunächst einmal stelle ich fest: Wir haben nicht die
Absicht, die möglicherweise nicht ausgegebenen Mittel
für den Bereich Bundesstraßen und Bundesautobahnen,
die im Konjunkturpaket für 2009 und 2010 vorgesehen
sind, zurückzugeben, sondern wir haben die Absicht,
diese Mittel dafür zu verwenden, wofür sie vorgesehen
waren, nämlich für Investitionen in den Verkehrsträger
Straße. Wir werden schon die Länder, die das umzusetzen haben, und auch das Bundesministerium dazu bringen, dass das passiert.
({0})
Deshalb ist die Grundannahme, diese Mittel würden
nicht ausgegeben, grundfalsch und entspricht auch nicht
dem, was wir politisch wollen. Wir wollen vielmehr,
dass diese Mittel ausgegeben werden.
Zur zweiten Frage, geschätzter Kollege Beckmeyer:
Wer glaubt, integrierte Verkehrspolitik zeichne sich dadurch aus, dass der Autofahrer die anderen Verkehrsträger finanziert, der hat ein sehr schlichtes Bild von integrierter Verkehrspolitik. Wir haben ein anderes Bild. Das
setzen wir mit unserer Politik auch durch. Das ist der
Unterschied.
({1})
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich festhalten: Der, wie ich finde, recht kümmerliche Versuch oppositionellen Handelns mit diesem Antrag wird im Ausschuss entlarvt werden. Diese Bundesregierung wird in der Verkehrs- und Baupolitik die
Akzente setzen, die unsere Volkswirtschaft benötigt. Dabei unterstützt die FDP-Fraktion in dieser Koalition den
Bundesverkehrsminister.
Herzlichen Dank.
({2})
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Patrick Döring, es ist durchaus amüsant,
wenn du dich darüber mokierst, wie Uwe Beckmeyer
den Verkehrsminister zitiert hat. Aber vielleicht solltest
du zumindest ab und zu die Positionen eures Verkehrsministers wahrnehmen. Dann hättest du in der Zeitung
lesen können, dass der Verkehrsminister vor Weihnachten in der Süddeutschen Zeitung gefordert hat, dass der
Zuwachs des Güterverkehrs auf der Schiene stattfinden
soll.
({0})
Damit hat er genau das gefordert, worüber du eben gesagt hast, dass es nicht möglich sei. Nun kann man sagen: Diese schwarz-gelbe Koalition ist in fast allen
Punkten zerstritten. Warum soll sie dann nicht auch im
Verkehrsbereich total zerstritten sein? - Das Problematische ist allerdings, dass es uns weder im Land noch in
der Verkehrspolitik weiterhilft, wenn die FDP darauf be2090
steht, dass die Mauteinnahmen komplett für die Straße
verwendet werden. Man muss sich die Dimensionen dessen, was hier zu finanzieren ist, klarmachen. Im Jahr
2009 waren Mauteinnahmen in Höhe von 5 Milliarden
Euro eingestellt. Davon sollen 38 Prozent für die
Schiene verwendet werden. Über 1,5 Milliarden Euro
habt ihr dann anders zu finanzieren. Wie soll das geschehen?
Warum hat man die Mautfinanzierung überhaupt eingeführt? Die Mautfinanzierung hat man eingeführt, damit man einen soliden Grundstock für Verkehrsinfrastrukturinvestitionen hat, auf den der Finanzminister
keinen direkten Zugriff hat.
({1})
Man hat die Mautfinanzierung nicht für einen, sondern
für alle Verkehrsträger eingeführt.
({2})
Denn der rot-grünen Koalition war bewusst, dass Logistikunternehmer ihre Container und Waren nicht nur auf
der Straße transportieren. Vielmehr kommen Waren in
einem Hafen an, werden dann in vielen Fällen auf die
Schiene verladen und legen die letzte Meile bis zum Verbraucher auf dem Lkw zurück oder werden zum Teil auf
Binnenschiffe und dann auf den Lkw verladen. Das
heißt, Logistikketten bestehen nicht nur aus dem Transport auf Straßen. Vielmehr wird der Transport der Waren
von verschiedenen Verkehrsträgern übernommen. Lieber
Patrick, du hast gesagt, der Autofahrer solle nicht die
Schiene finanzieren. Unserer Beobachtung nach werden
Lkws nicht von Autofahrern gesteuert und wird die Maut
nicht vom Lkw-Fahrer gezahlt, sondern von Logistikunternehmen. Logistikunternehmen brauchen aber alle
Verkehrsträger, um ihre Geschäfte abzuwickeln.
({3})
Zur Finanzierung der Infrastruktur. Infrastruktur ist
etwas, das über sehr viele Jahre errichtet wird. Man baut
Straßen und Schienen nicht für 10 oder 20 Jahre. Vielmehr wird eine Straßen- und Schieneninfrastruktur für
sehr lange Zeiträume errichtet. Deshalb muss man darüber nachdenken, welche Trends in den nächsten Jahren
zu erwarten sind. Es gibt zwei sehr grundlegende
Trends, die im Verkehrsbereich entscheidend sind. Der
eine Trend ist der Klimawandel. Der andere problematische Trend ist die Endlichkeit fossiler Rohstoffe. Die
Verkehrsträger sind unterschiedlich leistungsfähig.
Wenn man die Schiene mit der Straße vergleicht, dann
kommt man zu dem Schluss, dass die Schiene in Bezug
auf die beiden Trends weitaus leistungsfähiger ist. Die
Schiene weist eine funktionierende Elektromobilität auf.
Wir wissen zudem, wie wir regenerative Energie für die
Schiene bereitstellen können, das heißt ohne fossile
Energieträger. Bei der Straße tun wir uns weitaus schwerer. Es gibt natürlich auch Ideen für Elektromobilität auf
der Straße. Aber beim Lkw wird es sehr kompliziert.
Beim nachhaltigen Investieren darf man also nicht
stur darauf achten, ob der Anteil der Straße hoch oder ob
der Anteil der Schiene gering ist. Man muss vielmehr,
wenn man verantwortliche Politik betreiben will, darüber nachdenken, was in Zukunft passiert, das antizipieren und dann Investitionsschwerpunkte setzen.
({4})
Die Investitionsschwerpunkte müssen in dem Bereich
gesetzt werden, der zukunftsträchtig ist. Der zukunftsträchtigere Bereich ist in diesem Fall die Schiene. Wir
müssen als bedeutende Export- und Importnation für unsere Wirtschaft eine funktionierende Schieneninfrastruktur zur Verfügung stellen, die sowohl klimawandelsicher
als auch ressourcensicher ist.
({5})
Beides wird durch die Politik dieser Regierung untergraben. Sie wissen nicht, wie Sie den Ausfall der Mauteinnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro und die
38 Prozent für die Schiene finanzieren sollen. Sie wissen
nicht einmal, wie Sie Ihre Straßenprogramme finanzieren sollen. Das Einzige, was der Minister macht - deshalb sind die Zitate manchmal durchaus angebracht -,
ist, im Land via Zeitung zu verkünden, was er vorhat.
Aber er kann weder im Ausschuss noch hier im Plenum
erklären, wie die zukünftige Verkehrspolitik aussehen
soll.
({6})
Das muss sich ändern.
({7})
Jetzt hat der Kollege Patrick Schnieder das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Leistungsfähige Verkehrswege und Mobilität sind Voraussetzung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit
unserer Volkswirtschaft. Die Regierungskoalition wird
dies mit ihrer Verkehrspolitik sicherstellen. Wir wissen
aber auch: Mobilität muss für die Menschen in unserem
Lande bezahlbar bleiben.
Dieser Aufgabe sind wir uns in der christlich-liberalen Koalition bewusst. Eine entsprechende Ausstattung
des Bau- und Verkehrshaushaltes ist deshalb von zentraler Bedeutung. Der Bundeshaushalt 2010 jedenfalls erfüllt diese Aufgabe. Er sieht fast 12 Milliarden Euro an
Investitionen in Verkehrswege vor. Dabei orientieren wir
uns nicht an ideologischen Grundsätzen. Unsere Leitschnur sind die Bedürfnisse der Menschen sowie die Erfordernisse der Wirtschaft und der Unternehmen.
Klar ist aber auch: Die Investitionshöhe beizubehalten, wird ab 2011 angesichts der Haushaltslage, des
Wegfalls der zusätzlichen Mittel aus den Konjunkturpaketen und der Erfordernisse der Schuldenbremse eine
äußerst große Herausforderung. Unser Ziel muss daher
realistischerweise sein, über dieses Jahr hinaus dauerhaft
mehr als 10 Milliarden Euro jährlich in Erhalt, Ausbau
und Neubau der Verkehrsinfrastruktur zu investieren.
Die Herausforderung der nächsten Jahre besteht in
dem Finanzrahmen, der zur Verfügung steht. Herr Kollege Beckmeyer, es passt nicht zusammen, wenn Sie predigen, 10 Milliarden Euro in den nächsten Jahren seien
zu wenig, dabei aber die Haushaltslage vollkommen
ignorieren.
({0})
Uns geht es darum, die Ausgaben im Verkehrsbereich
auf diesem Niveau zu verstetigen. Wir wollen die Herausforderungen der Finanzlage berücksichtigen. Zugleich gilt aber: Die Schuldenbremse darf nicht zur Konjunkturbremse werden. Deshalb müssen wir in den
nächsten Jahren eine klare Prioritätensetzung vornehmen. Was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wird dem in
keiner Weise gerecht. Prioritäten zu setzen, heißt, eine
Rangfolge festzulegen; es heißt nicht, dass alles gleich
wichtig ist.
Wir in der Regierungskoalition nehmen eine konsequente Schwerpunktsetzung vor: Erstens. Wir orientieren uns am Bedarf der einzelnen Verkehrsträger. Wir
spielen die Verkehrsträger nicht gegeneinander aus. Wir
wollen eine Gleichwertigkeit der Verkehrsträger herstellen.
({1})
- Wir sind einer Meinung in dieser Koalition. Das gilt in
Ihrer Fraktion ja nun nicht jeden Tag.
({2})
Zweitens. Für unsere Koalition gilt in erster Linie: Erhalt geht vor Neubau. Vorrangig ist, den Substanzverlust
bei der Infrastruktur zu stoppen. Denn wir können es uns
nicht leisten, die Verkehrs- und Bausubstanz auf Verschleiß zu fahren.
Drittens. Bei Neu- und Ausbauvorhaben müssen diejenigen Projekte Vorrang haben, die gesamtwirtschaftlich gesehen besonders vorteilhaft sind, die Impulse für
Beschäftigung und Wachstum geben. Vorrang haben die
Projekte, die bestehende Engpässe beseitigen, Unfallschwerpunkte entschärfen und Dauerstaus vermeiden
helfen.
Momentan werden die Bedarfspläne für Bundesfernstraßen und Schienenwege überprüft. Wir werden uns
deshalb auch über unsere langfristigen Prioritäten verständigen müssen. Viele Rahmenbedingungen haben
sich seit 2003, seit der Vorlage des Bundesverkehrswegeplans, geändert. Es geht bei der Fortschreibung, bei
der Neuauflage des Bundesverkehrswegeplans ab 2015,
ausdrücklich nicht darum, eine Wunschliste mit neuen
Projekten zu erstellen. Vielmehr brauchen wir ein Gesamtkonzept für eine zukünftige Infrastruktur, das finanzierbar und realistisch ist.
Angesichts der Haushaltsentwicklungen brauchen wir
Verlässlichkeit bei der Finanzierung unserer Verkehrswege und der Verkehrsinfrastruktur. Dazu müssen wir
auch nach neuen Finanzierungsinstrumenten Ausschau
halten. In diesem Zusammenhang verstehe ich überhaupt
nicht, Herr Kollege Beckmeyer und Herr Kollege
Dr. Hofreiter, warum Sie hier so mautfixiert diskutieren.
Unser Verkehrsminister hat eine klare und eindeutige
Aussage getroffen:
({3})
Für diese Koalition ist die Pkw-Maut in dieser Periode
kein Thema. Das ist so, das bleibt so, Punkt.
({4})
Zu den neuen Finanzierungsinstrumenten, mit denen
wir uns auseinandersetzen müssen, gehört erstens die
Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, der VIFG, einschließlich ihrer begrenzten Kreditfähigkeit. Ziel muss sein - dazu stehen
wir -, dass die Einnahmen aus der Lkw-Maut eins zu
eins in die Straßeninfrastruktur fließen.
Zweitens werden wir auch das Instrument der öffentlich-privaten Partnerschaft verstärkt nutzen müssen. Die
ersten Projekte, die so finanziert worden sind, haben
gute Erfahrungen gezeitigt. Wir sind froh darüber, dass
weitere acht Projekte mit einem Volumen von etwa
1,5 Milliarden Euro mittelfristig vorgesehen sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Infrastruktur ist
eine öffentliche Aufgabe. Wir werden auch in den kommenden Jahren mit öffentlichen Investitionen dafür sorgen, dass diese Infrastruktur leistungsfähig ist und es
bleibt, und zwar so leistungsfähig, wie es für eine gute
Entwicklung unseres Landes erforderlich ist.
({5})
Herr Kollege, auch für Sie war das die erste Rede
heute hier im Hohen Haus. Herzlichen Glückwunsch aller Kolleginnen und Kollegen dazu und alles Gute für
Ihre Arbeit als Abgeordneter des Deutschen Bundestages!
({0})
Der Kollege Ulrich Lange ist der nächste Redner,
ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren von der SPDFraktion! Herr Beckmeyer, Ihr Antrag und Ihre Ausführungen waren erstaunlich: Deutschland braucht eine moderne Zukunftsstrategie zur Infrastruktur. - Diese Erkenntnis, Herr Beckmeyer, und auch Ihr Vortrag sind
eine Kapitulationserklärung nach elf Jahren SPD-geführten Verkehrsministeriums: außer Pressemitteilungen keinerlei Inhalte,
({0})
nichts zu bieten, aber sich hier mit einem eigenen Antrag
groß hinstellen.
({1})
- Sie haben doch das Ministerium geführt. Es war
höchste Zeit, dass nach über 4 000 Tagen wieder ein
Unionsmann in das Ministerium eingezogen ist. Das war
die richtige Antwort, die wir in der Verkehrspolitik in
Deutschland gebraucht haben.
({2})
Jetzt werden wir die Perspektiven entwickeln, die
Deutschland braucht, und ich bin mir sicher, die christlich-liberale Koalition ist dazu in der Lage. Wir werden
schaffen, was Sie in über 4 000 Tagen nicht geschafft haben, allerdings nicht in 100 Tagen.
({3})
Was bleibt denn in Erinnerung aus Ihren elf Jahren?
Eine Zukunftsstrategie kann es ja wohl nicht sein; ansonsten hätten Sie diesen Antrag heute nicht so einbringen müssen. Sie fordern von uns eine Strategie, weil Sie
keine haben. Das ist doch die Wahrheit.
({4})
- Das gilt für Sie genauso.
({5})
- Mit denen können wir umgehen.
Es wird die christlich-liberale Koalition sein, die mit
einer effizienten Verkehrsinfrastruktur die Mobilität, die
eine Schlüsselfunktion in unserer Gesellschaft hat, steigern wird.
({6})
- Herr Pronold, das kann ich schon selber.
({7})
- Nein, das erspare ich Ihnen jetzt. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich hier keinen Napf stehen.
Wir werden in den nächsten Jahren durch massive öffentliche Investitionen - die beiden Kollegen haben bereits dazu Stellung genommen - die Infrastruktur verbessern. Herr Beckmeyer, lassen Sie mich einige Fragen
stellen - auch wenn Sie die nicht hören wollen -: Wer
hat denn den Investitionsstau, auch im Bereich Schiene,
zu vertreten? Wer hat denn 2004 die Haushaltsmittel
gekürzt? Woher kommt denn die investive Bugwelle, die
wir jetzt abbauen müssen?
({8})
- Natürlich, so ist es! Dank unseres neuen Verkehrsministers Peter Ramsauer gibt es klare Zielvorgaben.
({9})
Sie haben heute schon etliche zitieren können.
({10})
Kollege Hofreiter, seien Sie beruhigt: Wir werden alle
erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um mehr
Frachtverkehr auf die Schiene zu bekommen.
({11})
Wenn das so einfach wäre, dann frage ich mich, warum
Sie das in den sieben Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, nicht selbst gemacht haben. Es ist nämlich
nicht einfach, weil die Schienenwege nicht immer für alles ertüchtigt sind.
({12})
- Das stimmt! Danke für die Zustimmung. Im Laufe der
Rede werden die Zurufe besser, Herr Kollege.
Wir müssen also dafür sorgen, dass wir wieder mehr
Personen- und Güterverkehr auf die Schiene bekommen.
Was wollen wir dafür tun? Wir müssen die überörtlichen
und regionalen Verkehrsverbindungen besser aufeinander abstimmen.
({13})
Wir brauchen effektivere Bahnhöfe. Investitionsmittel in
Höhe von 300 Millionen Euro stehen zur Verfügung.
({14})
Sie werden dieser Maßnahme sicher zustimmen. Wir
müssen die Bahntrassen nach Priorität ausbauen. Darüber haben wir gestern im Ausschuss lange beraten. Wir
müssen den „Masterplan Güterverkehr und Logistik“ gemeinsam mit der Wirtschaft erstellen und dabei den Verkehrsträger Schiene entsprechend berücksichtigen. Wir
müssen auch eine Gleisanschlussförderung betreiben.
Ich kann ein sehr gutes Beispiel aus meiner Region anführen: Die Firma Henkel hat 1,4 Millionen Euro investiert.
Insgesamt glaube ich, dass es uns trotz schwieriger
Haushaltslage gelingen wird, den Wirtschaftsmotor Verkehrsinfrastruktur zu fördern, damit wir eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur bekommen. Dem messen wir
höchste Bedeutung bei.
Herzlichen Dank.
({15})
Damit ist die Aussprache geschlossen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/782 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einVizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Poland, Rita Pawelski, Wolfgang
Börnsen ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga Daub, Reiner Deutschmann, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kulturtourismus in Deutschland stärken
- Drucksache 17/676 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debattieren. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Rita Pawelski für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland
ist ein schönes Land mit einer wunderschönen Natur, mit
vielen sympathischen und offenen Menschen und mit einem reichen kulturellen Erbe.
({0})
Unser Land verfügt über ein riesiges, facettenreiches
Kulturangebot. In Deutschland gibt es 33 UNESCOWelterbestätten, 1 100 historische Stadt- und Ortskerne
mit besonderer Denkmalbedeutung. Hier bei uns gibt es
zahlreiche Kunstschätze und einzigartige Bauwerke,
6 000 Museen, 130 Berufsorchester, 180 thematische
Straßen, Kulturwege und historische Routen, 360 öffentliche und private Bühnen sowie 12 000 Kulturund Volksfeste.
Deutschland ist ein Kulturland und daher ein beliebtes Reiseland für Kulturtouristen aus aller Welt. Jeder
siebte ausländische Tourist kommt wegen der Kultur
nach Deutschland. Seit 2000 haben die Kulturreisen der
Europäer nach Deutschland um 30 Prozent zugenommen. Und die Deutschen selbst unternehmen pro Jahr
etwa 80 Millionen Kulturausflüge.
Der Kultur- und Stadttourismus in Deutschland ist in
einer Hochphase. Er entwickelt sich zu einem richtigen
Leuchtturm. Und er hat als Wirtschaftszweig eine
enorme, leider immer noch unterschätzte Bedeutung.
Der Bruttoumsatz liegt bei 82 Milliarden Euro pro Jahr.
Über 1,5 Millionen Menschen erzielen ihr Einkommen
in diesem Bereich. Ich sage diese Zahl so deutlich, weil
andere Bereiche die Zahlen ihrer Beschäftigten immer
hervorheben und sagen: Wir sind so wichtig, es muss etwas getan werden. - In diesem Bereich arbeiten
1,5 Millionen Menschen. Er ist wichtig.
({1})
Zu dieser positiven Entwicklung beigetragen hat ohne
Zweifel die wirklich hervorragende Marketingarbeit der
Deutschen Zentrale für Tourismus.
({2})
- Ja, das ist einen Applaus wert. Vielen Dank der Zentrale! - Mit Kunst und Kultur lockt sie sehr erfolgreich
zahlreiche Gäste nach Deutschland. Die Grundlage hierfür legen Bund, Länder und Kommunen. Mit großem
Einsatz und Engagement fördern und erhalten sie attraktive kulturelle Anziehungspunkte.
Ein richtig schönes Beispiel dafür ist die Kulturhauptstadt RUHR.2010. Das ist für unser Land, das ist für
Kultur und Tourismus ein herausragendes Ereignis, das
eine ganz andere Facette von Kultur in den Blickpunkt
rückt. Ich hoffe, sie wird uns noch viele neue, schöne
Impulse geben.
({3})
Eine andere Erfolgsgeschichte wird in meiner Heimat
Niedersachsen geschrieben, genauer gesagt: in Ostfriesland. Früher eher bekannt durch die Ostfriesenwitze und
Otto, den Friesen, ist Ostfriesland heute die niedersächsische Modellregion für Kulturtourismus.
({4})
Hier gab es 2007/2008 mit dem „Garten Eden“ ein richtig erfolgreiches Vernetzungsprojekt. Auf dieser Grundlage wurde im vergangenen Jahr das Kulturnetzwerk
Ostfriesland gegründet. Dieses umfasst 32 Standorte,
68 Partner aus Kultur und Tourismus sowie 77 Projekte.
({5})
In Ostfriesland boomt der Tourismus. Das zeigt, wie
wichtig die Vernetzung zwischen Kultur und Tourismus
ist; denn dann ist sie ein Erfolgsmodell. Sie bringt Gäste
ins Land und Geld, was an und für sich auch nicht
schlecht ist.
({6})
- Das denke ich auch.
Wenn man die Zahlen hört und die Entwicklung sieht,
könnte man sagen: Warum der Antrag? Es läuft doch alles gut. - Ja, überwiegend. Trotz der zahlreichen positiven Beispiele gibt es bei der Zusammenarbeit zwischen
Kultur und Tourismus aber immer noch ungenutzte
Potenziale. Berührungsängste, Vorurteile, unterschiedli2094
che Bedürfnisse und Abhängigkeiten lassen Kooperationen allzu oft scheitern. Ich denke, das muss nicht sein.
Wir kennen die Empfindlichkeiten, und wir müssen Lösungsansätze anbieten. Wir brauchen einen intensiven
Dialog auf Augenhöhe. Denn eines ist klar: Beide Partner, Kultur und Tourismus, sind gleich wichtig, sind
gleich viel wert.
Wir wollen den Kulturtourismus weiter stärken. Darum brauchen wir eine einheitliche Plattform für strategisches kulturtouristisches Marketing. Das ist übrigens
auch eine Forderung der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“. Mit Unterstützung von Bund und Ländern sollen Kultur- und Tourismusanbieter auf freiwilliger Basis zusammengeführt werden, um Marketingmaßnahmen gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen.
Diese Plattform sollte durch ein spezielles Internetangebot ergänzt werden, sozusagen als zentrale Onlineanlaufstelle. Frei nach dem Motto „Urlaub in Deutschland auf
einen Klick“ sollten die Gäste unser schönes Land quasi
auf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Kulturgeprägte Reiserouten sollten visuell per Computer abgerufen werden können, um Geschmack auf das Kulturland
Deutschland zu machen.
({7})
Pläne, Hotels, Tickets und alles, was zum kulturtouristischen Urlaubstrip gehört, sollte dort gebündelt werden,
abgerufen und bestellt werden können. Ich denke, das
wäre Service aus einer Hand.
({8})
Das ist auch Grundvoraussetzung, um junge Menschen
in kulturtouristische Bahnen zu lenken. So lernen sie
Kultur kennen und nutzen die Tourismusangebote hier in
Deutschland.
Gleichzeitig müssen weitere Weichen gestellt werden.
Bund, Länder und Kommunen müssen ein gemeinsames
Konzept für diesen Bereich entwickeln. Kulturcluster, in
denen die Kulturakteure ihre Ressourcen bündeln und so
ihre Attraktivität für den Tourismus steigern können,
sind zu fördern. Ein regelmäßiger Wettbewerb „Kulturregion Deutschland“, mit dem das Engagement von
Städten und Regionen für ein besonderes kulturelles Angebot gewürdigt wird, sollte eingeführt werden.
({9})
Der Kulturtourismus bietet große Chancen für Kultur
und Tourismus, für Wachstum und Beschäftigung, für
Land und Leute. Er führt zusammen, er schärft das Bewusstsein für andere Kulturen und Lebensweisen, und er
stiftet Gemeinschaft zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Lassen Sie uns deshalb die richtigen Leitplanken einziehen, um den Kulturtourismus in die richtigen Bahnen zu lenken. Ich freue mich sehr auf die
Zusammenarbeit und erinnere an den Vorgänger dieses
Antrags - es war ein Antrag zur Kreativwirtschaft -,
über den wir gemeinsam gut beraten haben. Vielleicht
schaffen wir das auch bei diesem Antrag.
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
({10})
Ulla Schmidt ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pawelski, ich stimme mit Ihnen in allem überein,
was Sie über die Schönheit Deutschlands sagen,
({0})
und auch in Bezug auf die Notwendigkeit, dass Kultur
und Tourismus Partner sind. Aber wir müssen im weiteren Verlauf der Debatte über diesen Antrag reden, darüber, wie wir es in einer gemeinsamen Anstrengung
schaffen, Kultur und Tourismus oder Kulturtourismus im
richtig verstandenen Sinne zu fördern. Das ist seit langem ein Anliegen der SPD. Wir hätten gerne mit Ihnen
in der letzten Legislaturperiode einen gemeinsamen Antrag auf den Weg gebracht. Aber wir haben sicherlich
unterschiedliche Auffassungen über die Schwerpunktsetzung in diesem Bereich. Wir sollten in den kommenden Wochen genau darüber diskutieren. Denn für uns
war immer wichtig, dass die besonderen Anforderungen
des Kulturbereichs -
Frau Kollegin Schmidt, möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Pawelski zulassen? - Bitte schön.
Verehrte Frau Schmidt, in der letzten Legislaturperiode gehörten Sie diesem Ausschuss verständlicherweise nicht an; Sie hatten ein anderes wichtiges Amt.
Ein fast wortgleicher Antrag lag in der letzten Legislaturperiode zur Beratung in der Großen Koalition vor. Die
Kulturpolitiker waren sich einig; aber im letzten Moment wurde dieser Antrag von Ihrer Fraktion aufgrund
der Wahlen zurückgezogen. Wir waren auf einem guten
Weg. Ich habe es sehr bedauert, dass dieser Antrag nicht
schon in der letzten Legislaturperiode beraten wurde.
Aber Sie haben jetzt alle Chancen, an diesem Antrag
mitzuarbeiten. Noch einmal: Ich freue mich auf die Zusammenarbeit auch mit Ihnen.
Frau Pawelski, das in der letzten Legislaturperiode
Erarbeitete basierte schon auf einem sehr ausführlichen
Antrag, den SPD und Grüne entwickelt hatten
({0})
und der an einzelnen Punkten nicht so weit ging wie Ihr
jetzt vorliegender Antrag. Ich hätte mir gewünscht, dass
Ulla Schmidt ({1})
wir in der vergangenen Legislaturperiode eine Einigung
erzielt hätten. Dann hätten vielleicht schon Schritte in
die Wege geleitet werden können.
Ich stelle aber noch einmal fest: Auch bei der Beratung über diesen Antrag wird es uns darauf ankommen,
die besonderen Anforderungen des Kulturbereichs sowie
die besonderen Anliegen der kreativ Tätigen in den Mittelpunkt der Debatten zu stellen und dafür zu sorgen,
dass mithilfe dieses Antrags der Wert der kulturellen
Pluralität herausgestellt wird.
Insofern hoffe ich auf gute Zusammenarbeit und auf
offene Beratungen. Man sollte nicht nur auf dem beharren, was man hier vorgelegt hat.
({2})
Lassen Sie mich beispielhaft einige Punkte nennen,
auf die es uns ankommt.
Erstens. Sie haben angesprochen, dass wir uns in der
Frage der Förderung des Kulturtourismus auf einen intensiven Dialog mit den Kulturschaffenden in den Regionen, Städten und Ländern stützen sollen, dass es hier
um Vermarktungsstrategien geht und dass auch die von
der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ auf
den Weg gebrachte und geforderte Clusterbildung eine
Rolle spielt. Meines Erachtens tun wir bei der Förderung
dieser auch von uns unterstützten Instrumente sehr gut
daran, genau darauf zu achten, dass bei diesen Instrumenten nicht plötzlich ein Verdrängungswettbewerb entsteht; denn die Gefahr ist immer sehr groß - das wissen
alle, die beispielsweise in der Kommunalpolitik lange
gearbeitet haben -, dass im Interesse der Vermarktung in
einzelnen Bereichen plötzlich sehr stark nach marktwirtschaftlichen Kriterien gefördert wird und das, was die
Kultur ausmacht, nämlich die Kulturvielfalt, dahinter
verschwindet.
Deswegen sollten wir bei der Debatte über die Auswirkungen und die Ausarbeitung dieser Instrumente sehr
deutlich machen, dass die Förderung des Kulturtourismus für uns mehr umfasst als die Förderung des Besuchs
von Museen, Kulturstätten oder Opern. Bei der Förderung des Kulturtourismus muss nämlich die gesamte kulturelle Identität und Bedeutung einer Stadt oder einer
Region berücksichtigt werden, also auch die Angebote
der Kleinkunst und das, was vor Ort durch viele in ehrenamtlichem Engagement oder in Projekten Tätige geschaffen wird; denn die Vielfalt macht die kulturelle
Identität einer Region aus. Nur wenn wir das berücksichtigen, haben wir die Chance, die gesamten kreativen Entwicklungspotenziale zu fördern.
({3})
Zweitens. In Bezug auf die öffentliche Kulturfinanzierung fordern Sie vieles, was Bund, Länder und Kommunen gemeinsam machen sollen. In Ihrem Antrag steht
allerdings, alles das dürfe den Bund nichts kosten.
({4})
Wenn man sich das vor Augen hält und auch die aktuellen Entwicklungen berücksichtigt, stellt man fest, dass
alle frommen Wünsche zur Förderung des Kulturtourismus hinfällig sind; denn wegen der finanziellen Situation der Kommunen - wir haben gestern darüber debattiert - erodiert dort die Basis, auf der Kulturpolitik
gestaltet werden kann. Das ist nicht nur durch die Krise
bedingt, sondern hat auch viel mit der schwarz-gelben
Steuerpolitik und den von Ihnen weiter geplanten Steuersenkungen zu tun.
Kolleginnen und Kollegen, deswegen müssen wir die
gestern im Ausschuss begonnene Diskussion weiterführen und darüber nachdenken, wie wir entsprechende
Rahmenbedingungen schaffen können, damit Kultur in
den Städten als eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge gefördert werden kann. Wenn wir das nicht tun,
sorgen wir nämlich dafür, dass die Infrastruktur zurückgebaut wird. Wir müssen sie aber ausbauen. Das ist
wichtig, wenn wir Kultur und Tourismus miteinander
verbinden wollen.
({5})
Wir haben den Vorschlag unterbreitet, einen Rettungsschirm für Kommunen aufzuspannen. Es gibt auch
andere Vorschläge. Wir müssen aber eine Lösung finden.
Allein mit der Aussage „Es darf uns nicht mehr kosten.“
werden wir hier wahrscheinlich nicht weiterkommen.
Drittens. Es fehlt jede Aussage zu den Arbeits- und Lebensbedingungen der Kulturschaffenden. Ich habe jetzt
- auch in dem neuen Amt - viele Diskussionen geführt.
Es ist so - darin sind wir uns auch einig -, dass diejenigen,
die Kultur schaffen, die Basis dafür sind, dass Kulturtourismus entstehen kann und die Städte oder Regionen ihr
Image entwickeln können.
Zu dieser Wahrheit gehört aber auch, dass derjenige,
der seine kulturelle Vielfalt und all seine Potenziale entfalten will, auch Sicherheit im Hinblick auf seine existenzielle Absicherung haben muss. Deshalb müssen wir
im Rahmen des Themas Kulturtourismus auch darüber
reden, wie die Einkommensbasis der Kulturschaffenden
aussieht und wie wir beispielsweise die Künstlersozialversicherung weiterentwickeln können; denn wir wissen,
dass es bei der Absicherung, bei Krankengeld und Arbeitslosigkeit, Lücken gibt. Außerdem müssen wir bedenken, dass ein Mindestmaß an sozialer Absicherung
die Grundbedingung dafür ist, dass man den Kopf frei
hat, um das Potenzial, das man hat, zu entfalten.
Ich bin froh, dass wir im „Deutschland-Plan“ von
Frank-Walter Steinmeier einen Zusammenhang mit dieser Frage hergestellt haben und einen Kreativpakt von
Wirtschaft, Politik und Künstlern fordern. Auch darüber
sollten wir einmal reden. Denn in diesen Zusammenhang
- das betrifft auch die Tourismuswirtschaft - gehören
Tarifverträge und soziale Standards, die auch im Kulturund Medienbereich eingehalten werden müssen. Bei diesen Themen müssen wir auch über den Schutz des geistigen Eigentums sprechen; denn das ist die Voraussetzung
dafür, dass sich das vorhandene Potenzial entfalten kann.
Der allerletzte Punkt. Wir werden in diesem Zusammenhang auch über die Einbeziehung des bürgerschaftlichen Engagements und die Rahmenbedingungen dafür
Ulla Schmidt ({6})
reden müssen. Mit diesem Antrag zur Stärkung des Kulturtourismus bietet sich uns die Chance, durch eine
breite Debatte auch eine Antwort auf die Frage zu geben,
wie wir die kulturelle Infrastruktur in 10, 20 oder 30 Jahren sicherstellen wollen. Denn dann werden wir es mit
einem größeren Anteil älterer Menschen zu tun haben,
mit älteren Menschen, die auf der einen Seite
Frau Kollegin.
- Einwohner einer Stadt und Region sind, auf der anderen Seite aber Touristen, vielleicht auch Kulturschaffende. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, die Grundlagen
für soziale und kulturelle Netzwerke zu schaffen,
Frau Kollegin!
- wird Nachhaltigkeit nicht gesichert sein.
Vielen Dank.
({0})
Helga Daub hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In der vergangenen Woche - ab und zu hat man ja
ein bisschen freie Zeit; dann nimmt man auch einmal an
Seminaren und ähnlichen Veranstaltungen teil - habe ich
von einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung gehört,
die sich Mediatisierung nennt. Der Vorgang, der damit
gemeint ist, ist zwar nicht ganz neu, spielt in dem Bereich, über den wir heute sprechen, aber eine zunehmend
wichtige Rolle.
Mit „Mediatisierung“ ist gemeint, dass sich der
Mensch seine Wirklichkeit immer mehr nach Medienbildern zusammenbastelt. Was in den Medien vorkommt,
existiert; was dort nicht vorkommt, wird ignoriert. Manche Experten fürchten daher - nicht ganz zu Unrecht -,
dass die sogenannten primären Erfahrungen dadurch immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.
Was meine ich damit? Es geht darum, dass wir mittlerweile an einem Punkt angelangt sind, an dem kulturell/touristisch vermeintlich weniger attraktive Orte Sehenswürdigkeiten erfinden, um im Wettbewerb um den
Gast mithalten zu können. Wer will es den Menschen
denn verdenken, dass sie ein Stück vom Kuchen, dem
Medienrummel, abhaben wollen? Was ich damit nicht
meine und was auch nicht hierher gehört, ist zum Beispiel das Glottertal mit der Schwarzwaldklinik, auch
wenn das Glottertal sehr schön ist, Herr Pfeiffer.
Wer sich mit dieser Materie befasst, weiß um die alten
Streitpunkte zwischen den Kulturschaffenden auf der einen Seite und den Touristikern auf der anderen Seite.
Das ist ein Disput, der oft genug zu einer gegenseitigen
Blockade, zu einem ärgerlichen Windhundrennen um öffentliche Fördermittel geführt hat. Ernst genommener
Kulturtourismus muss darauf bedacht sein, Berührungsängste und Missverständnisse abzubauen. Hier besteht in
der Tat Handlungsbedarf.
Wir werden uns deshalb mehr als bisher für einen
Dialog zwischen Kultur und Tourismus einsetzen müssen. Beides kann und darf nicht separat betrachtet werden. Im Gegenteil, beides sollte sich in hervorragender
Weise ergänzen.
({0})
Wenn wir heute über Kulturtourismus in Deutschland
sprechen, sprechen wir nicht mehr von einem zarten
Pflänzchen, sondern - Frau Pawelski hat die Zahlen genannt - von einem Wirtschaftszweig, in dem 82 Milliarden Euro erwirtschaftet werden und von dem in Deutschland inzwischen 1,5 Millionen Menschen leben. Gerade
im Osten Deutschlands ist der Kulturtourismus für viele
Kommunen die einzige Einkommensquelle.
({1})
Deutsche Kultur genießt weltweit einen sehr guten
Ruf. Vergessen wir auch nicht die Nachkommen ehemaliger Auswanderer, die unser Land auf der Suche nach
ihren Wurzeln besuchen. Hier ließe sich wunderbar mit
der Luther-Dekade werben.
({2})
Der Kulturtourismus spielt mittlerweile auch innerhalb Deutschlands eine wichtige Rolle. Wir leben in Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen vom Pauschaltourismus abwenden und ihr eigenes Land kennenlernen
wollen. Städtereisen und Kurzurlaube sind in. Immer
mehr Menschen nehmen kulturelle Highlights in ihre
Reiseplanung auf. Ich erinnere, obwohl das fast unnötig
ist, an die Berliner Museumsinsel oder an die Ausstellung des MoMA am Potsdamer Platz, bei der sich lange
Schlangen bildeten. Das war übrigens ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man eine Ausstellung bundesweit
vermarkten kann.
({3})
Hoffen wir, dass die Vermarktung „RUHR.2010 - Kulturhauptstadt Europas“ genauso gelingt. RUHR.2010 ist
eine Riesenchance für das Ruhrgebiet und könnte dazu
beitragen, das Image des Ruhrgebietes nachhaltig zu
verändern, und zwar hin zum Image eines Kulturstandortes. Der Einstieg war schon sehr gut; aber auch nach
2010 müssen wir dranbleiben.
({4})
- Ich komme von dort.
Aber auch historische Altstädte haben ihren Reiz. Als
ich kürzlich durch einen Ort mit einer historischen Altstadt ging, hörte ich, wie eine Touristin mit unverkennbar amerikanischem Akzent zu ihrem Begleiter sagte:
Mein Gott, zu der Zeit hatte Kolumbus uns noch nicht
einmal entdeckt! - Sie meinte die Jahreszahlen auf den
historischen, alten Häusern. Unsere historischen Kulturgüter sind ein Pfund, mit dem Deutschland wuchern
kann.
Übrigens gehören auch Volksfeste zum Kulturgut. Für
das Oktoberfest werden wir nicht gesondert werben
müssen - es ist hinreichend bekannt -, für Volksfeste in
anderen Bundesländern aber durchaus.
({5})
Allein mit den unterschiedlichen Landsmannschaften hat
Deutschland eine große Vielfalt zu bieten. Diese Vielfalt
hat die Deutsche Zentrale für Tourismus im Ausland in
hervorragender Weise kommuniziert und wird dies auch
weiterhin tun.
Auch die Deutsche Welle spielt in diesem Zusammenhang eine nicht unerhebliche Rolle. Sie ist ein Kommunikationsmittel, das gerade die jungen weltoffenen Menschen in vielen Teilen der Welt erreichen kann.
Von Bedeutung ist auch die Durchführung von Deutschland-Jahren im Ausland; davon konnte sich Staatsministerin Cornelia Pieper in Vietnam gerade überzeugen.
Wir begrüßen, dass nach Jahren des Abbaus und der
Stagnation die auswärtige Kulturpolitik wieder eine bedeutende Rolle spielt.
({6})
Bei den genannten Punkten liegt der Schwerpunkt natürlich auf der kulturellen Komponente. Wir hoffen, dass
sie touristische Wirkung nach sich ziehen wird.
Zurück nach Deutschland. Wir müssen für den Kulturtourismus gemeinsam mit den kommunalen Spitzenverbänden ein Konzept erarbeiten. Dazu könnte die Auslobung eines regelmäßigen Wettbewerbs „Kulturregion
Deutschland“ gehören; Sie haben es auch schon erwähnt, Frau Pawelski. So kann es gelingen, Ressourcen
zielgerichteter zu bündeln. Wenn man Ressourcen bündelt und koordiniert, kann das die Haushalte entlasten. In
vielen Kommunen geschieht das schon; aber eine nationale Koordinierung wäre sicherlich hilfreich.
({7})
Ich möchte hinzufügen: Um allen Menschen eine
Teilhabe am Kulturtourismus zu ermöglichen, müssen
wir dafür sorgen, dass möglichst viele Angebote barrierefrei sind.
({8})
Ich hätte mir bei einem Antrag, den Sie damals mitgetragen haben, wenn er auch im letzten Moment nicht zum
Tragen kam, gewünscht, Sie hätten sich da etwas anders
verhalten.
({9})
Frau Kollegin, Ihre Wünsche äußern Sie jetzt schon
außerhalb der Redezeit.
Ich komme zum Ende.
Nur so viel: Wir stehen im Wettbewerb mit anderen
Ländern in „good old Europe“, und wir müssen uns anstrengen, um den Anschluss zu halten. Im Tourismus ist
es wie im richtigen Leben: Andere Mütter haben auch
schöne Töchter.
({0})
Ich will sagen: Andere Länder haben auch schöne Kulturdenkmäler, hervorragende Künstler und ein kreatives
Potenzial, um den Tourismus zu vermarkten. Deshalb
bitte ich Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Frau Kollegin!
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn sie
nicht ganz ungeteilt war.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Kornelia
Möller das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Ich grüße Sie, Herr Vorsitzender!
Meine Damen und Herren! Es gehört zur Tradition der
Tourismuspolitiker der Koalitionsfraktionen, unmittelbar
vor der jährlichen ITB eine Debatte zum Stand und zu
den Perspektiven des Tourismus in Deutschland auszulösen.
({0})
- Genau. - Diesmal geht es um die Stärkung des Kulturtourismus. Offenbar soll es jedoch bei einer konsequenzenlosen Debatte bleiben; denn die Koalition will keinen
Cent dafür ausgeben. Es ist ein Schaufensterantrag - mal
wieder.
Mit dem vorgelegten Antrag zielen Sie vorrangig auf
eine bessere Vermarktung der Kultur. CDU/CSU und
FDP kritisieren, dass noch nicht alle Potenziale beim Zusammenwirken von Kultur und Tourismus Gewinn bringen, das heißt, mit dem erwarteten Profit genutzt werden
können. Diese einseitige Ausrichtung auf Vermarktungsstrategien lehnt die Linke ab.
({1})
Die Kultur ist vor allem ein öffentliches Gut und wesentliches Moment von Lebensqualität und nicht ausschließlich ein Standortfaktor. Die Kultur hat über ihre Bedeutung für den Tourismus hinaus einen Wert an sich. Wir
plädieren deshalb für ganzheitliche und nachhaltige Strategien zur Entwicklung von Städten und Regionen als
Lebensräume, in die sich auch Konzepte für Kultur und
Tourismus einbetten lassen. Erfolgreicher Kulturtourismus verlangt aus unserer Sicht über nutzerfreundliche
Kultureinrichtungen und ein gemeinsames Kulturtourismuskonzept von Ländern und kommunalen Spitzenverbänden hinaus, dass die vorhandenen kulturellen Potenziale erhalten und ausgebaut werden.
Deutschland hat zweifelsohne eine reiche kulturelle
Infrastruktur - noch. Akut bedroht wird sie gegenwärtig
durch die Folgen der Wirtschaftskrise und die aktuelle
Politik. Viele Kommunen stehen vor dem Ruin. Sie sind
nicht mehr in der Lage, ihre öffentliche Infrastruktur
aufrechtzuerhalten. Hier wird dann bei den freiwilligen
Ausgaben als Erstes im Bereich der Kultur gekürzt. Das
ist bei uns in Bayern genauso wie anderswo auch. Entgegen der Regierungspolitik, mit der den Kommunen noch
härtere finanzielle Daumenschrauben verordnet werden
sollen, fordern wir als Linke ein Soforthilfeprogramm
Kultur zum Erhalt der Infrastruktur in den Städten und
Gemeinden. Das ist der beste Beitrag zur Stärkung des
Kulturtourismus.
({2})
Zum Nulltarif ist das allerdings nicht zu haben. Nur im
Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen
kann über den Erhalt der baulichen Substanz hinaus die
Arbeit der Kulturstätten weiterhin gesichert werden.
Nehmen wir die in Ihrem Antrag und auch eben von
Ihnen angesprochene Lutherdekade. Die Stadt Wittenberg in Sachsen-Anhalt kann die Lasten durch das weltweite Interesse am Reformationsjubiläum im Jahre 2017
unter keinen Umständen alleine schultern. Sie braucht
ausdrücklich Bundesförderung. Die Akteure vor Ort hoffen deshalb auf positive Bescheide all jener Ministerien,
in denen über Fördermittel zu entscheiden sein wird. Wir
werden dann sehen, wie ernst Ihnen der Kulturtourismus
wirklich ist.
Die kulturelle Infrastruktur ist aber nicht allein durch
die knappen Kassen der Kommunen bedroht. Gefährdet
wird sie auch durch eine kurzsichtige Standortpolitik
und einseitige Vermarktungsstrategien, nämlich genau
die, auf die Sie mit Ihrem Antrag zielen. Paradoxerweise
zerstören Sie so das Potenzial, das Sie eigentlich verwerten wollen. Dagegen wächst aber der Widerstand der Betroffenen, wie zum Beispiel in Hamburg. Dort wehren
sich Künstler, Bürger und Kulturschaffende gemeinsam
gegen die Kürzung des Kulturhaushalts. Sie sagen klar:
Das schädigt die Zukunft unserer Stadt. - Die Kulturmacher wehren sich gegen eine Kulturpolitik als Eventisierungsstrategie - so heißt das -, als Teil einer einseitigen
Ausrichtung der Politik des Senats auf den Profit. Sie
wehren sich gegen eine unternehmerische Stadtpolitik,
die Künstler und Bewohner aus ihren Lebensräumen
verdrängt, statt sie zu fördern.
Dieser sozialen Seite an der Schnittstelle von Tourismus und Kultur widmet der Antrag der Koalitionsfraktionen keine Silbe, wie er insgesamt die sozialen
Aspekte des Tourismus fast völlig ausblendet. Auch in
Bezug auf die Barrierefreiheit des Tourismus bleibt er
leider weit hinter unseren Erwartungen zurück.
({3})
- In einem einzigen Punkt, Punkt 8, fordern Sie die Bundesregierung auf, auf die Barrierefreiheit hinzuwirken.
Entschuldigung, aber schwammiger geht es nicht.
Kulturtourismus ist ökonomisch und arbeitsmarktpolitisch bedeutsam; das ist schon angeklungen. Er ist
ein wichtiger Faktor und muss gezielt gefördert werden.
Dabei sehen wir neben den Ländern auch den Bund in
der Pflicht. Insofern hat sich die Linke auch grundsätzlich für die im Antrag genannte Initiative „Kultur- und
Kreativwirtschaft“ ausgesprochen. Wichtig ist uns in
diesem Zusammenhang, dass die bestehenden Existenzgründerprogramme und Beratungsangebote sowie die
Mittelstandspolitik stärker auf die speziellen Anforderungen von Klein- und Kleinstunternehmen der Kulturund Kreativwirtschaft ausgerichtet werden.
Selbstverständlich müssen auch die sozialen Probleme der Beschäftigten stärker Berücksichtigung finden. Da wundere ich mich etwas über die Kollegin
Schmidt von der SPD; denn wir haben in der letzten Legislaturperiode einige Anträge eingebracht und mussten
dann feststellen, dass Schwarz-Rot genauso agiert hat,
wie Sie es jetzt Schwarz-Gelb vorwerfen.
({4})
Man kann hier also einiges tun. Wir stehen demnächst
ganz an Ihrer Seite und können gerne gemeinsam weitere Anträge einbringen.
Kurzum: Ihr Antrag ist gesellschaftlich kontraproduktiv, weil er vorrangig und einseitig von den Profitinteressen einer kleinen Gruppe ausgeht. Er ist widersprüchlich, weil Sie mit Ihrer Politik des finanziellen
Ausblutens den Kommunen kurz- und mittelfristig den
Boden entziehen.
Kollegin Möller, achten Sie bitte auf die Redezeit!
Ja. - Er ist unglaubwürdig, weil jeder weiß, dass Forderungen und Aufgabenstellungen der finanziellen Untermauerung bedürfen, wenn sie erfüllt werden sollen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg
möchte ich eines sagen: Der vorliegende Antrag hat ein
lobenswertes Ziel, das ich vom Grundsatz her voll und
ganz unterstütze.
({0})
- Klatschen Sie nicht zu früh! - Es geht um die Synergie
von Kultur, Kreativökonomie und Tourismus. Da sind
wir noch beieinander; da sind wir auf einer Seite. Aber
ich muss schon das berühmte Wasser in den Wein gießen, wenn sich die Frage nach der Finanzierung stellt.
Die Kollegin Schmidt hat das bereits angesprochen.
Die Kollegin Pawelski hat es schon gesagt: Deutschland ist schön. - Im Antrag wird vieles aufgezählt. Aber
man muss sich die Frage stellen, wie wir die 1 100 historischen Stadt- und Ortskerne langfristig erhalten wollen,
ohne dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen.
({1})
Wie wollen wir die 33 UNESCO-Welterbestätten erhalten und dauerhaft ausbauen, ohne dafür mehr Mittel zur
Verfügung zu stellen?
({2})
Wie wollen wir Kulturcluster fördern, wenn wir keine
Mittel zur Verfügung stellen?
Ich könnte diese Fragen beliebig fortführen. Die Antwort bleibt immer dieselbe. Sie haben einen Antrag vorgelegt, der für die Länder und Kommunen gigantische
Mehrausgaben bedeutet. Ich bin fest davon überzeugt,
dass sie die notwendigen Mittel in die Hand nehmen
würden, um den Kulturtourismus zu fördern, aber sie
können es nicht. Damit komme ich zu einem Punkt, den
Sie sicherlich schon erwartet haben, dem von Ihnen verabschiedeten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Mit der
darin vorgesehenen Mehrwertsteuersenkung für Hotels
haben Sie den Ländern keinen Drops, sondern einen
ganz dicken Brocken zum Schlucken gegeben, was die
sicher gut gemeinte Intention Ihres Antrages leider konterkariert.
({3})
Wie sieht denn die Lage in den Kommunen und Ländern aus? Dort werden Bäder geschlossen. Schulen verkommen. Im öffentlichen Sektor werden Stellen abgebaut, und im Kulturbereich wird jämmerlich entlohnt. Im
Kulturbetrieb wird sogar vor Theaterschließungen nicht
mehr haltgemacht. Das machen die Länder und Kommunen aber nicht aus Verantwortungslosigkeit, sondern sie
werden von der nackten Not getrieben. Dass fast alle der
52 Stätten, die am Kulturhauptstadtprogramm teilnehmen - die Kulturhauptstadt RUHR.2010 ist bereits erwähnt worden -, mit Nothaushalten leben müssen, sagt
viel aus. Das ist für eine Kulturnation ein schwaches
Bild.
({4})
Unsere Fraktion hat deshalb jetzt einen Antrag formuliert, in dem es darum gehen wird, die kulturelle Infrastruktur finanziell zu sichern. Wir wollen ein Substanzerhaltungsprogramm Kultur auflegen. Ich empfehle,
wenn es Ihnen wirklich um Kulturtourismus geht, diesem Antrag zuzustimmen, wenn er in diesem Hause zur
Abstimmung steht.
({5})
Wichtiger ist aber noch: Stoppen Sie die Sorglosigkeit
gegenüber den Kommunen, und packen Sie Butter bei
die Fische!
({6})
Mir geht es an dieser Stelle keineswegs um Pauschalkritik an Ihrer tourismuspolitischen Ausrichtung. Sie wissen, dass wir im zuständigen Ausschuss sehr gut und
sehr vertrauensvoll zusammenarbeiten. Aber hier wollen
Sie ein - zugegebenermaßen prachtvolles - Haus bauen,
ohne vorher die Fundamente zu setzen oder zu pflegen.
Das kann nicht funktionieren.
({7})
Wir wollen den Kulturtourismus fördern. Bei einem
Bruttoumsatz von 82 Milliarden Euro und rund 1,6 Millionen Beschäftigten wird schnell klar, dass dies ein förderungswürdiger Sektor ist. Auch da sind wir auf einer
Linie. Wir sind auch dafür, dass die Gespräche mit den
Ländern und Kommunen intensiviert werden, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der finanziellen Situation der
Kommunen. Wir sind auch für die Barrierefreiheit. Das
wissen Sie; dafür haben wir uns immer eingesetzt.
({8})
Wir könnten auch dem Vorschlag eines Wettbewerbs
„Kulturregion Deutschland“ und der Vernetzung der Akteursstrukturen oder der Bildung von Kulturclustern zustimmen. Voraussetzung dafür ist und bleibt aber ein
schlüssiges Finanzierungskonzept, und das fehlt hier.
({9})
Sie haben es in Ihrem Antrag selber herausgearbeitet:
Der Ruf Deutschlands in Kulturbelangen ist herausragend. Wir dürfen aber genau aus diesem Grund die
Kommunen und die Länder nicht im Regen stehen lassen. Kulturtourismus lebt in erster Linie - auch das ist in
diesem Antrag deutlich geworden - von diesen kommunalen Angeboten. Wachstumsmotor in kultureller und
ökonomischer Hinsicht kann er nur sein, wenn wir ihn
nicht schon im Voraus abwürgen.
Ich freue mich ganz besonders, dass Sie - das gilt insbesondere für die Unionsfraktion - mit der Bildung von
Kulturclustern jetzt auch die zahlreichen Klubs in Berlin
unterstützen wollen.
({10})
Das geht mit der Schaffung von Kulturclustern einher.
Die Förderung der Kreativökonomie hat etwas mit einem moderneren Verständnis von Kulturpolitik zu tun.
Wir freuen uns, dass dies in diesem Antrag Eingang gefunden hat. Wir wissen, dass durch diese Klubszene
neue Wertschöpfungsprozesse in Berlin und im Umland
entfacht werden, und sind hier sehr zuversichtlich.
Ich möchte auf eine Zeitungsveröffentlichung zurückkommen. Die Süddeutsche Zeitung hat sich in der Ausgabe vom 19. Februar dieses Jahres mit der gravierenden
Finanznot der Kommunen beschäftigt, auch der im
Ruhrgebiet. In diesem Artikel wird die Finanznot sehr
treffend beschrieben. Ich möchte die letzten beiden Sätze
zitieren:
Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundesrepublik weltweit einmalig. Das dürfte, wenn die Entwicklung so weitergeht, in zwei Jahren Geschichte
sein.
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
({11})
Alles in allem kann ich sagen: Ja, die Förderung des
Kulturtourismus ist zwingend notwendig, dann aber auf
der Basis eines Gesamtkonzepts, das den Kommunen
und den Ländern zunächst den notwendigen finanziellen
Spielraum lässt, Kultur zukunftsweisend betreiben zu
können. Ihr Antrag ist keine differenzierte Grundlage für
eine dezidierte Förderung des Kulturtourismus oder der
Kreativökonomie. Deswegen können wir diesem Antrag
leider nicht zustimmen.
({12})
Vielen Dank.
({13})
Kollege Tressel, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auch
für Ihre weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Dagmar
Wöhrl das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts der Reden in dieser Debatte freue ich mich.
Ich freue mich darüber, dass die Worte „Kultur“ und
„Kreativwirtschaft“ in wirklich jeder Rede vorgekommen sind. Das war nicht immer so. Als Herr Staatsminister Neumann damals mit uns im Wirtschaftsministerium
das Baby Kulturtourismus aus der Taufe gehoben hat,
war das ein Novum. Das Baby hat sich inzwischen wunderbar entwickelt.
({0})
Wenn wir über Kulturlandschaft reden, ist immer ein
neuer Geist dabei, nämlich der unternehmerische Geist,
den wir in den Diskussionen vorher nicht hatten. Umso
mehr bedauere ich es, wenn ich von der Opposition das
Wort „Kultur“ immer nur im Zusammenhang mit dem
Wort „Zuschussbetrieb“ höre. Manchmal wird Kultur
vielleicht noch als schöpferisches oder schmückendes
Beiwerk wahrgenommen. Es wird jedoch nicht das immense ökonomische Potenzial gesehen, das in dem Bereich der Kulturlandschaft vorhanden ist. Die Kulturhauptstadt in diesem Jahr ist „RUHR.2010“. Im Rahmen
von „RUHR.2010“ ist die Kultur- und Kreativwirtschaft
eines der Hauptthemen. Das zeigt, dass erkannt worden
ist, wie wichtig dieses Thema ist. Deswegen muss unser
Motto sein: Die Kultur braucht Wirtschaft, und die Wirtschaft braucht die Kultur.
({1})
Wir haben eine schwierige Haushaltslage. Das hat
gestern die Debatte mit den Kommunen gezeigt. Wir sehen ganz genau, dass wir die Finanzierung der Kultur
von der Haushaltslage abkoppeln und die Fähigkeit der
Kulturschaffenden und der Kreativen erhöhen müssen,
damit sie sich eigenständig finanzieren können. Das
muss unser Ziel sein. Wir sollten nicht immer darüber
nachdenken, ob noch ein weiterer Topf eingerichtet werden kann, um das Füllhorn auszuschütten.
({2})
Die Kulturschaffenden selbst wollen, dass ihr ökonomischer Wert in diesem Land anerkannt wird. Sie haben in
der Tat einen immens großen volkswirtschaftlichen
Wert. Sie wollen sich nicht immer nur als Subventionsempfänger sehen, als die Sie sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition, hinstellen.
({3})
Wir müssen aber eines sehen: Die Wirtschaft braucht
auch die Kultur. Kultur schafft Werte, aber Kultur schafft
auch Arbeitsplätze. Allein in dem Bereich der Kulturund Kreativwirtschaft sind über 1 Million Menschen beschäftigt. Es gibt 240 000 Unternehmen in dieser Branche. Dieser Sektor ist nicht nur für Großstädte wie Berlin, sondern auch für viele andere Regionen zu einem
Wachstumsbeschleuniger geworden. Wie stolz war gestern die Stadt Berlin, als sie mitteilen konnte, dass 2009
mit über 18 Millionen Übernachtungen das beste Tourismusjahr aller Zeiten für Berlin gewesen ist. Daran sieht
man, dass der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle
für die Kreativen und die Kulturschaffenden ist. Auch
die Berlinale hat ein traumhaftes Ergebnis für die Stadt
gebracht. Di Caprio kommt nicht, weil wir hier tolle Palmenstrände haben, sondern er kommt wegen der Kultur.
Gut, die Stars kommen schon wegen Kultur und Geschäft, aber das gehört hier zusammen.
Die Kulturreisen nach Deutschland haben letztes Jahr
um 30 Prozent zugenommen. Das Ruhrgebiet erwartet
dieses Jahr einen Zuwachs von 15 Prozent, mit steigender Tendenz. Deutschland ist inzwischen das zweitbeliebteste Kulturreiseland in Europa. Aber das kommt
nicht von ungefähr. Hinter dieser Entwicklung stecken
viele kreative Köpfe. Unsere Aufgabe ist es, sie zu unterstützen, und zwar in vielerlei Hinsicht. Das ist die Aufgabe der Politik. Aber das muss nicht immer mit Geld
geschehen, wie gefordert wird. Das ist nicht das A und O
in diesem Zusammenhang.
({4})
- Liebe Frau Kollegin Schmidt, Sie haben vorhin
vom Kreativpakt des Kollegen Steinmeier geredet. Das
habe ich damals mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen; das war zu Vorwahlkampfzeiten. Ich habe mir gedacht: Er hat noch nie etwas von der Kultur- und Kreativwirtschaft gehört. - Alles das, was damals gefordert
worden ist, hatten wir schon längst in die Wege geleitet.
({5})
Es sind hier allein elf Branchenhearings abgehalten worden.
Der Kulturtourismus ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Ich nenne in diesem Zusammenhang die
MoMA-Ausstellung, die Documenta in Kassel und viele
Ereignisse mehr. Wir müssen aber sehen: Es gibt immer
noch Potenziale, die nicht vollständig ausgeschöpft werden. Der Tourismus geht zwar mit der Kultur Hand in
Hand - so kann man sagen -, aber sie liegen sich nicht in
den Armen.
({6})
Das heißt, um den Tourismus anzukurbeln, müssen wir
die Kulturprodukte vermarkten. Diese Vermarktung erfolgt oft nicht. Oft ist weder Marketing noch Kundenorientierung vorhanden.
Jetzt könnte man sich fragen, ob die Kulturschaffenden eine Kommerzialisierung befürchten und vielleicht
gar keine Vermarktung wollen. Das Gutachten, das die
Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode in Auftrag gegeben hat, hat uns gezeigt, dass dem nicht so ist.
Vielmehr fehlt vielen Kreativen das ökonomische
Know-how. Das hängt mit der Struktur zusammen.
97 Prozent der Betriebe sind Kleinbetriebe. Deswegen
ist es richtig, dass wir das Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft ins Leben gerufen haben. Damit unterstützen wir diesen Bereich im Hinblick auf Professionalisierung und Dialogfähigkeit. Ich glaube, dass
wir hier auf dem richtigen Weg sind.
Kollegin Wöhrl, achten Sie bitte auf das Signal!
Ich achte darauf.
Eines müssen wir aber auch sehen: Tourismusanbieter
müssen ihre Defizite in diesem Bereich aufarbeiten und
sich um künstlerisches Know-how kümmern, wenn sie
auch Kulturangebote machen wollen.
Wir müssen Brücken bauen. Dies ist die Aufgabe der
Politik.
Kollegin Wöhrl, jetzt müssen Sie das Signal bitte beachten.
({0})
Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal auf
das Motto hinweisen, das ich zu Beginn meiner Rede angesprochen habe: Die Kultur braucht die Wirtschaft, und
die Wirtschaft braucht die Kultur. Dies ist der richtige
Weg.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mit mir
Nachsicht hatten.
({0})
Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Kultur und Tourismus sind zwei Seiten einer Medaille geworden.
Dies wird richtigerweise im Tourismuspolitischen Bericht der letzten Bundesregierung festgestellt. Das zeigt:
Wir sind auf dem richtigen Weg. Frau Wöhrl, dies geht
weit über das hinaus, was Sie gerade angesprochen haben, nämlich die Verbindung von Wirtschaft und Kultur.
Dieser Bereich ist Gott sei Dank viel breiter und viel facettenreicher aufgestellt und ist damit auch viel interessanter.
Sie wissen, 2005 hat Rot-Grün mit dem Antrag „Die
vielfältigen Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtourismus weiter erschließen“ einen wesentlichen Meilenstein gesetzt. Sie greifen in Ihrem Antrag einige Punkte
auf. Allerdings müssen wir leider feststellen, dass viele
Punkte unter den Tisch gefallen sind.
({0})
So haben Sie zum Beispiel mit keinem Wort die Vielfältigkeit und den Wert der Kultur an sich erwähnt. Sie zielen nur auf die Vermarktung. Das ist etwas zu eng gedacht. Ich finde es gut, dass Sie in Ihren Ausführungen
- in Ihrem Antrag findet sich dies noch nicht wieder 2102
den sehr wichtigen Vermarktungsfaktor, das Internet, mit
benannt haben. Da müssen wir in der Tat noch schärfer
hinschauen. Es kann nicht angehen, dass nur ein Drittel
der Menschen über schnelle Breitbandzugänge verfügt.
({1})
Hier muss Ihr Antrag deutlich nachgebessert werden.
Stichwort Ehrenamt - Kollegin Ulla Schmidt hat darauf hingewiesen -: Es kann doch nicht angehen, dass
Sie diesen Bereich - über 2 Millionen ehrenamtlich Engagierte leisten eine tolle Arbeit - anders als in unserem
Antrag von 2005 überhaupt nicht erwähnen. Dies muss
dringend korrigiert werden.
Lassen Sie mich einen anderen Punkt ansprechen;
hier war ich wirklich entsetzt. Wie kann Ihnen der Fehler
unterlaufen, dass Sie in dem vorliegenden Antrag den
gesamten Komplex der europäischen Ebene mit keinem
einzigen Wort erwähnen? Hier muss entsprechend nachgeschärft werden; darauf müssen wir in der Diskussion
achten.
({2})
Ein - Entschuldigung, dass ich es so deutlich sage Armutszeugnis für Kultur- und Tourismuspolitiker stellt
sinnigerweise die Nr. 13 Ihres Antrages dar. Sie fordern
dort die Bundesregierung auf,
die vorgenannten Maßnahmen im Hinblick auf die
aktuelle Haushaltslage ohne zusätzliche Belastungen des Bundeshaushalts zu planen und durchzuführen.
Sorry, so wird es nicht funktionieren. Es funktioniert mit
Sicherheit auch nicht, wenn Sie die verkehrten Impulse
setzen. Das Hotelgewerbe nach dem Gießkannenprinzip
mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen, ist der verkehrte
Weg.
({3})
- Frau Daub von der FDP, hören Sie auf Ihren stellvertretenden Parteivorsitzenden! Wo der Mann recht hat,
hat er recht. Dazu kann ich nur sagen: Weg mit dieser
Maßnahme!
({4})
Positiv zu beurteilen ist, dass Sie - Frau Pawelski, Sie
erinnern sich - im Gegensatz zu den Beratungen in der
letzten Legislaturperiode die UNESCO-Welterbestätten
in Ihren Antrag aufgenommen haben. Das ist sehr positiv. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis dafür,
dass Sie gleichzeitig in den Haushaltsberatungen die
Mittel für deren Erhalt und Sanierung - in Ihrem Antrag
verweisen Sie noch stolz auf die bereits zur Verfügung
gestellten 150 Millionen Euro und eine Fortsetzung der
Förderung - um 10 Millionen Euro kürzen. Welche Logik steckt hinter einem solchen Vorgang?
Schauen wir uns den nächsten Bereich an, der für den
gesamten kulturpolitischen Tourismus von zentraler Bedeutung ist: die Städtebauförderung. Was tun Sie an dieser Stelle? Sie kürzen um 10 Millionen Euro.
({5})
Dieser Vorgang muss schlicht und ergreifend korrigiert
werden. Das werden wir in den anschließenden Beratungen in aller Deutlichkeit verlangen.
({6})
Sie sprechen die Barrierefreiheit an. Gut so! Allerdings - wir sind uns eigentlich einig; als langjährige
Mitglieder in den zuständigen Ausschüssen wissen Sie
das -, wir sind schon viel weiter. Sie kennen unseren gemeinsamen Antrag „Barrierefreien Tourismus weiter
fördern“. Wir haben dort eine lange Liste von Vorschlägen eingebracht und beschlossen, die von zentraler Bedeutung sind, zum Beispiel die Beachtung der Barrierefreiheit bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen usw.
Unsere Meinung ist: Die Bundesregierung muss diese
Punkte zügigst umsetzen, damit wir hier einen Schritt
weiterkommen.
Frau Wöhrl, ganz wichtig wäre es, den wirklich zentralen Bereich der Entwicklung des gesamten Arbeitskräftemarktes anzusprechen. Da geht es nicht nur um die
Vermarktung, sondern vor allen Dingen darum, dass wir
auf einen eklatanten Fachkräftemangel zusteuern werden. Wir erwarten, dass dieser Punkt in diesem Antrag
ebenfalls Berücksichtigung findet; denn dieser Mangel
gefährdet die zukünftige Entwicklung des gesamten tourismuspolitischen Sektors.
({7})
Lassen Sie mich zum Schluss mit einem Blick auf die
Regierungsbank kurz feststellen: Im Gegensatz zur Debatte über den vorherigen Tagesordnungspunkt, als der
zuständige Verkehrsminister persönlich da war, fehlt nun
der zuständige Minister.
({8})
Das verwundert mich allerdings nicht weiter; denn es ist
in der Tat so, dass Minister Brüderle es bisher, sowohl
bei der Haushaltsrede als auch bei seiner ersten Rede,
wirklich geschafft hat, mit keinem einzigen Wort - man
höre und staune! - den Begriff „Tourismus“ zu nennen
oder irgendwelche inhaltlichen Aussagen dazu zu tätigen. Ich halte das für einen unmöglichen Vorgang.
({9})
Ich wünsche mir, dass Ihr Antrag schnellstmöglich an
den zuständigen Minister weitergeleitet wird, damit er
endlich zur Kenntnis nimmt, dass er dafür verantwortlich ist, entsprechende Punkte umzusetzen.
({10})
- Zur Beruhigung der Gemüter, Frau Pawelski: Wir werden im Ausschuss sehr sachlich versuchen, Ihren Antrag
weiterzuentwickeln, sodass wir insgesamt zu einem guten Ergebnis kommen können.
Ich bedanke mich.
({11})
Das Wort hat der Kollege Christoph Poland für die
Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte
am liebsten mein Manuskript weglegen; aber ich bin zu
neu hier und kenne mich zu wenig aus, als dass ich mir
das jetzt zutraue. Herr Paula, ich kann Ihnen trotzdem
sagen: Es sind zwei Staatssekretäre aus dem Wirtschaftsministerium da, und der Kulturstaatsminister sitzt ebenfalls auf der Regierungsbank.
({0})
Die Beratung dieses Antrags zur Stärkung des Kulturtourismus hat gezeigt, dass wir in diesem Haus ein Stück
weit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung und
vor allen Dingen der Förderung von Kultur und Tourismus haben. Ich wundere mich aber über die Haltung der
Linken, die diesem Konsens nicht so ganz zuzustimmen
scheinen.
Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Konsens ausgebaut wird. Deutschland hat ein hervorragendes Kulturimage mit einem großen kulturellen Erbe in vielerlei
Hinsicht. Dazu zählen Architektur, Kunst, Museen und
Ausstellungen. Lassen Sie mich hier besonders hervorheben: Es sind die Veranstaltungen und Ereignisse, die
die Menschen in der letzten Zeit immer wieder mit Interesse in die Regionen locken. Ich muss Sie der Gefahr
aussetzen, von mir manches zu hören, was Ihnen heute
schon zu Ohren gekommen ist. Eine neue Zahl fällt mir
dabei ein. Der Kulturstaatsminister hat 2008 folgende
Zahlen veröffentlicht: In diesem Jahr sind 113 Millionen
Bürger in ein Museum gegangen; im Gegensatz dazu
hatten nur 17 Millionen Bürger ein Ticket für ein Fußballspiel der 1. oder 2. Bundesliga gelöst. - Ich denke,
der Staatsminister konnte das als einen großen Erfolg
verkünden.
({1})
Der kulturtouristische Markt gilt also zu Recht als boomende Branche. Sehen Sie sich nur die große Gruppe der
wissensdurstigen Senioren an, die immer größer wird.
Neben dem kulturorientierten Städtetourismus müssen
aber auch die vielfältigen Kulturangebote im ländlichen
Raum stärker vermarktet werden. Die wirtschaftliche Bedeutung für die Städte, aber auch für die ländlichen Regionen steigt. Hier möchte ich besonders auf den Punkt
im Antrag hinweisen, in dem ein Wettbewerb „Kulturregion Deutschland“ gefordert wird. Das ist im vereinigten
Europa der Regionen besonders wichtig. Es gibt schon
genug Modelle zur Entwicklung des regionalen Gedankens, Stichwort „Welcome-Center“.
Seit den 90er-Jahren kennen wir den Begriff des Kulturtourismus. Es geht dabei um die Kultivierung von
Freizeit und Tourismus und nicht nur um Basisprojekte
und anderes. Dass das Aufkommen dieses Begriffs mit
der Wiedervereinigung zusammenfällt, scheint mir kein
Zufall zu sein. Deutschland wird wieder neu entdeckt.
Folgte die Bildungsreise des 19. Jahrhunderts noch
Goethes Spuren, ist die Kulturreise ihr modernes Pendant. Auf solchen Reisen erschließen sich uns der
Schlosspark von Sanssouci, die Straße der Romantik, die
Festspiele in Mecklenburg-Vorpommern, die UNESCOWelterbestätten und weitere Erfolgsgeschichten wie
Thüringer Bachwochen, die Documenta in Kassel - von
der MoMa hatten wir schon gehört -, die Dresdner
Musikfestspiele und auch das Netzwerk „Garten Eden“
in Ostfriesland. Nehmen Sie an dieser Stelle auch die europäischen Kulturhauptstädte. Von RUHR.2010 war
schon die Rede.
Ich finde, jede Region muss sich kulturtouristisch
selbst vermarkten.
({2})
Zwei Beispiele aus meiner kulturtouristischen Praxis
sollen diese Wichtigkeit belegen.
Ich reise mit meinem Theaterförderverein des Landestheaters Neustrelitz jährlich in andere Kultur- und
Theaterregionen in Deutschland, um einen Blick über
den Tellerrand zu erhalten. Seit 15 Jahren veranstalte ich
selbst Konzerte mit Jazz- und Weltmusik auf meinem
Hof in Klein Trebbow. Das Dorf war vorher nahezu unbekannt. Wir locken mittlerweile Tausende von Touristen in diese Region.
({3})
- Ohne staatliche Zuschüsse.
({4})
Wir haben mit kleinen kommunalen Hilfen angefangen;
diese staatlichen Hilfen werden dieses Jahr eingestellt,
weil die Kommune sparen muss. Wir haben als Familie
dafür aber auch 15 Jahre lang auf Urlaub verzichtet. Das
möchte ich hier einmal sagen.
({5})
In meinem Wahlkreis gibt es auch das Hans-FalladaHaus in Carwitz. Wir haben damit ein tolles kulturelles
Reiseziel. Für dieses Jahr gibt es ein weiteres tolles Reiseziel, das ich Ihnen ans Herz legen möchte, nämlich das
Sterbezimmer der Königin Luise in Schloss Hohenzieritz, das im 200. Todesjahr von Luise zusammen mit der
Operette Königin Luise - Königin der Herzen im Rahmen der Schlossgartenfestspiele in Neustrelitz als Reiseziel lockt.
({6})
Natur, Kultur und Tourismus finden zusammen, etwa
mit den Buchenwäldern, die als UNESCO-Kulturerbe
anerkannt sind. Die Natur als Reiseziel ist ein besonderes Gut. So viele schöne und verschiedenartige Landschaften haben wir mit der Wiedervereinigung in das gemeinsame Deutschland eingebracht und müssen dies mit
der dort vorhandenen oder zu entwickelnden Kultur verbinden.
Mit dem Kulturtourismus werden die regionale Kultur, die Sehenswürdigkeiten und die Traditionen gestärkt. In diesem Zusammenhang will ich noch einen
weiteren Trend ansprechen: den Religionstourismus.
Diesen gibt es zwar schon lange, aber er nimmt neuerdings wieder zu. So gab es im vergangenen Jahr weltweit über 200 Millionen Religionstouristen. Mit der
Luther-Dekade, die schon vor zwei Jahren begonnen hat,
bieten wir im Hinblick auf das 500-jährige Jubiläum des
Thesenanschlags Jahr für Jahr ein attraktives Programm
für Besucher in Deutschland.
Schon immer und unverzichtbar arbeiten zahlreiche
ehrenamtlich Tätige im Kulturbereich. Das ist ein wichtiges bürgerschaftliches Engagement, das ich an dieser
Stelle ausdrücklich hervorheben möchte. Herr Paula,
auch Sie haben das ja erwähnt.
({7})
Das verdient eine außerordentliche Würdigung. Wir
brauchen in Zukunft qualifiziertes Personal - das hatte
Frau Schmidt schon in ihrer Rede gesagt und Sie, Herr
Paula, haben das auch noch einmal gesagt -, das sich mit
Kultur und Tourismus auskennt und die Besucher entsprechend empfangen kann.
Lassen Sie mich aus Sicht eines Abgeordneten aus einem attraktiven Reiseland an dieser Stelle einmal festhalten: Mit der Absenkung der Mehrwertsteuer für Übernachtungen zu Beginn dieses Jahres sind die finanziellen
Spielräume für unsere Hoteliers und touristischen Unternehmen deutlich verbessert worden. Das ist erforderlich
für eine erfolgreiche Bilanz in der Zukunft.
({8})
Schließen möchte ich mit Goethe. Der hat es trefflich
so ausgedrückt: „Man reist ja nicht, um anzukommen,
sondern um zu reisen.“ Es ist das Reisen an sich, das Unterwegssein, das Kennenlernen von Ländern, Regionen
und Kulturen, das uns fasziniert und bildet. In der Verbindung von Kultur, Religion und Natur schaffen wir
schöne Erlebnisse und leisten einen wichtigen Beitrag
zur positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland.
Herzlichen Dank.
({9})
Kollege Poland, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der
weiteren parlamentarischen Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/676 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, bitte ich Sie,
wenn Sie der folgenden Debatte nicht folgen können
oder wollen, Ihre Gespräche draußen fortzusetzen. Diejenigen, die neu zu uns gekommen sind, finden sicherlich recht bald einen Sitzplatz.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatzpunkt 2 auf:
8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Dem Vorbild Großbritanniens und Frankreichs folgen - Boni-Steuer für die Finanzbranche einführen
- Drucksache 17/452 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gehaltsexzesse nicht länger auf Kosten der
Allgemeinheit
- Drucksache 17/794 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Von der Politik nahezu unbehelligt, konnten
die Banken jahrelang ihre Profitansprüche immer höher
schrauben. Das ist eine der Ursachen für die Krise. Die
Bankmanager wurden für die Bedienung der Profitansprüche exorbitant belohnt, unter anderem mittels
exzessiver Bonuszahlungen. Damit wurde die Orientierung an kurzfristiger Profitmaximierung noch verstärkt.
Die wirksame Regulierung der Vergütungssysteme in
der Finanzbranche bleibt daher eine der notwendigen
Maßnahmen auf der Agenda.
({0})
Die Bundesregierung bekundete, hier aktiv sein zu
wollen. Es gab Absichtserklärungen, die aber nichts weiter als heiße Luft sind: Man müsse prüfen und die internationale Entwicklung abwarten. - Derweil kassieren
die Banker kräftig weiter. Die Krise hat den Staat Milliarden gekostet, vor allem für die Rettung der mitverantwortlichen Banken. Die Frage bleibt: Wer zahlt denn
nun die Zeche? Heute steht im Handelsblatt - etwas
überraschend -: „Milliardenverlust bei Rettungsfonds
Soffin“, für das vergangene Jahr über 4 Milliarden Euro.
Die Position der Linken ist klar: Die Zeche für diese
Krise haben die Verursacher zu zahlen.
({1})
Zu diesen gehören an vorderster Stelle die Banken und
deren Manager. Es kann nicht sein, dass sie weiterhin
unbehelligt Millionen vor allem in Form von Bonuszahlungen kassieren.
Großbritannien und Frankreich haben nun gezeigt,
wie man schnell, einfach und effektiv reagieren kann,
wenn man denn will. In beiden Ländern wird seit Jahresbeginn eine Sonderabgabe auf exzessive Bonuszahlungen in der Finanzbranche erhoben. Die Steuer wird direkt bei den Banken und nicht vom Einkommen der
Manager erhoben. Hohe Boni werden damit für die Banken unattraktiv; denn sie verteuern Bonuszahlungen
durch einen Steuersatz von 50 Prozent. Zudem erweist
sich diese Bonisteuer als finanzieller Renner. Laut
Financial Times Deutschland vom 5. Februar erwartet
Großbritannien in diesem Jahr Einnahmen in Höhe von
bis zu 4,5 Milliarden Euro allein durch diese Steuer. Ich
frage Sie angesichts klammer öffentlicher Kassen, öffentlicher Milliarden für die Banken, steigender Arbeitslosigkeit und vieler Probleme: Wie wollen Sie dafür sorgen, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben,
auch die Zeche zahlen, und wie verantworten Sie, auf
eine solche Einnahmequelle zu verzichten? Auf diese
Frage müssen Sie eine Antwort geben, falls Sie unseren
Vorschlag ablehnen.
Allerdings habe ich eine gewisse Hoffnung, dass auch
die Regierungskoalition zustimmt. Immerhin hat Frau
Merkel die Bonussteuer als eine „charmante Idee“ bezeichnet.
({2})
Lassen Sie jetzt diesen Worten Taten folgen! Unser Vorschlag liegt auf dem Tisch.
Kollegin Höll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volk von der FDP-Fraktion?
Ja.
Danke, Frau Präsidentin, danke, Frau Kollegin Höll. Eines habe ich nicht ganz verstanden. Sie sagen, Sie
wollen mit einer Bonisteuer vermeiden, dass Bonuszahlungen erfolgen. Andererseits wollen Sie mit der Bonisteuer - die nicht anfällt, wenn keine Bonuszahlungen
erfolgen - die klammen öffentlichen Kassen unterstützen. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Vielleicht
können Sie diesen aufklären.
Herr Kollege, danke für Ihre Frage. Ich nutze gerne
die Gelegenheit, das noch einmal klarzustellen.
Wir als Linke halten das System der Bonuszahlungen
prinzipiell für verkehrt, da sie eine Orientierung auf
kurzfristige Profitmaximierung bedeuten und perspektivisch gedacht gesamtwirtschaftliches Interesse über
mehrere Jahre verhindern. Da wir das - das ist ein Punkt
der Regulierung der Finanzmärkte - sicher nicht von
heute auf morgen ändern werden, ist die Idee der Besteuerung der vorhandenen Bonuszahlungen, zu denen die
Banken sich ja gegenüber ihren Managern verpflichtet
haben, als kurzfristige Maßnahme eine sehr charmante
Idee; denn damit besteht tatsächlich die Möglichkeit, da
anzusetzen, wo es sich lohnt: bei den Banken selber. Die
Banken müssen sich überlegen, ob es sinnvoll ist,
Bonuszahlungen zu leisten; denn sie sehen, was diese
kosten. In Großbritannien kosten Bonuszahlungen in
Höhe von 1 Million Euro die Bank 1,5 Millionen Euro.
Das heißt, es verteuert sich für sie. Dadurch ist sie perspektivisch nicht mehr daran interessiert, solche Bonuszahlungen zu tätigen.
Zudem gibt es einen nicht ganz unerheblichen Nebeneffekt. Als in Großbritannien die Bonussteuer eingeführt
wurde, ist man davon ausgegangen, vielleicht
1 Milliarde Euro einzunehmen. Inzwischen geht man davon aus, dass 4,5 Milliarden Euro gezahlt werden. Das
zeigt auch, dass die Bonuszahlungen durch die Steuer
nicht automatisch sofort zurückgehen. Umso notwendiger ist eine langfristige Regelung, ein langfristiges Verbot dieser Zahlungen. Andererseits haben wir dadurch
eine Möglichkeit, die Banken dazu zu zwingen, darüber
nachzudenken, wie sie weiter mit diesem Thema umgehen. Zudem werden die öffentlichen Kassen gestärkt. Ich
denke, durch diesen unmittelbaren Effekt lohnt sich die
Regelung auf alle Fälle.
Ich habe eben nicht ohne Grund das Handelsblatt zitiert. Beim staatlichen Rettungsfonds waren im vergangenen Jahr Verluste in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro
geplant. Jetzt sind wir bei 4 Milliarden Euro. Wenn man
diese Zahlen nebeneinanderstellt, erkennt man einen unmittelbaren Zusammenhang. Man sieht, dass das, was an
unmittelbarer Belastung auf den Bundeshaushalt zukommt, die Mitverursacher der Krise zahlen müssten.
Das wollen wir als Linke.
({0})
Ich wollte mich noch bei Herrn Schäffler von der
FDP bedanken. Herr Schäffler hat, da die Kanzlerin von
einer „charmanten Idee“ gesprochen hatte, den Prüfauftrag an den Wissenschaftlichen Dienst gestellt, ob das
überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Herr
Schäffler wollte damit seine Klientel bedienen. Er hat
leider Pech gehabt; denn das Gutachten ergab das Gegenteil. Es ist tatsächlich möglich. Auch in der Bundesrepublik können wir eine solche Besteuerung der überhöhten Bonuszahlungen an die Manager der Banken
sofort beschließen und damit wirklich steuernd eingreifen.
({1})
Die Bonisteuer ist verfassungsgemäß. Sie nimmt Verantwortliche für die Krise in die Pflicht. Sie lohnt sich.
Sie ist ein Stück mehr Gerechtigkeit. Es ist dringend
Zeit, sie einzuführen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.
Danke.
({2})
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schäffler
das Wort.
Frau Kollegin Höll, Sie haben mich gerade direkt angesprochen; deshalb geben Sie mir bitte die Gelegenheit,
dass ich darauf antworte.
Ich bin der Auffassung, dass die Auseinandersetzung
darüber geführt werden muss - so wie wir das hier auch
tun -, wie wir diejenigen, die in dieser Schieflage vom
Staat durch einen Rettungsrahmen, durch den SoFFin,
geschützt wurden, am Ende zur Rechenschaft ziehen, gar
keine Frage. Aber ich will darüber keine juristische Debatte führen, sondern ich will mit Ihnen eine inhaltliche
Debatte führen, wie wir das tun. Deshalb kann man meines Erachtens hierbei nicht mit verfassungsrechtlichen
Fragen kommen.
({0})
Vielmehr bin ich der Auffassung, dass wir eine inhaltliche Debatte über folgende Frage führen müssen: Was ist
der richtige Weg, um dieses Problem zu lösen?
Hier warte ich auf die Vorschläge der Linken dazu,
wie wir das tatsächlich tun sollen. Wir als FDP machen
uns darüber Gedanken. Ich glaube, wir müssen den
SoFFin zu einer Finanzversicherungsagentur weiterentwickeln, die am Ende dazu führt, dass die Branche für
die Finanzierung der Schieflage der HRE, aber auch der
Commerzbank, der WestLB und der Aareal Bank - also
derjenigen, die bisher Geld aus dem System bezogen haben - über Beiträge geradestehen muss und die Gelder
zurückgeführt werden. Das halte ich für eine marktgerechte Lösung.
Wenn man jetzt wie wild nach Bonisteuern oder in einer anderen Woche nach Finanztransaktionsteuern sucht,
dann wird man der Krise nicht wirklich gerecht, weil Sie
die Verursacher damit nicht wirklich treffen. Eine Steuer
greift immer sehr willkürlich. Die Finanztransaktionsteuer trifft den kleinen Sparer; das haben wir hier schon
mehrmals diskutiert.
({1})
Die Bonisteuer trifft einen gewissen Aspekt im Bankenbereich, aber sie trifft auch nicht jeden, sondern einige
wenige. Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen,
für den völlig falschen Ansatz. Daher bedanke ich mich
für die Gelegenheit, die Sie mir hier noch einmal gegeben haben.
Damit hat die Kollegin Höll ebenfalls die Gelegenheit, noch einmal zu sprechen.
({0})
Danke, Herr Schäffler. - Erstens stelle ich fest: Sie
haben einen Prüfauftrag an den Wissenschaftlichen
Dienst gegeben,
({0})
der lautet: „Verfassungsrechtliche Vereinbarkeit einer
Sondersteuer auf Boni von Bankmanagern“, niemand
anders aus diesem Hause. Sie wollen diese Diskussion.
Zweitens geht es um eine Regulierung der Finanzmärkte, und dazu dient unter anderem die Finanztransaktionsteuer, die, wenn sie ordentlich ausgestaltet ist,
kleine Sparer überhaupt nicht trifft, sondern ein Regulierungselement ist. Zudem geht es darum, dass die Verursacher der Krise tatsächlich zur Kasse gebeten werden.
Dafür werden wir verschiedene Instrumente brauchen.
Wir haben von Anfang an kritisiert, dass Sie eine Begrenzung der Managergehälter nur bei den Banken vorschreiben, die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen,
({1})
und es da nur auf die Manager beziehen, aber zum Beispiel nicht auf die Investmentbanker. Sie waren auch da
schon sehr zögerlich. - Es ist doch nicht angebracht,
dass jemand, der Bankchef ist, Millionen im Jahr verdient, Sie mit Ihrer Leistungsgerechtigkeit! Das ist doch
prinzipiell nicht richtig.
({2})
Die Bonisteuer ist natürlich ein Instrument, das an die
Höhe von Bonuszahlungen anknüpft, nicht aber den einfachen Leistungszuschlag eines Bankangestellten betrifft. Sie spielt tatsächlich erst ab einer bestimmten Größenordnung eine Rolle. Diese Steuer würde somit Geld
bringen, würde regulierend eingreifen und würde tatsächlich die Verursacher zur Kasse bitten. Ihren Vorschlag hierzu sind Sie noch schuldig.
({3})
Das Wort hat nun der Kollege Leo Dautzenberg für
die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Debatte dieser Problemstellungen sollten wir es so machen wie beim bayerischen Knödelessen: eins nach dem anderen, statt die
Dinge so durcheinander zu werfen, einmal davon zu reden und dann von etwas anderem. Damit landet man
dann im Grunde genommen wieder bei Betrachtungen,
wie es dem SoFFin geht und wie man die Beteiligung
des Finanzsektors an den Kosten regeln will. Wir sollten
uns darauf konzentrieren.
Wenn Sie, Frau Kollegin Höll, allerdings eine heutige
Pressemeldung zum SoFFin so darstellen, als wäre das
im Grunde genommen schon ein Liquiditätsabfluss aus
Verlusten, dann muss ich Ihnen sagen, dass dies eine
reine Bewertungsfrage und somit ein Buchverlust ist, der
noch nichts über die am Ende zu tragenden Kosten aussagt. Deshalb sollte man solche Szenarien nicht an die
Wand malen, um einen Vergleich mit anderen Bereichen
zu ziehen.
({0})
Darüber hinaus sollten wir uns in der gesamten Diskussion nicht ausschließlich auf den Begriff Boni konzentrieren. Ich frage Sie, Frau Kollegin Höll: Wenn man
Vergütungen an Bankmanager zahlt, die nicht mit dem
Begriff Boni verbunden sind, was nehmen Sie dann als
Besteuerungsgrundlage für diese Vergütung? Es wäre
doch wesentlich sinnvoller, über Vergütungsstrukturen
generell zu reden und nicht über die reine Begrifflichkeit.
({1})
Man braucht die Boni einfach nur umzubenennen, und
schon haben Sie die Grundlage für die Besteuerung verloren. Deshalb sollten wir über Vergütungsstrukturen im
Allgemeinen reden.
Ich glaube, nicht nur Sie haben festgestellt, dass in
den Vergütungssystemen der Wirtschaft, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel Medien oder Sport, die Relationen nicht mehr stimmen.
Man sollte sich nicht auf einen Bereich beschränken,
sondern auch im Sinne unseres Ordnungsmodells der sozialen Marktwirtschaft, verbunden mit dem Wertebezug,
Vergütungssysteme insgesamt bewerten. Unsere Kanzlerin hat hierfür einen Grundstein gelegt, indem sie vorgeschlagen hat, dass auch Vergütungssysteme einer Überprüfung unterliegen und an der Leistungsfähigkeit
gemessen werden sollen.
Ich stimme Ihnen zu, dass momentan gerade im Investmentbanking Vergütungsstrukturen zusätzlich honoriert werden, die an sich mit Leistungsfähigkeit nichts zu
tun haben, sondern Ausfluss momentaner Marktverwerfungen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Um derzeit
im Zinsarbitragegeschäft Geld zu verdienen, brauchen
sie keine großartigen Leistungen zu erbringen, sondern
der Verdienst ergibt sich aufgrund der Marktsituation.
Man kann es auch anders bezeichnen: Man muss nichts
tun, und trotzdem ist ein Erfolg in diesem Bereich gegeben. Das ist in der Tat zu kritisieren. Das sollte nicht
nachhaltig in Vergütungsstrukturen einbezogen werden.
Wir sind auf einem guten Weg. Ich habe eben schon
ausgeführt - auch unsere Kanzlerin hat das getan -, dass
in der Ausgestaltung unserer sozialen Marktwirtschaft
Vergütungssysteme dem Wert einer Leistung entsprechen sollten. Durch unser Vorstandsvergütungsgesetz,
das auf den Weg gebracht ist, sind Vorstandsgehälter
leichter zu kürzen, die Haftung des Aufsichtsrates ist
verschärft worden und der zwingende Selbstbehalt von
Vorständen in Haftungsfällen gegeben. Im Koalitionsvertrag steht: Fehlanreize müssen beseitigt werden und
Vergütungssysteme müssen am langfristigen Erfolg eines Unternehmens ausgerichtet und im Grunde auch mit
einem Malus versehen werden. Die Auszahlung sollte
sich nicht am kurzfristigen Erfolg orientieren, sondern
auf einen längeren Zeitraum bezogen werden und Malus-Regelungen einschließen.
Frau Kollegin Höll, Sie stellen darauf ab, was in London läuft. Ich frage Sie: Ist es tatsächlich eine Wirkung
in Ihrem Sinne, wenn andere die Belastung durch die
Steuern bezahlen und nicht diejenigen, die sie erhalten?
({2})
Setzt es in Ihrem Sinne nicht zu spät an, wenn man nachträglich etwas besteuert, was das Unternehmen und damit das Finanzinstitut bereits verlassen hat? Wesentlich
besser wäre es doch, wenn wir Vergütungssysteme hätten, die im Unternehmen ansetzen
({3})
und nicht erst dann, wenn die Liquidität das Unternehmen verlässt und somit nicht mehr zur Stärkung des Eigenkapitals zur Verfügung steht.
Für meine Fraktion kann ich postulieren: Wir sähen es
in manchen Bereichen lieber, wenn die Vergütungsstrukturen so angelegt wären, dass das Eigenkapital des Unternehmens gestärkt wird, um in Zukunft sicherer zu arbeiten, anstatt erhebliche Beträge auszuschütten.
({4})
Ich bin erstaunt,
({5})
dass Sie das als überraschenden Vorschlag empfinden.
Sie haben anscheinend nicht nachvollzogen, was wir
schon seit zwei, drei Monaten diskutieren.
({6})
Sie reagieren hier nur dann mit einem Pawlow’schen Reflex, wenn es in Ihre Linie passt. Das zeigt, dass Sie den
Diskussions- und Entwicklungsprozess nicht nachvoll2108
zogen haben. Die gesetzliche Grundlage ist bereits gelegt.
Die BaFin verfügt jetzt, auch das ist neu, über gewisse rechtliche Grundlagen für die Risikobetrachtung.
Sie hat nicht nur die Möglichkeit, auf Vorstandsvergütungen zu achten, sondern auch die Möglichkeit, das
Vergütungssystem der Banken insgesamt in die Risikobewertung einzubeziehen und Begrenzungen vorzunehmen. Das trifft auch die Investmentbanker, die nicht Vorstände sind. Hinsichtlich dieser Problemstellung sind wir
also auf einem guten Weg.
Wir werden das unterstützen, was von der Regierung
bisher vorgelegt worden ist.
({7})
Wir werden als Fraktion dazu beitragen, dass wir zu
langfristigen, tragfähigen Vergütungssystemen kommen.
Wenn man vorschnell nur an einem Ende ansetzt, ist das
der falsche Weg.
Vielen Dank.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar
Binding das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, der Antrag
von der Linken ist ein Zeichen von Nervosität. Der Antrag von den Grünen ist auch ein Zeichen von Nervosität, und der vor einigen Wochen eingebrachte Antrag der
SPD mit einem ganz ähnlichen, übergreifenden Inhalt
war auch ein Zeichen von Nervosität. Warum sind wir
eigentlich alle so nervös? Die Regierung ist total ruhig.
Die Regierung macht nichts.
({0})
Sie wollen mit uns diskutieren. Jetzt diskutieren wir
schon eine ganze Weile, und wir wollen natürlich, dass
jetzt etwas passiert. Ich frage: Wo ist die Kanzlerin? Wo
ist Schäuble? Ich meine nicht, warum er nicht hier sitzt.
Herr Koschyk kann ihn gut vertreten. Ich meine: Wo ist
Schäuble? Wo ist die Kanzlerin?
Gehen wir noch einmal zurück zur Dimension der Finanzkrise. Als Lehman Brothers Konkurs angemeldet
hat, war das ein Schock. Der ging durch die ganze Welt.
Das halbe deutsche Volk saß mit bleichem Gesicht vor
dem Fernseher und wusste nicht, was mit seinem Sparguthaben ist. In dieser Paniksituation, die berechtigt war,
hat Peer Steinbrück ein Notprogramm entwickelt, ein
Ad-hoc-Programm, das übrigens gut funktioniert und
das Schlimmste verhindert hat: Garantien für Sparer.
({1})
Sie brauchen gar nicht skeptisch zu gucken. Sie diskutieren ja noch. Ich rede von Sachen, die passiert sind:
Garantien für Sparer und Arbeitsplätze, Konjunkturprogramme I und II, Bürgschaften für die Banken - natürlich zum Schutz der Einleger, Sparer und Kreditnehmer -, Kredite zur Stabilisierung des Eigenkapitals. Die
Liquiditätskrise war überwunden.
({2})
Wir sind dankbar, dass die CDU/CSU-Fraktion damals
mitgeholfen hat.
({3})
Jetzt fragt man sich, nachdem das alles so gut funktioniert hat: Warum könnt ihr diese Arbeit nicht einfach
fortsetzen? Fragt doch gelegentlich noch einmal den
Peer Steinbrück. Immerhin war das die Rettung in der
Not. In der Panik richtig zu reagieren, ist etwas ganz Besonderes. Das hat gut funktioniert.
Parallel dazu haben Peer Steinbrück und unsere Fraktion eine Ursachenanalyse betrieben. Wir haben feststellen müssen, dass Menschen Unglaubliches veranstaltet
haben. Niemand in der Welt hätte vermutet, dass Leute,
die uns gegenüber so auftreten, ganz vornehm, mit einer
wunderschönen Sprache und total arrogant, so etwas
veranstalten. Vorstände entwickeln Produkte, die keiner
beurteilen kann. Aufsichtsräte genehmigen Geschäftsmodelle, die keiner versteht. Ratingagenturen sagen,
dass dieser Mist etwas wert ist. Wirtschaftsprüfungsgesellschaften merken nicht viel. Im kulturellen Verhalten
dieser vier Gruppen haben sich Abgründe aufgetan, auch
hinsichtlich des Begriffs Gier.
Parallel dazu gab es wiederum eine Analyse des Systems. Wir haben gelernt: Das System hat eine ganz wichtige Funktion. Wir haben gelernt, dass es nicht unbedingt
gut ist, Kreditverbriefungen zu verbieten. Wir haben
aber auch gelernt, was passiert, wenn man aus Kreditverbriefungen, deren Versicherungen und der Verbriefung
der Versicherung der Ursprungskredite dann eine Verbriefung der verbrieften Verbriefung macht. Dann gibt es
etwas, was die Banker toxische Produkte nennen. Toxisch heißt ja giftig. Normalerweise hätte man den Begriff jedenfalls in einer Bilanz nicht vermutet.
Es haben sich Abgründe in den Strukturen des Weltfinanzplatzes aufgetan: ein Mangel an Risikomanagement, mangelhafte Sicherheiten und fehlender Bezug zur
Realwirtschaft. Inzwischen kennen wir die Krise ziemlich genau. Jetzt fragen wir uns natürlich: Was machen
die Menschen, die die Krise verursacht haben, mit diesen
Erfahrungen? Sie machen weiter wie bisher. Deshalb ist
jetzt erneut Eile geboten.
({4})
Wir müssen auch fragen: Was erlauben eigentlich die
Strukturen im Vergleich zu der Zeit vor der Krise? Die
Antwort ist: Sie erlauben genau das Gleiche, weil wir
Lothar Binding ({5})
hinsichtlich der Verhaltensänderung der Menschen
nichts getan haben, abgesehen davon, was die Große Koalition damals ad hoc als Lösungsvorschläge auf den
Weg gebracht hat. Nach der Krise scheint es so zu sein,
als ob es vor der Krise ist. Deshalb müssen wir achtgeben, dass wir jetzt nicht ganz bestimmte gute Vorschläge
für Einzelmaßnahmen machen, die unsere Nervosität widerspiegeln. Vielmehr müssen wir von der Regierung erwarten, dass sie ein geschlossenes Gesamtkonzept zur
Verhinderung künftiger Krisen dieser Art erarbeitet;
denn sie werden kommen.
Ich möchte auf die Reden von Joachim Poß und
Carsten Sieling hinweisen, die schon im Januar dieses
Jahres erklärt haben, wie ein solches Konzept aussehen
kann. Deshalb hat die SPD einen eigenen Antrag vorgelegt, der in seiner Wirkung das Gesamtsystem in den
Blick nimmt und nicht nur einzelne Punkte.
({6})
- Sie lachen, aber Sie haben nichts vorgelegt; dann darf
man nicht so fröhlich sein.
Die Lage ist ernster, als Sie denken. Ich frage: Wo ist
Schäuble? Wo wurde etwas vorgelegt? Wo ist die Kanzlerin? Gibt es Lösungskonzepte? Nein, Schäuble ist
nicht da, und die Kanzlerin wartet ab.
Es hätte schon sehr viel passieren müssen. Wir haben
nämlich - jetzt komme ich noch einmal auf die Große
Koalition zu sprechen - eine sehr gute Vorbereitung.
Leo, das weißt auch du. Im Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz gibt es die Option, dass das Ministerium, ohne uns zu fragen, ein sehr gutes Bündel von
Maßnahmen durch Verordnung in Kraft setzen kann.
({7})
- Ja, du kannst es ins Lächerliche ziehen; aber mir ist das
Thema ernst.
Man kann mit der Rechtsverordnung sehr viel erreichen. Eine Rechtsverordnung ist Sache von Schäuble.
Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo ist die Kanzlerin? Im
Verhältnis zu Steueroasen könnte er etwas tun.
({8})
Beim Betriebsausgabenabzug könnte er etwas tun. Bei
den OECD-Standards hinsichtlich des Informationsaustauschs könnte er etwas tun. Bei der Zinsrichtlinie, bei
der Bargeldkontrolle und der Geldwäsche und auch bei
Betriebsprüfungen von Einkommensmillionären könnte
er etwas tun. All diese Maßnahmen könntet ihr machen,
mindestens in der Geschwindigkeit - das würde ich erwarten -, in der ihr die Milliarde für die Hotels rausgeschmissen habt.
({9})
Um künftige Krisen zu vermeiden, muss man mehr
tun, als darüber zu diskutieren, Herr Schäffler. Deshalb
ist es wichtig, darüber nachzudenken, die Absetzbarkeit
von Gehältern, letztendlich eine steuerliche Hilfe bei
Kosten, die ein Unternehmen hat - Ähnliches soll für
Zuwendungen und Abfindungen für Leute, die gar keine
Leistung erbracht haben, gelten -, ab bestimmten Beträgen auf 50 Prozent zu begrenzen.
({10})
Man kann darüber streiten, ob der Betrag 1 Million Euro
zu niedrig oder zu hoch angesetzt ist. Ich sage: 1 Million
Euro ist ein Einkommen, von dem sich im Prinzip leben
lässt. Darüber müssen wir mit Westerwelle noch diskutieren; aber eigentlich funktioniert das sehr gut.
Man muss überlegen, wie die Kreditwirtschaft und
die Realwirtschaft miteinander verknüpft sind. Darauf
geht der Antrag der SPD in einer sehr geschickten Weise
ein. Er geht auch darauf ein, dass die Bonizahlungen an
sich ein krankes System erzeugen oder motivieren. Denn
wenn ich Bonuszahlungen bekomme, unabhängig davon, ob meine Beratung gut war oder schlecht, dann verkaufe ich natürlich jeden Unsinn. Ich spreche jetzt nur
von bestimmten Bankern, nicht von allen. Denn Pauschalurteile helfen nicht weiter; das ist völlig klar.
Eine allgemeine Bankenabgabe und eine Beteiligung
der Banken an den öffentlichen Lasten durch die Krise
sind zu prüfen. Dazu gibt es überhaupt keine Ideen. Im
Moment tun wir nichts; aber wir müssen etwas tun. Wir
müssen jetzt etwas vorlegen. Das kann schnell passieren,
und zwar bevor sich der neoliberale Selbstbedienungsladen
({11})
auf die nachstaatliche Rettung der nächsten Krise vorbereitet. Denn das ist die Idee. Die Privaten versagen, und
am Punkt des Versagens rufen sie nach dem Staat, dessen Steuerleistungen sie zuvor kritisiert haben und der
deshalb verarmt. Das ist ein Supermodell. Ich glaube,
wir alle haben gemerkt, dass die FDP das verfolgt. Das
tragen wir nicht mit. Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo ist
die Kanzlerin? Vielleicht kann die FDP den beiden ja
helfen.
({12})
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Kollege Binding, beruhigen Sie sich jetzt
erst einmal. Sie sind ja ganz aufgeregt, unglaublich.
({0})
Sie haben es angesprochen: Es werden nervöse Anträge
vorgelegt, erst diese Woche wieder von den Linken.
({1})
Ich bin gespannt, was nächste Woche kommt. Das ist ein
bisschen wie Murmeltiertag.
({2})
Sie sagen, diese Anträge sind nervös. Gleichzeitig
möchten Sie aber ein geschlossenes Konzept haben. Es
ist auch absolut notwendig, ein geschlossenes Konzept
zu haben. Sie haben gerade in Ihrem Redebeitrag fünf,
sechs unterschiedliche Maßnahmen angesprochen, die
alle sehr sinnvoll und notwendig sind.
({3})
Diese muss man aber vernetzt in ein geschlossenes Konzept, wie Sie es auch haben wollen, einfließen lassen.
({4})
Das kann man aber eben nicht mit der heißen Nadel nähen. Dafür braucht man Zeit und sinnvolle Vorbereitung.
Wir haben das Ganze im Koalitionsvertrag vereinbart
und werden es entsprechend vorlegen, und zwar so, dass
die Probleme gelöst werden.
({5})
Die Linken möchten mit der Bonisteuer das Abkassieren der an kurzfristiger Profitmaximierung interessierten Manager, die Millionen scheffeln, verhindern.
({6})
- Mit einer Steuer, genau. - Diese Steuer soll bei Bonuszahlungen ab einer jährlichen Höhe von 27 000 Euro
greifen. Es sind 27 000 Euro - korrigieren Sie mich -,
nicht ganz 1 Million Euro.
({7})
- Nicht am Tag. Es geht um Boni ab 27 000 Euro jährlich. Sie werden mir zustimmen, dass das keine Million
ist.
({8})
Wir haben im Übrigen eine Ursachenanalyse gemacht. Sie haben vollkommen recht: Die kurzfristige
Profitmaximierung
({9})
hat - unter anderem; im Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren - dazu geführt, dass wir uns jetzt in der
Krise befinden; das ist unwidersprochen. Mit der Bonisteuer allein werden Sie es aber nicht schaffen, dass die
Leute sich kurzfristig nicht weiter an einer Profitmaximierung orientieren. Denn sie bekommen weiterhin ihre
Boni.
({10})
Das haben Sie gerade eben auf die Frage des Kollegen
Dr. Volk selbst gesagt. Sie machen es für die Banken
einfach nur teurer; denn diese werden weiter zahlen. Das
geht zulasten des Eigenkapitals.
({11})
Das führt schlussendlich dazu, dass wir in eine Kreditklemme geraten.
({12})
Schauen Sie sich am Beispiel Großbritannien doch
einmal an, wie viele Umgehungstatbestände es gibt. Da
können Sie die Boni einfach über eine Tochtergesellschaft, beispielsweise auf den Kanalinseln, auszahlen.
Da sind sie wieder, die bösen Töchter.
({13})
Das können Sie nicht verhindern. Die Möglichkeiten
sind immer wieder da. Sie schaffen eine Menge von Bewertungsproblemen. Was machen Sie denn beispielsweise, wenn ein Bonus in einem Sachwert ausgezahlt
wird?
({14})
Den wollen Sie auch erfassen. Wie wollen Sie es aber
bewerten, wenn jemand beispielsweise einen Mercedes
300 SL Roadster, Baujahr 1955, als Dienstwagen bekommt? Dafür zahlen Sie am Markt 500 000 Euro. Er
hatte 1955 aber einen Listenpreis von - ich weiß es nicht
genau - 33 000 DM. Bei Dienstwagen wird nach Listenpreis besteuert. Das müssten Sie in diesem Fall auch machen. Ich weiß nicht, ob Sie das Ziel, das Sie an dieser
Stelle verfolgen, auf diese Weise wirklich erreichen.
({15})
Die Bonisteuer hilft an dieser Stelle überhaupt nicht.
Herr Kollege Dr. Schick, der Antrag von den Grünen ist
überraschend gut. Das sage ich an dieser Stelle, obwohl
das Wort „Gehaltsexzesse“ in der Überschrift ein bisschen brutal klingt. Sie haben aber erkannt, dass eine Haftung eingeführt werden muss, wenn Boni gezahlt werden. Das leistungsorientierte Vergütungssystem an sich
ist nichts Schlimmes. Es muss aber mit einer Haftung
verbunden werden. Von daher sind wir auf einer Linie.
Über den langfristigen Erfolg können wir uns noch unterhalten. Wir müssen darüber diskutieren, wie viele
Jahre „langfristig“ ist. Das ist eine Diskussion über die
zeitliche Dimension, in die wir da eintreten.
Aus unserer Sicht gehört auch ein Malus dazu. Wenn
es in die eine Richtung geht, dann geht es auch immer in
die andere Richtung. Wir müssen die Rechte der Aktionäre in der Hauptversammlung stärken und für Gehaltstransparenz sorgen. Wir brauchen in den Aufsichtsräten
effiziente Strukturen, also eine Begrenzung der Mandate, und die persönliche Haftung der Aufsichtsräte. Wir
müssen dafür sorgen - Thema persönliche Haftung -,
dass dann, wenn ein Manager scheitert, nicht auch noch
der Selbstbehalt im Rahmen der D&O-Versicherung
vom Unternehmen gezahlt wird; dann hätte man nämlich
eine Vollkaskoversicherung, und das wollen wir nicht.
Wer den Karren an die Wand gefahren hat, der muss
auch persönlich, am eigenen Einkommen und am eigenen Vermögen, spüren, dass er einen Fehler gemacht hat.
({16})
Außerdem brauchen wir eine Wartezeit beim Wechsel
vom Vorstand in den Aufsichtsrat.
All das ist grundsätzlich richtig. Aber Sie haben in Ihrem Antrag einen kleinen Fehler gemacht, der die Zustimmung bedauerlicherweise unmöglich macht, nämlich die Begrenzung des Betriebsausgabenabzugs.
({17})
Damit bekämpft man nicht die Ursachen, sondern das
führt schlussendlich dazu, dass die Kosten steigen, was
zulasten des Eigenkapitals geht; das habe ich schon erwähnt.
({18})
- Nein, ich will sie nicht gesetzlich begrenzen. - Gehaltszahlungen sind nach wie vor Betriebsausgaben und
demzufolge auch steuerlich abzugsfähig.
({19})
Ich fasse zusammen: Von den Linken habe ich nichts
anderes erwartet. Ein ausdrückliches Lob an die Grünen,
bis auf die Kleinigkeit, die ich angesprochen habe; aber
daran können wir arbeiten.
Danke.
({20})
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
ein guter Stil, dass wir sachlich diskutieren. - Da wir gerade über Bonizahlungen in Millionenhöhe reden,
möchte ich den Bezug zur Sozialstaatsdebatte herstellen,
weil ich glaube, dass dieser Bezug wichtig ist. Wenn
man irgendwo von spätrömischer Dekadenz sprechen
kann, dann bei den Gehaltsexzessen in den Spitzenpositionen unserer Wirtschaft.
({0})
Deswegen ist dieser Begriff gerechtfertigt. Es wird übrigens auch von vielen vernünftigen Leuten in dieser
Branche inzwischen so gesehen, dass es sich um Gehaltsexzesse handelt. Deswegen sagen wir es so, wie es
ist.
({1})
Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass
diese Zahlungen drei Probleme auslösen: Zum Ersten
schaden sie dem Institut selbst, wenn viel zu riskantes
Geschäft belohnt wird. Zum Zweiten destabilisieren
diese Zahlungen den gesamten Finanzmarkt und könnten
eine weitere Krise auslösen; deswegen muss hier schnell
gehandelt werden. Das Dritte ist: Sie führen zu einer
Auseinanderentwicklung in unserer Gesellschaft, die wir
nicht hinnehmen dürfen. Das Schlimme daran ist, dass
durch den Betriebskostenabzug auch noch die breite
Masse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler belastet
wird.
({2})
Deswegen setzen wir hier an.
({3})
An diesen drei Punkten muss sich jeder Vorschlag,
der gemacht wird, messen lassen. Der Vorschlag der
Linkspartei greift zu kurz, weil die vorgesehenen Regelungen leicht zu umgehen sind. Er greift nicht bei Fixgehältern, bei denen über Aktienoptionen natürlich auch
entsprechende Anreize ausgelöst werden können.
({4})
Außerdem begrenzen Sie Ihre Forderungen auf die
Finanzbranche. Dazu muss ich sagen: Porsche gehört
nicht zur Finanzbranche, aber auch dort ist heftig spekuliert worden. Auch darauf muss es eine Antwort geben.
({5})
Ich frage mich: Ist es eigentlich gerecht, bei jemandem, der ein geringes Fixgehalt hat und eine Bonus2112
zahlung in Höhe von 30 000 Euro erhält, auf diese
Bonuszahlung eine zusätzliche Steuer zu erheben, bei jemandem mit einem Fixgehalt von 2 Millionen Euro aber
keine zusätzliche Steuer zu erheben?
Wir gehen dieses Thema systematischer an und orientieren uns dabei an den genannten drei Punkten: Erstens
verstärken wir die Kontrollmechanismen in den Unternehmen, damit die Eigentümer dafür sorgen können,
dass die Vorstände das Unternehmen nicht als Selbstbedienungsladen begreifen. Das muss über den Aufsichtsrat und die Hauptversammlung geschehen.
({6})
Das ist ein wichtiger Punkt: bessere Kontrollmechanismen und Haftung in den Unternehmen selbst.
Zweitens müssen wir dafür sorgen - jetzt gebe ich das
Lob an Sie zurück; das, was Sie hierzu vorschlagen, ist
nämlich richtig -, dass die BaFin das besser kontrollieren kann.
Der dritte Aspekt ist der steuerliche Ansatzpunkt.
({7})
Es gibt ein Maß, ab dem nicht mehr argumentiert werden
kann, dass es sich um eine notwendige Betriebsausgabe
handelt. Das ist dann der Fall, wenn es exzessiv praktiziert wird und nicht mehr mit Leistung begründet werden kann. Deswegen wollen wir bei Abfindungen von
1 Million Euro die Grenze dessen ziehen, was wir noch
als notwendige Betriebsausgabe anerkennen.
({8})
Gehälter, die 500 000 Euro übersteigen, wollen wir immerhin noch zur Hälfte als notwendige Betriebsausgabe
akzeptieren. Diese Vorschläge lassen immer noch eine
Riesengehaltsspanne zu; aber wir geben damit eine konsequente Antwort auf die Gehaltsexzesse, die es gibt,
und sorgen, indem wir verhindern, dass Finanzmarktunternehmen, wie es zurzeit der Fall ist, in eine Fehlsteuerung geraten, für stabilere Finanzmärkte und mehr Gerechtigkeit.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Letzte Woche hat die Linksfraktion die Einführung der
Tobin-Steuer bzw. Börsenumsatzsteuer gefordert, davor
eine Bankensonderabgabe à la Obama, dazwischen oder
davor - ich weiß es schon gar nicht mehr so genau - Enteignung der Banken und Überführung der Kreditinstitute
in das Eigentum der öffentlichen Hand. Jetzt fordert sie
eine Bonisondersteuer. Was wollen Sie denn nun?
({0})
Wir sind uns einig: Wir müssen die Institute, die für
diese Krise hauptverantwortlich sind, an den Kosten der
Krise angemessen beteiligen. Das sind wir den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern schuldig.
({1})
Was noch viel wichtiger ist: Wir müssen dafür Sorge
tragen, dass eine solche Krise, wie wir sie in den letzten
zwei Jahren erlebt haben, nicht mehr entstehen kann.
Wir haben bereits gehandelt. Unter anderem haben wir
einen Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen eingeführt.
Variable Vergütungsbestandteile müssen zukünftig eine
mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Wir haben
dafür gesorgt, dass Aktienoptionen frühestens nach vier
Jahren ausgeübt werden können. Der Aufsichtsrat muss
nun für unangemessene Vergütung des Vorstandes haften. Auch bei Verbriefungen bleibt nun ein Selbstbehalt.
Die Vorgaben des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht für eine höhere Eigenkapitalunterlegung gelten.
Demnächst werden wir dafür sorgen, dass die BaFin in
die Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile eingreifen und diese sogar untersagen kann.
({2})
Wir sorgen damit für Vergütungssysteme, die angemessen sind, die transparent sind und die vor allem auf eine
nachhaltige Entwicklung des jeweiligen Unternehmens
ausgerichtet sind.
({3})
Ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die allermeisten Institute in Deutschland bereits reagiert
haben. Der Anteil der Bar-Boni, auf die Sie zuzugreifen
beabsichtigen, an der variablen Vergütung ist längst auf
einen Bruchteil zurückgegangen. Die Boni werden heute
in der Regel auf Sperrkonten eingezahlt, auf die erst
nach zwei, drei, vier Jahren zugegriffen werden kann
und auch nur dann, wenn eine nachhaltige positive Entwicklung des Unternehmens erkennbar ist. Das ist nicht
nur der richtige Weg, das ist bereits die Realität; das
müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({4})
Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stellen, was Sie mit Ihrem Antrag bezwecken wollen. Welche Zielrichtung verfolgen Sie, wo ist bei der Besteuerung der Boni der Lenkungszweck? Das Problem
falscher Anreizimpulse wird mit einer solchen Sonderbesteuerung jedenfalls nicht gelöst. Sie wollen diese
Boni bereits bei den Unternehmen besteuern. Die Praxis
in Großbritannien zeigt - Sie haben es selbst eingeräumt -,
dass die Unternehmen die Boni weiter bezahlen, nur
dass es sie nun das Doppelte kostet. Diese Besteuerung
hat also letztendlich keinen greifbaren Lenkungseffekt
dahin gehend,
({5})
dass die Anreize, die wir als mitverantwortlich für die
Krise erkannt haben, in irgendeiner Form eingedämmt
würden.
Außerdem ist da die Frage der rechtlichen Zulässigkeit. Zum einen ist der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3
Grundgesetz zu beachten. Eine Sondersteuer für die
Boni von Bankmanagern wäre nur bei einer sachgerechten Begründung im Hinblick auf den Lenkungszweck
mit dem Grundgesetz vereinbar. Worin soll dieser Lenkungszweck bestehen? Wir sehen an dem Beispiel Großbritannien doch, dass es quasi keinen Lenkungseffekt
gibt. Zudem soll die ganze Sache auf vier Monate begrenzt sein. Ein Lenkungseffekt ist deswegen nicht erkennbar, und er wäre in Deutschland auch nicht vonnöten, weil die notwendige Lenkung bereits durch die
vorhin genannten Maßnahmen der Bundesregierung gewährleistet ist.
({6})
Was ist zum anderen mit dem Übermaßverbot nach
Art. 14 Grundgesetz? Zuerst wollen Sie 50 Prozent bei
der Bank abschöpfen, und danach wollen Sie noch einmal abschöpfen, und zwar bei dem betroffenen Mitarbeiter, der einen Grenzsteuersatz von 51 Prozent - inklusive
der Kirchensteuer - hat.
Jetzt kommen wir einmal zu dem Gutachten vom
Wissenschaftlichen Dienst, das Sie vorhin angesprochen
haben. Sie haben es offensichtlich nicht gelesen; denn in
dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes steht,
dass genau diese Besteuerung mit zweimal circa
50 Prozent eine unzulässige Doppelbesteuerung ist.
({7})
Vor diesem Hintergrund muss man sich jetzt fragen: Was
soll diese Bonibesteuerung?
Auch hier hilft ein Blick nach Großbritannien; denn
dadurch wird einiges erklärt. In Großbritannien gibt es
diese Strafsteuer befristet auf vier Monate. Wenn jetzt
irgendjemand auf die Idee kommt, einen Zusammenhang
zwischen diesem kurzfristigen Aktionismus und damit
zu sehen, dass in Großbritannien in drei Monaten Parlamentswahlen stattfinden, dass dieser Aktionismus also
nur etwas mit Populismus zu tun hat, dann liegt er richtig.
({8})
Das Ergebnis ist: Durch die Bonibesteuerung mögen
Neidkomplexe möglicherweise kurzfristig befriedigt
werden, in der Sache bringt sie uns jedenfalls nicht weiter. Deswegen gehen wir diesen Weg nicht mit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/452 und 17/794 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
- Drucksache 17/717 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kraftfahrzeugsteuer ist seit dem 1. Juli 2009 eine
Bundessteuer, für die aufseiten der Bundesregierung der
Bundesminister der Finanzen zuständig ist. Im Wege einer Organleihe bedienen wir uns übergangsweise, bis
zum 30. Juni 2014, der Landesfinanzbehörden.
Es ist das Ziel der Bundesregierung, mit dem heute
hier eingebrachten Gesetzentwurf bereits einen ersten
wichtigen Schritt zur Vereinheitlichung und Vereinfachung der Normen im Kraftfahrzeugsteuergesetz vorzunehmen. Damit soll eine gleichmäßige und erleichterte
Rechtsanwendung im Bundesgebiet erreicht werden.
Ich möchte auf folgende Regelungen in dem Gesetzentwurf kurz zu sprechen kommen:
Die steuerrechtlichen Hinderungsgründe bei der Zulassung von Kraftfahrzeugen zum Verkehr auf öffentlichen Straßen, nämlich die Verpflichtung zur Abgabe
einer Einziehungsermächtigung des künftigen Halters
und die Prüfung der Kraftfahrzeugsteuerrückstände
durch die Zulassungsbehörde, werden nun durch Bundesgesetz geregelt. Dadurch werden, soweit dies möglich ist, die entsprechenden Rechtsverordnungen der
Länder und Landesgesetze abgelöst. Diese Maßnahme
dient der Deregulierung und Vereinfachung des Rechts
und bildet einen Schwerpunkt in dem Gesetzentwurf.
Des Weiteren wollen wir die befristete Steuerbefreiung für Diesel-Pkw der Abgasstufe Euro 6 zur Abwendung eines Vertragsverletzungsverfahrens auf Erstzulassungen im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember
2013 beschränken. Für Erstzulassungen im Zeitraum
vom 1. Juli 2009 bis zur Verkündung des Gesetzes ist
eine Vertrauensschutzregelung vorgesehen.
Die anstehenden Maßnahmen zur Tierseuchenbekämpfung sollen nicht zu zusätzlichen finanziellen Belastungen der Landwirtschaft, insbesondere der Milchwirtschaft, führen. In bestimmten Regionen wird der
Transport der Gewebeproben auf dem Wege der Mitnahme durch die Milchsammelfahrzeuge kostengünstig
erfolgen. Durch eine klarstellende Erweiterung der Regelung über die Steuerbefreiung der Milchsammelwagen
wird sichergestellt, dass diese Mitnahme der Gewebeproben nicht zum Wegfall der Steuerbefreiung führt.
Eine weitere Maßnahme in dem Gesetzentwurf, die
der Vereinheitlichung des Vollzugs des Kraftfahrzeugsteuergesetzes im Bundesgebiet dient, stellt die vorgesehene Änderung der Verfahrensweise bei der zwangsweisen Außerbetriebsetzung von Kraftfahrzeugen bei
Kraftfahrzeugsteuerrückständen dar. Diese sollen ausschließlich von den zuständigen Zulassungsbehörden
durchgeführt werden.
Schließlich geht es darum, dass für zulassungspflichtige drei- und leichte vierrädrige Kraftfahrzeuge, darunter die sogenannten Trikes und Quads, die Steuer nach
dem Hubraum und der jeweiligen EU-Abgasstufe bemessen werden soll. Dies ist erforderlich, da keine CO2Werte vorliegen, die in gesicherten obligatorischen Verfahren ermittelt wurden.
Außerdem erhält der Gesetzentwurf noch klarstellende Regelungen zum Beispiel zu den steuerlichen Bemessungsgrundlagen bei Elektro-Pkws. Dies erleichtert
die Rechtsanwendung hinsichtlich bereits geltender Vergünstigungen für Elektromobilität in Deutschland.
Abschließend wollen wir durch das Gesetz eine
Rechtsgrundlage schaffen, um weiterhin die mögliche
Aufrechnung von Steueransprüchen zu gewährleisten.
Wir bitten das Parlament um zügige Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich fand es sehr erstaunlich, Herr Staatssekretär,
dass ein Gesetzentwurf praktisch komplett vorgelesen
wurde; das habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber das ist
in diesem Fall gut möglich; denn die Begründung umfasst nur zwei Seiten.
({0})
Damit komme ich zum Kernproblem. Ich hatte selber
vor, in meiner Redezeit den Gesetzentwurf vorzulesen.
Jetzt haben Sie das schon getan, und ich will das nicht
wiederholen.
({1})
Aber müssen wir eigentlich die wertvolle Zeit, die wir
hier verbringen, einem solchen Gesetzentwurf widmen?
Ich habe einmal nachgesehen: Vor ungefähr einem
Jahr hatten wir 34 Tagesordnungspunkte. Das war am
Ende der Ära der Großen Koalition, und wir hatten nicht
mehr viele Reformen vor uns. Aber damals musste unheimlich viel zu Protokoll gegeben werden.
Heute Morgen haben wir mit der Situation der Wohnungswirtschaft angefangen. Das ist zwar wichtig, aber
dieses Land wartet darauf, dass Sie uns endlich etwas
Grundsätzliches vorlegen, damit wir in eine Reform einsteigen können. Stattdessen ändern wir hier Marginalien.
Ich habe gestern im Ausschuss gefragt, ob es Änderungsvorschläge geben wird oder ob wir eine Anhörung
brauchen. Darauf wurde mir gesagt, es werde nichts dergleichen geben. Jetzt wundere ich mich; denn in dieser
Bundesregierung gibt es ja Ideen. Gestern Abend war
Herr Pofalla im Beirat für nachhaltige Entwicklung. Er
hat mir erzählt, dass die Regierung Vorreiter für Elektromobilität werden will, dass unheimlich viel geplant und
eine entsprechende Förderung vorgesehen ist. Ich frage
mich, wo es diese Förderung geben wird, wenn das bei
Ihnen im Ministerium nicht angekommen ist.
Des Weiteren gibt es eine Wirtschaftsministerkonferenz, die letztes Jahr getagt, tolle Beschlüsse gefasst und
tolle Berichte erstellt hat. Sie hat unter anderem den Einstieg in die Elektromobilität mit einer entsprechenden
Förderung beschlossen.
Sie hingegen fördern Elektroautos nicht mehr und
nicht weniger als zuvor. Reichweitenverlängerung
kommt bei Ihnen nicht vor. Ich frage mich, wie Sie in
der Industrie Signale setzen wollen, ohne vorher ein paar
Ideen zu entwickeln, was man machen könnte.
({2})
Eine solche Vision haben Sie nicht. Dann ändern Sie
wenigstens das, was den Menschen gegenwärtig
Schwierigkeiten bereitet. Es gibt immer noch Menschen,
die ihr Auto nicht abgewrackt haben, das aber älter als
drei Jahre ist, und die nicht in der Lage sind, einen Rußpartikelfilter nachzurüsten, zum Beispiel beim Audi A2
oder beim Lupo. Diese Leute müssen jetzt in jeder Stadt,
in die sie fahren, eine Plakette für ein Jahr kaufen. Ob in
Berlin, Hannover oder in München, sie brauchen jedes
Mal eine neue Plakette für 50 Euro. Das ist doch furchtbar.
Hier gäbe es die Chance, das zu ändern; denn - Sie
haben darauf hingewiesen - der Bund hat erstmalig die
gesamte Gesetzgebung zur Mobilität in seiner Hand. Ich
finde, Sie vertun eine unheimlich große Chance, indem
Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, aber nicht
einmal die Probleme, die die Menschen im Moment haben, anpacken und lösen.
({3})
Ich denke, dass wir uns damit beschäftigen müssen,
was wir in Zukunft im Bereich Mobilität tun wollen. Wir
würden uns sicherlich alle freuen, wenn wir CO2-arme
Autos bzw. Elektroautos hätten und abgasfrei auf deutschen Straßen fahren könnten. Sie hätten jetzt die
Chance, damit anzufangen. Sie hätten die Chance, einzustielen, dass die Industrie entsprechende Forschung betreibt, zum Beispiel im Batteriesektor. Die anderen
Ministerien warten darauf. Ich verstehe überhaupt nicht,
wieso man solch eine Chance nicht frühzeitig nutzt und
eine entsprechende Förderung betreibt. Ich denke, das
sind wir unseren nachfolgenden Generationen schuldig.
Sie wollen all das nicht tun und sagen: Nein, wir beschränken uns auf Regelungen - das ist so lächerlich,
dass ich es kaum vorlesen kann - zur „Mitnahme von
Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung durch
Milchsammelfahrzeuge“.
({4})
- Nein, das ist auch für Bauern lächerlich. Auch der
Bundesrat tritt dem Eindruck entgegen, „dass die Mitnahme von Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung
in der Regel durch Milchfahrzeuge erfolgt.“ Das ist völlig fern der Realität. Der Bundesrat bittet darum, klarzustellen, dass die Regelung für alle Fahrzeuge im ländlichen Bereich gelten sollte. Die Empfehlungen des
Bundesrats zeigen schon im Ansatz, dass all das, was wir
hier tun, ein bisschen blödsinnig ist.
({5})
Ich möchte Sie bitten, die Situation, die wir im Moment vorfinden - Stillstand in allen Bereichen, Ökonomen erwarten maues Wachstum -, zu nutzen: Steigen Sie
als Erstes mit der Reform der Kfz-Steuer und später mit
der Mobilität als Ganzes in neue Bereiche ein! Nehmen
Sie etwa den Einstieg in die Elektromobilität, den die anderen Ministerien schon vorbereiten, auch im Finanzministerium wahr! Betreiben Sie eine nachhaltige Politik, von der wir etwas haben! Es reicht nicht, dass Sie
hier Gesetzesentwürfe fast komplett vorlesen und glauben, damit könne man vernünftige Politik betreiben.
Denken Sie daran, was wir letztes Jahr zu dieser Zeit gemacht haben! Schauen Sie in die Protokolle - ich kann
sie Ihnen gern zur Verfügung stellen - und orientieren
Sie sich daran! Im Moment verschwenden wir unsere
Zeit mit Marginalien.
({6})
Das sollten wir den Steuerzahlern nicht antun.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ob es
im Deutschen Bundestag eine Debatte gibt, entscheidet
das Parlament, nicht die Regierung. Ich war erstaunt,
dass man so emotional zu diesem technischen Thema
sprechen kann.
({0})
Es geht hier bereits um das Fünfte Gesetz zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Die letzte Änderung gab es 2009, davor 2008, 2007 usw. Es handelt sich
also um ein Gesetz, das offensichtlich jährlich angepasst
werden muss. Die Kfz-Steuer ist komplex, stark differenziert, mit vielen Sondertatbeständen behaftet, eben
hoch bürokratisch.
Frau Arndt-Brauer, was Sie als „blödsinnig“ und als
„Marginalien“ bezeichnet haben, muss dennoch heute
besprochen werden; denn es besteht einiger Handlungsbedarf, vor allem, um ein drohendes EU-Vertragsverletzungsverfahren abzuwenden. Die Große Koalition hat
eine deutsche Sonderregelung im Gesetz fixiert, die als
Wettbewerbsverzerrung angemahnt wurde. Jetzt muss
die Geltungsdauer der befristeten Steuerbefreiung für
Diesel-Pkw der Abgasstufe 6 schnellstens an das Gemeinschaftsrecht angepasst werden.
Seit Juli 2009 ist die Kfz-Steuer Bundessache, also
nicht mehr Ländersache. Nach Übertragung der Ertragsund Verwaltungshoheit auf den Bund müssen nun bis
spätestens 30. Juni 2010 die auslaufenden Länderverordnungen in Bundesrecht überführt werden.
Ein weniger dringender, aber wichtiger Aspekt dieses
Gesetzentwurfs: Wer künftig ein Kraftfahrzeug zulassen
will, wird mit Inkrafttreten dieses Gesetzes bundesweit
auf Steuerrückstände überprüft, nicht mehr nur im jeweiligen Bundesland. Die bisher bei den Ländern gesammelten Daten zur Kraftfahrzeugsteuer sollen dazu zentral verwaltet werden. Damit wird eine bundesweite
Kraftfahrzeugsteuerrückständeprüfung - ein Wortungetüm - möglich. Das ist eine vernünftige Lösung zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung.
({1})
Hierbei handelt es sich nicht um ein Bagatellthema:
Nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzen
beliefen sich die Steuerrückstände 2008 auf immerhin
194 Millionen Euro.
({2})
Die Landesfinanzbehörden verwalten die Kraftfahrzeugsteuer für den Bund im Wege der Organleihe noch
bis Mitte 2014. Das gibt uns die Möglichkeit, ohne Zeitdruck neue Strukturen aufzubauen. Allerdings kostet uns
dieser Service für die Jahre 2010 bis 2013 170 Millionen
Euro jährlich, sodass durchaus überlegenswert ist, diese
Übergangsfrist zu verkürzen.
Ziel der Übertragung der Kfz-Steuer auf den Bund
war eine Vereinheitlichung und Deregulierung der Normen. In diese Richtung zielen die weiteren Definitionen
und Klarstellungen dieses Entwurfs. Zum Beispiel wird
die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung von
Trikes und Quads definiert, die nach Hubraum und
Schadstoffemissionen klassifiziert werden müssen, da
noch keine standardisierten CO2-Messmethoden existieren. Das gilt übrigens auch für alle Bestands-Pkws, die
vor dem 1. Juli 2009 zugelassen wurden. Das wirft die
Frage auf, ob vorgesehen ist, diese Sonderfahrzeuge ab
2013 auf eine Steuerbemessung nach Kohlendioxidemission umzustellen, wie es für die Bestandsfahrzeuge bereits gesetzlich vorgeschrieben ist.
Um die Landwirtschaft finanziell zu entlasten, soll
der Transport von Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung in Milchsammelwagen steuerunschädlich ermöglicht werden. Auch das ist keine Bagatelle. Das wird
dem ländlichen Raum deutlich weiterhelfen. Positiv zu
beurteilen sind die Anregungen verschiedener Agrarund Veterinärverbände, diese Steuerbefreiung auf den
Transport von Laborproben allgemein auszuweiten. Was
spricht dagegen?
Wie ich eingangs meiner Rede erwähnte, beraten wir
hier über eine weitere Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes, was fast jährlich auf der Tagesordnung steht.
Wäre es nicht sinnvoll, über eine Vereinfachung nachzudenken?
({3})
Wir schlagen vor, die verkehrsbezogenen Steuern zusammenzufassen, zum Beispiel indem die Kraftfahrzeugsteuer auf die Mineralölsteuer umgelegt wird. Dafür
sprechen aus meiner Sicht eine Reihe guter Gründe.
({4})
Der Wegfall einer kompletten Steuerart ist ein Beitrag
zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau.
({5})
- Gerne. - Die Stärkung des Verursacherprinzips, das
heißt, dass derjenige, der mehr fährt, auch mehr bezahlt,
ist ökologisch durchaus sinnvoll.
({6})
Ein Auto, das 90 Prozent der Zeit in der Garage steht,
emittiert schließlich auch 90 Prozent weniger CO2.
Diese Chance zur Steuervereinfachung haben wir jetzt,
nachdem die Zuständigkeit auf den Bund übergegangen
ist. Lassen Sie uns darüber diskutieren.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Einerseits haben Sie unsere Zustimmung, soweit
Sie die Milchwirtschaft bei der Bekämpfung der Tierseuchen durch Steuerbefreiung für Milchfahrzeuge unterstützen wollen, andererseits frage ich mich jedoch,
warum die FDP Sonntagsreden über die Vereinfachung
des Steuerrechts durch die Abschaffung von Ausnahmetatbeständen hält, wenn sie uns heute dazu anstiftet, einen weiteren Ausnahmetatbestand im Steuerrecht zu
schaffen. Diese Frage muss doch erlaubt sein. Vielleicht
lernt die FDP jetzt in der Regierung, dass man mit Bierdeckelpopulismus keine Probleme lösen kann und Losungen keine Lösungen ersetzen.
({0})
Es bleibt zu hoffen, dass auch Herr Westerwelle das
noch lernt.
Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagenen
Maßnahmen zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes lassen die wirklich wichtigen Themen außen vor.
In einigen Bereichen der Kfz-Steuerregelungen bestehen
nämlich Verbesserungsbedarf und -potenzial. Wie wir
alle wissen, erfüllt die Kfz-Steuer eine Lenkungsfunktion, die die Bürgerinnen und Bürger zum Handeln in sozialem oder ökologischem Sinn veranlassen soll. Die
befristete Steuerbefreiung bei der Erstzulassung von
Dieselpersonenkraftwagen der anspruchsvollsten Abgasstufe Euro 6 lässt dies deutlich erkennen. Sie entfaltet
eine Anreizwirkung beim Neuwagenkauf zur frühen
Einführung emissionsarmer Fahrzeuge, die wir als Linke
begrüßen. Nachdem diese nun kurzfristig ausgesetzt
werden muss, bleibt die Frage, warum die Bundesregierung es versäumt hatte, abzuklären, ob die befristete
Steuerbefreiung mit dem EU-Recht vereinbar ist.
Wir befürworten diese Steuerbefreiung und insbesondere die Beschränkung auf Neuwagen; denn emissionsarm bedeutet nicht notwendig klimaschonend. Die
Abgasnorm Euro 6 legt nur die Grenzwerte für Kohlenmonoxid, Stickstoffoxide, Kohlenwasserstoffe und Partikel fest, nicht jedoch für CO2. Im Jahr 2009 lag der
durch den gesamten Verkehr verursachte prognostizierte
Anteil an den CO2-Emissionen Deutschlands bei 19 Prozent, der allein von Pkw verursachte bei 12 Prozent. Da
der von Pkw verursachte Anteil an den gesamten CO2Emissionen beständig wächst, sind wirkungsvolle Maßnahmen für den Personenverkehr unerlässlich.
Es ist nicht hinnehmbar, dass die CO2 ausstoßenden
Spritschlucker, die sich auf den Straßen tummeln, von
uns nicht zur Kasse gebeten werden.
({1})
Dies war bereits ein schwerwiegendes Versäumnis der
Großen Koalition. Als die EU-Verordnung zu CO2Richard Pitterle
Emissionsnormen für Personenkraftwagen eine Reformierung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes erforderlich
machte, hat die damalige Bundesregierung die Chance
vertan, das neue Gesetz vernünftiger zu gestalten. Die
heutigen Nachbesserungen sind einfach ungenügend.
So berechtigt die steuerlichen Anreize zum Kauf von
teuren Ökoautos sind, so muss auch beachtet werden,
dass der klassische Kleinwagen ebenfalls wenig Sprit
verbraucht. Die Besitzer von großen Limousinen, Sportund Geländewagen, die zur Kategorie der extremen
Spritschlucker gehören, sollten wir aufgrund des übermäßigen CO2-Ausstoßes steuerlich stärker belasten.
({2})
Tun wir dies nicht, schaffen wir weder Anreize zu leichteren, langsameren und verbrauchsärmeren Fahrzeugen
noch solche zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel.
Gerade die Verlagerung des Verkehrs vom Individualverkehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln und auf die
Schiene muss bei der steuerlichen Lenkung mehr Beachtung finden.
Obwohl aus dem Verkehrsministerium viele Ankündigungen kommen, lassen die Taten auf sich warten.
Durch die grundlegende Reform der Kraftfahrzeugsteuer
sind die steuerlichen Regelungskapazitäten nun auf den
Bund übergegangen, was die Entscheidungsverfahren
bedeutend vereinfacht. Auf eine Blockadepolitik der
Länder können Sie sich nunmehr nicht mehr berufen,
wenn Sie Ihre Untätigkeit auf diesem Gebiet entschuldigen wollen. Nutzen Sie jetzt die Chancen für eine Politik, die für ein besseres Klima sorgt! Die Umwelt muss
im Mittelpunkt stehen und nicht länger die Ihnen nahestehende Autolobby.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden heute - das wurde schon mehrfach erwähnt - über
eine Gesetzesänderung, deren spannendste Neuerung die
erweiterte Steuerbefreiung für Fahrzeuge aus dem Bereich der Milchwirtschaft und der Zollverwaltung ist. So
weit, so wenig. Auch ich muss mich leider in diese Meinung einreihen.
Interessant an Ihrer Vorlage ist vor allem das, was
nicht in ihr steht. Seit 2009 ist die Kraftfahrzeugsteuer
keine Länder-, sondern eine Bundessteuer. Das haben
wir Grüne damals ausdrücklich begrüßt. Wir hatten dies
lange gefordert; denn damit liegt die Kompetenz für alle
Kfz-bezogenen Steuern endlich auf Bundesebene, und es
wäre eine konsistente Steuerpolitik in diesem Bereich
möglich. Allerdings, man muss diese Chance auch ergreifen.
({0})
Stattdessen legen Sie uns einen Gesetzentwurf vor, der
das Kraftfahrzeugsteuergesetz lediglich technisch und
formal in ein paar Punkten nacharbeitet, weil Sie dies im
Zuge der Föderalismusreform II versäumt haben oder einige Dinge von der EU-Kommission bemängelt worden
sind.
Dabei ist eine grundlegende ökologische Reform
dringend geboten. Ich sage Ihnen, warum. Der durch
Verkehr bedingte CO2-Ausstoß ist seit 1990 nicht gesunken, sondern ist - wir alle wissen es - kontinuierlich und
dramatisch gestiegen. Gleichzeitig hat sich Deutschland
auf EU-Ebene aus guten Gründen verpflichten müssen,
die Emissionen im Verkehrs-, Haushalts- und Landwirtschaftsbereich bis 2020 gegenüber 2005 um 14 Prozent
zu senken. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen, wenn wir nicht endlich alle Instrumente in die
Hand nehmen, die uns zur Verfügung stehen, um im Verkehrsbereich Fortschritte im Klimaschutz zu machen?
({1})
Es reicht eben nicht, dass wir ein paar Förderprogramme
für die Forschung an neuen Antriebssystemen auflegen.
Wir müssen auch im Rahmen der Kfz-Steuer ernsthafte
Anreize setzen, um den CO2-Ausstoß im Verkehr zu senken.
Die Signale von Schwarz-Gelb gehen aber leider
- wir wissen es - in eine ganz andere Richtung. Erst gestern bestätigten Sie, Herr Staatssekretär Koschyk, mir
zum Beispiel im Finanzausschuss, dass sich die Koalition nicht für CO2-basierte Steuern und Abgaben in der
EU einsetzt. Ich warte schon darauf, dass Sie die Minireform vom vergangenen Jahr wieder rückgängig machen, nach dem Motto: Mit Vollgas in die Vergangenheit, auf der Suche nach der politisch-geistigen Wende!
({2})
Dabei sagt Verkehrsminister Ramsauer selbst, dass
Verkehr und Bauen für 70 Prozent des Primärenergieverbrauchs und für 40 Prozent der Treibhausgasemissionen
verantwortlich sind. Wir Grünen haben immer angemahnt, bei der Kfz-Steuer keine Mogelpackung zu machen, sondern sie richtig zu reformieren, und das heißt
eben, eine vollständige Umstellung auf eine CO2-Basis.
Bei einer rein CO2-orientierten Kfz-Steuer, wie wir sie
uns vorstellen, wären nicht, wie bei Ihnen, die großen
Dieselfahrzeuge am Ende sogar die Gewinner der Reform; vielmehr würden die Besitzer großer Spritschlucker tatsächlich spürbar mehr zur Kasse gebeten als die
Halter kleiner und sparsamer Fahrzeuge.
Wir wollen als ersten Schritt Fahrzeuge bis zu einem
CO2-Ausstoß von 120 Gramm pro Kilometer für vier
Jahre steuerfrei stellen und höhere CO2-Ausstöße progressiv besteuern. Das ist nicht nur ökologisch, sondern
auch sozial sinnvoll; denn es belastet diejenigen am
meisten, die sich teure, schwere Karossen leisten können.
({3})
Leider sehe ich keine Anzeichen, dass Sie hier aktiv
werden wollen. Stattdessen das Gegenteil: Verkehrsminister Ramsauer hat etwas angekündigt, was eigentlich
nur am 1. April ernst genommen werden kann: die Einführung von sogenannten Wechselkennzeichen, um die
Besitzer von Zweit-, Dritt- oder Viertautos steuerlich zu
entlasten. Das ist nicht nur für Verkehrssünder toll und
wird den Autoschiebern sicherlich in die Hände spielen,
nein, es ist auch ansonsten absurd. Ich hoffe sehr, dass
das nicht das letzte Wort der Bundesregierung in Sachen
Reform der Kfz-Steuer sein wird. Fangen Sie endlich an,
Politik zu machen, die auch für die restlichen 364 Tage
im Jahr taugt!
({4})
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich glaube, es gibt in diesem Land kaum ein
Thema, das derart viele Menschen beschäftigt: Potenziell ist nahezu jeder über 18 davon in irgendeiner Form
betroffen. Insofern kann man die eine oder andere Aufregung in diesem Haus verstehen. Wir haben schon in
den Debatten der vergangenen Jahre viele Forderungen
gehört. Ich sage aber auch: Wir haben in der Vergangenheit sehr konkrete Beschlüsse gefasst und umgesetzt.
Diese Beschlüsse gingen im Hinblick auf Ziele und Lenkungswirkung durchaus in Richtung dessen, was von der
Politik gestaltet werden kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann in der Tat nicht
isoliert betrachtet werden kann. Er ist die logische und
unmittelbare Folge von Beschlüssen von vor etwa einem
Jahr. Was war geschehen?
Erstens. Die Kfz-Steuer wurde derart neu gestaltet
- lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal betonen; es hört sich immer so an, als hätten wir gar nichts
getan; damals hatten wir noch eine Große Koalition -,
dass der CO2-Ausstoß seit Juli vergangenen Jahres eine
besondere Berücksichtigung erfährt. Über viele Jahre
wurde dieser Schritt immer wieder beschworen, und wir
alle haben ihn immer wieder vertagt. Letztes Jahr sind
wir diesen Schritt gegangen.
Zweitens. Die Kfz-Steuer ging mit diesem Datum
- hieraus resultiert der heutige Schwerpunkt - gänzlich
an den Bund über. Sie war bis dahin zwar bundesgesetzlich geregelt, aber im Aufkommen, das heißt in den Einnahmen, wie in der Verwaltung eine Ländersteuer.
Beides, die Änderung der Bemessungsgrundlage wie
der Übergang, waren in den Augen vieler sicher überfällig und dennoch ein Kraftakt. Um heute zwei Zahlen zu
nennen: Immerhin ging und geht es um mehr als
40 Millionen Pkw und um ein Steueraufkommen von
8 bis 9 Milliarden Euro, welches in der Zuständigkeit
wechselte.
Ich betone es gern noch einmal: Bei allem, was heute
diskutiert wird, war es damals gut und richtig, diesen
Schritt zu gehen. Es war ein Beitrag zum Umweltschutz,
zu mehr Gerechtigkeit und zur Deregulierung an einer
nicht unerheblichen Stelle in diesem Land. Politik kann
und soll mit Anreizen für Käufer sowie mit Impulsen für
die Industrie Lenkungsfunktionen ausüben; wir haben es
heute mehrfach gehört. Eng verbunden damit ist es uns
aber ebenso wichtig - lassen Sie mich auch dies sagen -,
die Arbeitsplätze in dieser Branche im Blick zu behalten
und alle Maßnahmen daraufhin zu prüfen, gerade in Zeiten wie diesen.
({0})
Dies gilt für die großen Hersteller gleichermaßen wie für
die zahlreichen kleinen und mittleren Betriebe im Zuliefererbereich.
Vor diesem Hintergrund ist es schon wichtig, dass wir
letztes Jahr beschlossen haben - ich möchte dieses Beispiel an dieser Stelle doch einmal konkret nennen, da es
auch einen sehr engen Bezug zum vorliegenden Gesetzentwurf hat -, dass beispielsweise bei einem neu gekauften Diesel-Pkw eine befristete Steuerbegünstigung zu
gewähren ist, wenn das Fahrzeug eine besondere Norm
erfüllt und damit den Anforderungen vorzeitig mehr als
eigentlich erforderlich genügt. Auch wenn nun aufgrund
des Gemeinschaftsrechts der EU der Zeitraum für diese
Steuerbegünstigung gegenüber dem ursprünglichen Vorhaben eingegrenzt werden musste, so zeigt doch dieses
Beispiel, welche Möglichkeiten Politik mit Elementen
der Kfz-Steuer hat, um an bestimmten Stellen gezielt
einzuwirken. Gleichzeitig ist das ein Punkt, der die Notwendigkeit der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagenen Korrekturen aufzeigt.
Das bisherige Verfahren der Erhebung dieser Steuer
durch Länderverwaltungen mit unterschiedlichsten
Rechtsverordnungen kann nicht ad hoc umgestellt werden. Es bedarf eines Prozesses, um zu einer geordneten
Zusammenführung an einer Stelle zu gelangen. Deshalb
wurde in der Tat vereinbart, dass sich der Bund noch
über einige Jahre der Einrichtungen der Länder bedient.
Ob es um die Behandlung von Steuerrückständen geht
- auch ich halte das für einen durchaus wichtigen Punkt,
den man einmal benennen sollte -, um die Voraussetzungen zur Zulassung wie zur Abmeldung von Fahrzeugen,
um die Abgabenordnung oder anderes mehr - wir alle
kennen es aus eigener Erfahrung -,
({1})
vieles ist dabei zu berücksichtigen und technisch anzupassen, auch wenn es nicht immer mit Änderungen der
eigentlichen Kfz-Steuer oder ihrer Bemessungsgrundlage verbunden ist.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt
festzustellen: Das bisher eingeleitete Verfahren, die Verantwortung für die Kfz-Steuer von den Ländern auf den
Bund zu übertragen, ist grundsätzlich auf einem guten
Weg. Gleiches gilt für die Einführung der neuen Bemessungsgrundlage, die seit Mitte des vergangenen Jahres
gilt. Eher geräuschlos im Gegensatz zu vielen anderen
Themen werden diese Aufgabenänderungen vollzogen,
obgleich der Schritt insgesamt kein kleiner war und ist.
Das vorliegende Gesetz soll dazu beitragen, diesen Prozess zu beschleunigen, Deregulierungen herbeizuführen
und Sachverhalte zu klären.
Der Dialog mit den Ländern geht in der kommenden
Zeit wie dargelegt weiter. Sehr vielfältig waren und sind
die Verfahren über viele Jahre vor Ort gewachsen.
Selbstverständlich kann man sich immer noch mehr
wünschen und sagen, was man noch alles mit der Verabschiedung dieses Gesetzentwurfes verbinden könnte. Ich
nenne einmal das Stichwort „weitere Steuerbegünstigungen“. Wir hätten auch viele der Ideen, die heute genannt
wurden, zum Teil schon im vergangenen Jahr, als die
große Umstellung stattfand, umsetzen können. Ich bin
mir sicher, dass wir uns zum gegebenen Zeitpunkt mit
dieser Materie wieder zu befassen haben.
Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass wir im
vergangenen Jahr einen wichtigen Schritt gegangen sind.
Hier und heute geht es konkret um Korrekturen und Anpassungen im laufenden Verfahren der Zusammenführung. Ich hoffe, dass es zu einer konstruktiven Befassung
mit diesem Thema kommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/717 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so-
wie den Zusatzpunkt 3 auf:
10 a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/776 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von Zugangsbeschränkungen in Kommunikationsnetzen
- Drucksache 17/646 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck ({2}),
Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung des Zugangs zu kinderpornografischen Inhalten in
Kommunikationsnetzen und Änderung weiterer Gesetze
- Drucksache 17/772 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Für die Aussprache ist nach einer interfraktionellen
Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion. - Der Kollege ist offensichtlich nicht anwesend. Hat die SPD einen Vorschlag, wer an seiner
Stelle sprechen soll? - Das ist nicht der Fall.
({4})
Dann rufe ich jetzt erst einmal den Kollegen Ansgar
Heveling für die Unionsfraktion auf.
({5})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist heute schon eine bemerkenswerte Debatte.
Denn hier wird der Versuch unternommen, einen völlig
normalen parlamentarischen Vorgang zu einem Kampfthema zu machen. Ein Gesetz ist vom Bundestag
beschlossen worden. Anschließend hat es - den Verfahrensvorschriften des Grundgesetzes entsprechend - seinen weiteren Weg genommen und ist in Kraft getreten.
({0})
Nach Meinung der Opposition ist dies nun offensichtlich
ein so unerhörter Vorgang, dass von ihr nur zwei Tage
nach Inkrafttreten die Aufhebung des Gesetzes beantragt
wird.
({1})
Da kann man sich nur fragen: Wenn sich einige Fraktionen dieses Hauses als Gesetzgeber selbst nicht mehr
ernst nehmen wollen, wie soll es dann bitte schön die
Bevölkerung tun?
({2})
Wohlgemerkt: Es geht um ein Gesetz,
({3})
von dem eine Rednerin der SPD vor einem knappen Jahr
im Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle gesagt hat:
Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zugangssperren im Internet braucht eine klare gesetzliche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit
ihrer Forderung durchgesetzt hat.
Hört! Hört!
({4})
Weiter heißt es:
Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechtssicherheit und genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen.
An anderer Stelle betonte der SPD-Abgeordnete Martin
Dörmann, der eigentlich vor mir hätte reden sollen:
Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen gerecht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung
kinderpornografischer Inhalte im Internet und dem
Einsatz für ein freies Internet … Ich finde, mit diesem Gesetzentwurf ist das gelungen.
So weit die SPD vor noch nicht einmal einem Jahr.
({5})
Nun soll angeblich alles anders sein. Dabei ist es uns
von der CDU/CSU nicht ersichtlich, dass es irgendwelche neuen Erkenntnisse gibt, die uns nun zu einer Aufhebung des Gesetzes veranlassen sollten. Darum geht es
den Verfassern der Gesetzentwürfe auch gar nicht. Sachlich hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Nur
die politischen Konstellationen sind anders. Doch ob das
allein ein Grund ist, die Aufhebung eines Gesetzes zu
fordern? Wir haben noch Verständnis, wenn eine bislang
farblos gebliebene Opposition einmal Profil zeigen will.
Dabei stellt sich allerdings die Frage: Ist das Gesetz zur
Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen das taugliche Objekt für den Feuerzauber der
Opposition? Die Antwort ist ein klares Nein.
({6})
Vergegenwärtigen wir uns, worum es geht. Es geht
um Kinder, viele von ihnen fast noch Babys. Sie bräuchten Schutz und Zuwendung. Stattdessen werden an ihnen
ekelerregende sexuelle Handlungen vorgenommen. Weil
es Menschen gibt, die Videos und Bilder von solchen Taten ins Internet stellen, und weil es andere Menschen
gibt, die sich solches Ekelmaterial ansehen, werden Kinder auf grausamste Weise zu Opfern. Sie werden traumatisiert und stigmatisiert. Es geht also primär nicht um
technische Fragen oder die Möglichkeiten des Internets,
sondern um Kinder, die des besonderen Schutzes und
des Einsatzes des Staates bedürfen, weil sie sich selbst
nicht wehren können, ja weil sie oft nicht einmal begreifen können, was mit ihnen geschieht.
({7})
Mit den Folgen der Verletzungen an Körper und Seele
werden sie jedoch ein Leben lang zu kämpfen haben.
Deshalb und nur deshalb muss der Staat in diesem klar
definierten Bereich strafrechtlich relevanten Tuns handeln. Wir als Gesetzgeber haben die Pflicht, ihm dazu
die nötigen Instrumente an die Hand zu geben.
Es geht bei solchen Bildern oder Filmen nicht um irgendetwas Virtuelles. Der Verbreitung im Internet gehen
stets reale Taten voraus, schändliche Taten, gegen die
eingeschritten werden muss, Taten, die vielfach auch dadurch verhindert werden könnten, dass man die Verbreitungswege kappt.
({8})
Bei jedem anderen Medium geschieht das, etwa wenn es
um Druckschriften oder DVDs kinderpornografischen
Inhalts geht. In diesen Fällen ist das präventive Vorgehen
selbstverständlich, und niemand erhebt ernsthaft den
Vorwurf der Zensur. Richtig ist, dass das Internet im Vergleich zu anderen Medien komplexer strukturiert ist und
auch an Staatsgrenzen nicht haltmacht. Dementsprechend eröffnet es vielfältige Umgehungsmöglichkeiten,
und das erschwert die Bekämpfung. Aber diese Erkenntnis darf doch nicht zur Kapitulation des Rechtsstaats
führen.
({9})
Schon die bestehende gesetzliche Regelung steht in
einem Stufenverhältnis und geht vom Vorrang der Löschung vor der Sperrung aus. Das Bundesinnenministerium hat nun im Zuge seiner Vollzugskompetenz auf der
Grundlage der gesetzlichen Regelung für die Anwendung von § 1 Abs. 2 des Gesetzes ermessensbindend
festgelegt, dass für die Dauer eines Jahres lediglich von
der Löschungsalternative Gebrauch gemacht werde.
Auch das ist ein vollkommen normaler Vorgang. Er lässt
ausreichend Raum, die Wirksamkeit des Mittels der Löschung genau zu prüfen. Sollte sich zeigen, dass es andere schlagkräftige und effektive Maßnahmen gibt, dann
sollte es unser gemeinsames Ziel sein, diese Möglichkeiten rechtssicher in Anspruch zu nehmen. Solange aber
solche rechtssicher nicht zur Verfügung stehen, würde
der Staat seinen Sicherheitsauftrag missachten, wenn er
auf gesetzliche Schutzwerkzeuge endgültig verzichtet.
Eine Aufhebung des Gesetzes, ohne dass zugleich alternative Schutzinstrumente aufgezeigt werden, ist der
falsche Weg. Hier macht es sich die Opposition zu einfach. Eine Aufhebung ohne Alternativen wäre jedenfalls
eine Bankrotterklärung im Kampf für den Schutz unserer
Kinder.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Kollege Heveling, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der
parlamentarischen Arbeit. Wenn ich das als Präsidentin
hinzufügen darf: Ich gratuliere Ihnen zu etwas, was nicht
vielen bei ihrer ersten Rede gelingt: Sie sind vorbildlich
in der Zeit geblieben.
({0})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun ist es doch so weit gekommen: Bundespräsident
Köhler hat das umstrittene Zugangserschwerungsgesetz
unterzeichnet. Seit vorgestern ist es in Kraft.
Herr Heveling sagt, für eine Aufhebung brauchten wir
Alternativen. Die Bundesregierung hat in diesem Zusammenhang schon angekündigt, ein Löschgesetz in den
parlamentarischen Geschäftsgang zu geben. Wie das
aussieht, kann ich mir allerdings nicht so richtig vorstellen. Wozu brauchen wir ein Löschgesetz? Löschen können wir auch heute schon. Die Verbreitung von Kinderpornografie ist strafbar. Wenn die Provider informiert
werden, dann werden die entsprechenden Seiten in aller
Regel - das zeigen die Erfahrungen; wir haben das hier
in der letzten Legislaturperiode rauf und runter
debattiert - sofort gelöscht. Dem Argument, international würde das nicht funktionieren, kann ich nur entgegnen: Auf internationaler Ebene wird auch ein deutsches
Löschgesetz nicht interessieren.
({0})
Erstaunlich ist, dass neben der Linken inzwischen
auch alle übrigen Fraktionen, jedenfalls in weiten Teilen,
sich offensichtlich einig sind, dass wir dieses Zugangserschwerungsgesetz nicht brauchen. Deswegen war ich
über den Debattenbeitrag gerade ein bisschen erstaunt.
Denn es hat sich allen die Frage aufgedrängt, warum dieses Gesetz zu Wahlkampfzeiten mit einer höchst umstrittenen Begründung durch den Bundestag gepeitscht werden musste. Frau von der Leyen war - daran erinnern
wir uns sicherlich alle noch - geradezu hysterisch bei der
Debatte.
({1})
Nun scheint bei der Bekämpfung von Kinderpornografie die Argumentation von damals nicht mehr so
wichtig zu sein. Das Gesetz bringt - auch das muss man
sagen - bezüglich der Bekämpfung von Kinderpornografie nichts. Das haben wir damals festgestellt, und das
konnten wir auch am Montag wieder feststellen. Denn
im Ergebnis der Anhörung im Petitionsausschuss zu der
entsprechenden Petition hieß es letztlich: Das Gesetz ist
ergebnisunwirksam, da die Inhalte weiter vorhanden
sind. Es ist unnötig, da die Verfolgung der Taten möglich
ist. Es ist intransparent, da die Gefahr besteht, dass Seiten versehentlich gesperrt werden. Es ermöglicht Willkür, weil niemand die Sperrung kontrollieren kann. Es
birgt die Gefahr, dass bei Bekanntwerden der Sperrlisten
die sogenannten Gelben Seiten für Pädophile erstellt
werden.
Dass die Regierung jetzt vorgibt, dieses Gesetz nicht
entsprechend seiner Zielstellung anwenden zu wollen,
ist zwar in der Sache erfreulich; logisch, juristisch und
rechtsstaatlich ist es jedoch nicht nachzuvollziehen.
({2})
Da werden also Gesetze verabschiedet, um sie dann
nicht anzuwenden. Das ist der Verkauf des Rechtsstaats,
Herr Heveling; das muss man einmal sagen.
Ausweislich einer Dienstanweisung des BMI vom
17. Februar dieses Jahres - ich habe sie hier schwarz auf
weiß - an das Bundeskriminalamt heißt es, dass die Bundesregierung sich ausschließlich für das Löschen einsetzen wird; Zugangssperren sollen nicht erfolgen. - Das
Gesetz ist zum Sperren erlassen worden! - Spielräume
sollen genutzt werden, „dass keine Aufnahme in Sperrlisten erfolgt“. Sperrlisten sind nicht an Internetprovider
zu übermitteln, und die Erarbeitung der technischen
Richtlinie bleibt ausgesetzt. Weiter heißt es in der
Dienstanweisung: Selbst wenn ein Versuch, das Löschen
zu veranlassen, erfolglos ist, soll nicht gesperrt werden,
sondern das Bundesministerium der Justiz und das Auswärtige Amt um Unterstützung gebeten werden. - Wie
diese Unterstützung aussehen soll, weiß ich im Moment
nicht so richtig. Aber immerhin bietet man etwas.
Mit anderen Worten: Das ist eine Anweisung, ein erlassenes, beschlossenes, verabschiedetes, rechtskräftiges, in Kraft getretenes Gesetz nicht anzuwenden. Das
ist der Verkauf des Rechtsstaates.
({3})
Man stelle sich parallel dazu einmal vor, die Regierung verabschiedet ein Gesetz zur Erhöhung des Spitzensteuersatzes und sagt dann anschließend: Das wenden wir jetzt aber nicht an. - Die Bananenrepublik lässt
grüßen. Da ist doch etwas faul im Staate. Aber laut Aussage der CDU ist das ein völlig normales Verfahren, ein
völlig normales Verhalten. Es kann doch nicht sein, dass
dies das Verhältnis zum Rechtsstaat sein soll.
Zur Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes hat die
FDP seinerzeit - ich erwähne in diesem Zusammenhang
Herrn Stadler, der heute anwesend ist - sehr ausführlich
Stellung genommen, und zwar zu der gesamten Problematik.
({4})
- Ja, leicht darüber.
Ich freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Um einen vernünftigen Rechtszustand herzustellen, kann man
im Grunde genommen nur dem Antrag der Linken zustimmen und dieses Gesetz aufheben. Es wird sich zeigen, ob diese Regierung verfassungstreu und bürgerrechtsbejahend ist. Ich persönlich habe da allerdings
meine berechtigten Zweifel.
Schönen Dank.
({5})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Christian Ahrendt.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich darf für meine Fraktion sagen, dass wir die
Gesetzesinitiativen der Opposition begrüßen.
({0})
Das Zugangserschwerungsgesetz ist ungeeignet, um
Kinderpornografie im Internet erfolgreich zu bekämpfen. Darauf haben wir als FDP immer hingewiesen.
({1})
An unserer klaren Haltung hat sich an dieser Stelle
nichts geändert. Wir haben immer gesagt: Löschen ist
besser als Sperren.
({2})
Deswegen haben wir in den Koalitionsverhandlungen
mit dem Koalitionspartner auch verabredet, dass Internetseiten nicht gesperrt werden.
Als ich diese Rede vorbereitet habe - Herr Dörmann,
insofern ist Ihr verspätetes Erscheinen zur Debatte auch
ein gewisses Anzeichen -, habe ich mich zunächst gefragt: Begrüßt du auch den Entwurf der SPD? Dann habe
ich über das Verfahren nachgedacht und bin zu dem
Schluss gekommen: Das, was Sie hier vorlegen, ist nicht
zu begrüßen, sondern ist eher eine sehr bedauernswerte
Initiative. Wenn man sich einmal anschaut - Kollege
Wunderlich hat es eben schon beschrieben -, was hier im
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens abgelaufen ist,
dann muss man sagen, dass das erschreckend ist. Wenn
man sich anschaut, worum es eigentlich geht, dann sieht
man auch, über welche bedeutenden Fragen wir hier reden.
Zunächst einmal geht es um zentrale Grundrechte. Jeder hat das Recht, sich frei und ungehindert zu informieren. Eine Zensur findet nicht statt. Weiter geht es um die
Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses, und es
geht um das Grundrecht auf freie und informationelle
Selbstbestimmung.
({3})
Trotz dieser sensiblen Grundrechte wurde das Zugangserschwerungsgesetz in sechs Wochen durch den
Bundestag gejagt. Niemand hat die Sachverständigen
wirklich angehört, eine breite Diskussion fand nicht
statt.
({4})
Wir haben als Opposition gemahnt; aber auf diese Mahnungen hat man nicht gehört.
({5})
Sie, Herr Dörmann, haben hier vor dem Haus für Ihre
Fraktion vorgetragen, dass die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Internet immer mehr zunehme und
deswegen Internetseiten gesperrt werden müssten.
Jetzt ist ein Jahr vergangen, Sie sind vier Monate
nicht mehr in der Regierung, und nun schreiben Sie in
der Begründung Ihres Gesetzentwurfs:
Zwischenzeitlich hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau
und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen
sind.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
genau das haben wir Ihnen im letzten Jahr erklärt. Deswegen ist es keine neue Erkenntnis, die Sie hier vortragen.
({6})
Sie wollen hier mit einem Heiligenschein durchs Land
laufen. Sie tragen aber keinen Heiligenschein, Sie sind
verantwortungslos. So, wie beim Zugangserschwerungsgesetz mit den Grundrechten umgegangen worden ist,
war das auch verantwortungslos.
Ich will jetzt auch eine Bemerkung über die Grünen
machen, damit sie sich nicht zu früh freuen. Denn im
Grunde genommen planen Sie von den Grünen das Gleiche. Nächste Woche wird aus Ihren Reihen ein Antrag
zum Thema ELENA kommen. ELENA, von Rot-Grün
verabschiedet, ist nichts anderes als ein riesiges Spionagegesetz gegen Arbeitnehmerrechte.
({7})
Das Manöver, sich auch hierbei aus der Opposition heraus als Verteidiger der Grundrechte darzustellen, werden wir Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen lassen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, man darf es
sich mit diesem Thema - das ist vorhin auch schon angeklungen - nicht so einfach machen. Man darf den Kampf
gegen Kinderpornografie und die Freiheit des Internets
durch vordergründigen Populismus und holzschnittartige
Gesetze nicht gegeneinander ausspielen. Der freie und
unzensierte Zugang zum Internet ist das eine, der Kampf
gegen die Kinderpornografie das andere.
Die Kollegen Wunderlich und Heveling haben es bereits angesprochen: Jedes Bild dokumentiert eine Verletzung. Hinter jedem kinderpornografischen Bild steht die
Verletzung eines Jungen oder eines Mädchens. In dem
Moment, in dem man sich das Bild anschaut, findet die
Verletzung noch einmal statt. Deshalb sagen wir: Löschen ist in erster Linie Opferschutz. Deswegen haben
wir immer betont: Löschen geht vor Sperren.
({8})
Weil wir in den letzten Monaten bei unserem Koalitionspartner viel Überzeugungsarbeit geleistet haben, ist
zwischen dem Bundesinnenminister und der Bundesjustizministerin verabredet worden, dass es eine Gesetzesinitiative zur Löschung kinderpornografischer Seiten
geben wird. Wir haben im Rahmen dieser Gesetzesinitiative die Möglichkeit, das Thema in den Ausschüssen neu
und in der erforderlichen Breite zu diskutieren. Ich gehe
davon aus, dass wir am Ende dieses Verfahrens ein vernünftiges Gesetz vorweisen können. Ich lade Sie ein,
sinnvoll und vernünftig mitzuberaten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrter Herr Kollege Heveling, es ist schon erstaunlich, was sich hier abspielt. Vor wenigen Wochen
stand der Kollege Uhl an dieser Stelle und erklärte, man
habe damals bei diesem Gesetz im Nebel gestochert und
sei nicht so richtig unterwegs gewesen.
({0})
Parallel zu Ihrer Rede hier gibt die frischgebackene Familienministerin Schröder ein Interview bei Spiegel
Online
({1})
- ja, wo ist sie eigentlich? -, in dem sie erklärt, dass es
damals ein Missverständnis gewesen sei. Sie aber halten
eine Rede, in der Sie so tun, als hätte in den letzten Monaten keine Debatte stattgefunden. Das ist hochgradig
merkwürdig.
({2})
Es stimmt: Die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie ist ein gravierendes gesellschaftliches
Problem. Aber gerade weil das so ist, verbietet sich eine
rein symbolische Placebopolitik, wie sie im Zugangserschwerungsgesetz zum Ausdruck kommt. Für Politiksimulation ist das Problem zu ernst.
({3})
Mit welcher Rhetorik dieses Gesetz eine Mehrheit
fand, wollen wir auf sich beruhen lassen, aber erstaunlich ist die jüngste Entwicklung schon. Es gab in den
letzten Monaten ein allgemeines Zurückrudern durch
alle Reihen, auch durch Ihre.
({4})
Die SPD hat es sich anders überlegt.
({5})
Von Herrn Uhl habe ich schon berichtet.
Am Montag fand die Anhörung zur Petition „Keine
Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ statt.
Franziska Heine trug das Anliegen von 134 000 Mitzeichnerinnen und Mitzeichnern vor. Das ist die höchste
Beteiligung an einer Petition, die es bisher gegeben hat.
Auch diese Anhörung hat gezeigt, dass das Zugangserschwerungsgesetz misslungen ist und man vor seiner
Verabschiedung nicht all die kritischen Expertenmeinungen hätte in den Wind schreiben dürfen.
({6})
- Diese kommen gleich. Freuen Sie sich schon einmal
darauf. - Strafrechtlich relevante Seiten - seien es solche
mit rechtsradikalem Inhalt,
({7})
betrügerische Internetseiten oder aber solche mit kinderpornografischem Inhalt - können schon heute problemlos gelöscht werden, was auch vielfach geschieht.
Heute hat Spiegel Online eine Studie zitiert, in der die
Zeit bis zum Löschen von Internetseiten untersucht
wurde. Bei Phishing-Seiten, also bei Seiten, die Bankzugangsdaten abfischen, dauert das Löschen einer Seite
vier Stunden, bei Seiten mit kinderpornografischem Inhalt dauert es über 700 Stunden. Das zeigt die Problematik auf: Mit Sperren ist einem nicht geholfen.
({8})
Die Sperren, die der Kern des Gesetzes sind, über das
wir heute reden, sind ineffektiv, können spielend leicht
umgangen werden und sind der Einstieg in eine Technik
für das Internet, mit der jedweder gewünschte oder unerwünschte Inhalt staatlicherseits und ohne Richtervorbehalt gesperrt werden kann, was schon heute in China, im
Iran und in ähnlich demokratisch desorientierten Staaten
passiert.
Natürlich gibt es auch bei uns Begehrlichkeiten, auf
die Sperrinstrumente, die jetzt geschaffen wurden, zurückzugreifen, zum Beispiel seitens der Musikindustrie
oder im Rahmen eines Jugendmedienschutz-Staatsvertrages, der sein Ziel verfehlt. Das darf nicht sein. Vor
diesem Hintergrund sagen weite Teile der Bevölkerung
Nein zu diesem Gesetz.
({9})
Wir können viel gegen Kinderpornografie tun. Wir
müssen die internationale Zusammenarbeit bei den Themen Kindesmissbrauch und Verbreitung von Kinderpornografie verbessern. Wir brauchen eine Stärkung von
Polizei und Staatsanwaltschaft in diesem Bereich, und
zwar personell und technisch.
({10})
Wir müssen den Aktionsplan zum Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung
weiter voranbringen, und wir brauchen endlich mehr
fundierte, wissenschaftlich belastbare Expertisen über
die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie.
Aber dieses Gesetz, das Zugangserschwerungsgesetz,
brauchen wir nicht.
({11})
Vor diesem Hintergrund verstehe ich am wenigsten
Ihr Verhalten hier und heute, sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von der FDP-Fraktion. Im Wahlkampf
sind Sie mit dem vollmundigen Versprechen angetreten,
dieses Gesetz umgehend zurückzuholen. Immerhin haben Sie eine Aussetzung in den Koalitionsvertrag hineinverhandelt.
({12})
- Genau.
Kollege von Notz, achten Sie bitte auf das Signal.
Selbstverständlich. - Wenn es also tatsächlich Koalitionsmeinung ist, dass das Sperren falsch ist und nichts
bringt, wenn Sie von CDU/CSU und FDP tatsächlich in
der Debatte dazugelernt haben und das alles nicht nur
Wahlkampfrhetorik war, dann nehmen Sie dieses Parlament ernst und versuchen Sie nicht, ein gültiges Gesetz
mit einem Ministererlass, quasi par ordre du mufti, auszuhebeln.
({0})
Kollege von Notz, ich bitte um Beachtung meines Signals.
({0})
Jawohl. - Sie haben auf die Untätigkeit des Bundespräsidenten gehofft. Vergeblich. Jetzt und hier müssen
Sie Farbe bekennen. Gehen Sie den ehrlichen und sauberen Weg! Stimmen Sie für die Aufhebung dieses Gesetzes!
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich aufgrund einer mir
offensichtlich falsch übermittelten Zeit zwei Minuten zu
spät gekommen bin. Vielleicht lag es daran, dass es die
erste Rede des Kollegen Heveling war, zu der ich ihm
natürlich gratuliere, ohne dass ich zu den Inhalten etwas
sagen möchte.
Zur Sache. Vor gerade einmal zwei Tagen ist das Zugangserschwerungsgesetz in Kraft getreten. Es regelt das
Sperren von Internetseiten mit kinderpornografischen
Inhalten. Das Sperren soll dann erfolgen, wenn ein Löschen dieser Seiten nicht in angemessener Zeit erreicht
werden kann.
({0})
Ich denke, es gibt niemanden in diesem Hause, der
das Ziel nicht teilt, kinderpornografische Inhalte nachhaltig aus dem Netz zu entfernen. Wir müssen aber erkennen: Es war ein Fehler, dass die Große Koalition dabei im vergangenen Jahr auch auf das Instrument der
Internetsperren gesetzt hat, wenn auch nur als Ultima
Ratio.
({1})
Solche Sperren sind technisch leicht zu umgehen.
({2})
Sie beseitigen nicht die eigentlichen Inhalte und entfalten in erster Linie eine symbolische Wirkung.
({3})
Gleichzeitig aber wecken sie bei vielen Menschen die
Sorge vor einer Internetzensur.
({4})
Auch wenn gerade dies nicht beabsichtigt war, hat die
Politik insgesamt einen Verlust an Glaubwürdigkeit und
Akzeptanz erlitten,
({5})
zumal selbst Unionsmitglieder hinter vorgehaltener
Hand oder sogar ganz offen zugeben, dass es der damaligen Familienministerin, Frau von der Leyen, die die
Sperren auf die Tagesordnung gesetzt hatte, vor allem
um ein populäres Wahlkampfthema ging.
({6})
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht ihre Mitverantwortung und will hieraus die richtigen Konsequenzen ziehen.
({7})
Politik muss sich auch korrigieren können.
Aus diesen Gründen bringen wir heute einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, um das Zugangserschwerungsgesetz aufzuheben. Es ist richtig, auf die symbolischen Internetsperren zu verzichten und konsequent auf
das Prinzip „Löschen statt Sperren“ zu setzen;
({8})
denn nur mit dem Löschen der rechtswidrigen Seiten
und der konsequenten Strafverfolgung können die kinderpornografischen Inhalte wirksam aus dem Netz entfernt werden.
({9})
Die SPD hat stets deutlich gemacht, dass zu einer erfolgreichen Bekämpfung kinderpornografischer Inhalte
im Internet eine Vielzahl von Maßnahmen gehören, und
hierzu im letzten Jahr einen eigenen Zehn-Punkte-Plan
vorgelegt. Dazu gehören insbesondere eine bessere Ausstattung der Polizei und eine intensive internationale Zusammenarbeit. Denn schließlich sind das Hauptproblem
die Seiten auf ausländischen Servern, die nicht direkt
von Deutschland aus gelöscht werden können.
({10})
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie nun
zügig und konsequent entsprechende Maßnahmen ergreift. Bisher haben wir zwar viele Ankündigungen gehört, aber nur wenige Taten gesehen.
({11})
Immerhin ist zu begrüßen, dass auch die neue Bundesregierung ausdrücklich das Prinzip „Löschen statt Sperren“ anerkennt.
({12})
Das muss dann aber auch rechtsstaatlich sauber umgesetzt werden, also durch die Aufhebung des Sperrgesetzes.
({13})
Nicht akzeptabel ist das - das sage ich insbesondere
an die Adresse der Liberalen, die sich hier jetzt sehr aufregen -,
({14})
worauf sich Union und FDP geeinigt haben, nämlich das
Gesetz für ein Jahr faktisch nicht anzuwenden.
({15})
Der damit verbundene rechtliche und politische Wirrwarr, den Sie angerichtet haben, muss schnellstmöglich
beendet werden.
({16})
Es geht nicht, dass durch Regierungsanweisung ein Gesetz einfach mal eben ausgesetzt wird.
({17})
Der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis und viele andere haben das bereits als verfassungswidrig bezeichnet.
({18})
Es ist beschämend, dass sich Union und FDP hierfür hergeben, letztlich nur, um einen Koalitionskompromiss
hinzubekommen.
({19})
Es genügt auch nicht, anzukündigen, demnächst werde
man ein Löschgesetz vorlegen. Niemand weiß heute, ob
und wann ein solches Gesetz tatsächlich in Kraft treten
würde. Eines kommt hinzu: Durch die Ankündigung eines Löschgesetzes und aktuelle Stellungnahmen erweckt
die Regierungskoalition den Eindruck, es brauchte ein
Gesetz, um solche Seiten zu löschen. Das Gegenteil ist
der Fall.
({20})
Es ist völlig unstreitig, dass bereits nach bisheriger
Rechtslage und ohne ein besonderes Gesetz kinderpornografische Inhalte in Deutschland durch die Internetprovider vom Netz genommen werden müssen.
({21})
Das ist im Übrigen übliche Praxis. Ein einfacher Hinweis des BKA genügt in der Regel. Ein Verbreiten solcher Inhalte ist bereits strafbar.
Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Bundestagsfraktion die Koalitionsfraktionen auf, von jeglichen
symbolischen und rechtsstaatlich bedenklichen Handlungen Abstand zu nehmen. Denn das würde den Vertrauensschaden für die Politik nur noch vergrößern.
({22})
Mehr als 130 000 Menschen haben sich im vergangenen Jahr der E-Petition gegen das Gesetz angeschlossen.
Es hat sich gezeigt, wie gut es war, dass Rot-Grün seinerzeit dieses Instrument neu geschaffen hat. Erst am
Montag haben wir in einer Anhörung des Petitionsausschusses, die ich sehr gut fand, mit Frau Franziska
Heine, die die E-Petition mit auf den Weg gebracht hat,
darüber diskutiert. Der Erfolg der E-Petition hat die Politik offensichtlich stark beeinflusst und insgesamt zu einer neuen Sensibilität für Fragen des Internets beigetragen. Es ist gut, dass inzwischen alle Parteien Netzpolitik
zu einem wichtigen Thema erklärt haben. In der nächsten Woche werden wir im Bundestag, die Regierungskoalition zusammen mit den Fraktionen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen, die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ auf den Weg bringen.
Die E-Petition hatte übrigens bereits erheblichen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren im vergangenen
Jahr. Mit ihrem Rückenwind konnte die SPD-Bundestagsfraktion gegen den anfänglichen Widerstand aus der
Union entscheidende Verbesserung am damaligen Gesetzentwurf durchsetzen. So wurden wichtige Punkte gesetzlich verankert. Ich nenne nur das Prinzip „Löschen
vor Sperren“, eine strenge Kontrolle der BKA-Sperrliste,
zahlreiche Datenschutzbestimmungen sowie eine Befristung des Gesetzes.
Uns ging es dabei nicht darum, eine Sperrinfrastruktur aufzubauen, sondern - im Gegenteil - eine sich bereits im Aufbau befindliche Sperrinfrastruktur zu kontrollieren und gesetzlich einzugrenzen. Folgendes wird
bis heute in der öffentlichen Debatte viel zu wenig beachtet: Bereits vor dem Gesetz gab es Verträge zwischen
dem BKA und den wichtigsten deutschen Internetprovidern über die Einrichtung solcher Sperren, und zwar
ohne jegliche Kontrolle und mit der Gefahr, dass sich
auch jemand, der ungewollt auf illegale Seiten stößt, einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt sehen konnte.
Nach den uns vorliegenden Informationen wurde
diese Sperrinfrastruktur bereits vor einiger Zeit umgesetzt, und zwar völlig unabhängig vom Gesetz. Zur Verhütung von Schlimmerem haben wir als SPD-Fraktion
uns damals verpflichtet gefühlt, zahlreiche Schutzbestimmungen zugunsten der Internetuser gesetzlich zu regeln.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der SPD-Fraktion
geht es heute darum, die netzpolitische Debatte wieder
vom Kopf auf die Füße zu stellen.
({23})
Deshalb fordern wir nicht nur die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes, sondern auch die unverzügliche Aufhebung aller einschlägigen BKA-Verträge, die
durchaus angekündigt wurde. Lassen Sie uns also klare
Verhältnisse schaffen! Sorgen wir dafür, dass die Politik
ihre insgesamt verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückgewinnt! Recht und Freiheit im Internet zu sichern,
sollten wir als gemeinsame Aufgabe wahrnehmen.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte eigentlich schon gehofft, dass das Thema von den
Kollegen der Fraktionen insgesamt als zu ernst betrachtet wird, um heute eine solche Show abzuziehen. Mich
ärgert es auch, dass es eine sehr technische Diskussion
ist und Vorschläge der Oppositionsfraktionen fehlen.
({0})
Wir haben hier einen gordischen Knoten zu durchschlagen; das ist uns allen klar. Wir wollen den Kampf
gegen die Kinderpornografie nicht nur aufnehmen, sondern auch gewinnen.
({1})
Wir haben natürlich auf der anderen Seite - dieses Anliegen ist uns, denke ich, allen wichtig - ein freies Internet zu erhalten. Man darf über Namen keine Witze machen - das mag keiner -, aber ich muss ganz ehrlich
sagen, dass man sich bei manchen Reden der Linken
doch sehr stark wundert. Ich möchte die FDP zu einem
konstruktiven Dialog einladen, aber ihr gleichzeitig zurufen: Willkommen in der Regierungskoalition! Ich
würde mich freuen, wenn jedem Mitglied der FDP langsam bekannt würde, dass wir gemeinsam regieren.
({2})
Die Herausforderung, größtmöglichen Erfolg zu haben, besteht darin, beide Seiten, die berechtigte Anliegen
haben, an einen Tisch zu bekommen und gemeinsam
nach einer Lösung zu suchen. Wir müssen uns in dieser
Debatte auf der einen Seite von dem Gedanken freimachen, dass jeder, der für die Freiheit des Internets ist,
dem schändlichen Missbrauch an Kindern das Wort redet. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht jedem, der
sich mit Vehemenz und schützender Hand vor unsere
Kinder, die Schwächsten der Gesellschaft, stellt, per se
unterstellen, dass er für eine Internetzensur ist.
({3})
- Doch, natürlich. Sie waren in der letzten Legislaturperiode noch nicht hier, Herr Kollege.
({4})
- Ja, Sie stellen sich auch vor die Kinder. Aber hören Sie
mir bitte zu, bevor Sie in meine Rede hineingackern.
Dann wüssten Sie nämlich, dass ich genau das gesagt
habe.
({5})
CDU/CSU und SPD haben in der vergangenen Legislaturperiode gemeinsam ein Gesetz verabschiedet, ein
Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Telekommunikationsnetzen. In dem Gesetz ging es darum
- das ist bereits angesprochen worden -, kinderpornografische Webseiten zu löschen. Falls das nicht möglich
ist, wenn zum Beispiel der Server im Ausland liegt, sollen die Seiten gesperrt werden. Jeder der damals daran
Beteiligten wusste und weiß auch heute, dass das Sperren von Internetseiten selbstverständlich nicht der Weisheit letzter Schluss ist, um effektiv gegen Kinderpornografie vorzugehen. Wir waren aber die Einzigen, die
gesagt haben: Wir gehen diesen ersten Schritt in die richtige Richtung.
({6})
Dass da noch draufgesattelt werden muss, ist völlig
selbstverständlich. Wenn wir aber zum alten Gesetz zurückkehren würden - wie Sie es wollen -, dann würden
wir einen Schritt zurückgehen. Wir wollen einfach alle
technischen und auch alle anderen Möglichkeiten nutzen, um diesem schändlichen Treiben ein Ende zu bereiten.
({7})
Wir müssen uns natürlich überlegen, ob wir neue Gesetze brauchen oder ob wir auch untergesetzliche Maßnahmen ergreifen können. Da, wie gesagt, viele Server
im Ausland stehen, helfen uns an dieser Stelle multilaterale und bilaterale Abkommen, beispielsweise mit den
USA, wo sehr viele Server stehen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz?
Der Herr Kollege von Notz hat seine Redezeit um
mehr als das Doppelte überschritten. Deswegen werde
ich seine Anliegen nachher bilateral mit ihm klären.
({0})
Zu einem Gesamtmaßnahmenpaket, das wir brauchen, gehört selbstverständlich auch eine effektive Strafverfolgung im In- und Ausland sowie natürlich eine bessere Prävention. Es ist wichtig, dass wir das Thema nicht
nur ins Internet verlagern; denn dort - der Kollege
Heveling hat dies sehr richtig gesagt - geschehen die Taten nicht. Sie finden im realen Leben statt. Da muss natürlich zuallererst angesetzt werden. Das ist das alles
Entscheidende. Wir müssen dieses Thema gemeinsam
behandeln - mit Eltern, Erziehern und Lehrern -, um unsere Kinder stark zu machen, damit so etwas überhaupt
nicht mehr passieren kann.
Zum Gesamtpaket gehört auch - deswegen habe ich
eingangs gesagt, dass mir die Diskussion insgesamt zu
technisch ist - eine gesellschaftliche Ächtung der Täter,
derjenigen, die solche Bilder produzieren, aber gerade
auch derjenigen, die solche Bilder konsumieren; denn
das ist die Voraussetzung dafür, dass dies zu einem Geschäftsmodell wird, mit dem man sich auf Kosten der
Schwächsten in der Gesellschaft bereichern kann.
Ich würde mir wünschen - diesen Appell habe ich in
der heutigen Debatte vermisst -, dass wir uns gemeinsam an einen Tisch setzen, wie ich es am Anfang meiner
Rede beschrieben habe, und zwar ohne Schaum vor dem
Mund. Nicht jeder, der etwas gegen Kinderpornografie
tun möchte, ist gegen die Freiheit im Internet - ganz im
Gegenteil -, aber umgekehrt ist auch nicht jeder, der
sagt, man müsse die Freiheit aufrechterhalten, für Kinderpornografie.
Wir sollten uns gemeinsam an einen Tisch setzen, um
nach einer Lösung zu suchen: sowohl mit Kinderschützern als auch mit Netzaktiven, die dasselbe anstreben,
nämlich unsere Kinder vor Missbrauch zu schützen und
gleichzeitig die Freiheit im Netz zu erhalten.
Vielen Dank.
({1})
Kollege von Notz hat um eine Kurzintervention gebeten. - Bitte schön.
Vielen Dank. - Frau Kollegin, wenn das Sperren von
Internetseiten so wichtig ist, wie Sie es hier darstellen,
wie erklären Sie dann den Erlass des Bundesinnenministeriums, auf das Sperren zu verzichten, und wie bringen
Sie das damit in Einklang, dass dieses Haus gemäß seiner Gesetzgebungskompetenz den entsprechenden Gesetzentwurf auch mit Ihren Stimmen verabschiedet hat?
({0})
Kollegin Bär.
Ich hatte wirklich gehofft, dass Sie mir zuhören. Ich
habe gesagt: Wir haben einen Gesetzentwurf verabschiedet, und das war der erste Schritt in die richtige Richtung. Es wurde übrigens nicht beschlossen, dieses Gesetz nicht anzuwenden,
({0})
sondern es wurde entschieden, es für ein Jahr auszusetzen.
({1})
- Mir ist von meinen Eltern beigebracht worden: Wer
schreit, hat unrecht. Herr Kollege Wunderlich, geifern
Sie da drüben also ruhig weiter. ({2})
Wir wollen natürlich weitere Maßnahmen ergreifen. Ich
habe jetzt das Angebot gemacht, dass wir uns noch einmal überlegen sollten, welche weiteren Schritte folgen
könnten. Ich lade selbstverständlich auch die Grünen
ein, dies mit uns gemeinsam zu tun.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 17/776, 17/646 und 17/772
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Die Vorlagen auf Drucksachen 17/646
und 17/772 sollen federführend vom Rechtsausschuss beraten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zum Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen der
Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von
Bund und Ländern - Vertrag zur Ausführung
von Artikel 91 c GG
- Drucksache 17/427 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 17/571 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Michael Hartmann ({1})
Jan Korte
Hiezu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem ungeduldigen Parlamentarischen Staatssekretär Christoph
Bergner das Wort. - Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten in abschließender Lesung ein Vertragsgesetz. Dies
soll für die Bundesregierung Anlass sein, zunächst einmal den befassten Ausschüssen für die zügige Beratung
dieses Gesetzentwurfes zu danken. Da bei der Einbringung keine Debatte stattgefunden hat, wollen wir die abschließende Lesung nutzen, um die Bedeutung dieses
Gesetzgebungswerkes zu skizzieren.
Wir wissen, dass die informationstechnischen Systeme längst das Rückgrat unserer Verwaltung bilden,
dass durch ihren Einsatz Bürokratiekosten gesenkt und
die Serviceleistungen der Behörden verbessert werden
konnten. Informationstechnik war in den letzten Jahren,
um es genauso technisch auszudrücken, der entscheidende Treiber für die Modernisierung unserer öffentlichen Verwaltung. Trotzdem - das ist der Widerspruch gibt es in unserem föderalen Staat bisher keinen verbindlichen Rahmen für die IT-Zusammenarbeit von Bund
und Ländern. Kooperationen erfolgen bisher auf freiwilliger Basis. Das hat dazu geführt, dass Entscheidungen
oftmals erschwert, Entscheidungsprozesse verlangsamt
wurden und so mit dem rasanten Entwicklungstempo in
der Informations- und Kommunikationstechnik nicht
Schritt halten konnten.
Wir wissen nur zu gut, dass eine kostengünstig arbeitende öffentliche Verwaltung ein wichtiger Standortvorteil ist und dass es gerade für die Wirtschaft wichtig ist,
dass die Behörden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben über
Ländergrenzen und Verwaltungsebenen hinweg effizient zusammenarbeiten. Dies setzt allerdings voraus,
dass die Behörden im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben, auch wenn sie unterschiedlichste IT-Systeme einsetzen, Daten und Informationen problemlos austauschen können.
Damit die IT auch künftig einen Beitrag zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung leisten kann, muss
sie zukunftsfähig gemacht werden. Dazu muss die bisher
lose Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu einem dauerhaften, planvollen Zusammenwirken entwickelt werden. Hier hat man sich in der Föderalismuskommission II auf den vorliegenden Entwurf des ITStaatsvertrages geeinigt. Dieser Entwurf steht in einer
Reihe mit der Einführung von Art. 91 c Grundgesetz, in
dessen Folge noch in der vergangenen Wahlperiode das
IT-Netzgesetz beschlossen wurde. Nun folgt das Gesetz
zum Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats.
Zusammen führen diese drei Rechtsvorhaben ein neues,
verbindliches System der Bund-Länder-Zusammenarbeit
im Bereich der öffentlichen IT ein.
Das Herzstück der neuen IT-Steuerung ist das, was
wir mit dem heutigen Vertragsgesetz beschließen, nämlich die Errichtung des IT-Planungsrats. Der IT-Planungsrat bringt Bund, Länder und Kommunen in einem
gemeinsamen Steuerungsgremium an einen Tisch. Die
Informationstechnik bekommt somit eine einheitliche
Stimme.
Der Bund ist im IT-Planungsrat durch die Beauftragte
des Bundes für Informationstechnik vertreten. Die Länder entsenden hochrangige, mit Entscheidungsbefugnissen ausgestattete Vertreter, in der Regel die Staatssekretäre oder die sogenannten CIOs. Damit wird der ITPlanungsrat als politisch-strategisches Gremium etabliert. So ist auch sichergestellt, dass die notwendige enge
Zusammenarbeit mit den Fachministerkonferenzen auf
Augenhöhe erfolgen kann. Ebenso wichtig ist es, die
kommunale Ebene einzubinden. An den Sitzungen können drei von den kommunalen Spitzenverbänden entsandte Vertreter beratend teilnehmen.
Auch die Belange des Datenschutzes - das sage ich
mit Blick auf einen der eingebrachten Entschließungsanträge - werden im IT-Planungsrat Berücksichtigung finden: Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit nimmt an den Sitzungen des IT-Planungsrats beratend teil. Zudem ist vorgesehen, dass weitere Personen eingeladen werden können, zum Beispiel
Vertreter der Fachministerkonferenzen oder Vertreter der
Landesdatenschutzbeauftragten.
Die Bandbreite der fachlichen Themen und die Vielzahl der Abstimmungspartner zeigt, dass der IT-Planungsrat ein Querschnittsgremium ist. Die enge und
transparente Zusammenarbeit mit allen Beteiligten ist
eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg dieses
Gremiums. Deshalb ist es wichtig, dass Transparenz hergestellt wird, indem die Entscheidungen des IT-Planungsrats im elektronischen Bundesanzeiger veröffentlicht werden.
Es sei mir gestattet, einige der Neuerungen, die der
IT-Planungsrat bringen wird und die aus der Sicht der
Bundesregierung besondere Bedeutung besitzen, kurz zu
skizzieren:
Erstens. In dem Staatsvertrag ist vorgesehen, dass ITStandards im IT-Planungsrat durch Mehrheitsentscheidungen beschlossen werden. Solche Beschlüsse des ITPlanungsrats werden in allen Behörden Bindungswirkung entfalten. Umgekehrt kann auf Antrag des Bundes
oder dreier Länder eine unabhängige Einrichtung überprüfen, ob eine Standardisierung wirklich notwendig ist.
Das ist eine Sicherung, die verhindert, dass sich in der
öffentlichen Verwaltung einseitig proprietäre Standards
verfestigen.
Zweitens. Der IT-Planungsrat ist eine große Chance
für den Bürokratieabbau. Die Bund-Länder-Zusammenarbeit in diesem neuen Gremium ermöglicht es künftig,
mehrere Ebenen übergreifende elektronische Verfahren
zu etablieren. Bürger und Unternehmen werden so in die
Lage versetzt, ihre Informations- und Handlungspflichten mit möglichst geringem Kostenaufwand zu erfüllen.
Drittens. Für den Bereich IT-Sicherheit gilt es im Planungsrat, zur Abwehr von IT-Angriffen die Kompetenzen der Länder und des Bundes zu bündeln. Dieses Prinzip der Kompetenzbündelung gilt auch für den Bereich
mehr Datenschutz und Datensicherheit im Internet.
Auch hier gilt: Durch den übergreifenden, alles miteinander verbindenden Charakter des Internets wird es erforderlich, im IT-Planungsrat gemeinsam mit den Ländern nach Lösungen für den Datenschutz zu suchen.
Meine Damen und Herren, die beratenden Ausschüsse haben die Annahme dieses Gesetzentwurfs empfohlen. Ich bitte das Plenum, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen. Wenn Sie dies tun, dann kann sich der ITPlanungsrat bereits im April dieses Jahres zu seiner konstituierenden Sitzung zusammenfinden, und dann können wir bei der Modernisierung unserer Verwaltung wesentlich vorankommen. In diesem Sinne bitte ich um
Unterstützung und Befürwortung dieses Gesetzentwurfs.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPDFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Entscheidung zum Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen
der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstechnologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern
schaffen wir die Voraussetzung für eine moderne, effiziente und bürgerfreundliche Verwaltung.
Die heutige IT-Infrastruktur der öffentlichen Verwaltung ist nicht mehr zeitgemäß. Zu diesem Ergebnis kam
das Projekt „Deutschland-Online Infrastruktur“ bei einer
Bestandsaufnahme der IT-Netzstruktur von Bund, Ländern und Kommunen bereits 2006. Es gebe zu viele
Netze, es gebe keine gemeinsamen Sicherheitsstandards,
und die Netze entsprächen den Anforderungen einzelner
Fachabteilungen, seien für andere Abteilungen aber oftmals nicht nutzbar.
Dieses Ergebnis war Anlass für die Kommission von
Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der BundLänder-Finanzbeziehungen, der sogenannten FöKo II,
aktiv zu werden. In den Beschlüssen der FöKo II vom
März 2009 wurde festgestellt - ich zitiere -:
Vor dem Hintergrund moderner Verwaltungsanforderungen und neuer Bedrohungen ist die Sicherheit
und Austauschbarkeit von Daten in den öffentlichen IT-Netzen von herausragender Bedeutung. …
Hierfür sind
- so heißt es in den Beschlüssen weiter durch Änderungen im Grundgesetz sowie durch
einfachgesetzliche und staatsvertragliche Rahmenvorgaben die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen.
Die grundgesetzlichen Änderungen sind in Art. 91 c
Grundgesetz vorgenommen worden. Durch diesen neuen
Art. 91 c Grundgesetz, der seit Juli 2009 gilt, wird es
dem Bund und den Ländern nun ermöglicht, bei Fragen
der Informationstechnik zusammenzuwirken.
Die einfachgesetzlichen Voraussetzungen wurden
durch das sogenannte IT-Netzgesetz geschaffen. Darin
wird geregelt, wie das Zusammenwirken ausgestaltet
wird. Dieses Gesetz gilt seit August 2009.
Nun fehlt also noch der dritte Schritt, nämlich der
Staatsvertrag, um den es heute geht. Durch ihn wird der
IT-Planungsrat eingerichtet. Mit diesem IT-Planungsrat
soll die Koordinierung zwischen Bund und Ländern bei
Fragen der Informationstechnologie übersichtlicher und
vor allem auch sicherer werden. Gerade die sensiblen
Daten der öffentlichen Verwaltung müssen besonders
geschützt werden.
Der IT-Planungsrat als neues Steuerungsgremium
zwischen Bund und Ländern setzt sich aus dem Beauftragten der Bundesregierung für die Informationstechnik
und jeweils einem für die Informationstechnik zuständigen Vertreter jedes Landes zusammen. Drei Vertreter der
Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der Bundesdatenschutzbeauftragte können an den Sitzungen teilnehmen. Organisatorisch ist der Planungsrat beim Bundesministerium des Innern angesiedelt, und die
Finanzierung der Geschäftsstelle tragen Bund und Länder gemeinsam.
Die SPD hat den Handlungsbedarf hinsichtlich der
Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der Informationstechnik frühzeitig erkannt und im Rahmen der
Föderalismuskommission II unter Vorsitz von Peter
Struck maßgeblich vorangetrieben. Die Sorge, dass man
mit dem IT-Planungsrat eine Stelle schafft, die sich weitere Kompetenzen aneignen will und in die Belange der
Länder einzugreifen versucht, ist aufgrund des Staatsvertrages und der Zusammensetzung des Gremiums unbegründet.
Bündnis 90/Die Grünen haben heute einen Entschließungsantrag vorgelegt. Diesen lehnen wir ab,
({0})
weil wir die darin aufgestellten Forderungen für bereits
ausreichend berücksichtigt halten.
({1})
Es kann keine Alternative zu einer zeitgemäßen und
vor allem sicheren IT-Infrastruktur für die öffentliche
Verwaltung geben. Deshalb halten wir die grundlegende
Entscheidung für eine Vernetzung der öffentlichen Verwaltungen, die die FöKo II unter Peter Struck auf den
Weg gebracht hat, für notwendig und richtig. Darum
wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf
heute zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Neben den „technischen Hinweisen“ des Staatssekretärs Bergner ist mit der Errichtung
des IT-Planungsrates zur Zusammenarbeit beim Einsatz
von Informationstechnologien in den Verwaltungen von
Bund und Ländern ein weiterer Grundstein für die erfolgreiche E-Government-Strategie in Deutschland gelegt.
({0})
Mit dem IT-Planungsrat setzen wir konsequent einen
weiteren Baustein der Föderalismusreform II um und
füllen Art. 91 c Grundgesetz mit Leben. Wir lösen das
Nebeneinander zahlreicher IT-Gremien in Bund und
Ländern ein Stück weit auf, schaffen effiziente, einfache
und transparente Entscheidungsstrukturen und fördern
die Kooperation zwischen Bund und Ländern wie auch
der Länder untereinander.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat die kontinuierliche Modernisierung öffentlicher Verwaltungen
und die Fortentwicklung der E-Government-Strategie
des Bundes schon im Koalitionsvertrag als gemeinsames
Regierungsziel festgeschrieben.
({1})
Die FDP sieht in den Möglichkeiten der Informationstechnologie eine große Chance für die öffentliche
Verwaltung.
({2})
Wir Liberale wollen Verwaltungsprozesse einfacher,
unbürokratischer und transparenter gestalten. E-Government ist kein Selbstzweck der Verwaltung. Der Bürger
muss in jedem Fall im Mittelpunkt der Bemühungen stehen.
({3})
Wenn es durch diese Anstrengungen gelingt, dass
Bürgerinnen und Bürger unnötigen Papierkrieg vermeiden können, dass ewige Wartezeiten auf Behördenfluren
verkürzt werden und Parallelstrukturen in etlichen Ämtern entfallen und damit Entlastung eintritt, dann haben
wir einen Erfolg erreicht und der Politikmüdigkeit der
Bürger ein Stück entgegengewirkt. Denn funktionierende und schlüssige E-Government-Strukturen entlasten Bürger und Behörden gleichermaßen.
({4})
Effiziente Verwaltungsstrukturen eröffnen vor allen
Dingen den Kommunen in vielen Feldern neue MöglichManuel Höferlin
keiten. Wenn es uns gelingt, durch Maßnahmen im Bereich der Verwaltungsmodernisierung die teilweise immensen Bürokratiekosten zu senken, verbleiben den
Kommunen mehr finanzielle Spielräume in anderen Bereichen, zum Beispiel für den Ausbau der Kinderbetreuungsangebote oder die Senkung von Steuern und Gebühren.
({5})
Auch bei der Beschaffung von Hard- und Software
können wir mit einer zwischen Bund und Ländern und
den Ländern untereinander vernetzten IT-Strategie Einsparpotenziale realisieren. Verwaltungsmodernisierung
und E-Government können sich also sprichwörtlich auszahlen.
Den Chancen durch E-Government stehen aber
durchaus auch Herausforderungen gegenüber. Wir werden keine gesellschaftliche Akzeptanz für elektronische
Verwaltungsverfahren erhalten, wenn wir nicht auch die
wenig technikaffinen Bürgerinnen und Bürger, die es
durchaus gibt, auf diesem Weg mitnehmen. Deshalb
müssen wir eine Spaltung der Gesellschaft in eine digitale und eine nichtdigitale Gesellschaft verhindern.
({6})
In der kommenden Woche werden die Fraktionen im
Deutschen Bundestag über die Einsetzung einer Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
zu entscheiden haben. Ganz ausdrücklich wollen wir Liberale uns in dieser Kommission auch mit Fragen von
E-Government-Dienstleistungen befassen. Wir werden
in der Enquete-Kommission auch Empfehlungen erarbeiten müssen, wie eine Teilhabe aller Bürgerinnen und
Bürger an der digitalen Gesellschaft und den Vorteilen
des E-Governments sichergestellt werden kann.
({7})
Ich möchte es nicht auslassen, auch auf den vorliegenden Entschließungsantrag der Grünen einzugehen.
Ich freue mich, in Ihrem Antrag zu lesen, dass Sie an die
Beachtung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung erinnern; hier sprechen Sie einem Liberalen
aus der Seele. Ich begrüße auch, dass die Grünen auf die
Beteiligung der Landesdatenschutzbeauftragten an den
Sitzungen des IT-Planungsrats drängen, „wenn die Länder betreffende datenschutzrelevante Fragen erörtern
werden“. Auch die Forderung nach der vorrangigen Verwendung offener IT-Standards ist berechtigt. Die Koalition aus FDP und Union hat dies bereits im Koalitionsvertrag zum Thema gemacht. Es ist schön, dass Sie sich
uns hier anschließen.
({8})
Die FDP steht im Deutschen Bundestag wie keine andere Fraktion für Wettbewerb und Mittelstandsförderung, sodass Sie von den Grünen mit der Forderung nach
Verhinderung marktbeherrschender Positionen einzelner
Anbieter bei uns offene Türen einrennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
alle Forderungen, die Sie hier in Ihrem Entschließungsantrag stellen, sind vor allen Dingen eines: Selbstverständlichkeiten.
({9})
In der Begründung Ihres Antrags schreiben Sie selbst:
Die Gewährleistung des Datenschutzes ist ausdrücklich in mehreren Landesverfassungen normiert.
Informationelle Selbstbestimmung bezeichnen Sie
völlig zu Recht als Grundrecht. Sollen wir deshalb auch
andere Grundrechte explizit in die Geschäftsordnung des
Planungsrates aufnehmen? Da sage ich Nein. Es ist
schlichtweg Schaufensterpolitik, einen Entschließungsantrag mit diesen Selbstverständlichkeiten zu formulieren, betrieben von der Fraktion, die unter Rot-Grün den
Datenschutz geschleift hat wie keine andere Regierung
zuvor.
({10})
Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, aus
diesem Grund lehnen wir Ihren Entschließungsantrag ab.
Die Bürgerinnen und Bürger können sich sicher sein:
Die FDP wird weiterhin in Bund und Ländern darüber
wachen, dass auch bei Beratungen und Entscheidungen
des IT-Planungsrates die Interessen des Datenschutzes
nicht zu kurz kommen werden. Ich freue mich, dass wir
heute das Gesetz zum Vertrag über die Errichtung des
IT-Planungsrats verabschieden können. Ich würde mich
freuen, wenn alle Fraktionen diesem Gesetzentwurf zustimmen würden. Sagen Sie Ja zu mehr Effizienz und
Transparenz in der Verwaltung! Machen Sie mit, wenn
wir einen weiteren wichtigen Grundstein für einen modernen Dialog zwischen Bürgern, Bürgerinnen und Verwaltung legen!
Vielen Dank.
({11})
Kollege Höferlin, dies war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
Wünsche für die weitere Arbeit hier bei uns.
({0})
Das Wort hat nun Kollegin Halina Wawzyniak, Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung möchte die Arbeit der Verwal2132
tung in Bund und Ländern effizienter und effektiver gestalten. Das ist zu begrüßen. Auch die Linke hält den ITPlanungsrat grundsätzlich für ein taugliches Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Es ist sinnvoll, dass Bund und
Länder bei der Planung und Errichtung von IT-Infrastrukturen zusammenarbeiten können.
Allerdings muss im Staatsvertrag, der heute und hier
ratifiziert werden soll, hinsichtlich der Zusammensetzung des Rates, des Zustandekommens der Beschlüsse
und schließlich der Umsetzung der Ergebnisse einiges
nachgebessert werden. Was kritisieren wir im Einzelnen?
Erstens. Nach unserer Ansicht fehlt dem Rat eine hinreichende demokratische Legitimation. Der Staatsvertrag, der Grundlage der Einsetzung des IT-Planungsrates
sein wird, wurde von der Ministerialbürokratie formuliert. Weder der Bundestag noch die Länderparlamente
oder aber die Gemeinden und Kommunalverbände waren an der Erarbeitung des Inhalts angemessen beteiligt.
Die Beschlüsse, die der Rat fassen wird, werden eine unmittelbare Grundrechtsrelevanz haben. Daher sollte nach
unserer Ansicht eine entsprechende unmittelbare demokratische Legitimation unabdingbare Voraussetzung der
Arbeit des Rates und der Umsetzung seiner Beschlüsse
sein.
({0})
Zweitens. Die Zusammensetzung des Rates spiegelt
nicht die Bedeutung des Themas wider. Die Bürgerinnen
und Bürger werden hauptsächlich in den Kommunen mit
den Behörden konfrontiert. Daher sollten nach unserer
Ansicht Kommunalverbände und Gemeinden angemessen im Rat vertreten sein. Eine nur beratende Teilnahme
an den Sitzungen ist nicht hinnehmbar; denn die Kommunen sind von den IT-Vorgaben des Planungsrates direkt betroffen.
({1})
Es ist absurd und zeugt von mangelndem Interesse
der Regierung an einem umfassenden Datenschutz, dass
ausgerechnet der Bundesdatenschutzbeauftragte ebenfalls nur beratend und die Landesdatenschutzbeauftragten gleich gar nicht an den Sitzungen teilnehmen sollen.
({2})
Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Bedeutung des Rechts auf informationelle
Selbstbestimmung und der Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität der informationstechnischen Systeme jüngst wieder hervorgehoben.
Drittens. Die schwammige Formulierung in § 2 des
Staatsvertrages über die Unterstützung der Arbeit des
Rates durch etwaige Beiräte enttäuscht. Ein den Rat beratendes Gremium aus Experten sollte zwingend geschaffen werden. Insbesondere sollten nach unserer Ansicht in diesem Beirat auch die Sozialpartner vertreten
sein; denn schließlich müssen die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter vor Ort das umsetzen, was der Rat beschließt. Ein IT-gestützter Bürokratieabbau hat auch zur
Folge, dass Stellen wegfallen und sich die Arbeitsbedingungen ändern werden. Dies sollte nur in Partnerschaft
mit den Betroffenen und ihren Interessenvertretungen
geschehen.
({3})
Viertens. Weitere Demokratiedefizite erkennt man,
wenn man sich ansieht, wie die Beschlüsse zustande
kommen sollen. Das Zustimmungsquorum für die Fassung verbindlicher Beschlüsse ist mit dem finanziellen
Beitrag der Länder zum IT-Planungsrat kombiniert. Damit hängt die Möglichkeit der Einflussnahme von der finanziellen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bundeslandes ab. Das ist kein Föderalismus, sondern Diktatur nach
Kassenlage.
({4})
Die Verwendung freier Software mit offenem Quellcode wird durch die Einrichtung des IT-Planungsrats behindert statt ermöglicht. Es besteht weder eine hinreichende demokratische Legitimation des IT-Planungsrats
und seiner Beschlüsse noch die Gewähr, dass bei dessen
Beschlüssen datenschutzrechtliche Grundsätze gewahrt
bleiben. Wir werden aus diesem Grund der Ratifizierung
dieses Staatsvertrages unsere Zustimmung nicht geben.
Da wir aber für Einzelfallprüfungen und nicht für allgemeine Ablehnung von Anträgen der Grünen stehen, haben wir uns entschlossen, dem Entschließungsantrag der
Grünen, weil er einige unserer Kritikpunkte aufgreift,
unsere Zustimmung zu geben.
({5})
Das Wort hat Konstantin von Notz für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es freut mich, zu hören, dass wir auf Unterstützung treffen. Das vorliegende Gesetz zum IT-Planungsrat nimmt sich eines wichtigen Themas an, und
meine Fraktion begrüßt es ausdrücklich, dass hiermit
eine Grundlage für die Zusammenarbeit der Verwaltungen von Bund und Ländern beim Einsatz von Informationstechnologie gelegt wird; denn bisher - das wurde
vielfach hier gesagt - ist die Zusammenarbeit leider unzureichend. Die neuen Bestimmungen im Gesetz sehen
insbesondere vor, dass Bund und Länder bei der Planung, der Errichtung und dem Betrieb der notwendigen
informationstechnischen Systeme zusammenwirken
können. Durch den Staatsvertrag wird gewährleistet,
dass die IT-Planung in der öffentlichen Verwaltung nicht
vorwiegend durch den Bund geprägt wird. Dafür soll der
Staatsvertrag eine Kooperation zwischen Bund und Ländern auf Augenhöhe im Sinne der im Grundgesetz beschriebenen Gemeinschaftsaufgaben ermöglichen. Das
ist alles sehr schön und zu begrüßen. Auch dass der Bundesbeauftragte für den Datenschutz beratend an den Sitzungen teilnehmen kann, ist ein richtiger und unterstützenswerter Schritt. Überlegenswert wäre es allerdings
auch aus unserer Sicht, dem Bundesdatenschutzbeauftragten ein effektives Mitbestimmungsrecht einzuräumen.
({0})
Insgesamt fehlen dem vorliegenden Gesetz aber wesentliche Aspekte. Erlauben Sie mir daher, einige Ergänzungspunkte aus unserem Entschließungsantrag zu benennen, zu denen Herr Höferlin teilweise seine
Zustimmung signalisiert hat. In der noch zu beschließenden Geschäftsordnung des IT-Planungsrats ist die besondere Beachtung des Grundrechts auf informationelle
Selbstbestimmung ausdrücklich zu fixieren. Es gehört
dort hinein. Auch wenn dieses Recht bereits im Grundgesetz steht, ist gerade bei einem Thema, das diesen Bereich berührt, eine Klarstellung wichtig und richtig.
({1})
Zu den Sitzungen des IT-Planungsrats soll mindestens
ein Landesdatenschutzbeauftragter eingeladen werden,
wenn in dem jeweiligen Land betreffende datenschutzrelevante Fragen erörtert werden. Hier geht es nicht um eine
Kannbestimmung, sondern um eine Institutionalisierung.
Bei der im Staatsvertrag vorgesehenen vorrangigen Verwendung bestehender Marktstandards muss peinlich genau darauf geachtet werden, dass man durch diese Vorgabe nicht in Verfahren landet, die den rechtlich
erforderlichen Datenschutz nicht gewährleisten. Ich sage
Ihnen voraus, Herr Höferlin: Wenn Sie dies jetzt nicht beachten, werden Sie nachher damit Probleme haben.
Es müssen aber auch Vorkehrungen getroffen werden,
dass die vorrangige Verwendung der Marktstandards
nicht zu marktbeherrschenden Positionen von Anbietern
der jeweiligen technischen Dienste führt. Wir wünschen
uns außerdem, dass bei der Definition von technischen
IT-Standards darauf hingewirkt wird, dass vorrangig offene IT-Standards eingesetzt werden. Und es bedarf
mehr Transparenz - da stimme ich der Linken voll zu durch eine regelmäßige Berichtspflicht. Der Deutsche
Bundestag und die Öffentlichkeit müssen über die Entscheidungen und Berichte bezüglich des IT-Planungsrats
zeitnah und regelmäßig informiert werden.
Ich kann Sie beruhigen, meine Damen und Herren
von der Koalition: Das alles sind echte Verbesserungen,
wie sie auch von vielen Landesparlamenten, übrigens
auch von dem schwarz-gelben in Sachsen, gefordert
werden. Insofern können Sie unserem Entschließungsantrag beruhigt zustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Um seine Kernaufgaben erfüllen zu können,
stützt sich der Staat auf Informationstechnologie. Steuerverwaltung und Polizei wären heute ohne Computer undenkbar. Umgekehrt verlangt der Bürger mit Recht, dass
der Staat viele seiner Leistungen auch im Internet zur
Verfügung stellt. „E-Government“ ist das Stichwort,
dem wir uns auch in dieser Legislaturperiode widmen.
Mit dem neuen Personalausweis, Frau Kollegin
Fograscher, den wir gemeinsam beschlossen haben,
kommen wir einen riesigen Schritt weiter. Er wird die
Welt auf diesem Gebiet verändern.
18 Milliarden Euro geben der Bund, die Länder und
die Kommunen im Jahr für Informationstechnik aus. Damit der Einsatz dieser Schlüsseltechnologie zwischen
der Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen koordiniert werden kann, richten wir den IT-Planungsrat
ein. Mit dem Gesetzentwurf bzw. dem Vertrag, den wir
heute verabschieden, sind wir an einem Meilenstein im
Hinblick auf die Modernisierung der Verwaltung in
Deutschland angelangt.
Die organisierte Kriminalität schert sich wenig um föderale und nationale Grenzen und Zuständigkeiten. Sie
handelt grenzüberschreitend.
({0})
Die Polizeibehörden versuchen, mit verbesserter Informationstechnik und einem verbesserten Informationsaustausch zu reagieren. Das geht natürlich nur mit einer
abgestimmten Computertechnik.
Denken Sie an den neuen Versuch, Licht ins Dunkel
des Behördendickichts zu bringen: an die Behördenrufnummer 115. Es wird möglich sein, ganz alltägliche Fragen nach der Steuer, der Rente, nach Schulanmeldungen
oder wozu auch immer über die Nummer 115 zu klären
oder zumindest zu erfahren, an welche Anlaufstelle man
sich wenden kann. Das ist ein bürgerfreundlicher Dienst,
das ist Vernetzung. Das geht nur mit IT-Technologie.
Natürlich ist es zum einen ungeheuer schwierig, Hunderte von IT-Abteilungen zu koordinieren. Zum anderen
fördern unsere föderalen Verwaltungsstrukturen Doppelentwicklungen und informationelle Abschottung in den
verschiedenen Kommunen und Bundesländern. Es ist
nicht unsere Absicht, ein zentrales System für ganz
Deutschland, für Bund, Länder und Gemeinden, einzurichten. Aber ist es denn ein Ausweis föderaler Tüchtigkeit, wenn unsere Polizeibehörden neun unterschiedliche
Systeme zur Vorgangsbearbeitung unterhalten? Braucht
wirklich jedes Bundesland ein eigenes Programm zur
Berechnung und Auszahlung von Agrarsubventionen?
({1})
Braucht jedes Bundesministerium sein eigenes System
zur Buchhaltung und zur Personalwirtschaft? Natürlich
nicht.
In Einzelfällen mag digitale Abschottung richtig sein.
Aber ein digitales Babylon können wir uns heute nicht
mehr leisten. Ein Polizeibeamter, der einen Kriminalfall
in München bearbeitet, darf die Papiere nicht ausdrucken und nach Hamburg faxen müssen, damit die dortige
Polizei den Fall übernimmt. Das alles muss koordiniert
werden. Das heißt, wir wollen das volle Potenzial der Informationstechnik durch Vernetzung und Kooperation
ausschöpfen.
Art. 91 c des Grundgesetzes ist die Grundlage für das,
was wir heute beschließen. Es geht um zwei Aufgaben:
Erstens. Dem Bund wird die Aufgabe zugewiesen, die
informationstechnischen Netze des Bundes und der Länder miteinander zu verbinden.
Zweitens. Die verbindliche Abstimmung und gemeinsame Steuerung der Informationstechnik in der Verwaltung wird verfassungsrechtlich ausdrücklich festgeschrieben. Damit überwinden wir auf dem Gebiet der
Informationstechnologie unsere föderalen Strukturen,
die ohne eine solche Überwindung auf Abschottung ausgerichtet wären.
Der IT-Planungsrat ist die Lösung des Problems. Der
zur Abstimmung stehende Vertrag setzt die Möglichkeiten des Grundgesetzes um und schafft die Grundlage für
die Errichtung eines IT-Planungsrats, in dem diejenigen
sitzen - es ist bereits gesagt worden -, um die es geht,
also auch der Bundesdatenschutzbeauftragte. Meine lieben Kollegen von den Grünen, Herr von Notz, wenn im
Einzelfall ein Landesdatenschutzbeauftragter benötigt
wird, dann wird auch er im IT-Planungsrat seinen Platz
finden. Da habe ich überhaupt keine Sorgen. Dort müssen natürlich die kommunalen Spitzenverbände vertreten
sein; schließlich sollen die informationstechnischen
Netze der Kommunen an dieses Netz angeschlossen
werden.
Die Probleme bei der Vernetzung sind kein deutsches
Phänomen; in jedem Land gibt es diese Probleme. Es
muss gesagt werden: Deutschland ist das erste Land, das
seine Verwaltung mit dieser modernen Technologie der
Vernetzung, der Vereinheitlichung und der gemeinsamen
Steuerung in dieser Weise regelt. Es ist gut, dass wir hier
an der Spitze des Fortschritts marschieren. Eine Grundgesetzänderung, ein Staatsvertrag, ein hochrangiges Abstimmungs- und Steuerungsgremium, eben der IT-Planungsrat, und die heutige Verabschiedung im Parlament deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, für
wie wichtig man diese Aufgabe hält.
Das zur Abstimmung stehende Gesetz und damit der
IT-Planungsrat sind ein großer Schritt zur Modernisierung unserer Verwaltung. Ich wünsche daher einen ITPlanungsrat, der sich seiner Verantwortung bewusst ist
und mit strategischer Gestaltungskraft dafür sorgt, dass
die Informationstechnik der deutschen Verwaltung einen
internationalen Maßstab für Effektivität und Effizienz
darstellt. Die breite Zustimmung dieses Hauses - dass es
sie gibt, den Eindruck habe ich heute - gibt dem zukünftigen IT-Planungsrat für diese Aufgabe ein klares Mandat. Daher bitte ich Sie, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, heute um Zustimmung zu dieser richtungsweisenden Entscheidung für die deutsche Verwaltung.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum
Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats und
über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz
der Informationstechnologie in den Verwaltungen von
Bund und Ländern - Vertrag zur Ausführung von Artikel 91c GG. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/571, den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache
17/427 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf hat in dritter Beratung ganz offenkundig die erforderliche Mehrheit auskömmlich erhalten und ist damit angenommen.
Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache
17/793 ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der
Entschließungsantrag abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Kommunen die Einrichtung von CarsharingStellplätzen ermöglichen
- Drucksache 17/781 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Sören Bartol für die SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Ich verbinde den Aufruf des ersten Redners mit der
heimlichen Hoffnung, dass wir vielleicht schon während
der ersten Wortmeldung eine überzeugende Übertragung
des englischen Begriffs ins Deutsche erhalten
({2})
Präsident Dr. Norbert Lammert
und damit noch zutreffender über diesen Sachverhalt
miteinander debattieren können.
Bitte schön, Herr Kollege Bartol.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gleich am Anfang, wie gewünscht, ein Übersetzungsvorschlag zu Carsharing: Autoteilen.
„Besser frühzeitig einsteigen“, kommentierte der
Focus letzte Woche die neueste Prognose zu den Wachstumsaussichten von Carsharing. 1,1 Millionen Menschen
werden sich in Deutschland 2016 19 000 Autos teilen, prognostiziert die Unternehmensberatung Frost & Sullivan.
Die Ende Januar veröffentlichte Studie ist noch druckfrisch. Ich empfehle sie Ihnen zur Lektüre, sehr geehrte
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP,
und hoffe, dass Sie noch den rechtzeitigen Einstieg in
die Zukunft der Mobilität schaffen. Ich würde mich
freuen, wenn wir in dieser Legislaturperiode endlich den
Beschluss des Bundestages von 2005 umsetzen könnten.
Ein kleiner Rundblick; denn das Thema CarsharingParkplätze beschäftigt uns ja nun in der dritten Legislaturperiode, leider bisher ohne erkennbare Fortschritte:
2005 hat der Bundestag noch mit den Stimmen von SPD
und Grünen beschlossen, die Rahmenbedingungen für
Carsharing zu verbessern. Ziel unserer Initative war es,
dass Kommunen die Möglichkeit erhalten, Parkplätze
für Carsharing-Autos auszuweisen. Das SPD-geführte
Bundesverkehrsministerium hat daraufhin einen Gesetzentwurf vorgelegt. Dieser stieß auch auf breite Zustimmung bei den Verbänden vom Städtetag bis hin zum
ADAC, und auch die Mehrheit der Länder unterstützte
ihn. Allein das CDU-geführte Bundeswirtschaftsministerium witterte damals einen Angriff auf die Automobilindustrie und die Autovermietungen und verweigerte
seine Zustimmung. Diese allerdings haben inzwischen
längst den Zukunftsmarkt „Carsharing“ für sich entdeckt.
Daimler hat in Ulm und Neu-Ulm sein Pilotprojekt
„Car2Go“ eingeführt, eine neue und noch flexiblere
Form des Carsharings: Die Autos können spontan genutzt und an fast beliebigen Orten wieder abgestellt werden. Das Modell hat Erfolg: 200 Smarts sind dort unterwegs, 12 000 Kundinnen und Kunden haben sich
registriert.
Auch Autovermieter wie Hertz und Sixt bieten inzwischen eigenes Carsharing an, und auch sie nutzen gerne
das Angebot von reservierten Parkplätzen, die Senat und
Bezirke zum Beispiel in Berlin zur Verfügung stellen.
Es wird endlich Zeit, dass Sie das, was in Berlin und
anderswo auf eigene Kappe ohne bundesgesetzliche
Grundlage praktiziert wird, auf eine bundesweite und
auch rechtssichere Grundlage stellen. Zu Recht ist das
deutsche Straßenverkehrsrecht restriktiv, was die Ausweisung von Stellplätzen anbelangt. Ausnahmeregelungen gibt es aber nicht nur für behinderte Menschen, sondern auch für Handwerker. Auch eine Bevorrechtigung
von Carsharing-Autos lässt sich meiner Meinung nach
sehr gut begründen:
Erstens. Carsharing-Parkplätze führen nicht etwa
dazu, dass Parkraum knapper wird. Das Gegenteil ist der
Fall: Sie entlasten vom Parkdruck. Das ist im Interesse
der Anwohner, aber auch aller anderen Verkehrsteilnehmer.
Zweitens. Carsharing trägt dazu bei, die Klimaschutzziele im Verkehrsbereich zu erreichen. Eine Studie aus
der Schweiz, die Vorreiter beim Carsharing ist, belegt
das: Jeder Carsharing-Nutzer emittiert jährlich 290 Kilogramm CO2 weniger; denn Carsharing ändert das Mobilitätsverhalten. Carsharing-Kunden fahren seltener Auto,
sie nutzen häufiger Busse und Bahnen, fahren Rad oder
gehen zu Fuß.
Ich finde, das sind starke Argumente dafür, dass die
Förderung von Carsharing endlich auf die Agenda dieser
Bundesregierung kommt.
({0})
Inzwischen gibt es genügend Erfahrungen, die die
praktische Umsetzung erleichtern werden, zum Beispiel
bei der Frage, wie die Stellplätze gegen Falschparker zu
sichern sind. Im Dialog mit Ländern, Kommunen und
Vertretern der Branche wird sich hier sicherlich eine sehr
praktikable Lösung finden lassen. Ich bin überzeugt,
dass die Kommunen die Möglichkeit - ich betone ganz
bewusst: die Möglichkeit - zur Einrichtung solcher
Stellplätze sinnvoll nutzen werden. Denn um nichts anderes geht es, als den Kommunen ein zusätzliches Instrument einer nachhaltigen Stadtverkehrspolitik an die
Hand zu geben.
Die Akzeptanz für Carsharing wächst; denn es entlastet die Umwelt in den Städten und verbessert die Lebensqualität. Die geteilte Autonutzung ermöglicht bezahlbare
und flexible Mobilität, und zwar ohne eigenes Auto. Wer
nach Feierabend mehrere Runden um den Block fahren
muss, um einen Parkplatz zu finden, ist schnell von den
Vorzügen von Carsharing zu überzeugen. Wer dann noch
einen Carsharing-Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung
oder mit guter Bus- bzw. Bahnanbindung findet, wird
noch bereitwilliger auf sein Auto oder sein Zweitauto
verzichten.
Beispiel Bremen: 2003 wurden im öffentlichen Straßenraum zwei sogenannte „mobil.punkte“ eingerichtet.
Das sind Carsharing-Stationen mit guter Anbindung an
das öffentliche Verkehrsnetz und mit Informationsterminals. Das Ergebnis sind 170 neue Carsharing-Kunden,
von denen ein Drittel das eigene Auto abgeschafft hat.
Nicht nur technologische, sondern auch soziale Innovationen sind gefragt, wenn wir das Ziel sozial- und umweltverträgliche Mobilität erreichen wollen. Elektromobilität und Carsharing sind ideale Partner auf dem Weg
in die Mobilität der Zukunft. Sie sind wie geschaffen für
eine Stadt der kurzen Wege und neue multimodale Nutzergruppen, die sogenannte „Generation ohne Golf“, wie
die Welt vorgestern schrieb. Damit Carsharing-Anbieter
die höheren Kosten für die Anschaffung von Elektroautos und die Erprobung neuer Fahrzeugkonzepte aufbringen können, brauchen sie Förderung. Hier ist auch die
Bundesregierung gefragt. „Deutschland hat das Poten2136
zial, sich zu einem Schlüsselmarkt für Elektroauto-Sharing zu entwickeln“, heißt es in der Studie von Frost &
Sullivan. Ich glaube, dass diese Chance genutzt werden
muss. Ich fordere Sie auf, hier endlich tätig zu werden.
({1})
Gute Beispiele für Carsharing-Förderung gibt es bei
unseren europäischen Nachbarn zuhauf. Italien hat eine
nationale Koordinierungsstelle für Carsharing eingerichtet und eine Abwrackprämie zugunsten von Carsharing
gezahlt. In den Niederlanden und Belgien können Kommunen selbstverständlich selber darüber entscheiden,
welchen Verkehrsdiensten sie Parkflächen anbieten. Was
neue Mobilitätskultur heißt, machen uns die Franzosen
vor. Nach dem Erfolg von Velib, dem kostenlosen Leihfahrradsystem, kommt jetzt Autolib: 4 000 CarsharingAutos mit Elektroantrieb, 1 400 Leihstationen über die
Stadt verteilt. Die Abkürzung Autolib steht für „automobile“ und „liberté“. Damit interpretieren sie in Frankreich neu, was in Deutschland leider allzu oft noch unter
dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ steht. Hoffen
wir, dass Paris auch diesmal zum Trendsetter für
Deutschland wird und unser dritter Versuch, dieses
Thema in Ihre Köpfe zu bekommen, endlich zum Erfolg
führt!
Vielen Dank.
({2})
Volkmar Vogel ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sich ein Auto zu teilen ist eine gute Sache. Deshalb begrüßt die CDU/CSU außerordentlich die sehr guten
Wachstumsquoten, die das Carsharing als ein wesentliches Element des Individualverkehrs aufzuweisen hat.
Das bisherige Wachstum zeigt, dass sich diese Branche
kontinuierlich und eigenständig entwickeln kann, ohne
große Eingriffe von staatlicher Seite. Das Carsharing hat
im Krisenjahr 2009 sehr beachtliche Zuwachsraten von
über 15 Prozent verzeichnen können. Damit ist die Branche aber nicht zufrieden. Ohne Krise und Umweltprämie
- letztere haben wir veranlasst - wäre der Zuwachs noch
höher, so die Branchenvertreter. Wir sehen beim Carsharing ein gesundes Wachstum von stets zweistelligen
Prozentzahlen pro Jahr. Es kann festgestellt werden: Der
Branche geht es gut, im Vergleich zu anderen Branchen
sogar sehr gut. Daher, liebe Antragsteller, besteht nun
wirklich kein akuter Handlungsbedarf bei diesem aus
unserer Sicht wichtigen Element im Individualverkehr.
Es sollte nichts überstürzt werden.
Parkraumbewirtschaftung ist kommunale Aufgabe.
Dorthin gehört sie. Carsharing hilft, die hauptsächlich
urbane Mobilität zu sichern, und ist auch ein umweltpolitischer Baustein, um die ambitionierten Klimaziele zu
verwirklichen. Allerdings gibt es außer den genannten
positiven Effekten für Mobilität und Umwelt auch
Schattenseiten, die wir in den folgenden Ausschusssitzungen beleuchten müssen. Ein Problem ist, dass wir bei
Zustimmung zum vorliegenden Antrag in Zeiten knappen Parkraums in unseren Städten einer künstlichen Verknappung Vorschub leisten könnten, und zwar zulasten
anderer Verkehrsteilnehmer. Das kann zur Verdrängung
und Benachteiligung anderer Individualverkehrsträger
wie hauptsächlich der privaten Pkws, der Taxen und der
Mietwagen führen. Das kann nicht in unser aller Sinn
sein. Zurzeit ist es so, dass die erwähnten Verkehrsträger
nebeneinander den knappen Parkraum in unseren Innenstädten nutzen und zur Belebung des Einzelhandels beitragen.
Es bleibt nun an uns, in den folgenden Ausschusssitzungen gemeinsam mit den Verkehrsexperten und externen Sachverständigen diese Probleme zu erörtern. Die
CDU/CSU wird sich weiterhin für einen kooperativen
Stil in der Verkehrspolitik einsetzen. Dazu gehört Carsharing.
Carsharing wird mit Sicherheit in Ballungsräumen
immer attraktiver werden, auch ohne ein massives Eingreifen von staatlicher Seite. Daher möchte ich Sie,
meine liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, mit diesem Antrag ergebnisoffen umzugehen und die Beratungen in den zuständigen Gremien abzuwarten. Wir sollten
nicht gesetzlich dazu beitragen, dass die einzelnen Verkehrsteilnehmer gegeneinander ausgespielt werden.
Gleiches Recht für alle heißt, dass auch andere Akteure
Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen können.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den vorliegenden Antrag nicht per se ab,
({0})
meldet aber Bedenken an, da die Umsetzung dieses Antrags Konkurrenz statt Kooperation zwischen den Verkehrsteilnehmern fördern könnte und vielleicht die kommunale Selbstverwaltung beschränkt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „Carsharing-Stellplätze“ auf der Tagesordnung des Bundestages zu finden, war für mich zunächst überraschend. Ich
bin davon ausgegangen, dass das andernorts geregelt
wird, eher dort, wo es Carsharing-Angebote gibt. Ich selber kenne Carsharing aus Hannover. Ich habe dort als
Nutzer von diesem Angebot profitieren können.
Mich überrascht, dass es dem Bundestag seit 2004,
seit dieses Projekt auf dem Tisch ist, nicht möglich gewesen ist, die Frage der Stellplätze für Carsharing-Autos
zu regeln. Wenn man Carsharing machen will, kann man
bei einer entsprechenden Stelle, zum Beispiel bei
teilAuto, anrufen und nachfragen, ob noch ein Auto frei
ist. Egal, für welchen Anlass man ein Auto braucht, ob
für eine Fahrt allein oder für einen Transport, bisher war
klar: An irgendeiner Stelle in der Stadt steht ein Auto zur
Verfügung. Man fährt hin und findet im Parkhaus oder
auch auf reservierten Parkflächen in Anwohnerstraßen
ein Auto vor.
({0})
Das war bislang völlig selbstverständlich. Es war ohne
großen Aufwand möglich und ohne dass man den Eindruck hatte, mit seinem Carsharing-Auto einen Parkplatz
zu blockieren.
Mich überrascht allerdings nicht nur, dass ich dieses
Thema heute auf der Tagesordnung finde, sondern es ärgert mich auch. Die Vorstellung, dass wir uns im Bundestag mit diesem Thema über Jahre beschäftigen müssen, will mir nicht so richtig plausibel erscheinen. Ich
kann mir das eigentlich nicht vorstellen.
({1})
2007 legte das Verkehrsministerium zwar einen Entwurf zur Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes vor;
dieser verschwand dann allerdings irgendwo. Man sagt,
er sei in die Lücke zwischen den Bundesministerien gerutscht; man habe sich nicht darauf einigen können, und
möglicherweise bestünden sogar verfassungsrechtliche
Bedenken, Parkflächen für Carsharing-Autos einzurichten. Aber schließlich hieß es im März 2008, also vor
knapp zwei Jahren, dann doch: Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer abgestimmten Formulierung, die
diese Bedenken ausräumt. - Wenn es allerdings zwei
Jahre dauert, diese Formulierung dem Bundestag vorzulegen, dann vermag ich nicht einzuschätzen, wie sich das
auswirkt, wenn wir uns im Gesetzgebungsverfahren
wichtigen, vordringlichen Themen zuwenden müssen.
({2})
Die Linke macht sich beim Carsharing stark für Autos. Das mag Sie vielleicht überraschen, denn es ist ja
nicht immer so. Grundsätzlich haben wir eine andere
Position zum Verkehrskonzept der Bundesregierung,
aber auch mancher Oppositionspartei. In diesem Fall
machen wir uns stark fürs Auto und unterstützen deshalb
den Antrag der SPD, der ermöglichen soll, dass wir in
der 17. Legislaturperiode endlich eine entsprechende
Regelung herbeiführen.
Jedoch weniger aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen, sondern eher aus grundsätzlichen Erwägungen
steht die Linke dafür, dass das Carsharing verbessert
wird. Wir sind dafür, weil ein Fahrzeug beim Carsharing
25 Autos ersetzt. So sagen es die Experten aus der Carsharing-Branche. Wenn Sie die Frage beantworten wollen, ob ein Carsharing-Auto Parkplätze wegnimmt oder
ob es überhaupt erst wieder die Chance eröffnet, Parkflächen in den Städten zu finden, dann nehmen Sie sich
diese Zahlen einfach einmal vor. Allein das wäre ein
Grund, Carsharing zu fördern.
({3})
Es gibt weitere gute Gründe, Carsharing zu fördern; ich
will sie nicht aufführen, auch deshalb nicht, weil die Uhr
hier langsam auf null geht.
Im Unterschied zur Anfangszeit von Carsharing verzichten die heutigen Nutzerinnen und Nutzer bewusst
auf das eigene Auto. Sie nutzen dabei eine Vielzahl von
unterschiedlichen Verkehrsmitteln und suchen immer
das für den entsprechenden Zweck passende Fahrzeug
aus. Das ist intelligente Verkehrspolitik, das unterstützen
wir, und das wollen wir auch erreichen.
({4})
Wir wollen eine linke Verkehrspolitik. Wir müssen in
der Tat „anders verkehren“. Wir müssen auch Carsharing-Angebote in die entsprechenden Offerten einbeziehen, die uns in der Stadt zur Verfügung stehen. Meines
Erachtens können wir mit Carsharing beispielsweise die
Lücke zwischen Fahrradverkehr und öffentlichem Personennahverkehr schließen. Dazu gehört einfach ein Konzept, das Carsharing möglich macht und es nicht behindert. Die Frage von Stellplätzen möge doch bitte in der
17. Legislaturperiode endgültig zu regeln sein.
Vielen Dank.
({5})
Lieber Kollege Behrens, ich gratuliere Ihnen herzlich
zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag,
({0})
verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
Es wird möglicherweise in der Legislaturperiode
nicht oft vorkommen, dass ein Vorredner von der CDU/
CSU-Fraktion die Redezeit einspart, die ich Ihnen dann
zu Ihrer von der Fraktion gemeldeten hinzugeben kann.
({1})
Deswegen werden Sie dies als besonderen Höhepunkt
Ihrer Laufbahn sicherlich unauslöschlich in Erinnerung
behalten.
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring für die
FDP-Fraktion.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident!
Insbesondere am Anfang hat mir die Rede des geschätzten Kollegen Behrens gut gefallen, denn er hat eindrucksvoll beschrieben, was es alles schon gibt, und
zwar ohne Gesetzentwurf, weil private Unternehmen,
private Initiativen, Parkhausbetreiber und andere die
Flächen zur Verfügung stellen, weil sie all das ermöglichen, was Sie und auch ich schon in Anspruch genom2138
men haben, ebenso viele andere aus meiner Fraktion,
nämlich Carsharing. Niemand hier im Haus ist gegen
Carsharing, unterstelle ich erst einmal, und niemand ist
dagegen, dass sich diese Verkehre entwickeln.
({0})
Deshalb muss man zunächst einmal anerkennen: Bei
diesem Thema hat sich unheimlich viel getan, obwohl,
wie Sie beklagen, der Diskussionsprozess über die Frage
von Stellplätzen im öffentlichen Straßenraum schon etwas länger andauert.
({1})
Erstens haben wir selbstverständlich - das ist eben
nicht so trivial, wie es vielleicht auch der Antrag darstellt - auch im öffentlichen Straßenraum bei der Parkraumbewirtschaftung erhebliche Nutzungskonkurrenzen. Ich sage voraus - deshalb freue ich mich auf die
Diskussion im Ausschuss -, dass natürlich auch andere
am Verkehr in der Stadt beteiligte Verkehrsteilnehmer
sagen werden: Einen extra markierten Parkplatz im öffentlichen Straßenraum für meine Zwecke fände ich eigentlich ganz witzig.
Wir haben diese im öffentlichen Personennahverkehr
für das Taxi. Übrigens haben wir sie, geschätzter Kollege Bartol, für den Handwerker, der in Ihrer Rede vorkam, nicht. Er hat eine Ausnahmegenehmigung, die hinter seiner Windschutzscheibe liegt und ihn in der Regel
ermächtigt, in die Fußgängerzone einzufahren und keine
Gebühren bezahlen zu müssen. Aber wenn im öffentlichen Straßenraum kein Parkplatz da ist, dann nützt ihm
auch der Schein nichts; in diesem Fall muss er genauso
in der zweiten Reihe parken wie jeder andere ohne
Schein.
Anders ist das bei den Menschen mit Behinderungen:
Sie haben extra ausgewiesene Parkräume. Wenn sie besetzt sind, nützt ihnen dieses extra ausgewiesene Feld
übrigens auch relativ wenig. Das muss man wohl hinzufügen.
Bleibt also, dass wir für einen weiteren Nutzer, nämlich den Benutzer eines Carsharing-Fahrzeugs, im öffentlichen Straßenraum - Parkhäuser, private Grundstücke, das ist alles erledigt und machbar - spezielle
Parkplätze markieren oder beschildern und gleichzeitig
- das gehört dann wohl dazu - die Fahrzeuge speziell
kennzeichnen oder beschildern; denn mir nützt nicht allein die Abholstation. Vielmehr müsste ich, wenn es etwas bringen soll, in jeder Wohnsiedlung zwei, drei
Plätze entsprechend markieren und vor allem kontrollieren können, ob das Fahrzeug, das auf diesen Plätzen
steht, auch tatsächlich ein Carsharing-Fahrzeug ist.
({2})
Nun höre ich von denen, die Carsharing-Fahrzeuge benutzen, dass nicht unbedingt alle wollen, dass man es
dem Fahrzeug ansieht, dass es nicht dem Fahrer gehört,
sondern dass es ein Fahrzeug einer Institution, die Carsharing betreibt, ist. Damit fängt es an.
({3})
Man muss sich gut überlegen, ob man das will.
Zweitens. Wir würden die Nutzungskonkurrenz in
den Stadtteilen mit wenig öffentlichem Parkraum erhöhen. Das ist keine Frage. Was nützt mir der ausgewiesene Stellplatz, wenn am Ende großer Parkraummangel
beispielsweise in einem Wohnviertel aus der Gründerzeit
herrscht?
Herr Kollege Döring, lassen Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Bartol zu?
Unbedingt.
Ich nehme das mit besonderem Respekt zur Kenntnis.
Als Sie ans Rednerpult schritten, kam ein von mir überhörter Zwischenruf aus den Reihen der SPD-Fraktion,
ob ich bei Ihnen nicht die Redezeit in dem Maße kürzen
könnte, wie ich beim Kollegen Behrens draufgelegt
habe. Jetzt wird der Zwischenruf durch den Versuch wieder gutgemacht, Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage
zu verlängern, was ich besonders sympathisch finde.
Herr Präsident, das mache ich sehr gerne. - Lieber
Patrick, nimmst du bitte zur Kenntnis, dass Folgendes
relativ logisch ist: Wenn man in einem Wohngebiet einen Carsharing-Parkplatz ausweist und sich daraufhin
Menschen für Carsharing entscheiden und sich kein
Zweitauto beschaffen, sondern Carsharing-Autos nutzen, dann wird der Parkraumdruck dort deutlich abnehmen. Das heißt, ein Carsharing-Parkplatz vermindert
Parkraumdruck, weil sich mehrere Leute - das steckt
schon im Wort, ich sage es noch einmal auf Deutsch das Auto teilen, das heißt, es gibt weniger Autos im
Wohngebiet. Ich finde, das ist nicht so schwierig zu verstehen.
({0})
Geschätzter Kollege Bartol, auch das ist ein Effekt,
der eintritt. Aber auch ich habe mich vorbereitet und mit
Carsharing-Unternehmen gesprochen.
({0})
Die, mit denen ich spreche, sagen: Mehr als die Hälfte
ihrer Mitglieder oder Nutzer hatten vorher kein Fahrzeug. Die erhöhen den Parkdruck in einem Wohngebiet,
weil sie jetzt mit einem Fahrzeug bis vor die Tür fahren
können.
({1})
Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille.
Ich akzeptiere, dass das zum Teil möglich ist, aber es
gibt auch den anderen Fall. Das muss man für dicht bebaute Gründerzeitwohngebiete durchaus anmerken dürfen. Ich bin gar nicht so skeptisch, was den Antrag angeht, aber ich möchte deutlich machen, dass man die
Belange anderer berücksichtigen muss.
Am Ende bleibt zu fragen: Was ist rechtlich zu tun?
Das wird im Straßenverkehrsgesetz und in der Straßenverkehrs-Ordnung geregelt. Wir müssen gleichzeitig dafür sorgen, dass wir nicht eine Tür öffnen, dass zum Beispiel Mietwagenunternehmer, sich auf eine solche
Regelung berufend, für sich eine Sonderrechtssituation
in Anspruch nehmen könnten. Das will hier keiner.
Drittens. Wir müssen deutlich machen: Wir wollen alles das, was auf der privaten Ebene im Bereich Carsharing derzeit möglich ist, fördern und unterstützen.
Wenn wir in diesem Geist den Antrag in der zweiten
und dritten Beratung diskutieren, kommen wir zu einem
guten Ergebnis. Dazu will die FDP-Fraktion beitragen,
weil das Carsharing für die Entwicklung der Verkehre in
den Städten unseres Landes ein ausgesprochen sinnvoller Beitrag ist. Das erkennen wir sehr wohl an. Wir wollen alle privaten und unternehmerischen Initiativen befördern.
Abschließend komme ich zu einem Punkt, der nicht
meine Zustimmung findet. Er steht zwar nicht im Antrag, wurde aber in der Rede angesprochen. Ich glaube
nicht, dass diejenigen, die Carsharing betreiben, eine zusätzliche Förderung für innovative Fahrzeugkonzepte
brauchen, Stichwort: Elektromobilität.
({2})
Wir halten es für richtig, dass wir bei der Elektromobilität die Technologieentwicklung, zum Beispiel die
Speichertechnologie, fördern und uns die Frage stellen:
Wie organisieren wir ein effizientes Wiederaufladesystem in Deutschland? Für die unmittelbare Anschaffung
des Fahrzeuges macht es, glaube ich, keinen Sinn, zusätzliche Subventionen einzuführen. Der effiziente Verbrennungsmotor wird genauso eine umweltpolitische
Rolle und eine Rolle für die Verkehre unserer Städte
spielen wie der Elektromotor. Deshalb sollten wir das
den Initiativen bzw. den Unternehmen, die Carsharing
betreiben, überlassen. Wir werden im Rahmen der Diskussion feststellen, ob wir das Problem lösen können.
Ich bin guter Dinge, dass wir einen zusätzlichen Beitrag
zu einer noch stärkeren und noch besseren Entwicklung
von Carsharing leisten können.
Herzlichen Dank.
({3})
Bettina Herlitzius ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
bin froh, dass Sie diesem SPD-Antrag durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen. Ich möchte diese Stimmung
aufnehmen. Ich freue mich über diesen Antrag. Wir werden ihm wahrscheinlich zustimmen. Wir hatten ja einen
fast deckungsgleichen Antrag letztes Jahr im Sommer
eingebracht, der von der Großen Koalition leider abgelehnt worden ist.
({0})
Aber ich sehe: Es hat sich etwas entwickelt. Insofern bin
ich sehr optimistisch, was die Debatte angeht.
Worum geht es bei Carsharing?
({1})
Man muss das wohl doch etwas ausführen. Nachdem ich
einige Beiträge hier gehört habe, glaube ich, dass grundsätzliche Missverständnisse bestehen. Wir können ruhig
bei den deutschen Wörtern bleiben: Auto teilen. Menschen teilen sich ein Auto, aber nicht mit dem Schraubenzieher oder mit dem Schweißgerät. Nein, sie teilen
sich die Nutzung. Bis zu 20 Personen - teilweise sind es
sogar mehr - können sich durch geschicktes Zeitmanagement ein Auto teilen. Diese 20 Personen müssen
nicht alle ein Auto haben. Wenn es aber auch nur zehn
Autos mehr werden, entstehen genau die Probleme, die
Sie gerade beschrieben haben, Herr Döring: der verstärkte Parkdruck und die Erhöhung des Verkehrs in den
Innenstädten. Deswegen ist das ein interessantes Modell.
Der Schritt zum Carsharing ist weniger in der Überlegung begründet: „Ich habe noch nie ein Auto gehabt;
jetzt probiere ich das mal aus“, sondern eher darin: Bevor ich mir ein Auto kaufe, mache ich Carsharing; vielleicht kann ich meinen Bedarf damit decken. - Insofern
ist das schon eine wichtige Variante.
({2})
Schauen wir ein bisschen weiter; betrachten wir Unternehmen oder Behörden. Ein Großteil der CarsharingFahrten sind mit fast 40 Prozent berufliche Fahrten. Wir
reden hier also nicht über privaten Individualverkehr,
sondern über berufsbedingte Fahrten. Wir reden darüber,
dass Behörden, dass Unternehmen ihre Dienstflotte abbauen. Das ist wichtig und in der Innenstadt interessant.
Es profitieren vor allem unsere Innenstädte: Es gibt
weniger Parkplatzbedarf, der Individualverkehr wird
eingeschränkt, aber vor allen Dingen bietet das Carsharing eine Mobilitätsmöglichkeit für Menschen mit kleinem Geldbeutel. Ein Carsharing-Auto zu nutzen, ist natürlich wesentlich günstiger, als ein eigenes Auto zu
besitzen. Davon profitieren unsere Innenstädte und unsere Wohnviertel, da die Wohnqualität gesteigert wird.
Vor 20 Jahren entstanden die ersten Initiativen zum
Carsharing, zum Stadtteilauto, zum Gemeinschaftsauto;
so wurde es damals genannt. Das waren teilweise ideologisch tief verwurzelte Gesellschaften. Ich kann mir vorstellen, dass Ihre Bedenken daher rühren. Seit zehn Jahren ist dieser Markt aber professionell. Er hat sich
entwickelt. Es bestehen Wachstumspotenziale. Hier ist
eine interessante ökologische Mobilitätsdienstleistung
entstanden.
Trotzdem ist Carsharing nach wie vor ein Nischenprodukt im Bereich der städtischen Mobilität.
({3})
Woran hapert es? Von Nutzern geteilte Autos sind Teile
einer Mobilitätskette. Das heißt, sie können den öffentlichen Nahverkehr, auch den Individualverkehr nicht ersetzen. Da machen wir uns gar nichts vor. Die Nutzer
von Carsharing brauchen den öffentlichen Nahverkehr.
Sie brauchen als Grundvoraussetzung die direkte Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, an zentrale Haltestellen, an Busse und Bahnhöfe.
({4})
- Herr Döring, schön, dass Sie zuhören. - Aber genau
das ist das Problem. Der Parkraum an zentralen Stellen
des öffentlichen Nahverkehrs ist knapp und teuer.
Viele Kommunen scheuen davor zurück, Parkflächen
für Carsharing-Modelle auszuweiten. Wir brauchen daher eine klare bundesrechtliche Regelung, die den Kommunen bei ihren nachhaltigen Mobilitätskonzepten den
Rücken stärkt. Das sind wichtige Rahmenbedingungen,
die mit diesem Antrag gefordert werden. Wir müssen das
Straßenverkehrsrecht und die Straßenverkehrs-Ordnung
ändern. Es kann nicht sein, dass Taxen, für die wir extra
Stellflächen reservieren, gegenüber Stadtteilautos bevorzugt werden.
({5})
Hier muss Gleichbehandlung herrschen. Hier müssen
beide Mobilitätsbranchen die gleiche Chance haben.
Lassen Sie mich zum Schluss der Ehrlichkeit halber
sagen: Auch wir haben diesen Antrag abgeschrieben,
({6})
zumindest zum Teil. Er ist abgeschrieben von einem im
Bundesrat mit Mehrheit beschlossenen Antrag. Im Verkehrsausschuss und im Umweltausschuss dort ist dieses
Thema behandelt worden.
({7})
Der Antrag ist im Bundesrat mit großer Mehrheit beschlossen worden. CDU, CSU und SPD müssen dabei
gewesen sein; denn wir sind nicht allein im Bundesrat.
Insofern kann man feststellen, dass sich die Länder einig sind. Umso ärgerlicher ist dieses Trauerspiel, das Sie
hier im Deutschen Bundestag aufführen. Lassen Sie uns
beim Thema Carsharing endlich zum letzten Akt kommen! Treffen Sie eine fachpolitisch richtige Entscheidung! Stärken Sie nachhaltige, kostengünstige Mobilitätsformen in unseren Städten!
Danke schön.
({8})
Nun erhält der Kollege Gero Storjohann das Wort als
letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Carsharing, Auto teilen, das ist eigentlich
ein ganz altes Thema. Ich komme vom Dorf. Als dort die
ersten Landwirte anfingen, sich die Mähdrescher zu teilen, wurden sie erst belächelt; aber inzwischen ist es üblich. Dass man inzwischen auch die Anhänger von Treckern gemeinsam nutzt, ist gang und gäbe.
({0})
Das macht man aus wirtschaftlichen Gründen und aus
marktwirtschaftlicher Vernunft. Insofern ist es wunderbar.
Dieses Modell ist inzwischen in den Städten angekommen. Damit kann man Geld verdienen. Denn es gibt
ein Angebot, das andere gern nutzen wollen. Dieses Angebot kann man laufend hinterfragen und verbessern.
Das ist, glaube ich, der Ansatz des vorliegenden Antrags. Wir als Bundespolitiker haben jetzt zu entscheiden: Was bedeutet es, wenn wir für unsere Kommunen
einen Rahmen schaffen? Hier ist viel Richtiges gesagt
worden. Mein Kollege Vogel hat die Bedenken vorgetragen, die wir als Union bisher gehabt haben und die aus
der kommunalen Familie an uns herangetragen worden
sind. Patrick Döring hat hier sehr engagiert vorgetragen,
dass damit auch viele freiwillige Entscheidungen zusammenhängen.
Wir sind, glaube ich, alle für Carsharing. Jetzt geht es
um die Frage, inwieweit wir es vielleicht privilegieren,
inwieweit wir gewisse Dinge für dieses Gewerbe erleichtern können. Auch in meiner Familie betreiben wir
Carsharing. Die Söhne möchten gerne mit dem Auto des
Vaters fahren. Deswegen gibt es nicht unbedingt weniger
Fahrzeuge in einer Familie. Vielmehr bestehen die
Söhne selbstverständlich darauf, dass sie das Auto nehmen, das ihnen gerade für ihren Zweck gefällt. Wenn
man mit drei oder vier Leuten durch die Gegend fährt, ist
es besser, ein größeres Auto zu haben. Insofern ist Carsharing ein zusätzliches Angebot.
Wir als Union haben viele neue Kollegen in unserer
Arbeitsgruppe. Sie hatten noch nicht die Gelegenheit,
dieses Thema intensiv zu beraten. Deshalb lautet das
Angebot, dass wir sehr intensiv über die Fragen, wie
man Carsharing attraktiv machen kann und inwieweit es
Vorgaben für die Kommunen geben soll, beraten werden. Das ist hier die Ansage. Ich bitte darum, dass wir
diesen Antrag in die Ausschüsse überweisen. Wir freuen
uns auf eine interessante und vertiefende Debatte. Ich
glaube, so werden wir allem gerecht: dem Problem der
Mobilität und den Verkehrskonzepten. Ich habe mich besonders gefreut, dass sogar von den Grünen ein Plädoyer
für das Auto kam.
({1})
Nicht ein einziges Mal wurde das Fahrrad im Stadtverkehr erwähnt; aber auch dafür sind wir als Union.
Ich freue mich auf eine spannende Debatte im Ausschuss.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Ich greife die Anregung des Kollegen Storjohann auf,
die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen, so denn das Plenum diesem
kühnen Vorschlag folgen will. Sind Sie damit einverstanden?
({0})
- Unbedingt. - Ist jemand anderer Meinung?
({1})
- Aha. - Unbeschadet des hilfsweise angemeldeten Beratungsbedarfs
({2})
ist die Überweisung hiermit einvernehmlich beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({3}) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Neununddreißigste Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ({4})
- Drucksachen 17/508, 17/591 Nr. 2, 17/768 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Lutz Knopek
Dorothea Steiner
Auch hierzu soll es nach einer Vereinbarung unter den
Fraktionen eine halbstündige Aussprache geben. - Ich
höre keinen Widerspruch. Wir können also so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
Ursula Heinen-Esser. Bitte schön.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident hat den
etwas sperrigen Titel der Verordnung, über die wir uns
heute Abend austauschen und bei der wir hoffentlich zu
einer eindeutigen Abstimmung kommen werden, bereits
vorgetragen. Es geht um die Verordnung über Luftqualitätsstandards und Emissionshöchstmengen.
Diese Verordnung dient der Umsetzung einer EURichtlinie, nämlich der Richtlinie über Luftqualität und
saubere Luft für Europa, in deutsches Recht. Das ist eine
klare Eins-zu-eins-Umsetzung. Die neue Rechtsverordnung fasst einige nationale Regelungen zusammen und
dient damit der Verwaltungsvereinfachung. Ferner werden zwei Verordnungen aufgehoben. So weit zum technischen Teil.
Neu an dieser Verordnung ist, dass für ganz besonders
gesundheitsschädliche, sehr kleine Feinstäube erstmals
Luftqualitätswerte festgelegt werden. Für diese besonders kleinen Stäube gilt ab dem Jahr 2010 ein Zielwert,
der so weit wie möglich einzuhalten ist. Dieser Zielwert
wird ab dem Jahr 2015 zum verbindlichen Grenzwert.
Das heißt, er muss ab dem Jahr 2015 ganz klar eingehalten werden. Alle sonstigen Werte werden unverändert
übernommen. Insofern gibt es keine Änderungen.
Darüber hinaus wird klar geregelt, dass die natürlich
vorkommende Feinstaubbelastung der Luft aus der gemessenen Konzentration herausgerechnet werden kann.
Wir haben bereits die eine oder andere Diskussion darüber geführt, wie wir beispielsweise mit dem Salzgehalt
der Luft an der See oder mit Staub, der durch Verwehungen verursacht wird, umgehen sollen.
Etwas anderes ist auch neu - darüber hat es im Ausschuss recht rege Diskussionen gegeben -, nämlich: Die
neue Luftqualitätsrichtlinie gibt den Mitgliedstaaten
erstmals die Möglichkeit, die Fristen zur Einhaltung bestimmter Grenzwerte zu verlängern. Diese Neuregelung
berücksichtigt die Tatsache, dass in vielen Ländern
Europas zwei Grenzwerte immer noch nicht fristgerecht
eingehalten werden, obwohl große Anstrengungen unternommen werden. Es handelt sich dabei zum einen um
den seit 2005 geltenden Wert für Feinstaub. Zum ande2142
ren handelt es sich um den seit 1. Januar dieses Jahres
geltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid. Diese Grenzwerte werden vor allem an sehr stark befahrenen Straßen
in Innenstädten überschritten. Die Fristverlängerung für
Feinstaub ist bis 2011 und für Stickstoffdioxid bis Ende
des Jahres 2014 möglich.
Lassen Sie mich genauer auf die Bedeutung dieser
Regelung eingehen. Maßgebend für die Fristverlängerung ist Art. 22 der Richtlinie. Im Ausschuss hatten wir
darüber diskutiert, dass wir Teile aus der Richtlinie in
die Verordnung übernommen haben. Wir müssen aber
ganz klar sagen, dass dieser Artikel der Richtlinie unmittelbar gilt. Wir haben Teile in die Verordnung übernommen, allerdings liegt hier eine der wenigen europarechtlichen Möglichkeiten vor, dass eine Richtlinie direkt
durchschlägt.
Wesentliche Voraussetzung zur Gewährung der Fristverlängerung ist in beiden Fällen - für Feinstaub und für
Stickstoffdioxid - die Vorlage eines sogenannten Luftreinhalteplans. In der folgenden Debatte wird es noch
eine Rolle spielen: In Hannover gab es eine Diskussion
über das Thema der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der
Vorlage von Luftreinhalteplänen. In diesem Plan muss
dargelegt werden, mit welchen Maßnahmen die Grenzwerte bis zum Ablauf der Fristverlängerung eingehalten
werden sollen. Bei Feinstaub gilt zusätzlich, dass eine
Fristverlängerung nur dann gewährt werden kann, wenn
die Grenzwertüberschreitungen auf standortspezifische
Ausbreitungsbedingungen, ungünstige klimatische Bedingungen oder grenzüberschreitende Einträge zurückzuführen sind, wenn es sich um Ursachen handelt, die
man durch technologischen Fortschritt oder die Einrichtung von Umweltzonen nicht direkt beeinflussen kann,
wenn es sich also um besondere Lagen - beispielsweise
von Städten - handelt.
Aber bevor diese Fristverlängerung wirksam werden
kann - auch das ist wichtig und wird in Art. 22 der
Richtlinie geregelt -, prüft die EU-Kommission die Einhaltung dieser Anforderungen durch den Mitgliedstaat.
Für Feinstaub hat sie bereits zahlreichen deutschen
Kommunen Fristverlängerungen gewährt. Bei einigen
Kommunen allerdings - auch das muss man klar sagen hat die Kommission Einwände erhoben und verlangt,
dass die von den Kommunen vorgelegten Luftreinhaltepläne überarbeitet werden bzw. nachgebessert werden
müssen. Zusätzliche Maßnahmen zur Senkung der Feinstaubbelastung und zur termingerechten Einhaltung des
Grenzwerts sind aus Sicht der Kommission noch erforderlich.
Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie endet im Juni
dieses Jahres. Das Gesetz war bereits im Bundesrat. Im
Bundesrat hat es einige redaktionelle Änderungen gegeben, die wir übernehmen werden. Zu gegebener Zeit
werden wir auch im Bundestag noch darüber diskutieren.
Jetzt richte ich mich an die Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition. Sie haben sich im Ausschuss enthalten, weil Sie noch formale Fragen hatten. Meine Bitte an
Sie: Stimmen Sie heute Abend zu! Ich denke, dass wir
Ihnen mit der Umsetzung der Richtlinie einen wirklich
guten Vorschlag vorlegen.
In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören.
({0})
Das Wort erhält nun die Kollegin Ute Vogt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es gibt in diesem Hause niemanden, der
der Aussage nicht zustimmt, dass die Umsetzung der
Richtlinie 2008/50/EG zur Verbesserung der Luftqualität
notwendig ist und dass es von daher durchaus sinnvoll
ist, diese Richtlinie umzusetzen. Es war beispielsweise
überfällig, den Grenzwert für Feinstaubpartikel weiter
zu senken und dafür zu sorgen, dass nunmehr auch
Feinststaubpartikel erfasst sind. Es war leider auch notwendig, darauf zu reagieren, dass es die Mitgliedsländer
der EU vor allem in Ballungsgebieten immer noch nicht
schaffen, die vorgegebenen Grenzwerte einzuhalten.
Aus meinem eigenen Wahlkreis, der Stadt Stuttgart,
kann ich berichten: Allein im vergangenen Jahr wurde
der zulässige Feinstaubgrenzwert an der Messstation
Neckartor an 112 Tagen überschritten. Im Vergleich
dazu, dass eine Überschreitung an nur 35 Tagen erlaubt
ist, ist das eine enorm hohe Zahl. Etwas weiter entfernt,
in einer anderen Straße, die von etwa 35 000 Fahrzeugen
befahren wird, ist der erlaubte Stundenmittelwert von
Stickstoffoxid bereits 103 Mal überschritten worden, obwohl er eigentlich nur 18 Mal pro Jahr überschritten
werden darf.
Wir sehen also: Mit der Umsetzung der Richtlinie in
deutsches Recht alleine ist es sicher nicht getan. Denn
nahezu jede größere Stadt und viele Ballungsräume haben größte Schwierigkeiten, auch nur in die Nähe der
vorgegebenen Grenzwerte zu kommen, und das, obwohl
vielerorts Maßnahmen eingeleitet worden sind, die zur
Luftreinhaltung beitragen sollen. Häufig sind diese Maßnahmen aber unzureichend, und die Kommunen alleine
sind nicht in der Lage, dieser Problemlage Herr zu werden.
Mit der Umsetzung dieser Richtlinie verbinden wir
auch die Erwartung, dass die Bundesregierung die Initiative ergreift, Bund, Länder und Kommunen bei diesem
Thema näher zusammenzubringen. Die Kommunen
brauchen unsere Unterstützung bei der Erstellung der
Pläne, aber vor allem bei der Durchsetzung geeigneter
Maßnahmen. Es braucht dazu auch ein Umdenken in der
Verkehrspolitik des Bundes. Das Carsharing - über die
erste Initiative haben wir eben etwas gehört - ist ein
Baustein. Aber es geht auch um die Stärkung der
Schiene und um eine ausreichende Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs. Es geht vor allem um große
Schritte zum Einstieg in die Elektromobilität und um die
Unterstützung von Wasserstofffahrzeugen. Die SchadUte Vogt
stoffe, um die es geht, stammen nämlich im Wesentlichen aus dem Straßenverkehr. Die Ausweisung von Umweltzonen hilft zwar, aber nicht in dem Maße und nicht
in der Geschwindigkeit, wie es notwendig wäre. Wir
brauchen daher neue Mobilitätskonzepte für die Innenstädte. Die Kommunen brauchen dabei unsere Unterstützung.
Vor allem darf es nicht zu weiteren Steuerausfällen
kommen. Die Präsidentin des Deutschen Städtetages,
Petra Roth, hat - dies wurde schon häufiger zitiert - gewarnt, dass den kommunalen Haushalten Steuerausfälle
in zweistelliger Milliardenhöhe drohen. Das muss doch
auch für Sie aus den Koalitionsfraktionen ein Anlass
sein, Ihre Finanz- und Steuerpolitik zu überdenken.
Überdenken Sie Ihre Finanz- und Steuerpolitik gerade
unter dem Blickwinkel des Schutzes der Lebensqualität
und der Gesundheit der Menschen in unseren Städten!
Die Kommunen sind dringend auf unsere Unterstützung
angewiesen.
Sorgen Sie für Klarheit und Transparenz in dieser Gesetzgebung! Es geht bei der Umsetzung dieser EURichtlinie nicht nur darum, zu tun, was unabdingbar erforderlich ist, sondern auch darum, dass diejenigen, von
denen wir erwarten, dass sie Aktivitäten entwickeln, um
diese Verordnung umzusetzen, der Verordnung das Wesentliche entnehmen können.
Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie sind wir nicht
zufrieden, wo es um die Fristverlängerung geht. Frau
Staatssekretärin, es ist nicht nachvollziehbar, warum in
der Verordnung nicht wenigstens die wesentlichen Kriterien aus Art. 22 der EU-Richtlinie eindeutig genannt
werden. Auch wenn die Richtlinie unmittelbare Geltung
erlangt, ist es doch wichtig, dass im Gesetzestext auf einen Blick transparent und nachvollziehbar erkennbar ist,
worum es geht, welche Kriterien einzuhalten sind. Es
geht nicht darum, dass die Details der Anlage wiederholt
werden müssten; aber das Anliegen muss aus dem Text
der Verordnung hervorgehen.
Wir werden uns bei der Verabschiedung der Verordnung der Stimme enthalten. Sie können aber in jedem
Fall auf uns zählen, wenn es darum geht, die Kommunen
zu stärken und ihnen dabei zu helfen, Luftreinhaltepläne,
die Bund, Länder und Kommunen zur Verbesserung der
Lebensqualität und zum Schutz der Gesundheit gemeinsam erstellen, zeitnah umzusetzen.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lutz Knopek für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der heute vorliegenden Neununddreißigsten Verordnung
zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes unternimmt die Koalition aus FDP und Union einen
weiteren wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Verbesserung der Luftqualität in Deutschland. Bereits gültige
Regelungen werden zusammengefasst, im Kern fortgeschrieben und für die Kommunen praktikabler gemacht.
Teile dieser neuen Verordnung bedeuten einen Paradigmenwechsel bei der Bewertung der Luftqualität. Es
besteht heute kein Zweifel mehr, dass von Feinstaubemissionen ein besonderes gesundheitliches Risiko ausgeht. Bisher wurden die umweltpolitischen Maßnahmen
allein an den relativ großen Schwebepartikeln, an den
Schwebepartikeln mit einem Durchmesser von 10 Mikrometern, den sogenannten PM10, ausgerichtet. Zukünftig rücken kleinere Partikel, die sogenannten
PM2,5, in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Auch die
PM1,0 und die PM0,1 werden längst gemessen, untersucht und bewertet.
Das ist richtig so und konsequent; denn sowohl bei
kurz- als auch bei langfristiger Exposition sind nicht unerhebliche gesundheitliche Risiken zu befürchten, was
durch aussagekräftige amerikanische und europäische
Studien inzwischen hinreichend belegt ist. Dokumentiert
sind Akuteffekte wie zum Beispiel Herz-Kreislauf- und
Atemwegsbeschwerden, aber auch Langzeiteffekte. Studien zur Langzeitexposition gegenüber Feinstaub zeigen
ein signifikant erhöhtes Mortalitätsrisiko bei kardio-pulmonalen Erkrankungen und auch bei Lungenkrebs.
Wie gestern beim Deutschen Krebskongress hier in
Berlin mitgeteilt wurde, nimmt die Zahl der Krebsneuerkrankungen in Deutschland zu. Es gibt nun annähernd
450 000 Fälle pro Jahr. Wir können davon ausgehen,
dass hier auch die Feinstaubbelastung eine Rolle spielt.
Ultrafeine Partikel spielen in der Pathogenese eine besonders wichtige Rolle, da sie im Gegensatz zu den größeren Partikeln lungengängig sind. Nase, Mund und Rachen halten PM10-Teilchen noch zum großen Teil
zurück. PM2,5-Teilchen dringen jedoch bis in die Lungenbläschen vor, können hier aufgenommen werden und
so bis in die Blutbahn des Menschen gelangen.
Ultrafeine Partikel haben aber noch einen anderen negativen Effekt. An ihrer Oberfläche lagern sich Schwermetalle oder krebserzeugende polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe, die sogenannten PAKs, an. Da
kleinere Partikel eine größere Oberfläche im Verhältnis
zu ihrem Volumen haben, sind sie zudem stärker mit diesen Stoffen belastet als größere Partikel. Außerdem steigen sie in die Atmosphäre auf. Sie werden dort fotochemisch umgewandelt und können über mehrere Hundert
Kilometer transportiert werden. Das ist ein interessanter
Aspekt, wenn man über die Sinnhaftigkeit von Verkehrszonen nachdenkt.
({0})
Eine Fokussierung auf die feinen und ultrafeinen Partikel ist also wichtig. Mit dem vorliegenden Entwurf einer Verordnung werden die Voraussetzungen für einen
besseren Gesundheitsschutz der Menschen in unserem
Land geschaffen, vor allem in den Städten und Ballungsräumen.
Mit der Einführung eines Grenzwertes für PM2,5 allein ist es natürlich nicht getan. Das Umweltbundesamt
hat berechnet, welche Minderungspotenziale einzelne
umweltpolitische Maßnahmen jeweils versprechen.
Auf der Ebene der Einzelmaßnahmen geht es neben
der Reduzierung verkehrsbedingter Partikelemissionen
vor allem um die Senkung der Emissionen aus Kleinfeuerungsanlagen in Haushalten. Dieses Themas hat sich
der Bundestag gleich nach seiner Konstituierung im Dezember vergangenen Jahres angenommen.
({1})
Mit der Novellierung der 1. BImSchV - Sie erinnern
sich - wurden anspruchsvolle Grenzwerte für neue Holzöfen und andere Kleinfeuerungsanlagen eingeführt.
Ein weiteres Potenzial zur Feinstaubsenkung sieht das
Umweltbundesamt in der Nachrüstung von Rußpartikelfiltern bei Dieselfahrzeugen. Die alte Regierung wollte
das erfolgreiche Programm zur Förderung von Rußpartikelfiltern bei Pkw Ende vergangenen Jahres auslaufen
lassen. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich nun geeinigt, dass dieses Programm 2010 nicht nur fortgesetzt,
sondern auch auf leichte Nutzfahrzeuge ausgedehnt
wird.
({2})
Das ist sehr sinnvoll, vergegenwärtigt man sich, dass
mehr als 65 Prozent der Emissionen von Dieselrußpartikeln von Nutzfahrzeugen ausgehen.
Die Fortsetzung und Ausdehnung der Förderung von
Rußpartikelfiltern ist aber nicht nur eine ökologisch
sinnvolle Maßnahme, sondern auch ein Programm zur
Stärkung des Mittelstands; denn ein großer Teil der
leichten Nutzfahrzeuge gehört Handwerkern und kleinen
Gewerbetreibenden, die mit ihren Fahrzeugen oftmals
nicht in die bestehenden Umweltzonen einfahren dürfen
und denen es auch aufgrund der Politik der Vorgängerregierung am nötigen Kapital zur Erneuerung ihrer Fahrzeuge mangelt. Die FDP macht an dieser Stelle deutlich,
dass Ökonomie und Ökologie nicht zwangsläufig Gegensätze darstellen müssen. Wir machen Umweltpolitik
mit den Menschen und nicht gegen sie.
({3})
Zum Schluss meiner Rede will ich noch kurz auf die
unlängst von der Deutschen Umwelthilfe geäußerte Kritik an dem vorliegenden Verordnungsentwurf eingehen.
Es geht dabei um die Regelung zur Fristverlängerung für
die einzuhaltenden Grenzwerte. Die Parlamentarische
Staatssekretärin Frau Heinen-Esser hat im Ausschuss
sehr deutlich gemacht, dass sich Deutschland hierbei
strikt an EU-Recht hält. Allerdings verschärfen wir die
Anforderungen nicht auch noch im nationalen Alleingang, wie von der Deutschen Umwelthilfe gewünscht.
Im Koalitionsvertrag haben FDP und Union vereinbart,
dass alle EU-Vorgaben eins zu eins in deutsches Recht
umgesetzt werden. Das machen wir auch in diesem Fall.
Eine einseitige Verschärfung zulasten der deutschen
Kommunen lehnen wir ab.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Herr Kollege Dr. Knopek, das war Ihre erste Rede
hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen ganz
herzlich dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit
alles Gute.
({0})
Nächster Redner ist nun für die Fraktion Die Linke
der Kollege Ralph Lenkert.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Feinstaubbelastungen in der Bundesrepublik verkürzen nach wissenschaftlichen Schätzungen von Professor
Wichmann die durchschnittliche Lebenserwartung um
sechs Monate. Die gesundheitsschädigende Wirkung
von Feinstaub nimmt dabei zu, je kleiner der Partikeldurchmesser und je höher ihre Anzahl ist. Auch die chemische und biologische Zusammensetzung und die
Oberflächenstruktur entscheiden über die Gefährlichkeit
der Feinstäube.
Die 39. Verordnung zur Durchführung des BundesImmissionsschutzgesetzes soll nun entsprechend der
EU-Richtlinie neue Grenzwerte für Feinstäube und
Ultrafeinstäube festlegen und Messpunkte und Verfahren
zur Überprüfung der Einhaltung der Grenzwerte definieren. Dass EU und Bundesregierung bei den Grenzwerten
allein das Gewicht je Staubgrößenklasse berücksichtigen
und nicht auch die Anzahl und die chemische und biologische Zusammensetzung, macht sicherlich das Messen
billig. Aber ist das ein sinnvolles Sparen?
({0})
Es ist schon ein Unterschied für die Gesundheit, ob es
sich beim Feinstaub um Bodenstaub vom Feld oder Verbrennungsrückstände aus der Industrie handelt.
({1})
Derzeit gibt es bei uns in Thüringen 22 Messstellen
zur Luftüberwachung. Nach dem Verordnungsentwurf
soll der Feinstaub zukünftig nur noch an einer Messstelle, nämlich der in Erfurt, verpflichtend erfasst werden. Niedrige Kosten sind also auch das Kriterium für
die in der Verordnung festgelegte Mindestanzahl der
Messstellen zur Überwachung des Feinstaubes. Eine einzige Messstelle soll sicherstellen, dass die Grenzwerte in
ganz Thüringen eingehalten werden. Glauben Sie daran?
Das ist, wie wenn man daran glaubt, dass ein fester Radarkasten, der Unter den Linden installiert wird, sicherstellt, dass in ganz Berlin-Mitte die Geschwindigkeitsbegrenzungen eingehalten werden.
({2})
Der Volksmund sagt: Wer billig kauft, kauft teuer.
Diese billige Feinstaubüberwachung wird uns, was die
Gesundheit angeht, viel kosten. Die Linke will deshalb
bessere Grenz- und Messwerte, den garantierten Erhalt
bestehender Messstellen und zusätzliche mobile Messeinrichtungen.
({3})
Generell gilt jedoch: So notwendig die Grenzwerte und
Messwerte sind, eine bessere Luftqualität wird nicht ermessen; man muss die Luftverschmutzung verringern.
({4})
In Großbritannien ermittelte man, dass der Straßenverkehr 30 Prozent des Feinstaubes kleiner als 2,5 Mikrometer und sogar 50 Prozent des Ultrafeinstaubes kleiner als 0,1 Mikrometer verursacht. Studien in der
Bundesrepublik belegen, dass die Feinstaubkonzentrationen in Wohn- und Arbeitsräumen an Hauptverkehrsstraßen deutlich über den Belastungen vergleichbarer
Räume in verkehrsarmen Gebieten liegen. Schauen Sie
nicht weiter zu, wie die Menschen, die an Hauptstraßen
leben und bzw. oder dort arbeiten, mit einem deutlich erhöhten Lungenkrebsrisiko, mehr Fällen von chronischer
Bronchitis und häufigeren Asthma-Attacken klarkommen müssen.
({5})
Mit Verkehrsvermeidung, der Verlagerung von Gütertransporten von der Straße auf die Schiene sowie einem
erweiterten, besseren und günstigeren öffentlichen Personennahverkehr ließe sich die Feinstaubbelastung dauerhaft verringern.
({6})
Allein dadurch würde sich die durchschnittliche Lebenserwartung um zwei Monate erhöhen und eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden.
Die 39. BImSchV ist eine Mogelpackung. Die Linke
lehnt sie deshalb ab.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nun hat die Kollegin Dorothea Steiner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Sie
gehört haben, geht es heute erneut um Luftqualität und
Luftreinhaltung. Das mag sich alles sehr technisch anhören, aber das Thema ist von essenzieller Bedeutung für
die Gesundheit von Bürgerinnen und Bürgern.
Die 39. BImSchV setzt die EU-Luftqualitätsrichtlinie
vom Juni 2008 in nationales Recht um. Auch bisher waren schon feste Grenzwerte für Luftschadstoffe wie
Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Stickstoffoxide und
Feinstäube mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometer
sowie für Blei, Benzol, Kohlenmonoxid und Ozon festgelegt. Anhand der Auflistung dieser Schadstoffe können Sie messerscharf erkennen, dass insbesondere der
Verkehr als Schadstoffemittent im Fokus steht. Das
Neue bei dieser Richtlinie ist, dass nicht nur die gebietsbezogene Luftreinhaltung im Mittelpunkt steht, sondern
dass ab jetzt in Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität auch maßgebliche Verursacher mit einbezogen
werden können. Das ist eine Verbesserung.
Eine bedeutsame Veränderung ist auch, dass nun neue
Ziel- und Grenzwerte für Feinstaub mit einer Partikelgröße bis 2,5 Mikrometer angestrebt werden. Uns wurde
mehrfach erläutert, welche Bedeutung diese Feinstaubpartikel haben und wie sie sich auswirken. Hier stimme
ich - ganz anders als beim Rattengift - vollkommen mit
Herrn Knopek überein. Der Zielwert soll ab 2010 gelten,
der Grenzwert aber erst ab 2015, in fünf Jahren. Das
könnte schneller gehen.
({0})
Abgesehen davon, dass die Regelung sehr spät kommt
und Deutschland zu Recht bereits zweimal von der EUKommission ermahnt wurde, ist festzustellen, dass der
Bund - Frau Staatssekretärin hat es gerade unterstrichen nur den europäischen Minimalkonsens eins zu eins umsetzt. Ich würde sagen: Das ist griechisches oder italienisches Niveau. Kritikwürdig ist, dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht den
bestmöglichen Schutz der Bevölkerung anstrebt.
({1})
Weitere Punkte, die in der Kritik stehen, sind die
möglichen Fristverlängerungen im Zusammenhang mit
der Einhaltung der Grenzwerte in den Kommunen und
die Voraussetzungen dafür. Sie erhärten den Eindruck,
dass Kommunen Fristverlängerungen eingeräumt werden können, ohne dass sie überhaupt die Voraussetzungen dafür erfüllen. Wir haben gehört: Zehn deutsche
Kommunen haben bereits eine Verlängerung der Frist für
die Einhaltung des Grenzwerts für PM10-Feinstaub, also
Feinstaub mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometer, beantragt und diese eingeräumt bekommen. Gleichzeitig
sagt die Staatssekretärin im Ausschuss, 2014 sei Schluss
mit lustig bezogen auf die Ausnahmeregelungen. Ja, was
denn nun? Gerade die Einhaltung der Grenzwerte, insbesondere bei den kleinsten Feinstaubpartikeln, ist für die
Gesundheit der Menschen entscheidend.
({2})
Noch etwas: Die Rechtsetzung ist für die Anwender,
die Kommunen, ziemlich intransparent. Sie müssen sich
aus der Richtlinie, der Verordnung und dem Bundes-Immissionsschutzgesetz die Voraussetzungen für die Fristverlängerung und den Zeitpunkt zur Einhaltung der
Grenzwerte zusammensuchen. Dass den Kommunen dabei Fehler unterlaufen, ist nicht verwunderlich. Fies ist
nur, wenn ein FDP-Umweltminister - ich meine hier einen ganz bestimmten, nämlich Herrn Sander aus Niedersachsen - versucht, Kommunen bei der Umsetzung von
Umweltzonen zu behindern. Schön, dass es Gerichte
gibt, die das Recht angemessen auslegen und diesem
Umweltminister eins auf die Mütze geben.
({3})
Sie hören, dass der Fraktion der Grünen wegen der
angeführten Mängel eine Zustimmung zu dieser Verordnung nicht sinnvoll erscheint. Deswegen werden wir
nicht zustimmen, sondern uns bei der Abstimmung enthalten.
Vielen Dank.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Saubere
Luft ist keine Selbstverständlichkeit, gerade in einem Industrieland wie Deutschland. Um eine gute Luftqualität
zu erreichen, brauchen wir vielmehr wirkungsvolle umweltpolitische Instrumente.
In der Vergangenheit haben wir aufgrund anspruchsvoller Umweltvorschriften bereits große Erfolge bei der
Luftreinhaltung erzielen können, in Deutschland wie in
Europa. So konnte der Anteil der gefährlichen Stickoxide in der Stadtluft in der Zeit von 1995 bis 2007 von
140 auf 70 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft reduziert
und damit halbiert werden. Dies hängt auch mit der Entwicklung zusammen, die Anfang der 90er-Jahre mit den
Euro-Normen für Fahrzeuge eingeleitet wurde. Dabei ist
der Grenzwert für Stickoxide in den letzten zehn Jahren
bei Pkw mit Ottomotor von 150 auf 60, bei Diesel-Pkw
sogar von 500 auf 180 Milligramm pro Kilometer reduziert worden. Noch ein Beispiel: Bei Benzol sank die
Belastung in den Städten seit 1997 von 7,9 auf 2,0 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft und damit auf knapp ein
Viertel. Auch der Anteil der Feinstaubpartikel in einer
Größe unter 10 Mikrometer, die sogenannten PM10, in
der Stadtluft konnte von 1995 bis 2007 von 40 auf
25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft verringert werden.
Diese Zahlen zeigen den bisherigen Erfolg der Luftreinhaltungspolitik.
({0})
Diesen Weg gehen wir konsequent weiter. Mit dem
heute von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf einer 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes wird zum einen europäisches
Recht, insbesondere die Luftqualitätsrichtlinie aus dem
Jahre 2008, umgesetzt; zum anderen werden damit die
22. BImSchV, die sich mit den klassischen Luftschadstoffen beschäftigt, und die 33. BImSchV, die das bodennahe Ozon zum Gegenstand hat, zusammengefasst.
Schon aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung ist
das zu begrüßen.
({1})
Die Grenzwerte der 22. und 33. BImSchV werden dabei
übernommen, ohne dass das ambitionierte Ziel, die Luftqualität stetig zu verbessern, aus den Augen verloren
wird. Deshalb wird mit dem vorliegenden Verordnungsentwurf erstmalig ein Grenzwert für Feinstaubpartikel
mit einer Größe von 2,5 Mikrometern und weniger eingeführt. Diese Feinstäube - wir haben es gerade erörtert - sind wegen ihrer Lungengängigkeit besonders
gesundheitsgefährdend.
Die materiellen Vorgaben der europäischen Richtlinie
werden durch die Verordnung eins zu eins in deutsches
Recht umgesetzt. Das gilt auch für die strengen Bedingungen, unter denen die EG-Richtlinie Fristverlängerungen für die Nichteinhaltung der Grenzwerte für Benzol,
PM10 und Stickstoffdioxid vorsieht. Das Instrument der
Fristverlängerung ist notwendig. In einzelnen Gebieten
können wegen der geografischen Lage die strengen
Grenzwerte schlicht und ergreifend noch nicht eingehalten werden. Aber die Fristverlängerung ist kein Freifahrtschein und wird erst nach eingehender Prüfung
durch die EU-Kommission genehmigt. Vorhin wurde
ausgeführt, dass es bereits allein in Deutschland zehn
Ausnahmen gebe. Ich lade Sie ein, bei der Europäischen
Kommission nachzuschauen. Dort ist sehr transparent
aufgelistet, welche anderen europäischen Städte ebenfalls Ausnahmen beantragt haben und unter welchen
Auflagen diese genehmigt wurden. Es ist keinesfalls so,
dass blindlings jedwede Fristverlängerung gewährt wird.
Vielmehr wird ein strenger Prüfungsmaßstab angelegt.
Das ist natürlich im Interesse der Luftqualität sinnvoll.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sagen, wir hätten all das, was das europäische
Recht vorsieht, in die Verordnung schreiben müssen,
dann kann ich nur entgegnen: Wir müssen doch wirklich
nicht alles doppelt aufschreiben.
({2})
- Was gilt, lässt sich aus dem Bundesgesetzblatt, in
dem die Luftqualitätsrichtlinie mit dem Art. 22 veröffentlicht ist, nachlesen. Im Übrigen wissen Sie so gut
wie ich - das Bundesumweltministerium hat sie uns vorgelegt -, dass allein die Mitteilung der Kommission, in
der ausgeführt wird, unter welchen Umständen eine
Fristverlängerung gewährt wird, mehr als 100 Seiten
umfasst. Wenn es Ihr Wunsch ist, diese Verordnung dadurch aufzublähen, dann bitte schön. Ich halte das aus
Verwaltungsvereinfachungsgründen und aus Verständlichkeitsgründen für ungeeignet.
({3})
Lassen Sie mich einen letzten Punkt anführen, nämlich die Ausnahme für natürliche Luftgemische, die sogenannten Aerosole. Natürlich müssen gesundheitsgefährdende Aerosole, wie sie durch Industrieanlagen
entstehen, berücksichtigt werden. Natürliche Aerosole,
wie zum Beispiel die Luft in den Seebädern, die sogar
eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, dürfen
denklogisch nicht als Schadstoffe eingeordnet werden.
Deshalb ist es richtig, dass nach der vorgelegten Verordnung nunmehr diese natürlichen Quellen herausgerechnet werden können.
({4})
Dasselbe gilt für die im Winter eingesetzten Streumittel
oder Verwehungen aus der Landwirtschaft.
Ich darf zusammenfassend feststellen: Mit der
39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes wird ein weiteres wirksames Instrument zur Einhaltung der strengen Anforderungen an die
Luftqualität geschaffen. Die CDU/CSU wird deshalb
diesem Vorhaben zustimmen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/768 zu der Neununddreißigsten Verordnung der Bundesregierung zur Durchführung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 17/508 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
ist dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der Fraktion der SPD und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
„Soforthilfeprogramm Kultur“ zum Erhalt
der kulturellen Infrastruktur einrichten
- Drucksache 17/552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Undine Kurth ({1}), Ekin
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kulturelle Infrastruktur sichern - Substanzerhaltungsprogramm Kultur auflegen
- Drucksache 17/789 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für
die Fraktion Die Linke.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Fraktion Die Linke bringt heute den Antrag „Soforthilfeprogramm Kultur“ ein, um den Auswirkungen der
Finanz- und Wirtschaftskrise auf die kommunale Kulturszene in Deutschland etwas entgegenzusetzen.
({0})
Das muss sofort geschehen, abgesehen davon, dass natürlich die Finanzgrundlagen der Kommunen prinzipiell
verändert werden müssen.
Gestern haben uns Experten im Ausschuss für Kultur
und Medien auf erschreckende Weise deutlich gemacht,
({1})
wie bedroht Bibliotheken, Museen, Musikschulen, Orchester und Theater sind und dass Tausende Arbeitsplätze in diesem Bereich bereits abgebaut wurden und
weitere Tausend zur Disposition stehen. Für die CDU/
CSU beschwört die Linke hier ein Schreckensszenario.
Aber dieses Schreckensszenario ist leider Wirklichkeit,
in Groß- und Kleinstädten, in Ost und West. Die Experten haben dies gestern im Ausschuss genauso beschrieben und bestätigt.
({2})
Für uns Linke gehört die Kultur zur Daseinsvorsorge.
({3})
Da diese Daseinsvorsorge bedroht ist, fordern wir Abhilfe, und zwar schnell und der Notsituation angemessen.
({4})
Außergewöhnliche Umstände fordern außergewöhnliches Handeln. - Damit hat die Kanzlerin die Milliardenhilfen für Banken und Unternehmen gerechtfertigt. Warum sollte das nicht auch Hilfe für Bibliotheken,
Theater, Museen, Orchester, Musik- und Malschulen sowie soziokulturelle Zentren rechtfertigen? Es geht dabei
ja auch um die Zukunft unserer Kinder.
({5})
Der Bund hat geholfen, die Anna-Amalia-Bibliothek
nach dem Brand zu retten und wiederherzustellen. Das
ist ein nationales Kulturgut. Und die Büchereien überall
im Land, die schon jetzt geschlossen wurden oder bald
geschlossen werden? Der Bundespräsident spricht von
einem Bibliothekssterben. Das ist keine Erfindung der
Linken. Sind diese vielfach bedrohten Büchereien nicht
auch ein nationales Kulturerbe, ein Erbe, das uns dazu
verpflichtet, es an unsere Kinder weiterzugeben? Wir haben es mit einer Katastrophe zu tun, die Politiker in der
Regierung und auch im zustimmenden Parlament gemacht und zu verantworten haben.
({6})
Die Bundesregierung und der Bundestag sind deshalb
jetzt in der Pflicht, Katastrophenschutz zu leisten.
({7})
Vom Verfassungsrechtler Professor Meyer haben wir
gestern im Ausschuss gehört: Selbst wenn ein Nothilfefonds des Bundes nicht verfassungskonform ist,
({8})
könnte der Bund politisch tätig werden; denn wo kein
Kläger, da kein Richter.
({9})
Er hat darauf hingewiesen, dass ein solcher Fonds nur
noch in diesem Jahr eingerichtet werden kann. Genau
darum geht es ja. Jetzt, in diesem Jahr, muss gerettet
werden, was sonst zerstört wird.
({10})
Wie ein Tsunami bricht die Sparwelle über die kulturellen Einrichtungen herein. Will man den Bürgerinnen
und Bürgern vor Ort wirklich sagen: „Wir dürfen keine
Sandsäcke austeilen; wir dürfen keine Hilfe schicken“?
Will man es wirklich dabei belassen? Klaus Staeck, der
Präsident der Akademie der Künste, spricht davon, dass
die Politik jetzt gefordert sei, Opferschutz zu leisten.
Besser kann man es eigentlich nicht beschreiben.
Eine Momentaufnahme aus dem realen Schreckensszenario: Am 12. Februar erreichte mich eine Nachricht
aus dem Stadtrat von Kranichfeld in Thüringen. Zitat:
Der Ort mit 3 700 Einwohnern hatte im Jahr 2009
3 000 Euro für Kultur eingestellt. Für den Haushaltsentwurf 2010, der aufgrund der fehlenden Mittel nicht ausgeglichen ist, ist dieser Betrag auf null
gesetzt worden. Wir bitten um einen Schutzschirm
für die Kultur.
({11})
Die Fraktion Die Linke bittet Sie um Zustimmung für
ein Nothilfeprogramm als außergewöhnliche Übergangsmaßnahme, um Schaden von unserem Land abzuwenden.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Kruse für
die Fraktion CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich finde die Intention hinter Ihrem Antrag sehr
sympathisch. Es treibt Sie die Sorge um, dass die Kultur
in den kommunalen Haushaltskrisen - was immer das im
Einzelnen ausgelöst hat - letztendlich den Kürzeren
zieht und unter die Räder kommt. Ihr Antrag, der aus
dieser Sorge resultiert, fällt allerdings nicht in die Kategorie „gut“, sondern in die Kategorie „gut gemeint“. Ich
will Ihnen auch sagen, warum.
In Ihrer Begründung nehmen Sie Köln als Beispiel für
eine Kommune oder eine Stadt, die ihren Kulturhaushalt
jetzt drastisch kürzt. Es ist richtig: Köln hat seinen Kulturetat um 30 Prozent gekürzt. Hamburg hat das nicht
getan. Ich bin ganz stolz; ich war bis Oktober letzten
Jahres haushaltspolitischer Sprecher meiner Fraktion in
der Hamburgischen Bürgerschaft. Wir haben gemeinschaftlich erreicht, dass unser Sparhaushalt, der wirklich
wehtut, die Kultur verschont hat. Köln hat das anders gesehen. Ich teile Ihre Ansicht, dass Kultur ein sehr wichtiges Gut ist und nicht irgendein Luxus. Man muss aber
auch sagen: Köln liegt nicht in der Diaspora, und die
Hamburger schöpfen nicht ständig Milch und Honig aus
der Elbe. Das heißt, die Kürzung des Kulturhaushalts ist
eine Entscheidung von Politikern, wie wir es sind, die
die Kultur vor Ort leider als zweit- oder drittrangig ansehen. Das bedeutet, dass der Kampf dafür, dass Kultur
immer ausreichende Mittel bekommt, in jeder Kommune, in jedem Land und auch hier im Bund geführt
werden muss.
({0})
Jetzt haben Sie die Sorge, dass dieser Kampf nicht
immer gewonnen wird, und Sie möchten hier gerne mit
Mitteln des Bundes für einen begrenzten Zeitraum helfend eingreifen. Das ist ein durchaus positiv gemeinter
Ansatz. Aber er ist kontraproduktiv, und ich will Ihnen
sagen, warum. Dieser Ansatz ist ungerecht; denn durch
ihn werden diejenigen bestraft, die nicht gekürzt haben.
({1})
Man löst sofort einen Reflex aus - da sind alle Haushälter gleich -, dass man sagt: Okay, auch wir machen uns
jetzt förderungsfähig; unsere Ausgaben für Kultur kann
ja der Bund übernehmen.
({2})
- Sagen Sie doch nicht immer gleich „Quatsch!“. - Am
Ende ist es doch folgendermaßen: Selbst substituierte
Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro sind irgendwann
aufgebraucht. Was geschieht dann in den Kommunen?
Glauben Sie denn im Ernst, dass Kultur bei einer Erholung der Kommunalfinanzen in gleicher Weise finanziert
wird?
({3})
Es wird folgendermaßen sein: Das örtliche Theater wird
dann mit der Begründung geschlossen, dass die Bundesmittel nicht mehr vorhanden sind.
({4})
Ich will gar nicht auf die Idee „Wo kein Kläger, da
kein Richter, daher kein Verfassungsverstoß“ eingehen.
Man muss doch auch sehen: Es gibt viele sehr gute Initiativen des Bundes, zum Beispiel das Sonderprogramm
Denkmalschutz. Mit 40 Millionen Euro Bundesgeldern
wurden Investitionen in Höhe von insgesamt 80 Millionen Euro ausgelöst. Das ist ein sehr vernünftiges Programm, das den Kommunen hilft.
Was wir tun müssen, ist - die Bundesregierung hat es
aufgegriffen -, tatsächlich an die Wurzel des Übels und
nicht an die Gemeindefinanzierung zu gehen. Es gibt seit
gestern eine Gemeindefinanzkommission, die den gesamten Bereich regeln soll.
({5})
Ihr ist die Kulturfinanzierung ausdrücklich ins Arbeitsbuch geschrieben worden.
({6})
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass wir hier nicht aktionistisches Strohfeuer brauchen, sondern jeder von uns
- das entspricht auch der föderalen Verfassung unserer
Republik - an seiner Stelle für dieses wertvolle Gut Kultur kämpfen muss, wir also hier im Deutschen Bundestag. Das werden wir auch tun.
Herzlichen Dank.
({7})
Herr Kollege Kruse, das war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich gratuliere sehr herzlich und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Thierse
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir heute über den Vorschlag eines Kulturhilfefonds debattieren, reden wir nicht nur über Maßnahmen
gegen die Auswirkungen der internationalen Finanzkrise, sondern auch und gerade über die Folgen der unverantwortlichen Steuerpolitik der schwarz-gelben Bundesregierung.
({0})
Ihre Steuerpolitik führt dazu, dass die Einnahmen der
Kommunen noch stärker zurückgehen als ohnehin schon
durch die Finanzkrise verursacht. So hat das sogenannte
Wachstumsbeschleunigungsgesetz mindestens 1,6 Milliarden Euro Einnahmeausfälle pro Jahr für die Kommunen
zur Folge.
({1})
Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, fasste die Folgen der Krise und
Ihrer Politik vorgestern in der Akademie der Künste in
einem bitteren Bonmot zusammen: Diesmal ist die Krise
so schlimm, dass nicht mehr nur die Kultur betroffen ist.
Schwimmbäder müssen geschlossen werden, Jugendklubs und andere soziale Einrichtungen sind gefährdet.
Kurz: Viele öffentliche Güter stehen auf dem Spiel.
Aber die Kultur - das wissen wir doch - ist mit einem
Anteil von circa 1,8 Prozent an den öffentlichen Haushalten einer der schwächsten Bereiche. Gerade die
Schwächsten treffen die Einsparungen am härtesten.
Auch das ist keine neue Erfahrung. Nordrhein-Westfalen
zum Beispiel trifft die Finanzkrise besonders hart, weil
hier die Kulturfinanzierung zu 80 Prozent durch die Kommunen erfolgt, während im gesamtdeutschen Durchschnitt der kommunale Anteil bei 43 Prozent liegt.
Die Hiobsbotschaften aus dem Kulturbereich reißen
nicht ab. Egal ob Theater, Orchester, Bibliotheken oder
Musikschulen in Nord-, Ost-, West- oder Süddeutschland - überall wird massiv gekürzt, gestrichen und gespart. Prominentes Beispiel dieser Sparpolitik ist das
Wuppertaler Schauspielhaus, das kurz vor dem Aus
steht, sollten die geplanten Kürzungen umgesetzt werden. Beim Schleswig-Holsteinischen Landestheater soll
so stark gespart werden, dass das in Flensburg ansässige
Musiktheater, Kollege Börnsen, massiv gefährdet ist.
Aus Dessau höre ich gerade, dass das dortige Theater gefährdet ist. Auch die geplante, glücklicherweise aber abgewendete Fusion zweier Orchester in Berlin war durch
Einsparpläne motiviert.
Das alles - wir wissen es doch - ist nur die Spitze des
Eisbergs. Bevor eine Stadt ein Theater schließt, sind
viele kleinere Projekte längst weggebrochen. Darauf hat
Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat gestern bei
der Anhörung zur Lage der öffentlichen Kulturfinanzierung im Kulturausschuss hingewiesen. Aber gerade
diese vielen kleinen Projekte machen die kulturelle Vielfalt in Deutschland aus. Sind diese erst einmal weggebrochen, lassen sie sich später schwerlich wiederbeleben.
({2})
Die Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar fasst die Lage
treffend zusammen:
Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundesrepublik weltweit einmalig.
- Wir sind zu Recht darauf stolz. Das dürfte, wenn die Entwicklung so weitergeht, in
zwei Jahren Geschichte sein.
Zum Glück haben viele Kultureinrichtungen großen
Rückhalt in der Bevölkerung, und Einsparungen werden
nicht protestlos hingenommen. Morgen gibt es in Kiel
vor dem Landtag eine Demonstration, bei der 25 000
Unterschriften für den Erhalt des Landesmusiktheaters
übergeben werden. In Berlin haben Staatsminister Bernd
Neumann und Klaus Wowereit von der Fusion zweier
Orchester Abstand genommen, nachdem innerhalb von
nur drei Tagen Tausende Unterschriften gesammelt wurden. In meinem Wahlkreis sollte eine Stadtteilbibliothek
geschlossen werden. Dagegen hat sich massiver Bürgerprotest erhoben.
Was auf dem Spiel steht, hat der eben schon erwähnte
Klaus Staeck an einem Beispiel erläutert: In Anklam,
Mecklenburg-Vorpommern, wird die Bibliothek geschlossen; parallel entsteht eine sogenannte nationale Bibliothek der Rechtsextremisten. Das beschreibt die Gefährlichkeit der Situation, in der wir uns befinden.
({3})
Der Bund ist in der Pflicht, zu helfen, weil er eben einen Teil der Finanzkrise selbst verursacht hat. Der vom
Deutschen Kulturrat vorgeschlagene Kulturnothilfefonds, den die Linken in ihrem Antrag aufgegriffen haben, und das „Soforthilfeprogramm Kultur“ der Grünen
sind ernsthaft zu diskutierende, verständliche Vorschläge, die der Dramatik der Situation geschuldet sind.
In der gestrigen Anhörung des Kulturausschusses allerdings gab es gewichtige Argumente dagegen. Von mehreren Experten wurde eingewendet, dass ein solcher
Nothilfefonds nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Auch die kommunale Selbstverwaltung ist ein so hohes
Gut, dass wir sie immer respektieren sollten. Vor allem
aber - das scheint mir der entscheidende Gesichtspunkt
zu sein - sichern Notmaßnahmen nicht die dauerhafte
Finanzierung und lösen keine strukturellen Probleme.
All das sind ernsthafte Einwände.
Was also ist zu tun? Klaus Hebborn vom Deutschen
Städtetag hat es gestern bei der Anhörung auf den Punkt
gebracht: „Wer etwas für die Kultur tun will, muss etwas
für die kommunalen Finanzen tun.“
({4})
Das ist die Hauptaufgabe. Dieser Hauptaufgabe müssen
sich Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam widmen.
Die gesamte Finanzverfassung in Deutschland gehört auf
den Prüfstand. Deshalb begrüße ich durchaus den gestrigen Beschluss des Bundeskabinetts, eine entsprechende
Kommission einzusetzen. Ich hoffe sehr, dass mit diesem
Beschluss auch die Einsicht verbunden ist, dass die abenteuerliche Steuersenkungspolitik, die massiven, nicht
wiedergutzumachenden Schaden in Deutschland anrichtet, beendet wird. Gerade für den Bereich Kultur ist sie so
gefährlich. Besonders riskant ist der Vorschlag, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Auch das wurde gestern ausdrücklich betont. Das wäre eine Katastrophe für die
Kommunen, warnte der eben erwähnte Klaus Hebborn.
Nicht über die Streichung dieser Gemeindesteuer sollte
die Kommission sprechen, sondern über deren Verstetigung; das ist der Punkt.
({5})
- Ja. - Eine grundsätzliche Diskussion über die Finanzverfassung ist dringend erforderlich. Sie wird aber - wir
wissen es - einige Zeit in Anspruch nehmen.
Deshalb müssen wir doch darüber reden, was kurzfristig zu tun ist. Es bleibt dabei: Um eine Katastrophe
zu verhindern, brauchen wir eine schnelle Verbesserung
der kommunalen Finanzen. Daher fordern wir Sozialdemokraten einen Rettungsschirm für die Kommunen insgesamt. Wir wollen nicht einzelne Politikfelder herauspicken und den Kommunen vorschreiben, wie sie ihre
Mittel verwenden sollen, gewissermaßen das alte, immer
problematische Spiel „Soziales gegen Kultur, Kultur gegen Soziales“. Wir wissen, wer meistens verliert. Die
Kommunen müssen selbst in die Lage versetzt werden,
über ihre Prioritäten zu entscheiden.
Kurzfristig soll der von uns vorgeschlagene Rettungsschirm folgende Forderungen erfüllen: Erstens. Die Einnahmeausfälle durch das sogenannte Wachstumsbeschleunigungsgesetz in Höhe von 1,6 Milliarden Euro
müssen vom Bund vollständig ausgeglichen werden.
({6})
Zweitens. Der Bund soll seinen Anteil an den Kosten
der Unterkunft befristet für zwei Jahre um 3 Prozent
steigern. Das wäre eine wesentliche Entlastung der
Kommunen und läge auch im Interesse der Kultur. In
Zukunft müssen jegliche Steuersenkungspläne zulasten
der Kommunen unterbleiben.
Diese kurzfristigen Maßnahmen, liebe Kolleginnen
und Kollegen, müssen durch mittel- und langfristige
Maßnahmen ergänzt werden. Wir müssen prinzipiell und
grundsätzlich die Kommunen wieder in die Lage versetzen, ihren Aufgaben nachzukommen. Kommunen brauchen solide Finanzen, gerade im Interesse der Kultur.
Dafür machen wir Sozialdemokraten uns stark.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! Bereits im letzten Frühjahr
führte der Kultur- und Medienausschuss des Deutschen
Bundestages ein Expertengespräch über die „Folgen der
Wirtschafts- und Finanzkrise für die Kultur in Deutschland“ durch. Der damalige Ausschussvorsitzende HansJoachim Otto hatte zusammenfassend festgestellt, dass
sich der Kultursektor angesichts der zu erwartenden harReiner Deutschmann
ten Einschnitte in den nächsten Jahren „sturmfest machen“ müsse.
In vielen Kommunen ist der Sturm inzwischen angekommen; die kommunalen Kassen sind leer. Die Kämmerer setzen gerade in den Städten und Gemeinden den
Rotstift besonders hart an der Kultur an, die schon vor
der Krise aufgrund struktureller Defizite Probleme bei
der Aufstellung ihrer Haushalte hatten.
Die Experten des gestrigen Gesprächs im Kultur- und
Medienausschuss zur Lage der öffentlichen Kulturfinanzierung waren sich einig: Ein Kahlschlag im Kulturbereich muss unter allen Umständen vermieden werden.
({0})
Die Frage ist, wie wir diesen Kahlschlag vermeiden können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kulturrat NRW
forderte die Landesregierung in Düsseldorf schon im
Dezember letzten Jahres auf, den eigenen Kulturhaushalt
stabil zu halten und die Kommunen nach dem Vorbild
anderer Bundesländer durch höhere Landeszuweisungen
im Bereich der Kulturförderung zu entlasten. Gefordert
wurde ein zweckgebundener Zuschuss für die Kulturhaushalte der Kommunen durch das Land NordrheinWestfalen. Damit spricht der Kulturrat NRW etwas aus,
was eigentlich für alle ganz selbstverständlich sein
sollte: Die Kulturhoheit liegt laut Grundgesetz bei den
Ländern. Darum müssen die Länder darauf achten, dass
die Kommunen finanziell nicht ausbluten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Kulturrat fordert nun von der Bundesebene die Einrichtung eines Nothilfefonds zur Rettung der Kulturetats
der Kommunen. Die Linke unterstützt diesen Vorschlag,
indem sie 1 Milliarde Euro für diesen Fonds zur Verfügung stellen möchte. 1 Milliarde Euro, so hoch ist fast
der gesamte Kulturetat des Kulturstaatsministers.
({1})
Im Übrigen investiert der BKM in über 80 Fällen mithilfe des Konjunkturpakets II noch weitere 100 Millionen Euro in die kulturelle Infrastruktur. Auch aus dem
10-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für Zukunftsinvestitionen in Ländern und Kommunen wird die
kulturelle Infrastruktur gefördert.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so verlockend die Auflegung eines Nothilfefonds scheinbar ist,
das gestrige Expertengespräch mit den Betroffenen hat
unsere Meinung bestätigt, dass der Bund ein solches
Hilfspaket allein schon aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht auflegen darf.
({2})
Der Bund ist schlicht und ergreifend nicht zuständig.
Kein Experte hat gestern Gegenteiliges behauptet.
({3})
- Das steht wohl infrage.
Aus meiner eigenen Erfahrung als Kommunalpolitiker
weiß ich, dass viele Kommunen bei der Aufstellung der
Haushalte in den vergangenen Jahren durchaus Spielräume hatten. Im Zeitraum von 2003 bis 2008 sind die
Steuereinnahmen der Kommunen um mehr als 50 Prozent, nämlich um 25 Milliarden Euro, gestiegen.
({4})
Dies hätte Spielräume für die Rückzahlung von
Schulden oder für die Finanzierung von Kulturausgaben
eröffnet, könnte man meinen. Die Kulturausgaben haben
aber laut aktuellem Kulturfinanzbericht nur in geringem
Maße von diesem Geldsegen etwas abbekommen. In zu
vielen Kommunen gehört die Kulturförderung leider
nicht zu den Prioritäten. Oft wurden überzogene Infrastrukturmaßnahmen umgesetzt, statt strukturelle Defizite
abzubauen und effiziente Strukturen aufzubauen.
({5})
- Da sieht es gut aus; dazu komme ich gleich.
Jede Kommune muss und soll natürlich für sich selbst
entscheiden. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass
sich die Vernachlässigung der Kultur durch eine verfehlte Prioritätensetzung gerade auf die kulturelle Bildung unserer Bürger negativ auswirken wird, dies insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag
der Grünen geht in Punkt II in die richtige Richtung.
Hier ist die Bundesregierung gestern bereits aktiv geworden. Mit der Einsetzung der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen hat sie einen ersten guten
Schritt zur Sicherung der Finanzen getan.
({6})
Damit wird auch der Kulturförderung geholfen. Die
Kommunen benötigen verlässliche, konjunkturunabhängige Einnahmequellen, um ihre kommunale Selbstverwaltung überhaupt noch ausüben zu können.
Aus eigener Erfahrung kann ich den Verantwortlichen
in den Bundesländern nur empfehlen, sich das Sächsische Kulturraumgesetz zu eigen zu machen, um die Kulturfinanzierung auf solide Füße zu stellen. Kein anderes
Land gibt pro Kopf mehr für die Förderung der Kultur
aus als Sachsen. Das Kulturraumgesetz lebt von einer
Sockelfinanzierung des Freistaates und dem Solidargedanken der kommunalen Ebene.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland begreift sich als Kulturnation. Wir brauchen endlich eine
planungssichere Grundlage für die Kulturfinanzierung.
Deswegen dürfen wir uns nicht damit abfinden, dass die
Kultur als sogenannte freiwillige Aufgabe immer das
erste Opfer von Konjunkturkrisen sein soll.
({7})
Neben der Neustrukturierung der Gemeindefinanzen
muss die Kultur flächendeckend in allen Bundesländern
zur Pflichtaufgabe gemacht werden. Auch deshalb ist die
Verantwortung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz
längst überfällig.
Vielen Dank.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Agnes Krumwiede.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Geld fließt in unserem System immer dorthin,
wo der schnellste Profit erwartet wird: in Unternehmen
und in Banken. Nicht erst seit der Finanz- und Wirtschaftskrise ist dieses Prinzip ins Wanken geraten. Ich
frage mich: Wie ökonomisch ist eigentlich ein menschliches Leben? Was erwirtschaftet eine Bibliothek? Keine
messbaren Werte. Aber die Werte, die von einer Spekulationsblase zerstört werden, sind messbar.
Wie gehen wir in Zukunft also mit dem Geld um? Setzen wir weiterhin ausschließlich auf alte Strukturen oder
endlich auf eine nachhaltige Zukunft unter anderen, ganz
neuen Vorzeichen? Der Deutschlandfonds stellt Milliarden als Überbrückung für mittelständische Unternehmen
zur Verfügung, die aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise in ihrer Existenz bedroht sind. Eine Bibliothek oder ein kleines Theater können nicht ohne Weiteres ihre Wirtschaftlichkeit nachweisen, haben aber eine
ebenso große Bedeutung für die Infrastruktur einer
Stadt.
({0})
Für Hotelübernachtungen wurde die Mehrwertsteuer
verringert, aber die Gäste werden ausbleiben, wenn
nichts mehr da ist, weshalb sich eine Reise lohnt. Unsere
tagsüber hübsch anzusehenden Städte werden abends tot
sein, weil keine Kleinkunstbühne, kein Programmkino,
kein Theater oder Festival am Leben erhalten werden
konnten. Billigere Hotelübernachtungen allein erhöhen
nicht die Attraktivität einer Stadt als Wirtschaftsstandort.
({1})
Am Neubau von kulturellen Eliteobjekten mangelt es
in Deutschland nicht. In Köln soll für 360 Millionen
Euro ein neues Schauspielhaus gebaut werden, während
im gleichen Atemzug der Kulturetat um 30 Prozent gestrichen wurde. Die Frage ist doch: Was passiert, nachdem Prominente und Politiker die neu aus dem Boden
gestampften Kulturstätten medienwirksam eingeweiht
haben? Denn der finanzielle Aufwand, diese Bauhüllen
der Kultur am Leben zu erhalten, ist ungleich höher als
die Baukosten. Ein Theater ohne Ensemble ist nur eine
leere Hülle.
({2})
Prunkbauten werden das Kultursterben nicht kaschieren können und auch nicht Ihr Leugnen der Realität,
Herr Kruse. Kein Bücherbus in ländlichen Gebieten, ein
geschlossenes Programmkino oder ein fehlendes soziokulturelles Zentrum bedeuten weniger Bildung, weniger
Information und einen Verlust an sozialer und kultureller
Teilhabe. Das Schlimme ist: Betroffen sind vor allem
jene, die sowieso schon zu den Verlierern der Krise zählen.
Aber nicht nur sie sind die Leidtragenden. Es wird
gravierende Einschnitte geben an den Gehältern und bei
den festen Stellen für Orchestermusiker oder Schauspieler, die zum Großteil bereits jetzt im Niedriglohnsektor
arbeiten. Bestehende kulturelle Strukturen zu bewahren,
heißt immer auch, Arbeitsplätze zu erhalten.
Unser Vorschlag, die Prüfung eines KfW-Sonderprogramms Kulturförderung, könnte eine Symptomkur für
unser erkranktes System bedeuten.
Frau Kollegin, die Kollegin Heinen-Esser würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Ja.
Verehrte Frau Kollegin, ich danke Ihnen für das Kölner Beispiel, das Sie erwähnt haben. Ein kurzer Hinweis,
bevor ich zur Frage komme: Es ist noch nicht entschieden, ob das Schauspielhaus neu gebaut oder saniert wird.
Das wird erst in den nächsten Wochen entschieden, es
macht kostenmäßig auch keinen großen Unterschied. Es
ist allerdings notwendig, damit das Gebäude überhaupt
weiterhin bespielbar ist.
Sie haben die 30-prozentige Kürzung der Kulturausgaben in Köln kritisiert. Meine Frage ist: Ist Ihnen bewusst, dass diese Kürzung eine Entscheidung des rotgrün dominierten Stadtrates in Köln ist?
({0})
Ja, das ändert nichts an meiner grundsätzlichen Kritik.
({0})
Ich bin in erster Linie Kulturpolitikerin, deswegen habe
ich das Beispiel gewählt. Es gibt viele weitere Beispiele.
Beispielsweise soll das Pergamonmuseum in Berlin für
400 Millionen Euro erweitert werden.
({1})
- Ja und? Aber nicht unter Grün.
({2})
Es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass in Deutschland Millionen in Gebäude investiert werden, bei denen
kein Mensch weiß, wovon sie eigentlich bespielt werden
sollen.
({3})
- Die steht doch schon.
Ich würde jetzt gerne mit meiner Rede fortfahren. Das
Expertengespräch gestern im Kulturausschuss hat gezeigt, dass akuter Handlungsbedarf besteht. Unser System ist erkrankt. Unzählige kommunale Haushalte haben
keinen Finanzspielraum mehr für die Kultur und andere
Bereiche der freiwilligen Leistungen. Wenn die Regierung nicht umgehend handelt, riskieren wir sehenden
Auges, dass sich unsere Kulturlandschaft in ein Ruinenfeld verwandelt.
Wir fordern die Regierung auf, unseren Vorschlag zu
prüfen und Überbrückungsmaßnahmen für die Substanzerhaltung kultureller Strukturen in die Tat umzusetzen.
Wir werden nicht aufgeben. Eine Fortsetzung unserer
Forderungen und Vorschläge zur Kulturrettung folgt.
Wir werden hier unermüdlich stehen und appellieren:
({4})
Geben Sie den Kommunen ihre Selbstverwaltung zurück! Leiten Sie eine Reform der Gemeindefinanzierung
ein!
({5})
Lassen Sie nicht zu, dass unsere Kulturlandschaft verödet! Wir müssen dafür sorgen, dass für alle Menschen,
von jung bis alt, von gering- bis besserverdienend, in
Stadt und Land unser kulturelles Erbe und Orte der Fantasie erhalten bleiben.
Was wir für die Kultur tun können, ist untrennbar mit
einem Bewusstsein dafür verbunden, was die Kultur
nachhaltig für uns tut. Sie rüttelt uns auf aus festgefahrenen Denkstrukturen und bereichert unsere emotionale
Erlebniswelt. Kultur befriedigt das Bedürfnis des Menschen, dass nicht ein Tag ist wie der andere.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat zu diesem
Themenkreis gestern ein Expertengespräch durchgeführt, in dem natürlich auch die Forderungen, die heute
hier als Anträge auf dem Tisch liegen, eine Rolle gespielt haben. Das haben wir nicht das erste Mal getan.
Als Kulturpolitiker des Bundes beschäftigen wir uns natürlich regelmäßig mit der Länderebene und der kommunalen Ebene. Trotz alledem haben in unserer Kulturnation Deutschland die drei Ebenen Bund, Länder und
Gemeinden ihre Aufgaben, und die kann man nur bis zu
einem gewissen Punkt vermischen.
Wenn ich mir anschaue, wo die Kulturnation
Deutschland trotz aller Schwierigkeiten im Jahr 2010
steht, dann glaube ich - ich hoffe, dass wir uns darüber
einig sind -, dass wir auf allen Ebenen in Europa und in
der Welt keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Manches der Bilder, die hier schnell an die Wand geworfen
wurden, ist ein ganzes Stück zu düster. Wir sollten nicht
alles kleinreden.
({0})
Auf Bundesebene erbringen wir in Form des Haushaltes des Staatsministers und in Form der auswärtigen Kulturpolitik einen nicht übergroßen, aber unseren Aufgaben entsprechend sehr ordentlichen Beitrag. Wenn man
sich die Bilanz der Kulturpolitik der letzten Jahre anschaut,
({1})
die ein ganzes Stück weit die Bilanz der vormaligen
Großen Koalition ist, stellt man fest, dass sich diese Bilanz sehen lassen kann,
({2})
und zwar sowohl für den Bereich der auswärtigen Kulturpolitik auf der einen Seite, aber auch für den Bereich
von Staatsminister Bernd Neumann auf der anderen
Seite. Wir verzeichnen beim Haushalt des Staatsministers seit fünf Jahren einen Aufwuchs. Das ist eine Sache,
die ich nicht kleingeredet wissen möchte.
({3})
Nun haben wir derzeit zweifellos auf allen Ebenen
eine sehr schwierige Finanzierungssituation. Diese Situation ist nicht allein in Deutschland schwierig, sondern
sie ist in Europa und der ganzen Welt schwierig. Das hat
mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun.
({4})
Bei allem Verständnis dafür, dass die Opposition das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz hier anführt, ist anzumerken, dass die Ausgaben mit den Auswirkungen des
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes im Verhältnis stehen, da mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz auch
eine Wachstumsbeschleunigung und damit wiederum
Einnahmevorstellungen verbunden sind.
({5})
Da steht so viel gegen so viel. Nur damit wir die Größenordnung kennen: Da steht gut 1 Milliarde einem zweistelligen Milliardenbetrag auf allen Ebenen gegenüber.
({6})
Die Antwort des Bundes, die Antwort der christlichliberalen Koalition in der Kulturpolitik ist relativ einfach. Man kann sie im Koalitionsvertrag nachlesen und
findet sie in der aktuellen Haushaltsdebatte. Sie lautet:
Der Bund wird seine Ausgaben für Kultur nicht kürzen,
sondern wiederum erhöhen.
({7})
Kollege Kruse hat, weil er Hamburger ist, das Beispiel Hamburg angesprochen. Kollege Deutschmann
kommt wie ich aus Sachsen und hat das sächsische Beispiel angesprochen. Die Lage ist viel differenzierter, als
sie hier gezeichnet wird. Sie hat natürlich - das hat
Rüdiger Kruse schon angesprochen - auch immer etwas
mit den Menschen zu tun, die in den Ländern und Kommunen politische Verantwortung tragen.
({8})
Die Haushalte sind teilweise durchaus vergleichbar;
nicht in jedem Falle, aber es gibt vergleichbare Haushalte. Politiker in Stadt A oder in Land B treffen unterschiedliche Entscheidungen. Jeder ist ein Stück weit für
die Entscheidungen, die er trifft, verantwortlich.
Wir haben hier jetzt konkrete Forderungen auf der Tagesordnung. Ich will nur noch einige wenige Sätze dazu
sagen; ich habe gerade einen Blick auf meine verbleibende Redezeit geworfen, Frau Präsidentin. Die Verfassungsrechtler sagen uns einhellig: Das, was die Linken
hier vorgelegt haben, ist verfassungswidrig.
({9})
Ich sage ganz offen: Auch Sie sind Teil dieses obersten
Verfassungsorgans Deutscher Bundestag. Da erwarte ich
etwas mehr Verantwortungsbewusstsein, etwas mehr seriöse Politik. Legen Sie wenigstens den Grundgesetzänderungsantrag gleich daneben, damit es seriös wird.
({10})
So ist es jedenfalls nicht seriös. Sie stellen politische
Forderungen auf, die - das sagt die erklärte Mehrheit der
Verfassungsrechtler - verfassungswidrig sind.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wir sind - so
würde ich es beschreiben - in der chemischen Unterabteilung des Projektes „Jugend forscht“: Wie viel heiße
Luft passt gepresst in zwei Seiten Antrag? Das Ganze
formulieren wir so, dass es möglichst emotional und betroffen klingt. Ich will Sie in Ihrer Betroffenheit gerne
unterstützen. Aber nach der gestrigen Anhörung wäre zu
erwarten gewesen - Kollege Wanderwitz hat das richtig
betont -, dass dieser Antrag zurückgezogen wird.
({0})
Insofern bleibt aus der heutigen Debatte nichts anderes übrig als die Forderung: Irgendwie möchten wir irgendetwas doch ganz gerne. Glauben Sie uns - man
kann nicht oft genug darauf hinweisen -: Einer Nachhilfe in Hilfestellung und Hilfeleistung bedarf es nicht.
Wenn wir die letzten Programme kurz betrachten, sehen
wir, dass Mittel aus dem Konjunkturpaket I und dem
Konjunkturpaket II direkt in kulturelle Baulichkeiten, in
kulturelle Infrastruktur geflossen sind. Das hat deutlich
gezeigt, dass es funktionieren kann und dass der Bund
tätige Hilfe vor Ort leistet, ohne verfassungswidrig handeln zu müssen, so wie Sie es fordern.
({1})
Beim Zukunftsinvestitionsprogramm für Länder und
Kommunen hat der Bund verfassungsgemäß direkt in die
Infrastruktur vor Ort investiert.
Vielleicht noch ein persönliches Wort zur Kulturstiftung des Bundes, für die man nicht dankbar genug sein
kann: Allein in Bayern - mein Geburtsort ist Nürnberg;
Frau Krumwiede, Sie wissen, wovon ich rede; vielleicht
lassen Sie mich einen Satz zum Thema Nürnberg sagen hat man seit 2002 durch die Hilfe des Bundes
8 Millionen Euro direkt in 70 Projekte vor Ort investiert.
Strukturwandel ist dabei ein Stichwort. Sie kennen das
vielleicht: AEG-Gelände, Aufgabe „struktureller Wandel“. Es war eine Initiative des Bundes, dort ein Theaterprojekt vor Ort zu unterstützen.
Es geht, wenn es richtig gemacht wird, und der Bund
tut es auch. An dieser Stelle zu sagen, der Bund müsse
jetzt aktive Hilfe vor Ort leisten, kommt leider etwas zu
spät und ist aus meiner Sicht ein Fingerzeig in die falsche Richtung. Deshalb kann ich nur sagen: Kämpfen
Sie mit uns gemeinsam, diese Projekte weiterhin zu unterstützen. Dann gehen wir in die richtige Richtung.
Ich möchte nicht in die jeweilige Vita schauen, um zu
sehen, wie viel kommunalpolitische Erfahrung hier
wirklich gegeben ist. Ich war - ich darf das betonen 13 Jahre kulturpolitischer Sprecher meiner Fraktion im
Nürnberger Stadtrat. Ich glaube, zu wissen, wie schwierig es manchmal ist, Kulturpolitik vor Ort zu organisieren. Der Gürtel der Kommunen ist extrem eng. Sie geben
sogar Zeichen in die Richtung: Wenn der Bund einen
Rettungsschirm zur Verfügung stellt, dann kann sich die
Kommune auf andere Institutionen und andere Einrichtungen stützen.
Die Aufforderung, die Ausgaben und Investitionen etwas zurückzuziehen, ist ein sehr gefährliches Vorhaben.
Frau Kollegin Krumwiede, tun Sie mir einen Gefallen.
Ich bitte Sie im Interesse der Kommunen und der Städte
in Deutschland, die Tempel unserer Kultur und die Theater nicht als Bauhüllen zu bezeichnen.
({2})
Das ist genau der Ausgang der ideologischen Konfrontation, die wir hier nicht brauchen.
({3})
Ich möchte generell sagen: Ich bitte Sie, das nicht zu
machen. Denn damit tun Sie auch anderen Einrichtungen
keinen Gefallen, sondern erweisen der Kultur insgesamt
einen Bärendienst.
({4})
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir einbinden,
Brücken bauen und darauf achten, Private mitzunehmen,
damit die kulturelle Struktur vor Ort erhalten bleibt. Was
wir nicht brauchen, ist der Hinweis darauf, dass wir die
Kulturpolitik in den Kommunen mit wie auch immer gearteten Forderungen vor eine Zwangsverwaltung stellen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksache 17/552 und 17/789 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes
- Drucksache 17/758 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Bei oberflächlicher Betrachtung kann
man zu der Meinung kommen, dass die Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes nichts Spektakuläres enthält. Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedoch
einige positive Aspekte, die näher zu beleuchten sind.
Das Fachliche in Kürze:
Erstens. Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung
werden Teil der Cross-Compliance-Verpflichtungen.
Noch-nicht-Insidern will ich dieses neudeutsche Wort
erklären. Es bedeutet Überkreuzverpflichtung bzw. so
viel wie: „Ich gebe dir, aber dafür musst du mir …“
Zweitens. Die Umstrukturierungsbeihilfen sowie Rodungsprämien im Weinsektor werden in den Anwendungsbereich des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes einbezogen.
Drittens. Nach EU-Recht ist vorgeschrieben, dass der
Anteil von Dauergrünland an der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche nicht erheblich abnehmen darf.
Was ist nun das Wesentliche an der Neuregelung? Besonders wichtig ist die Botschaft, dass für die Beteiligten
Vereinfachungen und neue Perspektiven anstelle von
neuen Belastungen entstehen. Wir erreichen eine Kontinuität des Gesetzes. Wie versprochen werden die EUVorgaben eins zu eins umgesetzt. Im Hinblick auf die gemeinsame Agrarpolitik nach 2013 setzen wir mit der Zustimmung zum Gesetzentwurf ein deutliches, positives
Zeichen für die anstehenden Verhandlungen.
Lassen Sie mich das kurz erläutern: Direktzahlungsverpflichtungen in Verbindung mit Cross Compliance
bieten für den Staat ein Steuerungsinstrument für die
Landwirtschaft. Dies ist im Hinblick auf die elementaren
Herausforderungen der Zukunft ganz besonders wertvoll
und wichtig.
({0})
Das heißt, die Landwirtschaft muss auch zukünftig die
Ernährung mit sicheren, qualitativ hochwertigen und gesunden Lebensmitteln gewährleisten können.
({1})
Die Landwirtschaft pflegt nach den Vorgaben von Cross
Compliance unsere allseits geliebte, vielfältige Kulturlandschaft. Dies ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Ökonomie der ländlichen Räume und ein wichtiger Beitrag
zur Ressourcenschonung, auch mit Blick auf die erneuerbaren Energien.
({2})
Genauso wichtig wie der Erhalt von Direktzahlungen
und Cross Compliance ist für uns der Bürokratieabbau.
Auch wenn in der vergangenen Wahlperiode erste Erfolge bei der Entbürokratisierung in diesem Bereich erzielt wurden, zum Beispiel die Einführung praxisnaher
Bagatellregelungen, bleibt es ein ständiger Auftrag für
die Politik, weitere Vereinfachungen zu erreichen.
Ein Pferdefuß des bestehenden Gesetzes ist zum Beispiel die Regelung zum Erosionsschutzkataster, nicht
nur weil die Wogen - wohl nicht zu Unrecht - derzeit
hochgehen, sondern weil das richtige Maß in der Tat
noch nicht gefunden scheint. Deshalb sollten wir dieses
Thema in den Ausschussberatungen noch einmal aufgreifen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße
es ausdrücklich, dass Frau Bundesministerin Ilse Aigner
immer wieder den Wert der Landwirtschaft für unsere
Gesellschaft betont.
({3})
Diese Botschaft muss verstärkt in die Öffentlichkeit getragen werden.
({4})
Unsere Landwirtschaft erfüllt nicht zuletzt wegen
Cross Compliance hohe Standards: beim Umweltschutz,
beim Tierschutz und bei der Lebensmittelsicherheit.
Dies wirkt sich, wie aktuell veröffentlicht wurde, beispielsweise dahin gehend aus, dass Pflanzenschutzmittelrückstände in Lebensmitteln bei uns trotz sehr intensiver Kontrollen fast nicht mehr oder zumindest deutlich
seltener die zulässigen Höchstwerte übersteigen als in
Nicht-EU-Ländern.
({5})
Direktzahlungen sind, ebenso wie die gesamte Förderung der Landwirtschaft, eine Honorierung der Leistung
für die Gesellschaft und nicht zuletzt auch eine Anerkennung dafür, dass wir deutschen Bürger uns sehr kostengünstig ernähren können. Hinzu kommt der Zugewinn
für die Ökologie, die Wirtschaftskraft und die Wertschöpfung für den ländlichen Raum.
Wenn man bedenkt, dass die Förderung der Landwirtschaft in der EU im Jahr 2008 gerade einmal 0,5 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts betragen hat, muss doch uns
allen klar werden, dass wir gemeinsam - hier appelliere
ich besonders an die Kolleginnen und Kollegen aus den
Oppositionsfraktionen - und möglichst geschlossen auf
eine Fortführung der Gemeinsamen Agrarpolitik mit Direktzahlungen aus der ersten Säule und mit einer gut ausgestatteten zweiten Säule hinarbeiten sollten.
Danke schön.
({6})
Herr Kollege Gerig, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen sehr herzlich, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
({0})
Nun hat die Kollegin Waltraud Wolff für die SPDFraktion das Wort.
({1})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Als dieses Gesetz in unserer
Fraktion auf der Tagesordnung stand, sagte unser Erster
Parlamentarischer Geschäftsführer: Das hört sich aber
sehr kompliziert an. Erklär doch bitte mal! Dann habe
ich erklärt, dass es hier um die technische Umsetzung
von EU-Recht in deutsches Recht geht.
Ich frage mich, meine Damen und Herren, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen: Hat die
Koalition in dieser Zeit nichts Besseres zu tun, als über
eine technische Umsetzung zu debattieren? Die Standards sind inhaltlich längst im jeweiligen deutschen
Fachrecht geregelt. Da muss ich sagen: Meisterhaft, nahezu heldenhaft, wie sich diese Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen hier zeigen!
({0})
Die parlamentarischen Beratungen im Plenum sind
das Schaufenster des Bundestages, und ich begrüße ausdrücklich, dass wir unsere Debatten öffentlich führen.
Der politisch interessierte Bürger wird sich bei solch einer Debatte aber fragen: Was soll das, wenn im deutschen Fachrecht im Grunde genommen alles schon geregelt ist?
Nun gut, meine Damen und Herren, beschäftigen wir
uns damit. Die Einhaltung der Genehmigungsverfahren
für die Verwendung von Wasser zur Bewässerung - falls
entsprechende Verfahren vorgesehen sind - ab 2010 und
der Standard zur Schaffung von Pufferzonen entlang von
Wasserläufen gehören nunmehr ebenfalls zur Erhaltung
landwirtschaftlicher Flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand.
Ich sage es nicht gerne noch einmal, aber ich muss es
sagen: Es wird deutlich, dass weder die Regierung noch
die Koalition Sinn in vernünftiger Arbeit sieht.
In Art. 6 Abs. 2 der EG-Verordnung heißt es:
Die nicht zu den neuen Mitgliedstaaten zählenden
Mitgliedstaaten
- so auch Deutschland stellen sicher, dass Flächen, die zu dem für die Beihilfeanträge „Flächen“ für 2003 vorgesehenen Zeitpunkt als Dauergrünland genutzt wurden, als Dauergrünland erhalten bleiben.
({1})
Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, hätten wir intensiven Beratungsbedarf; aber den greift weder die Bundesregierung noch
die Koalition auf.
({2})
Am Montag dieser Woche hatten wir im Ausschuss
eine Anhörung zum Thema „Klimaschutz und Landwirtschaft“. Fakt ist, dass die Landwirtschaft nicht nur betroffen ist, sondern mit circa 128 Megatonnen - das sind
13 Prozent - an den Treibhausgasemissionen beteiligt
ist.
Wohl wissend, dass der Umbruch von Dauergrünland
äußerst problematisch ist, gilt es, in allen Bundesländern
darauf zu achten, dass der Verlust von Grünland die
5-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Nach Zahlen des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz vom November 2009 verzeichnen aktuell drei Bundesländer, nämlich Schleswig-Holstein,
Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, seit
2003 einen Verlust von Grünland, der deutlich über
5 Prozent liegt. Zwei weitere Länder - Rheinland-Pfalz
Waltraud Wolff ({3})
und Nordrhein-Westfalen - stehen knapp an der 5-Prozent-Grenze. Die Analyse agrarstatistischer Daten zeigt,
dass im Zeitraum von 2005 bis 2007 allein in vier Bundesländern - das muss man sich einmal deutlich machen über 6 000 Hektar Moorboden in Ackerflächen umgewandelt wurden.
Professor Heißenhuber von der TU München, der auf
unsere Einladung hin an der Anhörung teilnahm, belegte
dort, dass 30 Prozent der CO2-Emissionen aus der Bewirtschaftung von Mooren stammen. 8 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Deutschland sind damit für
sage und schreibe 30 Prozent der CO2-Emissionen der
gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche in
Deutschland verantwortlich.
Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Klimawandels wäre es angemessen, wenn die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen hier einen
Schwerpunkt setzten, indem sie dem Umbruch von
Mooren Einhalt gebieten würden und einen Fahrplan zur
Vermeidung von Treibhausgasemissionen entwickeln
würden, um die Landwirtschaft aus der Kritik zu bekommen und den Bauern in diesen Gebieten Möglichkeiten
zur weiteren Arbeit zu eröffnen. Stattdessen spricht sie
über die technische Umsetzung von EU-Recht in deutsches Recht.
({4})
Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen,
ich bitte Sie: Glauben Sie doch nicht, dass Sie mit dem
Sieg bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst Ihr
Ziel schon erreicht haben.
Danke schön.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Waltraud Wolff, natürlich wollen wir
jetzt auch noch ordentlich regieren; denn das ist das Ziel
gewesen, das mit dem Gewinn der Bundestagswahl verbunden war. Das wollen wir jetzt machen, und damit
steigen wir ein.
({0})
Ich darf einmal ganz klar sagen: Ich bitte auch die
Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite des Hauses ganz herzlich, nachzulesen, was in dem Gesetzentwurf unter „Problem und Ziel“ steht. Lesen Sie sich
doch einmal durch, weshalb wir das Ganze machen. Wir
sorgen jetzt für die technische Umsetzung, weil das der
schnellstmögliche Weg ist, EU-Gesetze in deutsches
Fachrecht umzusetzen. Ich glaube, das ist eine sinnvolle
Sache.
({1})
Nehmen Sie doch bitte auch einmal zur Kenntnis: Wir
sind jetzt nicht in der Kernzeit am Donnerstag um 9 Uhr,
sondern es ist Donnerstagabend. Ich glaube, es ist richtig, auch das Thema Landwirtschaft hier im Plenum des
Deutschen Bundestages zu diskutieren.
({2})
Denken wir doch bitte auch einmal daran: Die Hälfte
der Menschen in Deutschland lebt in ländlichen Räumen
oder in kleineren Städten. Diese Menschen brauchen die
Aufmerksamkeit des Deutschen Bundestages ganz genauso wie die Menschen, die in größeren Städten leben.
({3})
Deswegen ist es richtig, dass wir einen solchen Gesetzentwurf zügig verabschieden und dass wir ihn auch im
Deutschen Bundestag debattieren. Ich glaube, das ist ein
richtiger Weg.
({4})
Wir ändern hier das Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz. Ein Kollege hat mir gesagt: Das alles soll gar
nicht kompliziert sein, obwohl doch allein die Gesetzesüberschrift sieben Zeilen lang ist? Es ist ja das Problem
in der Agrarpolitik, dass Texte immer ein bisschen länger sind als in anderen Politikfeldern. Es handelt sich
aber um nichts weiter als um ein Änderungsgesetz zum
Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz.
In diesem Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz
aus dem Jahre 2004 ist festgestellt - mein Kollege Gerig
hat das in seiner Jungfernrede auch ausgeführt -, dass
Direktzahlungen nur dann erfolgen, wenn die verbindlichen Vorschriften im Bereich des Umweltschutzes, im
Bereich der Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, im
Bereich der Tiergesundheit und des Tierschutzes und im
Bereich der Erhaltung landwirtschaftlicher Flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand sowie die verbindlichen Vorschriften der Düngeverordnung und der Pflanzenschutzmittelverordnung
eingehalten werden.
Ich erinnere hier auch gerne einmal an die Anhörung
am Montag, bei der es immer wieder um die Düngemittelanwendungsverordnung ging. Wir müssen schon feststellen, dass sie wohl doch sehr viel besser eingehalten
wird, als dort dargestellt wurde; denn sonst würden die
Landwirte ihre Direktzahlungen nicht bekommen.
({5})
Dieses Gesetz von 2004 soll heute um die Bereiche
Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung erweitert
bzw. ergänzt werden. Ich glaube, das ist sehr richtig.
Es ist ja richtig: Wir befinden uns sozusagen am Vorabend der Diskussion über die Gemeinsame Agrarpolitik. Wir als FDP stehen dafür, dass wir eine starke erste
Säule haben wollen. Wir müssen sehen - das ist in der
Ausschussdebatte sehr deutlich geworden -, dass die
neuen Beitrittsländer gerne ein Mehr vom Kuchen des
Agrarhaushaltes haben wollen, was wir ihnen nicht hundertprozentig verwehren können, wie ich meine.
Vor diesem Hintergrund sagen wir: Wir als FDP wollen keine Prämiengleichheit. Wir sagen aber auch: Wir
werden das nicht hundertprozentig verwehren können.
Insofern sind wir mit Staatssekretär Müller einvernehmlich der Meinung, dass wir damit rechnen müssen, dass
der Umfang der Direktzahlungen für Landwirte abnehmen wird. Das ist so, und das müssen wir den Landwirten sagen. Wir müssen ihnen gleichzeitig aber auch Hilfen geben, damit sie in dieser schwierigen Situation
bestehen können.
({6})
„Schwierige Situation“ heißt, dass wir die starken
Landwirte weiter stärken wollen und dass wir denjenigen, die sich nicht am Markt behaupten können, Ausstiegsszenarien eröffnen müssen. Das ist die Philosophie
der FDP, die wir durchsetzen wollen. Wir haben ja gemeinsam beschlossen, die GEFA zu unterstützen und damit auch die Exportförderung weiter zu unterstützen. Ich
glaube, das ist eine weitere wichtige Maßnahme.
Ein weiterer Punkt ist für uns als FDP ganz entscheidend: Wir wollen Marktregulierungsmechanismen, die
sich nicht bewährt haben, nicht wieder einführen. Wir
stehen für den Ausstieg aus der Milchquote. Ich glaube,
dass es gut ist, dass wir damit in 2015 durch sind.
({7})
- Kollegin Tackmann, Sie können ruhig auch einmal zuhören. Das wäre nicht schlecht.
({8})
Wir stehen auch dazu, dass das Mittel der Intervention nicht mehr in dem Umfang eingesetzt wird wie bisher. Allein 10 Prozent des Agrarhaushaltes werden für
die Intervention aufgewendet. Wir sind der Meinung,
dass wir dies zurückfahren müssen. Denn überall dort,
wo Intervention zum Einsatz gekommen ist - das kann
ich als Schleswig-Holsteinerin gut mit Beispielen belegen -, müssen wir feststellen, dass in der Folge die
Struktur der Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte
sich verschlechtert hat. Wir brauchen aber gute Strukturen für unsere Betriebe. Deswegen finden wir es richtig,
die Mittel im Bereich der Intervention zurückzufahren.
Wir wollen auch die Exportförderung gerade in die
Länder, die Entwicklungshilfe beziehen, zurückfahren,
weil wir der Meinung sind, dass wir dort nicht in die
Märkte eingreifen dürfen. Ich glaube, das ist ein sehr
wichtiges Thema. Wer weltweite Ernährungssicherheit
will, der muss den Ländern gestatten, dass sie ihre eigenen Märkte entwickeln, und darf nicht mit deutschen
Produkten, subventioniert vom deutschen Steuerzahler,
dort eingreifen und dafür Mittel einsetzen. Das halten
wir nicht für richtig.
({9})
Die Welternährung ist ein sehr wichtiges Thema, dem
wir uns als ein Gunstland der landwirtschaftlichen Produktion, wie ich meine, nicht verschließen können. Ich
glaube, dass wir eine gemeinsame ethische Verpflichtung haben, für die Menschen der Dritten Welt mitzudenken und sie darin zu unterstützen, sich selbst ernähren zu können. Das ist jedenfalls für uns als Liberale ein
sehr wichtiges Thema.
({10})
Kollege Gerig hatte die Frage der Erosionskataster
angesprochen. Dazu müssen wir noch einige Hausaufgaben machen. Das werden wir im Rahmen der Gesetzesberatungen tun.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Nun hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hoffe, ich darf jetzt reden, Frau Happach-Kasan.
({0})
- Alles klar.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eigentlich
nur EU-Recht umgesetzt; Frau Kollegin hat schon darauf
hingewiesen. Aber weil es um ein wichtiges Ziel geht,
lohnt es sich, denke ich, darüber zu reden.
Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung sollen in
den Sanktionsrahmen der sogenannten anderweitigen
Verpflichtungen oder auch Cross Compliance aufgenommen werden. Das heißt übersetzt: Wer Agrarförderung
bekommt, muss mit gezielten Kontrollen zur Einhaltung
von Gewässerschutzauflagen rechnen. Bei Verstößen erfolgen Abzüge oder auch die Streichung der Agrarförderung.
Für die Agrarbetriebe ist das eine wichtige Konsequenz dieses Gesetzentwurfes. Übrigens wurde das Ziel
bereits im Rahmen des Gesundheitschecks der EU 2008
vorgegeben.
Wer also gegen geltendes Wasserrecht verstößt, wird
das demnächst schmerzlich auf dem Konto spüren. Außerdem erhöht sich das Risiko, erwischt zu werden. Damit wird der Gewässerschutz aus unserer Sicht wirksamer durchgesetzt; und das ist auch gut so. Denn wer zum
Beispiel zu nah an den Vorfluter heranpflügt oder wer
unnötige Stoffeinträge ins Wasser zu verantworten hat,
kann nicht auf die volle Unterstützung der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler rechnen.
So wird Umweltrecht an einer besonders wichtigen
Stelle besser und sensibler umgesetzt. Denn Wasser ist
neben dem Boden die kostbarste Ressource in der Landwirtschaft.
({1})
Der Schutz des Grundwassers, der Gewässer und der
Meere ist gesellschaftlicher Konsens in Europa. In den
vergangenen Jahrzehnten hat sich auf diesem Gebiet einiges getan. Durch verbesserten technischen Gewässerschutz, zum Beispiel Kläranlagen, sind die Flüsse und
Bäche sauberer geworden.
Damit wächst aber gleichzeitig die Bedeutung der sogenannten diffusen Eintragsquellen von Gewässern.
Dazu gehören Einträge aus der Landwirtschaft beispielsweise durch Düngemittel.
Landwirtschaftsbetriebe haben daher aus meiner
Sicht eine gewachsene Verantwortung für den Schutz
unserer Gewässer. Das gilt besonders für die Stickstoffund die Phosphatbelastungen aus der Düngung. So
stammten bei uns zum Beispiel zwischen 2003 und 2007
über 70 Prozent der Stickstoff- und über 50 Prozent der
Phosphoreinträge in die Oberflächengewässer aus der
Landwirtschaft. Aktuelle Daten zeigen, dass sich die Situation nicht wesentlich verbessert hat.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch anmerken, dass wir einen fairen Umgang mit der Landwirtschaft pflegen sollten. Mich wundert schon, dass in anderen Wirtschaftsbereichen weniger genau hingeschaut
wird. Selbst massive Verschmutzungen von Oberflächengewässern werden dort sogar mit Ausnahmegenehmigungen geduldet. Die Versalzung der Werra hat gerade erst bundesweit für Schlagzeilen gesorgt.
Aber auch die Belastungen der Wasserhaushalte
durch den Braunkohleabbau wie auch seine Privilegierung durch die Freistellung vom Wassernutzungsentgelt
gehören auf den Prüfstand. Wenn konsequent gegen die
Belastung unserer Gewässer vorgegangen werden soll
- das befürworten wir ausdrücklich -, dann nicht mit
zweierlei Maß.
({2})
Das Fachrecht zum Gewässerschutz selbst ist in
Deutschland durchaus ausreichend geregelt: Düngeverordnung und Wasserhaushaltsgesetz bilden den gesetzlichen Rahmen, mit dem auch die Einträge durch die
Landwirtschaft reduziert werden können. Sie müssen
nur konsequent angewandt werden. Das wiederum ist in
vielen Fällen Ländersache. Ich denke, dort sollten wir
genauer hinschauen, wie das Recht umgesetzt wird.
Wenn das nicht ausreicht, muss nachjustiert werden.
Aus meiner Sicht bietet die Aufnahme des Gewässerschutzes in die Kontrollmechanismen bei der Vergabe
von Agrarfördermitteln die Chance einer wirksamen
Durchsetzung des Fachrechtes. Der Protest des Bauernverbandes war aus meiner Sicht allzu kurzsichtig; denn
der Gewässerschutz sollte gerade auch im Interesse von
Landwirtschaftsbetrieben sein. Deshalb sollten wir, anstatt zu mauern, gemeinsam dafür sorgen, dass der Gewässerschutz überall wirksam durchgesetzt wird. Dann
müssen auch keine Mittel gestrichen werden.
({3})
Die Auflagen sind für die Betriebe durchaus wirtschaftlich leistbar. Das Umweltbundesamt hat in einer
soeben erschienenen Studie bewiesen: Gewässerschutz
in der Landwirtschaft ist durchaus ohne Gefährdung der
wirtschaftlichen Erfolge der Landwirtschaftsbetriebe
möglich. Das hilft dann der Umwelt und schont - kurzfristig und langfristig - die Geldbeutel der Landwirtinnen und Landwirte, die gerade sehr unter Druck stehen.
In Brandenburg wurde die Entwicklung eines Moorschutzprogramms explizit in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Das halte ich für einen sehr wichtigen
Beitrag zum Gewässerschutz. Wir werden den Gewässerschutz konsequent weiterverfolgen.
Vielen Dank.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die EU hat den Geltungsbereich von Cross Compliance
geringfügig ausgeweitet. Die Bundesregierung setzt dies
durch Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes pflichtgemäß um. Das kann aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Cross Compliance in vielen Bereichen ein zahnloser Tiger bleibt.
({0})
Cross Compliance macht vor allem die Einhaltung geltenden Rechts zur Fördervoraussetzung, wobei Verstöße,
wenn sie denn überhaupt festgestellt werden, in der Regel nur geringe Subventionskürzungen zur Folge haben.
({1})
Mein Kollege Friedrich Ostendorff sieht das ein bisschen anders; er hat es gerade erlebt.
Laut Gesetzesbegründung legt auch dieses Gesetz den
Landwirten keinerlei neue Verpflichtungen beim Gewäs2160
serschutz und bei der Wasserbewirtschaftung auf; ein
über bestehendes Recht hinausgehender neuer Umweltstandard wird nicht eingeführt. Die Einhaltung von Gesetzen kann aber heute nicht mehr als Rechtfertigung für
die Direktzahlungen ausreichen. Hier muss spätestens
die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik
nach 2013 einen Paradigmenwechsel bringen.
({2})
Direktzahlungen kann es nur noch geben, wenn gesellschaftlich gewünschte Leistungen für Klima-, Umweltund Artenschutz erbracht werden.
Das ist bisher aber kaum der Fall; denn die durch
Cross Compliance für einen deutschen Betrieb entstehenden Zusatzkosten liegen im Vergleich zu einem ukrainischen Betrieb bei gerade einmal 20 Euro pro Hektar.
Wissenschaftler des Johann-Heinrich-von-Thünen-Instituts haben diesen Wert seriös berechnet.
Ich meine, dass Cross Compliance schon vor 2014
substanziell weiterentwickelt werden muss. Ich nenne
drei Beispiele.
Erstes Handlungsfeld ist die Düngeverordnung. Die
nach wie vor zu hohen Nitratüberschüsse von mehr als
100 Kilogramm pro Hektar sind ein ernstes Problem für
Klima-, Arten- und Gewässerschutz. Zwar soll die
Düngeverordnung die Überschüsse auf 60 Kilogramm
pro Hektar vermindern; aber sie verfehlt ihr Ziel, da sie
keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten enthält.
Hier bedarf es dringend der Nachbesserung.
({3})
Zweites Handlungsfeld ist der Bereich Grünland. Wir
brauchen einen deutlich besseren Schutz des Grünlandes. Der Eingreifwert von 5 Prozent Grünlandverlust ist
keine Hilfe; denn bis zu diesem Eingreifwert findet in
manchen Ländern eine regelrechte Umbruchralley statt.
Wir müssen Regelungen schaffen, um insbesondere
das wertvolle Feuchtgrünland zu sichern. Dazu haben
uns die Experten bei der Anhörung am vergangenen
Montag ausdrücklich aufgefordert.
Das dritte Handlungsfeld ist der Humus. Auch die
Verpflichtung zum Erhalt der organischen Substanz geht
völlig ins Leere. Hier gibt es ein riesiges Schlupfloch,
durch das nahezu alle, die sich am Humusgehalt ihrer
Böden versündigen, passen. Die Verpflichtung kann
nämlich durch eine dreigliedrige Fruchtfolge erfüllt werden, wobei eine Kultur 70 Prozent der Betriebsfläche
einnehmen darf. Der Landwirt darf theoretisch immer
wieder drei Humuszehrer hintereinander anbauen, womit der Sinn der Fruchtfolge geradezu auf den Kopf gestellt würde. Eine wirkliche Verpflichtung zum Erhalt
der organischen Substanz sieht anders aus.
({4})
Diese Beispiele zeigen, dass Cross Compliance bisher
nicht das umweltpolitische Instrument ist, das es sein
sollte. Die EU muss hier nachbessern. Doch unabhängig
von der EU kann und sollte Deutschland bei den Direktzahlungen-Verpflichtungen mehr fordern als bisher. Eine
bessere Klimabilanz der Landwirtschaft, ein höherer Humusgehalt der landwirtschaftlichen Böden und eine größere Artenvielfalt in der Agrarlandschaft werden der
Lohn sein. Wenn sich Deutschland im UN-Jahr der Biodiversität hier zu einer Vorreiterrolle durchringen
könnte, wäre das ein Beitrag, der endlich einmal über
viele schöne bisher gemachte Worte hinausgehen würde.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Georg von der Marwitz für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die geplante Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungengesetzes bedeutet vor allem eines: die
Erweiterung der sogenannten Cross-Compliance-Vorgaben. Cross Compliance ist - wir haben es heute schon
mehrfach gehört - eine Überkreuzeinhaltung von Verpflichtungen. Das sind Auflagen, an deren Einhaltung
die Auszahlung der Direktzahlungen aus der ersten
Säule der EU-Agrarpolitik geknüpft ist.
Dazu zählen bislang 18 EU-Richtlinien zum Umwelt-,
Tier- und Gesundheitsschutz. Mit der Gesetzesänderung
kommt künftig die Einhaltung von Genehmigungsverfahren für die Beregnung und Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen zum Auflagenkatalog des CrossCompliance-Kontroll- und -Sanktionssystems hinzu.
Des Weiteren werden bestimmte Beihilfen im Weinhilfesektor in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezogen. Außerdem verpflichtet der Gesetzentwurf die
Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass der Anteil des
Dauergrünlands an der gesamten landwirtschaftlichen
Fläche nicht erheblich abnimmt. Das haben wir heute
schon mehrfach gehört.
Auch die neuen Auflagen zum Gewässerschutz und
zur Wasserbewirtschaftung sollen dem Erhalt von Agrarflächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand dienen. Die Erfüllung der Auflagen soll
deshalb durch systematische Kontrollen in Form von Risikoanalysen und anlassbezogenen Kontrollen, sogenannten Cross Checks, sichergestellt werden. So weit, so
gut. Zu den Details des Gesetzentwurfes haben mein
Kollege Gerig und viele andere heute schon Stellung genommen. Die Eins-zu-eins-Umsetzung ist eine Verpflichtung der EU und damit ein Muss. Gegen die Fortschreibung und Anpassung von Cross Compliance ist
grundsätzlich nichts einzuwenden. Auch die Absicht,
Geld nur denjenigen Landwirten zu geben, die vernünftig mit der Natur umgehen, ist durchaus begrüßenswert.
Aber, um im EU-Sprachgebrauch zu bleiben: Durchkreuzen in der täglichen Praxis am Ende womöglich die
Cross Checks den Sinn und Zweck der Cross Compliance? Längst mehren sich die kritischen Stimmen. Zu
groß seien der bürokratische Aufwand und die Belastung
für den einzelnen Betrieb, zu umfangreich die Dokumentationspflichten und Kontrollen und zu gering die
tatsächlichen Risiken. Wer die 28-seitige Checkliste von
Cross Compliance aus dem Jahre 2009 durchblättert,
kann diese Argumentation nachvollziehen.
({0})
Sie veranschaulicht, wie breit gefächert die Kontrollverpflichtungen sind. Um nur die wichtigsten Bereiche zu
nennen: Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Lagerung und Entsorgung, Erhalt landwirtschaftlicher Flächen, Natur- und Artenschutz, Pflanzenbau, Pflanzenschutz und Düngung im Besonderen, Tierhaltung und da
im Besonderen Haltung, Fütterung, Hygiene, tierärztliche Behandlung, Krankheiten von Schweinen, Rindern,
Schafen, Ziegen und Geflügel und last, not least Tierkennzeichnung und -registrierung.
({1})
Kenner wie Laien wird diese Bandbreite nicht überraschen. Die Anforderungen an die moderne Agrarwirtschaft wachsen stetig. Für Landwirte heißt das konkret:
Absatzfähig sind nur Produkte, die der zunehmend ernährungs- und umweltbewusste Verbraucher für gesund
hält. Sicher können wir dem durch die Einhaltung bewährter Produktions- oder Hygienestandards begegnen.
Doch brauchen wir tatsächlich ein Konvolut von
19 EU-Richtlinien mit den entsprechenden Prüfungen
und Kontrollleistungen? Für jedes Futtermittel, jede
Saat, über Qualität und Menge der eingesetzten Produkte, über deren Weiterverwendung sowie Lagerung
und Transportbedingungen müssen Dokumentationen
erstellt werden. Nicht unerheblich gestalten sich auch
die Cross-Compliance-Vorgaben zur Tierhaltung und
Tierkennzeichnung. Minutiös ist festzuhalten, was wie
in welchem Zeitraum eingesetzt wurde und von welchen
Gefährdungen der Landwirt hätte Kenntnis haben können. All diese - mit Verlaub - Selbstverständlichkeiten
müssen dokumentiert werden. Respekt gilt allen, die hier
den Überblick behalten, namentlich was die diversen
Fristen angeht. Ich erspare Ihnen die Aufzählung der im
Einzelnen befassten Behörden und Ämter.
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle den
Sinn und Zweck von Cross Compliance nicht grundsätzlich infrage. Der Schutzgedanke steht auch aus meiner
Sicht im Vordergrund. Aber schießen wir mit dem Regelwerk für Cross Compliance nicht über das Ziel hinaus?
({2})
Wohlgemerkt, Cross Compliance bedeutet nicht, dass
der Landwirt sich an mehr oder andere Gesetze oder Verordnungen halten müsste, als er es ohnehin schon tut.
Cross Compliance bedeutet allerdings, dass ihm, wenn
er die Erfüllung dieser Vorgaben nicht nachweisen kann,
die Direktzahlungen empfindlich gekürzt werden können.
({3})
Hier setzt meine Kritik an: Welche gravierenden Bedrohungen gehen denn von unserer Landwirtschaft aus,
dass sie den daraus folgenden bürokratischen Aufwand
für die Betriebe und die Verwaltung rechtfertigen?
({4})
Gerade in unserem Land kann es sich ohnehin kein
Landwirt leisten, geltendes Recht zu ignorieren. Unser
Rechtssystem sieht bei Verstößen, bezogen auf die
Schwere des Vergehens, die nötigen Sanktionen vor.
({5})
- Doch. - Aber wer möchte tagtäglich aufschreiben,
dass er sich an das Gesetz hält? Wer hat schon Lust
dazu? Ist es sinnvoll, dass Landwirte inzwischen einen
nicht unerheblichen Teil ihres Arbeitstages am Schreibtisch mit der Dokumentation ihrer Arbeit verbringen, nur
um sicherzustellen, dass sie bei der Erfüllung der Voraussetzungen für die Direktzahlungen keinen Fehler
machen?
({6})
Meine Damen und Herren, man kann in der Tat geteilter Meinung sein, ob Cross Compliance im Berufsalltag
und in der Verwaltungspraxis praktikabel und zielführend ist oder ob es in einem Land mit hohen Umweltstandards und einem umfangreichen Fachrecht wie in
der Bundesrepublik überhaupt nötig ist, den Nachweis
der Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen zur Voraussetzung für Direktzahlungen zu machen. Ich wäre
dankbar, wenn wir gemeinsam in Brüssel im Zuge der
Verhandlungen zur GAP-Reform 2014 den bürokratischen Aufwand im Rahmen der Cross Compliance deutlich reduzieren würden.
({7})
Ich hatte es bereits eingangs erwähnt: Die Umsetzung
von EU-Recht ist ein Muss. Die Brüsseler Vorgaben sind
einzuhalten. Aber gestatten Sie mir, in diesem Zusammenhang einen Ausblick zu wagen. Wie gesagt, befinden wir uns im Vorfeld der Verhandlungen zur Reform
der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union
nach 2013. In den kommenden Monaten werden erste
Weichen für die Agrarreform gestellt, um eine nachhaltige und multifunktionale Landwirtschaft zu unterstützen, um eine hohe Qualität landwirtschaftlicher
Erzeugnisse und deren Verarbeitung zu sichern, um
nachwachsende Rohstoffe für die energetische und industrielle Nutzung bereitzustellen, um über den Markt
nicht entlohnte Gemeinwohlleistungen der Landwirtschaft zu erhalten, um den Strukturwandel sozialverträglich zu begleiten und um - nicht zuletzt - vitale ländliche Räume zu sichern. Grundpfeiler der Sicherung
vitaler ländlicher Räume ist aus meiner Sicht der Erhalt
der dort wirtschaftenden Landwirtschaftsbetriebe.
({8})
Meine Vision gerade als ökologisch wirtschaftender
Landwirt ist eine von bäuerlichen Familienbetrieben geprägte Landwirtschaft, die sich am Nachhaltigkeitsprinzip orientiert, die Kulturlandschaft erhält, regionale
Produktvielfalt hervorbringt und durch eine flächendeckende, umweltgerechte und klimaschonende Produktion sowie artgerechte Tierhaltung gekennzeichnet ist,
kurz: eine im besten Sinne multifunktionale Agrarwirtschaft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Herr Kollege von der Marwitz, ich gratuliere Ihnen
sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles
Gute.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/758 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
16 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy
Montag, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({1}) - Diskriminierungsfreie Ausgestaltung der Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen
- Drucksache 17/657 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Federführung strittig
ZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung des EuGH-Urteils ({4}) Erweiterung des Kündigungsschutzes bei unter 25-Jährigen
- Drucksache 17/775 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Sachverhalt ist denkbar einfach: Eine Arbeitnehmerin hat mit 18 Jahren einen Arbeitsplatz erhalten und mit
28 durch Kündigung verloren. Sie hatte eine Kündigungsfrist von einem Monat.
({0})
Hätte sie ihren Arbeitsplatz mit 25 erhalten und mit 35
verloren, hätte sie eine Kündigungsfrist von vier Monaten. Diese Ungerechtigkeit sieht das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch vor. Diese Frau hat sich aus einem, wie
ich finde, gesunden Verständnis dafür, dass das eine Diskriminierung ist, an ein deutsches Arbeitsgericht gewandt. Dieses Gericht sagte: Ja, auch wir sind der Meinung, dass dies ein Fall von Diskriminierung ist. Es legte
diese Sache im Vorabentscheidungsverfahren dem Europäischen Gerichtshof vor. Der Europäische Gerichtshof
hat entschieden, wie es das europäische Recht vorsieht:
Es hat diese Regelungen für mit dem europäischen Recht
nicht vereinbar erklärt.
Nun müssen wir lesen, dass die Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände zu dieser Entscheidung sagt - so zitiert im Handelsblatt vom 20. Januar
2010 -:
Der EuGH erfindet einfach Rechtsgrundsätze jenseits des EU-Vertrags. Er schafft damit eine unerträgliche Rechtsunsicherheit …
({1})
- Ich höre vonseiten der Union: „Das stimmt ja auch!“
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Sie an Folgendes erinnern: Art. 3 des Vertrages über die Europäische Union, den hier alle Fraktionen bis auf die Linke
gutgeheißen haben, schreibt Folgendes vor:
Sie
- die Europäische Union bekämpft … Diskriminierungen und fördert soziale
Gerechtigkeit …
Nach Art. 10 des Lissabon-Vertrags
… zielt die Union darauf ab, Diskriminierungen aus
Gründen … des Alters … zu bekämpfen.
Art. 6 des Lissabon-Vertrags erklärt die Charta der
Grundrechte für verbindlich in der Europäischen Union
und damit in Deutschland. In Art. 21 dieser Charta, die
alle Fraktionen in diesem Hohen Hause begrüßt haben,
heißt es:
Diskriminierungen, insbesondere … wegen Alters
… sind verboten.
({2})
Angesichts dieser klaren Rechtslage ist es nicht eine
Unerträglichkeit, dass der Europäische Gerichtshof so
entschieden hat, wie er entschieden hat; unerträglich ist
vielmehr, dass es in Deutschland die Arbeitgeber sind,
die das offensichtlich nicht akzeptieren wollen.
({3})
Das müssen wir an dieser Stelle heute klar und deutlich
sagen.
Diese Vorschrift darf nicht mehr angewendet werden.
Man könnte es dabei belassen; aber das würde für uns in
Deutschland einige erhebliche rechtliche Probleme
aufwerfen. Solange das Gesetz so ist, wie es ist, gilt einerseits das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts und andererseits die Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs, dieses Gesetz nicht mehr anzuwenden. Das ist, finde ich, für die Richterinnen und
Richter in Deutschland keine gute Situation. Deswegen
haben wir vorgeschlagen, diese Vorschrift, die klar diskriminierend und klar europarechtswidrig ist, aus dem
Gesetzbuch zu streichen.
({4})
Die SPD hat praktisch den gleichen Vorschlag unterbreitet. Ich denke, dass die Koalition gut daran täte, sich
in den folgenden Beiträgen dieser Debatte darüber, wie
man diese Diskriminierung beseitigen kann, nicht hin
und her zu winden und nicht nach Schlupflöchern zu suchen, sondern sich klar dazu zu bekennen, dass es zu einer europäischen Politik der Menschenrechte auch gehört, Diskriminierungen im Arbeitsleben zu bekämpfen.
Ein kleiner Beitrag dazu ist der von uns vorgelegte Gesetzentwurf.
Danke.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir
schreiben das Jahr 1926. Die Welt wird von einer Krise
erschüttert.
({0})
Millionen Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Der
Gesetzgeber handelt. Die Kündigungsfristen werden gestaffelt. Für Jüngere unter 25 wird die Kündigungsfrist
auf vier Wochen eingefroren. So soll die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber gefördert werden. Die Reichsregierung, übrigens unter sozialdemokratischer Beteiligung, befindet, jüngere Menschen finden leichter wieder
einen Arbeitsplatz, sie sind flexibler und können schneller reagieren.
({1})
Diese Regelung findet sich noch heute in § 622 Bürgerliches Gesetzbuch. Sie gilt unverändert seit 1926 bis
heute. Nun hat jedoch der Europäische Gerichtshof im
Januar entschieden, dass diese Regelung jüngere Arbeitnehmer diskriminiert. Das Gericht sagt, junge Arbeitnehmer werden generell gegenüber älteren Arbeitnehmern
benachteiligt; denn das Gesetz behandelt Personen mit
gleich langer Betriebszugehörigkeit unterschiedlich, je
nachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetreten
sind. Es benachteiligt die jungen Menschen, insbesondere diejenigen, die ohne oder nach nur kurzer Berufsausbildung eine Arbeit aufnehmen, also zum Beispiel
Verkäuferinnen mit Hauptschulabschluss. Wer nach langer Ausbildung später den Beruf aufnimmt, ist nicht in
gleicher Weise betroffen.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Montag, ich
sage sehr deutlich im Namen meiner Fraktion: Wir lehnen jede Art der Altersdiskriminierung ab.
({2})
Dies haben wir in der Koalitionsvereinbarung mit unserem Koalitionspartner ausdrücklich verankert.
({3})
Deshalb werden wir das Gesetz auch ändern.
Wir werden es uns dabei aber nicht so leicht machen
wie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
und den Grünen. Ihre Anträge sind offensichtlich mit der
heißen Nadel gestrickt. Sie fordern: Weg mit der Vorschrift, und zwar ersatzlos!
({4})
Ich befürchte gerade auch nach Ihrem Beitrag, Herr
Kollege Montag: Sie haben das Urteil weder gelesen
noch wirklich verstanden.
({5})
Eines ist das Urteil nämlich sicherlich nicht: einfach.
Das aber haben Sie in Ihrer Eingangsbemerkung, mit der
Sie diese Debatte eröffnet haben, gesagt. Der Europäische Gerichtshof fordert eben keine ersatzlose Streichung,
({6})
sondern er unterscheidet zwischen verbotener Diskriminierung auf der einen Seite und erlaubter Differenzierung
auf der anderen Seite. Die unterschiedliche Behandlung
von Arbeitnehmergruppen ist laut Europäischem Gerichtshof gerechtfertigt, wenn rechtmäßige Ziele der Beschäftigungspolitik, des Arbeitsmarktes oder der beruflichen Bildung verfolgt werden. Kurzum: Eine Differenzierung
allein nach dem Lebensalter ist verboten, andere Differenzierungen sind erlaubt,
({7})
insbesondere wenn damit die Einstellungsbereitschaft
durch mehr Flexibilität erhöht wird.
({8})
Dies ist nach Ansicht der Luxemburger Richter ein legitimes Ziel. Deshalb sollten wir von dieser Möglichkeit
auch Gebrauch machen. Denn insoweit gilt nach wie vor
die Begründung von 1926. Darin heißt es - ich zitiere -:
Eine allzu starke Erhöhung des Kündigungsschutzes hätte erhebliche Nachteile für die erwerbstätigen … Angestellten zur Folge. Diese würde ihre
Unterbringung noch schwieriger gestalten, als es
schon heute der Fall ist.
Schon damals erkannte also der Gesetzgeber, dass flexible Regelungen beschäftigungsfördernd wirken. Diese
Erkenntnis ist heute so richtig wie damals. In seiner
jüngsten Umfrage zum Arbeitsmarkt hat der Deutsche
Industrie- und Handelskammertag ermittelt, dass bei einem flexibleren Kündigungsschutz jedes zweite Unternehmen neue Kräfte einstellen wolle. Deshalb sollte gerade vor dem Hintergrund der Situation auf dem
Arbeitsmarkt keine ersatzlose Streichung der heutigen
Regelung erfolgen, sondern eine Anpassung.
({9})
Wir wollen von der Möglichkeit Gebrauch machen, die
uns der EuGH eröffnet, also differenzieren, für mehr
Flexibilität und damit für mehr Beschäftigung.
({10})
Dabei kann man nicht mehr auf das Lebensalter abstellen,
ohne Frage. Ein mögliches Unterscheidungsmerkmal wären aber aus meiner Sicht zum Beispiel die Vorbeschäftigungszeiten. Bei der Ermittlung der Beschäftigungsdauer
könnten die ersten Jahre eines Arbeitsverhältnisses außer
Betracht bleiben. Das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales wird dies prüfen.
In den Gesetzentwürfen von Rot und Grün findet sich
dazu leider kein Wort, genauso wenig wie zu der eigentlichen Brisanz des Urteils; denn die Luxemburger Richter haben die deutschen Gerichte angewiesen, die bisherige Vorschrift ab sofort nicht mehr anzuwenden. Diesen
Sachverhalt beurteile ich persönlich, Herr Kollege
Montag, vollkommen anders als Sie; denn bekanntlich
darf nur das Bundesverfassungsgericht ein nationales
Gesetz zu Fall bringen. Mit seinem Urteil und seiner Anweisung an nationale Gerichte greift also der Europäische Gerichtshof massiv in unsere innerstaatliche Kompetenzordnung ein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Montag?
Immer sehr gerne.
Frau Kollegin Connemann, ich habe Ihren Ausführungen wirklich mit großem Interesse und genau zugehört. Wir haben den Sachverhalt, dass § 622 Abs. 2
Satz 2 BGB, also die Nichtanrechnung der Zeiten der
Zugehörigkeit zum Betrieb, wenn der Arbeitnehmer unter 25 ist, nicht mehr angewandt werden darf. Sie selber
sagen, dass Sie diesen Teil weghaben wollen. Sie sagen
aber gleichzeitig, wir machten es uns zu leicht, indem
wir dabei blieben. Habe ich Sie so zu verstehen, dass Sie
das, was Sie nun gezwungenermaßen zugunsten der Arbeitnehmer machen, nämlich diese Diskriminierung zu
streichen, im Wege des Ausgleichs an anderer Stelle
durch eine Schwächung des Kündigungsschutzes erreichen wollen?
({0})
Ist das so zu verstehen, dass Sie das, was Sie nun mit der
linken Hand geben müssen, mit der rechten nehmen wollen?
({1})
Nein, genau so ist es nicht zu verstehen. Die entscheidende Frage ist, wie man „zugunsten“ definiert. Wir sind
vollkommen beieinander - das habe ich auch im Sinne meiner Fraktion und der Koalition sehr deutlich gemacht -,
dass eine Diskriminierung wegen Alters in keiner Weise
von uns gestattet werden kann. Das heißt, wir sind uns
über die Abschaffung des Lebensalters als Kriterium für
eine Differenzierung vollkommen einig. Aber womit ist
letztlich dem Arbeitnehmer gedient?
({0})
Ihm ist letztlich mit einem Arbeitsplatz gedient. Es
bleibt bei der Begründung des Gesetzgebers, der damals
- ich betone: unter sozialdemokratischer Beteiligung festgestellt hat: Ein zu rigider Kündigungsschutz wirkt
immer beschäftigungsfeindlich.
({1})
Das heißt, wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, Einstellungen zu fördern. Dazu gehört aus unserer Sicht, zu
prüfen, ob wir nicht ein anderes Kriterium einführen
können, nämlich das Kriterium der Vorbeschäftigungszeit, mit dem Ziel der Beschäftigungsförderung. - Ich
war mit der Beantwortung Ihrer Zwischenfrage noch
nicht ganz fertig. Es wäre daher nett gewesen, wenn Sie
stehen geblieben wären.
({2})
Ich komme auf die eigentliche Brisanz des Urteils zurück. Ich hatte auf den Eingriff hingewiesen, den der
EuGH in unser Recht vornimmt. Dazu haben Sie kein
einziges Wort gesagt.
({3})
- Sie haben dargestellt, es sei eine unzulässige Bewertung durch die Arbeitgeberseite. Das zeigt deutlich, dass
Sie sich offensichtlich mit dem Urteil nicht auseinandergesetzt haben.
Die Folgen sind weitreichend: Zukünftig wird in
Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Personen nicht mehr
allein das deutsche Recht und auch nicht mehr das europäische Recht maßgeblich sein, sondern eine mögliche
künftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Das heißt, niemand kann sich mehr darauf verlassen, was in Deutschland gilt. Rechtssicherheit ade, wie
übrigens in diesem Fall: Zwei Parteien schließen einen
Arbeitsvertrag auf der Grundlage nationalen Rechts.
Zehn Jahre später befindet der EuGH und - das ist das
Neue an dieser Entscheidung - weist nationale Gerichte
an, diese Vorschrift nicht mehr anzuwenden. Damit
schwingt sich der Europäische Gerichtshof zu einem Ersatzgesetzgeber auf; denn er ändert unmittelbar deutsches Recht und tut damit etwas, was normalerweise nur
dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht
zusteht.
Dies können wir - damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, appelliere ich an Sie alle - nicht hinnehmen. Der
Kern dieses Urteils ist nicht, was wir als Gesetzgeber
jetzt in der Sache entscheiden. Der Kern ist, welche Bedeutung nationales Recht auf europäischer Ebene insbesondere im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof
noch hat. Ich empfehle: Lassen Sie uns darüber diskutieren!
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Sachverhalt ist vom Kollegen Montag beschrieben
worden, sodass ich ihn hier nicht zu wiederholen brauche. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob eine
junge Frau nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit über
eine Kündigungsschutzfrist von vier Monaten oder von
nur vier Wochen verfügt. Das ist auch ein qualitativer
Unterschied.
Die Frage ist hier jetzt nicht, ob wir Urteilsschelte betreiben, Frau Kollegin Connemann, sondern die Frage
lautet: Ist die Regelung, wie sie in § 622 des Bürgerlichen Gesetzbuchs seit 1926 formuliert ist, diskriminierend oder nicht? Der Europäische Gerichtshof kommt zu
dem Ergebnis, dass diese Vorschrift gegen geltendes europäisches Recht verstößt. Die Frage, die wir hier im
Parlament zu diskutieren hätten, wäre eher die, warum
der deutsche Gesetzgeber es bis zur Stunde unterlassen
hat, europäisches Recht, das auch für die nationale Gesetzgebung zwingend ist, in nationales Recht umzusetzen.
({0})
- Herr Kollege Kolb, Sie sind wirklich ein Dauerzwischenrufer. Stehen Sie auf und stellen Sie eine Zwischenfrage!
({1})
- Nein, dann bleiben Sie sitzen und halten den Mund.
Aber dieses ständige Dazwischengeplapper bringt es nun
auch nicht.
({2})
Es ist ja nicht der einzige Fall, in dem der Bundesgesetzgeber der europäischen Rahmengesetzgebung weit
hinterherhinkt. Ich sage Ihnen, Frau Kollegin Connemann:
Ich empfinde es allmählich als höchstpeinlich und blamabel, wenn immer erst der Europäische Gerichtshof bemüht werden muss, damit Deutschland seiner Verpflichtung nachkommt, EU-Antidiskriminierungsregelungen
ordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen.
({3})
Es ist ein peinlicher, blamabler Vorgang, erst den Europäischen Gerichtshof bemühen zu müssen, um notwendige Umsetzungsmaßnahmen in Gang zu bringen.
({4})
Der Kern der Auseinandersetzung ist ein anderer. Sie
haben die berühmte Katze aus dem Sack gelassen, indem
Sie gesagt haben, die unterschiedliche Behandlung verschiedener Altersgruppen sei sehr wohl gerechtfertigt,
wenn die Einstellungsbereitschaft durch mehr Flexibilität erhöht wird. Das ist ein wörtliches Zitat von Ihnen.
Dies ist der Kern dessen, worum es der Koalition geht:
mehr Beschäftigung durch noch mehr Flexibilität.
Nun sage ich Ihnen: Es gibt in Europa kaum ein anderes Land, in dem das Arbeitsrecht in einem solchen
Maße wie hier in Deutschland flexibilisiert worden ist.
({5})
- Ich kann Ihnen dazu noch ein paar Zahlen vortragen. Meine feste Überzeugung ist, dass das deutsche Arbeitsrecht nicht unterflexibilisiert, sondern weit überflexibilisiert ist.
({6})
Ich nenne Ihnen einmal einige Zahlen: Von den unter
30-Jährigen - es wäre vielleicht ganz angebracht, dass
Sie gelegentlich einmal mit jungen Leuten reden - verfügt inzwischen deutlich über die Hälfte über keinen regulären, auf Dauer angelegten Arbeitsplatz. Sie werden
in wachsendem Maße in unsichere, in mehr oder weniger
ungeschützte Arbeitsverhältnisse abgedrängt. Gleichzeitig
verlangen wir, die Politiker, von jungen Leuten, dass sie
sich für Kinder entscheiden, dass sie eine vernünftige
Lebensplanung haben und dass sie größere Investitionen
tätigen. Für jemanden, der über einen befristeten Vertrag
über ein oder zwei Jahre verfügt - vielleicht ist er danach
arbeitslos -, ist eine angemessene, langfristige Lebensplanung nicht möglich. Ich sage Ihnen: Auch die jungen
Menschen haben genau den gleichen Anspruch wie andere Altersgruppen, auch sie wollen ihr Leben vernünftig planen können. Das ist der Kern der Debatte.
({7})
Ich habe sehr starke Zweifel an der inneren Logik, die
dem § 622 BGB innewohnt. Das mag für das Jahr 1926
richtig gewesen sein, aber wir haben inzwischen auf einer Reihe von Rechtsfeldern andere Regelungen als im
Jahr 1926.
({8})
Wo wären wir eigentlich, wenn wir auf dem Stand des
Jahres 1926 stehen geblieben wären? Das ist doch eine
völlig alberne Debatte.
Ich habe große Zweifel, ob das Kernargument, nämlich ein verkürzter Kündigungsschutz für jüngere Menschen, wirklich zu mehr Beschäftigung führt. Im Übrigen: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial
ist, was gute Arbeit schafft,
({9})
von der auch junge Leute angemessen leben und ihre
Kinder ernähren können.
({10})
Ich will Ihnen ein paar Daten zur Situation nennen,
die sie noch verschärfen werden. Es geht nicht nur um
das eben genannte Beispiel, wo der Personenkreis einigermaßen überschaubar ist. Sie haben in Ihren Koalitionsvereinbarungen eine ganze Reihe von weiteren Änderungen, die in Richtung Flexibilisierung drängen,
vorgesehen. Das gilt für die Ausweitung zeitlicher Befristung, für die Ausweitung von Minijobs - inzwischen
sind es über 7 Millionen, jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein sozial ungeschützter
Minijob -, es gilt auch für die Ausweitung von Hinzuverdiensten, die im Ergebnis auf nichts anderes hinauslaufen als auf eine staatliche Subvention von Lohndumping. Das ist die Arbeitsmarktstrategie der Koalition.
({11})
Ich sage Ihnen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist
eindeutig überflexibilisiert. Mehr als die Hälfte der jungen Menschen verfügt nicht mehr über ein auf Dauer angelegtes Arbeitsverhältnis. Weit über ein Drittel der Arbeitnehmer werden in prekären Arbeitsverhältnissen
beschäftigt: Leiharbeit, zeitlich befristete Arbeit, Minijobs, Praktika usw.
({12})
Zudem weiß man, dass die Ausweitung der prekären Beschäftigung unmittelbar mit der Ausweitung des Niedriglohnsektors korrespondiert.
({13})
Ich habe mir gestern Abend von einer Fachfrau erklären lassen, dass inzwischen 25 Prozent der westdeutschen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnis
sind, in dem sie weniger als 8,50 Euro brutto die Stunde
verdienen.
({14})
Inzwischen befinden sich über 40 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnis,
({15})
in dem sie weniger als 8,50 Euro die Stunde verdienen.
({16})
Das heißt, die Ausweitung atypischer, prekärer Beschäftigungsverhältnisse korrespondiert unmittelbar mit einer
Ausweitung des Niedriglohnsektors. Dieser Weg führt
völlig in die Irre. Wir brauchen Stoppsignale. Wir brauchen das Zurückdrängen von prekärer und ungeschützter
Beschäftigung. Was junge Leute brauchen, sind auf
Dauer angelegte, stabile Beschäftigungsverhältnisse.
({17})
Herr Kollege, Kollegin Connemann möchte gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Von mir aus kann sie auch zwei stellen.
({0})
Herr Kollege Schreiner, mir reicht die eine Zwischenfrage. - Sie haben sich in Ihrer Rede zu vielem geäußert,
aber leider nicht zum Gegenstand Ihres eigenen Gesetzentwurfs,
({0})
nämlich zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Sie haben sich nicht damit auseinandergesetzt, ob und inwiefern eine Differenzierung möglich ist.
({1})
Ich möchte auf einen Satz von Ihnen eingehen. Sie
haben uns aufgefordert, ein Stoppschild im Bereich der
prekären Beschäftigung zu setzen. Ich möchte Sie an die
entsprechende Debatte der letzten Plenarwoche erinnern.
Es ging beim Thema Zeitarbeit um den Schlecker-Effekt, den sogenannten Drehtüreffekt, der in großem
Maße bei Zeitungsverlagen ausgenutzt wird, die in Verbindung mit sozialdemokratischer Medienbeteiligung
stehen. Gestern habe ich ein Schreiben vom Deutschen
Journalisten-Verband bekommen, in dem genau dieser
Sachverhalt bestätigt wird.
Da Sie den Gesetzgeber auffordern, ein Stoppsignal
für etwas zu setzen, was ich gelinde gesagt anders beurteile, frage ich Sie, Herr Kollege Schreiner, als Mitglied
der SPD: Wann setzen Sie einen Stopp bei den tatsächlich skandalösen Vorgängen innerhalb Ihrer eigenen Medienbeteiligungen?
({2})
Die Frage habe ich Ihnen, glaube ich, vor 14 Tagen
schon einmal beantwortet.
({0})
Wer auch immer in dieser Weise Zeitarbeit einsetzt, ist
zu verurteilen. Dagegen ist vorzugehen. Ich habe übrigens das Schreiben, das Sie bekommen haben, ebenfalls
erhalten. Wenn ich das richtig im Kopf habe, wurden darin mehr als 35 Adressaten genannt. Darunter mögen einige gewesen sein, die in die Richtung gehen, die Sie benennen.
({1})
Darunter sind aber auch sehr viele andere. Nochmals gesagt: Das macht die Sache um keinen Deut besser.
({2})
Deshalb brauchen wir dringend Regelungen.
Das, was bei Schlecker passiert ist, ist eine unglaubliche Ferkelei. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung und die sie tragende Koalition bis zur Stunde ihren
Prüfvorgang bei Schlecker anscheinend nicht abgeschlossen haben. Wie lange wollen Sie eigentlich noch
prüfen? Bis die Leute in die Altersversorgung gehen?
({3})
Ich sage Ihnen: Da wird überhaupt nicht unterschieden. Es ist egal, ob die Träger sozialdemokratisch sind,
ob das Kirchen sind, ob das Wohlfahrtsverbände sind
oder ob das möglicherweise der Deutsche Bundestag ist;
auch hier geht es hin und wieder nicht ganz diskriminierungsfrei zu. All das spielt überhaupt keine Rolle. Es
kommt entscheidend darauf an, dass dieser Missbrauch
massiv zurückgedrängt wird und der Gesetzgeber endlich tätig wird.
Was die Regelung anbelangt, von der Sie in Ihrer
Frage sprechen, sage ich Ihnen:
({4})
Wir haben eine ganz klare Antwort gegeben. Streichen
Sie die entsprechende Passage in § 622 BGB, und das
Thema ist geklärt. Das wäre ein kleines symbolisches Signal, dass wir es mit regulären, vernünftigen, geschützten und sicheren Beschäftigungsverhältnissen ernst meinen. Diesem kleinen symbolischen Signal müssen dann
weitere dringend folgen.
({5})
Das ist vom Kollegen Montag für die Grünen erklärt
worden. Von mir ist das auch erklärt worden.
Ich sage: Das, was Sie hier treiben, passt in eine generelle Strategie, die zu einer weiteren Förderung von ungeschützten und prekären Beschäftigungsverhältnissen
führt. Das kann im Ernst nicht die Antwort auf die Beschäftigungslage in Deutschland sein.
Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Peter Weiß?
Von mir aus. - Kommen Sie jetzt wieder mit dem
Thema Zeitung?
({0})
Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie soeben angemahnt haben, dass das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales nicht schnell genug einen Prüfbericht zu
den Vorgängen bei Schlecker zur Zeitarbeit vorgelegt
hat, frage ich Sie: Würden Sie freundlicherweise zur
Kenntnis nehmen, dass die Bundesministerin für Arbeit
und Soziales, Frau Dr. Ursula von der Leyen, mit dem
Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
Michael Sommer, eine Arbeitsgruppe dazu eingesetzt
hat? Wäre es nicht angebracht, wenn der Vorsitzende der
Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD,
also Sie, Herr Kollege Schreiner, dieser Arbeitsgruppe
zumindest die Chance geben würde, einen Bericht zu
verfassen? Finden Sie es nicht auch bemerkenswert und
erfreulich, dass die Frau Bundesministerin mit dem
DGB-Bundesvorsitzenden zu genau dieser Frage eine
gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt hat?
Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem damit, sofort einzuräumen, dass ich das für eine vernünftige Vorgehensweise halte.
({0})
Nicht alles, was die Koalition macht, ist Anlass für
Schimpf und Schande.
({1})
Das wäre ja noch schöner. Das, was Sie hin und wieder
betreiben, reicht schon aus, um Ihr Soll zu erfüllen.
({2})
Aber das, was Sie eben vorgetragen haben, ist ein außerordentlich begrüßenswerter Vorgang.
({3})
Ich hoffe sehr, dass er generalisiert werden kann, möglichst unter Beteiligung von Herrn Kolb.
({4})
- Ohne euch geht allerlei. Wollen wir es einmal dabei
belassen.
({5})
Ich will noch eine letzte Bemerkung zu Frau
Connemann machen. Das Argument ist immer: Wir
brauchen diese flexiblen Arbeitsverhältnisse, weil es ansonsten nicht mehr Beschäftigung gibt. Es wird gesagt,
das seien Zusatzarbeitsplätze. Sie haben nicht eine einzige Untersuchung,
({6})
die belegt, dass die weitere Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, sei es durch Abbau des Kündigungsschutzes - bei dem Thema sind wir gerade -, sei es durch
Ausweitung von Leiharbeit, sei es durch Ausweitung
von zeitlichen Befristungen, zu mehr Beschäftigung
führt.
Das Generalkennzeichen des deutschen Arbeitsmarktes in den letzten Jahren ist: Wir haben zwar eine Zunahme an Beschäftigung, aber fast ausschließlich im Bereich der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse,
({7})
und wir haben eine deutliche Abnahme regulärer, auf
Dauer angelegter Beschäftigungsverhältnisse. Das ist
genau die falsche Entwicklung. Dieser Trend muss gestoppt und, wenn es geht, in Teilen wieder umgekehrt
werden.
Schönen Dank.
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schreiner, Sie haben jetzt viel geredet, aber
wenig zum eigentlichen Gesetzentwurf gesagt. Es
kommt mir so vor, als hätten Sie heute die Rede gehalten, die Sie seit Jahren immer wieder halten. Nach dem
Regierungswechsel 1998, in der Spätphase Ihrer Regierungsbeteiligung und jetzt in der Opposition halten Sie
immer die gleiche Rede. Das finde ich bemerkenswert;
das muss ich sagen. Sie tun dabei so - ich weiß, dass Sie
persönlich gar nicht für die Agenda 2010 gestimmt haben -, als ob in all diesen Jahren nichts passiert wäre. Es
ist schon doll und dreist, wenn Sie sagen, die Regierung
sei im Verzug und habe nichts umgesetzt, und wenn Sie
fragen, warum sie nicht gehandelt hat. Ich kann nur sagen: Die chtistlich-liberale Regierung ist seit gerade einmal drei Monaten im Amt.
({0})
Natürlich stellt sich die Frage, was in all den Jahren vorher passiert ist. Ich weiß auch nicht, warum Ihre Fraktion
Sie heute Abend als Redner benannt hat. Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass Sie nicht wirklich etwas zum
Thema gesagt haben.
({1})
- Genau deswegen komme ich jetzt zu Ihnen, Herr Kollege Montag.
({2})
Ich will Ihnen sagen: Wir, die Regierung und die Koalitionsfraktionen, haben das Urteil natürlich gelesen.
Auch wir haben unsere Schlüsse daraus gezogen. Der
erste Schluss ist, dass wir keine überstürzten Einzelentscheidungen treffen wollen, sondern dass wir das gesamte Arbeitsrecht auf Kollisionen mit dem EU-Recht
überprüfen wollen und müssen. Denn sonst sagt in ein
paar Monaten oder Jahren Herr Schreiner wieder: Das
hättet ihr doch wissen müssen, ihr hättet doch erkennen
müssen, dass dieses oder jenes miteinander kollidiert.
Der Fall an sich ist schon beschrieben worden. Der
EuGH hat entschieden, dass es gegen das EU-Recht verstößt, dass bei den Kündigungsfristen in Deutschland
Beschäftigungszeiten erst ab dem 25. Lebensjahr berücksichtigt werden; das kann man so kurz beschreiben.
In dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, Herr Kollege
Montag, fordern Sie die gänzliche Streichung des § 622
Abs. 1 Satz 1 BGB.
({3})
- Richtig, Abs. 2 Satz 2.
Natürlich kann man so etwas durchaus erwägen, Herr
Kollege Montag, aber es ist nicht alternativlos. Es gibt
Alternativen, die wir zurzeit intensiv prüfen und aus
meiner Sicht auch prüfen müssen. Denn die Auswirkungen auf das Arbeitsrecht im Falle einer Streichung des
§ 622 Abs. 2 Satz 2 - an der Stelle habe ich es mir richtig aufgeschrieben ({4})
wären ja nicht unbeträchtlich. In etlichen Tarifverträgen
wurden die Kündigungsfristen für Arbeitsverträge analog zum BGB festgelegt. Das gilt etwa für die Bauwirtschaft mit ihren bundesweit rund 700 000 Beschäftigten,
von denen viele schon in jungen Jahren ein Stammarbeitsverhältnis begonnen haben.
Man wird sich unter Umständen auch mit der Frage
auseinandersetzen müssen, ob zur Betriebszugehörigkeit
auch Ausbildungszeiten gehören, die, wenn das gerichtlich so gesehen wird, zu weiteren Verlängerungen der
Kündigungsfristen führen würden. Wir müssen auch andere Stellen im geltenden Recht überprüfen, die möglicherweise eine Altersdiskriminierung zur Folge haben.
Das betrifft einmal die Sozialauswahl insgesamt,
({5})
die eine Benachteiligung Jüngerer im Fall betriebsbedingter Kündigungen vorsieht. Selbst das Betriebsrentengesetz, Frau Kramme, das in § 1 b bei der Unverfallbarkeit Zeiten vor dem 25. Lebensjahr ausblendet, würde
tangiert.
Herr Montag, ich will damit nur sagen: All das gilt es
zu bedenken. Wir beobachten, dass nach nationalem
Recht zulässige Sachverhalte zunehmend mit Vorgaben
des europäischen Rechts kollidieren. Das ist auch bei der
Altersdifferenzierung im deutschen Arbeitsrecht der
Fall. Das ist der Handlungsauftrag, den ich hier sehe und
beschreibe.
Die Entscheidung des EuGH wollen wir ungeachtet
der formaljuristischen Bewertung - Frau Connemann hat
etwas bezüglich der Verwerfungskompetenz gesagt zum Anlass nehmen, jetzt eine Bestandsaufnahme vorzunehmen. Wir sind uns übrigens mit den Kolleginnen
und Kollegen in der Koalition einig, dass wir europarechtskonforme Nachbesserungen im Arbeitsrecht prüfen wollen. Das Ergebnis kann nicht sein - da stimme
ich der Kollegin Connemann ausdrücklich zu -, dass
sich Kündigungsfristen generell verlängern. Deswegen
muss man das, was Sie, Frau Connemann, vorgeschlagen haben, diskutieren, nämlich dass man bei der Berechnung der Kündigungsfristen anfängliche Beschäftigungszeiten möglicherweise berücksichtigungsfrei lässt.
Der Arbeitgeberverband hat sich für die Wahlmöglichkeit ausgesprochen, bei Beendigung eines jeden Beschäftigungsverhältnisses die gesetzliche Kündigungsfrist durch Abfindungsvereinbarungen zu ersetzen. Auch
das kann man in diesem Zusammenhang sicherlich diskutieren.
Bis zu der Gesetzesnovellierung, die aktuell im
BMAS vorbereitet wird - das haben Sie mittlerweile gehört und gelernt, Herr Schreiner -, gilt natürlich das Urteil, das die Arbeitgeber schon jetzt zu beachten haben.
Das heißt, die Arbeitgeber dürfen § 622 Abs. 2 Satz 2 ab
kommendem Montag nicht mehr anwenden. Bei der Berechnung der Kündigungsfristen muss dann die gesamte
Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers berücksichtigt
werden. Wir werden diese Aufforderung beachten. Das
wollte ich Ihnen heute Abend mitteilen.
({6})
- So viel Zeit wie nötig. In dem Fall geht Sorgfalt vor
Schnelligkeit, Herr Kollege Montag. Das sollte uns eigentlich allen gemein sein.
({7})
Herr Kollege Montag, Herr Kollege Schreiner und Frau
Kollegin Kramme, wir sind für weitere konstruktive
Vorschläge selbstverständlich offen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche noch einen schönen Abend.
({8})
Nun hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bemerkenswert an
dem hier diskutierten Sachverhalt ist, wie Verbesserungen für Beschäftigte heutzutage zustandekommen. Nach
dem, was ich eben von Frau Connemann und von Herrn
Kolb gehört habe, muss ich sagen, dass es genau in die
entgegengesetzte Richtung geht. Ich vermute und befürchte, dass sich dahinter im Vergleich zum jetzigen
Zustand eher echte Verschlechterungen verbergen.
Es ist auffällig, dass nach der gerichtlich bezeugten Verfassungswidrigkeit wesentlicher Regelungen von Hartz IV
nun ein weiterer Fall auf dem Tisch liegt, bei dem ein Gericht den Gesetzgeber auf eine Gerechtigkeitslücke hinweisen muss. Was sagt uns dies über die vorangehende
Bundesregierung? Fehlt da nicht die gesellschaftliche
Bodenhaftung, wenn Sie stets höchstrichterliche Starthilfe benötigen, um sich überhaupt mit gesetzlich hervorgerufener Diskriminierung und Demütigung zu befassen?
Oder ist es schlichtweg Ignoranz? Um es klar zu sagen:
Die Linke unterstützt die hier eingebrachten Gesetzentwürfe des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD. Aber
um einen Satz zu streichen, braucht die Linke keinen eigenen Antrag.
({0})
Fakt ist: Die Krise in der Realwirtschaft hat junge Beschäftigte besonders getroffen. Nach der Ausbildung bedurfte es keiner Kündigung. Man hat sie einfach nicht
übernommen. Damit waren Auszubildende neben Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern sowie unbefristet Beschäftigten die ersten, die in der Krise gehen
mussten. Die Diskriminierung bei den Kündigungsfristen ist also nur die Spitze der prekären Situation vieler
junger Beschäftigter. Deshalb kann die Streichung von
§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch nur der Anfang dringend
gebotener Reformen in dem Bereich sein.
({1})
Der nächste Schritt muss die Übernahme aller Auszubildenden sein, wie es bisher nur in wenigen Tarifverträgen geregelt ist. Jugendliche brauchen ein Recht auf
Ausbildung und ein Recht auf Übernahme.
({2})
Nie war der Einstieg in die Arbeitswelt mit so hohen Risiken versehen und so prekär gestaltet wie heute. Ich erinnere daran, dass junge Menschen unter den befristet Beschäftigten weit überdurchschnittlich vertreten sind.
30 Prozent der unter 25-Jährigen haben einen befristeten
Arbeitsvertrag. Die vorgeschlagene Änderung des Kündigungsschutzes entfaltet ihre Wirksamkeit erst ab einer
Betriebszugehörigkeit von sechs Monaten. Die Möglichkeit, kalendermäßige Befristungen ohne sachlichen Grund
zu vereinbaren, lässt den Kündigungsschutz während der
Dauer der Befristung faktisch leerlaufen.
Die Zukunftschancen junger Menschen in diesem
Land müssen verbessert werden.
({3})
Denn was ist die Folge der prekären Situation, in der die
Regierung die Jugendlichen derzeit schutzlos zurücklässt? Was ist die Folge, wenn viele von ihnen nur eine
geringfügige Beschäftigung finden, wenn der Berufseinstieg von Hochschulabgängern nicht selten nur über eine
lange Kette von Praktika funktioniert und eine unbefristete Übernahme nach der Ausbildung eher die Ausnahme
als die Regel ist? Die Folge ist doch, dass eine wirkliche
Lebensplanung oder auch eine Familienplanung für
junge Menschen immer schwieriger oder gar unmöglich
wird.
Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir mehr Sicherheit, gute Arbeit und gute Löhne.
({4})
Hierfür gab es in den vergangenen Jahren leider keine
Mehrheit im Bundestag. Die Linke wird alle gesetzlichen Initiativen, die in diese Richtung gehen, prüfen und
unterstützen.
({5})
Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist kurz vor halb zehn, und ich freue mich über
eine sehr muntere Debatte. Als ich das Thema, über das
wir gerade diskutieren, gehört habe, habe ich zunächst
gedacht: Um Gottes willen, worüber reden wir denn
heute Abend?
({0})
- Ja, so kann man sich täuschen.
({1})
Die Frage, mit der wir uns gerade auseinandersetzen, ist
nämlich sehr spannend. So einfach, wie das Ganze auf
den ersten Blick zu sein scheint, ist es natürlich nicht.
Deswegen sage ich: Nicht schnelle Anträge sind zwingend die richtigen. Gut überlegte Anträge sind die richtigen.
({2})
Die Grünen waren schnell, die SPD wie immer nachhinkend und nicht denkend. In diesem Zusammenhang ist
das nichts Neues.
Ich will jetzt nicht auf den Sachverhalt der Entscheidung eingehen; der ist klar. Genauso klar ist die Entscheidung des EuGH. Wir erkennen an, dass § 622
Abs. 2 Satz 2 BGB vom EuGH als altersdiskriminierend
eingestuft worden ist;
({3})
darüber brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren.
Die Konsequenz ist auch klar: Dieser Richterspruch gilt.
Wir brauchen keinerlei Gesetzesnovellierung - zunächst.
Auch so weit sind wir uns, wie ich glaube, juristisch einig.
In einem Punkt kann ich Ihnen, Herr Montag, nicht
recht geben: nämlich wenn Sie sagen, wegen der Arbeitgeber soll es keine Streichung geben. Aus eigener Beratungspraxis weiß ich, dass wir bereits seit dem Inkrafttreten des AGG darüber beraten haben und zu dem
Ergebnis gekommen sind, § 622 Abs. 2 Satz 2 nicht
mehr anzuwenden. Die tatsächliche Zahl der noch in der
gerichtlichen Schleife befindlichen Fälle dürfte sich deshalb in meinen Augen sehr in Grenzen halten.
Einen anderen Punkt - Kollegin Connemann hat ihn
schon ausführlich dargestellt - will ich nur ganz kurz
streifen. Natürlich ist es sehr kritisch zu beurteilen, wie
sich der EuGH hier verhält, seine notwendige ZurückUlrich Lange
haltung aufgibt und sich in die Umsetzung deutscher
Rechtsakte einschaltet.
({4})
Ich persönlich halte das für sehr bedenklich. Ich glaube,
dass das Bundesverfassungsgericht und wir als nationaler Gesetzgeber aufgefordert sind, deutlich zu machen
- das ist natürlich ein Signal in Richtung EuGH -, dass
wir uns sehr genau überlegen und intensiv darüber diskutieren müssen, wie wir in Zukunft mit Entscheidungen
des EuGH umgehen wollen und werden.
({5})
Genauso intensiv werden wir uns mit den konkreten
Aussagen des Urteils auseinandersetzen - das werden
wir allerdings anders tun als Herr Schreiner -; denn der
EuGH hat die Beschäftigungsdauer ausdrücklich als
sachlichen Differenzierungsgrund beibehalten.
Herr Schreiner, „peinlich“ haben Sie genannt, dass
keine Streichung erfolgt ist, sondern dass erst der EuGH
entscheiden musste. Herr Schreiner, peinlich war diese
Bemerkung. Ich will Ihnen einmal ganz kurz den chronologischen Ablauf im Zusammenhang mit dieser EURichtlinie vortragen. Die Richtlinie datiert vom 27. November 2000. Wer war da in der Regierung?
({6})
Das war die erste 100-Euro-Frage. Die zweite Frage: Bis
wann hätte die Richtlinie das erste Mal umgesetzt werden müssen? Bis zum 2. Dezember 2003.
({7})
Die nächste 100-Euro-Frage: Wer war da in der Regierung?
({8})
Herr Schreiner und Herr Montag.
({9})
- Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie; aber
blöken Sie nicht dazwischen! Das habe ich heute Mittag
schon einmal gehabt. - Wenn Sie etwas hätten ändern
wollen, hätten Sie das bei Ihrem eigenen Gesetzentwurf,
als Sie in der Regierungsverantwortung waren, tun können.
({10})
Denken wir einmal zu Ende, was dieses Urteil bedeutet: Keine Diskriminierung Jüngerer, das würde das
Ende der tariflichen Unkündbarkeit bedeuten; denn warum sollte es die tarifliche Unkündbarkeit aufgrund des
Lebensalters geben? Das wäre das Ende von vielen Tarifverträgen, von Sozialplänen, von Betriebsvereinbarungen. Das gesamte deutsche Kündigungsrecht stünde
auf dem Prüfstand, einschließlich einer Sozialauswahl
nach dem Alterskriterium.
({11})
Meine Damen und Herren, wenn wir diesem Urteil
des EuGH folgen, geben wir unser nationales Arbeitsrecht auf. Das wäre ein aufgezwungener Systemwechsel.
Wir müssen uns fragen, ob wir das wollen.
({12})
Man muss sich also die gesamte Bandbreite des Arbeitsrechts und des Tarifrechts genau anschauen.
Wir wollen als nationaler Gesetzgeber grundsätzlich
die Möglichkeit haben, im Rahmen der Rechtsprechung
des EuGH altersdifferenziert nationale Gesetze zu erlassen. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie diesen voreiligen
Gesetzentwurf zurück! Das ist das falsche Signal Richtung EuGH. Was Sie wollen, führt zu Rechtsunsicherheit. Helfen Sie mit: Setzen Sie sich mit uns an einen
Tisch für ein Gesetz, welches allen Altersgruppen, der
Beschäftigungsdauer und dem deutschen Arbeitsrecht
gerecht wird!
In diesem Sinne einen schönen Abend und herzlichen
Dank.
({13})
Bevor wir alle Feierabend haben, gebe ich zu einer
Kurzintervention dem Kollegen Jerzy Montag das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sie sind zu gütig; herzlichen Dank!
Herr Kollege Lange, Sie haben in Ihrem Redebeitrag
mich persönlich und meine Fraktion mehrfach in einer
halb lustigen, halb süffisanten Form angesprochen. Ich
gebe zu: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB hätte schon zu einem
früheren Zeitpunkt ersatzlos gestrichen werden können
und sollen.
({0})
Damit ist aber auch das Ende des Lustigen erreicht.
Zur Wahrheit der Auseinandersetzung in diesem Hause
um den Kampf gegen Diskriminierung gehört - vielleicht haben Sie das nicht mitbekommen -, dass die
Union, insbesondere die CSU, gegen jegliche Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien
Widerstand geleistet hat. Sie haben dagegen von A bis Z
polemisiert. Sie haben dagegen getan, was Sie nur konnten, und auch falsche Behauptungen aufgestellt, um das
Erreichte zu konterkarieren.
({1})
Sie haben uns erzählt, dass das Antidiskriminierungsgesetz zu Hunderttausenden von Arbeitsgerichtsverfahren führen würde. Sie haben behauptet, dass der Grundsatz der Vertragsfreiheit zur Disposition stehen würde.
Sie haben nie begriffen, dass Vertragsfreiheit überhaupt
erst da beginnt, wo Diskriminierung endet. Sie brauchen
uns also nicht zu erzählen, wie mühselig es ist, sich in
diesem Hause gegen Diskriminierungen zu wehren. Da
sind wir von Ihnen in der Vergangenheit gut beraten
worden.
({2})
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
Für alles gibt es ein erstes Mal. Natürlich war ich damals nicht dabei, Herr Kollege Montag.
({0})
Ich habe mich aber als Anwalt viele Jahre mit dem Arbeitsrecht beschäftigt und die praktische Auswirkung
dieses AGG erlebt. Das AGG war für uns Arbeitsrechtler geradezu ein Konjunkturprogramm - nicht dass ich
mich jetzt beschweren würde; das wäre auch nicht in
Ordnung.
({1})
- Wir teilen uns das. - Wir haben im Koalitionsvertrag
deswegen ausdrücklich festgeschrieben: In Zukunft erfolgen die Umsetzungen eins zu eins. Das ist das Entscheidende.
({2})
Ich nenne Ihnen einige Beispiele aus meiner Praxis:
Sie haben vielleicht die Problematik der AGG-Hopper
mitbekommen, die sehr massiv war. Sie haben natürlich
mitbekommen, dass Kleinbetriebe plötzlich Probleme
dabei bekamen, ihre Anzeigen in der Zeitung selbst zu
gestalten. Sie mussten bei den Anwälten anrufen, um zu
fragen: Wie darf ich denn überhaupt noch eine Anzeige
schalten, damit ich mich präsentieren und ein neuer Arbeitnehmer zu mir kommen kann? - So einfach ist es mit
dem AGG also nicht.
Trotzdem bleibe ich dabei: Wenn wir die Diskriminierung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
Ende denken, dann stellen wir fest, dass uns bei unserem
Arbeitsrecht ein absoluter Systembruch ins Haus steht;
denn das Argument und Abwägungskriterium Alter war
im deutschen Arbeitsrecht bisher ganz wesentlich.
({3})
Das betrifft Punkteschemata, Sozialpläne, Betriebsvereinbarungen, Urlaub usw. Es gab Betriebsvereinbarungen zu zusätzlichem Urlaub, der abhängig vom Lebensalter war. Herr Montag, hier nur zu sagen: „Wir
streichen etwas“, greift zu kurz.
({4})
Damit werden Sie dem AGG, der Gleichberechtigung
und dem Gesamtproblem des deutschen Arbeitsrechts
nicht gerecht.
Deswegen wollen wir eine ausführliche Debatte mit
Substanz. Dieser werden wir uns hier sicherlich wieder
stellen, und zu der werden wir uns hier wieder treffen.
Schönen Abend, danke schön.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 16. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/657 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Die
Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.
Wir stimmen nun zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das
heißt, Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt
für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist
eindeutig abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
Die Linke ab, das heißt also, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? - Ist jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungsvorschlag ist damit angenommen, das heißt, die Federführung liegt beim Ausschuss für Arbeit und Soziales.
Zusatzpunkt 5. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 17/775 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Damit sind Sie
einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 17:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Telemediengesetzes ({0})
- Drucksache 17/718 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Martina
Krogmann, Andreas Lämmel, Martin Dörmann, Claudia
Bögel, Kathrin Senger-Schäfer und Tabea Rößner.
Die technische Entwicklung schreitet rasant voran.
Deshalb ist es in Anbetracht der neuen Übertragungstechniken für audiovisuelle Mediendienste notwendig
geworden, den geltenden Rechtsrahmen den gewandelten Gegebenheiten anzupassen. Das Erste Gesetz zur
Änderung des Telemediengesetzes setzt die europäische
Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste in nationales Recht um und stellt klar, welchen Pflichten die Anbieter von Video-on-Demand-Diensten unterliegen.
Ziel der Richtlinie ist es, den Auswirkungen des
Strukturwandels, der Verbreitung der Informations- und
Kommunikationstechnologien und den technologischen
Entwicklungen auf die Geschäftsmodelle und insbesondere auf die Finanzierung des kommerziellen Rundfunks
Rechnung zu tragen. Insbesondere sollen optimale Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für die europäischen Unternehmen und Dienste im Bereich der Informationstechnologien und der Medien gewährleistet
werden.
Da die Vorschriften für bestimmte Geschäftsmodelle,
wie zum Beispiel die audiovisuellen Mediendienste auf
Abruf, innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen
Union Unterschiede aufweisen, von denen einige den
freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen Union behindern und den Wettbewerb innerhalb
des Binnenmarkts verzerren könnten, war eine europaweite Lösung geboten. Es galt, auf alle audiovisuellen
Mediendienste - sowohl Fernsehprogramme, das heißt
lineare audiovisuelle Mediendienste, als auch audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, das heißt nicht lineare
audiovisuelle Mediendienste - zumindest bestimmte gemeinsame Grundvorschriften anzuwenden.
Gerade kleinere und mittlere Unternehmen werden
von einem freien und fairen Wettbewerb in der EU profitieren. Die gleichen Wettbewerbsbedingungen werden zu
einer signifikanten Zunahme von zukunftssicheren, qualifizierten Arbeitsplätzen gerade auch in Deutschland
führen. Der vorliegende Gesetzentwurf regelt den Geltungsbereich des Telemediengesetzes für diesen Bereich,
fügt entsprechende Definitionen in das TMG ein und statuiert den Kreis der verpflichteten Unternehmen. Hervorzuheben ist, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der
sich auf die wirtschaftsbezogenen Regelungen für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf beschränkt, in enger
Abstimmung mit den Ländern, in deren Zuständigkeit
die linearen audiovisuellen Mediendienste, also das
Fernsehen, fallen, erfolgt ist, um eine Harmonisierung
mit dem Rundfunkstaatsvertrag sicherzustellen. So wird
eindeutig geregelt, dass die Anbieter von Video-on-Demand-Diensten den Regelungen des Telemediengesetzes
und nicht rundfunkrechtlichen Bestimmungen unterliegen.
Da audiovisuelle Mediendienste auf Abruf sich von
Fernsehprogrammen in den Auswahl- und Steuerungsmöglichkeiten der Nutzer unterscheiden, ist es gerechtfertigt, für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf weniger strenge Vorschriften zu erlassen, sodass sie nur den
Grundvorschriften der Richtlinie über audiovisuelle
Mediendienste unterliegen sollten. Der vorliegende Gesetzentwurf schreibt vor, dass der Diensteanbieter, das
heißt jede natürliche oder juristische Person, die die
Auswahl und Gestaltung der angebotenen Inhalte wirksam kontrolliert, für diese auch verantwortlich ist. Damit wird klargestellt, dass die Anbieter von Video-onDemand-Diensten denselben Vorschriften unterliegen
wie die Anbieter anderer Telemedien. Erfasst werden
von dem vorliegenden Gesetzentwurf also auf Abruf bereitgestellte audiovisuelle Mediendienste, bei denen es
sich um Massenmedien handelt, das heißt, die für den
Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit bestimmt sind und bei dieser eine deutliche Wirkung
entfalten können.
Betroffen sind nur wirtschaftliche Tätigkeiten - auch
solche öffentlich-rechtlicher Unternehmen.
Nicht in den Geltungsbereich des Telemediengesetzes
fallen vorwiegend nicht wirtschaftliche Tätigkeiten, die
nicht mit Fernsehsendungen im Wettbewerb stehen.
Dazu gehören beispielsweise private Internetseiten und
Dienste zur Bereitstellung oder Verbreitung audiovisueller Inhalte, die von privaten Nutzern für Zwecke der gemeinsamen Nutzung und des Austauschs innerhalb von
Interessengemeinschaften erstellt werden.
Ferner werden auch weiterhin alle Formen privater
Korrespondenz, zum Beispiel an eine begrenzte Anzahl
von Empfängern versandte elektronische Post, oder animierte Websites nicht in den Anwendungsbereich des
Telemediengesetzes fallen, da hier die audiovisuellen
Elemente nur Nebenerscheinungen darstellen. Wir werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur die
Rechtssicherheit für die Unternehmen weiter erhöhen,
sondern auch einen weiteren Beitrag zum Schutz der
Verbraucher und zu mehr Transparenz leisten.
Die Anbieter audiovisueller Medien auf Abruf unterliegen den Publizitätspflichten des § 5 Telemediengesetz. Der Verbraucher weiß jetzt auch bei Video-onDemand-Anbietern, wer ihm die Dienste anbietet und
wie er schnell und unkompliziert mit dem Anbieter in
Kontakt treten kann.
Ferner profitiert der Verbraucher auch bei Video-onDemand-Diensten von den datenschutzrechtlichen Bestimmungen des Telemediengesetzes, sodass seine persönlichen Daten auch hier umfassend geschützt sind.
Der vorliegende Gesetzentwurf leistet einen weiteren
Beitrag zur Anpassung der Rechtssicherheit, zur Stärkung der Wirtschaft und der Verbraucher.
Wir befassen uns heute mit der Umsetzung einer
Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht.
Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember
2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates
zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der
Fernsehtätigkeit ({0}). Innerhalb des deutschen Rechts enthält das Telemediengesetz ({1}) die wirtschaftsbezogenen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die
Zu Protokoll gegebene Reden
Vorschriften, die der Umsetzung einer anderen Richtlinie
der Europäischen Union ({2}) dienen. Der Rundfunkstaatsvertrag der Bundesländer beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema Telemedien. Der Rundfunkstaatsvertrag
regelt speziell die inhaltsbezogenen Anforderungen und
die Fragen der Aufsicht. Das Telemediengesetz enthält
hingegen die wirtschaftsbezogenen Regelungen. Diese
gesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarungen des Bundes und der Bundesländer aus dem Jahre
2004 zur Fortentwicklung der Medienordnung abgerundet.
Die neue Richtlinie der Europäischen Union und deren rechtliche Umsetzung in das deutsche Recht erweitern den bestehenden Rechtsrahmen für die Branche.
Gerade in einer Branche mit hohem Innovationstempo
ist es notwendig, die rechtlichen Rahmenbedingungen
ständig zu aktualisieren und den Marktteilnehmern
Rechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemediengesetz deckt nun sämtliche audiovisuelle Mediendienste
ab. Neben den bisher umfassten Fernsehdiensten sind
nun auch die audiovisuellen Mediendienste auf Abruf
Gegenstand des Gesetzes. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf hatten bisher unterschiedliche Inhalte, die teilweise den freien Dienstleistungsverkehr
innerhalb der Europäischen Union zu behindern und
den Wettbewerb innerhalb des EU-Binnenmarkts zu verzerren drohten. Bedenkt man das erhebliche Potenzial
für hochqualifizierte Arbeitsplätze, welches die neuen
audiovisuellen Mediendienste auf Abruf - gerade für
kleinere und mittlere Unternehmen - bieten, dann ist die
Absicht der Europäischen Union, hier gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die
Prinzipien des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und
Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer, sind Voraussetzungen für einen transparenten und berechenbaren
Markt sowie für einen problemlosen Zugang der Verbraucher zu diesen Diensten.
Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit innerhalb der Europäischen Union für die audiovisuellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt
positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingungen stets zu begrüßen.
Es ist weiterhin positiv zu bewerten, dass der Nationale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetzlichen
Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Gesetzentwurf hervorbringt. Zusätzliche Informationspflichten für
die Unternehmen in unserem Lande werden nicht eingeführt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit
diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Bürokratiekosten verbunden - ein Umstand, der mir als Wirtschaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Unternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, sondern weniger.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundesländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Abstimmung wird bewirken, dass die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne
Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforderungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag ({3}) umsetzen. Ich meine, es
ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Fraktionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streitereien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden.
Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln.
In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren
gelungen.
Es ist keine Überraschung, wenn ich Ihnen verrate,
dass das Internet auch 2009 weiter gewachsen ist. Fast
70 Prozent der Deutschen waren im vergangenen Jahr
online. Die Bedeutung der Internetbranche als wichtiger
Zukunfts- und Wachstumsmarkt ist weiter gestiegen.
Dies ist erfreulich und soll so bleiben.
Die neuen Möglichkeiten schaffen jedoch auch vielfältige praktische und rechtliche Problemstellungen.
Neue Kommunikationsforen und Geschäftsmodelle und
die massenhafte Nutzung des Internets stellen besondere
Herausforderungen dar. Wir alle wollen, dass im Internet kein rechtsfreier Raum entsteht und mit den von uns
gewonnenen Daten sorgfältig umgegangen wird.
Diesem Handlungsbedarf stellt sich das Telemediengesetz. Es bietet ein übergreifendes und einheitliches
Datenschutzkonzept für Rundfunk und Telemedien und
schafft zusätzliche Rechtssicherheit. Für die Politik ist
es selbstverständlich, dass man mit der rasanten Entwicklung des Internets Schritt halten und der Rechtsrahmen dahin gehend angepasst werden muss. Hier haben
wir in dieser Legislaturperiode Arbeit vor uns. Darauf
gehe ich später noch ein.
Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
ist vergleichsweise unstrittig. Die von der Bundesregierung geplanten Änderungen dienen zur Umsetzung der
EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste in nationales Recht. Damit werden Telemedien, die in fernsehähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten, in die
Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen. Die
Bundesländer haben hierzu den 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen, der am 1. April in Kraft
treten soll. Im Kern geht es um die Liberalisierung der
europäischen Werberegeln, von der man sich insgesamt
mehr Flexibilität erwartet. Dies wird jenen Anbietern
nutzen, die von der Werbung als Refinanzierungsmodell
abhängig sind.
Ich will es nicht unnötig spannend machen und feststellen, dass wir diesem Gesetzentwurf auch als Oppositionsfraktion gerne zustimmen. Wenn die Bundesregierung sinnvolle Vorschläge macht, gibt es aus unserer
Sicht keinen Grund, sich zu verweigern.
Es wird aber zukünftig darum gehen, das Internetgesetz auf der Höhe der Zeit zu halten. Hierzu will ich zunächst noch einmal die bisherige Diskussion der vergangenen Legislaturperiode in Erinnerung rufen. Anfang
2007 haben wir mit dem neuen Telemediengesetz erstmals einen einheitlichen, entwicklungsoffenen RechtsZu Protokoll gegebene Reden
rahmen im Bereich der Tele- und Mediendienste geschaffen. Frühere Abgrenzungsprobleme sind entfallen.
Gegenüber dem alten Rechtszustand wurde eine deutliche Verbesserung erzielt. Damit haben wir einen wirksamen Beitrag zur Fortentwicklung des Internets geleistet,
für das das Telemediengesetz von besonderer Bedeutung
ist. Wir mussten damals das Gesetz zügig verabschieden,
um ein zeitgleiches Inkrafttreten mit dem neunten Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien zum 1. März 2007
zu ermöglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich und
haben die bisherigen Bestimmungen abgelöst.
Im Mai 2008 hat der Bundestag eine ausführliche Debatte über möglichen Änderungsbedarf geführt. Grundsätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die einen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auch
jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Im vergangenen Jahr hat die FDP-Fraktion einen eigenen Gesetzentwurf zur Änderung des Telemediengesetzes vorgelegt. Er behandelte insbesondere die Frage
der Störerhaftung. Die von der FDP vorgetragenen Änderungsvorschläge gingen bei den Regelungen zu Suchmaschinen und Hyperlinks grundsätzlich in die richtige
Richtung. Andererseits enthielt der Entwurf allerdings
auch eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und fragwürdigen Regelungsvorschlägen, insbesondere in Fragen der Störerhaftung. Der Gesetzentwurf war daher
aus Sicht der damaligen Koalitionsfraktionen insgesamt
keine geeignete Grundlage für eine Novellierung des Telemediengesetzes. Dies hatte auch eine von uns durchgeführte Expertenanhörung in der vergangenen Legislaturperiode ergeben.
Ich habe bei der Plenardebatte im vergangenen Jahr
bereits darauf hingewiesen, dass es dem Bundestag in
der neuen Legislaturperiode vorbehalten bleibt, dieses
Thema erneut aufzugreifen. Das sollten wir alsbald tun.
Aus unserer Sicht geht es hierbei in erster Linie um
die weitere Verbesserung der Rechtssicherheit im Bereich der Internethaftung. Das betrifft die Klärung der
Störerhaftung sowie Fragen, die von den Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce-Richtlinie
nicht erfasst werden und die auch in Deutschland vor
diesem Hintergrund ausdrücklich nicht geregelt wurden,
insbesondere Suchmaschinen und Hyperlinks. Insofern
haben wir es nämlich mit einer Rechtsprechung zu tun,
die in der Internetbranche für Unsicherheiten gesorgt
hat, die es möglichst zu beseitigen gilt.
Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweit
ein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbst
eingestellt hat. Dass Rechteverletzungen beseitigt werden müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitet
allerdings die zukünftige Verhinderung einer Rechteverletzung, insbesondere dann, wenn eine Rechteverletzung
festgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fälle
zu übertragen ist. Und wer auf seiner Homepage Links
auf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht ständig kontrollieren.
Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Diensteanbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftung
reguläre Überwachungspflichten übernehmen müssen
oder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlassungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kerngleiche Rechteverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großer
Verunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung der
Kerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führen
könnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Auslegung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffenen Rechteinhaber führen. Insgesamt geht es daher vor
allem um eine gerechte und praktikable Lösung, die die
unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Verbrauchern und Internetunternehmen zu einem vernünftigen Ausgleich bringt.
Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allen
Beteiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich als
äußerst schwierig erwiesen. Wir erwarten nun von der
Bundesregierung, dass sie einen weiteren Gesetzentwurf
vorlegt, in dem die problematisierten Gesichtspunkte berücksichtigt und angemessen gelöst werden. Die Herausforderungen und Schwierigkeiten sind bestens bekannt. Nun sollte gehandelt werden.
Jeder von uns kennt diese Situation: Man öffnet seinen E-Mail-Eingang, sieht die neuen Nachrichten
durch, öffnet eine nicht eindeutig gekennzeichnete Mail
und stellt dann mit Erstaunen fest, dass es sich um eine
Werbebotschaft handelt. In den meisten Fällen ärgert
man sich über eine solche unaufgefordert zugesandte
Verbraucherinformation, zumal sie selten die eigenen
Bedürfnisse wirklich anspricht bzw. widerspiegelt.
Diese irreführenden Angaben bei E-Mail-Werbung soll
das hier zu beschließende Telemedienänderungsgesetz
genauso wie andere wesentliche Bestandteile des Umgangs mit audiovisuellen Mediendiensten regeln.
Der Entwurf des Telemedienänderungsgesetzes sieht
eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Audiovisuellen-Mediendienste-Richtlinie in deutsches Recht
vor. Im Rahmen dessen werden die Vorgaben der bisherigen Fernsehrichtlinie aktualisiert und auf fernsehähnliche Online-Dienste, präzise: audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, ausgeweitet. Der dann umfassende
Rechtsrahmen für alle audiovisuellen Mediendienste ist
die Voraussetzung für eine Verbesserung der Rechtssicherheit und die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedingungen.
Besonders wichtig für ein Änderungsgesetz im Bereich der Telemedien ist die Art der Ausgestaltung. Sie
muss offen sein und bleiben, sodass neue Entwicklungen
möglich sind und mit allen Kräften unterstützt werden.
Im vorliegenden Gesetzesentwurf wird diesem Anspruch
Rechnung getragen und die Novellierung kann somit
eine ganze Reihe von Verbesserungen mit sich bringen.
Vor allem die dann spezifischen Regelungen, wo ein
Diensteanbieter, der audiovisuelle Mediendienste in seinem Portfolio hat, als niedergelassen anzusehen ist,
seien in dem Zusammenhang erwähnt. Diese Zuordnung
verdeutlicht Zuständigkeiten und vereinfacht auf diese
Weise Prozesse.
Die Branche, über die wir hier sprechen, ist eine der
dynamischsten überhaupt. Die wirtschaftliche und techZu Protokoll gegebene Reden
nologische Fortentwicklung in diesem Bereich erfordert
ein besonders schnelles und effizientes Aktions-Reaktions-Modell seitens der Politik. Steine, die im Weg liegen,
müssen mit beiden Händen gleichzeitig gepackt und zur
Seite gerollt werden.
Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass der rasante
wirtschaftliche und technologische Fortschritt durch geeignete rechtliche Rahmenbedingungen für die neuen
Dienste und den elektronischen Geschäftsverkehr flankiert und gefördert wird. Als Beauftragte meiner Fraktion für Informations- und Kommunikationstechnologien
und den Mittelstand möchte ich in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf die besondere Verbindung der
beiden Bereiche hinweisen.
Der nationale und internationale Wettbewerb in dieser Branche ist unvergleichlich fordernd. Besonders die
kleinen und mittleren Unternehmen müssen sich alltäglich auf neue Entwicklungen in ihrer Branche einstellen.
Hier benötigen sie verlässliche und sinnige Gesetzesvorgaben, die ihnen ihre Arbeit vereinfachen, die Bedingungen verbessern und dazu beitragen, der internationalen Konkurrenz auf Augenhöhe zu begegnen. Denn es
kann nicht oft genug betont werden: Das Rückgrat der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ist der
Mittelstand! Ohne ihn geht nichts in Deutschland.
Die Globalisierung aber stellt den Mittelstand vor
neue gewaltige Herausforderungen. Der Unternehmer
als Einzelkämpfer findet sich schnell auf verlorenem
Posten wieder, gefragt sind Vernetzung und ganzheitliches Denken. Doch das Pferd kann eben nicht von hinten
aufgezäumt werden, und Reiten ohne Sattel ist auch eine
riskante Angelegenheit. Regeln, die nicht Hürden aufbauen, sondern durch Präzisierung von Begrifflichkeiten und Zuordnung dazu beitragen, die Arbeit zu erleichtern, sehe ich als sehr sinnvoll an. Aus diesem
Grund möchte ich Sie um Ihre Unterstützung für den
Entwurf des 1. Telemedienänderungsgesetzes bitten und
freue mich, wenn dadurch auch dem Mittelstand in unserem Land ein Dienst erwiesen wird.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
ist eine Folge der Novellierung der EU-Fernsehrichtlinie. Mit dem 1. Telemedienänderungsgesetz werden Änderungen im Geltungsbereich, in den Begriffsbestimmungen und Regelungen zum Sitzland für audiovisuelle
Mediendienste, wie sie die Richtlinie vorgibt, umgesetzt.
Das alles ist kein Problem, Gesetzgebungsroutine sozusagen. Problematisch allerdings sind zwei Punkte, auf
die ich hinweisen möchte:
Erstens. Die Bundesregierung hatte zwei Jahre Zeit,
um die genannten Aspekte der EU-Fernsehrichtlinie bis
zum 19. Dezember 2009 in deutsches Recht umzusetzen.
Jetzt ist es Ende Februar 2010. Das Bundeswirtschaftsministerium - in der letzten Legislaturperiode von der
CSU geführt, jetzt von der FDP - war zwei Jahre lang
außerstande, Änderungen am Telemediengesetz vorzunehmen. Dort kann man quasi über Nacht ein Internetsperrgesetz erarbeiten, das in der Ursprungsfassung ja
ebenfalls eine Änderung des Telemediengesetzes enthielt. Nicht aber vorlegen kann dieses Haus die dringend notwendige, immer wieder eingeforderte grundlegende Novellierung des Telemediengesetzes. Dass wir
bis heute keine Novellierung des Gesetzes haben, ist
nicht nachvollziehbar und ein Armutszeugnis für das
Bundeswirtschaftsministerium.
Das Telemediengesetz in der aktuellen Fassung ist
niedergeschriebene Rechtsunsicherheit. In der Frage
der Haftung müssen die Inhalte- und Zugangsanbieter
wissen, was erlaubt und was verboten ist. Seit Inkrafttreten des Telemediengesetzes entscheiden die Gerichte in
Deutschland in zahlreichen Urteilen in diesen und ähnlichen Fragen völlig unterschiedlich. Eine gesetzliche
Klarstellung ist erforderlich, damit beispielsweise Webseitenbetreiber und Inhalteanbieter künftig keinen präventiven Überwachungspflichten für fremde Inhalte ausgesetzt sind. Meine Fraktion hat dazu in der letzten Legislaturperiode Änderungsvorschläge gemacht. Auch
die FDP hat solche vorgelegt. Ich bin gespannt, wann
sie diese als Regierungspartei umsetzen wird.
Zweitens. Die EU-Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbeziehungen. Für die Anbieter von
audiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischen
Binnenmarkt werden Werbebeschränkungen dereguliert
und Bedingungen der kommerziellen Kommunikation
- auch das nur ein anderer Ausdruck für Werbung - definiert. Es geht also ums Geldverdienen und um Rendite.
Es geht nicht um Verbraucherrechte, nicht um die Bereitstellung eines vielfältigen kulturellen Programmangebots und schon gar nicht um die Sicherung der Autonomie journalistisch-redaktioneller Arbeit.
Mit dem 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wollen
die Länder diese Deregulierungsbestimmungen für den
Rundfunk in deutsches Recht umsetzen. Dieser soll nach
den Plänen der Ministerpräsidenten der Länder zum
1. April 2010 in Kraft treten. Wir lehnen diese Änderungen im Rundfunkstaatsvertrag ab. Im Gegensatz zu den
vorliegenden Änderungen im Telemediengesetz, die
nach der EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind,
lässt die Richtlinie bei der Umsetzung der Werbebestimmungen für den Rundfunk ausdrücklich Ausnahmen zu.
Die Nationalstaaten haben hier einen weiten Bemessungsspielraum. Um nur einige Punkte zu nennen: Der
nach EU-Recht liberalisierten Möglichkeit zur Produktplatzierung hätte durch verbindlichere Formulierungen
rechtssicher Rechnung getragen werden können. Sendungen mit Produktplatzierungen hätten mit einem klaren Zusatz „Dauerwerbesendung“ versehen werden
können. Die vorgesehene Erweiterung des Werbeanteils
bei den privaten Rundfunksendern durch exklusive
Sponsoren- und Product-Placement-Zeiten schadet dem
kulturellen Auftrag des Fernsehens.
Bei der Umsetzung der Vorgaben aus der neugestalteten EU-Fernsehrichtlinie sind nach Auffassung der Linken strenge Maßstäbe anzulegen. Produktplatzierungen
müssen für private Rundfunkanbieter ausnahmslos kennzeichnungspflichtig sein. Um Umgehungstatbestände
- zum Beispiel durch Umetikettierung von Geldzuwendungen - auszuschließen, sind auch solche Produktplatzierungen zu kennzeichnen, für die kein Entgelt und
Zu Protokoll gegebene Reden
keine ähnlichen Gegenleistungen bezahlt werden. Für
den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Produktplatzierungen, darin in Einklang mit dem Ausnahmetatbestand
für kulturelle Vielfalt nach Art. 3 der Fernsehrichtlinie,
ausdrücklich zu untersagen.
Bis vor kurzem kannte es keiner, spätestens seit der
durch Frau von der Leyen angezettelten Kinderpornografie-Sperr-Debatte ist das Telemediengesetz ein Begriff.
Weniger bekannt ist aber offenbar, was dort bisher
geregelt ist - und vor allem: noch geregelt werden
müsste!
Wie sonst wären die Bundesländer beim Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, JMStV, auf die Idee gekommen, Inhalteanbieter, für die die Auflagen des Jugendmedienschutzes ja richtigerweise gelten, mit Zugangsanbietern und Inhaltevermittlern gleichzusetzen, die bereits nach dem Telemediengesetz - abgemildert - haften? Oder wollte man hier dem Bund in die Kompetenz
grätschen?
Die Debatte um den Jugendmedienschutz hat das Augenmerk in eine falsche Richtung gelenkt: Die Frage
muss nicht sein, wie wir die reinen Zugangsanbieter und
Inhaltevermittler stärker in die Jugendschutzpflicht nehmen können, sondern wie die bisherigen Haftungsauflagen innerhalb des Telemediengesetzes noch klarer formuliert und an die Realität angepasst werden können.
Inhaltliche Vorabkontrollen und -entfernungen sind
auch nach bisheriger Lesart - jedenfalls einiger Gerichte - im Telemediengesetz nicht klar ausgeschlossen.
Das schafft Rechtsunsicherheit. Klar ist auch für uns
Grüne: Diensteanbieter müssen rechtswidrige Links und
Inhalte entfernen, sobald sie davon Kenntnis erlangt haben und es ihnen technisch zumutbar ist. Aber erst dann
und nicht vorher. Dazu dient das sogenannte Noticeand-take-down-Verfahren, bei dem Nutzerinnen und
Nutzer dem Diensteanbieter rechtswidrige Inhalte melden können, damit dieser sie entfernt.
Auch für Suchmaschinenanbieter müssen endlich
klare Regelungen her. Sie sind ebenso Zugangsdienstleister, die selbst keine Inhalte produzieren.
Leider aber findet sich von diesen Punkten kein einziger im vorliegenden Gesetzentwurf, und das, obwohl die
FDP mit auf der Regierungsbank sitzt, die sich die Haftungserleichterungen immer groß auf die Fahnen geschrieben hatte!
Der hier zu debattierende Entwurf ist wieder nur
Stückwerk. Er setzt die Anforderungen der audiovisuellen Mediendienste-Richtlinie der EU um. Das ist dringend notwendig, weil dadurch anerkannt wird, dass es
eben nicht nur den sendenden Rundfunk auf der einen
Seite und die Telemedien auf der anderen Seite gibt, unter die dann alles fällt, was im und um das Internet
Dienste anbietet. Jetzt wird endlich die europäische
Dreiteilung umgesetzt: Es gibt Angebote wie herkömmliches Fernsehen, Webcasting oder Live-Streaming. Dann
gibt es weiterhin die klassischen Telemedienangebote
wie etwa spiegel-online.de. Die dritte, nun neue Kategorie sind Telemediendienste auf Abruf, sogenanntes OnDemand. Sie werden als „fernsehähnlich“ eingestuft, da
sie durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit
empfangen werden können, und setzen eine wirksame redaktionelle Verantwortung voraus. Für sie sollen nun innerhalb des Telemediengesetzes spezifische Regelungen
gelten, beispielsweise gibt es andere Anforderungen an
das Sitzland als bei den anderen Telemedienanbietern.
So weit, so gut. An der europäischen Umsetzung ist
nichts auszusetzen. Aber mehr hat man sich nicht getraut. Schade. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung mal einen großen Wurf macht und alle seit
langem anstehenden Fragen vom Tisch räumt! Das ist
ein Ignorieren all derer, die sich für eine vernünftige
Überarbeitung des Gesetzes während der letzten Jahre
eingesetzt haben, als da sind: Provider und Forenanbieter, Verbraucher- und Datenschützer und damit sämtliche häufig in Anhörungen geladene Experten.
Es wäre bitter nötig, liebe Bundesregierung, eine Entscheidung zu treffen, wie Social-Media-Angebote, aber
auch Blogs und Foren in der Praxis für User Content
haften sollen. Wenn Vorabkontrollen zur durch Gerichte
angeordneten Pflicht werden, geht eine Szene kaputt, die
Bürgerbeteiligung bedeutet, eine Alternative zum Mainstream-Journalismus darstellt und aus unserer Netzwelt
einfach nicht mehr wegzudenken ist!
Aber an diese Fragen traut man sich nicht heran.
Stattdessen lässt man die Bundesländer mit absurden
Regelungen für sämtliche Anbieter rund ums Netz hantieren.
Wir Grünen haben bereits in der letzten Legislatur
mit zwei Anträgen - 16/3499, 16/6394 - deutlich gemacht, was uns im Telemediengesetz fehlt. Dazu gehören
neben einheitlichen und sinnvollen Datenschutzregelungen klarere Vorgaben zur Verfolgung von Spam ins TMG.
Spam ist nicht nur nervig und zeitraubend für die Nutzerinnen und Nutzer, sondern auch ein gewaltiger ökologischer Ballast: In einem Jahr fressen Spam-Mails
33 Milliarden Kilowattstunden, so viel Strom wie eine
ganze Großstadt! Eine Spam-Mail verursacht einen
CO2-Ausstoß von 0,3 Gramm. Die meiste Energie wird
beim Sichten und Löschen verbraucht, nur ein kleiner
Teil beim Senden und automatischen Filtern. Eine Bundesregierung, die sich auch Green IT ins Programm
schreibt, könnte ja im TMG mal zeigen, wie ernst sie es
im Detail meint!
Wir Grünen wollen in Sachen Werbemails ein generelles Opt-in-Verfahren. Nur wer der Zusendung von
Werbung vorher ausdrücklich zugestimmt hat, darf
ebensolche erhalten. Jedes Zuschicken unerwünschter
Werbung muss als Ordnungswidrigkeit geahndet und mit
hohem Bußgeld belegt werden. Sie muss außerdem
durch die Bundesnetzagentur verfolgt werden. Nur wenn
es hier spürbare Sanktionen gegen die Versender gibt,
kann Spam effektiv eingedämmt werden.
Liebe Koalition, ich fordere Sie auf, uns so schnell
wie möglich ein an die Realitäten des Internets angeZu Protokoll gegebene Reden
passtes Telemediengesetz vorzulegen, in dem sämtliche
Haftungsfragen klar formuliert sind, in dem sich eine effektivere Verfolgung von Spam findet und in dem der digitale Datenschutz ernst genommen wird. Immer öfter
sehen sich Nutzerinnen und Nutzer damit konfrontiert,
dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffentlicht
werden.
Wir Grünen fordern seit langem ein sogenanntes
Kopplungsverbot, das nicht nur für marktbeherrschende
Unternehmen gilt: Die Nutzung eines Onlinedienstes
- egal ob soziales Netzwerk, E-Mail-Dienst oder E-Commerce-Angebot - darf nicht an die Herausgabe personenbezogener Daten geknüpft werden. Wir setzen uns
außerdem dafür ein, dass Nutzerinnen und Nutzer den
Verbleib ihrer Daten regelmäßig abfragen können. Dafür soll die Weitergabe der Daten aus unserer Sicht jeweils protokolliert werden. Dies hätte zur Folge, dass
jede Datenerhebung nachvollziehbar würde und rechtswidrige Erhebungspraktiken nicht länger verborgen
blieben.
Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt deutlich: So
sieht eine Stärkung des Internets als dem freiheitlichsten
und effizientesten Informations- und Kommunikationsforum nicht aus!
Hier wird interfraktionell die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/718 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Auch damit sind Sie am Ende des Tages einverstanden.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 26. Februar 2010,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
Abend und schließe die Sitzung.